body turn: Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports [1. Aufl.] 9783839404706

Gibt es einen body turn in der Soziologie? Dafür spricht, dass die Verkörperung sozialer Akteure und Strukturen zu einem

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German Pages 370 [371] Year 2015

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Inhalt
Der body turn in der Soziologie. Eine programmatische Einführung
SYSTEM VS. PRAXIS. ZWEI THEORIEPERSPEKTIVEN
Die Erfindung des menschlichen Körpers in der Soziologie. Eine systemtheoretische Konzeption und Perspektive
Körperbewegung als Formbildung. Ansätze einer systemtheoretischen Bewegungskonzeption
Körper-Handeln. Überlegungen zu einer praxeologischen Soziologie des Körpers
KÖRPERERFAHRUNG UND SELBSTTHEMATISIERUNG
Der Körper als Speicher von Erfahrung. Anmerkungen zu übersehenen Tiefendimensionen von Leiblichkeit und Identität
Sportives Schmerznormalisieren. Zur Begegnung von Körper- und Sportsoziologie
Männerkörper vergesellschaftet. Bewegungserfahrung als Körperkonstruktion als Bewegungserfahrung
Erfahrung von Differenz – Grundlage reflexiver Körper-Erfahrung
KÖRPERDISKURSE UND BEWEGUNGSKULTUREN
Bewegte Diskurse, die bewegen. Überlegungen zur Spannung von Konstitution und Konstruktion am Beispiel des Tango Argentino
Präsenzeffekte. Zum Verhältnis von Bewegung und Sprache am Beispiel lateinamerikanischer Tänze
Schwere Felsfahrt. Leo Maduschka und der alpinistische Diskurs um 1930
KÖRPERPRAKTIKEN UND REPRÄSENTAT IONEN DES KÖRPERS
Rhythmen, Resonanzen und Missklänge. Über die Körperlichkeit der Produktion des Sozialen im Spiel
„Geistige Arbeit“ als körperlicher Vollzug. Zur Perspektive einer vom Sport ausgehenden praxeologischen Sozialanalyse
Repräsentationen des Trendsports. Jugendliche Bewegungskulturen, Medien und Marketing
Sehen und Gesehenwerden – Auf dem Laufsteg der Gesellschaft. Sozial- und Selbsttechnologien des Körpers
Hinweise zu den Autorinnen und Autoren
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body turn: Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports [1. Aufl.]
 9783839404706

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body turn

Materialitäten | Hg. von Gabriele Klein, Martina Löw und Michael Meuser | Band 2

Robert Gugutzer (Hg.)

body turn Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2006 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung & Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Robert Gugutzer, Sabine Maier Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-470-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Der body turn in der Soziologie. Eine programmatische Einführung ROBERT GUGUTZER

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SYSTEM VS. PRAXIS. ZWEI THEORIEPERSPEKTIVEN Die Erfindung des menschlichen Körpers in der Soziologie. Eine systemtheoretische Konzeption und Perspektive BERO RIGAUER Körperbewegung als Formbildung. Ansätze einer systemtheoretischen Bewegungskonzeption BERND SCHULZE Körper-Handeln. Überlegungen zu einer praxeologischen Soziologie des Körpers MICHAEL MEUSER

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KÖRPERERFAHRUNG UND SELBSTTHEM ATISIERUNG Der Körper als Speicher von Erfahrung. Anmerkungen zu übersehenen Tiefendimensionen von Leiblichkeit und Identität ANKE ABRAHAM Sportives Schmerznormalisieren. Zur Begegnung von Körper- und Sportsoziologie NINA DEGELE Männerkörper vergesellschaftet. Bewegungserfahrung als Körperkonstruktion als Bewegungserfahrung STEFAN BEIER Erfahrung von Differenz – Grundlage reflexiver Körper-Erfahrung ELK FRANKE

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KÖRPERDISKURSE UND BEWEGUNGSKULTUREN Bewegte Diskurse, die bewegen. Überlegungen zur Spannung von Konstitution und Konstruktion am Beispiel des Tango Argentino PAULA-IRENE VILLA Präsenzeffekte. Zum Verhältnis von Bewegung und Sprache am Beispiel lateinamerikanischer Tänze GABRIELE KLEIN/MELANIE HALLER Schwere Felsfahrt. Leo Maduschka und der alpinistische Diskurs um 1930 MICHAEL OTT

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KÖRPERPRAKTIKEN UND REPRÄSENTATIONEN DES KÖRPERS Rhythmen, Resonanzen und Missklänge. Über die Körperlichkeit der Produktion des Sozialen im Spiel THOMAS ALKEMEYER „Geistige Arbeit“ als körperlicher Vollzug. Zur Perspektive einer vom Sport ausgehenden praxeologischen Sozialanalyse ROBERT SCHMIDT Repräsentationen des Trendsports. Jugendliche Bewegungskulturen, Medien und Marketing JÜRGEN SCHWIER Sehen und Gesehenwerden – Auf dem Laufsteg der Gesellschaft. Sozial- und Selbsttechnologien des Körpers HANNELORE BUBLITZ

Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

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Der body turn in der Soziologie. Eine programmatische Einführung 1 ROBERT GUGUTZER

Seitdem Richard Rorty Ende der 1960er Jahre mit der Herausgabe eines Sammelbandes den linguistic turn bekannt gemacht hat (vgl. Rorty 1967), wurden in den Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften zahlreiche weitere Wenden verkündet. Am einflussreichsten ist hierbei wohl der in den 1980er Jahren einsetzende cultural turn. In dessen Fortführung, zum Teil aber auch unabhängig davon wurden beispielsweise der practice turn, performativ turn, pictorial turn, iconic turn, geographical turn und emotional turn ausgerufen.2 Seit Anfang der 1990er Jahre wird zudem eine Wende hin zum menschlichen Körper konstatiert, die als somatic turn, corporeal turn oder, wie hier favorisiert, als body turn bezeichnet wird. Dieser inflationäre Gebrauch der WendeMetapher provoziert natürlich die Frage, ob das alles noch ernst zu nehmen sei. Diese Frage ist auch zweifelsohne berechtigt. Umso dringlicher ist es geboten, konkrete Anhaltspunkte für einen turn zu benennen, wenn man diese Metapher selbst nutzt. In Hinblick auf den hier interessierenden body turn heißt es deshalb zu klären: In welcher Hinsicht und anhand welcher Kriterien kann in den Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften von einer KörperWende gesprochen werden?

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Für ihre großartigen Kommentare zu früheren Versionen dieses Textes danke ich Ulle Jäger und Willy Viehöver, für ihre hervorragende redaktionelle Unterstützung bei der Herstellung dieses Bandes danke ich Sabine Maier. Zum cultural turn vgl. Bonnell/Hunt (1999), Musner/Wunberg/Lutter (2001), Reckwitz (2000: 15-57), zum practice turn vgl. Schatzki/Knorr Cetina/von Savigney (2001), Reckwitz (2003), zum performative turn vgl. Boschert (2003), Fischer-Lichte (2001a, 2004), zum pictorial und iconic turn vgl. Stäheli (2004), zum geographical turn vgl. Schroer (2005b: 10) und zum emotional turn vgl. Schützeichel (2006: 7).

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Bevor diese Frage im Engeren für die Soziologie beantwortet werden soll, ist zunächst festzuhalten, dass in unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen von einem body turn gesprochen wird. Das gilt besonders für die Geschichtswissenschaft, deren umfassende Hinwendung zum Körper Maren Lorenz zu der Feststellung veranlasst hat, dass die 1990er Jahre in der Geschichtswissenschaft das „Körperjahrzehnt“ (Lorenz 2000: 9) darstellen. Elisabeth List (1997) wiederum bezeichnet diese Körperwende als einen „Paradigmawandel“ in der Geschichtswissenschaft.3 In der Kultur- und Sozialanthropologie ist der Körper zwar schon immer ein Thema gewesen, nichtsdestotrotz habe der Körper, so Thomas Csordas, auch in der Anthropologie erst jüngst „Karriere“ gemacht, insofern er nämlich erst seit kurzem als theoretische Kategorie ‚entdeckt‘ worden sei (vgl. Csordas 1999). Ähnliches konstatiert John Tambornino für die Politikwissenschaft und spricht diesbezüglich explizit von einem corporeal turn (Tambornino 2002). Mindestens implizit hat sich zudem offenkundig in all jenen Disziplinen eine Körperwende vollzogen, in denen der performativ turn und/oder der practice turn Konjunktur haben, da hier immer auch die Körperlichkeit von Performanzen und Praktiken diskutiert wird. Hierzu zählen unter anderem die Theaterwissenschaft (vgl. Fischer-Lichte 2004), die Sportwissenschaft (vgl. Alkemeyer 1997; Klein 2004b; Gebauer et al. 2004) sowie die Historische Anthropologie (vgl. Alkemeyer 2001; Wulf 2005). Last but not least wird seit geraumer Zeit auch in der Soziologie ausdrücklich von einem corporeal turn (Shilling 2003: 203; Witz 2000) bzw. somatic turn (Schroer 2005b: 10) gesprochen. Was aber ist mit dem body turn in der Soziologie gemeint? Inwiefern hat sich hier ein Perspektivenwechsel vollzogen, durch den der menschliche Körper in den Blick geraten ist? Und in welcher Weise hat diese Hinwendung zum Körper in der Soziologie diesen zum Vorschein kommen lassen? Um diese Fragen zu beantworten, ist eine Differenzierung nach verschiedenen Ebenen hilfreich. Für die Soziologie lässt sich nämlich zeigen, dass sich der body turn auf drei Ebenen vollzieht, auf denen er unterschiedlich weit vorangeschritten ist. Schon seit längerem und in stetig wachsendem Umfang wird der Körper in der Soziologie als empirischer und theoretischer Forschungsgegenstand behandelt. Sichtbarstes Kennzeichen dieser enormen quantitativen Zunahme soziologischer Untersuchungen, Publikationen, Tagungen und Lehrveranstaltungen an Universitäten zum Thema ‚Körper‘ ist die „Soziologie des Körpers“ als mittlerweile nicht mehr nur im angloamerikanischen Wissenschaftsraum etablierte Teilsoziologie. Dies wird einerseits ersichtlich an den immer zahlreicheren deutschsprachigen Überblicks- und Einführungsarbeiten in die Soziologie des Körpers (vgl. Gugutzer 2004a; Jäger 2004; Hahn/Meuser 3

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Vgl. zur Körperwende in der Geschichtswissenschaft neben der Überblicksarbeit von Lorenz (2000) auch jene von Ellerbrock (2004), Sarasin (1999), Stoff (1999) und Wischermann (2000).

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2002; Klein 2004a; Koppetsch 2000; Meuser 2004; Schroer 2005a). Andererseits ist die Körpersoziologie in Deutschland inzwischen auch institutionell etabliert, da sie seit Ende 2005 in der „Deutschen Gesellschaft für Soziologie“ den Status einer Sektion innehat: Zusammen mit der ehemaligen Sektion „Soziologie des Sports“ bildet sie die neue Sektion „Soziologie des Körpers und des Sports“. 4 Verglichen mit dem Körper als Gegenstand soziologischer Forschung ist der body turn auf der Ebene soziologischer Theoriebildung noch nicht ganz vollzogen. Ansätze zu einer vom Körper ausgehenden Theorie des Sozialen liegen bislang nur vereinzelt vor. Wie der Körper als zentrale soziologische Kategorie zu denken ist, ist jedoch für einen body turn im umfassenden Sinne eine wesentliche Frage. Denn einen turn allein an der quantitativen Zunahme eines Forschungsthemas festmachen zu wollen, ist sicherlich nicht hinreichend. Entscheidend ist vielmehr, wie etwa Andreas Reckwitz für den cultural turn konstatiert hat, eine „konzeptuelle Verschiebung in den Sozialwissenschaften“ (Reckwitz 2000: 22). Hinsichtlich des body turn bedeutete das eine systematische Integration der Kategorie ‚Körper‘ in die Konzeption von Sozialität. Am wenigsten vollzogen hat sich die Hinwendung zum Körper bislang auf der Ebene der Epistemologie. Zwar finden sich in der Soziologie, vor allem im Anschluss an Pierre Bourdieus praxeologische Erkenntnistheorie, in jüngster Zeit verstärkt Arbeiten, die sich mit den gesellschaftlichen Bedingungen, Bedeutungen und Konsequenzen körperlicher Wissens- und Erkenntnisformen befassen. Aber in der Regel zielen diese Arbeiten nicht auf Erkenntnisprozesse im Feld der Wissenschaft, sondern zum Beispiel auf solche in den Feldern Sport und Tanz. Eine körperbasierte Epistemologie fokussierte demgegenüber jedoch das doing sociology und damit die Frage, wie die Körperlichkeit und Leiblichkeit des/der Soziologen/in methodisch genutzt werden kann bzw. muss, um im Medium der eigenen Körperlichkeit und Leiblichkeit zu soziologischen Erkenntnissen zu gelangen. Der body turn ist in der Soziologie, so viel kann also bereits gesagt werden, zum Teil Realität, zum Teil eine erst noch zu leistende Aufgabe. Die skizzierten drei Dimensionen des body turn in der Soziologie werden in den folgenden drei Kapiteln ausführlich vorgestellt. Die Ausführungen werden dabei nicht nur einen rekonstruktiven, den body turn dokumentierenden Charakter, sondern ebenso einen programmatischen Charakter haben. Dieser pro4

Der Zusammenschluss der Sektion „Soziologie des Sports“ mit dem Arbeitskreis „Soziologie des Körpers“ wurde auf der gemeinsamen Jahrestagung der beiden Gruppen beschlossen, die vom 24.-26. Juni 2005 an der Fakultät für Sportwissenschaft der Technischen Universität München stattfand. Die Tagung wurde von Kurt Weis, Sabine Maier und dem Autor (R.G.) organisiert. Der vorliegende Sammelband geht aus dieser Tagung hervor, nicht zuletzt aufgrund einer deutlich anderen personellen Zusammensetzung aber auch darüber hinaus.

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matische Entwurf betrifft vor allem die zweite und dritte Ebene des body turn, denn hier gilt es, die sich abzeichnende Hinwendung zum Körper weiter zu entwickeln. Abschließend werden die Struktur und Beiträge dieses Bandes und damit Perspektiven des body turn skizziert, wie sie sich derzeit in der deutschsprachigen Körper- und Sportsoziologie abzeichnen.

Der Körper als Gegenstand der Soziologie Der body turn in der Soziologie setzt mit der Entdeckung des menschlichen Körpers als Gegenstand soziologischer Forschung ein. Entsprechende Spuren finden sich bereits in den Werken von fast allen Klassikern der Soziologie, und zum Teil sind das sehr deutliche und bis heute nachwirkende Spuren (vgl. etwa Elias 1976; Mauss 1972; Simmel 1992).5 Dennoch wäre es überzogen, von einer umfassenden und systematischen Thematisierung des Körpers bei den Klassikern zu sprechen, die es rechtfertigte zu sagen, bereits hier habe eine existente Soziologie des Körpers vorgelegen.6 Ausdrücklich von einer Soziologie des Körpers (und ihrer Notwendigkeit) ist bezeichnenderweise erstmals in den 1960er Jahren die Rede (vgl. Berger/Luckmann 1969 [1966]; Wrong 1961). Im Laufe der 1970er Jahre nimmt die Soziologie des Körpers dann langsam Fahrt auf und setzt zu ihrem eigentlichen Start in den 1980er Jahren an (vgl. Kamper/Wulf 1982; O’Neill 1990 [1985]; Turner 1996 [1984]). Das Tempo steigert sich weiter in den 1990er Jahren, allen voran im angloamerikanischen, seit Ende der 1990er Jahre auch im deutschsprachigen Wissenschaftsraum. Merkmale der seitdem stetig gewachsenen Bedeutung der Soziologie des Körpers sind zum Beispiel die Etablierung der Fachzeitschrift Body & Society (seit März 1995), zahlreiche Einführungsbücher und Übersichtsartikel, die erstmalige Aufnahme der Stichwörter ‚Körper‘ und ‚Körpersoziologie‘ in soziologische Lexika und Lehrbücher, „Soziologie des Körpers“ als fest institutionalisierter Teil nationaler Soziologieverbände sowie von diesen veranstaltete Jahreskongresse zum Thema „Körper“. Ein Beispiel für letzteres ist der von der „British Sociological Association“ 1998 organisierte Kongress „Making Sense of the Body“. Aber auch der Kongress der „Deutschen Gesellschaft für Soziologie“ im Jahr 2006 kann als ‚heimlicher‘ Körper-Kongress verstanden werden, rückt er doch mit dem Thema „Die Na5 6

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Vgl. zur Geschichte des Körpers in der Soziologie Gugutzer (2004a: 23-33), Meuser (2004: 203ff.), Shilling (2003: 17-36), Turner (1991: 6-18). Die Gründe dafür, dass die Soziologie als körperloses Projekt begann, wie auch die versteckte Geschichte des Körpers in der Soziologie sind mittlerweile vielfach dokumentiert, so dass an dieser Stelle nicht weiter darauf eingegangen werden muss. Vgl. zusammenfassend z.B. Gugutzer (2004a: 19-33), Schroer (2005b: 11-16), Shilling (1993: Kap. 2).

DER BODY TURN IN DER SOZIOLOGIE

tur der Gesellschaft“ insbesondere Fragen zur „menschlichen Natur“7 und damit Fragen zum Verhältnis von menschlichem Körper und Gesellschaft in den Diskussionsmittelpunkt. Die „Soziologie des Körpers“ beschäftigt sich nun nicht, wie ihr Name womöglich suggeriert, mit dem menschlichen Körper, sondern mit Körper im Plural. Korrekter wäre mithin die Formulierung „Soziologie der Körper“ statt „Soziologie des Körpers“. Die verschiedenen Körperaspekte als Gegenstand der Soziologie sind dabei Ausdruck der jeweiligen Fragestellung, Theorieperspektive und des je spezifischen Erkenntnisinteresses. Zu Systematisierungszwecken lassen sich hierbei acht analytische Dimensionen und Fragestellungen der Soziologie des Körpers differenzieren.8 Diese bezeichnen zugleich die zentralen Forschungsschwerpunkte hinsichtlich des Körpers als Gegenstand soziologischer Untersuchungen. Vor dem Hintergrund, dass sich die Soziologie des Körpers mit dem wechselseitigen Durchdringungsverhältnis von Körper und Gesellschaft befasst, können diese acht analytischen Dimensionen der Körpersoziologie zu zwei Gruppen zusammengefasst werden: In der ersten sind all jene Arbeiten versammelt, die sich mit dem Körper als Produkt von Gesellschaft befassen, in der zweiten jene, welche den Körper als Produzent von Gesellschaft zum Thema haben. Geht es der ersten Gruppe um die Frage, wie der menschliche Körper als gesellschaftliche Konstruktion zu verstehen ist, so der zweiten um die körperliche Konstruktion von Gesellschaft. Hierbei handelt es sich selbstverständlich um eine analytische Trennung, denn realiter ist der menschliche Körper und ist körperliches Handeln immer sowohl Produkt als auch Produzent gesellschaftlicher Strukturen. Je nach soziologischer Schwerpunktsetzung steht jedoch in den meisten Untersuchungen eine der Körperdimensionen im Mittelpunkt. Unter dem Gesichtspunkt des Körpers als gesellschaftliches Produkt sind dies Körperformung, Körperdiskurs, Körperumwelt, Körperrepräsentation und Leiberfahrung; mit Blick auf den Körper als Produzent von Gesellschaft handelt es sich um drei Varianten von Körperpraktiken, nämlich Körperroutinen, Körperinszenierungen und Körpereigensinn.

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Vgl. das „Vorprogramm“ zum DGS-Kongress (2006: 14). Vermutlich ist es auch ein Novum in der Geschichte der deutschen Soziologie-Kongresse, dass im Vorprogramm eines Kongresses explizit auf die „zunehmend wichtiger werdende[n] Soziologie des Körpers“ hingewiesen wird (ebd.: 19). Andere Systematisierungsvorschläge finden sich in Gugutzer (2004a), Frank (1991), Meuser (2004) oder Turner (1996).

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Der Körper als Produkt der Gesellschaft Der Großteil körpersoziologischer Untersuchungen thematisiert nach wie vor Arten und Weisen gesellschaftlicher Körperformung. Im Kern geht es hier um die Frage: Wie wirkt Gesellschaft auf den menschlichen Körper ein? Der menschliche Körper wird dabei typischerweise als Objekt gesellschaftlicher Strukturen, vor allem von Ungleichheits- und Machtstrukturen, als Objekt institutioneller Ordnungen sowie als Objekt von Technologien behandelt. Zu den Klassikern dieser Perspektive der Vergesellschaftung des Körpers zählen Norbert Elias, Michel Foucault und Pierre Bourdieu. So hat Elias den historischen Wandel gesellschaftlicher Strukturen und die daraus resultierende Zivilisierung körperlicher Verhaltensweisen und emotionaler Äußerungen herausgearbeitet (vgl. Elias 1976). Foucault hat die Machttechniken gesellschaftlicher Institutionen wie Gefängnis, Militär und Hospital rekonstruiert und wie diese den menschlichen Körper prägen, indem sie ihn zu einem disziplinierten, normierten, „fügsamen Objekt“ machen (vgl. Foucault 1976). Bourdieu wiederum hat gezeigt, dass körperliche Fähigkeiten, Fertigkeiten, Vorlieben, Geschmäcker etc. Resultate der sozialen Herkunftsklasse sind. Sichtbarer Effekt dessen ist ein klassenspezifischer körperlicher Habitus (vgl. Bourdieu 1982). Des Weiteren finden sich in der Dimension der Körperformung in jüngerer Zeit zunehmend Studien, die den menschlichen Körper als Manipulationsobjekt von Technologien untersuchen (vgl. Körner 2002; Shilling 2005), etwa der Reproduktionstechnologie, der plastischen Chirurgie oder des gentechnologischen Dopings, wie auch zur biopolitischen Regulierung von Kollektivkörpern, beispielsweise staatlicher Geburtenkontrolle oder der Gesundheitsfürsorge. Im Unterschied zur Dimension Körperformung steht in soziologischen Untersuchungen, die sich mit Körperdiskursen befassen, nicht die Materialität des Körpers im Mittelpunkt, sondern Diskurse über den Körper. Die zentrale Frage lautet: Wie wird der Körper diskursiv hervorgebracht? Diskurstheoretische Studien schließen hierbei primär an die Arbeiten von Foucault und Judith Butler an. Bei Foucault meint die diskursive Konstruktion körperlicher Phänomene einen historischen Prozess, in dem sich bestimmte Wissensformen, Denk- und Deutungsmuster gesellschaftlich durchsetzen und so eine Hegemonie über die Wahrnehmung und Bewertung von Körpern erlangen. Exemplarisch hierfür ist Foucaults Studie über „Sexualität und Wahrheit“ (Foucault 1977), in der er das soziale Phänomen ‚Sexualität‘ als Ergebnis der Durchsetzung eines bestimmten, in medizinischen, psychiatrischen und politischen Diskursen des 18. und 19. Jahrhunderts hervorgebrachten Wissens über Sexualität rekonstruiert. Verallgemeinert zeigen diskurstheoretische Analysen, dass in Körperdiskursen Vorstellungen, Deutungsmuster und Wissensbestände über Körperlichkeit enthalten sind, die immer auch definieren, was als normal oder anormal, wünschenswert oder unerwünscht zu gelten hat. Sie schärfen damit den 14

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Blick auf soziale Machtverhältnisse sowie für soziale Ungleichheiten und Diskriminierungen. Beispielhaft hierfür sind die Geschlechterstudien von Butler (1991, 1997), in denen sie gezeigt hat, dass und wie der dominante Diskurs über den Geschlechterkörper regelmäßig die Norm der Zweigeschlechtlichkeit transportiert, und dass mit dieser „Heteronormativität“ sehr oft die soziale Diskriminierung und Ausgrenzung von Menschen einhergeht, die dieser Norm nicht entsprechen. Ein gesellschaftliches Produkt ist der Körper auch aus der Sicht der soziologischen Systemtheorie, insofern er hier als Kommunikationsobjekt konzipiert wird. Theoretischer Hintergrund hierfür ist die zentrale systemtheoretische Unterscheidung von System und Umwelt, die Festlegung von Kommunikation als Basiselement sozialer Systeme sowie die Platzierung des Körpers in die Umwelt sozialer Systeme (vgl. Bette 1989, 1999). Der Körper erscheint hier also nicht als Teil der Gesellschaft, sondern soziale Systeme haben Körperumwelten. Das bedeutet unter anderem, dass es für die Gesellschaft grundsätzlich unerheblich ist, was Menschen mit ihren Körpern tun oder auch nicht tun, denn gesellschaftliche Relevanz erlangt in dieser Perspektive der Körper erst, wenn Körperpraktiken thematisiert werden, wenn sie zum Gegenstand von Kommunikation werden. Die Leitfrage lautet daher: Wie wird der Körper kommuniziert? Dabei kommuniziert jedoch nicht die Gesellschaft den Körper, vielmehr muss der Körper, so Karl-Heinrich Bette, „erst in die Sondersprache des jeweiligen Funktionsbereichs übersetzt werden, bevor er dort als Thema relevant werden darf“ (Bette 1989: 50). Soziale Bedeutung erlangt der Körper also immer nur subsystemspezifisch. Steht bei den beiden bisher genannten Dimensionen der Körpersoziologie die Vergesellschaftung des Körpers im Zentrum, so bei der Dimension Körperrepräsentation umgekehrt die Verkörperung der Gesellschaft. Die Kehrseite des Körpers als Produkt gesellschaftlicher Strukturen, Institutionen und Diskurse ist der Körper als symbolische Manifestation ebendieser. Der menschliche Körper ist immer auch nicht-intendierter Träger von Zeichen und Zuschreibungen, die auf die soziale Herkunft, auf soziale Zugehörigkeiten und Machtverhältnisse verweisen. Die forschungsleitende Frage lautet entsprechend: Was symbolisiert der Körper? Antworten hierauf finden sich etwa in Bourdieus Habitustheorie (vgl. Bourdieu 1976, 1987), wo es heißt, dass der Habitus als „strukturierte Struktur“ auf unbeabsichtigte Weise, sozusagen unbewusst, die Klassenposition eines Individuums verkörpere. Erving Goffman wiederum hat nachgewiesen, wie körperliche Verhaltens- und Erscheinungsweisen als Zeichenträger für personale und soziale Identitäten gedeutet werden, mit denen nicht selten „Stigmatisierungen“ verbunden sind (vgl. Goffman 1975). Gar eine Art Gesetzmäßigkeit in der symbolischen Repräsentation des Körpers hat Mary Douglas beobachtet und sie als „Reinheitsregel“ bezeichnet (vgl. Douglas 1974). Diese besagt, dass mit der Zunahme der sozia15

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len Kontrolle in einer Situation die Notwendigkeit der Kontrolle der körperlichen Ausdrucksweisen steigt. Ein soziologischer Blick auf das körperliche Verhalten in sozialen Situationen kann entsprechend analysieren, wie in dem je situativen Verhalten kulturelle Normen und Werte sowie sozialstrukturelle Zwänge körperlich-symbolisch repräsentiert werden. Ein fünftes Forschungsfeld der Soziologie des Körpers, in dem diese den Körper als Produkt der Gesellschaft behandelt, ist der Körper als Ort von Leiberfahrungen. Diese Perspektive hat sich in den 1990er Jahren vor allem in der englischsprachigen Körpersoziologie unter Bezugnahme auf die Phänomenologie von Maurice Merleau-Ponty als Gegenposition zum Sozialkonstruktivismus etabliert. Im Unterschied zu sozialkonstruktivistischen Ansätzen steht hier nicht der Körper als sichtbarer Effekt gesellschaftlicher Strukturen im Mittelpunkt, sondern der Körper in der Selbstwahrnehmung, der „lived body“ (vgl. Crossley 1995a, 1995b, 1996; Leder 1990; Turner 1992; Williams/Bendelow 1998) oder, wie es im Deutschen heißt, der Leib. In der deutschen Körpersoziologie hat der Leibbegriff allerdings nach wie vor einen schweren Stand. Die Hauptkritik lautet, dass seine Verwendung einer Naturalisierung und Substanzialisierung sozialer Akteure Vorschub leiste und den Körper-Geist-Dualismus reproduziere. Ich teile diese Kritik nicht. Da hier jedoch nicht der Platz für eine ausführliche Widerlegung dieser Kritik ist, möchte ich zum einen mit Bernhard Waldenfels sagen: „Die Ausdrücke ‚Leib‘ und ‚Körper‘ bilden ein sprachliches Kapital, das man nicht einfach verschleudern sollte, indem man vom ‚Körper‘ spricht, wenn man den ‚Leib‘ meint“ (Waldenfels 2000: 15). Zum anderen sei darauf verwiesen, dass von anderssprachigen Autoren das Fehlen dieses „sprachlichen Kapitals“ durchaus bedauert wird, weshalb zum Beispiel Turner und Shilling in ihren Texten die Begriffe Leib und Körper im deutschen Original verwenden (vgl. Turner 1992: 41f.; Shilling 2003: 204). Einer phänomenologisch inspirierten Körpersoziologie geht es entscheidend um die soziale Prägung und Bedeutung leiblicher Erfahrungen und damit um die Frage: Wie wird der Körper gespürt? Auch das Sich-Spüren ist gesellschaftlich-kulturell geformt. Das hat bspw. Gesa Lindemann in ihren geschlechtersoziologischen Untersuchungen unter Rückgriff auf Helmuth Plessners Unterscheidung von Körper-Haben und Leib-Sein gezeigt (vgl. Lindemann 1992, 1993, 1996). Mit Plessner geht sie von einer Verschränkung von Leib und Körper aus, wobei das Körper-Haben das Leib-Sein präge. Körperhaben setzt Lindemann synonym mit dem Wissen vom Körper und folgert daraus, dass das Körperwissen das Sich-Spüren strukturiere. Insofern nun jedes Wissen ein Kulturprodukt ist, und dieses kulturell normierte Körperwissen die Art und Weise der Leiberfahrung beeinflusst, ist auch das leibliche Spüren ein kulturelles Produkt. Wie wir uns spüren, nicht dass wir uns spüren, hänge vom kulturspezifischen Körperwissen ab, so Lindemann. Darüber hi16

DER BODY TURN IN DER SOZIOLOGIE

naus hängen leibliche Erfahrungen ebenso von kulturspezifischen Körperpraktiken ab (vgl. Gugutzer 2004a: 111). Zusammenfassend zu den fünf Dimensionen, in denen die Soziologie den Körper als Produkt der Gesellschaft thematisiert, siehe die folgende Tabelle: Tabelle 1: Der Körper als Produkt der Gesellschaft Analytische Dimensionen der Soziologie des Körpers

Körperformung

Körperdiskurs

Körperumwelt

Körperrepräsentation

Leiberfahrung

Fragestellungen

Wie wirkt Gesellschaft auf den Körper ein?

Wie wird der Körper diskursiv hervorgebracht?

Wie wird der Körper kommuniziert?

Was symbolisiert der Körper?

Wie wird der Körper gespürt?

Forschungsthemen

Der Körper als Objekt von

Der Körper als Objekt von

Der Körper als Thema von

Der Körper als Träger von

Der Körper als Ort von

Zeichen Zuschreibungen

Leiberfahrungen

Strukturen Institutionen Technologien

Wissensformen subsystemischen Deutungsmustern Kommunikationen

Der Körper als Produzent von Gesellschaft Die vorgestellten fünf Dimensionen der Soziologie des Körpers betrachten den menschlichen Körper als gesellschaftliches Produkt. Das Korrelat zu dieser Perspektive ist der Körper als Produzent von Gesellschaft. Der Körper wird in dieser Perspektive zum Gegenstand soziologischer Forschung in der Hinsicht, dass untersucht wird, wie körperliche Praktiken zur Herstellung, Stabilisierung und zum Wandel sozialer Ordnung beitragen. Dabei lassen sich drei Dimensionen bzw. Varianten von Körperpraktiken unterscheiden, von denen zwei auf den Körper als Medium für soziales Handeln und eine auf den Körper als Subjekt eigensinnigen Handelns verweisen. Handlungsmedium ist der Körper des Menschen zuallererst in dem grundlegenden Sinne, dass menschliches Handeln notwendig einen Körper voraussetzt. Entsprechend ist auch soziales Handeln immer ein körperliches und leibliches (vgl. Taylor 1986) Handeln. Im Medium leiblich-körperlichen Handelns konstruieren Menschen ihre Wirklichkeit(en). Eine entscheidende Rolle kommt dabei Routinehandlungen bzw. Körperroutinen zu, da diese den Großteil sozialer Handlungen ausmachen (vgl. Giddens 1992: 116ff.). Wie handelt der Körper gewohnheitsmäßig?, ist die grundlegende Frage in diesem Forschungsfeld, und „Wie wird durch Körperroutinen soziale Ordnung hergestellt?“, die entsprechende Folgefrage. Diese Frage wird z.B. in der ethnomethodologischen Geschlechtersoziologie unter dem Stichwort doing gender nachgegan17

ROBERT GUGUTZER

gen, wo gezeigt wird, dass die binäre Geschlechterordnung durch wiederholte Interaktionen von Frauen und Männern auf Dauer gestellt wird (vgl. zusammenfassend Villa 2000: 67-120). Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Jean-Claude Kaufmann in seiner Studie über Haushaltstätigkeiten von Frauen und Männern (vgl. Kaufmann 1999). Kaufmann hat hier herausgearbeitet, dass die familiäre Ordnung in einem entscheidenden Maße auf den körperlichen Routinen basiert, die Frauen und Männer im Haushalt zeigen. Wenn etwa der Mann immer kaputte Glühbirnen wechselt, den Rasen mäht etc., die Frau immer bügelt, Geschirr spült etc., ist das ein Beispiel dafür, dass „soziale Ordnungen […] in einem fundamentalen Sinne Körperordnungen“ sind. „Sie basieren weitaus mehr auf einem Austausch der Gesten, als dass sie Ergebnis expliziter Aushandlungen sind“ (Meuser 2004: 211). Das deckt sich nicht zuletzt mit Erving Goffmans Untersuchungen zur „Interaktionsordnung“. Goffman hat dort ausgeführt, dass und wie zur Aufrechterhaltung einer Interaktionsordnung die an der Interaktion Beteiligten dazu angehalten sind, ihren Körper als Kommunikationsmittel in einer sozial erwartbaren Weise einzusetzen. Das bedeutet vor allem, dass soziale Akteure ein situationsadäquates Maß an Körperkontrolle und Gefühlsarbeit aufbringen müssen, um die gemeinsame Situationsdefinition nicht in Frage zu stellen und damit die mikrosoziale Ordnung nicht zu gefährden (vgl. Goffman 1971a, 1971b, 1974, 1994). Goffmans materialreiche Studien zum Verhalten im öffentlichen Raum sind darüber hinaus eine zentrale Referenzquelle für körpersoziologische Untersuchungen, die die Dimension Körperinszenierung zum Gegenstand haben und die Frage behandeln: Wie wird der Körper präsentiert? Der Körper interessiert hier als Medium sozialen Handelns, durch das sich (Gruppen von) Individuen absichtsvoll in Szene setzen. Im Mittelpunkt stehen hier vor allem face-to-face-Interaktionen, in denen die beteiligten Individuen durch bewusste Arbeit an ihrer „persönlichen Fassade“ (Goffman 1983: 25) – an ihrer körperlichen Erscheinung und ihrem körperlichen Ausdrucksverhalten – typischerweise versuchen, einen bestimmten Eindruck zu erwecken und ihr „bestes Selbst“ darzustellen. Allerdings zielt die Dimension Körperinszenierung nicht allein auf individuelle oder kollektive Selbstdarstellung und damit auf die Repräsentation gesellschaftlicher Strukturen (vgl. die Dimension Körperrepräsentation). Vielmehr interessiert hier ebenso sehr die Herstellung sozialer Wirklichkeit im Medium körperlichen Handelns. Im Kern geht es in diesem Forschungsfeld der Körpersoziologie darum, wie durch Körperdarstellungen soziale Wirklichkeit hergestellt wird. Dazu sind in den letzten Jahren zahlreiche Arbeiten im Kontext des performativ turn entstanden (vgl. Alkemeyer et al. 2003; Gebauer et al. 2004; Klein 2004b, 2005; Schmidt 2002; Wulf 2005). Gemeinsam ist ihnen – ähnlich Goffman (1983) – eine theatrale Perspektive auf Gesellschaft: Untersucht werden die „Aufführungen des Sozialen“ in verschie18

DER BODY TURN IN DER SOZIOLOGIE

denen gesellschaftlichen Bereichen wie dem Sport, der Popkultur, dem Tanz oder der Mode (vgl. Alkemeyer et al. 2003). Das Augenmerk liegt dabei zentral auf der Konstruktion sozialer Wirklichkeit im Vollzug körperlicher Praktiken. Exemplarisch haben das Gebauer et al. in ihrer Studie über neue Spielund Bewegungsformen gezeigt, wo sie darauf hinweisen, dass das wesentliche Merkmal neuer Spiele wie Streetball oder Inlinehockey ihre „performative Qualität“ sei (Gebauer et al. 2004: 26): Im Unterschied zu konventionellen, ‚bloß‘ selbstzweckhaften Spielen sei für die neuen Spiele charakteristisch, dass sie, während sie praktiziert, also „aufgeführt“ werden, soziale Wirkung erzielen und Bedeutungen hervorbringen, die unabhängig von der konkreten Spielpraxis nicht existieren. Der menschliche Körper ist, zusammengefasst, ein Medium sozialen Handelns in der Hinsicht, dass er vom Individuum bewusst-intentional eingesetzt wird. Eine letzte Dimension der Soziologie des Körpers, die man als Körpereigensinn bezeichnen kann, fokussiert demgegenüber vor-bewusste körperliche Praktiken und damit den Körper als Subjekt von Handlungen. Die zentrale Frage in diesem Forschungsfeld lautet entsprechend: Wie handelt der Körper vorreflexiv? Vorreflexive Körperpraktiken lassen den Körper als Handlungssubjekt erscheinen, insofern der Körper hier eigenwillig agiert, das körperliche Handeln einen eigenen Sinn hat bzw. dieser Eigensinn ist (vgl. dazu Barkhaus 2001; siehe auch Jäger 2004: 54ff.). Dieses Verständnis vom eigensinnig handelnden Körper9 kann als Kritik am Rationalismus in der Soziologie aufgefasst werden. Denn an Beispielen eigensinnigen körperlichen Handelns wird deutlich, dass der menschliche Körper keineswegs jederzeit kontrollierbar ist. Er ist eben auch eigenwillig und widerspenstig. Das Entscheidende dabei ist, dass er, gerade weil er nicht jederzeit willentlich kontrollierbar ist, sinnhaft ist und soziale Relevanz erlangt. Darauf zielt etwa Bourdieus Verständnis vom Habitus als „praktischer Sinn“, als „Natur gewordene, in motorische Schemata und automatische Körperreaktionen verwandelte Notwendigkeit“, welche dafür sorgt, „dass Praktiken in dem, was an ihnen dem Auge ihrer Erzeuger verborgen bleibt, […] sinnvoll, das heißt mit Alltagsverstand ausgestattet sind“ (Bourdieu 1987: 127). Der praktische Sinn10 sorgt mit anderen Worten auf vorreflexivem Wege für ein situationsangemessenes Handeln. Zwei weitere Arten eigensinnigen 9

Eine grundlegende Studie zum eigensinnigen Körper im zeitgenössischen Bühnentanz liefert Berger (2006). 10 Andere Autoren sprechen sinngleich von einer „leibliche[n] Intelligenz des Gespürs“ (Schmid 1999: 199), einer „Intelligenz des Leibes“ und „motorischer[r] Klugheit“ (Alkemeyer 2001: 157), von einer „spürende[n] Orientierung zur Welt“ (Gugutzer 2002: 117) oder kurz: vom „Spürsinn“ (ebd.: 116 und öfter). In die gleiche Richtung zielen jene Autoren, die im Anschluss an Bourdieus Konzept der ‚praktischen Intentionalität‘ (vgl. Bourdieu 2001: 184) vom „Körper als Agens“ sprechen (z.B. Meuser 2004: 209f.).

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körperlichen Handelns lassen sich mit Hans Joas als „passive Intentionalität“ und als „sinnhafter Verlust der Intentionalität“ bezeichnen: Passiv intentional sind Handlungsweisen, in denen der Körper sich selbst überlassen wird, sozusagen passiv agiert, also ein Handeln, das zwar eine Intention besitzt, die aber nur dadurch realisiert werden kann, dass diese Intention nicht aktiv angestrebt wird; ein Beispiel dafür ist das Einschlafen (vgl. Joas 1992: 247f.). Handlungen wiederum, die sich durch einen sinnhaften Verlust von Intentionalität auszeichnen, sind solche, die einen Kontrollverlust über den eigenen Körper bedeuten und gerade aufgrund dieses Kontrollverlusts sinnhaft sind; paradigmatisch hierfür sind Lachen und Weinen (vgl. ebd.: 249f.). Schließlich, und vielleicht am Bedeutsamsten, ist der Körpereigensinn in der Hinsicht, dass er als spürbarer Widerstand Handlungen anleitet. In der durch gesellschaftliche Umstände ausgelösten „Widerständigkeit des Leibes“ (Jäger 2004: 217), die etwa als Angst, Wut, Leid oder auch ‚nur‘ als ‚Bauchgrummeln‘ spürbar wird, manifestiert sich nicht nur der nicht-kontrollierbare Eigenwille des Körpers am deutlichsten. Vielmehr liegt der entscheidende Antrieb jeder Art sozialen Widerstandes in der spürbaren Widerständigkeit des eigenen Leibes. Darin liegt ein Widerstands- und Machtpotenzial des Körpers, das gegen bestehende soziale Ordnungen zu rebellieren vermag und so womöglich sozialen Wandel initiiert. Zusammenfassend zu den drei Dimensionen, in denen die Soziologie den Körper als Produzenten von Gesellschaft thematisiert, siehe die folgende Tabelle: Tabelle 2: Der Körper als Produzent von Gesellschaft Analytische Dimensionen der Soziologie des Körpers

Fragestellungen Forschungsthemen

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Körperpraxis

Körperroutinen

Körperinszenierungen

Körpereigensinn

Wie handelt der Körper gewohnheitsmäßig?

Wie wird der Körper präsentiert?

Wie handelt der Körper vorreflexiv?

Der Körper als Medium für

Der Körper als Medium für

Der Körper als Subjekt von

Routine- und Gewohnheitshandlungen

Selbstdarstellung Performativität

eigensinnigem Handeln

DER BODY TURN IN DER SOZIOLOGIE

Eine verkörperte Theorie des Sozialen Lässt sich auf der Ebene des Körpers als einem soziologischen Forschungsgegenstand sowohl von der Anzahl der Untersuchungen als auch von der Ausdifferenzierung des Untersuchungsfeldes her ohne Probleme ein body turn konstatieren, so fällt dies auf der Ebene der soziologischen Theoriebildung nicht ganz so leicht. In Hinblick auf die Frage, wie eine vom Körper ausgehende Theorie des Sozialen11 zu konzipieren sei, wie der menschliche Körper mit anderen Worten als soziologische Kategorie zu denken sei, ist die tatsächliche Hinwendung zum Körper erst ansatzweise vollzogen. Zwar ist immer öfter und lauter der Appell zu vernehmen, die soziologische Beschäftigung mit dem Körper dürfe nicht darauf hinauslaufen, bloß eine weitere Bindestrichsoziologie zu etablieren, sondern müsse die grundlegende Bedeutung des Körpers für die Konstitution gesellschaftlicher Prozesse herausarbeiten und in den allgemeinsoziologischen Diskurs einbringen (vgl. Fischer 2003: 10; Gugutzer 2004a: 156; Jäger 2004: 20; Schroer 2005b: 11). Doch für den Mainstream der soziologischen Theoriebildung ist zweifelsohne Gesa Lindemanns Vermutung zutreffend, dass das „gesellschaftliche Personal, das Soziologen vor Augen bekommen, […] aus Engeln zu bestehen“ scheint (Lindemann 2005: 114) – aus leib- und körperlosen sozialen Wesen. Aufgrund der in der Soziologie vorherrschenden „Vorliebe für Wissen, Sprache und Semantik“ (ebd.: 115) wird der Körper typischerweise zu einer bloßen Randbedingung sozialen Handelns degradiert – und dies mitunter sogar in Ansätzen innerhalb der Körpersoziologie (vgl. Nollmann 2005: 139). Ein Gegenmittel gegen diese „quasimentalistische Bornierung“ (Lindemann 2005: 115) ist aber auch eine Soziologie des Körpers nicht notwendigerweise, jedenfalls nicht, so lange der menschliche Körper lediglich als Forschungsgegenstand thematisiert wird. Der mentalistische Bias kann vielmehr nur dadurch korrigiert werden, dass Leib und Körper systematisch in Theorien des Sozialen berücksichtigt werden. Notwendig ist mit anderen Worten, dass „Verkörperung grundlegend in die Konzeption von Sozialität einbezogen wird“ (ebd.; Herv.: R.G.). Die Ausarbeitung der soziologischen Kategorie ‚Körper‘ impliziert damit einen Ebenenwechsel von der Soziologie des Körpers zu einer verkörperten, das heißt körperbasierten Theorie des Sozialen.

11 Ich bevorzuge im Weiteren die Formulierung „Theorie des Sozialen“ oder „Sozialtheorie“ gegenüber dem Begriff „Gesellschaftstheorie“ aus dem Grund, dass mit „Gesellschaft“ nach wie vor typischerweise ein nationalstaatlich verfasstes und territorial abgegrenztes Sozialgebilde assoziiert wird, was im Zeitalter der Globalisierung und des Kosmopolitismus als problematisch anzusehen ist. Der Begriff des „Sozialen“ ist im Vergleich dazu offener. Zu klären ist jedoch immer, so auch im Weiteren, auf welcher Ebene das Soziale theoretisch verortet wird.

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Programmatisch geht es einer solchen verkörperten Soziologie darum, soziale Institutionen und Prozesse grundlegend von der Tatsache der körperlichleiblichen Existenzweise des Menschen her zu denken. So stellen auch Simon Williams und Gillian Bendelow fest, „that social institutions as well as micro-social processes cannot be understood apart from the real, lived experiences and actions of bodies, including practitioners of sociology themselves. Embodiment, in short, is central rather than peripheral to the sociological enterprise. The grounding of social theory should, therefore, be rooted in the contingencies and predicaments of human embodiment, and the links this provides to broader social issues of social order and transgression, structure and action, agency and identity“ (Williams/Bendelow 1998: 8; Herv. im Orig.).

Ansätze zu einer verkörperten Theorie des Sozialen finden sich derzeit vor allem in der angloamerikanischen Soziologie, die dabei stark auf die Phänomenologie, die Klassiker der Soziologie und zum Teil auf die Psychoanalyse rekurriert. Daneben liegen in der deutschsprachigen und französischen Soziologie einige Anregungen und Vorschläge in Hinblick auf die Handlungs- und Praxistheorie vor, die entscheidende Anleihen beim Pragmatismus, der Philosophischen Anthropologie und (oft implizit) der Phänomenologie nehmen. Diese wenigen Hinweise deuten bereits an, dass das Projekt einer verkörperten Theorie des Sozialen offensichtlich nicht allein mit soziologischen Mitteln durchzuführen ist, sondern disziplinärer ‚Nachbarschaftshilfe‘ bedarf. Die Vor- und Nachteile dieser Anleihen sind innerhalb der Soziologie umstritten.

Angloamerikanische Positionen In der angloamerikanischen Soziologie ist ‚Verkörperung‘ ein seit Anfang der 1990er Jahre diskutiertes Konzept (vgl. Burkitt 1999; Howson 2005; Howson/Inglis 2001; Newton 2003; Shilling 2001, 2003, 2005; Turner 1992, 1996; Williams/Bendelow 1998; Witz 2000; Witz/Marshall 2003). Anknüpfungspunkt hierbei ist der von Thomas Csordas in den kultur- und sozialwissenschaftlichen Diskurs eingeführte Begriff embodiment (vgl. Csordas 1990, 1994; siehe hierzu auch Fischer-Lichte 2001b). Csordas kritisiert an den Kulturwissenschaften – im Engeren: an der Kulturanthropologie –, dass „none have taken seriously the idea that culture is grounded in the human body“ (Csordas 1994: 6). Embodiment sei jedoch „the existential ground of culture and self“ (ebd.), die Kulturanthropologie daher aufgefordert, dem Körper eine ähnlich paradigmatische Position wie dem ‚Text‘ zuzugestehen, „anstatt ihn unter dem Textparadigma zu subsumieren“ (Fischer-Lichte 2001b: 7). Unter Rekurs auf die Leibphänomenologie von Merleau-Ponty bezeichnet Csordas Verkörperung als leibliches „Zur-Welt-Sein“ des Menschen, und das leibliche 22

DER BODY TURN IN DER SOZIOLOGIE

Zur-Welt-Sein wiederum als Bedingung der Möglichkeit von Kultur. Aus diesem Grund, so seine Folgerung, müsse embodiment Ausgangspunkt der Kulturanthropologie sein. Die Verfechter einer verkörperten Theorie des Sozialen haben diese Forderung mehr oder weniger explizit übernommen: Das leibliche Zur-Welt-Sein gilt ihnen als die Bedingung der Möglichkeit von Gesellschaft und entsprechend als notwendiger Ausgangspunkt der Soziologie. Die zentrale theoretische Referenzquelle ist auch hier die Leibphänomenologie von MerleauPonty (1966, 1967, 1994). Daran anknüpfend werden sowohl mikro- als auch makrosoziologische Ansätze entwickelt. Exemplarisch für erstere können die Arbeiten von Nick Crossley (1994, 1995a, 1995b, 1996), für letztere jene von John O’Neill (1989, 1990, 2004) gesehen werden. So stützt sich Crossley in seinem Entwurf einer carnal sociology auf die Leibphänomenologie Merleau-Pontys, da ihm diese das geeigneteste konzeptuelle Instrumentarium für den „paradigma shift“ in der Soziologie, nämlich „to incorporate the body […] into sociological theory and analysis“ (Crossley 1995a: 60), zu liefern verspricht. Als soziologisch besonders relevant bezeichnet Crossley Merleau-Pontys Konzepte der Wahrnehmung, Praxis und Zwischenleiblichkeit. Mit diesen lasse sich eine verkörperte Soziologie konzipieren, die ausgehend vom leiblichen Zur-Welt-Sein des Menschen embodiment als Basis von Wahrnehmung,12 leibliche Wahrnehmung als Verschränkung von Subjekt und Objekt (der Körper als wahrnehmend-wahrnehmbar, sehendsichtbar etc.), als Produkt kulturspezifischer Verhaltensweisen und Körpertechniken wie umgekehrt den wahrnehmenden Körper als Produzenten kultureller Praktiken konzipiert (vgl. ebd.: 46ff.). Merleau-Pontys These vom ontologischen „Primat der Wahrnehmung“ (Merleau-Ponty 2003) aufnehmend betrachtet Crossleys carnal sociology Sozialität als leibliche Intersubjektivität bzw. Zwischenleiblichkeit (intercorporeality) und den Bezug des wahrnehmenden Körpers zu seiner Umwelt als einen praktischen – das grundlegende (Um-)Weltverhältnis des Menschen ist kein „ich denke“, sondern ein „ich kann“ (Crossley 1995a: 53; vgl. dazu Merleau-Ponty 1966: 166f.). Schlussendlich 12 Wie Crossley zu Recht anmerkt, geht es Merleau-Ponty um den Körper als Basis von Wahrnehmungen und Erfahrungen, nicht aber um Wahrnehmungen und Erfahrungen des Körpers (Crossley 1995a: 48). Für Shilling ist dies der entscheidende Kritikpunkt einer phänomenologisch inspirierten Körpersoziologie (vgl. Shilling 2003: 204), da es dieser doch gerade um die gesellschaftlichen Bedingungen und Folgen körperlicher Erfahrungen gehen müsse. Ich schließe mich dieser Kritik an und verweise als Alternative zu Merleau-Ponty auf die Leibphänomenologie von Hermann Schmitz (als Überblick siehe Schmitz 1992, 2003). Schmitz hat wie kein zweiter Philosoph die große Bandbreite leiblicher Erfahrungen und von Gefühlen systematisch analysiert. Für einen Versuch, Schmitz’ Leibphänomenologie für eine verkörperte Soziologie zu nutzen, siehe Gugutzer (2006a, 2006b).

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plädiert Crossley in und mit seiner carnal sociology für eine Soziologie, die den aktiv und kreativ handelnden Körper ins Zentrum stellt. Im Unterschied zur Soziologie des Körpers gehe es dieser verkörperten Soziologie nicht primär darum, „what is done to the body“ oder was der Körper repräsentiert, sondern: „Carnal sociology, in contrast to this, addresses the active role of the body in social live. It is concerned with what the body does and it stresses and examines the necessarily embodied bases of the praxical-symbolic constituents of the social formation“ (Crossley 1995a: 43). Am ehesten realisiert sieht Crossley eine solche verkörperte Soziologie in den Interaktionsstudien von Erving Goffman (vgl. Crossley 1995b). O’Neill wiederum nutzt Merleau-Pontys Leib- und Sozialphänomenologie, um damit seinen Begriff des communicative body (O’Neill 1989) zu entwickeln. Mit diesem führt er eine vom leiblichen Zur-Welt-Sein ausgehende Analyse gesellschaftlicher Institutionen durch. Unter „kommunikativen Körper“ versteht O’Neill „das allgemeine Medium unserer Welt, ihrer Geschichte und Kultur, ihrer politischen Ökonomie“ (O’Neill 1990: 13). Das heißt, die kommunikative Qualität des Körpers besteht darin, mittels leiblicher Wahrnehmungsweisen und körperlicher Ausdrucksformen Sozialität herzustellen. Sozialität ist entsprechend das im Medium der Zwischenleiblichkeit konstituierte Band zwischen Selbst und Gesellschaft. Seine Analyse der kommunikativen Kompetenz des Körpers in den Bereichen Kultur, Gesellschaft, Politik, Ökonomie und Medizin führt O’Neill zu „Fünf Körpern“ (O’Neill 1990, 2004): Der „Welt-Körper“ bezeichnet das universelle Phänomen, dass Menschen ihre Weltbilder und Kosmologien anthropomorphisieren und dazu auf alle Teile des Körpers zurückgreifen; der „soziale Körper“ beschreibt den menschlichen Körper als Symbol und Analogen für gesellschaftliche Kategorien, Klassifikationen, Verhältnisse und Institutionen; der „politische Körper“ verweist auf die symbolisch-metaphorische Nutzung des Körpers zu politischen Zwecken, wobei die kommunikative Kompetenz des politischen Körpers in seinem Widerstandspotenzial gegen bestehende Machtverhältnisse liege; der „Konsumenten-Körper“ ist Resultat körperbezogener Bedürfnisse, die von der Wirtschaft mit der Bereitstellung von Konsumgütern einerseits befriedigt, andererseits aber auch geschaffen werden; der „medikalisierte Körper“ schließlich verweist auf die umfassenden biomedizinischen und biotechnologischen Eingriffe in die individuellen und Kollektivkörper der Menschen. In dieser wachsenden Vielzahl biopolitischer Maßnahmen sieht O’Neill die große Gefahr moderner Gesellschaften. Im Unterschied zu Crossley und O’Neill basiert Chris Shillings am Körper ansetzende Gesellschaftstheorie nicht auf der Phänomenologie, sondern auf den Arbeiten von Karl Marx, Émile Durkheim und Georg Simmel (vgl. Shilling 2005). Shillings Ansatz stellt derzeit wohl das am konsequentesten ausgearbeitete Konzept einer verkörperten Sozialtheorie dar. Die Auswahl der 24

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drei Klassiker begründet Shilling damit, dass die Theorien von Marx, Durkheim und Simmel hinsichtlich ihrer Konzeption des Körpers konvergierten: Jeder von ihnen betrachte den Körper „as a multi-dimensional medium for the constitution of society“ (ebd.: 9). Genauer seien es drei Sichtweisen auf den Körper, in denen Marx, Durkheim und Simmel übereinstimmten und die zusammen den Körper als multidimensionales Medium der Konstitution von Gesellschaft erscheinen ließen (vgl. ebd.: 28-40): Erstens der Körper als Quelle (source) zur Hervorbringung und kreativen Gestaltung sozialen Lebens, zweitens als Ort (location), in den gesellschaftliche Strukturen einwirken und den Körper dadurch formen, sowie drittens als Mittel (means), durch das Individuen innerhalb der Gesellschaft positioniert, sozial in- oder exkludiert werden und das zur Reproduktion und Transformation gesellschaftlicher Strukturen beiträgt. Diesen analytischen Bezugsrahmen nutzt Shilling für Fallstudien zur konstitutiven Bedeutung des multidimensionalen Körpers in den gesellschaftlichen Feldern Arbeit, Musik, Ernährung, Technologie und Sport.13

Französische und deutsche Positionen Die vorgestellten wie auch weitere Ansätze der angloamerikanischen Körpersoziologie werden innerhalb der deutschsprachigen Soziologie kaum rezipiert. Hier ist der Blick nahezu ausschließlich auf die französische Soziologie und Philosophie gerichtet, allen voran auf die Arbeiten von Pierre Bourdieu und Michel Foucault, wobei seit der Praxiswende in den Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften über allen und allem Bourdieus Habitus- und Praxisthe13 So ist Shilling zufolge im Sport (vgl. ebd.: 101-126) der Körper eine konstitutive Quelle in zweierlei Hinsicht: Zum einen ist historisch gesehen ein enger Zusammenhang zwischen den Versuchen einiger Menschen, ihren materiellen Lebensunterhalt zu sichern, und dem Aufkommen bestimmter Sportarten zu erkennen (z.B. Jagen); zum Zweiten konstituiert das verkörperte Potenzial für Spiele eine Quelle des Sports, wobei die spielerischen Fähigkeiten des Körpers sowohl zur individuellen Identitätsbildung als auch zur Herstellung kollektiver Identitäten genutzt werden. Der sportive Körper ist des Weitern ein Ort, in den sich die Strukturen des Sports einschreiben. Das gilt im Besonderen für die Rationalisierung des modernen Sports, „that has transformed the spatial and temporal context in which sport occurs“ (ebd.: 104). Die Rationalisierung des Sports hat zudem den Boden bereitet für politisch-nationalistische und ökonomische Instrumentalisierungen des Sports bzw. der Athletenkörper. Aufgrund des im Sport in Reinform gegebenen gesellschaftlichen Fortschrittsglaubens und Leistungsimperativs erleidet der Sportkörper überdies zahlreiche gesundheitliche Schäden, die durch das weit um sich greifende Doping noch verschärft werden. Schließlich ist der Körper auch ein Mittel, das zur Inklusion oder Exklusion im Sport beiträgt. So kann der Sport Menschen an sich binden, weil er Raum für Bewegung, Geselligkeit, Spaß und Erlebnisse bietet. Er kann aber ebenso sozial diskriminierend und ausgrenzend wirken, wie das lange Zeit bezüglich farbiger Sportler und Frauen der Fall war, gelegentlich noch heute ist.

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orie thront (vgl. Bourdieu 1976, 1982, 1987; Bourdieu/Wacquant 1996). Deren Einfluss auf die (nicht nur) deutschsprachige Körpersoziologie ist so umfassend, dass man analog zu Shillings These eines „Foucauldian approach to the body“ (Shilling 1993: 74) mittlerweile von einem reinen Bourdieuschen Körper-Ansatz sprechen könnte. In dessen Mittelpunkt steht das Habitus-Konzept als einverleibte und verkörperte soziale Struktur sowie als „praktischer Sinn“ bzw. als „praktische Intentionalität“. Wenngleich Bourdieu sicherlich keine umfassende Theorie des Sozialen entwickelt hat, die an der Kategorie ‚Körper‘ ansetzt, so liefert seine Habitus- und Praxistheorie hierfür doch wichtige Anhaltshaltpunkte. Das gilt explizit für die Frage, welche Bedeutung der Verkörperung sozialer Akteure für die Stabilisierung sozialer Ordnung zukommt. Denn im Zentrum von Bourdieus Habitustheorie steht die Inkorporierung sozialer Ordnung bzw. der Körper als Speicher sozialer (Ungleichheits-)Strukturen sowie die Verkörperung dieser Strukturverhältnisse. Dies ist der Habitus als strukturierte Struktur. Einen zweiten Anhaltspunkt für eine körperbasierte Theorie des Sozialen liefert das Verständnis vom Habitus als praxisstrukturierende Struktur. Dieses verweist auf den handelnden Körper im Sinne einer „leibliche[n] Absicht auf die Welt“ (Bourdieu 1987: 122), wie Bourdieu anschließend an MerleauPontys Konzept des Leibes als „ursprüngliche Intentionalität“ sagt (vgl. Gugutzer 2002: 80ff. und 116f.). Gemeint ist damit der „praktische Sinn“ als eine sozial geprägte leibliche Praxis, die unbewusst, spontan, instinktiv auf die je situativen Anforderungen antwortet. Auf diese Weise, aber auch als habitualisierte, gewohnheitsmäßige Praxis trägt der handelnde Körper zur Reproduktion gesellschaftlicher Strukturen bei. An Bourdieus Habitus- und Praxistheorie wird typischerweise dreierlei Kritik geübt, die es in Hinblick auf eine systematische Aufnahme des Körpers in eine Theorie des Sozialen ernst zu nehmen gilt: Erstens bleibt Bourdieus Kennzeichnung des Habitus als einverleibter Struktur und damit als ‚zweiter Natur des Menschen‘ (vgl. Bourdieu 1987: 105) unklar. Denn die „Ableitung eines Naturalisierungseffekts aus der Inkorporierungsannahme lässt die Frage offen, wie es dazu kommt, dass eine einverleibte Unterscheidung automatisch als natürliche und damit als selbstverständliche und nicht weiter zu hinterfragende Unterscheidung erscheint“ (Jäger 2004: 192). Zweitens erweckt Bourdieus Rede vom Körper als Speicher den Eindruck einer bloßen Metaphorik, insofern er nicht zeigt, wie der Körper diese Funktion erfüllt. „Bourdieu schweigt sich in Bezug auf die Speicherfunktion über die Beschaffenheit des Speichers aus“ (ebd.). Drittens dominiert im Habitus-Konzept eine deterministische und strukturalistische Sicht auf den Körper, die diesen primär als Träger kultureller Codes und Reproduzenten sozialer Strukturen erscheinen lässt. Entsprechend gibt es „little room in Bourdieu’s work for some phenomenological understanding of the ‚lived body‘ as an essential aspect of action, 26

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intention and disposition“ (Turner 1992: 91); ebenso kommt das sozial widerständige und den Habitus transformierende Potenzial körperlicher Praktiken zu kurz (vgl. Alkemeyer 2004; Alkemeyer/Schmidt 2003). Vor allem der dritte Kritikpunkt wurde in den letzten Jahren verstärkt aufgegriffen und produktiv in eine praxeologische Soziologie umgesetzt. Diese zielt darauf ab, den Körper als Agens zu konzipieren und dabei auch die körperbasierten, sozialstrukturell eingebundenen Sozialisations- und Bildungsprozesse körperlicher Habitus herauszuarbeiten (vgl. Meuser 2004: 209ff.; Wacquant 2003; siehe auch Meuser, Alkemeyer und Schmidt in diesem Band). Auch in den Praxistheorien von Andreas Reckwitz und Stefan Hirschauer wird dem Körper eine zentrale Position zugewiesen. So zählt zu den drei Grundelementen in Reckwitz Entwurf einer „Theorie sozialer Praktiken“ neben der „impliziten Logik“ und dem Spannungsverhältnis von „Routinisiertheit und Unberechenbarkeit“ allen voran die „Materialität von Praktiken“ (vgl. Reckwitz 2003, 2004). Die materiellen Instanzen sozialer Praktiken differenziert Reckwitz dabei in Artefakte und den menschlichen Körper: Die Praxistheorie betone, dass „Praktiken nichts anderes als Körperbewegungen darstellen und dass Praktiken in aller Regel einen Umgang von Menschen mit ‚Dingen‘, ‚Objekten‘ bedeuten“ (Reckwitz 2003: 290). Genauer seien soziale Praktiken verkörpert, insofern sie aus routinisierten Bewegungen und körperlichen Verhaltensweisen bestehen. Die Körperlichkeit sozialer Praktiken lasse sich dabei wiederum in zwei Aspekte unterteilen, nämlich in die „Inkorporiertheit“ von Wissen14 und die „Performativität“ des Handelns (vgl. Reckwitz 2004: 45). Daraus folgert Reckwirt, dass „sich der Sozialforscher in seiner Rekonstruktion von Praktiken zunächst auf die Beobachtung der ‚skillful performances‘ von Körpern“ zu konzentrieren habe“ (Reckwitz 2003: 290). Diese methodische Haltung findet sich ebenso in Hirschauers (2004) Praxiskonzept, in welchem dem Körper eine zentrale Bedeutung als „Partizipand“ sozialer Praktiken zukommt. Wie bei Reckwitz ist auch in Hirschauers Ansatz der menschliche Körper ebenfalls ein Akteur unter anderen. Weitere, gleichberechtigte Partizipanden sozialer Praktiken sind „andere Lebewesen, […] Textdokumente, Artefakte und Settings“ (ebd.: 74). Zusammen mit diesen ist der Körper in soziale Prozesse eingeschlossen, wobei die Bezeichnung ‚der‘ Körper ungenau ist, denn, so Hirschauer, Praktiken haben ihre je spezifischen Körper. Aus diesem Grund spricht Hirschauer auch von „Praktiken und ihren Körpern“, und nicht von „Der Körper und die Praxis“ (ebd.: 75). Ist in Praxistheorien deutlich ein body turn zu erkennen, so in den soziologischen Handlungstheorien nur mit Mühe. Soziologische Handlungstheorien fokussieren nach wie vor stark auf das rationale und normorientierte 14 Zur Inkorporierung des Wissens wie auch zur „Exkorporation“ des Wissens und damit zur „Bedeutung des Körpers in der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie“ siehe Knoblauch (2005).

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Handeln und weniger auf die leiblich-körperliche Basis und Ausführung sozialen Handelns (vgl. Joas 1992: 15; Kaufmann 1999: 287). Abgrenzend zu den klassischen soziologischen Handlungstheorien und deren Focus auf den homo oeconomicus oder den homo sociologicus wird in diesen Ansätzen der Frage nachgegangen, wie der Körper am Handeln beteiligt ist, wie er sinnhaftes Handeln anleitet bzw. wie er sinnhaftes Handeln ist. Im Kern wird hiermit das leibliche Fundament sozialen Handelns und die intersubjektive bzw. situative Bedeutung leiblich-körperlichen Handelns analysiert. Dies geschieht in der Regel mit Rekurs auf die pragmatistische Sozialphilosophie, insbesondere von Mead, auf die Philosophische Anthropologie Arnold Gehlens und Plessners sowie auf die Leibphänomenologie Merleau-Pontys und Schmitz’. Konkret wird Bezug genommen etwa auf Meads gestenbasierten Sinn-Begriff, auf Gehlens Ausführungen zum Leibgedächtnis und zur praktischen Erkenntnis, Plessners Differenzierung zwischen Leibsein und Körperhaben, auf MerleauPontys Konzepte der vorreflexiven Intentionalität des Leibes, der Zwischenleiblichkeit und des leiblichen Verstehens oder auf Schmitz’ Ausführungen zu leiblicher Kommunikation (vgl. z.B. Gebauer 1997; Gugutzer 2006a, 2006b; Joas 1992; Meuser 2002). Eines der besten Beispiele für eine solchermaßen verkörperte Handlungstheorie ist Gesa Lindemanns mikrosoziologische Theorie der Geschlechterordnung (vgl. Lindemann 1992, 1993, 1994, 1996). Gestützt auf Plessners Theorie der exzentrischen Positionalität, der Leibphänomenologie von Schmitz und auf der Grundlage empirischer Untersuchungen zur Transsexualität begründet Lindemann darin die These, dass die Stabilität der binär strukturierten Geschlechterordnung auf den leiblich-affektiven Erfahrungen der sozialen Akteure basiert, Mann oder Frau zu sein. Mit Blick auf das Leib-UmfeldVerhältnis von Individuen zeigt Lindemann damit, dass die dichotome Geschlechterordnung nicht so sehr (aktiv) über diskursive oder interaktiv herund dargestellte Konstruktionen reproduziert wird, sondern viel entscheidender aufgrund der wiederholten (passiven) spürbaren Erfahrungen, eines der beiden Geschlechter zu sein. Aus diesem Grund bezeichnet Lindemann Leiblichkeit und Affektivität als „Phänomene sui generis“ (Lindemann 1992: 331) und plädiert dafür, sie als „soziologische Basiskategorien“ bzw. „Konstituens von Sozialität“ (Lindemann 1993: 21) zu behandeln. Dies scheint eine gerechtfertigte Forderung zu sein, wenn man sich vergegenwärtigt, dass nicht nur die Geschlechterordnung in dem Leib-Umfeld-Verhältnis des Menschen fundiert ist, sondern dass dies für jede Form (mikro-)sozialer Ordnung gilt. Dies insofern, als jede soziale Ordnung der sozialen Kontrolle bedarf, um dauerhaft zu bestehen, und soziale Kontrolle, wie bereits Elias gezeigt hat, am wirkmächtigsten auf einer leiblich-affektiven Ebene ist. Wenn soziale Kontrolle leiblich erfahren wird, weil und insofern sie auf die eine oder andere Weise spürbar nahe geht, manifestiert sich darin die Wirklichkeit sozialer 28

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Ordnung. Und wenn der Einzelne und viele andere mit ihm diese Kontrolle wiederholt erleben, reproduziert sich soziale Ordnung. In diesem Sinne liegt Lindemann zufolge „allgemein die Bedeutung der zuständlichen Leiberfahrung für die Beständigkeit sozialer Ordnung darin, dass sie diese den einzelnen als das präsentiert, was sie unmittelbar sind. Der Leib bildet in diesem Konzept – wie bei Bourdieu – das Bindeglied zwischen Individuum und objektivierter Struktur“ (Lindemann 1992: 345).

Konzeptionelle Bausteine. Eine Programmatik Der Überblick über vorliegende Ansätze einer verkörperten Soziologie verdeutlicht zweierlei: Zum einen, dass auch auf der Ebene soziologischer Theoriebildung ein body turn vonstatten geht, wenngleich in diesem Bereich die Hinwendung zum Körper sicher noch nicht vollständig vollzogen ist. Zum anderen, dass sehr unterschiedliche Varianten einer verkörperten Theorie des Sozialen vorliegen. Diese Vielfalt soll nun zu einer Art Synthese gebündelt und damit ein Vorschlag gemacht werden, wie der ‚Körper‘ als soziologische Kategorie gedacht werden kann. Dieser Vorschlag skizziert fünf konzeptionelle Bausteine, die als Grundelemente einer körperbasierten Theorie des Sozialen verstanden werden können. Ihr Ausgangspunkt ist die Feststellung von Hans Joas und Wolfgang Knöbl, wonach sich die Theorieentwicklung in den Sozialwissenschaften entlang von drei Fragen nachzeichnen lasse: „‚Was ist Handeln?‘; ‚Was ist Ordnung?‘; ‚Was bestimmt sozialen Wandel?‘“ (Joas/ Knöbl 2004: 37). Bislang habe jede Sozialtheorie auf diese Fragen eine Antwort geliefert, so Joas und Knöbl. Entsprechend muss auch eine körperbasierte Sozialtheorie zu diesen Fragen Stellung beziehen. Konkret muss sie die Fragen beantworten: Wie ist der Körper am sozialen Handeln beteiligt? Wie stabilisiert der Körper soziale Ordnung? Wie trägt der Körper zu sozialem Wandel bei? Da es sich hier um eine körperbasierte Sozialtheorie handelt, ist des Weiteren die Frage zu klären: Welcher Körperbegriff liegt der Theorie zugrunde? Und schließlich gilt es diese Aspekte zu integrieren und damit vom ‚Körper‘ ausgehend den für die Soziologie zentralen Dualismus von sozialem Handeln und sozialen Strukturen (bzw. Ordnung)15 zu überwinden. Zu fragen ist daher: Wie durchdringen sich Körper, Handeln und Strukturen wechselseitig?16

15 Ich gebrauche im Weiteren die Begriffe „soziale Ordnung“ und „soziale Strukturen“ synonym. 16 Da es sich im Folgenden um eine programmatische Skizze handelt, werde ich die hierfür herangezogenen Referenzautoren nicht mehr im Einzelnen nennen.

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Die Zweiheit des Körpers Mit welchem Körperbegriff kann eine körperbasierte Theorie des Sozialen konzipiert werden? Wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, sind hierfür verschiedene Körperbegriffe denkbar. Mein Vorschlag, den ich an anderer Stelle ausgeführt habe (vgl. Gugutzer 2004a: 146-155), lautet, ‚Körper‘ als die Zweiheit von Leib und Körper zu verstehen. Grundlage für diesen Körperbegriff sind die Theorie der „exzentrischen Positionalität“ von Plessner (1975) sowie die Leibphänomenologie von Schmitz (1992). Mit Plessner lässt sich das Körperverhältnis des Menschen als ein doppeltes bezeichnen: Der Mensch ist sein Körper, und er hat seinen Körper. Körpersein und Körperhaben sind zwei Facetten menschlichen Daseins, die sich wechselseitig bedingen. Körpersein betrifft die organische Ausstattung des Menschen und die daraus resultierende Bindung an das Hier-Jetzt: Ich bin meine Muskeln, Organe, Nerven, Hormone, bin meine Arme, Beine, Hände etc., und aufgrund dessen bin ich raumzeitlich an die Gegenwart gebunden. Körperhaben bezeichnet demgegenüber die humanspezifische Fähigkeit, zu sich selbst in Distanz treten zu können. Das gilt zum einen in Hinblick auf den eigenen Körper, der als Dingkörper instrumentell genutzt werden kann – und zwar in dem Wissen, dies zu können. Zum anderen meint Körperhaben die Fähigkeit, sich selbst zum Gegenstand zu werden, sich zu verobjektivieren, zu reflektieren und so das physisch bedingte Gebundensein an das Hier-Jetzt hinter sich zu lassen. Dieser „Doppelaspekt“ (Plessner) von Körpersein und Körperhaben lässt sich mit Schmitz weiter konkretisieren. Schmitz hat gezeigt, dass dem Menschen sein Sein im Körper – die sich durch den Doppelaspekt von „Seele“ und „Erlebnis“ auszeichnende „Innenwelt“ des Menschen (Plessner 1975: 295ff.) – leiblich-affektiv erfahrbar ist. Aufgrund unseres Körperseins leben wir Hier-Jetzt, in der „Gegenwart“,17 und diese Gegenwart erfahren wir leiblich. In diesem Sinne kann Plessners anthropologischer Begriff „Körpersein“ durch den phänomenologischen Begriff „Leib“ bzw. „Leiblichkeit“ ersetzt werden. Der Doppelaspekt von Körpersein und Körperhaben kann entsprechend gleichgesetzt werden mit der Zweiheit von Leib und Körper: Der wahrnehmend-wahrnehmbare, spürend-spürbare Leib und der Körper als form- und manipulierbarer Gegenstand bilden eine untrennbare, sich wechselseitig prägende Einheit. Leib und Körper bezeichnen sozusagen zwei Seiten

17 Schmitz bezeichnet „Gegenwart“ als „neues Prinzip der Philosophie“ (Schmitz 1964: 149), das er als Ausgangspunkt seines (zehnbändigen) „System der Philosophie“ wählt. Meines Erachtens bietet diese Gegenwarts-Philosophie ein großes und differenziertes begrifflich-analytisches Instrumentarium, um die gerade in Hinblick auf den Sport und Tanz in den letzten Jahren zunehmend diskutierten Phänomene von Präsenz- und Gegenwartserfahrungen gewinnbringend zu untersuchen.

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einer Medaille, der menschlichen Existenz. Sie sind zwei Perspektiven auf den menschlichen Körper, die zu analytischen Zwecken differenziert werden können, realiter aber nicht getrennt sind. Leib und Körper bilden eine Dualität (eben: Zweiheit) und keinen Dualismus. Und wie oben ausgeführt, sind Leib und Körper historisch, kulturell und gesellschaftlich geformte Phänomene.

Zwischenleiblichkeit und Interkorporalität als Bedingung und Materialität sozialen Handelns Die Zweiheit des Körpers ist die Bedingung der Möglichkeit menschlichen Handelns: Menschliches Handeln ist ohne Leib und Körper nicht möglich, ist vielmehr ein körperliches und leibliches Geschehen in Raum und Zeit. Ebenso ist soziales Handeln immer auch ein körperlich-leiblich fundiertes und ausgeführtes Handeln. Zwei (oder mehr) Handelnde, die sich in ihrem Handeln wechselseitig aneinander orientieren, tun dies im Medium von Leib und Körper. Das heißt erstens: Ausgehend von der soziologischen Grundannahme, dass Sozialität dort beginnt, wo zwei menschliche Subjekte einander begegnen, Sozialität deshalb auf einer basalen Ebene als Inter-Subjektivität konstituiert wird und es ein „ontologisches Primat der Wahrnehmung“ (MerleauPonty) gibt, lässt sich sagen, dass Intersubjektivität gleichbedeutend ist mit „leiblicher Intersubjektivität“ bzw. mit „Zwischenleiblichkeit“. Die Konstitution von Sozialität ist im leiblichen Zur-Welt-Sein und der wechselseitigen leiblich-sinnlichen Wahrnehmung sozialer Akteure fundiert. Zwischenleiblichkeit ist aber nicht nur die Möglichkeitsbedingung von Sozialität, sie ist darüber hinaus eine konkrete Kommunikationsform – in den Worten von Schmitz: „leibliche Kommunikation“ (Schmitz 1992: 175-217). Wenn Menschen einander begegnen, kommunizieren und interagieren sie leiblich, auf einer vorreflexiven Ebene, sie nehmen sich sinnlich wahr. Im leiblichen Perspektivenwechsel spüren sie die Verhaltenserwartung des oder der Anderen oft eher oder besser, als dass sie diese bewusst wahrnehmen (vgl. Gugutzer 2002: 108). Menschen kommunizieren zudem nicht nur mit anderen Menschen leiblich, sondern ebenso mit anderen „Partizipanden“ (Hirschauer) sozialer Situationen wie Artefakten – z.B. der Aggressive-Skater mit seinen Skating-Schuhen (vgl. Gugutzer 2004b: 230ff.) – und den situativen Atmosphären (vgl. Gugutzer 2006b). Für Interaktionen ist allerdings – zweitens – nicht allein Zwischenleiblichkeit konstitutiv, sondern ebenso sehr Interkorporalität. Die „körperliche Co-Präsenz“ (Goffman) sozialer Akteure bringt es mit sich, dass der (mehr oder weniger stark bekleidete) Körper als interkorporaler Zeichenträger und damit als das „primäre Deutungsobjekt im Fremdverstehen“ (Raab/Soeffner 2005: 178) fungiert. Im sozialen Handeln sind „Bewegungen, Wahrnehmun31

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gen und Erkenntnisleistungen aufs engste miteinander verwoben“ (ebd.: 171). Entsprechend sind das körperlich-leibliche Interagieren und Verstehen entscheidend an der Her- und Darstellung der „Interaktionsordnung“ (Goffman) beteiligt. Dieser Blick auf die zwischenleiblichen und interkorporalen Bedingungen und Materialisierungen sozialen Handelns verdeutlicht, auf welcher Ebene eine verkörperte Sozialtheorie das Soziale lokalisiert: auf der Ebene von Interaktionen. Interaktionen sind, mit Anthony Giddens gesprochen, der Ort, an dem Strukturen und Handlungen aufeinander treffen (vgl. Giddens 1992: 77). Der analytische Ausgangspunkt einer verkörperten Sozialtheorie ist somit nicht der einzelne verkörperte soziale Akteur – etwa im Sinne des methodologischen Individualismus –, sondern die Verkörperung sozialer Situationen. Im Zentrum stehen nicht individuelle Körper, sondern Körper in Interaktionen, oder in Anlehnung an Goffman: nicht menschliche Körper und ihre Situationen, sondern Situationen und ihre menschlichen Körper (vgl. Goffman 1971b: 9). Eine verkörperte Theorie des Sozialen untersucht daher, wie soziale Entitäten in zwischenleiblichen und interkorporalen Interaktionszusammenhängen produziert und reproduziert werden.

Einverleibung und Verkörperung als Medien der Reproduktion und Repräsentation sozialer Ordnung Eine körperbasierte Theorie des Sozialen fokussiert Einverleibung und Verkörperung als Medien der Reproduktion und Repräsentation sozialer Ordnung. ‚Einverleibung‘ und ‚Verkörperung‘ stehen für zwei komplementäre Perspektiven auf das Verhältnis von sozialem Akteur und sozialen Strukturen – zum einen für die ‚Innensicht‘, zum anderen für die ‚Außensicht‘ auf diese Relation. Eine verkörperte Theorie des Sozialen rückt damit in den Mittelpunkt, dass sich die dauerhafte Stabilität sozialer Ordnungen in einem entscheidenden Maße dem Umstand verdankt, dass diese von den sozialen Akteuren inkorporiert werden. Frei nach Barbara Duden ist es mindestens so sehr die ‚Gesellschaft unter der Haut‘18 als (um im Bild zu bleiben) die ‚Gesellschaft im Kopf‘, durch die diese stabilisiert wird. Eine verkörperte Sozialtheorie thematisiert in diesem Sinne das strukturkonservative Moment von Leiberfahrungen: Die gesellschaftlich geprägten leiblichen Erfahrungen als Garanten sozialer Wirklichkeit und Ordnung. Korrelierend hierzu wird der von außen wahrnehmbare Körper als symbolische Repräsentation sozialer Strukturen analysiert. Eine körperbasierte Sozialtheorie richtet ihr Augenmerk auf die soziale Zeichenfunktion körperlicher Erscheinungs- und Verhaltensweisen,

18 Dies in Anlehnung an Dudens Buchtitel Geschichte unter der Haut (Duden 1987).

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oder umgekehrt gesagt auf die sichtbaren Verkörperungen sozialer Ordnungen, durch die soziale Strukturen ebenfalls reproduziert werden. Dabei rekonstruiert eine verkörperte Sozialtheorie nicht nur, dass handelnde Individuen soziale Strukturen einverleiben und erkennbar verkörpern, sondern ebenso sehr das Wie dieser Aneignungsprozesse. Mit Bourdieu gesprochen interessieren hier die „Strukturübungen“ (Bourdieu 1987: 139), mittels derer die sozialen Akteure die grundlegenden Ordnungsschemata des jeweiligen sozialen Feldes lernen, habitualisieren und damit institutionell auf Dauer stellen. Solche Strukturübungen erfolgen typischerweise mimetisch, also in leibkörperlichen Praktiken.

Körpereigensinn und Körperpraxis als Medien der Konstruktion und Transformation sozialer Ordnung Die Zweiheit des Körpers ist, wie gesagt, Bedingung und Materialität sozialen Handelns. Vor diesem Hintergrund thematisiert eine verkörperte Theorie des Sozialen, wie leibliches und verkörpertes soziales Handeln an der Konstruktion und Transformation sozialer Strukturen beteiligt sind. Die Herstellung von sozialer Ordnung wie auch die Initiierung sozialen Wandels erfolgen dabei im Medium des eigensinnigen Körpers sowie von Körperpraktiken. Es interessiert hier die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit primär unter dem Gesichtspunkt routinehafter, inszenatorischer und performativer körperlicher Praktiken. Das Augenmerk ist auf die Materialität sozialen Handelns und damit auf den prozessualen Aspekt von Gesellschaft gerichtet – Vergesellschaftung als zeitlich und auch räumlich begrenztes Ergebnis der körperlichen Vollzüge sozialer Akteure. Aus einer prozessualen Perspektive sind soziale Strukturen ohnehin nie statisch, sondern immer im Wandel begriffen. Für diesen impliziten oder latenten Wandel ist der nicht-kontrollierbare, eigenwillige und eigensinnige Körper ein besonders bedeutsamer Akteur. Er kann als eine Art Seismograph für krisen- oder konflikthafte soziale Verhältnisse fungieren, der schließlich rationales Handeln auslöst. Sofern sie bemerkt werden, machen sich „die gesellschaftlichen Leiden“ jedoch zu erst als „Leiden an der Gesellschaft“ (Dreitzel 1972) fest, als ein leiblich-affektives Betroffensein von sozialen Missständen, Ungerechtigkeiten, Ungleichheiten, Diskriminierungen, Stigmatisierungen etc., und dies auf mikro-, meso- und makrosozialer Ebene gleichermaßen. Eine verkörperte Theorie des Sozialen fokussiert die Bedingungen und Kontexte solcher spürbaren Widerstände, ihre ‚Übersetzung‘ in Sprache und bewusst-intentionales Handeln, sowie die strukturellen Transformationsprozesse, die aus der vorgängigen spürbaren Widerständigkeit folgen. Von Interesse sind für eine körperbasierte Sozialtheorie selbstredend auch jene Formen expliziten sozialen Wandels, die durch die Körperpraktiken von 33

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Kollektivkörpern ausgelöst werden. Zu denken ist hier vor allem an gewalttätige Körperpraktiken durch soziale Klein- oder Großgruppen, aber ebenso an friedliche Demonstrationen von Kollektivkörpern, deren strukturtransformierende Kraft nicht minder gering sein muss, mitunter ganz im Gegenteil. Zu unterscheiden ist hierbei zwischen intentional handelnden Kollektivkörpern, die absichtsvoll sozialen Wandel initiieren, und solchen Kollektivpraktiken, die sozialen Wandel als nicht-intendierten Nebeneffekt zur Folge haben.

Die Dualität von Struktur und Körper Eine derart beschaffene verkörperte Theorie des Sozialen leistet einen Beitrag zur Beantwortung der zentralen Frage der Soziologie, wie das Verhältnis von Gesellschaft und Individuum bzw. von sozialen Strukturen und sozialem Handeln zu verstehen ist. Damit setzt die körperbasierte Sozialtheorie gewissermaßen eine Ebene tiefer bzw. grundsätzlicher an als der Großteil körpersoziologischer Ansätze, die sich lediglich auf den Körper als Gegenstand der Forschung konzentrieren. Denn dort wird primär die Überwindung des Körper/Geist-Dualismus‘ anvisiert. Der Körper/Geist-Dualismus – und daraus sich ableitende Dualismen wie Natur/Kultur, Gefühl/Vernunft, Frau/Mann – steht gewissermaßen für die Handlungs-Seite im Struktur/Handlung-Dualismus und ist diesem damit nachgeordnet. Wenn die soziologische Beschäftigung mit dem menschlichen Körper nicht bloß zu einer weiteren Teilsoziologie führen, sondern von Bedeutung für die allgemeine Soziologie sein soll, dann reicht es letztlich jedoch nicht, nur den Körper/Geist-Dualismus überwinden zu wollen. Notwendig ist vielmehr die Überwindung des grundlegenderen Struktur/Handlung-Dualismus, von dem jener nur ein Teilaspekt ist. In diesem Sinne markiert der Schritt von der Überwindung des Körper/GeistDualismus‘ hin zur Überwindung des Struktur/Handlung-Dualismus‘ den Ebenenwechsel von der Soziologie des Körpers zu einer verkörperten Sozialtheorie.19 Als allgemeiner theoretischer Rahmen erweist sich für ein solches Vorhaben die Strukturierungstheorie von Giddens als anschlussfähig20 (vgl. Giddens 19 Letzteres wollten zwar auch Giddens und Bourdieu, doch geschieht das mit dem hier vorgeschlagenen Konzept in einem erweiterten Rahmen. 20 Alternativ könnte auch die Habitus-Theorie Bourdieus herangezogen werden. Sofern eine verkörperte Theorie des Sozialen jedoch Interaktionen als Ort des Sozialen und analytischen Ausgangspunkt wählt, ist Giddens‘ Strukturierungstheorie geeigneter. Giddens Strukturierungstheorie ist im Übrigen selbst kaum als verkörperte Sozialtheorie anzusehen, da sie dazu letztlich zu kognitivistisch angelegt ist. Einen Versuch, diesen kognitiven Bias zu korrigieren, hat Shilling unternommen, der dazu auf Goffmans Konzept der „Interaktionsordnung“ zurückgriff (vgl. Shilling 1997, 1999; Shilling/Mellor 1996; vgl. hierzu Gugutzer 2004: 118-124).

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1992). In der Terminologie von Giddens lässt sich sagen, dass eine verkörperte Sozialtheorie die „Dualität von Struktur und Handeln“ zum Gegenstand hat, und dies unter systematischer Einbeziehung ‚des‘ Körpers. „Dualität von Struktur und Handeln“ – oder kurz: „Dualität von Struktur“ – meint die wechselseitige Durchdringung von gesellschaftlichen Strukturen21 und individuellem Handeln: Strukturen sind sozialem Handeln immanent, insofern sie Handeln ermöglichen oder begrenzen, wie umgekehrt die Handlungen sozialer Akteure allererst gesellschaftliche Strukturen hervorbringen. Das deckt sich mit der Konzeption des Körpers als Zweiheit von Leib und Körper: Leiblichen Erfahrungen sind Körperpraktiken und Körperwissen immanent (diese prägen jene), wie umgekehrt körperliche Praktiken und körperliches Wissen leiblich erworben, angeleitet und verankert werden. So wie Strukturen und Handeln also ineinander verschränkt sind, sind auch Leib und Körper ineinander verschränkt. ‚Struktur‘ und ‚Körper‘ sind damit Begriffe, die zum einen je für sich Dualitäten (nicht: Dualismen!) beschreiben, zum anderen als Relation ebenfalls eine Dualität bezeichnen. Als Dualität von Struktur und Körper zielt eine solche verkörperte Sozialtheorie darauf ab, die Konstitution von Sozialität unter dem Gesichtspunkt der wechselseitigen Prägung und Hervorbringung von sozialen Strukturen und leibkörperlichen Handelns herauszuarbeiten.

Eine leib- und körperbasierte Erkenntnistheorie: Epistemologischer Korporalismus Verglichen mit dem Körper als Forschungsgegenstand wie auch als Theoriekategorie der Soziologie wurde der Körper unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten bislang am wenigsten diskutiert. In gewissem Sinne liegt hier eine Parallele zum Verhältnis von Soziologie des Körpers und verkörperter Sozialtheorie vor: So wie im Kontext der Körpersoziologie der Körper primär als Forschungsobjekt thematisiert wird, zielt auch der Großteil der erkenntnistheoretischen Überlegungen auf den Körper als Erkenntnisobjekt. Innerhalb der Soziologie des Körpers lassen sich dabei grob drei erkenntnistheoretische 21 Hinsichtlich der Kategorie ‚Struktur‘ scheint es allerdings ratsam, Giddens engen Strukturbegriff, der auf Regeln und Ressourcen begrenzt ist, durch einen umfassenderen Strukturbegriff zu ersetzen. Eine gute Möglichkeit hierfür ist der Strukturbegriff von Uwe Schimank. Schimank (2000: 176ff.) definiert „soziale Strukturen“ als „Erwartungsstrukturen“ (formelle und informelle Normen und Regeln, Moralvorstellungen, Sitten, Bräuche, Umgangsformen), „Deutungsstrukturen“ (Werte, Leitbilder, Wissensformen, die binären Codes gesellschaftlicher Teilsysteme) und „Konstellationsstrukturen“ (Freundschafts- wie Konkurrenzverhältnisse, Verteilungsmuster, insbesondere Macht- und Ungleichheitsstrukturen).

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bzw. methodologische Positionen unterscheiden (vgl. zusammenfassend Shilling 2005: Kap. 3): Erstens sozialkonstruktivistische Ansätze, die den menschlichen Körper als Produkt historischer Entwicklungen, gesellschaftlicher Strukturen, Institutionen und Diskurse thematisieren; am einflussreichsten war und ist hierbei der Post-Strukturalismus bzw. der Dekonstruktivismus. Zweitens handlungsorientierte und phänomenologische Ansätze, deren Focus auf leiblichen Erfahrungen und Wahrnehmungen sowie auf dem Körper als vorreflexiv und performativ agierenden Produzenten gesellschaftlicher Wirklichkeit liegt; hier dominiert die Phänomenologie Merleau-Pontys. Drittens Strukturierungstheorien, die den Körper sowohl als Konstruktion wie auch als Hervorbringer sozialer Strukturen betrachten; Bourdieus Habitustheorie und Giddens Strukturierungstheorie sind die prominentesten Ansätze in diesem Feld. Shillings eigener Ansatz, den er als „corporeal realism“ bezeichnet (Shilling 2005: 12ff.), kann ebenso als ein solcher Vermittlungsversuch angesehen werden wie Turners „epistemological pragmatism“ (Turner 1992: 61, 240ff.), der „foundationalist“ und „anti-foundationalist“ Perspektiven auf den Körper verknüpft.22 Analog zu der im Vergleich zum Körper als Forschungsobjekt deutlich geringeren Anzahl körperbasierter Sozialtheorien ist ebenso die Zahl körperbasierter Epistemologien relativ gering. Wie der „Körper als Forschungssubjekt“ (Gugutzer 2004a: 14ff.) an der soziologischen Erkenntnisproduktion beteiligt ist, wie mit anderen Worten die Leiblichkeit und Körperlichkeit von Soziologinnen und Soziologen als Mittel und Quelle wissenschaftlicher Erkenntnisse fungieren, bleibt allenthalben außerhalb des soziologischen Diskurses. Daher wäre es sicherlich zu viel gesagt, dass sich auch auf einer epistemologischen Ebene bereits ein body turn vollzogen habe. Gleichwohl finden sich auch hier Anhaltspunkte für ein verstärktes Interesse an einer leib- und körperbasierten Erkenntnistheorie bzw., wie ich es nennen möchte, an einem epistemologischen Korporalismus, die für einige programmatische Überlegungen genutzt werden können. Autor des derzeit wohl populärsten Ansatzes, der Grundlage eines epistemologischen Korporalismus sein kann, ist Bourdieu. Bourdieus praxeologische Erkenntnistheorie ist angelegt als kritische Reflexion der Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis, genauer als „Kritik der theoretischen Vernunft“ bzw. der „scholastischen Vernunft“.23 Hierbei geht es Bourdieu unter anderem darum, die Differenz zwischen der theoretischen Erkenntnis von Wissenschaftlern und der praktischen Erkenntnis von Alltagsakteuren herauszuarbei22 Siehe hierzu auch Jägers Integration von Poststrukturalismus und Phänomenologie (Jäger 2004). 23 „Kritik der theoretischen Vernunft“ lautet der deutsche Untertitel von Sozialer Sinn (Bourdieu 1987), „Kritik der scholastischen Vernunft“ von Meditationen (Bourdieu 2001).

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ten und auf die unterschiedlichen Logiken hinzuweisen, die diese Erkenntnisarten charakterisieren.24 Als zentrale Differenzen zwischen der theoretischen und der praktischen Erkenntnislogik nennt Bourdieu, dass die praktische Logik im Unterschied zur theoretischen typischerweise unter Zeit- und damit Handlungsdruck angewandt werde, ökonomisch in dem Sinne sei, dass nicht mehr gedanklicher Aufwand aufgebracht wird als erforderlich, sie situationsgebunden sei und daher gewohnheitsmäßiges und/oder ‚instinktives‘ Handeln anleite. In diesem Sinne erfordere die Logik der Praxis eine praktische Form der Erkenntnis. Diese ist im Habitus angelegt und entsprechend eine explizit körperliche Form der Erkenntnis: die „körperliche Erkenntnis“ ermöglicht ein „praktisches Erfassen der Welt“ (Bourdieu 2001: 174). Mit körperlicher Erkenntnis bezeichnet Bourdieu ein „Verstehen mittels des Körpers“ (Bourdieu 1992: 205), das durch die Einverleibung sozialer Strukturen und mithin dem Erwerb eines feldspezifischen Habitus möglich wird. Als typische soziale Handlungsfelder, in denen das körperliche Verstehen25 und Erkennen zum Einsatz kommt, nennt Bourdieu Sport, Tanz und Musik. „Je nach Situation und Tätigkeitsbereich ist praktische Erkenntnis in höchst unterschiedlichem Maße gefordert und notwendig, aber auch in höchst unterschiedlichem Maße ausreichend und angemessen. Im Gegensatz zu den scholastischen Welten verlangen bestimmte Universen wie die des Sports, der Musik oder des Tanzes ein praktisches Mitwirken des Körpers und somit die Mobilisierung einer körperlichen ‚Intelligenz‘ […]“ (Bourdieu 2001: 184f.).

Körperlich-praktisches Erkennen, so wird an diesem Zitat deutlich, ist Bourdieu zufolge in (körperorientierten) gesellschaftlichen Bereichen außerhalb der „scholastischen Welten“ häufig sinnvoll oder gar unabdingbar, innerhalb des akademischen Universums aber offensichtlich nicht. Dass körperliches Verstehen und Erkennen auch in den scholastischen Welten „gefordert“, „notwendig“ oder „angemessen“ sein könnten, sagt Bourdieu so jedenfalls nicht. Dadurch, dass er die körperliche Erkenntnisgewinnung innerhalb der Wissenschaft nicht thematisiert, übergeht Bourdieu jedoch die professionelle 24 Verwechsele oder vermische man diese beiden Erkenntnisweisen, wie dies Bourdieu zufolge der so genannte Objektivismus immer wieder tue, habe das fatale erkenntnistheoretische Folgen (vgl. Bourdieu 1987: 68ff., 148). Darüber hinaus richtet sich Bourdieus Kritik an die Sozialwissenschaften selbst, indem er deren künstliche Spaltung in subjektivistische und objektivistische Erkenntnisweisen als einen ihrer größten Fehler beanstandet (vgl. Bourdieu 1976: 146-164, 1987: 47-96). 25 Genauer müsste hier von leiblichem Verstehen gesprochen werden. Siehe dazu Gugutzer (2006a), wo eine Differenzierung in „spürende Verständigung“, „spürende Gewissheit“ und „atmosphärisches Verstehen“ vorgeschlagen wird. Zum „atmosphärischen Verstehen“ von und in sozialen Situationen siehe auch Gugutzer (2006b).

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Praxis des doing sociology – die Betrachtung der Soziologie als einer körperlich-leiblichen Praxis sozialer Akteure,26 die im Medium ihrer Verkörperung soziologische Erkenntnisse produzieren. Auch bei Bourdieu ist der Körper so letzten Endes nur Objekt wissenschaftlicher Erkenntnis.27 Eine leib- und körperbasierte Erkenntnistheorie – die gewissermaßen mit Bourdieu über Bourdieu hinausgeht – zielt demgegenüber jedoch auf den Körper als Subjekt wissenschaftlicher, hier: soziologischer Erkenntnis. Und zwar in dem Sinne, wie Wacquant vom „Wert einer leiblichen Soziologie“ spricht, „die sich nicht allein auf den Körper im Sinn eines Objekts bezieht, sondern vom Körper als Untersuchungsinstrument und Vektor der Erkenntnis ausgeht“ (Wacquant 2003: 270; Herv. im Orig.).

doing sociology und der Körper als Forschungssubjekt Den eigenen Körper als „Untersuchungsinstrument und Vektor der Erkenntnis“ zu nutzen, stößt im Feld der Wissenschaft typischerweise auf (spürbaren!) Widerstand. Darin artikuliert sich der in den scholastischen Welten weiterhin dominante cartesianische Körper-Geist-Dualismus wie auch der hiermit zusammenhängende Subjekt-Objekt-Dualismus: Erkenntnisobjekt und Erkenntnissubjekt gelten hier als klar voneinander zu scheidende Entitäten und wissenschaftliche Erkenntnis als notwendiges Resultat rationalen Verstehens, weshalb subjektive Faktoren wie die Biographie des Forschers, sinnliche Wahrnehmung und Gefühle auszuklammern seien. Der Aufmerksamkeitsfokus auch von Sozialwissenschaftlern ist typischerweise auf das Erkenntnisobjekt (Text, Interviewpartner, Gruppe, Setting, Videomaterial etc.) gerichtet, deutlich weniger intensiv auf die Interaktion zwischen Erkenntnissubjekt (der/die Forscher/in) und Erkenntnisobjekt, und am aller wenigsten auf sich selbst als Erkenntnissubjekt. So argumentiert etwa der Ethnopsychoanalytiker Georges Devereux (1998). Devereux führt dazu aus, dass sich Wissenschaftler insbesondere aus Gründen der „Angstreduktion“ auf (vermeintlich) objektivierende Methoden stützen und die Wahrnehmung nicht auf sich und die Interaktion mit dem Erkenntnisobjekt richten würden (vgl. Breuer 2000: 40f.). Als Psychoanalytiker plädiert er deshalb dafür, dass die in Interaktionskontexten ohnehin nicht zu vermeidende „Gegenübertragungs-Reaktion des Wissenschaftlers (bzw. die affektiv26 Wie ich an anderer Stelle kurz ausgeführt habe, besteht die körperliche Praxis von Soziologen aus Lesen, Schreiben, Sprechen, Hören, Sehen, Denken – allesamt leibkörperliche Praktiken (vgl. Gugutzer 2004a: 14f.). 27 Trotz Aussagen wie der folgenden: „Zwanzig Jahrhunderte diffuser Platonrezeption und christianisierender Deutungen des Phaidon führten dazu, den Körper nicht als Instrument, sondern als Hemmschuh der Erkenntnis zu sehen und den spezifischen Charakter der praktischen Erkenntnis zu ignorieren“ (Bourdieu 2001: 176; Herv. im Orig.).

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emotionalen Phänomene, die mit diesem Konstrukt-Begriff bezeichnet werden)“ (ebd.: 46) produktiv zu nutzen. Gemeint ist damit die leibliche Kommunikation zwischen Forscher und Forschungsgegenstand, bei der das Forschungsobjekt im Körper des Forschers leiblich-affektive Reaktionen auslöst. Aus psychoanalytischer Sicht stehen solche „affektiv-emotionalen Reaktionen auf Wissenschaftler-Seite (Ängste, Verunsicherungen, Peinlichkeiten sowie Begehrlichkeiten, Attraktionen u.Ä.) […] in Zusammenhang mit Abwehrund Vermeidungsstrategien, Abneigungen, Vorlieben, Aufmerksamkeitsaboder -zuwendungen etc. im Forschungsprozess – i.w.S. also mit methodischen Entscheidungen“ (ebd.: 45; Herv. im Orig.). Das bedeutet im Umkehrschluss, dass die Nichtbeachtung solcher leiblich-affektiven Reaktionen, die aus der Interaktion mit dem Forschungsobjekt resultieren, unbewusst und methodisch unkontrolliert Einfluss auf den Forschungs- und Erkenntnisprozess nimmt. Vor diesem Hintergrund lässt sich das methodologische Gebot aufstellen, dass der/die Forscher/in eine selbst-bewusste, aufmerksame und selbstreflexive Hinwendung zu den eigenen leiblich-affektiven Empfindungen in der konkreten Forschungspraxis vorzunehmen habe. Das gilt vor allem für solche Erfahrungen, in denen sich der Körper als Forschungssubjekt besonders deutlich zu Wort meldet, nämlich in Momenten spürbaren Widerstandes. Der spürbare innere Widerstand, der sich etwa beim Lesen eines Textes einstellt, oder bei der Konfrontation mit einer These, in einer ‚hitzigen‘ Diskussion, durch die körperliche Performance eines Vortragenden oder die Gestik und Mimik einer Interviewpartnerin, durch die Fremdheit einer Subkultur, an der man beobachtend teilnimmt, aufgrund der Antipathie gegenüber einem wissenschaftlichen Konkurrenten etc., all diese widerständigen Erfahrungen, die normaler Bestandteil des Forschungsalltags sind, nehmen unmerklich aber unweigerlich Einfluss auf den Forschungsprozess. Sie steuern den Erkenntnisprozess, da sie zu genauem oder ungenauem Lesen von Texten, zur Bereitschaft oder Weigerung inhaltlicher Auseinandersetzungen, zur selektiven Wahrnehmung und Aufnahme von Argumenten etc. führen (können). Aber nicht nur den gespürten Widerständen angesichts missliebiger Theorien, Autoren, Personen oder Kontexten wohnt (zunächst ex negativo) ein Erkenntnispotenzial inne, sondern ebenso sehr positiven leiblichen Gestimmtheiten wie der Sympathie für ein Thema, einen Ansatz, Autor, eine Subkultur. Auch hierdurch kann der Forschungsprozess auf die eine oder andere Weise einseitig gesteuert werden. Ob positiv oder negativ, diese leiblichaffektiven Stellungnahmen zum Forschungsgegenstand sind unvermeidlich. Daher sollte es eine methodologische Selbstverständlichkeit sein, dass der/die Wissenschaftlers/in diese leiblich-affektiven Aspekte seines/ihres wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses selbstkritisch reflektiert.

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In diesem Sinne argumentiert auch Anke Abraham (2002: 182-204), wenn sie auf die „soziologische Relevanz leiblicher Wahrnehmung und leiblichen Erkennens“ aufmerksam macht (ebd.: 188). Unter Bezugnahme auf die Leibphänomenologien von Merleau-Ponty und Schmitz kritisiert Abraham die traditionelle, rationalistische Erkenntnishaltung in der Wissenschaft und plädiert für die ergänzende Verwendung nicht-rationaler Erkenntnisformen. Ihre Kritik richtet sich bspw. gegen die traditionelle Forderung, Distanz und eine neutrale Haltung zum Forschungsobjekt einzunehmen. Denn diese Forderung, so Abraham, „beraubt den/die Forschende/n des größten Erkenntnispotenzials, das ein Mensch besitzen kann: der Fähigkeit, die eigenen leiblichen, sinnlichen und bewusstseinsmäßigen Erfahrungen ins Spiel zu bringen und als Erkenntnisquelle zu nutzen“ (ebd.: 194; Herv. im Orig.). Der Leib „ist ein Speicher von Erfahrungen und Wissen ganz besonderer Art und er kann uns so auch zu anderen Erkenntnissen führen“ (ebd.; Herv. im Orig.). Dafür sei es allerdings notwendig, Nähe zum Forschungsgegenstand zuzulassen, sich auf ihn einzulassen, sich von ihm leiblich-affektiv berühren zu lassen – und zwar „methodisch kontrolliert“ sowie in Beziehung gesetzt zu anderen Arten der Datengewinnung.28 Die auf nicht-rationalem, leiblichem Wege gewonnen Erkenntnisse gilt es Abraham zufolge mit auf rationalem Wege erzielten Erkenntnissen zu verknüpfen und wechselseitig aneinander zu kontrollieren, um so zu umfassenden und fundierten wissenschaftlichen Erkenntnissen zu gelangen. Ein so verstandener epistemologischer Korporalismus weist somit auf die Grenzen des scholastischen Dogmas rationaler Erkenntnis hin, stellt aber keineswegs die Bedeutung traditioneller wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung in Frage. Der bescheidenere Anspruch ist vielmehr, dass ein epistemologischer Korporalismus – analog zu einer körperbasierten Sozialtheorie – aufgrund seiner systematischen Berücksichtigung von Leib und Körper (hier: des/der Soziologen/in) zusätzliche (erkenntnis-)theoretische Gewinne zu versprechen vermag. Notwendig hierfür ist zum einen die Übertragung der Grundannahmen des epistemologischen Korporalismus auf einen entsprechenden methodologischen Korporalismus, der sich an den methodologischen Prinzipien qualitativer Sozialforschung zu orientieren und zentral das Verhältnis von Leib, Körper und Sprache zu behandeln hätte. Zum anderen müsste es um die Ausarbeitung und das Erlernen leib- und körpernaher methodischer Forschungsinstrumentarien gehen. Die methodische Kompetenz, die zum Beispiel durch Forschungssupervisionen erworben werden könnte, zeichnete sich dann dadurch aus, die leibliche Kommunikation mit dem Forschungsobjekt als Mittel sowie das leibliche Verstehen als Quelle wissenschaftlicher Erkenntnisse methodisch kontrolliert nutzen zu können.

28 Vgl. dazu auch Abraham in diesem Band.

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Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports Der body turn in der Soziologie nahm seinen Ausgang, so wurde einleitend gesagt, in der ‚Entdeckung‘ des menschlichen Körpers als Gegenstand soziologischer Forschung. Die so entstandene Soziologie des Körpers hat dabei sehr unterschiedliche Themengebiete untersucht, erstaunlicherweise jedoch ein sehr nahe liegendes nur am Rande: den Sport. Vor allem die deutschsprachige Soziologie des Körpers hat den Sport lange Zeit mehr oder weniger ignoriert. Das ist sehr bemerkenswert, ist doch der Sport wie kaum ein zweites soziales Handlungsfeld für körpersoziologische Untersuchungen prädestiniert. Sport ist ein fundamental körperbasierter Sozialbereich, an dem sich deshalb das für die Soziologie des Körpers grundlegende Thema – das wechselseitige Durchdringungsverhältnis von Körper und Gesellschaft – geradezu idealtypisch nachzeichnen lässt. Darüber hinaus finden sich im Sport all die Themen wieder, mit denen sich die Körpersoziologie bevorzugt befasst: Geschlecht, Gesundheit, Alter, Identität, Lebensstil, Subkultur, Ästhetik, Behinderung, Gewalt, Rassismus, (gen-)technologische Manipulation u.a.m. Zudem bietet der Sport Forschungsthemen, die in weniger körperbasierten Handlungsfeldern schwieriger zu analysieren wären, etwa Fragen zum milieuspezifischen und nichtsprachlichen Lernen von Körperbewegungen. Vor diesem Hintergrund setzt der vorliegende Sammelband einen Kontrapunkt zur bisherigen no sports-Mentalität der Körpersoziologie. Umgekehrt ist in der deutschsprachigen Soziologie auffällig, dass in einigen Teilsoziologien, deren Gegenstand einen expliziten Körperbezug aufweist, der Körper ausgesprochen randständig thematisiert wird. So zum Beispiel in der Gewaltsoziologie (vgl. Schroer 2005b: 7), der Sexualsoziologie (vgl. Meuser 2004: 200), aber auch in der Sportsoziologie. Trotz einiger bedeutender Ausnahmen29 kann für die deutschsprachige Sportsoziologie gesagt werden, dass sie den Körper mehr oder weniger marginalisiert. Ihr Focus richtet sich primär auf die institutionelle Ordnung des Sports (Vereine, Verbände, Machtstrukturen, kommerzielle Anbieter etc.), soziale Prozesse im Sport (Sozialisation, soziale Integration, abweichendes Verhalten, soziale Ungleichheit etc.), Sozialfiguren (Trainer- und Athletenrolle, Zuschauer, Ehrenamtliche etc.) sowie auf die historische Genese des modernen Sports, seine gesellschaftliche Ausdifferenzierung und Interdependenz mit anderen sozialen Teilsystemen. Dies sind unzweifelhaft zentrale Themenfelder der Sportsoziologie. Gleichwohl wird damit eine zwar triviale, nichtsdestotrotz aber für den Sport fundamentale Tatsache ausgeblendet: Sport ist ohne Körper in Bewegung 29 Hierzu zählen etwa die Arbeiten von Bette (1987, 1989, 1999, 2004), Eichberg (1973, 1978), M. Klein (1984, 1991), König (1989) oder Rittner (1983, 1986, 1989, 1999).

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nicht denkbar. Sport ist eine Sonderform kodifizierter Körperbewegungen und damit wie kaum ein zweiter Sozialbereich abhängig von der Körperlichkeit der in ihm agierenden Akteure. Allein vor diesem Hintergrund scheint es angebracht, Volker Rittners mehr als 30 Jahre alte konstitutionstheoretische Empfehlung an die Sportwissenschaft endlich ernst zu nehmen: Rittner zufolge solle der Gegenstand der Sportwissenschaft, und damit auch der Sportsoziologie, „nicht der ‚Sport‘ in einem restringierten Sinne sein“, sondern „der Körper oder der Leib“ (Rittner 1974: 364). Der vorliegende Sammelband dokumentiert, dass Rittners Stimme inzwischen Gehör gefunden hat. Die einzelnen Beiträge spiegeln so den body turn in der Soziologie nicht nur wieder, sondern treiben ihn zugleich voran. Ihr Augenmerk ist dabei vor allem auf die Ebene des Körpers als (sport-)soziologischer Forschungsgegenstand sowie auf die Ebene einer körperbasierten (und vom Sport ausgehenden) Theorie des Sozialen gerichtet. Die Beiträge verdeutlichen zudem, dass „Bewegung“ ein immer wichtiger werdendes empirisches und theoretisches Konzept in der Körper- und Sportsoziologie ist (vgl. dazu auch Klein 2004a). Die Struktur des Bandes ist motiviert von dem mit ihm verbundenen programmatischen und theoriepolitischen Anspruch. Er gliedert sich in vier Teile: Der erste Teil – System vs. Praxis. Zwei Theorieperspektiven – stellt die beiden derzeit einflussreichsten theoretischen Ansätze in der deutschsprachigen Körper- und Sportsoziologie vor: Niklas Luhmanns Systemtheorie und Bourdieus Praxistheorie. Bero Rigauer wirft dabei einen kritischen Blick auf die Soziologie des Körpers und der mit der Etablierung dieser Teilsoziologie drohenden „Entsoziologisierung der Soziologie“, und konzipiert abgrenzend dazu ein system- und differenzierungstheoretisches Theorie- und Forschungsprogramm, das den menschlichen Körper als Forschungsgegenstand in eine soziologische Gesellschaftstheorie integriert. Bernd Schulze richtet demgegenüber seinen Fokus auf das in der systemtheoretischen Sportsoziologie vernachlässigte Thema „Bewegung“; sein systemtheoretisches Bewegungskonzept entwickelt und illustriert er am Beispiel des Sportspiels Fußball. Eine Gegenposition zu diesen systemtheoretischen Ansätzen skizziert Michael Meuser, der im Anschluss an seine Kritik der kognitivistischen Verengung der traditionellen soziologischen Handlungstheorie eine körpersoziologisch fundierte Handlungstheorie konzipiert, in deren Mittelpunkt der menschliche Körper als sinnhaft strukturiertes Agens steht; Handlungstheorie wird hier als „praxeologischer Konstruktivismus“ entworfen. Die nachfolgenden Kapitel des Bandes orientieren sich an der theoretischen Leitunterscheidung Erfahrung – Diskurs – Praxis. Im zweiten Teil – Körpererfahrung und Selbstthematisierung – beschreibt Anke Abraham aktuelle Bedrohungen, denen der menschliche Körper aufgrund der Beschleunigungsdynamiken spätmoderner Gesellschaften ausgesetzt ist. Vor diesem 42

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Hintergrund plädiert sie für eine stärkere soziologische Berücksichtigung der Kreatürlichkeit und Verletzlichkeit des Körpers, mithin der tiefenstrukturellen Ebenen von Leiblichkeit, biographischen Erfahrungen und Kultur. Nina Degele thematisiert mit ihrem Untersuchungsgegenstand „Schmerz“ eine vermeintlich weitere leibliche Bedrohung. Ihre empirische Untersuchung von drei Sportgruppen zeigt jedoch, dass für Individuen und Gruppen, die sich „für Schmerz entschieden“ haben und Schmerz daher „normalisieren“, dieser identitäts- und gemeinschaftsstiftend ist. Degele schlägt zudem vor, das Thema „Schmerz“ als Bindeglied zwischen Körper- und Sportsoziologie sowie als Mittel der Gesellschaftsdiagnose zu nutzen. Stefan Beier wiederum untersucht den Zusammenhang von Leiberfahrung, Körperlichkeit und Geschlechtsidentität auf der Grundlage einer empirischen Studie, die die leiblichen Bewegungserfahrungen von Männern ins Zentrum stellt. Gestützt auf die Methode der „Erinnerungsarbeit“ rekonstruiert er, wie das soziale Körperwissen einer bestimmten Bewegungskultur (hier: Wettkampfsport, Tanz, Körperarbeit) habituelle männliche Selbstkonstruktionen strukturiert. Elk Franke schließlich kritisiert an den Selbst-Konstruktionen der modernen Sozialphilosophie deren kognitivistischen Reflexivitätsbegriff und entwickelt abgrenzend dazu seinen Begriff „reflexiver Leiberfahrung“. Er hebt damit hervor, dass Leiberfahrungen aufgrund ihrer konstitutiven Differenzbedingungen („Brüche“, „Widerfahrnisse“) ein selbst-reflexives Potenzial innewohnt. Deshalb müsse eine sozialwissenschaftliche Theorie des Selbst immer auch das Identitätspotenzial leiblich-körperlicher Reflexivität berücksichtigen. Im dritten Teil – Körperdiskurse und Bewegungskulturen – präsentiert Paula-Irene Villa eine diskurstheoretische Analyse des Tango Argentino. Dabei zeigt sie, dass der Tango-Diskurs den transnationalen „Konstitutionsrahmen“ für je spezifisch lokale Tango-Praktiken bildet, und dass umgekehrt diese Bewegungspraktiken der Tänzerinnen und Tänzer den Tango-Diskurs am Laufen halten. Die diskursiven Konstitutionsbedingungen und die bewegungspraktischen „Konstruktionen“ beeinflussen sich gegenseitig, gleichwohl liegt zwischen ihnen eine unüberwindliche Kluft. Ähnlich argumentieren Gabriele Klein und Melanie Haller, die auf die unaufhebbare Differenz von Sprache und Bewegung hinweisen. In ihrer empirischen Untersuchung der beiden Bewegungskulturen Tango Argentino und Salsa rücken sie das Konzept der „Präsenz“ in den Mittelpunkt, um damit verschiedene Ebenen des Sprechens über die für das Tanzen besondere Erfahrung der Gegenwärtigkeit zu analysieren. Anstelle einer Überwindung der Differenz von tänzerischer Bewegung und Sprache rücken so jene sprachlichen Performanzen in den Mittelpunkt, durch die die unterschiedlichen, tanzszenenspezifischen Präsenzerfahrungen sprachlich hervorgebracht werden. In dem Beitrag von Michael Ott steht ebenfalls das wechselseitige Bedingungsverhältnis von Körperdiskurs und Körperpraxis im Zentrum. An einem historischen Beispiel aus dem 43

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Alpinismus verdeutlicht Ott, wie der körperlichen Risikopraxis des Alpinismus ein sich historisch laufend wandelnder Rahmen möglicher diskursiver Selbstdeutungen dieser Praxis korrespondiert, und wie sich dieser DiskursRahmen wiederum auf das Bergsteigen selbst auswirkt. Im vierten Teil – Körperpraktiken und Repräsentationen des Körpers – liefert Thomas Alkemeyer eine praxeologische Beschreibung des Fußballspiels, mit der er die zentrale Bedeutung körperlicher Praktiken für die Herstellung sozialer Ordnung im Sport herausarbeitet. Daran anknüpfend skizziert er Überlegungen zu einer Theorie des Sozialen, die, ausgehend vom Sport, die Körperlichkeit und Leiblichkeit sozialer Praktiken in den Mittelpunkt stellt. Für seine empirische Untersuchung des Programmierens wählt Robert Schmidt ebenfalls eine praxeologische Perspektive. Als Interpretationsfolie dienen ihm hierzu soziologische Ansätze zur Praxis des Boxens. Schmidt demonstriert damit, dass eine sportliche Praxis wie das Boxen eine spezifische „Zeigequalität“ hat, die als Analyseinstrumentarium für nichtsportliche Praktiken gewinnbringend genutzt werden kann. Sportpraktiken wohnt ein über den Sport hinausweisendes Erkenntnispotenzial inne, weil sie es ermöglichen, die körperliche Dimension des Sozialen zum Vorschein zu bringen. Jürgen Schwier wiederum analysiert nicht nur reale Körperpraktiken, sondern auch die virtuellen Körperpraktiken des Trendsports. Letztere haben ihre zentralen Darstellungsorte vor allem in den neuen Medien. Schwier zeigt, wie die heutigen Jugendlichen zwischen den realen und virtuellen Trendsportwelten hin und her wechseln, dadurch auf beide Bewegungskulturen gestaltenden Einfluss nehmen, und wie sich die gegenwärtigen Verflechtungen von Kultur und Ökonomie auch in den Repräsentationen des Trendsports widerspiegeln. Bemerkenswert hierbei sei, dass die diversen Trendsportszenen mit ihrem Hang zur „Selbst-Medialisierung“ sehr aktiv an der eigenen Vermarktung ihres Sports beteiligt sind. Repräsentationen körperlicher Praktiken stehen schlussendlich auch bei Hannelore Bublitz im Zentrum ihrer Ausführungen zur (post-)modernen Selbst- und Subjektkonstitution. Die omnipräsente „panoptische Macht“ der Gegenwartsgesellschaft zwinge dem Subjekt eine dauernde Sichtbarkeit auf, so dass es sich nicht anders als über den Blick der Anderen entwerfen könne. Der öffentlichen Darstellung des Körpers komme daher eine besondere Bedeutung zu, wobei sich das postmoderne Subjekt jedoch mehr an eigenen Körper-Normen orientiere als sich an vorgegebene anzupassen. Die Praxis der Selbstkonstitution sei letztlich gleichbedeutend mit der Praxis eines ständig sich erneuernden „expressiven Individualismus“. Zusammengenommen dokumentieren die Beiträge dieses Bandes die aktuelle Entwicklung, dass die Soziologie des Körpers den Sport ‚entdeckt‘ hat und wie die Soziologie des Sports den Körper neu thematisiert. Sie verdeutlichen damit ebenso die große inhaltliche und theoretische Schnittmenge dieser beiden Teilsoziologien. Der institutionelle Beleg hierfür ist die Neugründung 44

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der Sektion „Soziologie des Körpers und des Sports“ in der „Deutschen Gesellschaft für Soziologie“ Ende 2005. Dieser kann zugleich als Nachweis dafür gesehen werden, dass der body turn in der Soziologie nun auch institutionenpolitisch ‚hoffähig‘ geworden ist (nochmals sei an das Tagungsthema des DGS-Kongresses 2006 erinnert). Der hier präsentierte Sammelband versteht sich als inhaltlicher Beitrag, diese zukunftsweisende Entwicklung weiter voranzutreiben.

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DER BODY TURN IN DER SOZIOLOGIE

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System vs. Praxis. Zw ei Theorieperspektiven

Die Erfindung des menschlichen Körpers in der Soz iologie. Eine systemtheoretische Konzeption und Perspektive BERO RIGAUER

Ausgangspunkt meines Beitrags sind Beobachtungen zu körperbezogenen Diskursen in westlichen Gesellschaften. Wie immer sie hinterfragt und bewertet werden, stimme ich mit dem soziologischen Befund einer „simultan ablaufenden Steigerung von Körperverdrängung und Körperaufwertung im Rahmen der modernen Gesellschaft“ von Bette (1989: 16) überein. Davon ausgehend untersuche ich im Folgenden die Frage, wie der menschliche Körper als Forschungsgegenstand in eine soziologische Theorie und insbesondere Gesellschaftstheorie eingebaut werden kann. Getragen ist meine Frage von einer gewissen Skepsis, die daraus resultiert, dass der menschliche Körper in der gegenwärtigen – besonders deutschsprachigen – Soziologie häufig anthropologisiert, psychologisiert und philosophisch theoretisiert wird. Nicht der Körper, sondern die Soziologie mit ihrer Erforschung des Körpers ist das Problem, mit dem ich mich auseinandersetze.

Epistemologische Überlegungen zu einer Soziologie des Körpers Dass in menschlichen Gesellschaften menschliche Körper bzw. körperliches Verhalten (Akteure) an der Erzeugung und Organisation gesellschaftlicher Prozesse und Institutionalisierungen (Strukturen) beteiligt sind, wie umgekehrt die Gesellschaft menschliche Körper sozialisiert, wird in der soziologischen Forschung und Theorie nicht bestritten (vgl. Gugutzer 2004; Meuser 2004; Schroer 2005). Im Gegenteil, unter gesellschaftlichen Bedingungen zuneh57

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mender Komplexitätssteigerungen wird der Körper als ein letzter Fixpunkt menschlicher Selbstvergewisserung und Selbstdefinition herangezogen, gleichzeitig marginalisiert und funktional ersetzt (vgl. Bette 1989: bes. 63-164). Innerhalb dieser paradoxen Entwicklung lassen sich ständige Ausdifferenzierungen und Anwendungen von Körper-, Bewegungs- und Sporttechniken, Ausdehnungen körperlicher, spielerischer und sportlicher Aktivitäten in öffentliche Räume hinein, Nachfragen nach und der Konsum von bewegungs- und körperzentrierten Angeboten wie Fitness- und Gesundheitstraining, Sporturlaub, öffentliche Inszenierungen des sportiven Körpers, physische Modellierungen und semiotische Ästhetisierungen beobachten. Es finden Diskurse statt, in denen der Körper als Medium möglicher Interaktionen und Kommunikationen im Kontext personaler und sozialer Funktionen thematisiert wird. Das ist kein Novum, sondern Begleiterscheinung gesellschaftlicher Entwicklungsverläufe, aber unter Einschluss der anderen Seite, der Ersetzung oder gar Verdrängung des Körpers. Wählt man nun den menschlichen Körper als einen soziologischen Forschungsgegenstand aus, dann ist er nicht vom Körper her, sondern von der Gesellschaft und/oder vom Sozialen her zu untersuchen.1 Folglich geht es nicht um eine Fokussierung einzelner, konkreter, sondern vieler, abstrakter menschlicher, nämlich vergesellschafteter und/oder sozialisierter Körper. Man könnte auch sagen, wir sprechen über das Konstrukt jener von Physischem und Psychischem abgetrennten Körper, die – folgt man der Systemtheorie – eine Umwelt sozialer Systeme bilden. Aus der Entkoppelung von Gesellschaft/soziale Systeme und Körper leite ich zweierlei ab: (1) beide werden als autonome Systeme begriffen, die kommunikative An- und Ausschlüsse zwischen sich initiieren und organisieren können; (2) eine soziologische Begriffsbildung und Thematisierung des menschlichen Körpers ist in diesen Zusammenhang zu stellen. Daraus ergibt sich die Möglichkeit einer Erweiterung der Soziologie durch die Untersuchung von körperlichen Grundlagen und Formen der Kommunikation, aber nicht sachlich zwingend die Konsequenz, eine neue spezielle Soziologie zu kreieren. Vielmehr geht es vorrangig darum, soziologisch körperfokussierte Fragen an die allgemeine Soziologie, ihre Untersuchungsfelder und Theorien anzuschließen. Das hat Konsequenzen für die Theoriesprache. Sie ist bei aller Körperfokussierung als eine soziologische Terminologie zu begründen und anzuwenden. Es gibt für mich jedoch noch 1

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Mit der Unterscheidung gesellschaftlich/sozial folge ich der soziologischen Systemtheorie: Gesellschaft konstruiert als die Gesamtheit aller funktional ausdifferenzierten, autonom und selbstreferenziell operierenden gesellschaftlichen Funktionssysteme. Letztere, als soziale Systeme bezeichnet, erzeugen im Rahmen einer Gesellschaft miteinander kommunizierende Umwelten (System-UmweltDifferenz). Im Rahmen dieses Konzepts werden Gesellschaftstheorien und Sozialtheorien ebenso unterschieden und aufeinander bezogen (vgl. Anm. 14).

DIE ERFINDUNG DES KÖRPERS IN DER SOZIOLOGIE

einen anderen Grund, keine weitere spezielle Soziologie auszugrenzen. Denn jede derartige Ausdifferenzierung erzeugt den Fortgang einer Entsoziologisierung der Soziologie. Mit dieser Feststellung spreche ich eine in den meisten Bindestrichsoziologien zu beobachtende spezialistische Entwicklung an. Ihre wissenschaftliche Problematik besteht darin, die zentrale Aufgabe der Soziologie, Gesellschafts- und Sozialtheorien fortzuschreiben und zu erweitern, in den Hintergrund zu drängen, anstatt Bausteine zu ihrer paradigmatischen Evolution zu liefern. Das sind meine Bedenken. Die gegenwärtige Entwicklung zeigt jedoch, dass innerhalb der Soziologie eine fortschreitende Thematisierung des menschlichen Köpers stattfindet und sich in der Folge eine spezielle Soziologie nicht nur inhaltlich, sondern auch institutionell herausbildet.2 Gleichwohl halte ich auf dem Hintergrund meiner Überlegungen an der Position fest, eine gegenwärtig ansatzweise spezialisierte Soziologie des Körpers in die allgemeine Soziologie und deren Funktion als Mutterwissenschaft einzubinden. Von daher wären ihre Beiträge und Leistungen einzuordnen und zu bewerten. Meine epistemologischen Überlegungen abschließend werde ich sie in einem Zitat zuspitzen: „Was der menschliche Körper für sich selbst ist, wissen wir nicht. Dass er Gegenstand wissenschaftlicher Forschung sein kann, ist hinreichend dokumentiert, liegt aber als Humanbiologie außerhalb des Themenkreises unserer Untersuchungen. Hier interessiert der alltagsweltliche Gebrauch von Körpern in sozialen Systemen. Die Soziologie des Körperverhaltens ist, von theoretischen Anforderungen her gesehen, noch in einer Art Ausnahmezustand, zumal gerade hier von der Biologie nichts zu lernen ist. Das erlaubt nicht viel mehr als: Beobachtungen aneinanderzureihen und eventuell zu klassifizieren“ (Luhmann 1985: 332).

Auf den heutigen Stand biologischer Forschung und Theoriebildung rekurrierend würde ich allerdings einwenden, dass sich von der Biologie für die allgemeine Soziologie und die des Körpers inzwischen doch einiges lernen lässt. Ich verweise vor allem auf die Arbeiten von Maturana (bes. Maturana 1998), auf die sich übrigens Luhmann im Zusammenhang der erkenntnistheoretischen und paradigmatischen Begründung der Systemtheorie selbst bezieht (Konstruktivismus, Autopoiesis).

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Auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) 2004 in München wurde ein Plenum mit dem Thema „Körperpraxen“ durchgeführt, des Weiteren 2005 ebenfalls in München eine Tagung mit dem Thema „Körper – Bewegung – Sport. Zur Neuorientierung von Körper- und Sportsoziologie“ als gemeinsame Jahrestagung der Sektion „Soziologie des Sports“ und des Arbeitskreises „Soziologie des Körpers“, beide organisiert in der DGS und neuerdings in einer gemeinsamen Sektion – „Soziologie des Körpers und des Sports“ – integriert.

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Vorschläge zu einem Theorie- und Forschungsprogramm „Soziologie des Körpers“ Auf der Grundlage meiner einführenden Schritte werde ich im Folgenden ein soziologisches Theorie- und Forschungsprogramm vorstellen und an den aufgeführten Stichworten entlang entwickeln: ausgehend vom menschlichen Körper weiterführend zu Evolution, Interaktion, Kommunikation und zusammenfassend Gesellschaft. Um das Programm durchzuführen, wähle ich erstens – wie bereits erkenntlich geworden – eine system- und differenztheoretische Vorgehensweise und werde zweitens eine soziologische Distanz zum menschlichen Körper einnehmen. Ein zu nahe Treten erschwerte ein Überblicken der sozialen Umwelten menschlicher Körper, von denen aus letztere in einem soziologischen Zugriff beobachtet werden sollen.

Soziologische Annäherungen an den Körper In Versuchen, den menschlichen Körper soziologisch zu beschreiben und begrifflich zu fassen, geht es um die Frage, wie Personen innerhalb sozialer Situationen Möglichkeiten reziproker Beziehungen mit körperlichen Mitteln selektieren und gleichzeitig, ob und wie der Körper darin als sozialer generiert und formiert wird. Konkret gefragt, wie verhält sich eine Person körperlich in einem sozialen Feld? Und umgekehrt, wie verhält sich letzteres der Person gegenüber? Eine Antwort lautet, Personen treten als körperliche Gestalten auf, nehmen verschiedene Haltungen ein und/oder bewegen sich – motorisch ohne/mit Ortsveränderungen oder mimisch, gestisch und pantomimisch. Sie wenden sich ihrem Umfeld frontal zu (Gesichtsfeld), wenden sich ab, suchen Körpernähe, Körperkontakt oder Körperdistanz, kleiden sich oder auch nicht. Umgekehrt agiert das soziale Feld, z.B. eine Gruppe, ebenfalls motorisch. Derartige Verhaltens- und Interaktionsmöglichkeiten, beschreibbar als soziomotorische Koordinationen und Inszenierungen (vgl. Rigauer 1980), sind einerseits – auch für die Soziologie – an die Anatomie und Physiologie, das physische und psychische System des Menschen im biologischen Kontext einer evolutionären Dynamik (Genotyp), kurzum an lebendige Menschen gebunden (vgl. Bühl 1982: 228-257). Andererseits sind sie in soziale Systeme und deren Umwelten integriert, werden von dort aus beobachtet und generalisiert. Daraus resultieren körperbezogene Abstraktionen, die sich an körperlichen Haltungen und Bewegungen im gesellschaftlichen Funktions- und Strukturrahmen formaler, künstlicher und technischer, insgesamt kultureller und zivilisatorischer Ausdifferenzierungen aufzeigen und untersuchen lassen. Entsprechende soziologische Studien zur Körperzivilisation (vgl. Elias 1976), zu Körpertechniken (vgl. Mauss 1975), zu sozialen Körperverwendungen (vgl. Boltanski 1976), zu körperbasiert distinktiven Sozialbeziehungen (vgl. Bour60

DIE ERFINDUNG DES KÖRPERS IN DER SOZIOLOGIE

dieu 1987) sowie zum Sportkörper (vgl. Bette 1989, 1999, 2004) liegen vor und können als Beispiele einer vom Körper aus- und zugleich über ihn hinausgehenden soziologischen Forschung und Theoriebildung angeführt werden. Aus ihnen lassen sich drei Forschungsstrategien mit unterschiedlichen Ausgangs- und Rückkehrpunkten herausarbeiten und gegenüber stellen: (a) Körper – Gesellschaft – Körper (Handlungs- und Akteurstheorie, Methodologischer Individualismus); (b) Gesellschaft – Körper – Gesellschaft (Strukturfunktionalismus, Systemtheorie); (c) Verbindung von Körper – Gesellschaft und Gesellschaft – Körper (Zivilisations-/Figurationstheorie, Habitus-/Feldsowie Praxistheorie). Mit allen drei Strategien verfolgt die Soziologie das gemeinsame Ziel, den menschlichen Körper als Gegenstand zu konstruieren, verfährt jedoch operativ unterschiedlich. Im Ergebnis werden drei Körper erfunden: ein Körper mit gesellschaftlicher Umwelt (a), eine Gesellschaft mit körperlicher Umwelt (b), eine verkörperte Gesellschaft mit ihren vergesellschafteten Körpern (c). Heruntergebrochen auf das Konstrukt des „sozialen Körpers“ lässt sich unter der Vorraussetzung einer Unterscheidung von sozialem System und Gesellschaft ein vergleichbares Ergebnis festhalten – Körper mit sozialen Systemumwelten (a), soziale Systeme mit Körperumwelten (b), verkörperte Sozialstrukturen und sozialstrukturelle Körper (c). Die Körper bleiben bei allen drei Strategien in das paradigmatische Spiel einbezogen, jedoch nicht individualisiert, sondern immer systemisch verortet und vernetzt, und zwar perspektivisch im Fall (a) von Körpern, im Fall (b) von sozialen Systemen und im Fall (c) von einer Verbindung beider Fälle (a, b) aus betrachtet. Weiter ist festzuhalten, dass alle drei Fälle bzw. Strategien sich in einem Punkt fundamental unterscheiden. Während (a) und (c) eine KörperGesellschaft-Einheit direkt herstellen wollen, geht (b) davon aus, dass sich eine solche Einheit nur auf dem Umweg über Körper-Gesellschaft- bzw. Gesellschaft-Körper-Differenzen, in der Körper und Gesellschaft systemisch geschlossen und autonom bleiben3, soziologisch herstellen lässt. Es gibt, wie gezeigt, verschiedene Wege, die zur Begründung eines soziologischen Körperkonstrukts führen. Da es nicht den einen richtigen Weg geben kann, hängt die Entscheidung für einen möglichen Weg von erkenntnisund forschungsleitenden Interessen ab (vgl. oben a/b/c). Gleichwohl sei auf eine unhintergehbare disziplinäre Einschränkung hingewiesen. Für ein Theorie- und Forschungsprogramm ist jedes soziologische Körperkonstrukt zum einen auf das kleinstmögliche soziale Systeme (Dyade) zu zentrieren und von dort aus auf die Gesellschaft auszudehnen, zum anderen auf der Basis einer 3

Die soziologische Systemtheorie geht davon aus, dass mit der Geschlossenheit eines Systems die Vorraussetzung zu seiner Offenheit gegenüber anderen Systemen geschaffen wird (Offenheit durch Geschlossenheit). Bezogen auf das Einheitskonstrukt: Voraussetzung einer Einheitsbildung ist das Erzeugen von Differenzen und deren Anschließungen (Einheit durch Differenz).

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Unterscheidung von sozial/nicht-sozial gegenüber anderen wissenschaftlichen Konstrukten – z.B. biologischen, anthropologischen, philosophischen – und deren Unterscheidungen abzugrenzen. Der Begriff des sozialen menschlichen Körpers kann nur durch Anschlüsse an die Gesellschaft und ihre sozialen Systeme begründet werden!4

Soziale Evolution und Körper Alles, was wir in der Soziologie untersuchen, halten wir zeitlich an oder dehnen es aus. Aber selbst angehaltene Zeit wird innerhalb eines angenommenen Zeitverlaufs (vorher/nachher) verortet. Wie immer wir Zeit beschreiben, sie ist nicht etwas Vorhandenes, sondern wird in einer Gegenwart von Beobachtern mittels einer dreiwertigen Unterscheidung zwischen Historizität (vergangene Ereignisse), Aktualität (gegenwärtige Ereignisse) und Potenzialität (zukünftig mögliche Ereignisse) konstruiert.5 Daran angeschlossen wird die Annahme, dass alles Untersuchte zeitlich nicht verharrt (Statik), sondern sich bewegt (Dynamik), und zu unterscheiden ist zwischen Erhaltung und Veränderung. In der Soziologie werden entsprechend, um Veränderungen erfassen zu können, zeitbezogene Konstrukte eingeführt wie z.B. gesellschaftliche Entwicklung, sozialer Prozess, Zivilisierung oder Sozialisierung. Gemeinsam ist allen derartigen Konstrukten, dass sie Zeit und Veränderung aufeinander beziehen und sich als gegenseitig voraussetzend unterstellen. Daraus ergeben sich für die Soziologie epistemologische Fragen im Zusammenhang gegenstandsbezogener Verzeitlichungen und Veränderungen als eine Bedingung der Möglichkeit von Theoriebildung. Das betrifft ebenso das Projekt einer Soziologie des Körpers.6 Im Versuch, Zeit (Temporalisierung) und Veränderung (Variation) in eine Beziehung zu Gesellschaft und Körper zu setzen, greife ich auf das wissenschaftsdisziplinär übergreifende Paradigma der Evolution und die darauf gründende Evolutionstheorie zurück. Ihre Anwendung ist in der Soziologie nicht neu und bis in die Gegenwart aktuell geblieben.7 Man geht davon aus, 4

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Hier beginnen die soziologischen „Sündenfälle“, ausgelöst durch eine Vermischung biologischer, anthropologischer, philosophischer und weiterer Konstrukte innerhalb soziologischer und körpersoziologischer Untersuchungen und Theoriebildungen. Diese Kritik ließe sich z.B. an der Verwendung des Leibbegriffs in der Soziologie konkretisieren. Vgl. zum soziologischen Zeitbegriff und zur Soziologie der Zeit bes. Bühl (1982: 228-313), Elias (1988), Luhmann (1985: 70ff., 253ff.), Rosa (2005). Vgl. besonders die zivilisationstheoretischen Untersuchungen von Elias (1976), die er in seinem späteren Werk als figurations- und prozesssoziologisch bezeichnete fortgeführt hat. Vgl. in der frühen soziologischen Theorieentwicklung Spencer (1966/67 [Orig. 1876ff.]), in der neueren bes. Parsons (1964) und in der gegenwärtigen Luhmann (1985, 1997: bes. 413-594), der evolutionstheoretische Grundlagen in die soziologische Systemtheorie einbezieht und weiterentwickelt. Als ein ebenfalls

DIE ERFINDUNG DES KÖRPERS IN DER SOZIOLOGIE

dass Gesellschaften formelle und informelle Strukturen innerhalb bestimmter Zeiträume verändern. Zugrunde liegen zufällige, unerwartete sowie ungerichtete Interaktionen und Kommunikationen, in denen soziale Strukturen imitiert, variiert und schließlich vorher unbekannte erfunden und erprobt werden. Aus alten Strukturen emergieren neuartige. Sich verzweigende, kontingente Variationsverläufe sind es, die evolutionäre Prozesse und Wirkungen auslösen: Entstehung und Kommunikation von strukturellen Variationen, Selektionen struktureller Variationsmöglichkeiten, Stabilisierungen von Strukturvariationen, Wiedereinstieg in strukturelle Variationskreisläufe usf., oder aber deren Stillstand durch Tradierungen von Strukturvariationen. Unter derartigen Verläufen und Bedingungen evoluieren Gesellschaften. Auf dem skizzierten Hintergrund stelle ich nun einige Überlegungen zu einem evolutionstheoretisch gestützten körpersoziologischen Theorie- und Forschungsprogramm vor. Der menschliche Körper ist keine Konstante, weder im Singular noch im Plural, nicht physisch, psychisch oder sozial. Meine Frage lautet: Wie schließt die Gesellschaft ihre Evolution an menschliche Körper an? Ausgangspunkt ist die differenztheoretische Annahme, dass der Köper eine Umwelt von Gesellschaft und ihren sozialen Systemen bildet. Daran binde ich eine soziologische Betrachtung des menschlichen Körpers. Alles, was wir aus dieser Perspektive beobachten, führt zu Beschreibungen und Erklärungen, in denen An- und Ausschlussrelationen zwischen Gesellschaft und menschlichen Körpern fokussiert und kommuniziert werden. Hier geht es nicht um spezifizierte individuelle, sondern generalisierte soziale Körpermodelle. Ich wähle zwei Beispiele aus, an denen der skizzierte Zusammenhang verdeutlicht werden soll: (1) Um die soziale Evolution des Arbeitskörpers soziologisch zu untersuchen, ist die Evolution der Arbeitstechniken vorauszusetzen: Erfindungen von Werkzeugen, Verbindungen von materialisierten mechanischen und elektronischen Prinzipien mit Werkzeugen zu Maschinen, Anschließen von tierischen, menschlichen, physikalischen und chemischen Antriebskräften für Maschinerien, deren Organisation in Landwirtschaft, Handwerk, Manufaktur und Industrie. Arbeit und Körper/Bewegung werden fortschreitend rationalisiert, quantifiziert, wissenschaftlich erforscht und methodisiert. Innerhalb dieses evolutionären Rahmens gesellschaftlicher Evolution differenzieren sich Arbeitstechniken aus, die durch ihre Anwendungen (Praxis) den menschlichen Körper in diesem Zusammenhang stehendes und inzwischen diskutiertes Konzept ist jenes der kultur- und sozialwissenschaftlichen Memetik (memetische Evolution) zu nennen, das der naturwissenschaftlichen Genetik (genetische Evolution) gegenübergestellt wird (vgl. Blackmore 2000). Meme, kulturelle Elemente wie Ideen, Worte, Bewegungstechniken usw., evoluieren über Prozesse der Imitation, Variation, Selektion. Des Weiteren verweise ich auf das Konzept der KoEvolution (vgl. Bühl 1982: bes. 34-41).

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und seine Bewegungsmöglichkeiten, zugleich auf der Ebene von KörperMaschinen-Relationen, evoluieren. Erst dieser Arbeitstechniken fokussierende Blick erschließt ein soziologisches Beschreiben, Verstehen und Erklären von arbeitskörperlichen Veränderungen, wie wir sie an Formierungen des Körpers selbst, etwa des Arbeiters am Hochofen oder der Laborantin in der chemischen Industrie, aber auch am funktionalen Wandel von deren Arbeitsbewegungen beobachten können.8 (2) Ich komme zum zweiten Beispiel, dem Sportkörper. Es beginnt in England (19. Jahrhundert), dass sich eine von Arbeit unterscheidende Körpertechnik namens Sport ausdifferenziert: sportliches Laufen, Springen, Werfen, Schwimmen, Rudern, Reiten, Fechten, Ringen, Boxen, Spielen usf. bilden sein Körper- und Bewegungsmaterial. Eingebunden in das Sportsystem und dessen Sieg/Niederlage-Codierung, Rekord- und Fairplay-Prinzip sowie soziale Organisation des Wettbewerbs und der Freizeit, evoluieren sportliche Bewegungstechniken in Richtungen wie Rationalisierungen, Quantifizierungen, Trainingsmethoden (Messen, Vergleichen, Skalieren, Tabellieren, Testen, Repetition, Experiment, Planung, Kontrolle usw.). Am Beispiel des Hochsprungs lässt sich eine Variationskette über den Frontal-, Scheer-, Scheerkehrsprung, die Roll- und Straddletechnik hin zur Floptechnik verfolgen. Gegenwärtig wird nur noch die letztgenannte Technik angewandt. Sie funktionalisiert und formiert den Hochsprungkörper im Unterschied zum Körper der Schwimmerin oder des Basketballspielers. Wie am Arbeitskörper expliziert, ist es der Blick auf Sporttechniken und Sporttrainingsmethoden, ihre Verwissenschaftlichung, soziale Programmierung und Organisation, mit deren Hilfe der Sportköper soziologisch untersucht und beschrieben werden kann. Von den beiden vorgestellten Körperkonstrukten ausgehend, schlage ich vor, Variationen und Temporalisierungen menschlicher Körper, deren sozialsystemisch speziellen Evolutionen nicht aus der Sicht des Körpers als eines physischen, sondern aus der Sicht seiner gesellschaftlichen Umwelt und der angeschlossenen sozialen Systeme zu erforschen.9 Entsprechend wäre bei der Begründung eines evolutionären körpersoziologischen Forschungs- und Theorieprogramms zu verfahren, gestützt auf Untersuchungsmethoden wie vergleichende Studien und Langzeituntersuchungen, mittels deren Veränderungen innerhalb zeitlicher Ausdehnungen beobachtet und untersucht werden können.

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Zu diesem Themenkomplex verweise ich auf die Untersuchung von Giedion (1994 [1948]) zur Entwicklung der Industriekultur. Sie kann m.E. immer noch als ein Standardwerk bezeichnet werden, in dem, soziologisch mitbegründet, die oben kurz dargestellten Zusammenhänge ausführlich untersucht werden. Nach wie vor halte ich die Untersuchung von Eichberg (1973) zur zivilisatorischen Entwicklung des Sports in die Industriegesellschaft hinein für grundlegend, um – neben anderen Aspekten – evolutionäre soziale und physische (Körper/Be-wegung) Anschlüsse nachvollziehen zu können.

DIE ERFINDUNG DES KÖRPERS IN DER SOZIOLOGIE

Forschungsfelder zur gesellschaftlichen und sozialen Körperevolution ließen sich in einer Erweiterung meines Vorschlags zur Genüge (er)finden: Untersuchungen innerhalb längerer gesellschaftlicher Zeiträume zum mittelalterlichen, neuzeitlichen und modernen Körper; politisch und kulturell fokussiert zum aristokratischen, demokratischen, bürgerlichen, proletarischen Körper, zum Geschlechts-, Alters-, Erziehungs-/Bildungs-, Berufs-, Konsum-, Freizeit-, Inszenierungskörper usf.; zum menschlichen Körper innerhalb eines evolutionären Vergleichs im Anschluss an soziologische Gesellschaftsmodelle wie segmentierte, stratifizierte und funktional differenzierte Gesellschaften oder Industrie-, Risiko-, Erlebnis-, Wissens-, Informationsgesellschaft. Aus den angeführten Beispielen ziehe ich eine weitere soziologische Konsequenz. Beschreibungen von körperlichen Veränderungen etwa als Bewegungsarmut, ein Verdrängen, Verschwinden oder gar eine Wiederkehr des Körpers, sind im Rahmen des vorgestellten evolutionären Konzepts nicht relevant, weil menschliche Körper innerhalb gesellschaftlicher Veränderungen motorisch nicht verarmen, verdrängt werden, verschwinden oder wieder zurückkehren, sondern sich lediglich mitverändern. Menschen bewegen sich heute anders als gestern, entwickeln andere Körperformen.

Interaktion und Körper Ein Beginnen, Fortsetzen und Beenden sozialer Interaktion setzt eines voraus, die Anwesenheit von Personen in einer Situation, beschreibbar etwa als flüchtige Begegnung oder längeres Zusammenbleiben, innerhalb eines überschaubaren sozialen Rahmens (z.B. Gruppe). Darin nehmen Personen sich gegenund wechselseitig wahr und erzeugen eine Bedingung der Möglichkeit, sich sozial verhalten und handeln zu können. Es findet eine „Kreuzung selektiver Prozesse des Erlebens und Handelns“ statt. Durch personale Anwesenheit und interpersonale Wahrnehmung sowie Wahrnehmbarkeit fallen unter den genannten Bedingungen die „Grenzen des (sozialen; B.R.) Systems […] mit den Grenzen des Wahrnehmungsraums“ zusammen (Luhmann 1977: 6). Und weil durch „Anwesenheit im reziproken Wahrnehmungsfeld […] immer schon Kom-munikation, nämlich Austausch von Information über selektive Ereignisse“, zu erwarten ist (ebd.: 7), bieten sich Möglichkeiten an, Kommunikationen thematisch zu selektieren, zentrieren und variieren, um Interaktionen sachlich, zeitlich, räumlich und sozial zu strukturieren. Das setzt einerseits voraus, dass sich Anwesende mit dem von ihnen gemeinsam generierten Interaktionssystem identifizieren, und andererseits, dass Interaktionen zu höheren interaktiven Abstraktionsleistungen führen, die durch Ausdifferenzierungen formalisierter Interaktionsrahmen, z.B. durch Institutionalisierung sozialer Regeln und Kontrollen sowie durch Unterscheidungen zwischen Interaktion und Umwelt, erbracht werden können (vgl. ebd.: 15 ff., 18 ff., 22 ff.). Ich fas65

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se in einer These zusammen: Soziale Interaktionen, ausgehend von flüchtigen bis hin zu temporär unterbrochenen, sich wiederholenden und schließlich geregelten Begegnungen zwischen situativ anwesenden Personen, generieren selektiv auf der operativen Basis personal reziproker Wahrnehmungen sowie daran interpersonal angeschlossener Handlungen Formen einfacher sozialer Systeme, etwa in-/formelle Gruppen und überschaubare Organisationen. Dem soziologischen Konstrukt der Person wird im Rahmen der Interaktionstheorie ein empirischer Stellenwert zugewiesen. Personen handeln in Interaktionen unter Bedingungen kontingenter, interpersonal kommunizierter unterschiedlicher Erwartungen, von daher sozial eingeschränkter Verhaltensmöglichkeiten und im Anschluss daran situativ selektierter Verhaltensmodi. Sie beobachten sich selbst und ablaufende Interaktionen, sind körperlich anwesend und tragen zur Selbstorganisation von Interaktionen bei. Alle drei hier angesprochenen Systemebenen – psychisches, physisches und soziales System – werden im Handeln von Personen strukturell gekoppelt (vgl. Luhmann 1991: bes. 169-175). Mich interessiert im thematischen Zusammenhang dieses Beitrags, wie der menschliche Körper in das Prozessieren von Interaktionen konzeptionell einbezogen werden kann. Soziologisch stelle ich einen Unterschied zwischen Person und Körper her, weil beide nur in ihrer Formdifferenz bezeichnet und aufeinander bezogen werden können (vgl. ebd.: bes. 169f., 173f.). In der durch Beobachtung empirisch begründbaren Einheit dieser Differenz handeln Personen, die ihre Körper in aktualisierte Interaktionen mit hinein bewegen, weil Anwesenheit erforderlich ist. Es kommt zu interaktiv generierten strukturellen Anschlüssen zwischen personaler Sozialfunktion (Erwartungserfüllung, Verhaltenseingrenzung) und Körperfunktion (sozial generierte Haltungs-/Bewegungsformen). Die Systemtheorie beschreibt dieses Zusammenwirken als einen symbiotischen Mechanismus: „Hier geht es um Aspekte von Körperlichkeit, die für einzelne Funktionssysteme der Gesellschaft von besonderer Wichtigkeit sind – sei es als Störquelle, sei es als Grundlage der Ausdifferenzierung.“ Kein soziales System ist auszuschließen. „Es ist deshalb kein Zufall, dass alle großen Funktionsbereiche ihr Verhältnis zum Körper regulieren müssen und dass mit Ausdifferenzierung besonderer symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien [z.B. Recht; B.R.] dieses Verhältnis durch eine besondere Symbolisierung, eben die symbiotischen Mechanismen, genauer und spezifischer auf die Funktion zugeschnitten werden muss“ (Luhmann 1985: 337f.).

Entsprechend lassen sich bei aller Marginalisierung menschlicher Körper in modernen Gesellschaften Funktionsbereiche beobachten, in denen gleichzeitig Beziehungen zwischen sozialem und physischem System auf der Funktionsebene Person-Körper strukturell ausdifferenziert und kommuniziert wer66

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den. Am Gegenstand des Sportspiels als einem einfachen sozialen Interaktionssystem soll diese Annahme konkretisiert werden. Auch hier gehe ich vom Startpunkt einer Differenz Person/Körper aus, beobachte den Körper als eine von spielerischen Interaktionen unterscheidbare Umwelt und konstatiere: Zum Zustandekommen und Erzeugen von Interaktionen im Sportspiel ist ein überschaubares, von der Umwelt abgegrenztes Spielfeld, ein (in)formal geregelter Spielrahmen sowie die Besetzung und Ausführung von Spielpositionen durch anwesende, sich gegenseitig wahrnehmende Personen, organisiert in Mannschaften, spielkonstitutiv. Ohne Personen, aber auch ohne Interaktionen kein Sportspiel! Beginnen wir mit letzterem. Einmal begonnen, erzeugt ein Spielzug den nächsten usw., bis hin zum Spielende. Gegen Angriffsspielzüge richten sich Verteidigungsspielzüge, beide relational generiert durch motorisch und lokomotorisch basierte Interaktionen, selektiert aus einer Menge von Interaktionsmöglichkeiten, strategisch und taktisch formiert, systemisch prozessiert. Unserer alltäglichen Beobachtung fällt es schwer, das Sportspiel als ein derartiges Interaktionssystem zu sehen, weil der wahrnehmungsbedingt fokussierende Blick sich auf Spielausschnitte einschränkt, zumeist auf Spielpersonen und -objekte. So wird ein zweiter, theoriegeleiteter Blick notwendig, um die in den spielfeldlichen Zwischenräumen und Zeitverläufen entstehenden Interaktionen (z.B. positionale Veränderungen) von ihren Umgebungen (Akteure, Objekte) unterscheiden zu können (vgl. Rigauer/Robbert 2000).10 Das gelingt nur mit Hilfe einer Untersuchungsmethode, mittels deren Sportspielprozesse als soziale Interaktionen konstruiert werden. Letztere sind nicht auf dem Spielfeld vorzufinden, sondern werden als Fakten11 vom soziologischen Beobachter über Operationen des Unterscheidens, Bezeichnens und Vernetzens von interaktiven, in unserem Fall motorisch und lokomotorisch basierten Spielhandlungen erzeugt. Fahren wir nun mit den Spiel- und Mannschaftspersonen des sportspielerischen Interaktionssystems fort und nehmen ihre Körper in den soziologischen Blick. Sie kommen auf der personalen Basis nonverbaler12 spielerischer 10 In der Untersuchung von Rigauer/Robbert (2000) werden Interaktionen in Sportspielen feld- und figurationssoziologisch untersucht und darüber hinaus ein erster Anschluss an eine systemtheoretische Analyse hergestellt. Im Zentrum steht zum einen das Konstrukt des soziodynamischen Feldes, erzeugt durch Spiellokomotionen in Relationen zu Umfeldfaktoren, zum anderen das Konstrukt der sozialen Figuration, erzeugt durch interdependente positionale Spielveränderungen und Spielstrukturbildungen. 11 In der sozialwissenschaftlichen Empirie und damit verbundenen Methodologie wird von Daten gesprochen und übersehen, dass Daten von Beobachtern erzeugt, also gemacht werden. Aus diesem Grund verwende ich den Begriff Fakten (etwas Gemachtes), wenn üblicherweise von Daten die Rede ist (vgl. Schmidt 1998: 122-150). 12 Obwohl vor, während und nach Sportspielen über das Spielen gesprochen wird, ist verbale Kommunikation im Spielen selbst medial sekundär, weil Sportspiele

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Kompetenzen (Spielstrategie/-taktik) und daran angeschlossener spielerischer – also interaktiver – Bewegungskompetenz (Spieltechnik) dann ins Spiel, wenn einerseits die Leitcodierung des Sportspiels, Sieg/Niederlage, primär kommuniziert und folglich in das Spielzentrum gerückt wird. In diesem Fall sind Sieg orientierte bzw. Niederlagen verhindernde Spieloptimierungen, z.B. von Spielzügen, zugleich von interaktiven Ausdifferenzierungen und körperlichen Leistungssteigerungen abhängig. Andererseits wird der Körper als Spielkörper kommuniziert, wenn weniger die Leitcodierung, dafür aber andere Codierungen ausgewählt und eingeführt werden, z.B. Lernen/Nicht-Lernen, hier das Erlernen von Bewegungstechniken und -taktiken des Sportspiels. In den beschriebenen Fällen wird der menschliche Körper innerhalb spielerischer Interaktionen kommuniziert, zu einem Thema des Spiels gemacht. Wie gelingt es aber, soziales (Interaktion) und physisches System (Körper) anzuschließen? Die Antwort habe ich bereits verallgemeinert gegeben. Sie lautet nun: durch strukturelle Kopplungen, durchgeführt von mannschaftlich organisierten Spielpersonen. Sie beziehen interaktive Funktionen (z.B. Spielpositionen) und Strukturen (z.B. Taktiken) des Sportspiels reflexiv (Bewusstsein) auf die Formung körperlicher Bewegungen (z.B. Techniken) und erzeugen einen Interaktionskörper, gleichzeitig beziehen sie umgekehrt körperliche Funktionen (z.B. Muskulatur) und Strukturen (z.B. Phänotypus) ebenfalls reflexiv auf die soziale Formung des Spiels und erzeugen Körperinteraktionen. Körper und Interaktionen werden von Personen (SpielerInnen) jeweils als Umwelt des anderen aufeinander bezogen, um strukturelle Kopplungen zwischen beiden herzustellen und damit soziale sowie physische Selektionsmöglichkeiten (Spielhandlungen) zu erweitern. Anders gesagt: der Körper wird sozialisiert, die Interaktion verkörperlicht. Entscheidend für eine soziologische Analyse und Konstruktbildung bleibt jedoch, dass der Körper aus einer interaktionstheoretischen Sicht sowie in der Differenz zwischen Interaktion und Körper beobachtet und untersucht wird. Folglich ist jede Vermischung mit biologischen und psychologischen Begriffen zu vermeiden. Der Körper ist eine Umwelt alles Sozialen! Mit dieser Differenz lässt er sich interaktionstheoretisch betrachtet am ehesten in die Soziologie einbringen, weil über die strukturelle Kopplung Person-Körper in überschaubaren Situationen direkter Beobachtung zugänglich. Hier müssten empirische Forschungen ansetzen, z.B. gerichtet auf Interaktionen in unterschiedlichen sozialen Räumen, Gruppen, Organisationen, Institutionen, oder innerhalb gesellschaftlicher Felder wie Erziehung, Bildung, Arbeit, Freizeit oder kultureller Felder wie Sport, Tanz, Theater, Szenen. Methodisch wäre neben anderen Verfahren besonders die Kleingruppenforschung als interaktive Bewegungsspiele körperlich (Loko-/Motionen) generiert und prozessiert werden. Nur so können sie in Gang gesetzt und durchgespielt werden – sie sind nonverbal spielbar. (Zur nonverbalen Kommunikation in Sportspielen vgl. den folgenden Abschnitt „Kommunikation und Körper“.)

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anwendbar (einschließlich Gruppenexperimente), weil Gruppen empirisch eine systemisch abgrenz- und einsehbare Rahmenbedingung für das Prozessieren von sozio-physisch basierten Face-to-Face-Interaktionen anbieten.

Kommunikation und Körper Im Unterschied zu Interaktionen lassen sich Kommunikationen als die in sozialen Systemen weiter reichenden Operationen beobachten, weil sie über die systemischen Grenzen von Interaktionen und deren sozialen Bedingungen (bes. personale Anwesenheit, unmittelbar reziproke Wahrnehmung) hinaus operieren und wirken. „In sozialen Systemen werden die Kommunikationen in einem rekursiven Netzwerk von Kommunikationen produziert, das die Einheit des Systems definiert. Die Kommunikation ist also auch die Operation, die die Elemente der sozialen Systeme produziert“ (Baraldi/Corsi/Esposito 1997: 91). Systemtheoretisch gefasst werden in einem Kommunikationsprozess, formalisiert mit Hilfe eines einfachen Beziehungsmodells (Dyade), drei Selektionen durchgeführt und verbunden: Person A selektiert eine (1) Information, erzeugt durch eine symbolische Unterscheidung und Bezeichnung (Sprache), und gibt die Information über eine selektierte (2) Mitteilung (Handlung) an eine Person B weiter. Person B versucht nun ihrerseits durch eine selektive Unterscheidung zwischen aufgenommener Information und Mitteilung wiederum diese beiden Operationen aufeinander zu beziehen und als ein kommunikatives Angebot zu (3) verstehen. In dem Modell wird davon ausgegangen, dass Kommunikation „erst mit ihrem Abschluss im Verstehen zustande“ kommt (Luhmann 1997: 259), jedem Verstehen das Mitteilen einer Information vorausgeht. Auf eine mögliche Anschlusskommunikation von B folgt eine weitere von A und beide erzeugen im wechselseitigen Fortgang ein Kommunikationssystem. Mit der zunehmenden Ausdifferenzierung von Kommunikationstechniken, besonders durch die Einführung von Schrift, Buchdruck bzw. Massenmedien insgesamt, können Kommunikationen auch interaktionsfrei, also ohne körperlich anwesende Personen in direkt überschaubaren Wahrnehmungsräumen, durchgeführt werden. Dieser Fall tritt umso folgenreicher ein, je konsequenter in Kommunikationen Sprache als ein konventionelles Zeichensystem „mit der Funktion“ eingesetzt wird, „das Verstehen der Kommunikation wahrscheinlich zu machen. Sprache ermöglicht den Bereich des Wahrnehmbaren zu überschreiten und mit Hilfe von symbolischen Generalisierungen in der Form von Zeichen über etwas zu kommunizieren, was nicht anwesend oder was nur möglich ist“ (Baraldi/Corsi/Esposito 1997: 180). Wo bleibt hier der Körper als ein Gegenstand soziologischer Kommunikationsforschung? Vor einer Antwort ist jedoch zu klären, wie sich Kommunikation soziologisch beobachten lässt.

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An Kommunikationen sind, in Fortführung des obigen Modells dargestellt, drei geschlossene Systeme beteiligt: Ein psychisches System (Bewusstsein A) erzeugt eine Information und teilt sie über das physische System (Körper A) mit, ein anderes psychisches System (Bewusstsein B) versteht das Kommunikationsangebot (oder auch nicht!). In diesem Prozess wird eine intern selektierte Information mit einer intern selektierten und extern gerichteten Mitteilung verbunden (Person A), im daran angeschlossenen Verstehen (Person B) werden Information und Mitteilung ebenfalls intern selektiv unterschieden und darauf gründend verbunden (z.B. als Frage, Feststellung, Urteil). Wie lassen sich aber die an Kommunikation beteiligten und prozessierenden Systeme beobachten und was interessiert die Soziologie daran? Bewusstsein A und B lassen sich von außen nicht beobachten, dagegen jedoch die körperlich unterstützte Ausführung einer Mitteilung (z.B. durch visuelle Kontaktaufnahme, mimische Begleitung, gestische Umrahmung) und deren Fortsetzung in Anschlusskommunikationen oder deren Beendigung (z.B. durch Abbruchbewegungen wie Abwenden, Weggehen). Die zwischen Person A und B über Mitteilungen sowie Anschlussmitteilungen hergestellten sozialstrukturellen Kopplungen und darin jeweils erzeugten Kommunikationssysteme sind Gegenstand soziologischer Untersuchung. Betrachten wir nun auf der Grundlage dieses Gegenstandsbezugs drei ausgewählte Möglichkeiten der sozialen Funktionalisierung und Differenzierung von Mitteilungen unter besonderer Fokussierung des menschlichen Körpers. (1) Im Rahmen von sozialen Interaktionen kommunizieren anwesende Personen gleichzeitig sprachlich und körperlich. Sie generieren ihre Mitteilungen sowie Anschlussmitteilungen verbal (Sprache), begleiten sie nonverbal mit körperlichen Verhaltensformen (Motorik) wie Haltungen, Bewegungen, Gesten und Mimik, nehmen räumliche Positionen ein (Figurationen) und verändern diese (Lokomotionen), äußern sich vokal (Laute). Einerseits sind die aufgezählten Operationen innerhalb von Kommunikationen zu unterscheiden. Sprechen basiert auf dem Gebrauch einer Sprache, deren Artikulation motorisch erzeugt und sozialisatorisch beeinflusst wird. Nonverbalisieren und Vokalisieren basieren nicht auf Sprache,13 aber ebenfalls auf Motorik und Sozialisation. Andererseits werden innerhalb interaktiver Rahmenbedingungen auf der Grund13 In Untersuchungen und Theorien zur nonverbalen Kommunikation wird häufig davon ausgegangen, dass es sich im Fall nonverbaler Kommunikation um eine Form der Körpersprache handelt. Der Körper kann jedoch nicht sprechen, obwohl Sprache motorisch erzeugt wird. Mit ihrer Hilfe kann man über ihn sprechen. Es ist nicht möglich, semantisch und besonders syntaktisch elaborierte und formalisierte Grundlagen einer Sprache durch Körperbewegungen zu generieren. Einschränkend ist jedoch festzuhalten, dass körperliche Bewegungen und Haltungen mit ausgewählten Zeichen (Information) verbunden und auf diesem Weg kommuniziert (Mitteilung, Verstehen) werden können (z.B. gestische Zeichensysteme, wie oben am Beispiel der Sportspiele dargestellt).

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lage der genannten Unterscheidungen kommunikative Einheiten erzeugt, indem die beschriebenen Verhaltensmodi relationiert und verbunden werden. Es lässt sich im Anschließen beider Sichtweisen ein soziologisches Konstrukt begründen: der in Interaktionen kommunizierende Körper. Zu untersuchen wären Körper nicht hinsichtlich ihres körperlichen Substrats, sondern Kommunikationen in Interaktionen unter funktionaler und strukturaler Thematisierung der Differenz zwischen Kommunikation (soziales System) und Körper (physisches System). Am Beispiel des Sportspiels konkretisiert: Nicht physische und psychische, sondern soziale Operationen werden fokussiert und untersucht. Davon ausgehend sind körperliche Verhaltensformen und -modi zu unterscheiden, wie ich sie oben aufgeführt habe. Sie werden in Spielkommunikationen zu Spielinformationen übertragende Mitteilungen transformiert: z.B. körperliche Angriffshaltungen, gestisches Anzeigen einer Spielvariante, Besetzen von räumlichen Verteidigungspositionen, figuratives Durchspielen von Taktiken, vokalisierte Emotionen, mimisch unterstützte Verbalisierung einer spielstrategischen Ansage (vgl. Rigauer 1980, Rigauer et al. 1987, Rigauer/Robbert 2000). Eine solche theoriegeleitete Auswahl ermöglicht die Herstellung empirisch differenzierten Materials, eine daraus abgeleitete Konstruktion personenund körpergestützter sozialer Mitteilungsformen, die schließlich in ein Systemmodell sportspielerischer Kommunikation eingebaut und soziologisch untersucht werden können. (2) Wenn wir Kommunikationen untersuchen, die über den Rahmen von Interaktionen hinausgehen, ändert sich die soziale Funktion des menschlichen Körpers in Kommunikationen. Er ist nicht mehr unmittelbar, sondern nur noch mittelbar beteiligt, etwa als Nutzer von Massenmedien. Die Entwicklung der massenmedialen Kommunikation, beginnend mit der Verschriftung des Sprechens und der Formierung von Texten, fortgesetzt mit der Erfindung des Buchdrucks, des Telefons, des Sprech-, Hör- und Fernsehfunks, schließlich des Computers und Internet, setzt nach wie vor körperliche Aktivitäten voraus (sprechen, schreiben, lesen, hören, sehen), aber nicht mehr einen anwesenden Körper. In Kommunikationen wird zwischen die Körper ein Massenmedium geschaltet oder letzteres zum Partner gemacht. Einen evolutionären Schritt weitergegangen lässt sich feststellen, dass technische Medien miteinander kommunizieren, in der Folge menschliche Körper nahezu marginalisieren und Formen artifizieller Kommunikation ermöglichen (vgl. Malsch 2005). Allerdings ersetzt das moderne Kommunikationssystem den menschlichen Körper nicht, sondern geht lediglich über dessen Potenzial unmittelbarer raum-zeitlicher Reichweite hinaus und differenziert sich funktional und struktural als ein soziales System aus, dessen Umwelt aus Menschen mit ihren Körpern besteht. Was bleibt unter den beschriebenen Kommunikationsbedingungen und ihrer Entwicklungen für körpersoziologische Untersuchungen wissenschaftlich relevant? Kurzgefasst, die Erforschung struktureller Kopplungen zwischen Per71

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sonen (bewusstseins-, körperbasiertes System) und massenmedialer Kommunikation (soziales System). Am Beispiel der praktischen Nutzung von technischen Kommunikationsmedien beobachtet: Es sind Haltungs- und Bewegungsfertigkeiten – besonders Fingerfertigkeiten – zu erlernen, anzuwenden und ständig zu erweitern, sowie raum-zeitliche, materiale und soziale Bedingungen (loko)motorisch einzubeziehen, um eingesetzte Maschinen kommunikativ einsetzen zu können. Das betrifft alle entsprechenden Tätigkeiten und Funktionen in der gegenwärtigen Gesellschaft. Zur Anschauung mag der alltäglich und allerorts vollzogene Gebrauch des Mobiltelefons dienen und zur Verallgemeinerung das Konstrukt des technisch kommunizierenden Körpers. Die Bezeichnung „technisch“ ist auf der Grundlage einer Unterscheidung zu verstehen: Maschinen- und Körpertechnik oder zwei Seiten kommunikativer und zugleich sozialer Technik. Von daher wäre der personalisierte menschliche Körper soziologisch zu untersuchen. (3) Schließlich lässt sich der Körper als Gegenstand und Thema gesellschaftlicher Kommunikation innerhalb und außerhalb sozialer Interaktionen beobachten. In das Zentrum rücke ich die Sprache, das in Kommunikationen medial angewandte und Interaktionen überschreitende konventionelle Zeichensystem. Hier interessiert besonders dessen Semantik. Letztere stellt einen ständig sich verändernden und erweiternden Vorrat an Begriffen zur Verfügung, der selektiv genutzt wird, um Themen zu benennen, einzugrenzen, zu unterscheiden und sie Kommunikationen zugänglich zu machen. Das gilt ebenso für das Thematisieren des menschlichen Körpers unter interaktiven Bedingungen oder im Fall massenmedialer Kommunikation. Beginnen wir mit der Sprache selbst. Eine etymologische Analyse von Verben und Substantiven führt in vielen Fällen zu Worten, die aus körperlichen Verhaltensmodi abgeleitet entstanden sind, z.B. begreifen/Begriff, halten/Haltung, handeln/Handlung. Derartige Worte bilden die semantische Grundlage von gesellschaftlich elaborierten Sprachen, etwa Alltags-/Fachsprachen oder öffentliche/private Sprachen, allesamt gesprochen und verschriftet. Mittels körpersemantisch aufgeladener Worte wird kommuniziert, der menschliche Körper und darauf basierende Verhaltensmodi implizit zur Sprache gebracht. Da jedoch im Sprachgebrauch Körpersemantiken immer mehr abstrahiert werden, verschwindet häufig der unmittelbare Körperbezug. Wer verbindet die Phrase „ein PC-Programm laden“ noch mit der körperlichen Tätigkeit des Ladens? Wird dagegen der Körper in einer Kommunikation thematisch zentriert, dann gewinnen körpersemantische Abstraktionen wieder an konkreter Bedeutung. Das lässt sich im alltäglichen Sprechen und Schreiben etwa über körperliche Arbeit, Freizeitaktivitäten, Sport, Kunst, Liebesbeziehungen, Krankheit, Alter und hier angebundenen wissenschaftlichen Diskursen beobachten, die körpersemantisch in der Bildung und Anwendung von Superzeichen wie Frauen-, Männer-, Alters-, Berufs-, Kunst-, Sport- oder Konsumkörper kulminieren. 72

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Soziologische Untersuchungen könnten an solchen Semantiken und Thematisierungen aufzeigen, wie menschlich personale Körper an soziale Funktionsdifferenzierungen und Systembildungen angeschlossen oder im Fall ausbleibender Thematisierung ausgeschlossen werden. Beide Fälle bezeichne ich als den in Interaktionen und massenmedialen Kommunikationen kommunizierten Körper und gehe davon aus, dass er auch im Fall kommunikativer Marginalisierung oder Nichtthematisierung als eine mögliche Umwelt sozialer Systeme gesellschaftlich relevant bleibt und nicht verschwindet.

Gesellschaft und Körper „Die Gesellschaft kann als der große, human finalisierte Körper menschlichen Zusammenlebens nicht mehr zureichend begriffen werden“ (Luhmann 1977: 4).14 Daraus folgt, dass das Konstrukt der Gesellschaft nicht mehr auf der Beobachtung einer Ansammlung oder eines Zusammenschlusses von individuellen Körpern soziologisch begründbar ist oder Gesellschaft mit einem Körper vergleichbar wäre. Die Gesellschaft erzeugt sich durch Kommunikationen, nicht durch körperliche Operationen von Menschen. Was bleibt aber dann noch für eine Soziologie des Körpers aus gesellschaftstheoretischer Sicht übrig? Man könnte gleichwohl entgegen der vorgestellten Position versuchen, gesellschaftliche Prozesse auf körperliche Funktionen menschlicher Akteure und ihre Handlungen zurückzuführen.15 Aus Gründen ständiger sozialer Komplexitätssteigerungen, damit verbundener Abstraktions- und Distanzierungsfolgen ist das kaum mehr möglich. Erschwerend tritt hinzu, dass im Rahmen dieser Entwicklung ehemals körperlich basierte Sozialfunktionen durch organisatorische und technische Innovationen laufend verändert und zunehmend bei gleichzeitiger Weiterentwicklung körperlicher Verhaltensformen – z.B. im Sport und Tanz – entkörperlicht werden. Das lässt sich an vielen ehemals Körper zentrierten Tätigkeiten in verschiedenen Arbeits- und Berufsfeldern beobachten, etwa der industriellen, handwerklichen und landwirtschaftlichen 14 Luhmann verweist wie viele SoziologInnen vor ihm auf die Schwierigkeit, den Begriff der Gesellschaft soziologisch zu definieren: „Mit dem Wort Gesellschaft verbindet sich keine eindeutige Vorstellung. Selbst das, was man üblicherweise als ‚sozial‘ bezeichnet, hat keine eindeutig objektive Referenz. Noch kann der Versuch, die Gesellschaft zu beschreiben, außerhalb der Gesellschaft stattfinden. Er benutzt Kommunikation. Er aktiviert soziale Beziehungen. Er setzt sich in der Gesellschaft der Beobachtung aus. Wie immer man den Gegenstand definieren will: die Definition selbst ist schon eine Operation des Gegenstandes“ (Luhmann 1997: 16). 15 Ein solcher Versuch ginge paradigmatisch z.B. handlungs- und akteurstheoretisch, auf der Basis des methodologischen Individualismus oder zivilisations-, figurations- und habitustheoretisch vor. Vgl. im Abschnitt „Soziologische Annäherungen an den Körper“ die Ausführungen zu den ausgewählten paradigmatischen Forschungsstrategien (a-c).

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Produktion oder Dienstleistungen. Daraus ist jedoch nicht zu schließen, dass eine moderne Gesellschaft sich sozialsystemisch ohne das körperliche Potenzial von Menschen reproduzieren könnte. In Interaktionen lässt sich das Gegenteil feststellen, in darüber hinausgehender Kommunikation als einem operativen Element gesellschaftlicher Evolution jedoch nicht mehr. In verzweigten Organisationen, allgegenwärtigen Institutionen oder globalen Unternehmen lässt sich der Faktor Körper nur noch vermuten. Um aus dem skizzierten Dilemma herauszukommen, bedarf es einer theoriegeleiteten Beobachtung, mit deren Hilfe Gesellschaft und Körper unter den beschriebenen Bedingungen aufeinander zu beziehen sind. Die soziologische Systemtheorie macht ein entsprechendes Angebot. Sie stellt eine Differenz zwischen Gesellschaft und Körper her und untersucht letzteren als eine andere Seite der Gesellschaft oder eine Umwelt ihrer sozialen Systeme. Ein solches differenztheoretisches Vorgehen hat den Vorteil, dass den beteiligten Systemen Autonomie zugesprochen wird, aus der heraus sie kommunizieren und Anschlüsse ermöglichen. Aus gesellschaftstheoretischer Sicht interessiert mich nun primär die Frage: Wie kommunizieren Gesellschaft und Körper? Wie schließen sie sich an und aus? Meine Antwort läuft auf ein soziologisches Forschungs- und Theorieprogramm hinaus, in dem der menschliche Körper, gebunden an Personen (Interaktionen) und Sprache (Kommunikation), nicht im Hinblick auf physische und psychische, sondern ausschließlich soziale Funktionen und deren strukturbildenden Folgen hin konzipiert wird. Wenn unter Zugrundelegung eines solchen Ansatzes beobachtet wird, ist zu konstatieren, dass der menschliche Körper aufgrund seiner physischen Strukturdeterminiertheit sprachlos bleiben muss (vgl. Maturana 1998: 102-104). Er kann eine elementare Voraussetzung gesellschaftsgenerierender Kommunikation, die Erzeugung und Anwendung eines konventionellen Zeichensystems, nicht erfüllen. Nur die Gesellschaft bringt ihn zur Sprache und bezieht ihn damit in ihre Kommunikationen ein. Zu erinnern ist jedoch daran, dass Sprechen, was an dieser Stelle zu vernachlässigen ist, erst in einem Anschluss zwischen physischem und psychischem System ermöglicht wird. Den beschriebenen Zusammenhang aus der Sicht der Gesellschaft untersucht, so stößt man auf eine andere Besonderheit. Da Gesellschaft als Gesamtheit aller sozialen Systeme selbst von keiner sozialen Umwelt, wohl aber von anderen Umwelten (z.B. Natur) umgeben ist, bildet der Körper aufgrund seiner physischen Merkmale und Funktionen eine potenzielle nichtsoziale Umwelt der Gesellschaft. Als solche wäre er nicht soziologisch, sondern biologisch zu begreifen und in eine Beziehung zu gesellschaftlichen Prozessen zu stellen. Die Systemtheorie schlägt mit dem Konstrukt des Materialitätskontinuums16 eine Lösung vor und argu16 Mit dem „Materialitäts-(oder Energie-)Kontinuum“ konstruiert Luhmann eine beobachtbare „Realitätsbasis“, die z.B. im Falle der intersystemischen Erzeugung struktureller Kopplungen einerseits unabhängig von den gekoppelten Systemen

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mentiert, dass die internen Funktionsfähigkeiten aller Systeme, die in unserer Welt endlos unterschieden werden, von systemexternen Bedingungen mit abhängen. Physische Systeme sind auf Materie, psychische auf Materie und Leben, soziale ebenfalls und zusätzlich auf Bewusstsein angewiesen. Dem zu Folge ist es plausibel, den menschlichen Körper als eine externe Bedingung der Möglichkeit gesellschaftlicher Entwicklungen und Kommunikationen zu bestimmen. Radikal verkürzt gesagt: ohne Körper keine Gesellschaft. Diese Abhängigkeit ist ebenfalls umkehrbar: ohne Gesellschaft keine Körper. Das legt uns die Biologie nahe, indem sie davon ausgeht, dass neugeborene Menschen aus evolutionären Gründen ohne Schutz und Versorgung durch ihre soziale Umwelt nicht überlebensfähig wären. Zu Ende gedacht führt die Annahme einer allgemeinen System-Umwelt-Interdependenz wieder zurück zur bereits ausgeführten Differenz zwischen Gesellschaft und Körper, allerdings mit dem Unterschied, dass Gesellschaft und Kommunikation ohne eine Bindung an die Körperlichkeit von Menschen nicht erzeugbar sind. Auf dieser Grundlage kommt es zu strukturellen Kopplungen, indem der Körper als ein gemeinsames und symbolisch generalisiertes Medium eingesetzt wird. Das lässt sich in sozialen Systemen wie Erziehung, Bildung, Medizin, Politik, Wirtschaft, Massenmedien und Sport beobachten. Sie alle beziehen sich auf den menschlichen Körper, bauen ihn thematisch in ihre Kommunikationen ein, entwickeln körperbezogene Programme und Organisationsformen. Sie setzen ihn als eine Bedingung ihrer eigenen systemischen Reproduktion voraus. So wird etwa körperliche Gesundheit, unter Einbezug psychischer und sozialer Dimensionen, als eine solche Voraussetzung kommuniziert und führt zu strukturellen Kopplungen. An den oben genannten Beispielen veranschaulicht: Gesundheitserziehung/-bildung, Gesundheitsprophylaxe, Gesundheitspolitik, ergonomische Arbeitsorganisation, Gesundheitsmagazine und Gesundheitssport. Der gesunde Körper bleibt jedoch abstrakt, muss es bleiben, weil es nicht um einen konkreten, sondern um einen medial generalisierten Körper, eine physische Umweltbedingung der Gesellschaft oder den Körper als nichtgesellschaftliche Umwelt der Gesellschaft geht. Aus diesem Zusammenhang heraus lässt sich die folgende These verstehen: „Die enorme Potenz der Moderne konnte nur deshalb zustande kommen, weil Menschen mit ihren Körpern lediglich eine marginale Bedeutung für den Vollzug gesellschaftlicher Kommunikation besitzen“ (Bette 1999: 114). Aber genau jene Marginalität wäre gesellschaftstheoretisch reflektiert in einer Soziologie des Körpers zu untersuchen.17 vorhanden sei, andererseits und zugleich als eine strukturelle Bedingung der Möglichkeit von strukturellen Kopplungen vorausgesetzt wird (vgl. Luhmann 1997: 99-103, hier: 102). 17 Im Rahmen dieses Beitrags sind Ausführungen zu empirischen Untersuchungen im Rahmen einer Soziologie des Körpers nicht geplant. Stichwortartig seien nur zwei methodische Hinweise gegeben: (1) Es besteht allgemein in der Soziologie

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Z u s a m m e n f a s s u n g u n d Au s b l i c k Ich fasse meine Vorschläge zu einem Theorie- und Forschungsprogramm Soziologie des Körpers in fünf Thesen zusammen (Grundlage bilden die fünf Abschnitte des vorangegangenen Kapitels): (1) Die Soziologie konstruiert drei Körper: einen mit gesellschaftlicher Umwelt, eine Gesellschaft mit körperlicher Umwelt sowie eine verkörperte Gesellschaft mit vergesellschafteten Körpern. (2) Beschreibungen von körperlichen Veränderungen als ein Verdrängen oder eine Wiederkehr des Körpers sind im Rahmen eines evolutionären soziologischen Konzepts nicht haltbar, weil menschliche Körper innerhalb gesellschaftlicher Veränderungen nicht verdrängt werden oder wieder zurückkehren, sondern sich lediglich fortlaufend mitverändern. (3) Körper und Interaktion werden von Personen auf einer durch sie generierten Basis physischer und sozialer Differenz aufeinander bezogen (reziproke Umwelt), um strukturelle Kopplungen zwischen beiden herzustellen und damit soziale sowie physische Selektions- und Reproduktionsmöglichkeiten zu erweitern (Interaktionskörper, Körperinteraktionen). (4) Soziologische Untersuchungen von Körperthematisierungen und damit verbundener Körpersemantiken in Kommunikationen können aufzeigen, wie menschliche als personale Körper an soziale Funktionsdifferenzierungen und Systembildungen angeschlossen oder im Fall ausbleibender Thematisierung ausgeschlossen werden. (5) Aus einer gesellschaftstheoretisch begründeten soziologischen Sicht wird der menschliche Körper als eine nichtgesellschaftliche Umwelt von Gesellschaft, die eine Bedingung der Möglichkeit gesellschaftlicher Reproduktion miterzeugt, konstruiert und untersucht. Im Anschluss an die obigen Thesen sei eine die Soziologie überschreitende und auf interdisziplinäre Forschung gerichtete Frage vorgestellt, ohne sie an dieser Stelle ausführlich beantworten zu können: Wie beobachten verschiedene Wissenschaften den menschlichen Körper? Die Biologie beobachtet seine organischen, die Psychologie seine psychischen Funktionen und Strukturen. Beide setzen den Körper in Umweltbeziehungen (Ökologie). Die Soziologie beobach-

ein großes Defizit in der feldbasierten und besonders experimentellen Kleingruppenforschung. Gerade mit derartigen Methoden ließen sich körperfokussierende Interaktions- und Kommunikationsuntersuchungen nah am Gegenstand durchführen. (2) Notwendig wären außerdem die Durchführung von Langzeitstudien und vergleichenden Studien, z.B. zur körperzentrierten Sozialisation sowie interkulturelle Vergleiche, weil auch hier wenige neue und weiterführende Untersuchungen vorliegen.

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tet am Körper zwischenkörperlich basierte soziale Funktionen und Strukturen, generiert in Interaktionen und Kommunikationen, darüber hinaus Körperumwelten der Gesellschaft. Wenn man von diesen Beobachtungsdifferenzen und deren Konstrukt- und Gegenstandsbildungen ausgeht, dann ergeben sich für die Soziologie bestimmte Konsequenzen: Der menschliche Körper bleibt für sie nachgeordnet oder ein Rahmen, zugleich jedoch forschungsrelevant, weil immer angeschlossen an Interaktion (Personen), Kommunikation (System) sowie Gesellschaft (Umwelt). Sie beschreibt und erklärt ihn als vergesellschafteten und/oder sozialisierten Körper, der nicht mit biologischen, psychologischen oder anderen wissenschaftlichen Konstrukten zu beschreiben oder gar terminlogisch zu vermischen ist, um soziologische Unterscheidungen für eine soziologische Theoriebildung erhalten zu können. Auf dieser disziplinären Basis und unter Einhaltung dieser Differenz kann die Soziologie eine Möglichkeit zu interdisziplinärer Forschung und Theoriebildung anbieten, was umgekehrt ebenso für die Biologie, Psychologie und andere Disziplinen gilt.18 In einem solchen Versuch wäre methodologisch immer zu bedenken, dass die Voraussetzung jeder Interdisziplinarität in der Disziplinarität der sie etablierenden und betreibenden Partnerwissenschaften verortet ist. Meinen Vorschlag zu einem soziologischen Theorie- und Forschungsprogramm resümierend gehe ich davon aus, dass menschliche Körper innerhalb gesellschaftlicher wie sozialer Entwicklungen (re)produktive Funktionen übernehmen. Sie werden nicht ausgeschlossen oder abgeschafft, sondern immer unterschiedlich kommuniziert. Mit dieser Sichtweise wird der Unterstellung einer Entkörperlichung und Entsinnlichung moderner Gesellschaften oder jener gesellschaftlicher Körperverdrängungen widersprochen. Der menschliche Körper bleibt jedoch als eine soziologische Erfindung paradox: zugleich personal nah und gesellschaftlich fern – ein Zwischenkörper19, ein selbst- wie fremderzeugter, selbst- und fremdformierter, ein relationaler und abstrakter, ein medialer Körper, der zwischen sozialen Akteuren, innerhalb sozialer Systeme als symbolisch generalisierter Körper kommuniziert wird. Einer der vielen möglichen Körper, den Gesellschaften – nicht selten auch mit Hilfe von Soziologinnen und Soziologen – erfinden.

18 Die Frage, ob es wissenschaftlich sinnvoll wäre, eine interdisziplinäre Wissenschaft vom menschlichen Körper zu etablieren, soll hier nicht erörtert, sondern nur noch gestellt werden. Ein solches Projekt wäre natur-, sozial- und geisteswissenschaftlich zu begründen und könnte im Rahmen einer interdisziplinären Kommunikation innerhalb der Anthropologie zusammengeführt werden. Aus meiner Sicht gehen die meisten körpersoziologischen Ansätze bereits in diese Richtung und sind deshalb auch eher als sozialanthropologische zu bezeichnen. 19 Vgl. dazu im Zusammenhang der Paradoxie Körper-Gesellschaft/Natur Bette (1989: 71ff.).

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Körperbew egung als Formbildung. Ansätze einer systemtheoretischen Bew egungskonz eption BERND SCHULZE

Einleitung Der systemtheoretischen Sportsoziologie wird häufig vorgeworfen, sich nicht um die Empirie oder die sportliche Praxis zu kümmern. Der Mensch, der Körper, die Bewegung würden als gesellschaftsexterne Phänomene betrachtet, womit ihre Bedeutung für Sport und Gesellschaft verkannt würden. Ganz falsch sind solche Vorwürfe nicht, da sich in enger Anlehnung an den Luhmannschen Gesellschaftsbegriff die These durchgesetzt hat, dass die menschliche Psyche und der Körper nicht zum Gesellschaftssystem gehören, da dieses nur aus Kommunikationen besteht. Andererseits ist gerade der Körper ein prominenter Gegenstand systemtheoretischer Reflexion gewesen. Dennoch bleibt festzuhalten, dass ein systemtheoretisches Bewegungskonzept bislang in der Sportsoziologie nicht vorliegt. Diese Lücke soll durch das hier erläuterte Bewegungskonzept geschlossen werden (vgl. auch Schulze 2005). Zunächst erfolgen einige Bemerkungen zur Bedeutung des Bewegungsbegriffs für die Sportwissenschaft. Dann wird kurz skizziert, inwieweit die systemtheoretische Sportsoziologie den Bewegungsbegriff aufgenommen hat. Es schließt sich – in enger Anlehnung an die soziologische Systemtheorie Niklas Luhmanns – die Definition von Bewegung als Medium und Form an. Die Formbildung durch Körperbewegungen stellt einen Basisprozess von Bewegungssituationen dar, aus denen durch Komplexitätsaufbau und interne Differenzierung Sportartensysteme werden, die für den modernen Sport charakteristisch sind. Erläutert werden diese Aspekte durch den Bezug auf den wettkampforientierten Fußballsport. 81

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Der Bewegungsbegriff und die Sportwissenschaft Neben dem Sportbegriff richten sich die Bemühungen der Sportwissenschaft, wenn man Rüdiger Heim (1991: 158-180) folgt, auf das Phänomen Bewegung. Für die Bewegungslehre ist die sportliche Bewegung als raum-zeitliche Ortsveränderung der Körper von Mensch, Tier und Gerät der zentrale Objektbereich der Forschung. Die Trainingswissenschaft befasst sich mit der Analyse sportlicher Leistungen und deren Bedingungen sowie mit dem Leistungshandeln in Training und Wettkampf. Die Sportmedizin untersucht den Einfluss von Bewegung, Training und Sport aber auch Bewegungsmangel auf den gesunden und kranken Menschen. Die Sportpsychologie untersucht die Konstanz und Variabilität der psychischen Grundlagen und Wirkungen des Verhaltens und Erlebens des Sportlers vor, während und nach sportlicher Tätigkeit. Die Sportpädagogik befasst sich mit dem sportlichen und spielerischen Bewegungshandeln in seinen institutionalisierten und nicht institutionalisierten Formen vorrangig unter den Gesichtspunkten Bildung, Erziehung, Sozialisation und Lernen. Die Disziplin Sportgeschichte thematisiert – trotz unterschiedlicher Schwerpunktsetzungen auf Sozialgeschichte, Kulturgeschichte, Problemgeschichte, Motivgeschichte oder Strukturgeschichte – vergangene Bewegungsarten und deren Rahmenbedingungen in den verschiedenen Realisierungsformen im Bereich der Leibeserziehung, Gymnastik, Körperkultur bzw. des Turnens, des Sports oder des Spiels. Die Sportsoziologie fokussiert nicht die sportliche Bewegung als solche, sondern das sportbezogene Verhalten des Menschen unter dem Aspekt seiner Vergesellschaftung. Hier werden die Voraussetzungen, Formen und Auswirkungen sozialen Handelns im Sport untersucht. An dieser kurzen und unvollständigen Auflistung wird sofort deutlich, dass die Sportsoziologie dort das soziale Handeln fokussiert, wo sich die anderen Disziplinen der sportlichen Bewegung als raumzeitlichem Geschehen und deren historischen, psychischen oder physiologischen Implikationen widmen. Die Sportsoziologie ist also weniger auf die sportliche Bewegung als vielmehr auf die sportbezogene Handlung orientiert. Auch konnte sich der Bewegungsbegriff in der Sportsoziologie lange Zeit nicht gegen die Begriffe Spiel und Sport (vgl. Hägele 1979) oder Körper (vgl. Kamper/Rittner 1976; Gugutzer 2004) durchsetzen. Erst neuerdings findet sich Bewegung als Thema der Sportsoziologie und als Titel eines Sammelbandes wieder, der von Gabriele Klein (2004) herausgegeben wurde.

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Bewegung und Körper als Umwelt sozialer und p s yc h i s c h e r S ys t e m e Betrachtet man die systemtheoretischen Ausführungen Luhmanns (1984: 296300) zur Autopoiesis, die in seinem ersten Hauptwerk Soziale Systeme ausgeführt sind, so fällt auf, dass er drei verschiedene Formen der autopoietischen Reproduktion benennt. Neben der Reproduktion des Lebens, der sich z.B. die Biologen Maturana und Varela (1987) gewidmet haben, versteht er Bewusstsein und soziale Systeme als Felder eigenständiger Autopoiesis. So wie soziale Systeme aus Kommunikation bestehen, bilden Gedanken die Letztelemente psychischer Systeme. Die Reproduktion des Lebens verläuft über vielfältige biochemische Prozesse. Bewegungsprozesse sind ebenso wie Stoffwechselvorgänge, Muskelaktivität, Rezeptionsabläufe in dem Sammelbegriff „Leben“ enthalten. Da Luhmann betont, dass die soziale und psychische Autopoiesis erhebliche Unterschiede zur biologischen Autopoiesis aufweisen, geht er auf letztere nicht näher ein. In diesem Zusammenhang bleibt der Bewegungsbegriff bei Luhmann unbestimmt.

B e w e g u n g u n d K ö r p e r i n d e r s ys t e m t h e o r e t i s c h e n Sportsoziologie In dieser Tradition steht auch die systemtheoretische Sportsoziologie, die sehr früh Luhmanns Theorie auf den Sport übertrug. Körper und Bewegung wurden dabei als nichtsinnhafte Umwelt sozialer Systeme im Materialitätskontinuum1 gesehen (vgl. Bette 1993: 245). Allerdings bleibt der Bewegungsbegriff an vielen Stellen unbestimmt und man kann sagen, dass die systemtheoretische Sportsoziologie eher eine Körperorientierung als eine Bewegungsorientierung aufweist. Bette (1987, 1989, 1993) sprach sehr früh von der gleichzeitigen Körperverdrängung und Körperaufwertung in der Moderne. Er behandelte nicht nur die Körperdarstellung, sondern auch den organisierten Hochleistungssport als besondere Form der Körperthematisierung. Der Körper kann beobachtet und gestaltet werden, positive Emotionen können an ihm gesucht und erzeugt werden, aber er kann auch durch irritierendes Rauschen, wie etwa Schmerzen, Gedanken und Kommunikationen beeinflussen. Im Gegensatz zu offenen Systemkonzeptionen, die von einem Informationsaustausch zwischen Umwelt und System ausgehen, betont Luhmann die Geschlossenheit sozialer Systeme. Die Umwelt determiniert das System nicht, sondern irritiert das System durch Aktivitäten, die lediglich als Rau1

Das Materialitätskontinuum bezeichnet den Ausschnitt der Welt, der unabhängig von der Beobachtung durch soziale und psychische Systeme gegeben ist und der in anderen Ansätzen mit Realität bzw. Wirklichkeit bezeichnet wird.

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schen wahrgenommen werden können und vom System anhand seiner eigenen Strukturen und Prozesse mit Sinn gefüllt werden. Für die Gesellschaft ist der Körper nur als Kommunikationsthema zugänglich. Soziale Systeme beobachten den Körper anhand ihrer eigenen Sinnstrukturen, und so entsteht eine Körpersemantik, die den Umgang mit und die Sicht auf den Körper festlegt. Diese Körpersemantik stützt Prozesse der Körperdistanzierung und Affektkontrolle ebenso wie die Aufwertung der körperlichen Attraktivität und Überhöhung des Körpererlebens. Eine direkte Resonanzfähigkeit der Gesellschaft auf körperliche Bedürfnisse ist nur begrenzt möglich. Dennoch kann die Gesellschaft den Körper nicht ignorieren, sondern ist geradezu auf ihn angewiesen. Insbesondere durch die symbiotischen Mechanismen (Sexualität, Wahrnehmung und Gewalt), die soziale Phänomene wie Liebe, Wissenschaft und politische Machtausübung an basale körperliche Phänomene rückbinden, ist die Gesellschaft an den Körper gekoppelt (vgl. Bette 1993: 245-247; Luhmann 1981). Der Schwerpunkt der systemtheoretischen Sportsoziologie lag auf der Beschreibung und Analyse des Sportsystems. Bette (1989) versteht Sport als ein System, das durch sein body processing gekennzeichnet ist. Cachay (1988: 179ff.) bestimmte die Funktion des Sportsystems als Erzeugung einer gesellschaftsadäquaten Körperumwelt durch Körperbildung. Schimank (1988: 206210) sah in der spielerischen Erzeugung von Spannung durch körperlichen Wettbewerb den Ansatzpunkt für externe Leistungsbezüge, der niemals eliminiert werden dürfe. Bei Stichweh (1990: 378-380) kommt es sogar zum Versuch, Bewegung durch Kommunikation zu ersetzen. Die sportliche Bewegung soll als Kommunikation verstanden werden. Die Einheit des Sportsystems ist für ihn unter anderem durch den Körperbezug des Sports gegeben. Sportliche Übungen und jede in den Kontext des Sports gehörende Operation sind für Stichweh immer Handlungen des Körpers. Mit einem Verweis auf die Schwerathletik (Ringen, Gewichtheben) und Tauziehen betont er, dass diese Operationen nicht zwangsläufig als Bewegung des Körpers, wohl jedoch als Handlung interpretiert werden können. Eine Handlung im Kontext des Sports ist für Stichweh eine Leistung, welche auf die Leistungsfähigkeit des an ihr beteiligten Körpers schließen lässt. Er sieht Leistungen des Sports als Kommunikationen und versteht beispielsweise einen Speerwurf als die Mitteilung „Ich kann den Speer so weit werfen!“. Sie informiert über die Differenz zwischen der Leistung, die zu erwarten war, und dem, was als Leistung eingetreten ist. Er versteht die Kommunikation als Mitteilungshandeln, das einem Urheber der Leistung zuzuschreiben ist und Anschlusshandeln motiviert. Das Sportsystem definiert Stichweh als das Funktionssystem, welches aus allen Handlungen besteht, deren Sinn die Kommunikation körperlicher Leistungsfähigkeit ist. Auch hier wird die bereits erwähnte Fokussierung auf den Körper bzw. auf die Handlung deutlich. Bewegung als Kategorie bleibt relativ unbeleuchtet und scheint als raum-zeitliches Geschehen im Materialitätskontinuum zu verbleiben. 84

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Besonders bei Stichweh wird die Hauptschwierigkeit der systemtheoretischen Reflexion deutlich. Gesellschaft besteht nur aus Kommunikation und alles, was nicht Kommunikation ist, gehört nicht zum Gesellschaftssystem. Stichweh setzt Bewegung mit Kommunikation zwar gleich, engt aber den Kommunikationsbereich auf die Kommunikation von Leistung ein. Obwohl Bewegung von sozialen Systemen so beobachtet wird, ist damit nur ein Teil des Potenzials von Bewegung benannt. Die Kommunikation durch Bewegung muss ergänzt werden durch das Potenzial zur Formbildung, die Selektivität des Bewegungsgeschehens, die Systembildung und Beobachtung durch Bewegung.

B e w e g u n g e n i n S p o r t a r t e n s ys t e m e n Ein konsistentes Verständnis von Körperbewegungen im Sport lässt sich nur dann entwickeln, wenn man es auf den Sinnzusammenhang spezifischer Sportarten bezieht. Das Modell des Sportsystems muss hierfür erweitert werden. Sportartensysteme bilden eigenständige Systeme und können darüber hinaus als Segmente des Sportsystems verstanden werden. Der Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist die unmittelbar evidente Beobachtung, dass die einzelnen Sportarten sich nicht nur hinsichtlich ihrer Bewegungen, sondern auch in Bezug auf die Wechselwirkungen mit ihrer gesellschaftlichen Umwelt erheblich unterscheiden. Je nachdem, welche Sportart man fokussiert, verläuft z.B. der Geldstrom für die Übertragung von Sportveranstaltungen von den Medien zu den Verbänden oder von den Verbänden zu den Medien. Auch sind Siege und Niederlagen sportartübergreifend nicht ineinander konvertierbar. Sportarten stellen also eine relevante Analyseeinheit der Sportrealität dar (vgl. Schulze 2005). Bei der Entwicklung des Modells des Sportartensystems spielt der Bewegungsbegriff eine Schlüsselrolle. Hierfür sind zwei Gründe maßgeblich gewesen: (1) Während die sportliche Bewegung als Sammelbezeichnung ein abstraktes Begriffskonstrukt ist, lassen sich die sportartspezifischen Bewegungen durchaus in der Wirklichkeit finden und dürfen bei der Theoriebildung nicht ignoriert werden. (2) Diese sportartspezifischen Bewegungen bilden den Basisprozess der Sportartensysteme. Innerhalb der Wettkampf- und Trainingssituationen verläuft die Interaktion in hohem Maße nonverbal. Hier übernehmen Körperbewegungen offensichtlich die Rolle von Kommunikation als Letztelemente von Interaktionssystemen. Sie sind nicht einfach zufällige Geschehnisse der Körperumwelt im Materialitätskontinuum, denen sinngebundene Systeme einen spezifischen, ihnen aber nicht im ontologischen Sinne innewohnenden Sinn zuschreiben, sondern Körperbewegungen werden von psychischen Systemen gesteuert und von sozialen Systemen in dieser Weise als Handlung beobachtet und interpretiert. 85

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Einheit von Körper und Bewegung Eine wichtige theorietechnische Entscheidung besteht in der Einheit von Körper und Bewegung. Es geht im Sport nicht um abstrakte Bewegung, sondern stets um Körperbewegungen, meist um die Bewegungen des menschlichen Körpers.2 So wie Struktur und Prozess relationale Begriffe sind, so bezeichnen auch die Begriffe Körper und Bewegung lediglich zwei abstrakt konstruierte Extrempole des bewegungslosen Körpers und der körperlosen Bewegung. Die empirisch beobachtbare sportliche Bewegung ist immer durch die Einheit von Körper und Bewegung gekennzeichnet, so dass im Weiteren von Körperbewegungen gesprochen wird.

Segmentierung der Körperbewegung Eine Zentralproblematik der Bewegungswissenschaft ist es, aus dem kontinuierlichen Bewegungsfluss einzelne Bewegungssegmente herauszulösen, um diese dann als Gegenstand zu behandeln (vgl. z.B. Göhner 1992: 108-158). Dieses wurde durch eine unterstellte Phasenstruktur oder durch die Unterteilung von Bewegungen in Teilbewegungen versucht. Beide Versuche stießen auf enorme Schwierigkeiten. Hauptschwierigkeit war dabei die Ein- und Abgrenzung der jeweiligen Bewegungssegmente und ihre Zuteilung zu einer Phase oder einer Teilaufgabe. Konstruktivistisch betrachtet, weist diese Schwierigkeit auf die Beobachterabhängigkeit der Unterscheidung von Bewegungssegmenten hin. Solche Segmente existieren zwar in der Realität, aber nicht objektiv und für jeden Beobachter gleich. Auch der soziologische Betrachter benötigt solche Segmente, die ich als Formen betrachte, die im Medium Bewegung gebildet werden.

Formbildung durch Körperbewegungen Auch wenn Luhmann in seiner Systemtheorie Körper und Bewegung hauptsächlich als Umweltgegebenheiten sozialer und psychischer Systeme thematisierte, so kam auch er in seinen differenzierungs- und gesellschaftstheoretischen Ausführungen nicht umhin, sich näher mit Körper und Bewegung auseinander zu setzen.

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Die Diskussion von Grenzfällen wie Schach oder Motorsport lohnt nicht am Beginn der Modellentwicklung, sondern sollte dann erfolgen, wenn sich dieses Modell als tragfähig erwiesen hat und auch seine Grenzen deutlich geworden sind.

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Luhmann (1995: 176) versteht Körperbewegungen als Medium, in das sich einzelne Bewegungen als Form einprägen können. Das Medium verbraucht sich nicht, sondern wird durch den Formengebrauch reproduziert. Beispielsweise sind Pass, Kopfballstoß oder Torschuss Bewegungsformen, die ein Feldspieler im Fußball im Bewegungsmedium ausprägen kann (vgl. Bisanz/Gerisch 1991: 152).

Bewegung als selektives Geschehen Die Formbildung durch Körperbewegungen ist wie die Formbildung in anderen Medien auch selektives Geschehen, da sie durch die Realisation einer Bewegung andere Bewegungsmöglichkeiten zwar momentan ausschließt, diese jedoch apräsent gehalten und nicht vernichtet werden. Sie können jederzeit aktualisiert werden. Eine Bewegung markiert eine Möglichkeit, die realisiert und dadurch von anderen unterschieden wurde. Analog zur Kommunikation könnte man von Unterscheiden und Bezeichnen der Bewegungsform sprechen (vgl. Luhmann 1984: 191-241, 1997: 190-412). Am Beispiel der Bewegungsformen des Torwarts im Fußball wird deutlich, dass Abstoß, Abschlag und Abwurf distinkte Bewegungsformen sind, deren realisierte Ausprägung die jeweils anderen ausschließen.

Bewegung als nonverbale Kommunikation von Formentscheidungen Innerhalb des Kunstsystems beschreibt Luhmann (1995: 176) eine besondere Form der Kommunikation, die nicht sprachvermittelt ist, sondern über Formentscheidungen verläuft, die in Sprache, Material oder auch Bewegung sichtbar werden. Der Künstler produziert Formentscheidungen und beobachtet diese sequenziell im Prozess des Entstehens. Der Rezipient vollzieht die Formentscheidungen des Künstlers betrachtend nach und versteht diese analog zur Kommunikation als Information, der eine Mitteilungsintention zugrunde liegt, die verstanden werden kann. Obwohl hier die Kommunikation nicht über sprachliche Formen verläuft, bildet die über Kunstwerke vermittelte Kommunikation zwischen Künstler und Betrachter eine Kommunikation im Kunstsystem. Diesen Aspekt kann man nun auf Körperbewegungen im Sport übertragen, indem man Bewegung als Medium und Form versteht und den erzeugenden und betrachtenden Nachvollzug von Körperbewegungsformentscheidungen als nonverbale Kommunikation im Sport konzipiert. Der langsame Spielaufbau oder ein schneller Konter werden als Formentscheidungen aufseiten der Spieler gefällt und von den Betrachtern nachvollzogen (vgl. Bisanz/Gerisch 1991: 295). 87

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Sportliche Bewegung wäre demnach regelgeleitete Formbildung durch Körperbewegung, die eine nonverbale Kommunikation zwischen Athlet und Betrachter ermöglicht. Betrachter können hierbei der Trainer, Schiedsrichter, Funktionär, Zuschauer, Mitspieler, Gegenspieler oder der jeweilige Athlet selbst sein. Der Trainer beobachtet die Bewegungsformen, um Informationen über eine notwendige Änderung der Taktik oder Mannschaftsaufstellung zu bekommen. Der Schiedsrichter beobachtet die Bewegungsformen anhand des Duals regelkonform/regelwidrig, um gegebenenfalls durch Sanktionen einzugreifen. Die Zuschauer betrachten die Bewegungen mit Blick auf ihre spannungserzeugende Bedeutung für Sieg und Niederlage. Mitspieler beobachten die Bewegungen, um durch kooperierende Bewegungen darauf Bezug zu nehmen. Gegenspieler versuchen, den beobachteten Bewegungsformen eigene entgegenzusetzen. Der Athlet selbst betrachtet seine eigenen Bewegungsformen unter den Gesichtspunkten der Bewegungssteuerung und der Evaluation.

S ys t e m b i l d u n g d u r c h K ö r p e r b e w e g u n g Als nonverbale Kommunikation bilden die Körperbewegungsformen einen Teil des Interaktionssystems des Wettkampfs, aber auch des sozialen Systems der Sportart. Gleichzeitig bilden die Bewegungsformen die Elemente von autopoietischen Bewegungssystemen. Orientiert man sich an Luhmann, dann ist ein autopoietisches System ein System, das aus Elementen besteht, die im System selbst reproduziert werden. Diese Elemente müssen gleichzeitig strikt und lose gekoppelt sein. Strikte Kopplung bedeutet, dass nur Elemente des Systems aneinander anschließen, um die Operationsweise des Systems aufrechtzuerhalten. Lose Kopplung meint, dass nicht festgelegt ist, welche Anschlussentscheidung auf ein Element folgt (vgl. Luhmann 1997: 190-202). Betrachtet man die Bewegung innerhalb eines Fußballspiels, so kann man behaupten, dass die Körperbewegungen an Körperbewegungen anschließen, bis das Spiel unterbrochen oder beendet wird. Kommunikationen können das Bewegungssystem nur irritieren, nicht aber an die Stelle von Bewegungen treten. Im Bewegungssystem des Fußballspiels schließen Bewegungen an Bewegungen an, die im System durch Energie- und Informationszufuhr erzeugt werden. Sie sind strikt gekoppelt, gleichzeitig ist aber nicht festgelegt, welche Bewegung an eine vorausgehende anschließen muss. An die Ballannahme und -kontrolle kann sich beispielsweise ein Innenseitstoß, ein Innenspannstoß, ein Außenspannstoß oder ein Vollspannstoß anschließen (vgl. Bisanz/Gerisch 1991: 160). Die Anschlussmöglichkeiten sind bei Kommunikationen durch den Sinn oder den Bezug auf ein Thema eingeschränkt. Bei sportlichen Bewegungen übernehmen das Ziel des Wettkampfes und die durch die Regeln erlaubten Mit88

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tel diese Aufgabe. Bei Bewegungen kommt ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt hinzu: die Bewegungsbeschränkungen durch konditionelle Faktoren wie Ausdauer, Muskelkraft und -schnelligkeit und Beweglichkeit. Außerdem ist die Anschlussbewegung durch die Körperstellung der vorausgehenden Bewegung relativ stark eingeschränkt, so dass nicht beliebige Bewegungen aneinander anschließen können.

Bewegung als Beobachtung Autopoietische Systeme sind beobachtende Systeme. Sie beobachten die Welt gebunden an ihre Operationsform. Kommunikationen der Gesellschaft oder Gedanken der psychischen Systeme beobachten die Welt durch Sinnselektionen. Sie sind zur Selbstbeobachtung fähig, indem sie durch die Sinnselektion einer Kommunikation auf den selektiven Sinn der vorausgehenden Kommunikation Bezug nehmen. Bewegungssysteme beobachten in gleicher Hinsicht nicht nur das Materialitätskontinuum (Topographie, Schwerkraft), sondern auch Gedanken und Kommunikationen. Sie beobachten aber auch Körperbewegungen ihres eigenen Körpers und des Körpers der Mitathleten, wenn die Selektivität der Bewegung auf die Selektivität der vorangegangenen Bewegung Bezug nimmt. Insbesondere bei Angriff und Verteidigung ist dieses zu beobachten. So provoziert ein Dribbling der angreifenden Mannschaft eine spezifische Abwehr gegen Dribbler. Ein Passen, Anbieten und Freilaufen zieht eine Störung des Zusammenspiels nach sich (vgl. Bisanz/Gerisch 1991: 235).

Reflexive Beobachtung Autopoietische Systeme sind in der Lage, die Beobachtung zweiter Ordnung durchzuführen, also die Beobachtung der Beobachtung. Im Falle der Bewegungssysteme bedeutet dies, dass die Selektivität von vorausgegangenen Bewegungen nicht nur raum-zeitlich berücksichtigt wird, sondern als selektives Geschehen wahrgenommen und einem System zugeschrieben wird. Diese Beobachtung der Beobachtung kann auch dazu führen, dass der bewegende Athlet sich selbst als Objekt der Beobachtung beobachtet und entsprechend seine Bewegungsselektivtät ausrichtet. Dieses ist der Fall bei einer Finte, Körpertäuschung oder Schwalbe, wenn man versucht, die Beobachtung bewusst in die Irre zu leiten (vgl. ebd.: 157). Zusammenfassend sind Körperbewegungen im Sport aus systemtheoretischer Sicht Formen, die sich im Medium der Bewegung bilden. Bewegungen sind selektives Geschehen, die die realisierten Bewegungen markieren und von anderen nichtrealisierten Bewegungen unterscheiden. Die Bewegung kann 89

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einem Athleten als Formentscheidung zugerechnet werden. Betrachter können die Bewegung als Ablauf von Formentscheidungen nachvollziehen. Die so etablierte Kommunikation zwischen Athlet und Betrachter stellt den Basisprozess der Sportartensysteme dar. Bewegungsformen sind also Elemente der Sportartensysteme und gehören nur in ihrer Materialität zum Materialitätskontinuum. Körperbewegungen werden beobachtet und können selbst als beobachtende Operationen verstanden werden.

Bewegungssituationen Durch die Klärung des Bewegungsbegriffs gelingt es, aufbauend auf den drei verschiedenen Formen der Autopoiesis, ein systemtheoretisches Modell der Bewegungssituation zu entwickeln, das die Elemente Bewegung, Bewusstsein und Kommunikation beinhaltet. Sportliche Wettkämpfe sind Bewegungssituationen, die ohne die gleichzeitige Beteiligung von Bewegung, Gedanken und Kommunikation/Interaktion nicht denkbar sind. Diese unterschiedlichen motorischen, psychischen und sozialen Systemprozesse verlaufen zwar eigenständig, werden aber durch Bewegungsformen strukturell gekoppelt. Bewegungsformen werden in das Medium Körperbewegung eingeprägt, als Gedanke aktualisiert und durch Kommunikationen in Interaktionssystemen beobachtet.

S p o r t a r t e n s ys t e m e Ein Komplexitätsaufbau ist in physischer Hinsicht als Steigerung der konditionellen Leistungsfaktoren, in psychischer Hinsicht als Erweiterung der koordinativen Fähigkeiten, der Bewegungsvorstellung und des Bewegungsgedächtnisses sowie in sozialer Hinsicht als Ausweitung der Bewegungsbeobachtung in sozialen Systemen möglich. Die psychischen und motorischen Formen des Komplexitätsaufbaus sind zwar notwendig, verbleiben jedoch auf der Ebene des Einzelkörpers bzw. der Interaktion. Ein gesellschaftliches Makrosystem kann nur durch den Komplexitätsaufbau über kommunikative Prozesse erfolgen, insbesondere durch Organisationsbildung, die eine bestimmte Beobachtungsperspektive auf Bewegung dauerhaft stabilisiert. Nur durch die organisatorische Beobachtung von interaktiven Bewegungsformen als Leistung und deren vergleichende Bewertung im sportartspezifischen Wettkampfsystem kommt es zur Bildung von Sportartensystemen. Ab einer gewissen Größe differenzieren sich diese Sportartensysteme nach dem Muster Zentrum/Peripherie. 90

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Neben dem vereins- und verbandsorganisierten Zentrum, in dem die Bewegungsformen in Wettkampf und Training durch die Sportartenregeln programmiert werden, finden sich in der Peripherie organisierte und informelle Bewegungssituationen, deren Bewegungsformen von der verbandlichen Programmierung lediglich orientiert sind. Dennoch müssen sie zum System der jeweiligen Sportart gezählt werden. Straßenfußball, Strandfußball und der Fußball in der Schule sind Formen des Fußballs, die zum Sportartensystem Fußball gehören, aber aus der Sicht der Verbände in deren Peripherie zu verorten sind.

Funktionale Differenzierung Betrachtet man die einzelnen Disziplinen genauer, so stellt man fest, dass sie in gesellschaftsanaloger Weise intern funktional differenziert sind. So wie die Gesellschaft bestimmte Funktionen erfüllen muss, um Kommunikation zu ermöglichen, so muss jede Disziplin bestimmte Funktionen erfüllen, um die sportartspezifischen Bewegungssituationen zu ermöglichen. Da diese in ihren Anforderungen zu spezifisch sind und sie nur in gesellschaftlichen Freiräumen entstehen, muss jede Disziplin hier das gesellschaftliche Vakuum selbst füllen. So muss z.B. der Fußball neben seinem Wettkampfsystem eigene Systeme für Politik, Recht, Erziehung, Wirtschaft etc. ausdifferenzieren. Diese beobachten die fußballerischen Bewegungsformen als Feld bindender Entscheidungen, als Problem der Rechtssetzung bzw. Rechtsprechung, als Idealform oder bislang realisierte Form, als lukrative Form etc. (vgl. Schulze 2002, 2004). Stets dient aber die Bewegungsform als Segment des Bewegungsflusses und als Bezugsobjekt, das systemspezifisch mit Bedeutung gefüllt werden muss.

Au s b l i c k Das hier präsentierte systemtheoretische Verständnis von Bewegung versteht Bewegung als Systemgeschehen, wodurch Bewegung als Zentralbegriff der Sportwissenschaft für die Systemtheorie überhaupt erst erschlossen werden kann. Es wird deutlich, dass komplexe Systeme auf der Markoebene nicht durch Bewegung gebildet werden können, sondern nur durch einen sinnhaften Komplexitätsaufbau sozialer Systeme, die Bewegungssysteme beobachten. Auch ermöglicht der hier erläuterte Bewegungsbegriff eine bessere Verbindung zwischen Systemtheorie und empirischen Ergebnissen der Sozialforschung. Bewegungsformen, die in der Realität schon immer beobachtet wurden, gelten nicht mehr als Umweltgeschehnisse des Sports oder der Gesellschaft, sondern als ein Teil sozialer Systeme. Im Übrigen ist auch der Körper nicht als physischer Körper Teil der Gesellschaft, sondern dadurch, dass man auch mit ihm 91

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Formen ausprägen kann. Auch lassen sich Verbindungen zu anderen Theorien herstellen, indem etwa die Distinktionsmöglichkeit von Bewegungsformen (Bourdieu) betrachtet oder die Frage nach dem Bezug von Bewegungsformen und ihrer Konfiguration im Spiel (Elias) gestellt wird. Auch andere Ansätze wie die Zeichentheorie oder die Hermeneutik können über den Begriff der Bewegungsform integriert werden. Die herausragende Bedeutung von Körperbewegungen für die Sportartensysteme des Sports wird ebenso deutlich wie die Besonderheit des Sportsystems im Vergleich zu anderen sozialen Systemen. Schließlich gestattet dieses Begriffsverständnis eine integrative Betrachtung der Phänomene Bewegung, Körper und Sport.

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Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. Luhmann, Niklas (1995): Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. Maturana, Humberto R./Varela, Francisco J. (1987): Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des Menschlichen Erkennens, Bern/München. Schimank, Uwe (1988): „Die Entwicklung des Sports zum gesellschaftlichen Teilsystem“. In: Differenzierung und Verselbständigung – Zur Entwicklung gesellschaftlicher Teilsysteme, hg. v. Renate Mayntz et al., Frankfurt a.M./ New York. Stichweh, Rudolf (1990): Sport – Ausdifferenzierung, Funktion, Code. In: Sportwissenschaft, 20. Jg., S. 375-389. Schulze, Bernd (2002): Sportverbände ohne Markt und Staat, Münster. Schulze, Bernd (2004): Ehrenamtlichkeit im Fußball, Münster. Schulze, Bernd (2005): Sportarten als soziale Systeme, Münster.

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Körper-Handeln. Überlegungen zu einer praxeologischen Soziologie des Körpers MICHAEL MEUSER

Die in jüngster Zeit sich formierende Soziologie des Körpers tritt mit dem Anspruch auf, den für die meisten soziologischen Theorietraditionen folgenreichen, in der cartesianischen Tradition angelegten Dualismus von Körper und Geist zu überwinden. Das ist gewissermaßen das gemeinsame Dach, unter dem sich alle Varianten einer Soziologie des Körpers versammeln können.1 Die Soziologie folgt damit (verspätet) einem Trend, der von anderen (geistes- und kulturwissenschaftlichen) Disziplinen in Gang gebracht wurde, welche früher als die Soziologie von der „Wiederkehr des Körpers“ (Kamper/Wulf 1982) Notiz genommen hatten. Des Weiteren sind es keine „innertheoretischen Debatten“, die den „somatic turn“ in der Soziologie angestoßen haben (Schroer 2005b: 10; vgl. auch Hahn/Meuser 2002). Er ist eine Reaktion auf eine Reihe gesellschaftlicher Entwicklungen, in denen der Körper in unterschiedlicher Weise thematisch bzw. involviert ist. Hierzu zählen der feministische Körperdiskurs, des Weiteren die im Zuge der Entwicklung von Reproduktionstechnologie und Transplantationsmedizin sich eröffnenden Möglichkeiten der Formbarkeit und Manipulierbarkeit des menschlichen Körpers sowie nicht zuletzt die im Rahmen der Konsumkultur sich beständig vermehrenden Ansprüche an eine ‚perfekte‘ Körperperformance des Individuums, dessen ‚Identitätspolitik‘ immer mehr zu einer ‚Körperpolitik‘ wird (vgl. Giddens 1991). Der soziologische Blick auf den Körper, wie er sich in den letzten zehn bis 15 Jahren entwickelt hat, ist primär ein gegenwartsdiagnostischer. Er ist – vor dem Hintergrund einer gesellschaftlichen Körperaufwertung, die Bryan 1

In dem Maße, in dem die soziologische Thematisierung des Körpers sich innerhalb der Fachgemeinschaft Gehör zu schaffen vermag, beginnt – wie bei anderen Gegenständen – eine Ausdifferenzierung von Zugängen entlang bekannter theoretischer Ansätze und Perspektiven (vgl. Gugutzer 2004; Schroer 2005a).

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MICHAEL MEUSER

Turner (1996) zu der Charakterisierung der gegenwärtigen Gesellschaft als „somatic society“ veranlasst hat – auf die vielfältigen Varianten und Ausdrucksformen zeitgenössischer Körperkulte gerichtet. Die ‚großen‘ soziologischen Theoriediskussionen sind, so sie überhaupt noch geführt werden, von dem „somatic turn“ bislang wenig inspiriert. Am nachhaltigsten macht sich das Fehlen des Körpers, so Markus Schroer, in der soziologischen Handlungstheorie bemerkbar: „Ausgerechnet dort, wo man nicht müde wird gegen konkurrierende Theorieangebote auf den Menschen zu verweisen, hat man es mit geradezu leiblosen Akteuren zu tun“ (Schroer 2005b: 11). Hans Joas, der das Verhältnis der soziologischen Handlungstheorie zum Körper als eine „Art theoretischer Prüderie“ (Joas 1992: 245) charakterisiert, erachtet es als notwendig, „das Verhältnis des Handelnden zum Körper als eine der zentralen Fragen der Handlungstheorie anzuerkennen“ (ebd.: 250). Außerhalb der Theoriediskussion und -entwicklung scheint die vielfach monierte ‚Leibvergessenheit‘ der Soziologie allerdings von einem ‚Körperboom‘ abgelöst zu werden. Der Körper ist zum Gegenstand einer Vielzahl aktueller Forschungen geworden, zugleich erfahren die Werke soziologischer Klassiker der ersten und zweiten Generation eine neue Rezeption, die nach ‚Spuren‘ einer Soziologie des Körpers in der soziologischen Theorietradition sucht. In der sich entwickelnden Körpersoziologie lassen sich analytisch drei Fragestellungen unterscheiden: Wie erfolgt eine kulturelle Formung des Körpers? Wie fungiert der Körper als Zeichenträger, der über die soziale Zugehörigkeit seines ‚Besitzers‘ Auskunft gibt? Und, in Ansätzen: Wie handelt der Körper, (wie) lässt sich der Körper als Agens konzipieren? (vgl. Meuser 2004a) Die Perspektive einer kulturellen Formung des Körpers ist in hohem Maße durch die Arbeiten von Michel Foucault und Norbert Elias inspiriert. Die Arbeiten Foucaults (1977, 1983) über das Strafsystem und über die Sexualität beschreiben die Kontrolle und die Disziplinierung des Körpers in der Moderne. Die Zivilisationstheorie von Elias (1976) lässt sich als eine Soziogenese des zivilisierten Körpers der Moderne lesen. Dass der Körper einer kulturellen Formung unterliegt, ist die Prämisse einer jeglichen Soziologie des Körpers. Luc Boltanski (1976: 154f.) hat den Begriff der „somatischen Kultur“ geprägt, verstanden als „Kodes der guten Sitten für den Umgang mit dem Körper, der tief verinnerlicht und allen Mitgliedern einer bestimmten Gruppe gemeinsam ist“. Die Perspektive einer kulturellen Formung des Körpers findet sich vor allem in diskurstheoretischen, an Foucault orientierten Arbeiten. Bei Foucault selbst erscheint der Körper mehr oder minder passiv und wehrlos den Kräften und Einflüssen ausgesetzt, die von außen auf ihn einwirken (vgl. Lash 1991: 259), und nicht als ein Agens; er ist „ein durch Macht- und Disziplinartechniken ge- und durchformtes Objekt, dem keine wirkliche Autonomie zukommt“ (Joas/Knöbl 2004: 425).

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Als kulturell geformter hat der Körper eine signifizierende Funktion: als ein Zeichenträger, der über soziale Zugehörigkeiten Auskunft gibt. Diese zweite Perspektive liegt zum einen all den Arbeiten zugrunde, die – vor dem Hintergrund einer Inszenierungsgesellschaft – die Bedeutung des Körpers als zentrales Stilmittel sowohl zum Zwecke individueller Selbstpräsentation als auch als Zugehörigkeits- und Distinktionszeichen im Rahmen posttraditionaler Vergemeinschaftung in sog. „code communities“ (Alkemeyer 2003: 354) analysieren. In einem anderen, einem nicht-intentionalen Modus ist der Körper als Zeichenträger im Habituskonzept Pierre Bourdieus thematisch. Die in den Körper eingeschriebenen sozialen Verhältnisse lassen diesen als nicht intendierten Ausdruck der sozialen Zugehörigkeit des ‚Besitzers‘ fungieren. Die feinen Unterschiede, die Bourdieu (1987) detailliert analysiert, verdanken ihre Wirkung nicht zuletzt dem Umstand, dass die Akteure über ein feines Gespür für Nuancen der Körperpräsentation verfügen. In Bourdieus Verständnis des Habitus als strukturierte und strukturierende Struktur ist der Körper jedoch nicht nur als sozial geformter Ausdruck kollektiver Zugehörigkeiten konzipiert, sondern auch als ein Agens, das die sozialen Verhältnisse reproduziert, denen er seine Formung verdankt. „Der Leib kann nicht lediglich als Ort kausaler Faktoren angesehen werden, die auf mein Leben einwirken“ (Taylor 1986: 212). In einer Analyse des handelnden Körpers liegt insofern eine zentrale Herausforderung an eine soziologische Theorie des Körpers, als die Perspektive des Körpers als Agens radikaler als die beiden zuvor skizzierten die kognitivistische Tradition der Soziologie in Frage stellt. Mit dieser Perspektive befasst sich der vorliegende Beitrag. Dazu werde ich zunächst kurz auf die kognitivistische Verkürzung der traditionellen soziologischen Handlungstheorie eingehen. Der Unterschied zwischen einer körpersoziologisch fundierten Handlungstheorie und deren klassischer Version lässt sich als Differenz der jeweiligen Sinnbegriffe beschreiben (1). Sodann werde ich mit Bezug auf das Konzept der Bewegung das Verständnis des Körpers als Agens skizzieren (2), um daran anknüpfend in exemplarischer Absicht auf eine Studie einzugehen, die den Körper als Agens empirisch zu fassen versucht: auf Loïc Wacquants (2003) Ethnographie des Boxens bzw. des BoxerWerdens (3). Den Abschluss bilden Überlegungen zum Stellenwert einer praxeologischen Körpersoziologie im Rahmen einer Theorie sozialen Handelns (4).

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Der Sinn des Handelns – kognitivistischer und praxeologischer Sinnbegriff Die ‚Leibvergessenheit‘ der meisten soziologischen Handlungstheorien lässt sich als ein Erbe der Weberschen Definition sozialen Handelns verstehen. Max Weber begreift sowohl das traditionale als auch das affektuelle Handeln als „ganz und gar an der Grenze und oft jenseits dessen [stehend], was man ein ‚sinnhaft‘ orientiertes Handeln überhaupt nennen kann“ (Weber 1980: 12). Die gängige teleologische Deutung von Intentionalität ist dem „rationalistischen Bias“ geschuldet, der Jürgen Gerhards (1989: 337) zufolge die Weberschen Grundbegriffe auszeichnet. Handlungsmodi, die nicht dem Idealtyp des rationalen Handelns entsprechen, werden in Kontrast zu diesem als residual konzipiert (vgl. Smith 1989: 374). Im Sinne der Typen bildenden Betrachtung werden „alle irrationalen, affektuell bedingten, Sinnzusammenhänge des Sichverhaltens, die das Handeln beeinflussen, am übersehbarsten als ‚Ablenkungen‘ von einem konstruierten rein zweckrationalen Verlauf desselben erforscht und dargestellt“ (Weber 1980: 2). Weber rechnet das Affektive dem Sichverhalten zu, nicht dem Handeln. Mithin kann es im Rahmen einer an seiner Begrifflichkeit orientierten Betrachtung nicht in handlungstheoretischen Termini thematisiert werden. Das Affektive und – so lässt sich ergänzen – die Körperlichkeit werden analytisch auf den Rang von Rahmenbedingungen des Handelns verwiesen. Dieses Verständnis findet seine Fortsetzung in der Handlungstheorie von Talcott Parsons. Parsons zufolge lässt sich der Austausch zwischen Organismus und Umwelt nicht in handlungstheoretischen Begriffen beschreiben. „For the theory of action the organism is not a system, but a unit point of reference“ (Parsons 1951: 542). Ebenfalls in der Tradition der Weberschen Handlungstheorie steht das Werk von Alfred Schütz. Schütz betont verschiedentlich die Bedeutung der Körperlichkeit für soziales Handeln. In einem posthum unter dem Titel „Theorie der Lebensformen“ veröffentlichten Manuskript benennt er zwei Funktionen des Körpers: erstens „Mittler“ zu sein „zwischen dem der reinen Dauer verhafteten Ich und der – schlechthin für jegliches Bewusstsein vorhandenen – Außenwelt“ und zweitens „Werkzeug oder Träger des handelnden Ich“ zu sein (Schütz 1981: 92; Herv. im Orig.). Der Körper ist also zum einen der Bezugspunkt, von dem aus der Handelnde seine Welt ordnet, er ist der „Nullpunkt meines Koordinatensystems“ (Schütz 1971: 255). „Die Welt unseres Wirkens und unserer Körperbewegungen, des Handhabens von Gegenständen und des Umgangs mit Dingen und Menschen konstituiert die spezifische Wirklichkeit des alltäglichen Lebens“ (ebd.: 256). Die Gegebenheit des Körpers eröffnet und begrenzt den Handlungsraum. Zum anderen ist der Körper das Mittel, dessen sich der Handelnde bedient, um seine Handlungsintentionen zu verwirklichen; er kann über ihn „handelnd verfügen“. Das „personale Ich“ wirkt „mittels seiner [des Kör98

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pers; M.M.] in die ‚Außenwelt‘“ (ebd.: 146). Das ist ein Verständnis, das Joas (1992: 245f.) als typisch für die Handlungstheorie beschreibt: die Unterstellung, der Körper sei ein beherrschbares Instrument, beliebig einsetzbar, um die Zwecke zu erreichen, die ein rationaler Akteur seinem Handeln setzt. Eine dritte Perspektive benennt den Stellenwert des Körpers für das Fremdverstehen. Der Handelnde begreift den Körper des Anderen bzw. dessen Veränderungen als „Anzeichen für die fremden Bewusstseinserlebnisse“, als „Ausdrucksfeld der Erlebnisse“ des Anderen (Schütz 1974: 30f.). Schütz bezeichnet, in Anknüpfung an Maurice Merleau-Ponty, das „gewohnheitsmäßige Funktionieren des Körpers“ als „Basis der ersten ‚Selbstverständlichkeiten‘ des Wissensvorrats“ und als „Grundelement einer jeglichen Situation“ (Schütz/Luckmann 1979: 135f.). Fundamentale „Fertigkeiten“ wie Gehen, Schwimmen und sonstige gänzlich habitualisierte Bewegungsabläufe rechnen hierzu. Hier scheint ein Anknüpfungspunkt für eine körpersoziologische Fundierung der Handlungstheorie gegeben zu sein. Der Körper könnte als sinnhaft strukturiertes Agens begriffen werden. Ein solches Verständnis wird jedoch durch die Schützsche Analyse der Sinnkonstitution verstellt. Schütz bestimmt Sinn als eine post hoc reflexiv erbrachte Leistung, die in der nachträglichen bewussten Hinwendung des Subjektes auf eine vollzogene Handlung besteht (vgl. Schütz 1974: 53ff.). Sinn kann es demnach nur bezogen auf ein „wohlumgrenztes“, in einem „reflexiven Akt“ aus dem Fluss des Erlebens herausgehobenes Erlebnis geben. Sinn bezeichnet eine „bestimmte Blickrichtung auf ein eigenes Erlebnis“, eine besondere „Attitüde des Ich zu seiner abgelaufenen Dauer“ (ebd.: 53f., 94). Das Handeln selbst ist in seinem Vollzug nicht sinnhaft; „der Sinn, der vorgeblich mit dem Handeln verbunden wird, ist nichts anderes als das besondere Wie dieser Zuwendung zum eigenen Erleben“ (ebd.: 54). Schütz differenziert zwischen Handeln und Handlung. Dem reflexiven Blick ist „nur Handlung als fertig konstituiertes Erzeugnis des Handelns, nicht aber Handeln als Ablauf“ zugänglich (ebd.: 78f.). Erkennen und Handeln fallen auseinander. Der retrospektive Modus der Sinnkonstitution wird auch für künftiges Handeln geltend gemacht. In der Antizipation – „Vorerinnerung“ heißt es bei Schütz – wird „nicht der Handelnsablauf im Dauerstrom, sondern die als abgelaufen gesetzte […] Handlung phantasierend entworfen“ (ebd.: 81). „Nur das Erlebte ist sinnvoll, nicht aber das Erleben“ (ebd.: 69), wobei das Erlebte auch prospektiv ein erwartetes Erlebtes sein kann. Zwar spricht Schütz von der „lebendigen Intentionalität“, die den Handelnden in seinem Handeln Schritt für Schritt voranschreiten lässt; auch begreift er Sinn „als eine Leistung der Intentionalität“, aber nur insofern, als sie „im reflexiven Blick sichtbar wird“ (ebd.: 68f.). Bestimmte Erlebnisse – Schütz nennt sie „‚wesentlich aktuelle‘ Erlebnisse“ (ebd.: 69) – sind dem reflexiven Blick nicht zugänglich; erinnerbar ist nur, dass sie stattgefunden haben, nicht jedoch, wie sie sich vollzogen haben. Genau auf das ‚Wie‘ richtet sich aber der 99

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Sinn konstituierende reflexive Blick. Zu den „wesentlich aktuellen“ Erlebnissen zählt Schütz „zunächst alle Erlebnisse der Leiblichkeit des Ich“, sodann Stimmungen, Gefühle und Affekte (ebd.: 70). Sinn entsteht für Schütz in der „Spannung zwischen dem Erleben in der Dauer und dem Reflektieren auf das Erlebte“ (ebd.: 94). Insofern als das Körperliche und das Affektive dem reflexiven Blick, wie Schütz ihn versteht, nicht zugänglich sind, also nicht aus dem „Erleben in der Dauer“ als ein „wohlumgrenztes“ Erlebnis hervorgehoben werden können, können sie nicht als sinnhaft strukturierte Dimensionen des Handelns konzipiert werden. Die von Schütz gezogene Schlussfolgerung, dass Sinnhaftigkeit nicht gegeben ist, wenn nur das ‚Dass‘, nicht aber das ‚Wie‘ eines Erlebens erinnerbar ist, ist jedoch dann nicht zwingend, wenn man einen anderen Sinnbegriff zugrunde legt. Der Schützsche Sinnbegriff steht ersichtlich in der Tradition des cartesianischen Dualismus von Körper und Geist. Die „Rede vom Sinn“ zielt, wie Schütz selbst bemerkt, auf die Spannung „zwischen Leben und Denken“ (ebd.: 94). Konzepte, die den Körper als ein Agens zu bestimmen versuchen, betonen hingegen die Einheit von Leben und Denken. Sie gehen – anders als Schütz, der Sinn von einem denkenden Ich her konzipiert – von einem handelnden Ich aus, dessen Handeln zudem nur als ein Miteinander-Handeln, also in seiner intersubjektiven Verwobenheit mit dem Handeln anderer begriffen werden kann (vgl. Bergmann/Hoffmann 1985: 107ff.). Der Annahme eines handelnden und in seinen Handlungen unhintergehbar auf die Handlungen Anderer bezogenen Ich korrespondiert ein Sinnbegriff, der einen vorreflexiven Modus der Sinnkonstitution kennt und darüber hinaus diesen Modus als primordial begreift. Ein derartiges Verständnis findet sich sowohl bei George Herbert Mead als auch bei Pierre Bourdieu. Mead entkoppelt mit seiner Unterscheidung von Gesten und signifikanten Symbolen den Sinnbegriff vom Bewusstsein. Ihm zufolge liegt die Bedeutung von Gesten in den Handlungen, die sie hervorrufen. „Der Mechanismus des Sinnes ist also in der gesellschaftlichen Handlung vor dem Auftreten des Bewusstseins des Sinnes gegeben. Die Handlung oder anpassende Reaktion des zweiten Organismus gibt der Geste des ersten Organismus ihren jeweiligen Sinn“ (Mead 1975: 117). Sinn konstituiert sich im interaktiven Austausch der Organismen, und das bereits auf der Ebene gestenvermittelter Kommunikation. Schon bei dieser gänzlich auf Körperexpressionen basierenden Interaktion und nicht erst mit dem Austausch signifikanter Symbole entsteht Sozialität. Aber auch in symbolisch vermittelter Interaktion ist die Handlungsfundiertheit von Bedeutung nicht suspendiert. Die Bedeutung eines signifikanten Symbols besteht in der Handlung, die es auslöst; nun aber nicht mehr wie bei der Geste erst in der ausgeführten, sondern bereits in der antizipierten Handlung. Einen konsequent auf den Körper fokussierten Sinnbegriff hat Bourdieu im Kontext seines Habituskonzepts entwickelt. Bourdieus (1993) Begriff des 100

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„praktischen Sinns“ („sens pratique“2) konzipiert den Körper „als den Träger einer generativ-kreativen Verstehensfähigkeit“ (Wacquant 1996: 42). Verstehen und Erzeugen bzw. Verstehen und Handeln sind nicht zwei voneinander getrennte Phasen des Bezugs des Handelnden auf seine Welt, sie ereignen sich uno actu. Der Körper greift verstehend in die Welt ein und versteht sie im Eingreifen. Menschen, die einen belebten Fußgängerüberweg so überqueren, dass sie einen Weg finden, auf dem sie nicht mit den Entgegenkommenden zusammenstoßen, praktizieren ein solches Verstehen. Im Aufeinander-zu-Bewegen erfolgt eine wechselseitige „leibgebundene Kundgabe“ (Goffman 1982: 32) der Bewegungsrichtung, die ein wechselseitiges praktisches Verstehen einschließt. Goffman zufolge, der das Fußgängerverhalten systematisch beobachtet und analysiert hat, „spielt sich dieser Akt fast unbewusst ab“ (ebd.: 35). Das praktische Verstehen schließt „eine ein praktisches Erfassen der Welt sichernde körperliche Erkenntnis [ein] – ein Erfassen, das von dem gewöhnlich mit der Vorstellung des Erfassens verbundenen absichtlichen, bewussten Entziffern völlig verschieden ist“ (Bourdieu 2001: 174; Herv. im Orig.). Die Differenz zum Schützschen Sinnbegriff ist offenkundig. Der praktische Sinn ist kein analytischer, ‚zerlegender‘, sondern ein ‚synthetischer‘ Sinn. Seine Verstehensleistungen lassen sich als intuitive Akte eines „praktische(n), quasi körperliche(n) Antizipieren(s) der dem Feld immanenten Tendenzen“ (ebd.: 178; Herv. im Orig.) begreifen. Der Körper ist kein Mittel, dessen sich der Handelnde bedient, um eine im Bewusstsein lokalisierte Intention, eine vorentworfene Handlung, umzusetzen, der Körper ist „realer Akteur“ (ebd.: 171). Trotz seiner Materialität ist der in diesem Sinne verstandene Körper kein naturwüchsiger; es ist ein sozialisierter, ein sozial geschaffener Körper. „Die Welt ist erfassbar, unmittelbar sinnerfüllt, weil der Körper […] über lange Zeit hinweg (seit seinem Ursprung) ihrem regelmäßigen Einwirken ausgesetzt war“ (ebd.: 174). Der Körper bildet, in Gestalt des Habitus, Dispositionen aus, die von den Strukturen des sozialen Raums geprägt und auf diese hin orientiert sind. Indem der Körper in dieser Weise sozial geformt wird, findet ein Lernen durch den Körper statt. Es ist ein ‚gelehriger‘ Körper, welcher der Welt im aktiven Eingreifen Sinn verleiht (vgl. ebd.: 181). In einem ‚praxeologischen‘, nicht-kognitivistischen Verständnis von Sinn, wie wir es sowohl bei Mead als auch bei Bourdieu finden, ist der Körper „vorreflexiv und habituell auf bestimmte sich verändernde praktische Bezüge zur Welt ausgerichtet“ (Joas/Knöbl 2004: 714; Herv. im Orig.). Diese praktischen Bezüge sind, sofern wir es mit sozialem Handeln zu tun haben, immer auch Bezüge auf andere Handelnde und deren Handlungen. Ein praxeologischer, den Körper einbeziehender Sinnbegriff unterscheidet sich vom Schütz2

Die deutsche Übersetzung als „sozialer Sinn“ vermittelt nur unzureichend die Dimension des praktischen Verstehens.

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schen Verständnis nicht nur durch die Vermeidung einer kognitivistischen Verkürzung, sondern auch – und eng damit verknüpft – durch ein anderes Verständnis von Intersubjektivität. Bei Schütz ist Intersubjektivität egologisch konzipiert. Mit seinem Begriff der „Reziprozität der Perspektiven“ (Schütz 1971: 364f.) fasst er intersubjektives Verstehen als eine Idealisierungsleistung des Subjekts. Die Deutung, die Ego hinsichtlich des Verhaltens von Alter vornimmt, kann prinzipiell nicht mit dessen Eigendeutung zusammenfallen. Die am Körper des Anderen wahrgenommenen „Anzeichen für die fremden Bewusstseinserlebnisse“ (s.o.) sind zwar die Grundlage dieser Deutung; da der Körper selbst für Schütz nicht sinnhaft strukturiert ist, da Leben und Denken nicht als Einheit verstanden werden, ist der Körper des Anderen jedoch eher ein Hindernis denn Basis des wechselseitigen Verstehens (vgl. Coenen 1979: 243ff.). „Obwohl aber der Körper des Anderen zu meiner Welt gehört, so bleibt mir die Welt des Anderen fremd. […] [T]rotz der gemeinsamen Umwelt […] bleibt die radikale Wirklichkeit des Anderen mir ebenso unzugänglich wie ihm die meine verschlossen ist“ (Schütz 1971: 166). Mit Blick auf das Werk von Mead spricht Joas (1980) von „praktischer Intersubjektivität“. Mead fundiert Intersubjektivität in Prozessen der Handlungskoordination. Dies lässt Unterschiede in den Perspektiven, die auch Mead nicht ignoriert, als nebensächlich erscheinen. „Wirkliche inhaltliche Identität ist nichts als ein ‚Annäherungsweg‘, über den wir zu Unterschieden gelangen, die für die Ausführung der Handlung ohne Bedeutung sind“ (Mead 1987: 124). Für Schütz hingegen sind solche Unterschiede der Grund, weshalb er sich die Reziprozität der Perspektiven nur als eine Idealisierung vorstellen kann. Weil Mead von der Handlung ausgeht, weil er sieht, dass vermittels des Austauschs von Gesten und Symbolen eine praktisch erfolgreiche Koordination von Handlungen gelingt, kann er Verständigungsprobleme, die aus subjektiven Differenzen in der Verwendung von Symbolen resultieren, ignorieren. Das macht seine handlungs-theoretische Lösung des Problems der Intersubjektivität aus. Ein Verständnis praktischer Intersubjektivität ist auch im Habituskonzept angelegt. Der Orientierungssinn, als den Bourdieu den Habitus beschreibt, ist kein je individueller. Der Habitus verweist auf eine spezifische, von anderen geteilte Soziallage, deren Strukturen sich in den inkorporierten Schemata des Habitus niederschlagen. Der Orientierungssinn trägt den Index der sozialen Verhältnisse, in denen er erworben wurde, und fundiert so eine Übereinstimmung der Praktiken, eine habituelle Gleichgerichtetheit. Die Isomorphie der Habitus macht „die von ihnen erzeugten Praktiken wechselseitig verstehbar“ und „aufeinander abgestimmt“ (Bourdieu 1993: 108). Weil und insoweit „die Habitusformen dieselbe Geschichte verkörpern“ (ebd.), können die Akteure, die dieselben Habitusschemata inkorporiert haben, einander wechselseitig auf einer vorreflexiven Ebene, auf der „Basis eines impliziten Einverständnisses“ (Bourdieu 2001: 186; Herv. im Orig.), praktisch verstehen. Dazu bedarf es kei102

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ner individuellen Vertrautheit miteinander, sondern die „Homogenisierung der Habitusformen“ sorgt dafür, dass die Praktiken „ohne jede direkte Interaktion und damit erst recht ohne ausdrückliche Abstimmung einander angepasst werden können“ (Bourdieu 1993: 108). Der Habitus ist nicht nur, wie in den „Feinen Unterschieden“ (Bourdieu 1987) beschrieben, ein Medium der Distinktion, er ist auch ein Medium der Konjunktion (vgl. Bohnsack 1997).3 Bourdieus praxeologische Theorie, die sich dezidiert gleichermaßen von dem „Subjektivismus“ der egologischen phänomenologischen Tradition als auch von dem „Objektivismus“ eines Strukturfunktionalismus abgrenzt (Bourdieu 1993: 49ff.), macht Anleihen bei einer anderen phänomenologischen Tradition als der Schützschen: bei der phänomenologischen Leibphilosophie von Maurice Merleau-Ponty (vgl. Wacquant 1996: 41ff.), der in seinem Konzept der Interkorporalität bzw. Zwischenleiblichkeit den Körper als das verbindende Glied zwischen Ego und Alter beschreibt (vgl. Merleau-Ponty 1966; Coenen 1979: 246f.). Da der Habitus Medium von Konjunktion und Distinktion gleichermaßen ist, hat allerdings die Gemeinschaft derer, die auf der Basis von Interkorporalität einander wechselseitig intuitiv oder praktisch verstehen, soziale (genauer: sozialstrukturelle) Grenzen. Das „implizite Einverständnis“ ist an eine durch die Gemeinsamkeit der Soziallage begründete Isomorphie der Habitus gebunden (vgl. hierzu ausführlicher Meuser 2002).

B e w e g u n g – d e r K ö r p e r a l s Ag e n s In Meads Konzept des handelnden Organismus ist ebenso wie in dem Bourdieuschen Begriff des praktischen Sinns ein Verständnis des Körpers als Agens angelegt. Sinnkonstitution erfolgt über ein praktisches Eingreifen der sozialisierten Körper. Der Soziologie ist ein solches Verständnis, bedingt durch den rationalistischen Bias der Handlungstheorie, bislang eher fremd, in Philosophie und Anthropologie hat es hingegen eine gewisse Tradition.4 Arnold Gehlens (1997) Anthropologie, die in ihren handlungstheoretischen Teilen enge Bezüge zur Meadschen Sozialphilosophie aufweist, enthält ein Verständnis des Körpers, das diesen stringent als Handlungssubjekt begreift (vgl. Gebauer 1997). Gehlen betont den engen Zusammenhang der „Leibbeschaffenheit mit dem, was man unter Vernunft und Geist zu verstehen pflegt“ (Gehlen 1997: 33) und konzipiert den Leib als „Gedächtnis“ (Gehlen 1961: 30); er mache Erfahrun3

4

Das Habituskonzept weist in dieser Hinsicht deutliche Übereinstimmungen mit dem von Karl Mannheim (1980) entwickelten Begriff des „konjunktiven Erfahrungsraums“ auf (vgl. Meuser 2001). Obwohl Mead nicht zu Unrecht, hinsichtlich der Bedeutung seines Werkes für die soziologische Theorie, zu den Klassikern der Soziologie gezählt wird, ist er im strengen Sinne kein Soziologe, sondern Sozialphilosoph gewesen.

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gen und vergesse nichts. Maurice Merleau-Ponty (1966: 165ff.) sieht ähnlich wie Mead die Wahrnehmung von Welt im leiblichen Handeln und Bewusstsein in den Akten des praktischen Einwirkens auf die Welt fundiert: Es hat seinen Ursprung nicht im Denken, sondern im Können. Das „inkarnierte Subjekt“ verfügt über eine „Intentionalität des Leibes“, die nicht in Gestalt reflexiv verfügbarer „Um-zu-Motive“ (Schütz) gegeben ist, sondern eine vorreflexive, gleichwohl als sinnhaft zu verstehende Gerichtetheit des Körpers meint (vgl. Coenen 1979: 245ff.; Waldenfels 2000: 144ff.). Die soziologische Analyse kann an diese Grundlagen in Anthropologie und Philosophie anknüpfen, ist aber vor die Aufgabe gestellt, die soziale Konstitution der Gerichtetheit der Körper zu entschlüsseln. In Bourdieus Konzept des Habitus ist ausgearbeitet, dass die vorreflexive leibliche Intentionalität durch die (hier sozialstrukturell verstandenen) Lebensbedingungen und Soziallagen geprägt wird. Beispielhaft, bezogen auf die Geschlechtslage, lässt sich das anhand der von Heinrich Popitz (1992: 44) eingeführten Unterscheidung von „Verletzungsmächtigkeit“ und „Verletzungsoffenheit“ verdeutlichen, die er als Modi von „Vergesellschaftung“ begreift. Eine zentrale Differenzierungslinie, entlang derer in unserer Kultur die Zuweisung von Verletzungsmächtigkeit und -offenheit erfolgt, ist die Geschlechterdifferenz. Mit Blick auf weibliche Lebenslagen bemerkt Theresa Wobbe (1994: 191), Verletzungsoffenheit sei „eine als leibliche Realität erfahrene Struktur der Geschlechterdifferenz“. Das Gleiche lässt sich für die kulturelle Verknüpfung von Verletzungsmächtigkeit und Männlichkeit sagen. Der männliche Körper ist nicht aus sich heraus verletzungsmächtig, der weibliche nicht verletzungsoffen. Die geschlechtlich geteilte Zuschreibung von Verletzungsmächtigkeit und -offenheit ist vielmehr ein zentrales Element der kulturellen Konstruktion der Geschlechterdifferenz. Sie bestimmt somit sowohl die körperbezogene Selbst- als auch die körperbezogene Fremdwahrnehmung von Frauen und Männern wie auch deren Handeln. Verletzungsmächtige und verletzungsoffene Körper sind in diesem Sinne kulturell konstituierte Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Handlungskategorien. Diese Kategorien sind in die sozialisierten Körper eingeschrieben und machen sich derart in körperlichen Empfindungen und Orientierungen geltend. Die geschlechtsdifferente Zuschreibung von Verletzungsmächtigkeit und -offenheit vermag z.B. zu erklären, warum Männer, insbesondere junge Männer, sich im öffentlichen Raum überwiegend angstfrei bewegen, obwohl ihr statistisches Risiko, Opfer einer Gewalttat zu werden, deutlich höher ist als das der Frauen. Die kulturelle Konstruktion des männlichen Körpers als verletzungsmächtig ermöglicht dem Mann eine offensive Raumaneignung. In diesem Sinne impliziert Verletzungsmächtigkeit eine spezifische, kulturell geformte, als leibliche Intentionalität zu verstehende vorreflexive Gerichtetheit des Körpers. Im gleichen Sinne lässt sich die von Nancy Henley beschriebene „Tendenz von Frauen [verstehen], ihre weibliche Haut zu schützen“ (Henley 1988: 205). Henley be104

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richtet von einer Studie über Strategien, mit denen Fußgänger es vermeiden, an Fußgängerüberwegen miteinander zusammenzustoßen. Die Studie zeigt, „dass Frauen an anderen in einer ‚verkrampften‘ Art vorübergehen, d.h. ihren Körper vom anderen fortdrehen. Männer neigen dazu, in einer ‚offenen‘ Haltung an anderen vorüberzugehen, d.h. ihren Körper dem anderen zuzuwenden“ (ebd.). Die kulturelle Konstruktion des weiblichen und des männlichen Körpers verschafft jedem eine soziallagentypische leibliche Intentionalität, die sich in unterschiedlich ausgerichteten Körperbewegungen manifestiert. Die hier sichtbar werdende Sozialität ist gänzlich durch die wechselseitige Bezogenheit der Körper aufeinander hergestellt. Hier agieren Körper. Den Körper in diesem Sinne als eine Basiseinheit der Handlungstheorie zu verstehen hat Konsequenzen: „Dem Körper eine Subjektposition zuzugestehen, provoziert die Frage nach dessen Handlungskompetenz oder umfassender: nach einer Praxis des Körpers“ (Klein 2005: 80). Diese Praxis sind, wie das vorstehende Beispiel zeigt, die Bewegungen des Körpers. Bewegungen sind zum einen – sowohl ontogenetisch als auch phylogenetisch í der erste Modus des handelnden Bezugs zur Welt. Das „kreative Potential der Bewegung“ (Gebauer 2004: 23) geht dem Spracherwerb nicht nur voraus, es ermöglicht vielmehr dessen Ausbildung (vgl. Raab/Soeffner 2005: 172).5 Zum anderen sind – auch im Handeln Erwachsener – „Denkvorgänge und Bewegungsabläufe“ wechselseitig aufeinander bezogen. „Vorstellung und Bewegung, Merken und Wirken greifen […] ineinander“, so Bernhard Waldenfels (2000: 145) mit Bezug auf Merleau-Ponty. Vor diesem Hintergrund lassen sich Körperbewegungen als die „kleinsten Einheiten der sozialwissenschaftlichen Analyse“ betrachten (Alkemeyer 2004: 45). Soziale Ordnungen werden über Bewegungen und Körperhaltungen sowohl angeeignet als auch hergestellt. Das gilt auch für Ordnungen, die gemeinhin – und durchaus zu Recht – als hochgradig rationale geistige Leistungen gelten. Karin Knorr Cetina (1988) hat dies für die Ordnung des naturwissenschaftlichen Labors bzw. Experiments gezeigt. Sie beschreibt, wie sich das Labor des Körpers des Naturwissenschaftlers bemächtigt, indem es ihn im Foucaultschen Sinne, d.h. durch das Einschleifen von Körperhaltungen, diszipliniert. Der so geformte Körper wird zum „Informationsverarbeitungsinstrument“, das „anstelle von verbalen – oder mentalen – (Re-)Konstruktionen eines Geschehens“ zum Einsatz kommt. „Dem Körper wird zugetraut, das zu identifizieren, was Gesprächsapparatur und Verstand nicht antizipieren können“ (ebd.: 97; Herv. im Orig.). Dem Hantieren mit den Geräten kommt eine „epistemische Relevanz“ zu (ebd.: 98). Die Validierung von Forschungsresultaten geschieht prioritär mittels ‚selber machen‘. Das Reagenzglas selbst in der Hand gehabt zu haben erhöht das Vertrauen in die Gültigkeit der Ergebnisse, das Hantieren wird 5

Die Annahme einer sensomotorischen Fundierung von Sprache und Intelligenz kennzeichnet auch die Entwicklungspsychologie von Jean Piaget (1974; vgl. auch Furth 1976).

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zum Garanten von Wahrheit, die im Fall des naturwissenschaftlichen Experiments nicht nur eine vorreflexive Gewissheit ist, sondern eine im strengen wissenschaftlichen Sinne verstandene, intersubjektiver Überprüfung ausgesetzte Wahrheit. Umso bemerkenswerter ist es, dass sie eine zutiefst körpergebundene Wahrheit ist. Die Ethnographie des naturwissenschaftlichen Labors verdeutlicht, was Waldenfels (2000: 148) allgemein zur Beschaffenheit der leiblichen Bewegung ausführt: dass sie eine „Einheit von Motorik, Sensorik und Denken“ ist und dass Denken grundsätzlich mit einem Können verbunden ist. Bewegung ist „ein sinnhafter Zugang zur Welt“, Interaktionsordnungen sind „Bewegungsordnungen“ (Klein 2004: 140f.).6 Auch dies zeigt die Studie Knorr-Cetinas. Sie verdeutlicht überdies, dass Bewegungen doppeldeutige Kulturtechniken sind: „sie befähigen den Menschen, sich in der Welt zu orientieren und diese zu gestalten, aber sie sind auch Technologien der Macht, die auf den Körper einwirken und diesen formen, ihn zivilisieren und disziplinieren“ (ebd.: 146; vgl. auch Alkemeyer 2003). Bewegungen sind nicht anders als (kognitiv verstandene) kulturelle Deutungsmuster sowohl befähigend als auch begrenzend.

Der verständige Körper – eine empirische Plausibilisierung Es gibt nur wenige Studien, die den Körper als Agens empirisch zu fassen versuchen. Eine in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerte Ausnahme ist die von Wacquant (2003)vorgelegte Ethnographie des Boxens und des Boxer-Werdens. Sie zeigt nicht nur, wie der Körper auf einer vorreflexiven Ebene in seinen Bewegungen agiert, sondern auch, wie er sich die für ein gerichtetes Agieren erforderliche körperliche Disponiertheit in einer körperlichen Praxis aneignet, die in einem hierarchisch strukturierten sozialen Raum situiert ist. Darüber hinaus werden methodische Probleme des empirischen Zugangs zur Praxis des Körpers sichtbar, zu einer „Praxis, deren Logik nur in der Aktion selbst fassbar wird“ (ebd.: 103). Bourdieu (1992) weist auf die heuristische Bedeutung des Sports für die Analyse des körperbasierten praktischen Sinns hin. Er begreift den Sport, wie auch den Tanz, als eine Praxis, in der Verstehen elementar über den Körper erfolgt. Bourdieu verweist darauf, dass das Potential verbaler Unterweisung und Erklärung für die Vermittlung sportlicher Fähigkeiten und Techniken äußerst begrenzt ist, dass diese Vermittlung vielmehr hauptsächlich über eine mimetische Aneignung von Bewegungsabläufen erfolgt. Sportliche Kompeten6

Siehe hierzu auch die oben angeführte Studie zum Fußgängerverhalten auf Überwegen.

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zen lassen sich nur in der körperlichen Performanz erwerben. Was leibliche Intentionalität und körperliches Verstehen meint und wie beides sich entwickelt, das lässt sich am Sport gleichsam paradigmatisch erfassen. Wacquants Ethnographie des Boxens ist in diesem Zusammenhang besonders aufschlussreich, weil sie vor dem Hintergrund der Bourdieuschen Sozialtheorie geschrieben ist und weil er es als eine Aufgabe der Soziologie bezeichnet, die „leibliche Dimension der Existenz“ wieder greifbar zu machen (Wacquant 2003: 269). Wacquant berichtet über die Sozialisation zum Boxer, die er selbst über drei Jahre hinweg in einem Chicagoer gym erfahren hat. Die Aneignung der Bewegungsabläufe, der Techniken des Boxens, ist dabei untrennbar verknüpft mit einer Sozialisation in das boxerische Milieu des Clubs, in eine von Hierarchien bestimmte kollektive Ordnung. Wacquant beschreibt, wie er nach und nach auf mimetischem Wege und „durch endlose Wiederholungen der gleichen Bewegungen“ (ebd.: 73) einen „boxerischen ‚sens pratique‘“ (ebd.: 131) erwirbt und vervollkommnet und wie dies auf der Grundlage einer impliziten bzw. „stillen Pädagogik“ geschieht, in der verbale Erläuterungen eine untergeordnete Rolle spielen. „Einer im Wesentlichen körperlichen und wenig kodifizierten Praxis, deren Logik nur in der Aktion selbst fassbar wird, entspricht ein impliziter, praktischer und kollektiver Modus der Verinnerlichung. Die Vermittlung des Boxens geschieht auf gestischem, visuellem und mimetischem Weg, mittels einer geregelten Manipulation des Körpers, wobei auf jeder der stillschweigenden hierarchischen Ebenen des Clubs das kollektive Wissen somatisiert wird, über das die Mitglieder verfügen und das sie vorweisen. Die noble Kunst des Boxens bietet hier das Paradoxon einer ultra-individuellen Sportart, deren Erlernen grundsätzlich kollektiv erfolgt“ (ebd.: 103; Herv. im Orig.).

Als „eigentliches ‚Subjekt‘“ der boxerischen Praxis bestimmt Wacquant den Körper. Im Ring ist es „der Körper, der versteht und lernt“ (ebd.: 102). Die Sozialisation zum Boxer ist dann vollendet, wenn der Körper des Boxers „unmittelbar und ohne den Umweg (und den damit verbundenen Verlust an kostbarer Zeit) über abstraktes Denken, Vorüberlegungen und strategisches Kalkül“ agiert. Der Körper wird zum „spontanen Strategen“ (ebd.: 100f.). Die Ausbildung des entsprechenden praktischen Sinns erfolgt in einer „boxerischen Initiation“ vermittels einer Kommunikation von Körper zu Körper. Der Organismus wird progressiv an die Bewegungsabläufe gewöhnt, bis ihm die Notwendigkeiten des Boxens innewohnen. Diese Gewöhnung spielt sich in einem kollektiven Rahmen ab, der, so betont Wacquant, mehr als akzidentelle Bedeutung hat. Eine Atmosphäre kollektiver Efferveszenz7 trägt zum Abbau 7

Der französische Begriff „effervescence“ steht für Erregung, Aufbrausen, Gärung, Wallung. Émile Durkheim thematisiert in seiner Religionssoziologie mit dem Begriff der „kollektiven Efferveszenz“ die gemeinschaftsbildende Kraft

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von Hemmungen und zur Freisetzung von Energien bei und vereinfacht dadurch die Assimilation der Bewegungen (ebd.: 119). Die Struktur des Kollektivs ist durch eine fein abgestufte, für Außenstehende nur schwer zu erfassende Hierarchie bestimmt, in der Trainer, Profi- und Amateurboxer, neue und ‚alt gediente‘ Mitglieder des Clubs unterschiedliche und in ihrer Unterschiedlichkeit für die Sozialisation der Neuen bedeutsame Plätze einnehmen. Wacquant beschreibt, wie der Neuling dadurch, dass er seinen Platz in der Hierarchie des Feldes findet und einnimmt, seine Sozialisation zum Boxer befördert. Die implizite Pädagogik basiert darauf, „dass jeder das allgemeine Tempo und den Platz einhält, der ihm im kollektiven Dispositiv zukommt“ (ebd.: 128). Waquants Studie vermittelt einen Eindruck davon, wie sich leibliche Intentionalität und intuitives Verstehen ausbilden. Von entscheidender Bedeutung ist die mimetische Aneignung der Praktiken, die dazu führt, dass sich ein Habitus bildet, der die Stimuli des Feldes erkennt. Mimesis ist auf eine aktive Praxis verwiesen. Die Beobachtung anderer Boxer hilft nur dann zu verstehen, was zu tun ist, wenn man bereits etwas von dem, was sie tun, mit seinem Körper verstanden hat (ebd.: 121). Bourdieu (1993: 138) unterscheidet verschiedene Formen der Sozialisation: das „Lernen durch schlichte Gewöhnung“, die explizite Unterweisung und die Strukturübung, mit welcher eine „Form praktischer Meisterschaft übertragen“ wird. Strukturübung ist ein Lernen in Gestalt eines praktischen, körperlich-sinnlichen Tuns in der Interaktion mit anderen. In dieser Weise erfolgt die mimetische Aneignung nicht nur des boxerischen Habitus. Mimesis ist, wie Gabriele Klein und Malte Friedrich betonen, „nicht im Sinne einer blinden Imitatio […], sondern als ein Konstruktionsvorgang“ zu konzipieren, in dem „zugleich Wirklichkeit neu hergestellt“ wird (Klein/Friedrich 2003: 195f.). In der neueren Sozialisationstheorie wird das heranwachsende Gesellschaftsmitglied als „produktiv realitätsverarbeitendes Subjekt“ (Hurrelmann 1995) begriffen. Wacquants Studie zeigt, dass und in welcher Weise die körperliche Praxis der mimetischen Identifikation nicht weniger als die von der Sozialisationstheorie gewöhnlich in den Blick genommene kognitive Aneignung von Welt produktiv realitätsverarbeitend ist. Die als Strukturübung sich vollziehende aktive Aneignung des boxerischen Habitus ermöglicht ein wechselseitiges intuitives Verstehen mit den anderen Boxern, das sich sukzessive, je weiter die Sozialisation in das Feld voranschreitet, vertieft. Wacquant berichtet, dass außenstehende Beobachter, die nicht zum Feld gehören, wenig vom Boxen verstehen. Als durch und durch körperliche Praxis lässt sich Boxen nur über die Praxis verstehen. Intuitives Verstehen bedarf eines praktischen Glaubens an das Feld, der nur über Teilkollektiver Rituale, wie sie z.B. in Gestalt des Fests in fast allen Kulturen zu beobachten ist. „Innerhalb einer Ansammlung, die eine gemeinsame Leidenschaft erregt, haben wir Gefühle und sind zu Akten fähig, deren wir unfähig sind, wenn wir auf unsere Kräfte allein angewiesen sind“ (Durkheim 1981: 289).

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nahme entstehen kann (vgl. Krais/Gebauer 2002: 62). Daran wird deutlich, dass Interkorporalität, von Merleau-Ponty als Grundlage des unmittelbaren wechselseitigen Verstehens begriffen, nicht ungeteilt gegeben ist bzw. dass es eine feldgebundene und durch die Sozialisation in das Feld zu erwerbende Interkorporalität gibt, eine Interkorporalität, die auf Habitusähnlichkeit basiert.8 Die gemeinsame Zugehörigkeit zum Feld des Boxens lässt auf dem Wege der aktiven mimetischen Identifikation eine Isomorphie der Habitus entstehen, welche „die Stimuli und Appelle des gym ‚erkennen‘“ können (Wacquant 2003: 121). Das unmittelbare wechselseitige Verstehen ist nur innerhalb eines „konjunktiven Erfahrungsraums“ (Mannheim 1980) möglich. Waquants Hinweis auf die Notwendigkeit einer Teilnahme an der Praxis, um die Praxis verstehen zu können, wirft die Frage auf, wie ein methodischer Zugriff auf den Körper als Agens möglich ist. Waquants Antwort besteht darin, den Körper nicht nur zum Objekt der Untersuchung zu machen, sondern ihn als „Untersuchungsinstrument“ einzusetzen. Auf diese Weise erwirbt der Forscher den praktischen Glauben an das Feld, der ein intuitives Verstehen ermöglicht. Das ist mehr beobachtende Teilnahme als teilnehmende Beobachtung. Um gleichwohl dem Glauben an das Feld nicht derart zu verfallen, dass eine analytische Distanz nicht mehr möglich ist, vollzieht Wacquant die „Initiation“ in das Feld „unter der ausdrücklichen Voraussetzung ihrer theoretischen Fundierung“ (Wacquant 2003: 269f.). Das theoretische Fundament ist Bourdieus Habituskonzept. Dessen Theoriesprache liefert die Mittel, mit denen Wacquant das körperlich Gespürte sich selbst und den Lesern seiner Studie begreiflich macht. Nicht erkennbar und vermutlich auch für den beobachtenden Teilnehmer selbst nicht angebbar ist, inwieweit das theoriesprachliche Vorverständnis die Wahrnehmung des körperlichen Geschehens strukturiert. In der Methodologie der weitgehend textbasierten qualitativen Sozialforschung gilt ein solches Vorgehen gewöhnlich als subsumptionslogisch und einer rekonstruktiven Verfahrensweise unangemessen. Dort, wo man die Daten in verobjektivierter Form vorliegen hat, als Text oder auch als Bild, kann man mit Recht einfordern, dass die Interpretation der Daten unabhängig von theoriegeleiteten Vorverständnissen erfolgen soll. Wird der Körper als Untersuchungsinstrument eingesetzt, dürfte eine theoriesprachlich geleitete Selektivität der Wahrnehmung vermutlich nur um den Preis zu vermeiden sein, dass der Körper (wissenschaftlich) stumm bleibt. Die Herausforderungen, vor die eine Soziologie des Körpers die sozialwissenschaftliche Methodologie stellt, sind noch wenig reflektiert.

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Interkorporalität ist zwar – darauf hebt die philosophische Analyse MerleauPontys ab – ein Element der conditio humana und Voraussetzung von Intersubjektivität, sie ist aber auch – darauf verweist Bourdieus Habitustheorie – eine sozial immer begrenzte Ressource wechselseitigen Verstehens (vgl. Meuser 2002).

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Praxeologischer Konstruktivismus – einige abschließende Überlegungen Begreift man den Körper in der skizzierten Weise als sinnhaft strukturiertes Agens, als des praktischen Verstehens, Erkennens, Lernens und Handelns fähig, dann lässt sich Handlungstheorie im Sinne eines praxeologischen Konstruktivismus konzipieren. Vom wissenssoziologischen Konstruktivismus, wie er von Peter L. Berger und Thomas Luckmann (1969) entwickelt worden ist, unterscheidet er sich darin, dass Wissen nicht nur als ein Vorrat an kognitiven, sprachlich vermittelten Deutungsschemata verstanden wird, sondern insbesondere auch als verkörpertes Wissen, und dass dem verkörperten Wissen eine deutlich stärkere wirklichkeitskonstituierende und -reproduzierende Kraft zugesprochen wird als dem kognitiv-diskursiven Modus. Peter L. Berger und Hannsfried Kellner (1965) beschreiben in ihrem bedeutsamen Aufsatz über „Die Ehe und die Konstruktion der Wirklichkeit“ die „Nomos-Bildung“, d.h. die Herstellung einer gemeinsamen Paar-Wirklichkeit, durch die aus zwei Individuen ein Paar wird, als einen Vorgang, der in einem „fortlaufenden Gespräch“ geschieht. „Es kann gesagt werden, dass man sein Leben grundsätzlich im Gespräch führt“ (ebd.: 222). Ein praxeologisches Verständnis der Konstruktion der ehelichen Wirklichkeit würde die Vielzahl der alltäglichen Haushaltstätigkeiten in den Vordergrund rücken. Eine solche Perspektive findet man in den familiensoziologischen Arbeiten von Jean-Claude Kaufmann (1994, 1999). Kaufmann verortet seine Arbeiten zwar nicht in der Bourdieuschen ‚Tradition‘, aber auch er nimmt an, dass der Körper „in sich selbst seine eigenen Orientierungen“ trägt (Kaufmann 1999: 170) und eine eigene, vom rationalen Denken unterschiedene Intelligenz besitzt, die sich im „spontanen Impuls“ äußert (ebd.: 245). Die Selbstverständlichkeit dieses Impulses vermag „den Körper ohne Bezug auf die Ratio in Bewegung zu versetzen“ (ebd.: 160). Die Stelle, die bei Berger und Keller dem Gespräch zukommt, nehmen in Kaufmanns Analyse die alltäglichen Routinen des Haushaltens ein. Vor diesem Hintergrund werden die Praktiken des Wäschewaschens, des Bügelns und all die anderen Verrichtungen des täglichen Lebens interessant. Kaufmanns Analyse der Konstruktion der Paargemeinschaft zeigt zweierlei (vgl. Meuser 2004b): Erstens, dass vor allem solche Wirklichkeitskonstruktionen Bestand haben, die in körperlichen Routinen fundiert sind. Die fraglose Gegebenheit, die Schütz zufolge die Lebenswelt des Alltags auszeichnet, ist in der Vorreflexivität der körperlichen Praxis fundiert. „Die mit Hilfe des Körpers erzeugten Gewissheiten liegen tiefer als andere Gewissheiten unserer Weltbilder“ (Gebauer 1984: 241). Zweitens wird deutlich, dass die körpergebundenen Wirklichkeitskonstruktionen in einem sozialen Raum erfolgen, der nicht unabhängig von gesellschaftlichen Ordnungsstrukturen betrachtet werden kann. Im Fall der Ehe ist 110

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er entscheidend durch die hierarchisch strukturierte Geschlechterdifferenz geprägt. Die in die Körper der Ehepartner eingeschriebenen Dispositionen, die sich in der Vielzahl der für sich genommen trivial erscheinenden Haushaltstätigkeiten bzw. in deren Nicht-Verrichtung dokumentieren, lassen den Körper als ein Agens erkennen, dessen jeweilige Intentionalität von den Positionen bestimmt ist, welche die Geschlechterordnung für Frauen und Männer vorsieht und die in vielfältigen Strukturübungen in der geschlechtlichen Sozialisation angeeignet werden. Inkorporiert ist ein praktisches Wissens, das sich auf die Zugehörigkeit zu einer Soziallage bezieht: ein Wissen um soziale Differenzierung und um die Mittel des Umgangs mit Differenzen. Wie sich über die Inkorporierung von Strukturen eine dem jeweiligen sozialen Raum entsprechende leibliche Intentionalität ausbildet bzw. wie – in der Bourdieuschen Begrifflichkeit formuliert – der Habitus gebildet wird, ist eine noch wenig geklärte Frage (vgl. Maihofer 2002). Der Begriff der Strukturübung ist nicht mehr als ein Hinweis, worauf der Blick zu richten ist. Wacquants detaillierte ethnographische Studie vermag für die lokale Ordnung des gym zu zeigen, dass die erfolgreiche Sozialisation zum Boxer eine Strukturübung nicht nur in dem Sinne ist, dass strukturierte Bewegungsabläufe angeeignet werden, sondern im sozialen Sinne bedeutet, einen Platz in der lokalen Hierarchie einzunehmen, und dass das eine ohne das andere nicht zu haben ist. Die Konstruktion der Wirklichkeit erweist sich mit hoher Regelmäßigkeit als eine Reproduktion von Ordnungsstrukturen. Das Feld von Paarbeziehung und Familie liefert eine Fülle empirischer Evidenzen, dass ein an egalitären Werten orientiertes Bemühen um Veränderung, ein Infragestellen tradierter Selbstverständlichkeiten gewöhnlich schnell an die Grenzen einer habitualisierten Praxis stößt (vgl. Hochschild 1993; Koppetsch/Burkart 1999). Die ‚Macht der Gewohnheit‘ ist vor allem eine vom sozialisierten Körper ausgehende Macht, eine Macht inkorporierter Routinen. „Der Körper ist nicht so leicht mit der Theorie in Übereinstimmung zu bringen“, heißt es hierzu bei Kaufmann (1994: 159). Die befreiende Kraft der Bewusstwerdung vermag wenig gegenüber den Beharrungskräften des Habitus, bemerkt Bourdieu (1997: 171). Es wäre jedoch verfehlt, dem Körper eine beharrende und dem Geist eine verändernde Funktion zuzuschreiben. Damit würde man den Dualismus von Körper und Geist noch in einem körpersoziologischen Rahmen wiederholen. Ein praxeologischer Ansatz, der den Körper als Agens begreift, hat auch nach Modi einer körperpraktischen Emergenz des Neuen zu fragen. Wie soziale Ordnungen über den Körper reproduziert werden, dazu liegt mit dem Werk von Bourdieu ein elaborierter Erklärungsansatz vor. Wie im körperlichen Handeln neue Ordnungen sich entwickeln, ist hingegen noch kaum thematisiert. Thomas Alkemeyer und Robert Schmidt (2003) greifen diese Frage auf, und sie tun das nicht in Abgrenzung von, sondern mit Rekurs auf das Bourdieusche Habituskonzept. Am Beispiel neuer popkultureller sportlicher Bewegungsfor111

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men wie Inline-Skating oder Streetball beschreiben sie, wie durch die und in den körperlichen Bewegungen soziale Schemata probend erweitert werden, ohne dass diese zum Gegenstand von Reflexion gemacht werden. Offen bleibt, inwieweit damit eine Habitustransformation ermöglicht wird oder ob es sich um eine Habitusmodifikation im Sinne eines Gestaltwandels handelt, der die zugrunde liegenden Ordnungsstrukturen nicht transzendiert. Die Frage nach dem innovativen Potential körperlicher Praxen stellt eine zentrale Herausforderung an eine körpersoziologisch fundierte Handlungstheorie dar. Der Versuch, diese Frage zu beantworten, muss vermutlich berücksichtigen, dass der Körper bei aller kultureller Formung aufgrund seiner physischen Materialität ein Stück weit ‚asozial‘ ist und somit das Potential der Widerständigkeit in sich trägt. Ob und wie diese Widerständigkeit, die Disziplinierungsversuchen Grenzen setzt, Impulse enthält, die in dem Sinne innovativ sind, dass sie körperliche Routinen zu verändern vermögen, ist eine gänzlich offene Frage.

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Körpererfahrung und Selbstthematisierung

Der Körper als Speicher von Erfahrung. Anmerkungen zu übersehenen Tie fe ndime ns ione n von Le iblic hk e it und Identität ANKE ABRAHAM „…nichts ist ernsthafter als Empfindungen – sie berühren uns bis ins Innerste unserer organischen Ausstattung hinein.“ (Bourdieu 2001: 180)

D e r Au s g a n g s p u n k t Wissenschaftliche Erkenntnis und die Durchsetzung wissenschaftlicher Ideen verdankt sich immer auch – wenn nicht sogar zu ihrem wesentlichen Anteil – den Präferenzen und Vorlieben ihrer Urheber und Förderer. Ohne diese Neigungen, Interessen und Vorlieben – die, stärker noch, auch als Bedürfnisse, Sehnsüchte und fundamentale Sinnanker zum Tragen kommen können – könnte sich keine Idee entfalten und könnten keine Energien freigesetzt werden, sie zu verfolgen, nach außen zu vertreten oder zu verteidigen. Neigungen oder auch Überzeugungen sind also zunächst einmal kein ärgerliches oder Unwissenschaftlichkeit dokumentierendes ‚Anhängsel‘ von Wissenschaft, sondern ihr genuiner Motor. Ganz in diesem Sinne liegt bei René Descartes (markiert in seinem Traktat Über die Leidenschaften der Seele [Descartes 1649]) die Quelle des Denkens in einer Gemütsregung: in der „admiratio“, der Verwunderung des Menschen, der das Neue der Welt erkennt und aus diesem Affekt heraus über die Dinge nachsinnt und sie zu erhellen sucht. Dies enthebt aber andererseits nicht der Aufgabe, sondern verpflichtet Wissenschaft gerade dazu, diese Vorlieben oder auch Herzensangelegenheiten zu benennen, sie (selbst-)kri-

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tisch zu reflektieren, mit anderen Denkmöglichkeiten zu konfrontieren und ihren Platz in der wissenschaftlichen Diskussionslandschaft zu markieren. Als Wissenschaftlerin, die sich seit geraumer Zeit (nicht erst seit zehn Jahren) mit der Bedeutung von Körperlichkeit und Bewegung für die Konstitution von Identitäten und Lebenswegen auseinander setzt, und die selbst intensiv in körperbezogene Praxen (des Leistungssports, des Tanzes und der psychoanalytisch orientierten Bewegungstherapie) involviert war und ist, habe ich ‚natürlich‘ auch Präferenzen und Vorlieben entwickelt. Diese Vorlieben möchte ich – so gut es geht – kurz benennen und zum Ausgangspunkt meiner weiteren Überlegungen machen. Ich empfinde den Körper als etwas ausgesprochen Wertvolles – als eine Art Heimat, die uns zwar lästig werden kann, die uns belästigen kann, die uns Anlass zur Sorge geben kann, vielleicht auch zur Verzweiflung treiben kann – aber die immer doch auch der Grund ist, von dem aus wir ‚in die Welt hinaus‘ starten, der Ort oder das Basislager, von dem wir ausgehen, unsere Schritte in die Welt machen können, und zu dem wir immer wieder auch zurückkehren können. Ich empfinde es als wohltuend und befriedigend, vom eigenen Körper etwas ‚gesagt‘ zu bekommen, mich auf ihn einzustellen, auf ihn zu hören, mich mit ihm zu arrangieren, mit ihm und durch ihn zu wirken. Dieser mögliche Dialog gibt Gewissheit und Sicherheit. Er erzeugt Korrespondenzen, Verbindungen, Anschlussstellen. Vielleicht ist das oder so etwas Ähnliches gemeint, wenn in sozialwissenschaftlichen Gegenwartsanalysen von dem Körper als einer Art Sinninstanz die Rede ist (vgl. Bette 1989) oder von einer „letzten Ressource der individuellen und sozialen Selbstvergewisserung“ (Rittner 1991: 147) gesprochen wird. Als Analysekategorien mögen diese Begrifflichkeiten ihre Berechtigung haben und treffend die Atomisierungstendenzen, denen das (post)moderne Subjekt ausgesetzt ist, und ihre Konterbewegungen (im Sinne eines „Körperbooms“; vgl. Meuser 2004) einfangen, in Hinblick auf meine unmittelbaren Wahrnehmungen finde ich sie jedoch etwas zu grobmaschig – was sich da zwischen ‚mir‘ und ‚meiner Körperlichkeit‘ (die ich immer ja auch bin), meinen leiblich-affektiven Regungen und Befindlichkeiten abspielt, ist feinnerviger und subtiler, oft auch viel banaler und unaufgeregter, gerade aber deshalb so ungeheuer wirkmächtig und nachhaltig. Die Soziologie täte in meinen Augen gut daran, sich stärker für diese individuellen Mikroprozesse, ihre subjektiven Qualitäten und Bedeutungen, aufzuschließen. Impuls und Richtung meines Beitrags verdanken sich zugleich aber auch latenten bis manifesten Gefühlen des Bedrohtseins. In meinen Augen mehren sich die Zeichen (oder ich bin für sie besonders anfällig), dass alles, was mir lieb und wichtig ist (andere mögen das ganz anders sehen), zur Disposition steht und marginalisiert wird: der Körper, die Erfahrung, die persönliche Geschichte, die individuelle Gestaltung von Rhythmen und Zeiten – damit also 120

DER KÖRPER ALS SPEICHER VON ERFAHRUNG

Zentralkategorien von Subjektivität und Identität. Da Gefühle die Tendenz haben, total zu wirken und blind zu machen und so pauschalen und undifferenzierten Einschätzungen Vorschub zu leisten, bin ich im Folgenden um Aufklärung (nicht zuletzt auch im Sinne einer Selbstaufklärung und eventuellen Relativierung von Ängsten) bemüht. Hierzu möchte ich in einem ersten – zunächst vielleicht ein wenig unsystematisch anmutenden – Zugang den Horizont dieser Bedrohungsszenarien anhand einiger Schlaglichter und Gedankensplitter abstecken. Ich beziehe mich dabei auf die Zeitdiagnosen einiger bekannter und einiger weniger bekannter Wissenschaftler aus dem soziologischen und sozialphilosophischen sowie dem entwicklungspsychologischen und psychoanalytischen Umkreis. Sehr genau wird im Anschluss daran zu fragen und zu erörtern sein, was an diesen Phänomenen und Zeiterscheinungen denn nun das eigentlich Bedrohliche ist oder sein soll und welche Konsequenzen daraus abzuleiten wären.

Bedrohungsszenarien Eine Schlüsselfunktion in der Diagnose aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen nimmt die Betrachtung der Zeit ein. Entlang des Horizonts ‚Zeit‘ lassen sich exemplarisch eine Reihe von Phänomenen bündeln, die für so genannte post- oder auch spätmoderne Gesellschaften und die ihnen innewohnende Dynamisierung und gleichzeitige Erstarrung als typisch gelten können. Dreh- und Angelpunkt dieser Entwicklung und ihrer weit reichenden Folgen ist die Beschleunigung, in die Menschen, Systeme und Gesellschaften hinein gesogen werden. Hartmut Rosa hat die hier virulent werdenden Mechanismen und Konsequenzen aufschlussreich analysiert und eine entsprechende soziologische Theoriebildung angemahnt, die den Umgang mit Zeit und zeitliche Effekte sozialen (insbesondere ökonomischen) Handelns systematisch in die Gesellschaftsanalyse einbezieht (vgl. Rosa 1999). Mit dem Phänomen der Beschleunigung eng verbunden sind die Phänomene Verlust von Erfahrungen und Verlust von Geschichte. Hierzu zunächst einige „Fragmente“:

Fragment 1: Beschleunigungsdruck In Anlehnung an Paul Virilios Metapher vom „rasenden Stillstand“ (Virilio 1992) hat Hartmut Rosa darauf aufmerksam gemacht, dass postmoderne Gesellschaften in eine paradoxe Zeit- und damit auch Überlebenskrise geraten: der zunehmende Beschleunigungsdruck, dem etwa Unternehmen und der Einzelne ausgesetzt sind, führt zu einer Aushöhlung und Erstarrung ihrer Substanz, das „Rasen der Ereignisgeschichte“, die Abarbeitung an ebenso schnell kommenden wie gehenden Sensationen, Erwartungen oder vermeintlichen Notwen121

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digkeiten, lähmt die Ausbildung von „ideendynamischen und ‚tiefenstrukturellen‘ Entwicklungen“ (vgl. Rosa 1999: bes. 388ff.). Treffend identifiziert Rosa zunächst die Wurzeln der sozialen Beschleunigung nicht in der technischen Beschleunigung, sondern in den Prinzipien kapitalistischen Wirtschaftens: „Kapitalistisches Wirtschaften beruht konstitutiv auf dem Erarbeiten und Ausnützen von Zeitvorsprüngen, so dass schon Marx festhalten konnte, dass schließlich alle Ökonomie zu Zeitökonomie werde“ (ebd.: 392). Ebenso treffend stellt er aber fest, dass Zeitvorsprünge in der Produktion allein nicht hinreichen, um die entfesselte und alle Lebensbereiche durchdringende Beschleunigung und chronische Zeitknappheit zu erklären. Entscheidend ist, dass auch die Verwertungs- und Aneignungsmuster sich verändert haben und ökonomistischen Erfordernissen oder Bedürfnissen in die Hände arbeiten. Rosa greift hier auf die kulturgeschichtlichen Überlegungen Marianne Gronemeyers zurück, die den gegenwärtigen Beschleunigungszwang aus der ideengeschichtlichen Genese moderner Konzeptionen des „guten Lebens“ herleitet: „Der Verlust metaphysischer Gewissheiten […], mit dem die Hoffnung auf ein Jenseits unsicher und zweifelhaft wird, hatte […] zur Folge, dass das Leben als letzte Gelegenheit begriffen wird“ (ebd.: 396). „Daraus ergibt sich als neuzeitliches Lebens- und Zeitideal, dass das gute Leben das erfüllte Leben sei; es besteht darin, möglichst viel von dem, was die Welt zu bieten hat, auszukosten und möglichst umfassend von ihren Möglichkeiten und Angeboten Gebrauch zu machen“ (ebd.: 397; Herv. im Orig.). Der Beschleunigungsdruck ergibt sich aus der Tatsache, dass sich umso mehr Möglichkeiten realisieren lassen, je schneller die einzelnen Stationen, Episoden oder Ereignisse durchlaufen werden. Fatalerweise entsteht hier jedoch keine Befriedigung, sondern ein sich potenzierender Beschleunigungseffekt: Je schneller Optionen realisiert werden, desto stärker weitet sich das Spektrum potenzieller und noch zu realisierender Optionen aus – und zwar exponentiell. Hier zeigt sich insgesamt, dass die technische Beschleunigung und die Erhöhung des Lebenstempos durch die quantitative Steigerung der Aneignung und des Konsums kulturlogisch verknüpft sind und auf eine zerstörerische Implosion der Möglichkeiten zulaufen.

Fragment 2: Verlust von Dauerhaftigkeit, leiblicher Präsenz und Perspektivität Sennett hat den Menschen der (Post)moderne als einen „Drifter“ (Sennett 1998: 37) bezeichnet, der von Ort zu Ort, von Tätigkeit zu Tätigkeit, von Ereignis zu Ereignis hastet oder getrieben wird und dabei in Gefahr steht, wesentliche Dimensionen des Menschseins zu verlieren – etwa die Fähigkeit zur Entwicklung von Solidarität und Gemeinsinn, die Fähigkeit zur Akzeptanz eigener partieller Abhängigkeit und der Annahme von Hilfe, die Fähigkeit zur Übernah122

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me von Verantwortung und Verpflichtung und zur glaubhaften Verkörperung ethischer und moralischer Grundsätze (etwa vor den eigenen Kindern). Was dem zur Flexibilität gedrängten Menschen fehlt, ist die Zeit, die nötig ist, um Vertrauen in einer Gemeinschaft aufzubauen (etwa in einem Arbeitsteam) und die eigenen Prinzipien im sozialen Kontakt durch eine Identifikation mit Personen, Situationen und Herausforderungen entwickeln und in kontinuierlicher Präsenz – für die eine konkret greifbare, spürbare leibliche Präsenz unabdingbar ist – auch darstellen zu können. Sennett fragt: „Wie lassen sich langfristige Ziele in einer auf Kurzfristigkeit angelegten Gesellschaft anstreben? Wie sind dauerhafte soziale Beziehungen aufrecht zu erhalten? Wie kann ein Mensch in einer Gesellschaft, die aus Episoden und Fragmenten besteht, seine Identität und Lebensgeschichte zu einer Erzählung bündeln?“ (ebd.: 31). Sennett macht hier auf die (in meinen Augen wichtige) organisierende, integrierende und sinnstiftende Funktion von Erzählungen aufmerksam, wenn er sagt: „Erzählungen sind mehr als einfache Chroniken von Geschehnissen; sie gestalten die Bewegung der Zeit, sie stellen Gründe bereit, warum gewisse Dinge geschehen, und sie zeigen die Konsequenzen“ (ebd.: 36).

Fragment 3: Die narrativistische Relativierung der Bedeutung der Vergangenheit Der Entwicklungspsychologe und Analytiker Martin Dornes kritisiert an neueren narrativistischen Richtungen der Psychoanalyse, dass sie einen folgenschweren Bruch mit der Vergangenheit des Patienten eingehen, indem sie sich für Vergangenes nur noch aus der Perspektive des Hier und Heute interessieren: „Erinnerungen sind bei den Narrativisten gar keine Erinnerungen mehr, sondern rein gegenwartsbezogene Selbstbeschreibungen“ (Dornes 2004: 154). So geht es etwa bei der Beschreibung der Mutter nicht um die Frage, wie diese Mutter war, welche Spuren sie im Patienten hinterlassen hat oder welche Plausibilität die Beschreibung der Mutter besitzt, sondern die Beschreibung wird behandelt als eine von vielen möglichen Geschichten, die der Patient heute erzählt, weil er heute in einer bestimmten Übertragungskonstellation zu seiner Mutter steht. Was hier betrieben wird, könnte man – unter Hinzuziehung der Terminologie und Konzeptualisierung von Lebenserzählungen, die Gabriele Rosenthal vorgeschlagen hat (vgl. Rosenthal 1995) – auch als eine Löschung der „erlebten Geschichte“ zugunsten der „erzählten Geschichte“ beschreiben, als eine Verflachung der Perspektive und als eine Marginalisierung der erlebten und durchlittenen Vergangenheit. Gerade aber in der Verschränkung dieser beiden Ebenen – von erlebtem Leben und deren narrativer Reinszenierung im Horizont des Hier und Heute – liegt ja die besondere Kraft und Güte von autobiographischen Erzählungen.

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Sehr zu Recht weist Dornes darauf hin, dass diese narrativistische Reduktion im therapeutischen Prozess ausgesprochen kontraproduktiv wirkt. Er kritisiert, dass in dieser psychoanalytischen Spielart des Kreationismus eine unendliche Freiheit des Subjekts suggeriert wird, das angeblich, ungeachtet seiner tatsächlichen Erfahrungen, immer neue Versionen seiner Vergangenheit entwerfen kann. Die analytische Situation wird so entlastet: Es muss keine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und mit dem, was im Patienten verankert ist und noch nachwirkt, geleistet werden. Die Therapie kann sich elegant auf die Beziehungen im Hier und Jetzt und das Erproben möglicher Les- oder Spielarten zurückziehen. Die Einseitigkeit und Fahrlässigkeit eines solchen Vorgehens verdeutlicht Dornes anhand von Patientenschicksalen, in denen die leiblichen Spuren vergangener traumatischer Erfahrungen besonders intensiv sind. Er führt dazu aus: „Jeder traumatisierte Patient würde sich bedanken und die Couch verlassen, wenn man ihm mitteilte, dass seine Version des Traumas nur eine Lesart unter verschiedenen sei. Gerade bei traumatisierten Patienten scheint es sowohl gedächtnispsychologisch plausibel […] als auch therapeutisch empfehlenswert […], von der Richtigkeit der ‚Erzählung‘ auszugehen“ (Dornes 2004: 155f.).

So haben neuere Forschungen zur Psychologie und Psychobiologie traumatischer Erinnerungen gezeigt, dass diese Erinnerungen eher wenig überarbeitete Wiedergaben der traumatischen Erlebnisse sind. Außerdem ist der ohnehin labilisierte und seinen eigenen Wahrnehmungen misstrauende (oft auch von außen eingeschüchterte) Patient stark darauf angewiesen, dass ihm (wenigstens) im therapeutischen Prozess Glauben geschenkt wird. Für die hier geführte Argumentation noch gewichtiger ist der folgende Gedanke: „Die Untersuchung von Traumafolgen und deren Behandlung scheinen mir nur schwer in das konzeptionelle Gerüst einer narrativistisch orientierten Theorie und Therapie zu passen […], weil beim Trauma nicht nur das Individuum als Person, sondern auch – und in besonderer Weise – als Organismus betroffen ist. […] Von erheblicher Bedeutung ist der Befund, dass traumabezogene Empfindungen wie Flashbacks, somatosensorische Missempfindungen und dergleichen auch nach einer narrativen Rekonstruktion der traumatischen Ereignisse weiter bestehen können […]. In Zukunft wird sich vielleicht herausstellen, dass möglicherweise alle überwiegend sprachlich orientierten Therapieverfahren zwar die sekundäre Bearbeitung des Traumas und dessen posttraumatische Umarbeitung erfassen, aber nicht ebenso gut den primären somatosensorischen Kernbereich“ (ebd.: 156f.).

So ist es auch nicht verwunderlich, dass in der Traumatherapie gerade handlungsorientierte Ansätze, die den Patienten auf der Ebene des leiblich-affek124

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tiven Empfindens und des aktiven körperlichen Durchspielens von Haltungs-, Bewegungs- und Handlungsmöglichkeiten ansprechen, sehr erfolgreich sind (vgl. dazu etwa Schmitz 2004).

Fragment 4: Verlust von Erfahrung Folgt man Marianne Gronemeyer (1993: 121ff.), so ist die im Zuge des Beschleunigungsphänomens angedeutete „Weltvermehrung“ – also die quantifizierbare und sich exponentiell steigernde Ausnutzung von Optionen – nur um einen hohen Preis zu haben: um den Preis der „Erfahrungsarmut“. Hervorgerufen wird diese Erfahrungsarmut durch den Verzicht auf eine intensive Suche nach leiblich-sinnlicher und geistiger Durchdringung der Welt, durch eine flächendeckende Suche nach „Leidvermeidung“ und durch den weit reichenden Verzicht auf die Mühen der selbständigen, zeitaufwendigen Herstellung von Erzeugnissen. Gronemeyer sieht in diesem Aufgehen des Menschen in einer „verbrauchsfertigen Welt“ zentrale Säulen des Menschseins gefährdet: „Die Welt der käuflichen Fertigprodukte legt sich wie eine undurchdringliche Schicht von zäher Konsistenz über die Wirklichkeit, begräbt diese unter sich und schneidet den Menschen von unvermittelter Erfahrung ab“ (ebd.: 126f.). Damit beraubt sich der Mensch der „Hauptquelle des menschlichen Glückes“: des Tätigseins im Sinne seiner Kräfte und Fähigkeiten und des Erschaffens eigener Kreationen. Der Mensch kann die Wirklichkeit nur zu spüren bekommen, indem er in ihr tätig wird – und er kann auch sich selbst nur erfahren, indem er seine Potenzen betätigt: „In seinen Schaffensakten bildet es [das Individuum; A.A.] seine Individualität heraus und in Ansehung des Erschaffenen erfährt es sich selbst. In der Konfrontation mit der verbrauchsfertigen Welt, an deren Produktion es lediglich beteiligt war, in der es aber nichts erschaffen hat, sucht es sich vergebens“ (ebd.: 127). Neben diesem Aspekt von Erfahrung, die durch das Tätigsein in selbst bestimmter und originärer Weise geschaffen wird, sind noch zwei weitere Aspekte von Erfahrung hervorzuheben: der Aspekt der biographischen Aufschichtung von Erfahrung und der Aspekt der leiblich-affektiven Erfahrung. Alle drei Aspekte sind zutiefst miteinander verbunden und, gerade weil sie so eng zusammenhängen, vom Beschleunigungswahn in gleichem Maße bedroht. Hierzu vielleicht nur noch zwei kurze Bemerkungen: 1. Peter Alheit und Erika M. Hoerning weisen in der Einleitung zu ihrem Sammelband Biographisches Wissen auf die Interdependenz von „Erfahrung haben“ und „Erfahrung machen“ hin und betonen, dass es sich bei dem Erwerb und der Aufschichtung von Erfahrungen um einen „kumulativen Vorgang“ handelt: „um eine Entwicklung, die Zeit braucht [sic!]“ (Alheit/Hoerning 1989: 8f.). Um etwas erfahren zu können, muss ich mich in Bewegung setzen, ich muss mich aussetzen und mich einlassen, etwas auf mich wirken lassen, es 125

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in mich hineinholen, mir einen Vers darauf machen, und es in mir verankern, wenn es mir etwas bedeutet. Für diesen Erfahrung schaffenden Vorgang bedarf es unserer ganzen leiblichen, seelischen und geistigen Hingabe und entsprechender Herausforderungen und Kontinuitäten. Weder der glatte Einheitsbrei noch das wilde Titschen oder Geworfenwerden von einem Event zum nächsten können Erfahrungen in diesem Sinne bilden. 2. Wolfram Fischer-Rosenthal stellt fest, dass es in soziologischer Perspektive nicht um die Frage geht, was Biographie und Leib sind, sondern „inwiefern Biographie und Leib als etwas auftauchen, mit dem Menschen ihre Welt und ihr Leben in dieser Welt strukturieren“ (Herv.: A.A.), und er stellt fest: „Das Wie dieser Strukturierung ist vor allem in empirischer Arbeit, also tatsächlicher Beobachtung von materialen biographischen und leiblichen Manifestationen und in ihren Rekonstruktionen zu leisten“ (Fischer-Rosenthal 1999: 17). Zunächst einmal erstaunt, dass die biographische Forschung den Körper und die leibliche Basis menschlicher Existenz so spät entdeckt hat (und erst im Zuge des allgemeinen sozialwissenschaftlichen Körpertrends diese Lücke zu bearbeiten beginnt). Und immer noch betont sie (vermutlich bedingt durch ihre starke theoretische Orientierung an sozialkonstruktivistischen und wissenssoziologischen Paradigmen) den (geistigen) Konstruktionsprozess von Biographien, in dem Widerfahrnisse (erst) durch deren Auslegung zu Erinnerungen oder Erfahrungen werden – so auch Fischer-Rosenthal, wenn er das soziologische Interesse an der Strukturierungsleistung der Subjekte hervor hebt. Andererseits spricht er aber auch davon, dass der Körper „eine beredte Manifestation“ sozialer Situationen ausbilden kann (ebd.: 39) und deutet an, dass es so etwas wie Erinnerungsspuren und eine „Sprache des Leibes“ (ebd.) gibt. Deutlich wird dieser Aspekt am Ende seines Beitrags entfaltet: Krankheitssymptome können durch biographische Rekonstruktionen als (sinnvolle und angemessene) Antworten auf belastende Lebenserfahrungen oder Lebenssituationen verstehbar gemacht werden. Hier artikuliert der Körper „im Ausdrucksfeld des Leibes“ (ebd.) einen Konflikt oder Problemdruck, der (zunächst) nicht sprachlich vermittelbar ist. Und auch hier taucht das Zeitproblem wieder auf, und zwar in doppelter Hinsicht: Die langfristigen Entstehungsprozesse von Biographien und den aus Widerfahrnissen und Erfahrungen entstandenen Körperstrukturen und Einschreibungen in den Körper bedürfen einer von Handlungs- und Zeitdruck entlasteten, längerfristigen rekonstruktiven Arbeit: Was ‚Schicht um Schicht‘ gewachsen ist, muss auch ‚Schicht um Schicht‘ abgetragen werden. Dies gilt nicht nur für therapeutische Prozesse beim Einzelnen, sondern auch für Interventionen bei Gemeinschaften und Kulturen, wie etwa die (hilflosen, weil die Tiefenstrukturen missachtenden) Demokratisierungs- und Emanzipationsversuche in Südafrika oder in Saudi-Arabien zeigen – ich komme darauf zurück.

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Zunächst möchte ich jedoch – sehr knapp – wesentliche Aspekte zu der Frage bündeln, was denn nun (in meinen Augen) das Bedrohliche an den Bedrohungsszenarien ist. Zum Teil ist es schon angeklungen:

Das Bedrohliche an der Bedrohung 1. Die Beschleunigungsprozesse drohen den Menschen ihre Selbstbestimmung zu rauben. Wenn in der Geschichte Herrschaft stets die Herrschaft des Schnelleren war (Virilio), so sind in der Spätmoderne „die sich selbst steuernden Prozesse womöglich zu schnell geworden für jegliche als Herrscher in Frage kommende menschliche Figuren schlechthin“ (vgl. Rosa 1999: 409). Das Überrolltwerden durch technische und den menschlichen Vermögen und Bedürfnissen völlig unangemessenen Zwängen ist (für mich) eine erschreckende Vorstellung. Die dadurch hervorgerufene kulturelle Entwurzelung und Ortlosigkeit ist dabei vermutlich das eigentlich Bedrohliche. 2. Natürliche Rhythmen und Eigenzeiten von ökologischen Systemen – zu denen auch der Mensch in seiner physischen Verfasstheit gehört – werden überspült und zerstört. Dies stört die Balance der Systeme, verunsichert ihre Selbstregulation und führt in den Kollaps. Nicht von ungefähr häufen sich psychische und somatische Ausfälle, die durch Überforderungen (Reizüberflutung, Zeitstress etc.), aber auch durch deren Kehrseite (Langeweile, Leerlauf, das Gefühl, überflüssig zu sein etc.) hervorgerufen werden. 3. Die Disparität und Flüchtigkeit von Ereignisfetzen und Ereignisinseln, die unverbunden nebeneinander stehen, verhindern, dass sich sinnhafte und sinnstiftende Muster ausbilden können. Dies hat auf der Ebene größerer sozialer Kontexte zur Folge, dass Gemeinschaften zerfallen und keine echten Bindungen und Verantwortlichkeiten mehr entstehen, auf der Ebene kleinerer sozialer Einheiten, dass sinnstiftende Narrationen nicht mehr entwickelt werden können. Dies unterhöhlt die Existenz des Menschen als ein „Bedeutung schaffendes Wesen“ (vgl. dazu Kegan 1994: bes. 37ff.). 4. Die gewichtigste und grundlegendste Bedrohung liegt in meinen Augen jedoch in der Verunmöglichung von Erfahrungsintensität – also der Qualität von Erfahrungen – und in der Beschneidung der Zeit, die es braucht, um das Erfahrene auch zu verarbeiten, auf sich zu beziehen und sinnvoll in eine Idee vom eigenen Ich und deren Ausgestaltung zu integrieren. Es steht zu befürchten, so auch Hartmut Rosa, „dass die Beschleunigung des Rhythmus’ von Erfahrungen und Erlebnissen die Tiefe des Erfahrens und Erlebens (ebenso wie die Fähigkeit, kreativ zu sein) vermindert“ (Rosa 1999: 412). Erlebtes wird nämlich erst dann zu einer eigenen Erfahrung, wenn es durch eine biographische Arbeit in einen bereits vorhandenen Sinnkontext eingestellt und dort situiert wird. Entsinnlichte Informationen, aber auch penetrante Kicks (die immer schneller 127

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aufeinander folgen und immer extremer werden müssen, um noch zu wirken), verpuffen, weil bzw. wenn sie nicht mit allen Fasern und im Horizont einer persönlichen Bedeutsamkeit aufgenommen werden. Um diese Verarbeitung und Einarbeitung in den Horizont von (biographischer) Vergangenheit und Zukunft gewährleisten zu können, bedarf es der Pausen, des Innehaltens, des Abschweifens, des Abwartens, des Sackenlassens, des Wiederaufgreifens, des Müßiggangs – des Gangs zu den inspirierenden Musen … Ein Luxus, den die Zeitökonomie mit ihrer unerbittlichen Forderung nach schnellem und permanentem Output als eine ‚Todsünde‘ ansieht. Wo Erfahrungen jedoch nicht situiert werden können, da kann auch kein kreativer ‚Output‘ erwartet werden. Kein Wunder also, dass die Mühlen der Ereignisproduktion und Ereignissteigerung allmählich leer drehen – so wie es etwa auch Peter Becker für die Entwicklung der „Erlebnispädagogik“ (die immer mehr zu einer „Ereignispädagogik“ verkommt) herausgearbeitet hat (vgl. Becker 2001). Unser Körper ist in dieser Szenerie ein ‚weiser‘ Begleiter (so wir ihn denn ‚hören‘ wollen): Er reagiert sensibel auf Überforderungen und auf die Missachtung seiner Grenzen – wenn ihm zu schnell zu viel abverlangt wird, aber auch wenn vitale Bedürfnisse unversorgt bleiben, wenn seine Potenziale und ‚Schaffenskräfte‘ lahm gelegt und unterfordert werden, dann schlägt er Alarm. Dies verweist in meinen Augen auf zweierlei: Zum einen auf die Notwendigkeit, die physischen Grenzen und Bedürfnisse des Körpers zu respektieren, zum anderen auf die Tatsache, dass im Körper auch die individuelle und die kollektive Geschichte eines Menschen ihren Niederschlag findet und ebenso respektiert werden will. Dabei handelt es sich nicht um zwei ‚verschiedene‘ Körper, sondern um den einen ‚Leib‘, der wir sind und kulturell geworden sind. Um diese tiefenstrukturellen Ebenen von Leiblichkeit, biographischer Erfahrung und Kultur – um ihre Wirkmächtigkeit und Potenzialität sowie um ihre enge Verzahnung – geht es mir hier. Anhand einiger empirischer Wahrnehmungen und soziologisch bisher wenig genutzter Theoriestücke möchte ich deutlich machen, dass die Struktur, Genese und Dynamik individueller wie kollektiver Systeme nur zu verstehen ist, wenn die leiblich verankerten kulturellen Tiefenschichten ernst genommen werden.

Kulturelle Tiefenschicht I: Verhüllte Körper Saudi-Arabien ist ein Land voller extremer Widersprüche – ein Mix von Kulturen, Stilen und Bestrebungen, der von einem westeuropäischen Außenstehenden kaum verstehbar und als nicht lebbar empfunden werden kann. Die Diskrepanz von religiösen und tiefenkulturell verankerten Gewissheiten einerseits und der Suche nach Emanzipation, Demokratisierung und ‚Verwestlichung‘ andererseits, trifft besonders die Frauen. In Körpergesten und Körper128

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arrangements ist das kulturelle Erbe eingeschrieben, in Körpergesten und Körperarrangements artikuliert sich auch der Aufbruch – und die zerreißende Spannung, unter denen besonders die gebildeten, ehrgeizigen und aufstrebenden Frauen stehen. Betreten wir mit der Journalistin Charlotte Wiedemann den ‚verhüllten‘ Bereich einer uns sehr fremden Kultur: In Saudi-Arabien herrscht eine strenge Geschlechtertrennung, die räumlich und körperlich täglich neu inszeniert wird. Saudische Frauen sind in der Öffentlichkeit nicht vorgesehen. Eine Reihe von Geboten und Verboten regelt ihre Unsichtbarmachung und Verbannung aus dem öffentlichen Raum: das Tragen eines Schleiers (oft sind es mehrere Schichten), das Tragen eines dichten, schwarzen Umhangs (der Abaja), das Sitzen hinter Milchglasscheiben und Stellwänden in räumlich streng separierten Büros und Cafés, die ‚körperlose‘ und technisch vermittelte Korrespondenz mit Männern über Telefon, E-Mail und bildlose Projektionswände bei Konferenzen und Debatten: hierbei können die Frauen in entfernt liegenden Räumen die Männer hören und sehen, die Männer aber dürfen die Frauen nicht sehen, sie können sie nur hören und sehen dabei Bilder von sich selbst … Die Ultrareligiösen fordern das Tragen der Abaja auf dem Kopf: das macht die Frauen zu körperlosen, schwarzen Kegeln. Auf den Schultern getragen ist die Abaja Zeichen einer neuen Freiheit, geschmückt mit Pailletten und in aufwändigen, modisch variierenden Stilen verrät sie sogar so etwas wie Luxus und Eleganz. Hier entsteht ein Spiel zwischen Erbe und neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Den saudischen Frauen – gerade auch den Hochgebildeten – scheint es aber ein tiefes Anliegen zu sein, die Tradition zu wahren und den Respekt nicht zu verlieren: eine Verletzung der Tradition würde auch die Verletzung der eigenen Würde bedeuten. So hängt sich beispielsweise eine Journalistin, die unverschleiert in der (von Männern abgeschirmten) Redaktion fotografiert werden soll, mehrere Lagen schwarzen Stoff übers Gesicht: „Für ein Massenpublikum ausgestellt zu werden, für eine Masse unbekannter Männer, das erscheint ihr wie ein Angriff auf ihre Intimsphäre“ (vgl. Wiedemann 2006). Die Dozentinnen an der König-Saud-Universität, die in einem eigenen Gebäudeteil untergebracht sind, verschleiern sich jeden Morgen für den kurzen Weg von ihrem Wagen (den sie nicht selbst steuern dürfen) bis zum Eingang. „Drinnen“, so Wiedemann, „ist die Atmosphäre wie ausgewechselt. Der Campus ist Abaja-freie Zone wie überall, wo Frauen unter sich sind – und plötzlich sieht man den weiblichen Teil einer jungen Nation entspannt flanieren“ (ebd.). Die junge Generation probiert im geschützten Rahmen offensichtlich auch andere Körpergesten aus, beginnt mit ihnen zu experimentieren. Paradoxerweise stellt hier gerade die Tradition (die Abschirmung der Frauen von den Blicken der Männer) unerwartete Freiräume und Möglichkeiten bereit. Ganz in diesem Sinne bemerkt eine junge Studentin: „‚Ich möchte einen Mann, der

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anklopft. Das meine ich wörtlich.‘ Anklopfen bedeutet: die Sphäre der Frauen zu respektieren, nicht zudringlich zu sein“ (ebd.). ‚Draußen‘ werden diese experimentellen Gesten (noch) nicht gewagt. Ein schönes Beispiel: Eine junge Assistentin muss von ihrem Büro zum Büro der Leiterin über einen kurzen ‚Männerflur‘. Sie ist ständig unterwegs und jedes Mal, wenn sie von einem Zimmer zum anderen Zimmer flitzt, klappt sie ihren Schleier runter und wieder rauf – zack runter, zack rauf, fast „eine Million Mal“ am Tag, wie sie strahlend zu verstehen gibt. Wiedemann kommentiert: „Welche Energie manche Frauen aufbringen, um ihre Berufstätigkeit mit ihren Vorstellungen von Sitte und Anstand zu vereinbaren!“ (Ebd.). In Anbetracht der eben angedeuteten Funktion der Geschlechtertrennung (ihrem möglichen Schutz und damit auch ihren Chancen) und vor allem aber auch in Anbetracht der tiefen leiblichen Verankerung der Gesten des Rückzugs, der Verhüllung, des Ausweichens erscheint mir diese Kommentierung allerdings etwas zu lapidar. Was hier tatsächlich auf dem Spiel steht, wird in der Äußerung einer Direktorin im Sozialdienst spürbar: „Wir haben noch kein Modell für unsere Emanzipation […] aber wir haben eine Identität, und das westliche Modell passt nicht zu uns“ (ebd.). Dies ist in meinen Augen ein deutlicher Hinweis auf die Wirkmächtigkeit und die identitätssichernde Funktion von Traditionen, die sich tief in die Körper der saudischen Frauen eingesenkt haben und die nicht einfach so über Bord gespült werden können. Mit Pierre Bourdieu lässt sich die Bedeutung dieser „Einverleibungen“ untermauern. In seinen Meditationen (aber auch in früheren Werken) verteidigt Bourdieu seinen Habitusbegriff gegen zwei scholastische Irrtümer: den mechanistischen (der davon ausgeht, dass das Handeln die mechanische Folge äußerer Ursachen sei) und den finalistischen, der in rationalistischer Manier das Handeln als freie, bewusste und „with full understandig“ (wie – so Bourdieu [2001: 177] – manche Utilitaristen sagen) kalkulierende (am Nutzen orientierte) Entscheidung begreift. Wie bekannt, setzt Bourdieu diesen externalisierenden und ‚verkopften‘ Handlungsverständnissen eine andere – und wie ich finde ausgesprochen tragfähige und instruktive – Sicht entgegen: „Gegen die eine wie die andere Theorie ist einzuwenden, dass die sozialen Akteure über einen Habitus verfügen, den vergangene Erfahrungen ihren Körpern einprägten: Diese Systeme von Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata ermöglichen es, praktische Erkenntnisakte zu vollziehen, die auf dem Ermitteln und Wiedererkennen bedingter und üblicher Reize beruhen, auf die zu reagieren sie disponiert sind, und ohne explizite Zwecksetzung noch rationale Mittelberechnung Strategien hervorzubringen, die – freilich in den Grenzen der strukturellen Zwänge, aus denen sie resultieren und die sie definieren – angemessen sind und ständig erneuert werden“ (ebd.: 177f.).

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Wichtig scheint mir, hervorzuheben, dass hier keine statische oder konservierende Sicht auf die Verhältnisse vorliegt – was Bourdieu häufig vorgeworfen wird –, sondern ein in meinen Augen notwendiges In-Rechnung-Stellen der Tatsache, dass in den je gegebenen Lebensverhältnissen und sozialen Kontexten die körperlichen Dispositionen, Erkenntnisfähigkeiten und Reaktionsweisen des Leibes entwickelt werden, die für die Bewältigung des Lebens in eben diesen Kontexten angemessen (und vielleicht sogar lebensnotwendig) sind, und dass diese leiblichen Dispositionen und Kompetenzen auch wandlungsfähig sind. Allerdings – und das scheint mir das Zentrale – sie sind wandlungsfähig nur in einer angemessenen Dauer, in einem ausreichend großen Zeitfenster, das man ihnen lässt. Denn: „Man hat sich […] davor zu hüten, den Druck oder die Unterdrückung zu unterschätzen, die kontinuierlich und oft unmerklich von der gewöhnlichen Ordnung der Dinge ausgehen, die Konditionierungen, die von den materiellen Lebensbedingungen, von den stummen Befehlen und von der (um mit Sartre zu sprechen) ‚trägen Gewalt‘ der ökonomischen und sozialen Strukturen und der ihrer Reproduktion dienenden Mechanismen. Die strengsten sozialen Befehle richten sich nicht an den Intellekt, sondern an den Körper, der dabei als ‚Gedächtnisstütze‘ behandelt wird“ (ebd.: 181).

Gerade im Bereich der leiblichen Verankerung von Geschlechtlichkeit kommen diese Mechanismen besonders zum Tragen, wie es Bourdieu ja immer wieder herausgestellt hat (vgl. Bourdieu 1976, 1993, 2001): „Männlichkeit und Weiblichkeit werden wesentlich dadurch gelernt, dass die Geschlechterdifferenz in Form einer bestimmten Weise, zu gehen, zu sprechen, zu stehen, zu blicken, sich zu setzen usw., den Körpern (vor allem durch die Kleidung) eingeprägt sind“ (Bourdieu 2001: 181).

Vor diesem Hintergrund wird in meinen Augen verständlich, warum auch junge muslimische Frauen am Schleier, an der Abaja und der räumlichen Separation festhalten wollen und warum sogar erfolgreiche und aufgeschlossene muslimische Männer in Verzweiflung geraten über die neuen Geschlechterverhältnisse: „Alles gerät außer Kontrolle. Wir verändern uns von einer familienbezogenen Gesellschaft zu …“ (Wiedemann 2006), stöhnt ein Direktor und findet keine Worte für das ‚Neue‘. Dann reißt er die Arme hoch und ruft „Wumm!“ (ebd.), eine Explosion imitierend. Wiedemann kommentiert: „Saudi-Arabien, das uns so statisch erscheint, verändert sich für seine Bewohner so rasch, dass manchen schwindelt“ (ebd.). Ich würde ergänzen: Wenn Traditionen und deren leibliche Korrelate so skrupellos überrollt werden, dann sind diese heftigen Gefühle der Auflehnung, des Widerstands und der Verzweiflung mehr als verständlich – denn es stehen das eigene Selbstverständnis, die eigene Geschichte, die ‚Leibhaftigkeit‘ der eigenen Identität und Existenz auf dem Spiel. 131

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Kulturelle Tiefenschicht II: Das Unbewusste ist ‚leiblich‘ Bourdieus Habitus-Konzept, dessen Kern die „Einverleibung“ oder auch „Inkorporierung“ (vgl. Bourdieu 1976, 1993, 2001) sozialer Strukturen beinhaltet, ist bekannt und wird in der soziologischen Körper-Diskussion auch breit rezipiert und genutzt. In der soziologischen Landschaft bisher weitgehend ungenutzt ist jedoch ein wissenschaftlicher Fokus, der auf eine andere, und wie ich finde höchst originelle und instruktive Weise, tiefenstrukturelle Dimensionen anspricht: ein Fokus, der das Unbewusste ins Spiel bringt und dabei kulturelle, interaktionelle, psychische und physische Aspekte eng verzahnt. Gemeint ist der von Alfred Lorenzer vorgelegte Entwurf, das psychoanalytische Grundverständnis mit Erkenntnissen der Neurowissenschaften zu verbinden und wesentliche Grundannahmen Freuds so in neuem, und wie ich finde auch soziologisch hoch bedeutsamem, Lichte erstrahlen zu lassen (vgl. Lorenzer 2002). Auf zentrale Befunde und Gedanken hierzu möchte ich eingehen: Lorenzer arbeitet heraus, dass Sigmund Freud eine (bisher weit gehend unentdeckte oder ignorierte) Metapsychologie geschaffen hat, indem er die Grenzen zwischen Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft verflüssigte. Zum einen betrieb er durch das Zuhören, Sicheinlassen, Verstehen und Entschlüsseln von Erzählungen und Sinnstrukturen eine Hermeneutik (und verstand sich als Therapeut auch mehr als Literat und Künstler denn als Wissenschaftler), zum anderen suchte er als gelernter Mediziner in naturwissenschaftlicher Manier nach Ursachen von Symptomen (im Sinne der Energetik und auf der physiologischen Ebene). Der so ausgesprochen fruchtbare Zug Freuds (oder auch der des Diagnostikers Alfred Lorenzer) ist dabei, dass die Triebbiologie, die auf eine energetisierende, organismische Kraft und auf die Physiologie des Menschen abhebt, mitten im Herzen der Sinnanalyse resp. der unbewussten Sinnstruktur angesiedelt wird. Dass also ein Zusammenschluss geleistet wird zwischen der biologischen und der kulturellen Ebene. Folgt man Lorenzer, so ist die Abkehr von einem naiven Freud’schen Biologismus nötig (und inzwischen ja auch in der Psychoanalyse weitgehend vollzogen), nicht aber das Verwerfen der biologischen Grundlagen der psychoanalytischen Persönlichkeitstheorie. Im Gegenteil: Gerade diese biologischen (oder auch physischen bzw. leiblichen) Grundlagen können eigentlich erst plausibel machen, dass es so etwas wie das Unbewusste gibt! Das Unbewusste ist nach Lorenzer ein „nichtsprachliches“, also zentral leiblich fundiertes und fungierendes, „Praxis- und Sinngefüge“ (Lorenzer 2002: 99ff.). Unbewusste Vorstellungen sind „Sachvorstellungen“ (ebd.), denen (noch nicht oder nicht mehr) eine Wortvorstellung zugeordnet ist. Diese Sachvorstellungen bilden sich in sozialen Situationen, in konkreten, leiblich-affektiven und sinnlichen Interaktionen und werden in Form von Bildern, Gefühlen, Empfin132

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dungen und anderen präverbalen Repräsentationen im Gehirn (in spezifischen, phylogenetisch und ontogenetisch älteren Hirnregionen) und im übrigen Körper gespeichert (etwa durch Stoffwechselregulationen und Hormonausschüttungen erzeugte Tonuslagen der Muskeln oder Empfindlichkeiten der Haut und daraus resultierende Spannungen, Haltungen, Abwehrreaktionen). Der von Lorenzer geprägte Begriff der „Szene“ (und sein Ansatz des „Szenischen Verstehens“) haben bereits vor diesem Entwurf auf die Verschränkung von sozialer Interaktion, leiblicher Präsenz und der Ausbildung innerpsychischer Verdichtungen und Repräsentationen eines Geschehens aufmerksam gemacht (vgl. Lorenzer 1971). Lorenzer betont nun, dass der Trieb (oder die physisch bedingten Antriebe, Bedürfnisse, Wünsche und Begehren des Menschen) eben nicht geschichtslos biologistisch gedeutet werden darf, sondern dass gezeigt werden muss, wie er in sozialen Prozessen hergestellt wird! Das ist der besonders produktive und soziologisch anschlussfähige Gedanke Lorenzers, der das klassische Triebkonzept aus seiner biologistischen Verengung befreit und den Trieb einstellt in seine kulturelle Verwobenheit, als eine kulturelle Hervorbringung begreift. Auf der anderen Seite aber mit der Würdigung physiologischer Vorgänge und Antriebe gerade nicht einem – vielleicht noch prekäreren – Kulturalismus verfällt, der die physischen Mitgiften und ihre Eigenzeiten und Eigendynamiken ignoriert. „Wünsche“ gehen, so Lorenzer, aus den Szenen einer Lebensabfolge hervor: sie sind sozial konstituiert (vgl. Lorenzer 2002: bes. 135ff.). So ist etwa der Hunger und das Essen nie nur das Verlangen nach Kalorienzufuhr, sondern nach ‚wunschgemäßer‘, also sozial und emotional eingebetteter Wunscherfüllung im Sinne einer erlebnis- und erfahrungsgemäßen Erfüllung. Triebkonflikte sind Kon-flikte zwischen Triebwünschen und gesellschaftlich anerkannten Wertvorstellungen. Triebwünsche sind unbewusste Befriedigungserlebnisse, Niederschläge vorangegangener befriedigender Erlebnisse und deren zukünftiger Erwartung. Sie sind somit psychophysische Grundmuster und Resultate der gesellschaftlichen Formbildung des Körpers (die bereits im Bauch der Mutter durch physiologische und affektive Austauschprozesse zwischen Mutter und Kind beginnt, wie die pränatale Entwicklungspsychologie eindrücklich dokumentiert). Diese Lesart der Freud’schen Metapsychologie ist in hohem Maße anschlussfähig an die Erkenntnisse der neurobiologischen Forschung, die durch immer genauere Details die alte Auffassung revidiert, dass das biologische Substrat die uneingeschränkte Voraussetzung geistiger und psychischer Prozesse sei. Nun stellt sich heraus, dass etwa das Nervensystem und Gehirnareale nicht einfach (endogen gesteuert und nach einem festen Plan) wachsen oder ‚da‘ sind, sondern dass sie durch Bewegungen, Begegnungen und Wahrnehmungen aufgebaut werden. So kommt beispielsweise Joachim Bauer zu der Einschätzung, dass Beziehungen und Lebensstile (und unsere Reaktionen darauf) in hohem Maße die Aktivität unserer Gene steuern und dass die Struktur und Funk133

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tionsweise unseres Gehirns in hohem Maße ein Produkt unserer (leiblich-affektiven) Bewegungen und Begegnungen und deren subjektiver Verarbeitung sind (vgl. Bauer 2002). Das untermauert auch die Annahme Alfred Lorenzers, dass Erlebnisszenen (bzw. „Erlebnisgestalten“) in Form von Erinnerungsspuren (bzw. „Erregungsgestalten“) in den Körper eingezeichnet werden: sie werden im Gehirn (durch die Ausbildung spezifischer Synapsen) ‚materialisiert‘ und finden ihre strukturelle Entsprechung im Körper (vgl. Lorenzer 2002: 96).

Kulturelle Tiefenschicht III: Der Körper ‚erzählt‘ Mit Blick auf die sozialkonstruktivistisch orientierte Biographieforschung moniert auch Karin Flaake, dass im Zentrum die kognitiven Prozesse der Erfahrungsaufschichtung stehen, die auf einen Prozess der biographischen Aneignung und Konstruktion verweisen, dass aber unterbelichtet (oder „ausgespart“) bliebe, wie die biographischen Erfahrungen innerpsychisch verarbeitet werden (Flaake 2004: 64). Folgt man Lorenzer, so sollte man ergänzen und präzisieren: Was fehlt, ist der Blick auf die präverbalen, primärprozesshaften Spuren und Einspurungen, die ihre Wirkmächtigkeit in Lebensläufen, in persönlichen Entwicklungen und in den daraus hervorgehenden Selbstauslegungen entfalten. Diese ‚Einspurungen‘ finden aber, wie es die psychoanalytisch orientierte Sozialpsychologie oft suggeriert, nicht nur in der so genannten vorsprachlichen Phase statt, sondern – folgt man Bourdieu und den neuesten Erkenntnissen der Neurobiologie – tagtäglich und lebenslang. Die sozialwissenschaftliche Biographieforschung täte also gut daran, wenn sie ihren Blick nicht nur auf die mentalen Repräsentationen einer Lebensgeschichte legt, sondern sich auch jenseits dieses ‚Wissens‘ auf die Wirkungen des Leibes einlässt und ihren Spuren nachgeht. Wertvolle Hinweise und Ansätze hierzu liegen vor. So hat beispielsweise Bettina Dausien den lohnenden Versuch unternommen, die in biographischen Erzählungen präsentierten Szenen auf ihre darin enthaltenen, aber nicht explizierten (und auch vom Interviewer nicht direkt angesprochenen bzw. evozierten) Verweise auf ‚Körperliches‘ (auf Bewegungen, Gesten, Körpererfahrungen, körperliche Befindlichkeiten etc.) abzuklopfen (vgl. Dausien 1999). In meinen biographischen Analysen habe ich das „implizite Wissen des Körpers“ (Abraham 2002) stark gemacht – mit Bourdieu könnte man dieses Wissen auch die sozial erzeugten „Dispositionen“ des Körpers nennen, die er erwirbt, wenn er sich der Welt öffnet und „sich dem Risiko der Empfindung, der Verletzung, des Leids“ aussetzt (Bourdieu 2001: 180). Und ich habe empirisch vorgeführt, in welcher Hinsicht der Körper und das leiblich-affektive Empfinden über das Leben Regie ergreifen und zum ‚Motor‘ oder auch ‚Anlass‘ biographischer Entwicklungen werden können, die wir erst dann zu begreifen beginnen, wenn wir sie durchlebt und durchlitten haben. 134

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Besonders anschaulich wird das an der „Lebensgeschichte von Frau C.“ (vgl. Abraham 2002), aber auch andere Geschichten im Rahmen dieser Untersuchung sowie sehr deutlich die Biographien von Künstlerinnen (in der Bildenden Kunst, im Tanz, in der Literatur) enthalten solche Impulse und Weichenstellungen durch den Körper (vgl. dazu Abraham 1992). Und ein anderer Aspekt ist noch hervor zu heben: Biographische Erzählungen enthalten in ihrem aktuellen Vollzug (wie alle ‚konkreten‘ Präsentationen von Menschen) immer auch ‚Körperliches‘ und ‚Affektives‘, das ausgesprochen aussichtsreiches Material für vertiefende Analysen bereitstellt (Hinweise hierzu finden sich etwa bei Dausien 1999; Abraham 2002). Der Körper ‚erzählt‘ sich selbst in seinem Habitus, er artikuliert seine vergangenen und aktuellen Befindlichkeiten, in der Art, wie er erscheint, sich hält, die Stimme hebt und senkt, den Atem gehen lässt, den Blick hinausschickt oder zu sich nimmt. Diese leibliche Präsenz des Gegenübers und die Ausbildung eines entsprechenden Sensoriums bei den Forschenden wird meines Erachtens in der textorientierten sozialwissenschaftlichen Forschung nicht hinreichend ausgebildet und genutzt.

Konklusion Die Essenz meiner Ausführungen möchte ich abschließend in zwei Diskussionsstränge einfügen. Der erste Diskussionsstrang betrifft die Konzeptualisierung einer Soziologie des Körpers, wie sie von Michael Meuser angeregt wurde (vgl. Meuser 2002, 2004). Der zweite Diskussionsstrang betrifft die Frage nach der Zukunft des Subjekts und der Konzeptualisierung von Identität. Meuser skizziert drei thematische Säulen einer Soziologie des Körpers (vgl. Meuser 2004: 206ff.): 1. Die Perspektive einer „kulturellen Formung des Körpers“ (die er maßgeblich durch die Arbeiten Michel Foucaults, durch Luc Boltanski, in ersten Ansätzen durch Marcel Mauss repräsentiert sieht), 2. den Fokus auf den Körper als „Zeichenträger“ (bei dem er die bewusste Inszenierung und Einsetzung des Körpers als Zeichen der Zugehörigkeit zu bestimmten Stilgruppen abhebt von einer nicht intendierten und dem bewussten Zugriff weitgehend entzogenen Zeichenhaftigkeit des Körpers [wie sie Bourdieu (1982) im Sinne der „Feinen Unterschiede“ oder des Geschlechter-Habitus veranschaulicht hat]) und 3. die Beschreibung des Körpers als „agens“, als eine Instanz, die – entgegen der weit verbreiteten und auch soziologisch favorisierten Vorstellung – den Körper eben nicht als Gegenstand oder Objekt (einer kulturellen Formung etwa im Sinne der Disziplinierung, Instrumentalisierung, Inszenierung etc.) begreift (was er natürlich immer auch ist), sondern dem Körper so etwas wie eine eigene Wirkmächtigkeit zugesteht. Hier wird nicht nur der Tatsache Rechnung getragen, dass der Körper Träger von Handlungen ist, sondern dass in der ‚Praxis des Körpers‘ Dimensionen wirken, die sich nicht mit 135

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einem tradierten (rationalistischen, teleologischen, diskursiven) Handlungsverständnis abbilden lassen. Um die nicht-diskursiven, vorreflexiven, impliziten, praxeologischen Dimensionen körperlichen ‚Handelns‘ oder ‚Agierens‘ (zumindest theoretisch) einholen und untermauern zu können, bedarf es der interdisziplinären Brückenschläge – die Soziologie muss ‚fremdgehen‘. Und sie tut das auch seit einiger Zeit. Besonders instruktiv sind die Anleihen bei der Phänomenologie (insbesondere den Leibphänomenologien von Maurice Merleau-Ponty oder Hermann Schmitz; vgl. dazu besonders auch Lindemann 1992, 1996). Eine zweite Öffnung der Soziologie hin zu naturwissenschaftlichen Erkenntnissen ist angezeigt, will man den Körper in seiner ‚Materialität‘ und das ‚Wissen des Körpers‘ angemessen erfassen. Ganz in diesem Sinne habe ich in diesem Beitrag erstens auf die Erkenntnisse der Neurobiologie und Hirnforschung aufmerksam gemacht (wie auch in einem Beitrag zum ‚Wissen des Körpers‘ mit Rekurs auf Antonio R. Damasio; vgl. Abraham 2002: 168ff.) und zweitens ein Konzept vorgestellt – den Entwurf Alfred Lorenzers zu einer körperbasierten Neukonzeptualisierung des Unbewussten –, der in meinen Augen in hervorragender Weise die von Meuser angedeutete Verschränkung von ‚Kultur‘ und ‚Materialität‘ des Körpers leistet. Wie wegweisend und treffend Bourdieus soziologischer „Entwurf einer Theorie der Praxis“ (Bourdieu 1976) und sein Habitus-Konzept sind, zeigt sich besonders dann, wenn man sie vor dem Hintergrund dieser (neuen) Erkenntnisse liest. Ich komme zum zweiten Diskussionsstrang und es wird sich zeigen, dass die Frage der Gestaltung einer Soziologie des Körpers zutiefst mit der Frage nach der Zukunft von Körperlichkeit und Identität verknüpft ist. Eingangs war die Rede von Bedrohungen. Ich habe zu zeigen versucht, dass in der entfesselten Beschleunigungsdynamik der (Post)moderne dem Menschen der Boden entzogen wird, wenn er seine Vergangenheit und seine auf und in ihr gründenden Erfahrungen, Erinnerungen und Erzählungen verliert. Er verliert sie, weil Erfahrungen und Vergangenes für überflüssig oder gar bremsend gehalten werden und weil die Chancen zu tiefen und biographisch integrierbaren Erfahrungen marginalisiert werden. Ohne diese im Laufe des Lebens sich aufschichtenden Erfahrungen ist die Ausbildung einer Identität in meinen Augen nicht denkbar. Was mit der Beschleunigungsdynamik zugleich bedroht ist, ist der Körper: seine Grenzen, seine Eigenrhythmen, seine Bedürfnisse werden missachtet, er kommt mit dem Tempo nicht mehr mit. Wenn wir in der soziologischen Konzeptualisierung des Körpers nur auf die kulturellen Regeln und Sinnsetzungen im Umgang mit dem Körper fixiert sind, so verlängern wir lediglich den wissenschaftlich gängigen Gestus der Verdinglichung und Beherrschung. Wir verpassen dabei in folgenreicher Weise den Eigensinn des als Organismus gegebenen Körpers und die Rückwirkungen, die dieser ‚eigensinnige‘ Körper auf das Soziale hat.

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Deshalb brauchen wir in meinen Augen gerade keine soziologische Bestimmung der Materialität des Körpers, sondern eher die Bescheidenheit der Anerkennung, dass es körperbezogene Realitäten gibt, die sich erst (auch ohne unser Zutun) ‚ereignen‘ und dann deutbar werden. Was der Konzeptualisierung, die Meuser vorschlägt, daher fehlt – und was sie dringend aufnehmen sollte – ist die Idee, dass der Körper nicht nur ‚agens‘, sondern auch ‚reagens‘ ist: dass er zum ‚Opfer‘ sozialer Verhältnisse werden kann, dass er leidet und dass wir leiden können, weil wir Körper sind. Ferdinand Sutterlüty hat sehr schön auf die biographischen und identitätsstiftenden Implikationen dieses körperlichen Erleidens im Rahmen der Analyse von Gewaltkarrieren aufmerksam gemacht (Sutterlüty 2004). Nur wenn die Soziologie diese vom Körper ausgehende Kreatürlichkeit und Verletzlichkeit systematisch als einen Horizont mit einbezieht, kann sie den hier insgesamt angesiedelten fundamentalen Prozessen im Sinne einer Humanwissenschaft gerecht werden.

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Sportives Schmerznormalisieren. Zur Begegnung von Körper- und Sportsoz iologie 1 NINA DEGELE

Au s g e g r e n z t e n S c h m e r z z u r ü c k h o l e n Nordic Walking für EinsteigerInnen, Stadtmarathon für die Ambitionierten, Wüstenläufe für die Verrückten: In der modernen Gesellschaft ist Sportivität zum neuen Leitwert postmaterieller Lebensorientierungen geworden (vgl. Kaschuba 1989), der bewegte und sich bewegende Körper mutierte zum Medium der Selbststilisierung und zum Träger von Identität und Leistung.2 Rekonstruieren die Soziologien des Körpers und des Sports Inszenierungen, die damit verbunden sind, teilen sie einen positiv bewertenden Zugang zu ‚ihren‘ Gegenständen. Das tun sie etwa in Abgrenzung zur Medizinsoziologie, die sich mit den dysfunktionalen, dunklen und tabuisierten Bereichen von Körperlichkeit (auch in Bezug auf Einschränkungen beim Sporttreiben) auseinander setzt. Eine Verbindung der beiden Soziologien bzw. Themen läuft auf die Verbindung zweier Randständigkeiten in der Soziologie hinaus. Denn Sport erscheint der etablierten Soziologie als zu nebensächlich, der Körper ist in systemtheoretischer Sicht ohnehin Umwelt der Gesellschaft, und beide Themen gelten als zu wenig sozial (relevant). Nicht zuletzt aufgrund dieser Situation des ‚außen vor‘ lässt sich eine Verbindung zwischen Sport und Körper

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Für aufrüttelndes Mitdenken und hilfreiche Kritik danke ich Christian Dries, Martin Dornberg, Doris Katheder, Silvia Mosen und Dominique Schirmer. Bewegt als gebrauchter, benutzter, auch instrumentalisierter Körper, sich bewegend als agierend, inszenierend, sportiv. Zur Bedeutung von Bewegung als neuem Leitbegriff der Sportsoziologie vgl. Klein (2004), Gugutzer (2005).

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über das Phänomen Schmerz herstellen.3 Schmerz eignet sich auch und vor allem als Anwendungsfeld, weil es sich dabei um körperliche Empfindungen4 handelt, denen sich auch und vor allem Sporttreibende immer wieder aussetzen – mehr oder weniger freiwillig. Denn mit Fortschritten in der Medizin und dem Erbe der Aufklärung wurde Schmerz immer weniger ein unausweichliches und individuelles Schicksal. Schmerz ist in der heutigen Wahrnehmung etwas Sinnloses geworden, das die Bewegungsfähigkeit einschränkt und/oder stattdessen unerwünschte Bewegungen induziert. Damit ist eine Ambivalenz verbunden: Einerseits lässt das Wissen um die Möglichkeit der medikamentösen Behandlung des Schmerzes die Bereitschaft des Ertragens sinken (vgl. Le Breton 2003: 183-197). Andererseits sind an diese Stelle neue Mythen der Authentizität, Stärke und Natürlichkeit und damit auch von Heldentum und Männlichkeit getreten (vgl. Azoulay 2000: 36-49). Das kann man als Erbe des Protestantismus interpretieren: Zähne zusammenbeißen, durchhalten.5 Entsprechend war in der traditionellen sportsoziologischen Sichtweise der Körper eine quasi unhinterfragte Bedingung, ein Medium der Gestaltung und Erzielung von Leistung. In einer Bestandsaufnahme neuerer Arbeiten und Strömungen in der Sportsoziologie konstatiert Robert Gugutzer dagegen einen body turn (Gugutzer 2005: 117-119): Nicht der Sport sei der zentrale sportsoziologische Gegenstand, sondern der Körper und Bewegung (vgl. Klein 2004). Wenn nun der Körper im Sport angekommen ist, dann vor allem als Medium 3

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Ich orientiere mich dabei an der Definition von Schmerz als „unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit einer aktuellen oder potenziellen Gewebeschädigung einhergeht oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird. Im Gegensatz zu der Empfindung Schmerz, der als subjektives Sinnesoder Gefühlserlebnis definiert ist, wird unter Nozizeption der ‚objektive‘, neuronale Prozess verstanden“ (Huber/Winter 2006: 1). In die gleiche Richtung geht die psychologische Definition von Schmerz als „eine grundlegende unangenehme Empfindung, die dem Körper zugeschrieben wird und dem Leiden entspricht, das durch die psychische Wahrnehmung einer realen, drohenden oder phantasierten Verletzung hervorgerufen wird. Schmerz wird meist als spezifische Erfahrung betrachtet, die zwischen Emotion und Sinnesempfindung steht“ (Städtler 1998: 955). Diese Definitionen scheinen mir geeignet, weil sie erstens die Dimension der subjektiven Empfindung betonen und zweitens nicht auf den Tatbestand einer notwendigen körperlichen Versehrtheit (Gewebeschädigung) rekurrieren. Letzteres tut das klinische Wörterbuch in seiner Definition von Schmerz als „komplexe Sinneswahrnehmung unterschiedlicher Qualität (z.B. stechend, ziehend, brennend, drückend), die in der Regel durch Störung des Wohlbefindens als lebenswichtiges Symptom von Bedeutung ist und in chronischer Form einen eigenständigen Krankheitswert erlangt“ (Pschyrembel 2004: 1636). Im Sinne der subjektiven Wahrnehmung eines Sinnesreizes (vgl. Pschyrembel 2004: 481). Das katholische Pendant würde die Hoffung auf das Jenseits, auf einen erlösten und schmerzfreien Zustand richten – zum irdischen Leben gehöre Schmerz einfach dazu.

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der Identitätsbildung und Stilisierung von Macht, Schönheit, Jugendlichkeit und Gesundheit (vgl. Gugutzer 2005). Bewegung und Körper werden rauschhaft erlebt (vgl. Caysa 2003), ästhetisiert (vgl. Rittner 1989) und geschlechtlich stilisiert (vgl. Sobiech 2004; Lorber 2003). Die Diagnose von Sportivität als inzwischen dominierendem kulturellem Wert (vgl. Kaschuba 1989) basiert vor allem auf Beobachtungen der neuen Trend- und Extremsportarten (vgl. Gugutzer 2004a). Das ist kein Zufall. Denn Paragliding, Streetball, Canyoning, Bungee-Jumping, Spinning, Triathlon oder auch Inline-Skating bieten Distinktionsmöglichkeiten zu traditionellen und anderen zeitgenössischen Sportarten und Raum für neue Gemeinschaftsbildungen. Hinter solchen Trends stecken Modernisierungsprozesse, die sich mit den Stichworten Individualisierung, Differenzierung, Domestizierung, Rationalisierung, Vergeschlechtlichung, Integration, Globalisierung und Beschleunigung zumindest schlagwortartig charakterisieren lassen (vgl. Degele/Dries 2005). In solchen sich modernisierenden Gesellschaften ist der Körper nichts Individuelles mehr, sondern extrovertiert, stilisiert und aufgeführt (vgl. Gebauer et al. 2004). Im Vordergrund – so die dortige These – stehe dabei nicht mehr Leistung als das verbindende Element sich über Sport vollziehender Gemeinschaftsbildungen, sondern Stil mit einem umfangreichen Repertoire kultureller Ausdrucksweisen, das von richtigen Gesten und Ritualen über spezifische Körperbilder und Bewegungsformen bis hin zur richtigen (durch die jeweilige Szene definierte) Musik und Kleidung reiche.6 Körper sind kulturell geformt, Träger von Zeichen der Zugehörigkeit und Identität, tun etwas mit sich und der Welt und sind damit alles andere als natürlich (als Überblick zur neueren Körpersoziologie vgl. Gugutzer 2004b; Kuhlmann 2004; Meuser 2004). Er wird funktionalisiert und instrumentalisiert, mit der Aufgabe der Identitätsbildung als gelingender Lebenspraxis befrachtet und auch überfordert. Das schlägt sich etwa in sportlicher Betätigung und/oder in der Körpermodellierung (Bodybuilding, Fitnesskult, Piercing, Tattoos, Schönheitsoperationen) als einem Versuch der Unterdrückung von Alter und Tod nieder. Schönheitsoperationen sind dabei eine extreme Form der Manipulation zur Schaffung einer neuen Identität und Versicherung von Autonomie und Handlungsmacht (vgl. Degele 2004), die wie viele andere Stilisierungen Schmerz in 6

Vgl. dazu Alkemeyer et al. (2003), Bette (2004), Gebauer et al. (2004), Gugutzer (2004a). Letzteres möchte ich nicht zuletzt vor dem Hintergrund der empirischen Befunde zur intersubjektiven Konstruktion von Schmerz im Sport bezweifeln. Erstens nämlich sind Körpererfahrung, Stil und Leistung gar nicht trennscharf zu erfassen (auch eine stilsichere Inszenierung ist eine Leistung), wie es etwa der Vergleich von BalletttänzerInnen und Triathleten deutlich macht (vgl. Helmes 1996). Zweitens orientieren sich sowohl Trendsportarten wie etwa Triathlon, Beachvolleyball und Mountainbiking an den klassischen Leistungsmaßstäben des „schneller, weiter, höher“. Und drittens sind auch die klassischen Sportarten wie Leichtathletik oder Fußball nicht bedeutungslos geworden – was etwa das nach wie vor ungebrochene Publikumsinteresse belegt.

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Kauf nimmt. In jedem Fall verfügt der Körperausdruck über die Fähigkeit, soziale Arrangements, soziale Beziehungen und soziale Hierarchien zugleich darzustellen und herzustellen, er ist performativ. Dazu zählen etwa die Herstellung von Klasse, Ethnizität, Alter und Geschlecht. Der Körper erscheint gleichzeitig „als vergeschlechtlichte Wirklichkeit und […] als Speicher von vergeschlechtlichenden Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien, die wiederum auf den Körper in seiner biologischen Realität angewendet werden“ (Bourdieu 1997: 167). Zu diesem Punkt hat die feministische Forschung einiges Konstruktives und Dekonstruktives beigetragen, wie etwa die These der primär diskursiven Verfügbarkeit des Körpers oder der Somatisierung von Herrschaftsverhältnissen (vgl. Butler 1991; Weitz 2003). Neu ist dabei die Thematisierung einer unter Druck geratenen Männlichkeit – die inzwischen auch den Geboten der Fitness und Ästhetik (Waschbrettbauch!) in zunehmendem Maß unterworfen ist (vgl. Meuser 2000: 227). Schmerz als vor allem negative Erfahrung von Körperlichkeit bildet noch immer eine weit gehend unthematisierte Begleiterscheinung der beiden Soziologien des Körpers und des Sports, und auch die Ebene der Emotionen findet dabei noch kaum Berücksichtigung (vgl. Bendelow/Williams 1995: 159-162). Denn in Schmerz stecke zu wenig Soziales: „Schmerz ist ein radikales Scheitern der Sprache“ (Le Breton 2003: 40). Dieser verbreiteten Auffassung zufolge sei akuter, chronischer oder totaler Schmerz eine körpergebundene und intime Erfahrung, nehme völlig in Anspruch und habe eine durchaus entpersönlichende Wirkung: Der Mensch sei im Schmerz allein (vgl. Scarry 1992: 12) und die kommunikative Kluft zwischen Ich und Anderem damit kaum zu überwinden. Dennoch: Auch die einsame Erfahrung des Schmerzes ist kulturell und historisch eingebunden, man kann noch nicht einmal von einer „natürlichen Geburt“ im strengen Sinn sprechen (vgl. Wolf 1998). Für die kulturelle Konstruktion von Schmerz spielt selbstredend die zur Verfügung stehende Sprache eine prominente Rolle (vgl. Blechner 2001: 9-13; Ernst 2000: 121f.). Denn Menschen reagieren nicht so sehr auf den eigentlichen Schmerz, sondern mehr auf den Sinn, den er für sie annimmt, und das geschieht über Sprache.7 Schmerz ist also auch soziologisch interessant, weil Empfindungen in diesem Zusammenhang vermeintlich individuell und sozialen Überformungen gegenüber resistent zu sein scheinen (was sie tatsächlich aber nicht sind). Stattdessen inte7

Deshalb litten Soldaten im Ersten Weltkrieg etwa weniger unter Verletzungen als Zivilisten. Denn für sie war es ein Erfolg, überlebt zu haben, für die Zivilisten vielleicht das Ende der Berufstätigkeit. Zwar gab es in den 1950er und 1960er Jahren einige klassische Studien zu kulturellen Komponenten wie Ethnizität, Klasse und Religion bei der Wahrnehmung von Schmerz, diese haben aber keine Disziplinbildung nach sich gezogen – sie wurden auch zu Recht als ethnischreduktionistisch kritisiert (vgl. Bendelow 1993; Bendelow/Williams 1995; Ernst 2000). Von einer ausdifferenzierten Schmerzsoziologie kann mithin noch keine Rede sein.

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ressiert das verkörperte soziale Phänomen Schmerz hier als eine Grenzerfahrung, die sich auf einem Kontinuum von Lust und Unlust bewegt.8 Schmerz – diese These möchte ich entwickeln – verfügt über ein sinnstiftendes und identitätskonstruierendes Potenzial, das sich über Grenzsetzungen und -fixierungen im Spannungsfeld von „normal“ und „pathologisch“ rekonstruieren lässt. Über das Medium Schmerz verschieben AkteurInnen Grenzen und konstruieren damit Normalität. Das nenne ich Schmerznormalisieren: In der Aus- und Abgrenzung von Unnormalem und Pathologischem im Umgang mit und der Deutung von Schmerz konstruieren und sichern AkteurInnen Identität, Sozialität und damit Normalität. Dabei geht es weniger um die beiden zu unterscheidenden Zustände eines Vorher und Nachher, sondern um die sozialen Prozesse und Mechanismen des Aus- und Abgrenzens, des Verschwimmens, Auflösens und/oder auch des Neudefinierens von Grenzen:9 Schmerz bildet eine Grenze des Aushaltbaren; und damit verbundene Empfindungen, Wahrnehmungen und Deutungen sind – das will ich zeigen – Gegenstand sozialer Wirklichkeitskonstruktion. Methodologisch gilt es dabei eine gegenstandsadäquate Annäherung über (versprachlichte) Praxis (und damit verbundene Grenzen) zu berücksichtigen. Die These der Identitäts- und Gemeinschaftskonstruktion über sportives Schmerznormalisieren entwickle ich im Folgenden anhand verschiedener Umgangsweisen mit Schmerz: man kann von Schmerz lernen, über Schmerz Grenzen erfahren, verschieben und fixieren, und man kann über Schmerz HeldInnentum inszenieren. Zugespitzt bedeutet das: Der sinnlich empfundene Körper wird emotional besetzt (etwa als Gegner, Partner, Lehrmeister oder Opfer), ästhetisch bewertet (als kraftvoll, gebrochen, sexuell attraktiv, vom Schmerz gezeichnet, schön) und kulturell überformt (beispielsweise in Form der Konstruktion von Männlichkeiten, von Dynamik oder von Jugendlichkeit), und all das lässt sich am Umgang mit Schmerz nachzeichnen. Hintergrund dafür liefert empirisches Material, das seit 2004 im Rahmen eines interdisziplinären Projekts zum Thema „Intersubjektive Konstruktion und sprachliche Kodierung von Schmerz“ erhoben wird. Nicht zuletzt geht es dort darum, Schmerz als etwas aus der Soziologie Ausgegrenztes für eine über Biologie, Medizin und Individuum hinausreichende Analyse erreichbar zu machen. Notwendig ist damit ein Zugang, der die soziale Gebundenheit 8 9

Vgl. Le Breton (2003), List (1999), Morris (1994), Pöppel (1982). Aus diesem Grund ziehe ich den relational und prozessual angelegten Begriff Schmerznormalisieren dem Substantiv Schmerznormalisierung vor: es geht um Prozesse sozialer AkteurInnen, die ich zunächst aus deren Binnenperspektive und dann komparativ rekonstruieren will, und nicht um einen zustandsbeschreibenden, distanzierten Zugang von außen – der sich substantivierend leichter darstellen ließe. Die Konstruktion Schmerz normalisieren erscheint mir unzureichend, weil darin die Medialität von Schmerz, seine Bedeutung für die Konstruktion von Normalität als eines aktiven Prozesses von AkteurInnen zu wenig zum Ausdruck kommt. Manchmal müssen es eben doch Neologismen sein …

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individueller Äußerungen und Inszenierungen in den Blick bekommt. Dazu eignen sich Gruppendiskussionen (vgl. Degele/Schirmer 2004; siehe auch Degele 2004: 33-90). Die Wahl dieses Verfahrens ist der Einsicht geschuldet, dass wirkungsmächtige, sozial generierte, aber meist nur implizite Deutungsmuster mit dieser Methode artikuliert und damit rekonstruierbar gemacht werden können. So haben bislang 18 Gruppen mit insgesamt 126 DiskutantInnen (49 Männer, 78 Frauen) aus unterschiedlichen Kontexten (z.B. Selbsthilfegruppen von meist chronisch Kranken, mit Schmerz befasste Professionelle aus dem medizinischen Kontext, transsexuelle Männer, Mütter nach der Geburtserfahrung, je eine Bluesband, schlagende Verbindung, Kampfsport- und Triathlongruppe so-wie drei Gruppen verschiedener SM-Praktizierender) zum Thema Schmerz diskutiert; daneben habe ich bislang 7 Einzelinterviews durchgeführt. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf drei Gruppen und drei Interviewpartnerinnen mit sportivem Hintergrund, vorwiegend aus der Mittelschicht.10 Dabei handelt es sich um Kampfsportler, schlagende bzw. fechtende Corpsstudenten und TriathletInnen (aus dieser Gruppe habe ich neben der Diskussion zwei Interviews mit den beiden dort aktiven Frauen durchgeführt, dazu kam ein Interview mit einer Ultraläuferin). Gemeinsam ist diesen Gruppen, dass sie sich „für Schmerz entschieden haben“, d.h. Umgang mit Schmerz gehört auch zu dem, was die Gruppe als gewählte Bezugsgruppe auszeichnet. Im Gegensatz zu den übrigen Gruppen, für die Schmerz nach gängiger Auffassung ein negativ bewertetes (oder auch gar kein) Konstitutionsmoment der Gruppe darstellt, deuten diese drei Gruppen Schmerzerfahrungen positiv um und inszenieren sie in gemeinschaftskonstruierender Hinsicht: Schmerz bewegt sie, nicht nur ihre Körper. Damit wollen sie sich allerdings keineswegs als pathologisch oder pervers verortet wissen. Sie möchten – wie alle anderen Gruppen auch – nichts mit denjenigen zu tun haben, die etwas „übertreiben“, also Schmerz um seiner selbst willen suchen, das Maß verloren haben und damit ins Pathologische kippen. Gleichzeitig grenzen sie sich gegen die Normalos ab und übernehmen damit deren Definition der Schmerzbewertung: Schmerz muss einen bestimmten Zweck erfüllen, um als legitim inszeniert zu werden. Die Sportgruppen schmerznormalisieren, d.h. zur Konstruktion von Normalität erfahren, bewerten, verschieben und fixieren sie mit und durch Schmerz Grenzen (folgender Abschnitt), sie kontrollieren Schmerz, zumindest versuchen sie das (letzter Abschnitt), und dabei konstruieren sie immer auch Geschlecht und Held(Inn)en-tum mit, also Bilder von Personen, die für

10 Einschränkend will ich hier konstatieren, dass diese Auswahl dem postmateriellen Habitus der Sportivität vermutlich näher steht als andere Gruppen (vgl. Kaschuba 1989), es handelt sich um ethnisch weit gehend homogene Gruppen (weiße MitteleuropäerInnen), auch sind die Altersgruppen zwischen 20 und 30 in dieser Auswahl deutlich in der Überzahl.

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ihre Ziele einiges in Kauf nehmen und sich dabei nicht unterkriegen lassen (übernächster Abschnitt).

Schmerz umdeuten SportlerInnen bewegen (sich), und dabei geht es auf den ersten Blick um das Verschieben von Grenzen: eine Erhöhung der Muskelmasse oder Verbesserung der Ausdauer, eine steigende Schmerzschwelle, all dies soll der Verbesserung der Leistung dienen. Bei genauerem Hinsehen dagegen taucht die Dimension der Grenzsetzung und -fixierung auf. Sie erfolgt durch soziale Abgrenzungen, nämlich einmal von ‚Normalos‘ und dann von denjenigen, die es übertreiben mit dem Schmerz. Dahinter stehen – das ist die banale soziologische Einsicht – Positions- und Statuszuweisungen, die über Kompetenz- und Machtspiele laufen. Hier finden Umdeutungen statt. Ich unterscheide hier drei Formen sportiven Schmerznormalisierens, nämlich erstens durch Abgrenzung, zweitens durch Begriffswechsel und drittens durch die Konstruktion von Schmerz als Lehrmeister. Am deutlichsten wird die Dimension des Schmerznormalisierens, wenn es darum geht, das eigene Handeln als ebenso normal wie auch als besonders zu inszenieren.11 Das ist etwa bei der Gruppe der TriathletInnen zu beobachten: Sie wollen etwas Besonderes sein und gleichzeitig zeigen, dass sie zu der Gruppe dazu gehören: „Wir sind normal in unserer Familie, der Triathlonfamilie.“ Dabei lassen sich verschiedene Abgrenzungsstufen unterscheiden: • Nicht-SportlerInnen sind die 08/15-Menschen in der Fußgängerzone, die couch-potatos, „andere“, die nicht so viel körperliche Belastung auf sich nehmen; „vielleicht ein normaler Mensch, ja“. Das ist gerade in einem geografischen Setting von Bedeutung, wo Triathlon zum Alltag der Stadt gehört und gepflegt wird: „Weil wenn du irgendwo anders hinkommst, und du sagst, du hast mal die Langdistanz gemacht, dann sagen die: ‚Wow! Was? Du?‘ oder so. ‚Toll‘ und so. Und bei uns ist das erste, wenn du sagst, ich hab die Langdistanz… ‚In welcher Zeit?‘ [lacht] ja? Also so, so leistungsbezogen.“ Die Nicht-SportlerInnen sind also vor allem als Abgrenzungsfolie wichtig. • Hobbyjogger und Hobbysportler „fangen nach 5 bis 6 km Laufen an zu schwitzen und hören auf“, sie kommen gar nicht bis zu einer wie auch immer gearteten Schmerzgrenze. Sollte das dennoch einmal der Fall sein, „jammern sie fürchterlich“. Kritisiert wird hier also eine Weichei-Mentalität, die sich auf Schmerz gar nicht oder nur in der Weise einlässt, dass sie nicht „durch ihn durch geht“ (ich komme darauf zurück).

11 Recht treffend bezeichnen Gebauer et al. (2004: 51-54) TriathletInnen als „Gemeinschaft der Individualisten“.

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• Leistungsschwächere TriathletInnen und MarathonläuferInnen laufen nicht um Siege oder gegen die anderen, sondern gegen sich selbst. Ihnen genüge ihr Tun. Wenn sie über Schmerzen klagten, dann deshalb, weil sie sich übernommen und/oder zu wenig trainiert hätten. Diese Abgrenzung ist wichtig, um den Leistungsgedanken und die Unterscheidung von normalen Motivationen des Sporttreibens (Gesundheit, Fitness, Geselligkeit, Freude an der Bewegung) zu legitimieren. Denn auch in der Triathlongruppe ist schließlich nicht normal, sich Schmerzen zuzufügen. Umgekehrt sieht sie sich in der Situation, bestimmte Genüsse (Freude an der Bewegung) gar nicht mehr zu empfinden/empfinden zu können, wie es die Normalos tun. Fast neidisch konzedieren einige TriathletInnen den GenusssportlerInnen das „schöne Gefühl“ und den „Dauerkick“ während des Laufs oder Wettkampfs. Sie selbst freuen sich viel mehr oder ausschließlich über das Ergebnis, die erzielte Leistung. • Bei der letzten Abgrenzung gegen Sadomasos reihen sich die TriathletInnen in das gesellschaftliche Allgemeinwissen ein. Sie verwehren sich dagegen, Schmerz um seiner selbst willen zu suchen oder als Druckabfuhr zu benutzen. Das sei nicht normal: „Wenn wir lang unseren Körper einer Belastung aussetzen, dann empfinden wir das nicht als Schmerzen, sondern man empfindet das bestenfalls als Unwohlsein, oder als Ermüdung, oder als einen sehr normalen Vorgang. Weil sonst würden wir es nämlich nicht tun. Weil wir sind keine Sadisten, die sich jetzt mit der Nadel ständig stechen und uns Schmerzen zufügen.“ Quintessenz: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Besonders in dieser Abgrenzung wird das Bedürfnis nach Anerkennung auch außerhalb der eigenen Sportfamilie deutlich: Sonderstatus und Exklusivität ja, Perversion nein. Die strukturellen Gemeinsamkeiten der Konstruktion von Exklusivität und Normalität lassen sich konkretisieren. Alle Gruppen teilen eine Negativabgrenzung von Schmerz, die mit „wenn’s weh tut“ und „Zahnarzt“ assoziiert wird. Es gibt auch den als letztlich schlimmer empfundenen seelischen Schmerz, über den die Beteiligten aber nur zögerlich (oder in Einzelinterviews) sprechen: „Wenn dich jemand verletzt. Oder wenn irgendwas passiert ist, mmh, mit dem du nicht gerechnet hast, oder ein Unglück oder was, mit, mit diesem umzugehen, also das ist ja auch nicht grade, also … ist ja eigentlich noch schwieriger, weil da kannst du kein Pflaster drüber machen.“ Auf der anderen Seite steht eine positiv gezeichnete Schmerzerfahrung, die nach mehr aussieht als nach einer rein kognitiven Umdeutung. Man weiß durch den Schmerz, dass man etwas fühlt und auf einmal ist von einer Intensität des Lebens und von Lust die Rede: „Ich … find Schmerzen geil“. Wüsste man hier nicht um den Kontext des Kampfsports, könnte man meinen, man hätte SelbstverletzerInnen vor sich, die über Schmerz an Erlebensqualitäten gelangen, die sie sonst nicht (mehr) errei148

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chen können.12 Bei der hier von einem Kampfsportler artikulierten Umdeutung von Schmerz indes ist etwas anderes im Spiel: Das in Stresssituationen aufputschende Adrenalin einerseits und das morphinähnlich Endorphin andererseits. Diese beiden vom Körper in Stress- und Anstrengungssituation produzierten Stoffe senken das Schmerzempfinden und führen bis zum Rausch (vgl. Caysa 2003). Um einen solchen Kick geht es auch einigen fechtenden Corpsstudenten bei ihrem Tun: „Das sind aber keine Schmerzen, das ist geil (lacht).“ Hier ist die Grenze zur Lust fließend: Über einen physischen „Muntermacher“ verschaffen sich einige Akteure auf diese Weise einen psychischen Kick. Der sich bewegende oder bewegte Körper im Kick schätzt körperliche Erschöpfung wie etwa nach einem intensiven oder langen Training – was nur zeitlich begrenzt und dosiert auszuhalten ist. Dabei ist der Aspekt der Anstrengung wichtig, man verschafft sich durch eigene Aktivität positive Zustände (ich komme darauf im Zusammenhang mit der protestantischen Arbeitsethik zurück). Gleichwohl sind die Kontexte der drei Sportgruppen sehr verschieden: Der Gruppe der Kampfsportler kommt die Bedeutung von Sport als Stilisierung am nächsten, wo es um die Erfahrungen von Bewegung, Spaß und Sozialität geht (vgl. Gebauer et al. 2004). Für die Gruppe der fechtenden Corpsstudenten dagegen steht die Sicherung der Tradition und das (Gemeinschafts)erlebnis der Ehre im Vordergrund – für die es sich zu kämpfen lohnt. Leistung, Stil und Ehre: Auf diese drei Deutungsmuster lassen sich die Orientierungen der drei untersuchten Gruppen bringen, wobei ich meine Ausführungen im Folgenden auf den Aspekt der Leistung konzentriere. Die Normalitätskonstruktionen der Sportgruppen begreifen Schmerz damit als Medium für einen ‚höheren‘ Wert. Niemand will ein „Schmerzjunkie“ (Marathonläuferin) sein, dem/der es um Schmerz als solchen geht. Schmerz gilt als Mittel zum Zweck, wenn die Zwecke auch verschieden sind (Leistungssteigerung, Warnung vor Überlastung, intensive Körpererfahrung usw.). Nicht eindeutig klar ist dabei allerdings, ob diese Empfindung dann überhaupt noch unter der Flagge Schmerz segeln darf. Denn Schmerz ist ja im Allgemeinverständnis per se unangenehm, und genau deshalb ist eine Umdefinition erforderlich: Adrenalin und Endorphin sorgen für einen anderen mentalen Zustand, der den ursprünglichen Schmerzkontext modifiziert. Damit verbundene angenehme Empfindungen werden nicht mehr mit Schmerz gleichgesetzt oder assoziiert, sondern für andere Zwecke instrumentalisiert. Das ermöglicht eine Distanzierung von einer als pathologisch empfundenen Eigen- und Fremdzuschreibung als Schmerzjunkie, also als nicht normal. Eine sich daran knüpfende Umdeutung beim sportiven Schmerznormalisieren lässt sich auch bei

12 Den Zusammenhang von Schmerz und Lust dagegen thematisieren auch und vor allem die drei SM-Gruppen dieses Samples (vgl. Degele/Schirmer 2006).

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der Vermeidung des Schmerzbegriffs und der Konstruktion von Schmerz als Lehrmeister rekonstruieren. So könnte eine Lösung für das Problem der nicht-negativen, aber deshalb auch noch nicht unbedingt positiven Schmerzdefinition darin bestehen, andere Begriffe als Schmerz zu benutzen und damit möglicherweise Schmerz kurzerhand wegzudefinieren: Er wird – so hat es den Anschein – einfach nicht empfunden.13 Diese Funktion ist mit der Konstruktion von Heldentum und Männlichkeit verbunden, an welche wiederum eine kognitive Überformung, nämlich die Inszenierung von Kompetenz geknüpft ist. Das ist bei der Gruppe der TriathletInnen gut zu beobachten: Schmerz wird als etwas anderes als Ermüdung, Erschöpfung und auch als Quälen wahrgenommen, was dann auch als kognitives und nicht nur als körperliches Problem definiert wird: „Also dass man vom Kopf her, also so ging es mir jetzt dieses Jahr, dass ich immer ab Kilometer zwanzig, fünfundzwanzig … mag ich nicht mehr, da will ich stehen bleiben. Da will ich aufhören. Und da muss ich mich einfach dazu motivieren, weiter zu laufen. Meine Beine hoch zu heben. Und das fängt dann schon irgendwann an, dass es eine Quälerei wird. […] Du bist vom Kopf her einfach tot, dein Kopf will nicht mehr, der Kopf ist leer.“

Die nach zehn Stunden Schwimmen, Radfahren und Laufen eingetretene Ermüdung wolle den strapazierten Körper nur zum Stillstand bringen, mit Schmerz habe das aber nichts zu tun – denn es tue ja nicht „richtig weh“. In solchen Situationen helfe der unbedingte Wille bis zum Ziel (Version kein Schmerz), oder aber es seien nur kurze Phasen, wo der Schmerz eine Rolle spielt. Die Dauer legitimiert also eine Wahrnehmung, die sonst eigentlich nicht legitimierbar wäre. Man könne müde sein, sich quälen, aber Schmerz sei das deswegen noch lange nicht. Nur eine normale Reaktion des Körpers.

13 Ob die SprecherInnen keinen Schmerz empfinden, ob sie Schmerz empfinden, aber mit anderen Begriffen belegen und ihn damit wegdefinieren oder ob etwas ganz anderes als eine Schmerzempfindung stattfindet, muss ich offen lassen. Erstens ist das aus der Außenperspektive gar nicht zu entscheiden, zweitens äußerten sich einzelne DiskutantInnen und InterviewpartnerInnen im Verlauf eines Gesprächs höchst widersprüchlich, und drittens bestand über diesen Punkt bei der Gruppe der TriathletInnen ebenfalls Uneinigkeit. Hier sind aufgrund der Subjektivität des Schmerzempfindens tatsächlich Grenzen der Versprachlichung festzustellen, was freilich auch viel mit sozialen Erwartungen und Tabus zur Schmerzempfindung und -wahrnehmung der AkteurInnen zu tun hat. Aufgrund dieser Ungenauigkeit verwende ich in diesem Zusammenhang – um nicht körperliche Reaktionen und/oder Schmerz zu suggerieren, wo selbiges womöglich gar nicht existiert – den Begriff Wahrnehmung als „allgemeine Bezeichnung für den komplexen Vorgang von Sinneswahrnehmung, Sensibilität und integrativer Verarbeitung von Umwelt- und Körperreizen“ (Pschyrembel 2004: 1946).

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Wer schmerznormalisiert, muss Schmerz nicht als positiv oder gar lustvoll erleben. Aber er oder sie demonstriert etwas, was sich in Lernen und Erfahrung übersetzen und instrumentell nutzen lässt. Schmerz als Lehrmeister verhilft nämlich zur Verbesserung des eigenen Leistungsvermögens: „Schmerz zeigt Dir, dass Du was falsch gemacht hast“ (Kampfsportler). Negativ empfundene Erfahrungen führen dazu, beim nächsten Mal etwas besser zu machen, die gleichen Fehler nicht zu wiederholen. Belohnung und Bestrafung hängen dabei eng zusammen, können teilweise gar nicht getrennt werden: Positiv, weil der Schmerz hilft und anspornt, negativ, weil die Schmerzempfindung eigentlich nicht erwünscht ist. Das betrifft etwa den bittersüßen Schmerz nach einem guten Training, der mit einem Wohlgefühl und Bestätigung einhergeht. Oder es kommt darin die Freude zum Ausdruck, einiges aushalten zu können, auch wenn man den Schmerz nicht sucht. Vor allem die Kampfsportler konstruieren ihr Tun als prototypisch männlichen rite de passage, der als Lehrmeister viel mit einer Reifung der Persönlichkeit, der Korrektur falscher Einschätzungen und der Forderung nach Selbstdisziplinierung zu tun hat (vgl. Binhack 1998: 189, 241-245). Bei den fechtenden Corpsstudenten dagegen spielt der Schmerz noch mehr im Hinblick auf Kontrolle, Bewältigung und Ehre eine Rolle. Die Tradition soll gesichert und am Leben gehalten werden, und dazu gehören Fechten und das Aushalten von Schmerz. Bei den TriathletInnen schließlich ist Schmerz der Leistungsansporn schlechthin: „Schmerzen resultieren aus dem, weil du eben so schnell sein willst.“ Auch das ist Schmerznormalisieren: Die Motivation führt dazu, „über den Schmerz drüber“ zu gehen. Dazu gehören etwa rasende Kopfschmerzen beim Wettkampf in der glühenden Hitze, Verletzungen und Zusammenbrüche – sie demonstrieren eindrücklich, was man beim nächsten Mal besser zu machen hat. Schmerz operiert in diesem Sinn geradezu als eine Art Bestrafung, als schwarze Pädagogik. Darin kommt die in Deutschland sehr traditionsbehaftete Tugend der Abhärtung ins Spiel: „was nicht umbringt, macht härter“. Bei den Corpsstudenten heißt das etwa, wie eine deutsche Eiche da zu stehen und Hiebe auszuteilen. Diese mentale Einstellung des sich selbst Überwindens lernen sie vor allem bei der Bundeswehr – womit die Corpsstudenten auch Männlichkeit und Heldentum konstruieren.

Schmerz konstruiert Status, Kompetenz und Geschlecht Über die Frage, ob Trainingsqualen, Erschöpfung und Muskelkater als Schmerz bezeichnet werden können/müssen/dürfen oder nicht, finden in der Triathlongruppe auch Positionskämpfe statt. Schmerz wird nun zu einem Vehikel, wo es gar nicht mehr in erster Linie um Empfindungen und Wahrnehmungen geht, sondern um Definitionsmacht und Kompetenzzuschreibung. Spätestens 151

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hier ist eine präskriptive Dimension sportiven Schmerznormalisierens erreicht: Als richtigeR TriathletIn darf man das gewöhnliche Training nicht als Schmerz wahrnehmen (nur als kognitive Qual), sonst gehört man nicht mit dazu. Ein Meinungsführer der Gruppe spricht den anderen nach einem harten Training ab, Schmerz zu empfinden: „Hab ich nicht. Das hat niemand von uns. Du hast bestenfalls schwere Beine. Aber du hast keinen Schmerz.“ Diese Äußerung lässt sich zum einem mit dem Wunsch erklären, nicht als unnormal dazustehen, zum anderen, sich keine Leistungsgrenzen diktieren lassen zu wollen. Denn Schmerz ist „die Grenze, die dein Körper dir aufzeigt, was du zu leisten imstande bist“. Schmerzempfinden steht dann für ein Kaschieren fehlender körperlicher Leistungskraft, für Schwäche. Das gibt niemand gern zu und das hat etwas mit der Konstruktion von Männlichkeit zu tun: ein Mann, ein Wort. Stattdessen scheint es legitimer zu sein, von einer Leistungsgrenze zu sprechen. Dann ist nämlich auch die Verantwortlichkeit klar: man hat nicht gut genug trainiert und muss den Fehler bei sich suchen. Die Argumentation mit einer Schmerzgrenze dagegen bietet ein Schlupfloch: etwas von außen stößt einem zu, wofür man nichts kann. Solche Entschuldigungen passen nicht zum Ethos der TriathletInnen, die beanspruchen, Verantwortung für ihr Tun zu übernehmen und etwas aus eigener Kraft zu machen. Das sind moderne, männliche Werte: der Mensch (Mann) löst sich aus den Zwängen der Natur, der Religion und der Tradition und erschafft sich aus sich selbst. Eine Konstruktion von Männlichkeit steckt in der Überwindung von Schmerz: „Aber ich denke, genau das ist jetzt das, was uns jetzt im Ausdauerbereich eventuell von einer anderen, von einer anderen Gruppe unterscheidet, wir gezielt diesen Schmerz hinauszögern durch Training.“ Schmerz im konventionellen Sinn soll gar nicht erst entstehen, das ist das Ziel und bringt Anerkennung (zumindest auf der Ebene des Artikulierten): Was für die Normalos Schmerz ist, erscheint einigen Triathleten als Müdigkeit, vielleicht als körperliches Unwohlsein. Das ist auch ein Kern der Ironmankonstruktion, der einem heroischen Konzept von Männlichkeit bereits begrifflich zugrunde liegt: Wer nicht an die Schmerzgrenze geht, war nicht an der Leistungsgrenze. Schmerz muss man heldenhaft ertragen, aber deshalb nicht verherrlichen. Helden geben nicht einfach einer Lust oder einem Wollen nach, sondern bestehen tapfer Prüfungen, setzen sich mit etwas Unangenehmem, Feindlichem auseinander. Inszenierten sie Schmerz als angenehm, könnte diese Konstruktion nicht mehr funktionieren. Diese Konstruktionen der spezifischen Triathlon-Gemeinschaft, aus der Weicheier ausgegrenzt werden, sind auch Männlichkeitskonstruktionen. Sportives Schmerznormalisieren ließe sich in diesem Zusammenhang mit Gilmores (1991) Initiationsriten beschreiben: Ein Mann ist man nicht einfach, sondern wird man erst durch Rituale und Mutproben – oder eben das Ertragen oder Hintersichlassen von Schmerz.

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Gleichwohl ist die Konstruktion von Heldentum kein männliches Privileg. Weiblichkeit und Heldentum sind kein Widerspruch, Heldinnenkonstruktionen bedürfen allerdings einer differenzierteren Betrachtung. Sie haben mit einem Selbstbewusstsein zu tun, das zum einen darauf rekurriert, sich durch Training physisch und psychisch abgehärtet zu haben, und zum anderen mit der Erfahrung erfolgreichen Aushaltens von Menstruations- oder auch Geburtsschmerz argumentiert. Das macht gelassener, man kann „mit gewissen Schmerzen schon leben.“ Daraus spricht kein Bekämpfen, sondern ein Arrangieren mit dem Schmerz. Vor allem das Wissen um dessen Ende lasse sich auf Wettkampfsituationen übertragen: Ich komme schon ans Ziel. Dieses Selbstvertrauen lässt Tiefen überstehen: L: Es gibt aber auch so beim, beim, beim Radfahren dann so, so Punkte, wo es, wo es einfach geht und dann wieder, wo du denkst, oh Gott, ich bringe diese Kurbel nicht rum, oder du wirst immer langsamer. F: Und dann sagst du dir: gut machst du das, Mädel!

Das aufmunternde „Mädel“ kommt hier nicht zufällig. Die beiden Frauen reden über Stärke, die sie mit dem Aushalten des Menstruationsschmerzes beginnen lassen. Sie konstruieren damit kein geschlechtsneutrales Durchhaltevermögen, sondern sehen sich als starke Frauen. Der nächste Schritt ist die Rechtfertigung einer HeldInnenzuschreibung. Konkret geht es um die Frage, ob das Finishen eines Langdistanz-Triathlons (3,8 km Schwimmen, 180 km Radfahren, 42 km Laufen) dazu ausreicht. Die Stellungnahme ist eindeutig: „Du stehst am Wasser und fühlst dich wie in der Arena, weil alle um dich herum anfeuern.“ Die beiden fühlen sich im Moment des Starts als Heldinnen, sie sind stolz auf sich. Dieses Gefühl stellt sich zum einen ein, weil das Training abgeschlossen ist – sie haben sich gut vorbereitet und jetzt ist ohnehin nichts mehr zu ändern. Zum anderen sind da die vielen Menschen mit ihren bewundernden Blicken – auf die HeldInnen in der Arena, die ihnen ein Spektakel von Schweiß, Kampf und Durchhaltevermögen liefern werden. Es ist also eine Mischung aus der eigenen Leistung(sfähigkeit) und aus deren Anerkennung durch andere. Letztere ist wichtig – wie es die Bewunderung für das konsequente Training der befreundeten Mitstreiterin belegt: „Ich habe eine Freundin, die ist Krankenschwester, die hat mit mir den Ironman gemacht, so, dass sie in der Frühe um sieben von ihrer Nachtschicht kam, angerufen hat: ‚Wir gehen noch schwimmen, und dann lege ich mich erst hin.‘“ Auch das sind Heldinnen – im Vergleich zu vielen männlichen und auch weiblichen Weicheiern. Auch hier bildet das protestantische Ideal des Aus- und Durchhaltenkönnens einen sinnstiftenden Wertehorizont. Gleichzeitig liefert es eine Folie für mehr als widersprüchliche Formen der Konstruktion von Weiblichkeit. Diese lassen sich über den Umgang mit Schmerz rekonstruieren. In der christlichen 153

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Tradition mit der reichen Kultur des Schmerzes und der „Politik des Leidens“ (Morris 1994: 175-211; vgl. List 1999: 777f.) etwa haben sich drei Deutungen von Schmerz herausgebildet: Erstens ist da die ohnmächtige Kapitulation gegenüber der Unerträglichkeit und Unabänderlichkeit, was sich etwa im Weinen äußert. Genau das ist die kulturell den Schwächeren – Frauen und Kindern – zugebilligte Form des Reagierens auf Schmerz. Gleichwohl wird Frauen mit dem Verweis auf Menstruation und Geburt eine größere Aushaltefähigkeit von Schmerz zugeschrieben (vgl. Bendelow 1993: 285-288). Die zweite, kulturell höher bewertete Form ist durch Standhalten und Widerstand geprägt, sie gilt als männlich. Vor allem der Kontext von Militär und Krieg konstruiert dabei einen Mythos männlicher Unverletzbarkeit (vgl. Eifler 1998). Am Ende der Skala schließlich steht der spirituell konnotierte Heroismus des Duldens mit seiner demütigen Hingabe und Gelassenheit. Betrachtet man den Tatbestand der Geburt, sind alle drei Antworttypen in dieser genuin weiblichen Erfahrung präsent: Die Kapitulation mit dem Diktum, die Geburt müsse unter Schmerzen stattfinden (vgl. Azoulay 2000: 96-110), der Widerstand etwa gegen die Unterwerfung unter die „industrialisierte Geburt“ (Wolf 1998: 124), und das Sichdem-Schmerz-Überlassen mit der Deutung von Schmerz- als Liebesfähigkeit (vgl. Sölle 1990: 20). Kinder zur Welt zu bringen war und ist gefährlich und hat vielen Frauen das Leben gekostet. Bereits aus diesem Sachverhalt ließe sich schon Heldinnentum konstruieren. Die Konversation der beiden Triathletinnen (wie auch die Ausführungen der Ultraläuferin) konkretisiert diesen Zusammenhang und die damit verbundenen Probleme: Zum einen bildet der Rekurs auf biologische Weiblichkeit eine wichtige Begründungsressource bzw. einen zentralen Deutungshorizont für die Wahrnehmung der eigenen Stärke. Nach einer Alpenetappe über 55 km bei einem Ultralauf etwa waren die teilnehmenden Männer „danach wehleidig. Dann mussten sie massiert werden.“ (Ultraläuferin) Nicht alle haben durchgehalten, manche gaben auf. Die klassische männliche Konstruktion von Heldentum wird in diesen Beispielen nicht lediglich imitiert, sondern modifiziert und aktiv angeeignet. Zum anderen sind mit dieser Deutung auch – das ist die wissenschaftliche Metaebene – methodologische Kniffligkeiten verbunden. In welcher Weise ist Geschlecht bei der Konstruktion von Heldentum relevant? Antwort: Geschlecht ist konstitutiv, wenn man auf biologisch argumentierende Begründungsmuster rekurriert; modulierend, wenn man die Konstruktion von Durchhaltefähigkeit und Aushalten in den Deutungsmustern der Beteiligten nicht ernster nimmt, als es der Kontext verlangt; zu vernachlässigen, wenn man die von den AkteurInnen beschriebene Praxis als Referenz zugrunde legt. Wohin manövriert man sich also, wenn man (jenseits der Thematisierung von Menstruations- und Geburtsschmerz) nach Unterschieden zu den Äußerungen von Männern sucht? Antwort: In eine Sackgasse, denn die Konstruktion von Schmerz bietet in ihrer Überformbarkeit mit biologischen Argumentations154

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mustern ein zu bequemes Einfallstor für die Konstruktion und Verfestigung dichotomer Geschlechterbilder. In den Gruppendiskussionen war der Verweis auf die weibliche Exklusivität der Menstruation und der Geburt letztlich das einzige Argument, das zur Begründung eines geschlechterdifferenzierenden Erlebens und Umgangs mit Schmerz herhalten musste. Das ist nicht wenig, aber dennoch von nachgeordneter Relevanz, wenn es darum geht, den sozialen Kern von Schmerzkonstruktionen herauszupräparieren. Dieser kommt nicht nur in den Praxen der Umdeutung und der Konstruktion von Status und Kompetenz zum Ausdruck, sondern auch im Versuch, Schmerz zu kontrollieren.

Schmerz kontrollieren Wenn die Gruppen zunächst und vor allem über körperliche Schmerzerfahrungen sprechen, wird über kurz oder lang klar, dass der seelische Schmerz viel schwerer zu ertragen ist – weil sie ihn nicht so leicht kontrollieren können.14 Das ist alles andere als eine individuelle Angelegenheit. Die DiskutantInnen fahren mächtiges Vokabular auf, wenn es um die Möglichkeiten und Grenzen der Kontrolle von Schmerz geht: Eingeklagt wird die „Überlegenheit des Willens über die Körperlichkeit“, und es gilt, den Geist zu kontrollieren, die Selbstbeherrschung nicht „aus der Hand“ zu geben. Denn „wenn ich nur noch Schmerz empfinde, kann ich nicht mehr klar denken“. Für die Corpsstudenten ist es deshalb wichtig, Aggressionen unter Kontrolle zu halten: es geht bei einem Kampf nicht darum, den anderen „abzustechen“, sondern die Partie „sauber“ zu fechten. Schmerz wird damit zu einer überwindbaren Sache. Schmerznormalisierende Standardbegriffe der TriathletInnen dafür sind „über den Schmerz drüber gehen“ und „den Schmerz wegdenken“, ihn also gar nicht als Thema relevant werden zu lassen. Dazu sind etwa positive Leitsätze nützlich – man denkt während schmerzhafter Phasen im Wettkampf an etwas Schönes oder an das Ziel. Aber auch wenn der Geist die zentrale Kontrollinstanz darstellt, kann das Denken in Trainings- und Kampfsituationen die Aktionen behindern. Die Kampfsportler wie auch die Corpsstudenten halten den Gedanken an Schmerz für schlecht. Gerade/auch bei der Mensur solle man nicht an die Gefahr denken, das mache nur nervös. Dahinter steht die Ansicht, die geistige und auch psychische Beschäftigung mit etwas Unangenehmen könnte dieses im Sinne einer self-fulfilling prophecy herauf beschwören. Das ist nicht mit einer Aufforderung zur Verdrängung zu verwechseln. Vielmehr sol14 Die medizinische Fokussierung auf körperlichen Schmerz als alleinige oder hauptsächlich relevante Dimension wie auch die Unterscheidung von physischem und psychischem Schmerz ist vor diesem Hintergrund zumindest fraglich (vgl. Bendelow 1993; Bendelow/Williams 1995; Ernst 2000; List 1999; Morris 1994).

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len die rational ablaufenden Prozesse in Trainings- und Kampfsituation ganz abgestellt werden, der Körper soll seiner eigenen Logik folgen, seinem Instinkt, den Einkörperungen, die er im Training gelernt hat, der Hexis (vgl. Bourdieu 1997: 162). Er soll mit anderen Worten Bewegungen automatisch abrufen, was der Geist zwar vorbereitet und kontrolliert hat, was aber eigenständig und eben nicht mehr rational zu steuern ist. Es spricht für (nicht nur für als männlich konstruierte) Härte, mit Schmerzen einen Wettkampf durchzustehen, sondern auch für eine ausgeprägte Leistungsorientierung. Genau das lässt sich etwa beim Triathlon trainieren: „Ich hab halt ein Jahr lang auf das ganze trainiert und weiß, mit dem Schmerz da kann ich jetzt umgehen. Mit dem kann ich jetzt eine Stunde lang rennen, das ist jetzt nichts, was mich großartig einschränkt.“ Kontrollieren heißt hier nicht, Schmerz zu reduzieren oder ihn gar nicht erst entstehen zu lassen, sondern ihn zu ignorieren, als Thema zu verbannen. Der Körper wird dafür instrumentalisiert, „dieses Empfinden einfach auszuschalten“ oder zumindest hinauszuzögern. Damit ist der Körper letztlich zum Gegner geworden, den es zu besiegen gilt. Der Körper folgt aber einer eigenen Logik, die durch den Willen nur begrenzt steuerbar ist. Diese Logik kann man entweder respektieren und den Leistungsanspruch zumindest temporär herunterschrauben (läuft man über seine Verhältnisse, „habe ich die direkte Rückkopplung bekommen von meinem Körper, der gesagt hat, jetzt tut mir was weh, jetzt musst du wieder langsamer machen“). Die andere Möglichkeit besteht darin, auf die Anpassungsfähigkeit des Körpers zu hoffen – dass er sich doch unterordnen möge. So lässt auch die folgende Äußerungen zum Umgang mit der Schmerzgrenze auf eine ambivalente Körpersensibilität schließen: „Da muss dir der Körper dabei helfen, ihn zu überwinden. Diesen Punkt zu überwinden. Und ich glaube, das trainieren wir uns an. Und der Körper … irgendwann mal kommt der in so einen Zustand, wo er merkt, hoppla. Jetzt rennt der schon wieder durch die Gegend, jetzt muss ich da halt schon früher… Da kommt ja dann irgendwas.“

Die Person spricht von ihrem Körper als etwas Äußerlichem, den es zu manipulieren und instrumentell zu nutzen gilt („das ist mein Arbeitsmaterial und es muss funktionieren“). Gleichzeitig gilt der Körper als helfender Partner (der nur das Beste im Sinn hat). Dennoch soll er schlussendlich lernen, sich an steigende Belastungen zu gewöhnen, er wird als externes Medium dafür instrumentalisiert, die Leistungsgrenze nach oben zu schieben. Es geht also um Leistung, und dies ist für LeistungssportlerInnen selbstredend die zentrale Motivation ihres Tuns („zu schauen, wie weit bringe ich meinen Körper“). Ohne Fleiß kein Preis. Das ist aber auch eine Lebenseinstellung, nicht nur für LeistungssportlerInnen. Gerade beim Triathlon sind die Grenzen zum ambitionierten Breitensport fließend: 156

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„Ich denke mir auch manchmal, das schadet auch nicht, weil, weil wenn du irgendwas bewirken willst im Leben, musst du was dafür tun. Und das fällt dir nicht zu. Und, also wir sind welche, die halt einfach anpacken oder Arbeit sehen und dann ist ja auch immer dieses schöne Gefühl, auch wenn du geschafft bist, jetzt das geschafft zu haben. Das Resultat und das. Das finde ich eben auch bei dem, bei dem Sport schön.“

Eine Konsequenz davon ist, dass Wettkämpfe selbst nicht unbedingt mit Vergnügen verbunden sein müssen („Also ich muss sagen, Training finde ich jetzt wunderbar. Aber dass mir jetzt der Wettkampf, wo ich wirklich an die Grenzen geh, Spaß macht? Könnte ich jetzt nicht sagen.“) Wichtiger ist das Gefühl danach oder beim Zieleinlauf. Dann kann sich sogar Glück einstellen. Dann nämlich kommen die Bestätigung und die Befriedigung, geschafft zu haben, was man sich vorgenommen hat. Der Genuss stellt sich nach der Qual, nach der geleisteten Arbeit ein. Und wer nicht schmerznormalisiert, kann das Gefühl haben, nicht alles aus sich herausgeholt zu haben: „Nee, ich bin erst dann richtig zufrieden, wenn ich wirklich sage, ich hab mich gequält, es ging wirklich nicht mehr, ich hätte nicht mehr machen können. […] Und wenn ich aber keine solche Phase hätte, wo ich sage, ich hab jetzt ein Tief oder so. Dann denk ich mir: irgendwas hab ich falsch gemacht. Irgendwo hätte ich noch was rausholen können.“

Dafür müssen die AkteurInnen ihre Körper mit Hilfe klugen Trainings, mentaler Hilfestellungen und schließlich der Ausschüttung von Endorphinen dazu bringen, sich nicht vom Schmerz stoppen zu lassen. Das Bild ähnelt dem eines durch Endorphine erträglich gemachten Martyriums: Der Körper schreit nach einem Ende der Anstrengung und hält diesen Wunsch durch die Ausschüttung von Schmerz dämpfenden Hormonen auf einem aushaltbaren Niveau. Dieses endorphine Martyrium erinnert an die protestantische Arbeitsethik15: Genuss ist nur in Maßen erlaubt, und dann auch nur nach erfolgreicher harter Arbeit. Mehr noch: Das Tun ist dem erwünschten Ergebnis untergeordnet. Das Ergebnis ist auch und vielleicht vor allem ein Wissen. Nämlich das Wissen darüber, was man aus seinem Körper herausholen kann, welche Grenzen noch zu erreichen und zu überschreiten sind. Eine kognitive Angelegenheit also. Wie bei der Diskussion darüber, was als Schmerz bezeichnet werden kann und was nicht, geht es dann gar nicht primär um Empfindungen und Wahrnehmungen, sondern um die dahinter stehenden Werte des „schneller, weiter, höher“: Es ist nie genug, die Leistung ist immer noch steigerbar, die Schmerzgrenze kann immer noch weiter hinaus geschoben werden. Auch darin steckt 15 … und ist ebenso relevant im älteren Genre der christlichen Heiligen- und Märtyrergeschichten, wo dem Sieg des Geistes über den Leib eine zentrale Bedeutung zukommt (vgl. Sorgo 1997).

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ein Kampf um Definitionsmacht, um Kompetenz und Status: Schmerz ist negativ, er darf nur Mittel zum Zweck sein, und bei der gleichzeitigen Konstruktion von Normalität, Exklusivität und Heldentum ist eine Botschaft überdeutlich: Wir kontrollieren den Schmerz, er kontrolliert nicht uns! Die genuin soziale und identitätskonstituierende Pointe beim Schmerznormalisieren (Instrumentalisierung und Funktionalisierung für Leistungssteigerung, Ehre oder HeldInnenkonstruktionen) liegt im Oszillieren zwischen Exklusivem und Gewöhnlichem, Alltäglichem. Schmerz ist nicht einfach „geil“, ein endorphines Martyrium, Lehrmeister, Freund oder Feind, sondern ein Medium der sozialen Verortung und Positionierung zwischen Inszenierungen des Außergewöhnlichen und Einreihen in die Welt des üblich Anerkannten. Sportives Schmerznormalisieren bringt damit Identitätsimperative der Moderne auf den Punkt: weiter so, Augen zu und durch, und das alles als autonome Entscheidung. Die skizzierte moderne Bewältigung von Schmerz ist freilich keine unilineare „weiter-so-Dynamik“, sondern lässt sich sehr wohl als ambivalenten und paradoxen Prozess begreifen, der von Brüchen und Umschlägen gekennzeichnet ist.16 Diese Dynamik des „gemeinsam einsamen Aushaltens“ und des „den Kopf Hinhaltens“ für Leistung, Status und Ehre ließe sich auch durch die Figur des „gemeinsam Erlebens und Erleidens“ ergänzen. Dafür steht etwa die Angst der Corpsstudenten vor Schmerz, die sich leichter überwinden lässt, wenn man es für die Gemeinschaft, die Burschenschaft tut.17 Umgekehrt heißt das natürlich auch, dass man sich nicht lächerlich macht, „seinen Mann stehen möchte“. Schmerz wird sozial aufgefangen, schafft ein Zusammengehörigkeitsgefühl und damit Identität, Normalität. Damit will ich nach dem gegenwärtig zu beobachtenden body turn (vgl. Gugutzer 2005: 117-119) in der Soziologie keinen pain turn aus der Taufe heben (wobei sich dieser für eine Erweiterung soziologischer Zuständigkeit als durchaus gewinnbringend erweisen könnte). Zumindest aber könnte sich das vermeintlich a-soziale und negativ konnotierte Phänomen Schmerz nicht nur als mikrosoziologisches Scharnier zwischen Körper- und Sportsoziologie eignen, sondern auch als Mittel der Gesellschaftsdiagnose, zur Diagnose der modernen Gesellschaft. Denn sportives Schmerznormalisieren kann man auch als mitunter laut artikulierten Anspruch und Schrei nach kollektiven Bewältigung(sstrategien) deuten, die mehr sein sollen als das strategische Schmerzmanagement vereinzelter Ich-AGs.

16 So führt die Steigerung individueller (Auto-)Mobilität zugleich zu mehr Immobilität (Zunahme degenerativer Erkrankungen des Bewegungsapparats) und Stillstand (Stau auf Autobahnen) (vgl. Degele/Dries 2005). 17 Zur Bedeutung von sozialem Schmerz als Form der Empathie und Vergemeinschaftung vgl. Degele/Schirmer (2006).

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Männerkörper vergesellschaftet. Bew egungserfahrung als Körperkonstruktion als Bew egungserfahrung STEFAN BEIER

Dieser Beitrag befasst sich mit dem Zusammenhang von männlicher Körperlichkeit und Geschlechtsidentität, Bewegung und „Vergesellschaftung“ (Frigga Haug). Grundlage des Aufsatzes ist eine in Hamburg und Berlin durchgeführte qualitative Studie1, deren empirischer Fokus auf dem eigenleiblichen Bewegungsempfinden liegt. Die mit der Methode der Erinnerungsarbeit erarbeiteten Ergebnisse werden mit körpersoziologischen Konzepten neu gelesen, welche an Haugs Vergesellschaftungsbegriff anschließbar sind, jedoch die Verwobenheit von leiblichem Spüren, individuellem Handeln und gesellschaftlichen Strukturen theoretisch zu fassen versuchen: der Leibphänomenologie Gesa Lindemanns und dem Habitus-Konzept Pierre Bourdieus. Ausgehend vom konkreten Bewegungserleben der an der Studie beteiligten Männer werden zwei verschiedene Habitus identifiziert, die sich an unterschiedlichen bewegungskulturellen Systemen festmachen: dem des klassischen Wettkampfsports und dem von Körperarbeit und Tanz. Die unterschiedlichen „Diskurse und Praktiken“ (Foucault), die in diesen Systemen herrschen, generieren unterschiedliche Wahrnehmungsstrukturen, welche die Körperkonzepte und damit das Leiberleben der Akteure bestimmen. Am Beispiel dreier in der Studie herausgearbeiteter Aspekte männlicher Vergesellschaftung – dem ‚Leistungs- und Funktionsideal‘, der ‚Suche nach Anerkennung‘, und der ‚Selbstbeschränkung‘ – wird gezeigt, auf welche Weise das soziale Körperwissen eines bestimmten Umfeldes die habituellen Selbstkonstruktionen strukturiert und umgekehrt Männlichkeit als gesellschaftliches Paradigma hervorgebracht wird. 1

Entstanden im Kontext eines Universitätsseminars Geschlechtsspezifische Bewegungsentwicklung an der Universität Hamburg 1997/98.

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Geschlechtskörper und Bewegung Der menschliche Körper unterliegt in unserer Gesellschaft von Geburt an dem sozialen und kulturellen Zwang, ein Geschlechtskörper zu werden – zugleich wird er aber immer schon als ein solcher wahrgenommen. Diese Zweiseitigkeit von Wahrnehmen und Herstellen des Geschlechts knüpft sich wesentlich an das Prädikat der Authentizität, das unseren Körpern anhaftet. Körperliche bzw. leibliche Erfahrungen gelten als unhintergehbar und damit als Beweise geschlechtlicher Existenz. Soweit der alltägliche Kurzschluss. Mich interessiert, wie diese Erfahrungen gemacht werden, und zwar im doppelten Sinne: einerseits die Körper- und Leiberfahrungen, die Männer machen, und andererseits die gesellschaftliche Herstellung und damit auch Variabilität dieser Erfahrungen. Individuelles Handeln und gesellschaftliche Struktur stehen in einer ständigen Wechselwirkung, die jeden Ansatz verkürzt erscheinen lässt, der die Herstellung von Geschlecht nur von der einen oder der anderen Seite her zu denken versucht. Ich fasse also den Geschlechtskörper als das Ergebnis eines sich permanent vollziehenden Konstruktionsprozesses auf, in welchem sowohl die sozialen Strukturen sich in die Körper einschreiben als auch die Individuen durch ihr ‚Körperhandeln‘ diese Strukturen (re-)produzieren.2 Die ‚Unhintergehbarkeit‘ leiblicher Empfindungen ist ein wesentliches Moment der Wirkungsmacht geschlechtlicher Konstruktionen, denn sie verbirgt die Konstruiertheit hinter der lebensweltlichen Selbstverständlichkeit des LeibSeins. Gesa Lindemann hat diesen Zusammenhang in ihrer Arbeit über Transsexualität ausgiebig erforscht3, wobei sie sich auf die phänomenologische Unterscheidung zwischen Leib und Körper stützt, auf die auch ich zurückgreife. Diese Strukturierung des Leiberlebens durch und in sozialen Verhältnissen konstituiert unsere Körper nicht nur in der Attribution von Geschlecht über die so genannten Geschlechtsmerkmale, wie es Lindemann analysiert, sondern sie durchzieht auch den Alltag in vermeintlich geschlechtsunspezifischen Körperäußerungen. Eine der zugleich offensichtlichsten und verborgensten Körperäußerungen ist die Bewegung. Offensichtlich ist sie insofern, als jeder lebende Mensch sich bewegt, genau genommen sogar in jeder Sekunde seines Lebens. Und es gehört zum Alltagswissen, dass Bewegungen einen individuellen Körper ausmachen. Man kann Freunde am Gang erkennen und sich über ihre typische Mimik amüsieren, man merkt zuweilen, dass man bestimmte Dinge immer mit der einen und andere mit der anderen Hand tut, und man stutzt schließlich, wenn Menschen, die man für Männer hält, Bewegungen machen, die eigentlich Frauen zugeordnet sind. Verborgen ist die Bewegung insoweit, als sie aufgrund ihrer Selbstverständlichkeit selten thematisiert wird. Außerhalb von Sport und Bewe2 3

Einen unter diesem Leitgedanken stehenden Überblick über die Forschung zur Konstruktion des Geschlechtskörpers gibt Paula Villa (2000). Vgl. Lindemann (1992, 1994 und v.a. 1993).

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gungskultur, Therapie oder dem Erlernen spezieller Fertigkeiten wird Bewegung zumindest bei Erwachsenen nicht hinterfragt. Dabei ist davon auszugehen, dass gerade das alltägliche Bewegungshandeln in seinen feinen Strukturen einen immensen Einfluss auf unsere körperliche Konstitution hat. Man könnte vermuten, dass das auch wissenschaftlich bislang weitgehend unterbelichtete Phänomen menschlicher Bewegung den oben angesprochenen Verschleierungstaktiken der Authentizität anheim fällt, die unser System der Zweigeschlechtlichkeit bereithält: Bewegung macht Geschlechter und verwischt zugleich die Spuren ihrer Produktion. Umso spannender ist es, von diesen verborgenen Vorgängen, geheimen Codierungen, versteckten Mechanismen den einen oder anderen sichtbar zu machen. In der Forschung über Körper und Bewegung wird sehr viel von außen geschaut und wenig nach dem konkreten leiblichen Erleben der beforschten Menschen gefragt. Wir haben uns deshalb als Forschungsgruppe sozusagen mit Elan in das Leibliche geworfen. Die Gruppe bestand aus zunächst fünf, später vier Männern, und hatte zum Ziel, eigene Bewegungserlebnisse zu erforschen im Hinblick darauf, wie diese dazu beitragen, uns als Männer in die Gesellschaft einzubauen. Wir wählten dafür die Methode der Erinnerungsarbeit, die in den 1980er Jahren von Frigga Haug und einigen Kolleginnen vor dem Hintergrund der Kritischen Psychologie entwickelt wurde.

Vergesellschaftung und Erinnerungsarbeit Haug geht davon aus, dass wir uns in gesellschaftliche Strukturen „hineinarbeiten“, und zwar in Form von restriktivem Handeln, von Haug auch „Subjektion“ genannt (vgl. Haug 1991), d.h. von Handeln, welches situativ angemessen ist, aber die strukturellen Beschränkungen nicht wahrzunehmen erlaubt, innerhalb derer wir unsere Handlungsoptionen kreieren.4 Es funktioniert darüber, dass wir unser Handeln mit Bedeutung versehen und uns mithilfe der Kohärenz dieser Bedeutungen im Lebensverlauf eine stimmige Identität konstruieren. „Wir nehmen an, dass die Menschen im Prozess ihrer Vergesellschaftung die Gegebenheiten ihres Lebens so umbauen, dass sie selber darin einigermaßen widerspruchsfrei existieren können, oder in anderen Worten: handlungsfähig sind“ (ebd.: 15). In diesem Prozess der Selbstkonstruktion werden Diskontinuitäten der eigenen Biographie geglättet, indem Brüchiges, Widersprüchliches oder Schmerzhaftes vergessen, nicht wahrgenommen oder umgewertet wird. Dieser Prozess ist beeinflusst von gesellschaftlichen Bedeutungssystemen, die bestimmte Ideologien im Sinne von Interpretationsmustern der Wirklichkeit be4

Die gesellschaftliche Vermitteltheit subjektiver Handlungsbegründungen ist dem handelnden Subjekt nicht bewusst, es bleibt der Unmittelbarkeit der Situation verhaftet.

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reitstellen. Es etabliert sich ein „ideologisches Wissen“ (Haug 1990: 188) darüber, warum wir so sind, wie wir sind, d.h. eine von Alltagstheorien und kulturellen Selbstverständlichkeiten geprägte Selbstkonstruktion.5 Es liegt auf der Hand, dass solches Handeln genau die gesellschaftlichen Strukturen (re-)produziert, die seine Beschränktheit bedingen. Diese Verwobenheit von aktiver Aneignung und Produktion gesellschaftlicher Strukturen durch das Individuum nennt Haug Vergesellschaftung. Erinnerungsarbeit setzt nun genau an diesen ideologisch durchwirkten Selbstkonstruktionen an. „Unter Erinnerungsarbeit verstehen wir eine Methode, mit der wir auf der Grundlage schriftlich niedergelegter Szenen aus der Vergangenheit die Konstruktion, die man sich und seiner Bedeutung in der Welt gab, so bearbeiten, dass der blockierende Teil der Selbstwahrnehmung (wie auch die Wahrnehmung der übrigen Welt) neu zur Disposition steht“ (ebd.: 187, Herv. im Orig.). Das heißt konkret: Die Forschenden, die Erinnerungsarbeit betreiben, schreiben so genannte „Erinnerungsgeschichten“ zu einer vorher vereinbarten Fragestellung, d.h. sie schreiben ein Erlebnis aus ihrer Biographie möglichst detailliert auf (auch inklusive aller Gefühle, Gedanken, Atmosphären). Dieser Text wird dann gemeinsam bearbeitet, d.h. zuerst besprochen und dann eine schriftliche Bearbeitung („Interpretation“) erstellt. In unserem Fall wurden die Besprechungen sogar mitgeschnitten und grob transkribiert, die Transkripte nochmals besprochen. Danach nahmen wir „Deutungen“ vor: Jeder (auch der Autor) schrieb eine Deutung der vorliegenden Szene, d.h. er brachte seine Gedanken und Thesen über die Geschichte zu Papier, wobei durchaus auch Provokationen erlaubt waren. Die Deutungen wurden dem Autor gegeben, der seinerseits entschied, welche davon er für den weiteren Bearbeitungsprozess in der Gruppe zur Verfügung stellte.6 Die offen gelegten Deutungen wurden dann gemeinsam besprochen und aufgrund dieser Besprechung die schriftlichen Bearbeitungen erstellt.7 Die Bearbeitung in der Gruppe macht es möglich, die in den Erinnerungsgeschichten verborgenen Handlungsbeschränkungen aufzuspüren und neu zu be5

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Erhellende Beispiele, wie Ideologien ‚Sinn machen‘, finden sich in der Oldenburger Erinnerungsarbeitsgruppe, über die Jochem (1996) und Oertel (1996) schreiben – bspw. der Tänzer, der nicht schön tanzen zu können meint, weil Männer eben nicht schön tanzen können. Diese Zwischenschritte bieten Vorteile v.a. für Männer, denen die damit verbundene emotionale Öffnung zunächst schwer fällt – sie werden herausgefordert, behalten aber eine gewisse Kontrolle über das Tempo des Prozesses. Zur männerspezifischen Niedrigschwelligkeit eines solchen Ansatzes siehe auch Trio Virilent (1995, 2001). Danach ist methodisch meist das Schreiben weiterer Geschichten sinnvoll, auch um den emanzipatorischen Gehalt der Methode auszuschöpfen: Problemverschiebungen oder andere Problemzusammenhänge können helfen, dem Vergesellschaftungsprozess genauer auf die Spur zu kommen und das Handlungspotenzial nutzbar zu machen.

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trachten. Bei der Besprechung der Geschichten wird besonders auf scheinbare Nebensächlichkeiten, Lücken, Brüche oder Klischees im Text geachtet, weil dies oft die Spuren verschütteter Diskontinuitäten sind, die lebensgeschichtliche Konflikte und Beschränkungen der Handlungsfähigkeit markieren. Die Entdeckung solcher Spuren löst oft Ängste oder Widerstand bei der betreffenden Person aus, die diese Diskontinuitäten ja in ihrem Selbstbild – subjektiv begründet – geglättet hat. Die Vereindeutigungen, die sie daher auch im Text herstellt, sind genau die Beschneidungen von Handlungsfähigkeit, die es in Frage zu stellen gilt. Daher hat das Forschungskollektiv die wichtige Funktion, auf diese Stellen mit einer gewissen Beharrlichkeit aufmerksam zu machen und zugleich einen unterstützenden Rahmen zu bieten, in dem sich die betreffende Person öffnen kann. Die kollektive Form der Arbeit ermöglicht den gewissermaßen fremden Blick auf die eigene Geschichte, deren Konstruktion durch den Vergleich mit dem Erleben der anderen erhellt werden kann.8 Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen nicht die Persönlichkeiten der Forschenden, sondern Vergesellschaftungsstrukturen im Sinne allgemeiner Verarbeitungsweisen. Wie generell in der subjektwissenschaftlichen Forschung geht es letztlich nicht um die konkreten Handlungen Einzelner, sondern um die Vermitteltheit individueller mit allgemein-gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten.9 Es ist also notwendig, das Sich-Einbauen in die Verhältnisse unter der Frage des Allgemeinen zu untersuchen; zugleich aber führt nur die Betrachtung der je einzelnen Erfahrung dahin, die Bedingungen der Herstellung dieses Allgemeinen kennen zu lernen. Für Haubenreisser und Stöckmann ist diese Zweiseitigkeit des Forschens außergewöhnlich „in ihrer Unbescheidenheit, die eigenen Erfahrungen zum Ausgangspunkt von wissenschaftlichen Forschungsprozessen für wichtig genug zu halten, und gleichzeitig in ihrer Bescheidenheit, eigene Individualität eben nicht bloß für einmalig, sondern für tendenziell allgemein zu halten“ (Haubenreisser/Stöckmann 1993: 141). Die konkrete Fragestellung, zu der unsere Geschichten verfasst wurden, lautete: Als ich mich einmal so bewegt habe, dass ich emotional berührt war. Unser gemeinsames Interesse war, die Hinterlassenschaften persönlicher Bewegungsgeschichten in der Erinnerung aufzuspüren und herauszuarbeiten, wie sich dabei der jeweilige Akteur körperlich vergesellschaftet hat. Menschliche Bewegung hat grundlegend gesellschaftlichen Charakter und ist eine „Mög-

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Der Status von Erinnerungen ist in der Erinnerungsarbeit zwischen Vergangenheit und Gegenwart angesiedelt; sie sind zum einen als Ausdruck aktueller Selbstkonstruktionen gegenwartsabhängig, zum anderen haben sie von der Vergangenheit her einen Eigenwert, der sich eben im Prozess der Vergesellschaftung niederschlägt. Zu diesem Thema und der damit zusammenhängenden Frage von Verallgemeinerbarkeit siehe Holzkamp (1983a, 1983b, 1985) sowie Markard (1993a, 1993b).

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lichkeit der sinnlich-praktischen Vergesellschaftung der Menschen“ (Weinberg 1985: 60) – zugleich ist sie fast immer an Emotionen gekoppelt. Bewegungserfahrungen sind vermittelt zwischen der in einer Bewegung stattfindenden körperlichen Aktivierung und dem sich darin realisierenden sozialen Kontext. Diese Vermittlungen sind wesentlich für Begründungen subjektiven Handelns, stehen aber nicht bewusst zur Verfügung, sondern werden, „eingebettet in eine komplexe Reiz- bzw. Erlebniskonstellation, […] unbewusst mitgelernt“ (Blanke 1999: 17). Bewegungserfahrungen lagern sich auf diese Weise in die Bewegungen ein, so dass sie zum einen das Körperhandeln beeinflussen und sich zum anderen anbieten für einen erforschenden Zugang zum Körper – ein Umstand, den sich auch die verschiedenen Körperpsychotherapien zunutze machen. Es erweist sich allgemein als schwierig, konkrete Bewegungen und die mit ihnen verbundenen leiblichen Empfindungen überhaupt zu erinnern, so auch in unserer Gruppe. In den Geschichten sind exakte Bewegungsbeschreibungen eher selten, wobei es zwischen uns deutliche Unterschiede gibt, die nicht zuletzt mit unseren Habitus und unseren unterschiedlichen Selbstkonzepten zusammenhängen. Darüber hinaus ist natürlich eine Übertragung des körperlichleiblich Erlebten in Gedanken und Sprache erforderlich, welche die Dimension leibimmanenter ‚Erinnerungen‘ (etwa des Gewebes) nicht berücksichtigen kann. Wir haben uns zum einen damit beholfen, konkreter nachzufragen und den Autor noch mehr erzählen zu lassen, so dass auch die Besprechungen der Geschichten zur Quelle wurden. Zum anderen sind die Erinnerungen an die mit den Bewegungserlebnissen zusammenhängenden Gefühle und den gesamten Handlungskontext leichter abrufbar und geben durchaus Aufschluss über körperliche Vergesellschaftungsweisen.

Vergesellschaftung körperlich-leiblich Wie aber lässt sich der Prozess der Vergesellschaftung auf körperlich-leiblicher Ebene theoretisch fassen? Es gibt davon ein profundes Praxiswissen aus verschiedensten Bereichen, aber noch keine bündige Theorie. Wie geht es vor sich, dass in einem permanenten Konstruktionsprozess des geschlechtlichen Körpers sich soziale Strukturen in die Körper einschreiben und zugleich Individuen durch Körperhandeln diese Strukturen herstellen? Der Blick in körpersoziologische Theorien führt mich zunächst zu Pierre Bourdieu und seinem Konzept des Habitus. Steinrücke definiert ihn als „das Ensemble inkorporierter Schemata der Wahrnehmung, des Denkens, Fühlens, Bewertens, Sprechens und Handelns, das alle – expressive, verbale und praktische – Äußerungen der Mitglieder einer Gruppe oder Klasse strukturiert“ (Steinrücke 1988: 93). Der Habitus ist also die Grundlage für die gesamte gesellschaftliche Existenzweise eines Individuums, und zwar in Form einer sozial erworbenen, Körper gewordenen Struktur, die 168

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sein Denken, Fühlen und Handeln in gewissen Grenzen regelmäßig macht. Diese Struktur ist sowohl im biographischen Verlauf als auch im Handeln innerhalb verschiedener Lebensbereiche oder „Felder“ stabil – Bourdieu nennt sie daher auch „Systeme dauerhafter Dispositionen“ (Bourdieu 1979: 165). Ebenso wie Haugs Vergesellschaftungsbegriff versucht das Habitus-Konzept, den Vorgang der Verinnerlichung sozialer Strukturen durch das Individuum und die Herstellung ebendieser Strukturen durch individuelles Handeln zu fassen. Dabei ist der Habitus wesentlich körperlich, wobei der Körper als Speicher habitueller Strukturen, als Agens des praktischen Sinns und als Medium der Übertragung des Sozialen fungiert (vgl. Alkemeyer/Schmidt 2003: 89ff.). Für diese körperliche Dimension wählt Bourdieu den Begriff der „Hexis“10, in der frühere Erfahrungen und Informationen auf besonders stabile Weise verankert sind, weil sie sich nicht von dem Leib ablösen lassen, der sie trägt. Seine Äußerungen sind denn auch außerhalb jeder reflexiven Distanz; „er ruft sich nicht die Vergangenheit ins Gedächtnis, sondern agiert die Vergangenheit aus […]. Was der Leib gelernt hat, das besitzt man nicht wie ein wiederbetrachtbares Wissen, sondern das ist man“ (Bourdieu 1993: 135, Herv. im Orig.). Für unser Thema der Konstruktion geschlechtlicher Körper ist dieser Aspekt von besonderer Relevanz, denn unsere Körper werden Bourdieu zufolge durch eine fortwährende Formierungsarbeit „als Speicher von vergeschlechtlichenden Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien“ konstruiert (Bourdieu 1997a: 167). Die Hexis fungiert als „unauslöschliche Gedächtnisstütze“ (ebd.: 187), in die sich auf sichtbare und fühlbare Weise die Dispositionen des Habitus einschreiben. Körperhaltungen, Gesten und Posen, die wir automatisch als angemessen oder unangemessen für einen Mann oder eine Frau wahrnehmen, sind habituelle Konstanten, die zwar je nach Schicht, Milieu und kulturellem Kontext variieren, für das einzelne Individuum aber von konstitutiver Stabilität sind.11 Bourdieu führt seine Theorie nicht über diesen Punkt hinaus. Wie sowohl Alkemeyer und Schmidt (2003: 77) als auch Villa feststellen, bleibt er eine genauere Analyse der Prozesse, durch die das Soziale in den Körper kommt, ebenso schuldig wie eine systematische Konkretisierung der Begriffe „Leib“ und „Hexis“ (vgl. Villa 2000: 50). Der Leib ist jedoch für die Stabilität unserer Geschlechterkonstruktion eine entscheidende Dimension. Wie für Bourdieu ist er für Gesa Lindemann das Bindeglied zwischen Individuum und Sozialstruktur.

10 Hexis [gr.]: Haben, Innehaben, Beschaffenheit, Verhalten, Zustand, Gewohnheit 11 In der nahe liegenden Frage nach der Existenz eines Geschlechtshabitus ist Bourdieu zurückhaltend bis ablehnend (vgl. Bourdieu 1997b: 221ff.). Meuser (1998) und Brandes (2001, 2002) hingegen sprechen von einem „männlichen Habitus“, was Böhnisch m.E. zu Recht als verkürztes Verständnis der Habituskonzeption kritisiert (vgl. Böhnisch 2003: 63f.).

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Ihr phänomenologischer Ansatz12 unterscheidet zunächst zwischen Körper und Leib. Der Leib ist das Erfahrungszentrum des Individuums, der Ort des eigenleiblichen Spürens, der Mittelpunkt aller Empfindungen und damit ein absoluter Ort. Ein Jucken oder ein Schmerz zum Beispiel sind unmittelbar da und müssen nicht erst lokalisiert werden. Im Gegensatz dazu ist der Körper, der v.a. optisch-taktil wahrgenommen wird, ein relativer Ort und steht in Beziehung zu Anderem; er ist sozusagen vergegenständlichter Leib. Damit ist das leibliche Selbst auf die Umweltbeziehung bezogen, d.h. es erlebt sich reflexiv als ein die Umwelt erfahrendes Selbst. „Es erfasst sich und unterscheidet sich so von der Umwelt, der es als ‚Ich‘ gegenübertritt“ (Lindemann 1993: 29). Schmerz wird so nicht mehr nur unmittelbar empfunden, sondern in Beziehung gesetzt zu den Umständen seiner Entstehung. Der geschlossene Umweltbezug des Leibes wird durch den Körper aufgebrochen, wodurch die totale Verhaltenssicherheit des leiblichen Selbst verloren geht. Dabei entsteht der Bedarf nach einer „haltgebenden kulturellen Ordnung“ (ebd.: 30), die das leibliche Selbst in stabilem Umweltbezug wiederherstellt. Diese aufgebrochene und wiederhergestellte Leiblichkeit dient Lindemann in ihren Untersuchungen zur Transsexualität als zentrale mikrosoziologische Kategorie, da sich mit ihr die Form der Umweltbeziehung verstehen lässt, „die die Stabilität der alltäglich fortlaufenden Hervorbringung der Strukturen sozialer Wirklichkeit fundiert“ (ebd.: 32). Körper und Leib sind aber nicht einander gegenübergestellt, sondern zugleich da, mehr noch, sie sind entscheidend miteinander verschränkt. Der Körper vermittelt die Leiberfahrung nach außen und „bildet zugleich ein Empfindungs- und Verhaltensprogramm für den Leib, durch das dieser seine konkrete Gestalt erhält“ (ebd.: 33). Über den Körper wird also das Leiberleben sozial strukturiert; wie das Individuum wahrnimmt und empfindet, ist eine Frage der kulturellen und sozialen Ordnung und Situation. Während der Körper soziales Körperwissen ist, ist der Leib das subjektive Erleben dieses Wissens (vgl. Villa 2000: 190).13 Ein klassisches Beispiel aus dem Sport ist die Umwertung von Schmerz, die später noch einmal Thema sein wird. Wie funktioniert die Verortung des Sozialen im Leib konkret? Lindemann greift hier auf Schmitz’ Konzept der „Leibesinseln“ (Schmitz 1965: 26) zurück. Dies sind Stellen, die man leiblich, also von innen her spürt, ohne sie zu tasten oder zu sehen. Charakteristischerweise sind sie sehr individuell, wandelbar und prinzipiell labil. Wir spüren beispielsweise selten alle Stellen unse12 Lindemann rekurriert dabei v.a. auf Helmuth Plessner (1975) und Hermann Schmitz (1965, 1966). 13 Gugutzer (2004) kritisiert die Einseitigkeit des Lindemannschen Ansatzes und reklamiert die Möglichkeit des umgekehrten Einflusses von Leiberfahrung auf Körperwissen. Solange damit nicht eine Unhintergehbarkeit des Leibes postuliert wird, finde ich dies plausibel.

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res Leibes gleich stark und auch nicht jeden Tag gleich. Es kann mehr oder weniger Leibesinseln geben, sie können in dichterer oder dünnerer Verteilung im Leib vorhanden sein. Diese Veränderlichkeit ist der Ansatzpunkt für das soziale Körperwissen, den Leib zu strukturieren. Das Wissen um Körperformen und soziokulturelle Normen wird also zu einem Bestandteil der leiblichen Erfahrung, indem es dazu beiträgt, bestimmte Leibesinseln entstehen und andere verschwinden zu lassen. Gerade in Bezug auf Geschlecht spielt dieser Vorgang eine entscheidende Rolle, sind doch hier starke soziokulturelle Normen am Werk. Wir kreieren in dieser Hinsicht immer wieder ähnliche Erfahrungen, die zwar relativ stabile Leibstrukturen hervorbringen, andererseits aber doch ständiger Affirmation bedürfen (doing sex). Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen: Lindemann berichtet von einem Frau-zu-Mann-Transsexuellen, der seine Brüste nicht als solche wahrnimmt, d.h. diese Leibesinseln sind dauerhaft nicht ausgeprägt. Um dies nicht zu stören, gewöhnt er sich einen Gang an, der die Brüste nicht wippen lässt (vgl. Lindemann 1993: 53ff.). Sein ‚Wissen‘ um die korrekte Körperform führt dazu, seinen Leib entsprechend zu spüren. Der ehemalige Zehnkämpfer Norbert Hoischen schreibt in seiner Selbsterforschung: „Im Laufe der Jahre entstand durch diese Art Bewegungserfahrungen ein Entwurf der richtigen Bewegung, die, wenn ich sie einmal erlebte, sich sowohl harmonisch rund anfühlte als auch von außen her schön anzusehen war und häufig Bestleistung bedeutete“ (Hoischen 1983: 83). In diesem Zitat steckt ein ganzes Programm körperlicher Vergesellschaftung. Das Erlernen einer ‚richtigen‘, d.h. sportlich erfolgreichen Bewegung im jahrelangen Training, die Bewertung der Ästhetik dieser Bewegung durch reale oder vorgestellte Beobachter, und das eigene Spüren der Bewegung als harmonisch fallen in eins. Genau diese Verschränkung gesellschaftlicher Bewegungsvorgaben mit dem eigenen Körper- bzw. Leibempfinden ist das, was mich in der Forschung über Männerkörper und Bewegung interessiert.

K l e t t e r n , T a n z e n , Au s h a l t e n , F l i e h e n ? Wie bewegt sich der Männerkörper? Anhand der Erinnerungsgeschichten unserer Forschungsgruppe möchte ich nun einen Einblick in körperlich-leibliche Vergesellschaftungsprozesse von Männern geben. Die Originalgeschichten wären an dieser Stelle zu umfangreich, daher werde ich sie sinngemäß kurz skizzieren. Danach gebe ich eine kurze Analyse aus Sicht der Habituskonzeption, um dann drei Vergesellschaftungsaspekte herauszugreifen und anhand der Geschichten zu verdeutlichen.

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Bernd (der Kletterer) Er geht als unerfahrener Kletterer mit einem Freund auf eine Klettertour und weiß dabei um sein körperliches ‚Handicap‘: Er ist nicht schwindelfrei. Er ist ziemlich aufgeregt, als es losgeht, aber zuerst läuft alles problemlos. Trotz seiner Höhenangst nimmt er sich vor, ab und zu hinunterzuschauen, „um zu gucken, was mit ihm passiert“. Der leibliche Effekt: Er erstarrt vor Angst, klammert sich an den Fels und kann nicht weiterklettern. Danach muss er erst eine Weile nach oben schauen und sich selbst gut zureden, um wieder in Bewegung zu kommen. Einmal im Bewegungsfluss des Kletterns, spielt die Angst keine Rolle mehr, es ist, als würde sie ‚weggeklettert‘. Die beiden treffen auf eine extrem glatte Wand, mit der sogar der erfahrene Freund Schwierigkeiten hat; Bernd ist überzeugt, dieses Stück nicht schaffen zu können, findet aber dennoch, es schaffen zu müssen. Er kämpft gegen sich selbst und seine Angst an, benutzt gegen alle Kletterregeln auch die Haken als Schritt und Tritt, am Seil zieht sein Freund von oben. Zwischendurch denkt er, dass es wahrscheinlich lächerlich aussieht, was er da gerade macht, aber er schafft es und fühlt sich großartig. Albert (der Handballer) Er sitzt auf der Bank in der Sporthalle. Gerade hat seine Mannschaft das Viertelfinalspiel des Turniers verloren, das sie im letzten Jahr „sensationell und glorreich“ gewonnen hatte. Er ist sehr traurig, schweißnass und körperlich sehr erschöpft, denn außer den Spielen hat es auch einen „zweitägigen Alkoholexzess“ gegeben. Er hatte wochenlang auf das Turnier hingefiebert, nun war es einfach so vorbei, Schlusspfiff, aus. Es kommt ihm vor, wie aus einem Traum aufzuwachen: „Sonntag, müde und fertig, jeder Knochen tut weh, und irgendwie traurig, aber er weiß nicht genau, warum.“ Hannes (der Tänzer) Er studiert ein Jahr im Ausland und geht dort auf eine große Party, auf der er niemanden kennt. Nach einer Weile wird er von der Musik auf die Tanzfläche gelockt und kommt mit der Zeit in ein Tanzen, das er als „frei und wild“ beschreibt. Er findet sich schön und fühlt sich wohl, ganz im Gegensatz zum „eher verklemmten Tanzen“, das er von zu Hause kennt. Als er sich mit geschlossenen Augen ein wenig ausruht, piekt ihn ein Mädchen in die Brust und bittet ihn auf die Tanzfläche. Er ist begeistert und befangen zugleich und tanzt mit ihr – aber die Ausgelassenheit von vorher ist weg. Außerdem denkt er darüber nach, was sie wohl von ihm wollen könnte. Und während er denkt und denkt, wird die Frau von der Tanzfläche gerufen und verschwindet.

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Er ist zuerst traurig und fragt sich, was er falsch gemacht haben könnte, sagt sich dann aber, dass sie halt einfach nur mit ihm tanzen wollte und tanzt weiter. Seine gute Stimmung kommt wieder, er fühlt sich anerkannt und beflügelt. Jetzt läuft auch noch ‚seine‘ Musik und sein Tanzen wird noch ausgelassener als vorher. Er fühlt sich wie aus einer Enge befreit und wie ein anderer Mensch, der sich auch „mal traut, den Bodenkontakt zu verlieren“ und keine Rücksicht darauf nimmt, wie es aussieht. Irgendwann wird er sogar von Anderen an den Händen gefasst und tanzt mit ihnen im Kreis. Nikolaus (der geschlagene Sohn) Als er jünger war, haben sein Vater und er oft gestritten. Er ist ein „übermäßig lautes und anstrengendes Kind“ mit einem „Drang zur Wildheit“, was bei seinem Vater als Tyrannei ankommt. Nach einem Streit beim Abendessen zieht sich Nikolaus auf sein Zimmer zurück und schmollt. Der Vater möchte sich wieder vertragen, entschuldigt sich sogar und will nun, dass Nikolaus herauskommt und mit der Familie im Wohnzimmer fernsieht. Er ruft ihn mit versöhnlicher Stimme, aber der Junge bleibt stur. Sein Vater gerät wieder in Rage, kommt in sein Zimmer und zieht Nikolaus am Bein vom Bett. Der fällt dabei mit dem Hinterkopf auf ein Gipsschiff und schreit auf vor Schmerzen. Der Vater wird in seiner Hilflosigkeit noch wütender und gibt ihm mit seiner „Sturheit“ die Schuld. Der Junge flieht aus Angst vor Schlägen ins Badezimmer und verriegelt die Tür. Sein Vater donnert dagegen, der Türrahmen zersplittert und wutentbrannt steht der Vater im Bad. Er packt den Jungen, schreit ihn an und taucht seinen Kopf „wie ein Wahnsinniger“ immer wieder in die volle Badewanne. Schließlich kommt die Mutter herbei gerannt und schreit ihren Mann an, er solle sofort damit aufhören, was dann auch geschieht. Wenn ich im Folgenden über die vier Geschichten spreche, beziehe ich die Protokolle der ausführlichen Besprechungen mit ein.14 Dies gibt ein umfangreicheres Bild der Persönlichkeitskonstruktionen, die wir bei den Autoren vorfinden.

Habituelle Selbstkonstruktion In den Geschichten von Hannes und Bernd finden wir am ausführlichsten beschriebene Bewegungsvorgänge. Sie unterscheiden sich jedoch sehr in der Art und Weise, wie sie ihre Körper beschreiben und was sie über ihr Erleben erzählen. Bernd wählt einen tendenziell funktionsorientierten Wortschatz („den

14 Für die Originalgeschichten und die vollständigen Bearbeitungen vgl. Beier (2006).

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Körper in den Griff kriegen“). Die (äußere) Sinneswahrnehmung des Körpers in seiner Tätigkeit scheint bei ihm konstitutives Element der Körperkonstruktion zu sein, seine Terminologie wirkt teilweise medizinisch-naturwissenschaftlich („Rückentonus“; „kontrahierte Bauchmuskulatur“; „Linearität, die sich in jeder Muskelfaser widerspiegelt“). Lediglich bei der Beschreibung seiner immensen Höhenangst wechselt die Sprache teilweise hin zu eher leibbezogenen Ausdrücken („flaues Gefühl“; „Schweiß auf der Stirn“; „ich mag mich kaum bewegen und klammer’ mich an den Fels“). Interessanterweise sind diese alle mit seinem Angstempfinden konnotiert, so als ob die Angsterfahrung sich in Bernds Selbstkonstruktion dem ansonsten äußerlichen Zugang entzieht und ihrer leiblichen Unhintergehbarkeit entsprechend als inneres Erleben dargestellt wird. Solche Ausdrücke des leiblichen Empfindens finden wir hingegen bei Hannes recht häufig. Für ihn ist das eigenleibliche Spüren konstitutiver Bestandteil der Selbstkonstruktion, wobei der Körper zu einem Ort des Gefühlserlebens wird und fast schon eine eigene Sprachmacht hat. Er wird sehr beredt an den Stellen, wo er in Bewegung kommt, die Sprache wird dann geradezu poetisch und schwelgt in immanent mit Bedeutung versehenen Leibesempfindungen („sein Kopf wurde leichter, sein Brustkorb weiter“; „Arme flogen durch die Luft“; „sein Herz hüpfte mit“). Wo sich jedoch der Körper bedrängt, unsicher oder überfordert fühlt, schweigt er. Die Poesie des Textes verschwindet und macht Platz für passive und entpersonalisierte Beschreibungen („tanzte also mit dem gepunkteten Kleid“15, „einen zweiten, einen dritten Song tanzen“). Ohne hier eine genaue Untersuchung der Habitusformen leisten zu können, lassen sich dennoch habituelle Unterschiede zwischen den Autoren feststellen. Sie sind mit den unterschiedlichen bewegungskulturellen Systemen verknüpft, aus denen die beiden stammen. Bernd kommt aus dem traditionellen Wettkampfsport, wo das Körperverständnis eher zielorientiert ist und stets ausgerichtet an Tätigkeit und Funktion. Hannes hingegen ist in der Körperarbeit zuhause. Hier steht das Spüren im Vordergrund; es wird sozusagen daran gearbeitet, die Empfindungen des Leibes zu ‚hören‘ und ihnen Ausdruck zu geben. Die unterschiedlichen Diskurse und Praktiken, die in den beiden Systemen herrschen, generieren unterschiedliche Wahrnehmungsstrukturen (das soziale Körperwissen), welche wesentlich die Körperkonzepte und das Leiberleben der Akteure beeinflussen. Entsprechend wird ein unterschiedlicher „praktischer Sinn“ (Bourdieu) ausgebildet, sich im jeweiligen System zu bewegen. Wenngleich weniger deutlich in ihren Beschreibungen, so lassen sich doch Albert und Nikolaus in ähnlicher Weise diesen beiden Systemen zuordnen. Albert geht so in der Funktionalität des Systems Wettkampfsport auf, dass er auch auf Nachfrage von dort keine Leiberfahrungen beschreiben kann. Auch die Tatsache, dass er im Umfeld des Turniers eine wesentliche Organisationsrolle 15 Damit ist das Mädchen gemeint, welches das Kleid trägt.

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für das Team übernommen hatte, ist ihm nicht bewusst („er war ein Teil dieser Mannschaft und das war’s“). Erst als er jäh aus dem System heraus geworfen wird, treten Schweiß, Schmerzen und Erschöpfung ins Licht seiner Wahrnehmung („mit dem Schlusspfiff der Tonus runtergesackt, jetzt is’ ja eh egal“), werden aber retrospektiv wiederum als Merkmal einer immensen körperlichfunktionalen Betätigung gewertet. Nikolaus hat sich ähnlich wie Hannes als Erwachsener dem System Körperarbeit verschrieben, erweitert um eine körpertherapeutische Dimension. Beispielsweise interpretiert er sein Gefühl eines „oft ganz angespannten Brustkorbes (wie ne Eisenwand)“ als „Rückzug in sein Körperinneres und Schutzschild vor dem Herzen“. In den Besprechungen zeigt er einen Zugang zum Leib, der dessen Empfindungen ein hohes Gewicht gibt und sie geradezu als Merkmale seiner Persönlichkeit schätzt bzw. mit ihrer bewussten ‚Bearbeitung‘ seine Persönlichkeitsentwicklung vorantreibt. Gemeinsam ist allen Autoren, dass sie ihren Körper als Ort des Erlebens betrachten, nur auf je andere Art. Hannes sucht die ‚innere Sprache des Leibes‘ und verbindet dies mit Weichheit und Empfindung; ähnlich Nikolaus, der hierüber seine selbstempfundenen Beschränkungen überwinden will. Bernd möchte die Selbstwirksamkeit seines Körpers in Bewegung und Interaktion mit der Umwelt erleben; ähnlich Albert, der darüber allerdings fast selbstverständlich in seiner Funktion als Teamspieler aufgeht.

Leistungs- und Funktionsideal Ein aus Männerforschung und praktischer Männerarbeit wohlbekanntes Phänomen finden wir in den Erinnerungsgeschichten wieder: die Orientierung von Männern an Leistungsanforderungen und Funktionalität. Albert, Bernd und Hannes sind auf je eigene Art Erfüller von Aufgaben, für die ihr Körper funktional oder dysfunktional ist. Der Rahmen des Systems Handballturnier, in das sich Albert temporär hineinbegibt, lässt ihn gewissermaßen seinen ‚Alltagskörper‘ vergessen und ‚Systemkörper‘ werden – Funktionsträger des Spielens und Feierns. Retrospektiv erscheint er in dieser Zeit als ‚purer Körper‘, denn sein Leibempfinden bleibt völlig im Verborgenen. Seine einzigen Aussagen sind, dass er die Zeit vergessen und sich jünger gefühlt habe und dass er während der Spiele sehr zielgerichtet gewesen sei. Konkrete leibliche Empfindungen erinnert er nicht. Erst als die Zielorientierung des Systems weg bricht und er urplötzlich aus dem Traum heraus geworfen wird, kommt der Leib wieder zum Vorschein. Albert empfindet Schmerzen, Schweiß und Erschöpfung und reflektiert zugleich, worauf sie zurückzuführen sind, d.h. Leib(erleben) und Körper(reflexion) sind zu gleicher Zeit präsent.

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In der Lindemannschen Terminologie gesprochen, bilden sich jetzt Leibesinseln des Schmerzes aus („jeder Knochen tat weh“), die vorher nicht da waren. Die Schmerzen werden negativ verbucht, im Gegensatz zu früheren Erlebnissen, bei denen sie als Insignien des Erfolges erlebt wurden. Aber Albert war nicht erfolgreich, weder mit der Mannschaft, noch aufgrund individueller Leistung. Hier zeigt sich ein im männlichen Sporttreiben höchst verbreiteter Mechanismus körperlicher Vergesellschaftung. Schmerzen können ignoriert bzw. leiblich nicht wahrgenommen werden, wie offenbar von Albert während des Turniers; sie können aber auch durchaus positiv geduldet oder sogar erwünscht sein, wenn sie als ‚Nachwehen‘ oder Male der Leistungsfähigkeit einzuordnen sind. In ähnlicher Weise äußert auch Bernd, dass er nicht aufgegeben hätte, bevor er nicht mindestens einmal ins Seil gefallen wäre und sich wehgetan hätte. Mit den Schmerzen oder Verletzungen kann ein Erfolg bestätigt wie auch ein Misserfolg gemildert werden. In Alberts Fall schlägt dies auf die Gegenseite um, da sich mit dem Ende des Traumes auch dessen Untauglichkeit für den Alltag erweist. Die Schmerzen erfüllen jetzt keine positive Funktion, also bekommen die entsprechenden Leibesinseln einen anderen Charakter, das Schmerzempfinden verbindet sich stattdessen mit negativen Emotionen: „Aber da war es so, dass ich gar nicht wusste, wie ich das jetzt noch retten sollte, dieses Wochenende.“ Sich aufgeben scheint das Einzige zu sein, was nun übrig bleibt und am eigenen Leib erfahren wird. Bernds Körper soll auch bei außergewöhnlichen Belastungen standhalten und verlässlich sein. Dies hat er in seiner Biographie immer wieder getestet. Ein Merkmal dieses Anspruches ist die in seiner Erinnerungsgeschichte angelegte Inszenierung von Wille gegen Körper.16 Sich zusammenreißen, durchbeißen, selbst besiegen. Diese Zielorientierung im Sportreiben und das damit verbundene instrumentelle Verhältnis zum eigenen Körper findet er zwar eigentlich nicht erstrebenswert, greift aber immer wieder darauf zurück. Die Bewältigung seiner Höhenangst beim Klettern geschieht denn auch so: er muss seinen Körper „in den Griff kriegen“, der ja sonst „nicht so funktional“ wäre. Nun hilft ihm interessanterweise die Bewegungsaktivität dabei, die Angst ‚wegzuklettern‘. Er spürt sich in seiner Selbstwirksamkeit und genießt die Bewegung, wenn es „geht wie geschmiert“ und er „ganz flüssig da hochklettern kann“. Die absichtliche Konfrontation mit der Angst, die zu seiner Aufgabenbewältigung gehört, lässt sich so sehr viel leichter ‚managen‘ als im Alltag. Die zweite, noch konkreter mit dem leiblichen Empfinden verbundene Komponente ist das Spüren der eigenen Muskelkraft. Obwohl seine Selbstbeschreibung eher körper- als leibbezogen ist, lassen sich zumindest die Stellen ausmachen, an denen Bernd sich vorrangig spürt: Die Bauchmuskulatur und die

16 Auch dies scheint ein typisches Element des Sporttreibens von Männern, vgl. Laitinen/Tiihonen (1990: 193f.).

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Muskeln der Hände bzw. Finger. Dies sind die Leibesinseln, die sich im Moment des Kletterns herausbilden und sich verdichten, wenn es besonders schwierig und anstrengend wird. Dass er seine Kraft an diesen Stellen des Leibes spürt, gibt Bernd die Gewissheit, dass er es schaffen wird. Diese Gewissheit ist zwar reflexiv, d.h. eine des Körpers, wahrscheinlich korrespondiert damit aber auch eine Art Leibempfinden der Unbedingtheit. Bernd motiviert sich mehr oder minder bewusst mit dieser Wahrnehmung von sich selbst, wobei er kulturelle Bilder bemüht, die der Muskelkraft besonderen Ausdruck verleihen sollen, die Klischees der „Stahlfinger“ oder des muskulären „Cliffhanger“ beispielsweise. Über die so immer wieder aktivierte Kraft- und Bewegungserfahrung bildet sich, so darf man vermuten, ein stark an muskuläre Wahrnehmung gekoppeltes Leibempfinden heraus. Die Aufgabe, mit der Hannes seinen Körper betraut, ist anderer Art. Er soll den Kontakt zur Tanzpartnerin ‚funktionierend‘, d.h. im Sinne vermeintlich üblichen Ablaufs gestalten, denn das nimmt Hannes selbstverständlich als seine Verantwortung an. Geradezu reflexartig verstrickt er sich in Flirterwartungen und -ängste und überfrachtet damit die Kontaktsituation. Sein Leib, so scheint es, kann diese Vorgaben nicht umsetzen und reagiert mit einer Hemmung des Bewegungsflusses, sein Tanzen fühlt sich „nicht mehr so frei und ungezwungen an“. Prompt empfindet Hannes das Weggehen der Frau als eigenes Scheitern. In seinem Habitus markiert dies ein generelles Dilemma. Einerseits soll sein Körper/Leib Erlebnisort und Schönheitsproduzent sein, was er über weite, raumgreifende Bewegungen herstellt. Diese machen ihn „freier“. Andererseits sind sie aber auch eine Art Fassade („Tanzkörperhülle“), die in dem Augenblick zerfällt, wo er Kontakt machen soll/will. Das wiederum beengt ihn, macht ihn also in seinen Augen unattraktiv. Die Männersportforschung hat Rigorosität im Umgang mit dem eigenen Körper und Normierung des Körperverhaltens durch Zielvorgaben des bewegungskulturellen Systems bereits als verbreiteten Standard der ‚Sportlermännlichkeit‘ analysiert.17 An unseren Ergebnissen ist darüber hinaus zweierlei interessant. Zum einen ist die Leistungsfähigkeit streng kontextgebunden wie z.B. in Alberts Fall. Er setzt seine Fähigkeiten, ein nettes Rahmenprogramm für die Mannschaft zu organisieren (und so auch für sich zu sorgen), nur innerhalb des Turnier-Systems ein, obwohl er sie auch übertragen könnte. Zum Zweiten muss die Zielvorgabe gar nicht unbedingt an der Frage von Sieg oder Niederlage ausgerichtet sein. Auch im Kontext des nicht wettkampforientierten Freizeit-Tanzens gibt es systemimmanente Vorgaben, deren Erfüllung der Akteur als Leistungsanforderung verinnerlicht hat.

17 Vgl. hierzu u.a. Blanke/Wernicke (1997), Connell (1999), Hoischen (1983), Messner (1987, 1992), Messner/Sabo (1990) und Wernicke (1997).

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S u c h e n a c h An e r k e n n u n g Die Sehnsucht nach Anerkennung durch Andere oder auch durch sich selbst ist in den Geschichten der Männer allgegenwärtig; dies lässt sich auch in der Oldenburger Männergruppe (s. Fußnote 5) feststellen, bei der das Tanzen und die Schönheit des Körpers wichtige Themen waren. Hannes verknüpft diese beiden Themen mit seinem Selbstwertgefühl als Mann. Dazu gehört es, „schön tanzen“ zu können statt „grau am Rand zu stehen“. Obwohl er beim Tanzen sich selbst nur sehr begrenzt sehen kann, findet er zu Beginn des Ereignisses (bevor er die Frau trifft), „dass es gut aussieht, wie er tanzt“. Hier verquicken sich das eigenleibliche Spüren, das Sehen der eigenen Bewegung und die Vorstellung eines Fremdblicks geradezu unauflöslich. Die Kontaktaufnahme durch die Frau, durch die er sich sehr anerkannt fühlt, führt er auf ebendieses Tanzen zurück – umso dramatischer ist es für ihn, dass im konkreten (und erwünschten) Kontakt genau dies verloren geht: die Attraktion für Andere und das angenehme Leibgefühl. Dieses bereits erwähnte Dilemma, das er mit dem Begriff „Tanzkörperhülle“ benannt hat, verweist darauf, dass er nur bestimmte Seinsweisen seines Körpers für sozial anerkennenswert hält und diese äußerlich herzustellen versucht – zumindest im ungeschützten Kontext einer öffentlichen Party. Gerade im antizipierten Fremdblick liegt ein zentrales Merkmal körperlicher Vergesellschaftung. Alle Männer der Gruppe kannten dieses Phänomen von vielerlei Gelegenheiten. Ein imaginäres Schiedsgericht sorgt für eine vorweggenommene Außenbewertung unserer Bewegungen – eine vermeintliche Jury, die unser Körperverhalten beurteilt und uns mitteilt, ob es ansehnlich oder zumindest tolerabel ist. Der Abgleich mit diesem verinnerlichten ‚sozialen Auge‘ geschieht – meist unbewusst – in Sekundenschnelle und setzt sich im gleichen Moment in leibliche Bewegung um. Der dem innewohnende kurze Moment reflexiven Körperseins reicht aus, um das soziale Wissen um den ‚richtigen Körper‘ zu inkorporieren bzw. dessen ohnehin vorhandene Verinnerlichung zu aktualisieren. Das „Empfindungsprogramm“, welches nach Lindemann dem Leib hier vorgegeben wird, könnte man daher auch Vergesellschaftungsprogramm nennen. Die sozialen Strukturen bzw. kulturellen Normen werden individuell ‚verleiblicht‘, ohne dass für das Individuum eine abweichende Möglichkeit denk- und vor allem spürbar wäre. Auch unser Kletterer Bernd stellt sich mitten in der heiklen Kletterstelle Leute am gegenüberliegenden Hang vor, die sich über seine Kletterkünste „wahrscheinlich schieflachen würden“. Seine „angespannten Muskeln“ und „abstehenden Adern“ jedoch bestätigen ihn als kraftvollen, leistungsfähigen Mann. Dahinter stehen ganz offensichtlich kulturelle Bilder vom attraktiven Männerkörper, die so sehr verinnerlicht sind, dass Bernd völlig überzeugt ist, bei jenem Kletterereignis ein cooles, Muskel betonendes Trägershirt getragen

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zu haben, bis ihm bei der Besprechung einfällt, dass er bloß ein ganz normales Fleece-Shirt anhatte. Die Anerkennung unserer selbst ist damit generell an die soziale Struktur geknüpft, ohne dass es explizite positive oder negative Sanktionierungen des Umfeldes gibt. Vielmehr funktioniert sie über die Macht des verinnerlichten Fremdblicks, wie sie Foucault bei der Analyse des Benthamschen Panopticons beschrieben hat.18 Es ist nicht entscheidend, dass man tatsächlich (hier: wertend) beobachtet wird, sondern dass man beobachtet werden könnte. Foucault fasst die Wirkung dieser Internalisierung so zusammen: „Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus […], er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung“ (Foucault 1994b: 260). Die internalisierten Bewertungsmuster wirken dann als produktive Macht ganz im Sinne Foucaults, indem sie gesellschaftsfähige Körper herstellen, die von ihren ‚Inhabern‘ selbst als schön, leistungsfähig, sexy usw. empfunden werden. Die Problematik wird nicht gerade einfacher dadurch, dass es in der Realität durchaus positive und negative Sanktionierungen von Körperbewegung(en) gibt, gerade im Bereich des Tanzens für Männer. Hannes und Nikolaus haben in ihrer jüngeren Vergangenheit mehrfach die Erfahrung von Abwertung ihrer Tanzstile durch Andere gemacht. Gerade Hannes sucht andererseits aber auch die positive Bewertung von Außen, so dass für ihn das Tanzen zu einer ständigen Gratwanderung zwischen der Suche nach Anerkennung und der Emanzipation davon wird. Je nach bewegungskulturellem Setting (Disco oder Körperarbeitsworkshop) differieren dabei sowohl die als soziabel empfundenen Bewegungen und Körperäußerungen als auch das Maß des Strebens nach dieser sozialen Anerkennung. Den gleichen Unterschied finden wir bei Nikolaus heute, der ja einen ähnlichen habituellen Hintergrund hat. In der Contact Improvisation fühlt er sich tendenziell sicherer und angenommener als anderswo und erlaubt sich sowohl „zärtliche“ als auch „unkontrolliertere“ Bewegungen, die in einem anderen Kontext seiner Erfahrung nach provozieren oder Ablehnung hervorrufen würden. Bei seiner Geschichte wird noch eine weitere Problematik sichtbar. Sein inneres Schiedsgericht ist höchst komplex und setzt sich aus teilweise einander widersprechenden Instanzen zusammen: dem Vater, den Eltern, der Peer Group und seiner selbst. Seine „Wildheit“ kommt bei den Eltern nicht gut an, wohl aber bei den coolen Jungs in der Schule, um nur einen der Widersprüche zu nennen. Verstrickt in konträre Vergesellschaftungsprogramme, liegen Bewegungsimpulse von Aus-sich-Herausgehen und Zurückhalten in permanentem Widerstreit, dem Nikolaus bis heute nur mühsam entkommt. Die Anerken18 Vgl. Foucault (1994a: Kap. 3.3). Das Panopticon ist eine Überwachungsarchitektonik, die es ermöglicht, dass jeder Insasse der Anstalt potentiell zu jeder Zeit gesehen werden kann.

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nungsstrukturen in Alberts Fall sind hingegen recht eindeutig, was daran liegt, dass er sich bewusst in ein vereindeutigtes Feld begeben hat, das seiner alten Handballwelt nämlich. Hier begegnet ihm die Wertschätzung der Leute, die ihn von früher kennen und auch so behandeln. Prekär wird daher die Situation erst, als dieses System der Vergangenheit nicht mehr funktioniert, die alten Selbstverständlichkeiten zur Disposition stehen und er sich auf einmal alleine in sein Heute zurückgeworfen fühlt.

Selbstbeschränkung In drei unserer Geschichten artikulieren die Autoren ein Leiden, welches sich mit Holzkamps Kategorie der Handlungsfähigkeit als Selbstbeschränkung der Individuen begreifen lässt.19 Ihr Verhalten ist zwar in der Situation für sie funktional, schränkt aber insgesamt ihre Lebensqualität ein. Charakteristisch ist dabei, dass die Männer keinerlei Sinn für die eigene Handlungsmacht zu haben scheinen. Sie begreifen sich in der Situation nicht als handelnde Individuen, die aktiv ihr Tun im sozialen Umfeld gestalten. Alberts Handlungsblockade wird daran deutlich, dass er nach dem enttäuschenden Schlusspfiff keinen Zugriff mehr auf die aktive und wichtige Rolle hat, die er im Kontext des Turniers gespielt hatte. Seine organisatorischen Fähigkeiten, sein Engagement, das Wochenende für sich und die Mannschaft schön zu gestalten, scheinen sich nach dem Ende des Spiels in Luft aufzulösen. Während er bis dahin selbstverständlich aktiv und sorgend war, greift im Moment des Übergangs vom ‚kollektiven Bewegungstraum‘ ins Alltagsleben sein übliches Selbstkonzept, in dem er sich eher als Teilnehmer denn als Akteur versteht. Er lässt mit sich geschehen, anstatt auch hier für sich zu sorgen und trotz allem einen gemeinsamen Abschluss zu finden; schließlich gab es früher „oft die besten Feiern nach Niederlagen“. Die Trauer ergreift geradezu leiblich von ihm Besitz und lässt ihn lethargisch werden. Seine ihm innerhalb des Systems Handball selbstverständlich zur Verfügung stehende Handlungsfähigkeit kann er nicht in den Alltag transponieren. Die sehr regulierte Struktur des Turniers mit seinen Ritualen und eingespielten Interaktionsmustern eines bestimmten Typs von Männlichkeit („Alkoholexzess“) stellt für ihn in diesem Moment des Übergangs keine Handlungsoption bereit, die ihm mit seiner Trauer umzugehen ermöglicht. Hannes scheint zunächst sehr handlungsmächtig. Das „freiere und wildere“ Tanzen empfindet er als Emanzipation gegenüber früheren Situationen. Dass es sich jedoch auch um die Umsetzung von Bewegungsvorgaben des imaginären Schiedsgerichts handelt und nicht um eine Loslösung von dessen Krite19 Vgl. hierzu insbesondere Holzkamp (1983a, 1990) sowie Maretzky (1990).

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rien, zeigt sich im zweiten Teil der Geschichte. Hier sind plötzlich andere Bewegungen verlangt; das so attraktive großräumige, ausladende Tanzen mit Sprüngen und Drehungen scheint nicht angemessen, um den Kontakt zur Mittänzerin zu gestalten. In dieser paradoxen Anordnung verwandelt sich sein vorheriges Wohlgefühl in Beklemmung – der leibliche Ausdruck dessen ist, dass er keine freie Bewegung mehr fühlt, sondern regelrecht gefangen ist in einem beengenden Kontakt. Die Selbstbeschränkung besteht darin, eine Situation, an der er eigentlich interessiert ist, nicht nach den eigenen leiblichen Bedürfnissen zu gestalten, obwohl das durchaus möglich wäre. Hannes hält tapfer mehrere Songs lang aus, denn er meint den Kontakt irgendwie managen zu müssen, ist aber nicht imstande, sich aus dieser Struktur zu lösen. In seiner Eigenart der „Tanzkörperhülle“ steckt eine doppelte Beschränkung. Er ist in seinem Bewegungsverhalten beschränkt, weil er bestimmte Bewegungen erzeugen muss, um den gewünschten attraktiven Körper herzustellen. Wenn dies gelungen ist, empfindet er leiblich das Gegenteil von Beschränkung, nämlich Befreiung und Freude. Zu gleicher Zeit jedoch schränkt dieses Körperprodukt seine ersehnten Kontaktmöglichkeiten ein, indem es ihn gerade in seiner Attraktivität unnahbar macht. In der Regel wird diese Beschränkung nicht wahrgenommen, sondern Hannes erlebt sich als „befreit“ und „schön“ tanzend. Nikolaus wiederum fühlt sich heute oft so, als sei die verinnerlichte Sanktionierungsmacht von früher immer noch am Werk. Er spürt „noch denselben Drang zur Wildheit“, empfindet aber seine Bewegungen als „sehr kontrolliert“ und hat „sehr große Angst, sich seinem Bewegungsfluss hinzugeben“. Dieses Erleben des eigenen leiblichen Selbst als ‚zurückgezogen‘ beruht auf einem spezifischen Körperwissen und dem soziokulturellen Kontext, in dem er sich heute befindet. Wenn er von heutigen Freunden die Rückmeldung bekommt, er erscheine zurückgezogen, offenbart sich darin deren Körperzugang als deutlich unterschieden von dem seiner Familie, in der ein „ruhiges“ Körperverhalten erwünscht war. In der gleichen Weise war das „übermäßig laute und anstrengende Kind“, als das er sich im Text einführt, eine Fremdbeschreibung von Verwandten und zunächst nicht sein eigenes Empfinden. Er hat in seiner Kindheit gelernt, leibliche Spannungen auszuhalten. Wenn er seine heutige Anspannung ‚wie eine zweite Natur‘ empfindet, naturalisiert er diesen leiblichen Zustand („Körperpanzer“), auch wenn er ihn als gewordenen begreift. Dieses Konzept strukturiert als Empfindungsprogramm seine Selbstwahrnehmung und wird ihn immer wieder auf diesen Spannungszustand zurückführen, ähnlich wie Bernd immer wieder die leibliche Selbstbestätigung in seiner Kraft sucht. Entsprechend bindet er sich emotional (und vermutlich auch leiblich) an Beschränkungen seiner Vergangenheit, auch und gerade wenn er sie reflektiert und zu überwinden sucht. Zu guter Letzt gibt es noch einen weiteren Mechanismus der Selbstbeschränkung: den der Scham. Bei Nikolaus führt die Scham über seine Familie 181

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dazu, dass er als Junge seine Gewalterfahrungen niemandem anvertrauen kann, von seiner jüngeren Schwester einmal abgesehen. Damit ist ihm eine Möglichkeit verbaut, Wege aus diesen Zwangsverhältnissen zu finden und seine Handlungsfähigkeit zu erweitern. Bei Hannes tritt ein Gefühl von Scham bzw. Peinlichkeit während der Besprechung seiner Geschichte auf. Ihm ist das Pathos der Formulierungen in Teilen des Textes peinlich. Dahinter verbirgt sich, dass dort etwas für ihn emotional sehr Schönes passiert war, was zu beschreiben aber ein inneres Verbot in ihm wachruft: das Verbot, stolz zu sein, sich toll zu finden und an sich selbst zu erfreuen. Die Darstellung einer traurigen Situation wäre ihm sehr viel leichter gefallen und hätte einem für ihn typischen Selbstbeschränkungsmuster entsprochen: dem Sich-klein-Machen. Eine nach „innen gerichtete, leicht gekrümmte Haltung“ entspricht denn auch eher seinem alltäglichen Leibgefühl als die Aufrichtung in seine körperliche Größe. Genau jenes Haltungs- und Bewegungsmuster hatte er aber zum Ende seines Erlebnisses hin durchbrochen. Als die neue Qualität dieser Erfahrung während der Gruppenreflexion bewusst wird, setzt ein für den Prozess der Erinnerungsarbeit ganz typischer Mechanismus ein. Eine Erweiterung der Handlungsfähigkeit führt oft über den Weg von Angst, Scham oder Unsicherheit über das Neue, das vor einem liegt.

Zusammenfassung Das Beispiel der Scham ist für mich ein eher überraschendes Ergebnis der Studie. Es zeigt, dass im Vergesellschaftungsprozess von Männern Mechanismen am Werk sind, die sich unmerklich in die Körper einschreiben, sowie Verhaltens- und Bewegungsmuster generieren, denen nur mühsam auf die Schliche zu kommen ist – in Hannes Beispiel gar nur auf indirektem Weg über ein Unbehagen während der Besprechung seiner Geschichte. Die durch die Scham versteckten Anteile der Persönlichkeit finden keinen Platz im Leben der Akteure, es scheint kein Weg auf, wie sie integriert werden könnten und mehr noch, sie werden in der Regel überhaupt nicht wahrgenommen. In beiden Fällen sind die Männer verstrickt in gegensätzliche Erwartungsmuster, die sie an sich gestellt sehen. Dies scheint mir häufig der Fall zu sein, wenn sich Momente von Handlungsbeschränkung zeigen. Daraus resultierende konträre Vergesellschaftungsprogramme, die ein Akteur gleichzeitig zu erfüllen versucht, führen oft zu einer regelrecht leiblichen Lähmung, wie wir an obigen Beispielen, aber auch bei Albert gesehen haben. Die Paradoxie der Anordnung ist dem Handelnden nicht bewusst, was eben seine „restriktive Handlungsfähigkeit“ ausmacht. Generell wird deutlich, wie Vorgaben des sozialen Umfeldes, seien sie explizit oder nur imaginiert, verleiblicht werden. Das reicht vom Abziehbild des muskulären „Cliffhanger“, dem Bernd trotz aller Klischeehaftigkeit nacheifert, 182

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um sich selbst körperlich zu motivieren, bis zum verschämten Nikolaus, der sein Opfersein als Junge bis heute in zurückgehaltenen Bewegungen versteckt. In einer konkreten Bewegungssituation (am deutlichsten sichtbar bei Hannes) geschieht offenbar ein blitzschneller Abgleich des eigenleiblichen Spürens mit der Imagination des sozial anerkennenswerten Körpers und wird im gleichen Moment in Bewegung umgesetzt. Auf diese Weise wird Bewegungserfahrung zur Konstruktion des eigenen Körpers, und zugleich strukturiert die Körperkonstruktion (das „Körperwissen“) die leibliche Erfahrung, die wir machen. Als Indikator für diese Prozesse können die „Leibesinseln“ betrachten werden, die sich im jeweiligen Moment ausbilden, sei es die Armmuskulatur (Bernd) oder der angespannte Brustkorb (Nikolaus). Auch hier – und das macht diese Vergesellschaftungsvorgänge so wirkungsmächtig – nimmt der Akteur den Prozess nicht bewusst wahr, weswegen für ihn auch keine Alternative körperlichleiblich spürbar werden kann. Alle Beteiligten fühlen sich durch ihre Bewegungserfahrungen in ihrem Mannsein ‚bestätigt‘ (sei es positiv bewertet im Sinne von Erfolg oder negativ als Scheitern) und produzieren damit wiederum Männlichkeit als gesellschaftliches Paradigma. Ihre Körper sind Erfüller von Aufgaben, im Wettkampf oder im Kontaktverhalten, sind funktional oder dysfunktional – und daran bemisst sich das Selbstwertgefühl als Mann. Entsprechend ist Bewältigung ein Kernverhalten für sie: Leistungsanforderungen, Belastungen, Angst, Bedrohung – das alles will bewältigt sein. Es lässt sich jedoch nicht alles hierauf reduzieren – den Männern ist auch eine große Sehnsucht nach sozialer Anerkennung gemein, die sie als die Menschen wertschätzt, die sie gerade sind. Die Anerkennungsstrukturen differieren dabei beträchtlich – je nach Habitus und bewegungskulturellem Setting. Es ist eine knifflige Aufgabe, die Handlungsbeschränkungen bewusst (oder gar leiblich spürbar) zu machen, die so generiert werden. Erinnerungsarbeit ist insofern eine Herausforderung, hat aber auch großes Potential, persönlich wie politisch. Es ist eine sehr emanzipative Arbeit, da die Forschenden sich mit ihren Persönlichkeiten dem Prozess prinzipiell ungeschützt aussetzen. Die Gruppe tut daher gut daran, für einen unterstützenden Rahmen zu sorgen, Bewertungen zu unterlassen und die Kontrolle über die einzelnen Bearbeitungsprozesse dem jeweils Betroffenen zu überlassen. Für Männer kann ein solcher Prozess besonders ungewohnt und heikel sein. Ich habe aber selten eine Forschung erlebt, die so viel Spaß gemacht hat und so bereichernd für alle Beteiligten war.

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Erfahrung von Differenz – Grundlage reflexiver Körper-Erfahrung ELK FRANKE

Einleitung Im folgenden Beitrag soll ein Aspekt weiter bearbeitet werden, der schon in früheren Publikationen in Umrissen skizziert worden ist (vgl. Franke 2001, 2003). Es ist die Frage nach dem Selbst in der modernen Sozialphilosophie – insbesondere jener, wie sie von Pierre Bourdieu angeregt und entwickelt worden ist. Der Antwortversuch gliedert sich in drei Schritte: Zunächst wird auf das Dilemma eingegangen, in das jede Soziologie gerät, wenn sie versucht, das Wechselverhältnis von Mensch und Welt in einer Theorie angemessen darzustellen und dabei nicht schon wesentliche Implikationen voraussetzt, die eigentlich durch die Theorie expliziert werden sollen. Ein Umstand, der insbesondere bei der Frage offensichtlich wird, welche Bedeutung dem Selbst im Verhältnis zur sozialen Welt zugeschrieben werden kann. In einem zweiten Schritt wird in knapper Form angedeutet, in welcher Weise Bourdieu sich dieser Herausforderung stellt. Abschließend soll, ausgehend vom Begriff der „Reflexivität“, geprüft werden, wie mit Bourdieu und über ihn hinausgehend Bedingungen skizziert werden können, an denen sich so etwas wie eine körperrelevante Selbst-Reflexivität zeigt. Zentrale Begriffe, durch die dies verdeutlicht wird, sind „Differenz“, „Widerfahrnis“, „Zwischen“ oder „Gebrochensein“. Sie lassen erkennen, dass Reflexivität nicht nur kognitivistisch erklärt werden kann und ein Selbst nicht nur eine ontologische Setzung oder eine transzendentale Voraussetzung, sondern auch das Ergebnis eines kulturanthropologisch geprägten Erfahrungsprozesses sein kann.

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Das Selbst in den Sozialwissenschaften – eine Herausforderung Die Frage nach dem Selbst gehört zu den zentralen Problemen sozialwissenschaftlicher Theoriearchitektur. Aus einer makrosoziologischen Außensicht wird sie meistens nicht gestellt, und aus einer psychologischen Innenbetrachtung erscheint sie immer dann als schon beantwortet, wenn zwar untersucht wird, wie wahrnehmungs- oder kognitionspsychologisch ein Bild vom eigenen Selbst möglich sein kann, aber die Frage offen bleibt, woher ein Mensch die Sicherheit erhält, in den Verarbeitungsprozessen mit der Welt „Selbst zu sein und stets Derselbe zu sein“.1 Ein Blick in die Philosophie- und Kulturgeschichte zeigt, dass die Suche nach einem Selbst erst mit den Subjektivierungstendenzen neuzeitlichen Denkens beginnt, es jedoch schon seit der Antike vielfältige Versuche gab, die „Idee des Selbst“ genauer zu bestimmen. So stellte sich u.a. im platonischen Dialog „Alkibiades I“, in dem es um „Selbsterkenntnis“ und „Selbstsorge“ geht, letztlich schon vor über zweitausend Jahren die Frage, was dieses „Selbst“ im substantiven Sinne sein könnte. Unangemessen wäre es jedoch, diesem antiken Wortgebrauch jene späteren Begriffskonnotationen zu unterstellen wie „personale Identität“, „Individualität“, „Einheit des Bewusstseins“ oder „Subjektivität“ – eine komplexe Verwendungsweise des Selbst-Begriffes, wie sie insbesondere im Rahmen der Analytischen Philosophie unter dem Stichwort der „Familienähnlichkeit“ (Wittgenstein 1967) für „Selbst“, „Selbstbewusstsein“, „Ich“ und „Person“ in den 60er und 70er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts proklamiert worden ist. Bevor es zu einer solchen weitgehenden Gleichsetzung von „Selbst“, „Person“, „Ich“ und „Identität“ in geistes- und sozialwissenschaftlichen Diskursen gekommen ist, gab es jedoch verschiedene Deutungstraditionen, die bis heute, häufig implizit, die verschiedenen Selbst-Interpretationen prägen.2

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Beispielhaft dafür ist die zunehmende kognitive Wende in der Theoriebildung, mit der Folge, dass die Selbst-Theorie der Organisation von Erfahrungen bzw. Lust-Unlustempfindungen dient, wobei z.B. nach H. Markus und E. Wurf Selbst-Schemata als kognitive Strukturen die Informationen der eigenen Person organisieren und integrieren (vgl. Markus/Wulf 1987). Aus philosophiegeschichtlicher Sicht gehört John Locke zu jenen Vertretern neuzeitlichen Denkens, die den Begriff „Selbst“ gleichbedeutend mit „Person“ gebrauchen, wobei er noch strikt unterscheidet zwischen der Identität des Menschen und der Identität der Person. Eine Differenzierung, die anschließend durch Immanuel Kant eine prägende Bedeutung erhält, indem er deutlich trennt in ein Subjekt, das als „transzendentales Subjekt“ (in einem transindividuellen Sinne) die Voraussetzung jeglicher Erkenntnisprozesse darstellt, und einem „konkreten handelnden Subjekt“, das einem Individuum unter vielen (einschließlich einer Körperlichkeit) entspricht. Dies bedeutet: Das „Selbst“ ist mit Beginn der Auf-

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Unter Vernachlässigung philosophiegeschichtlicher Details lassen sich zwei Interpretationsrichtungen unterscheiden. Die Selbst-Bestimmung (a) im Sinne einer „Setzung“ bzw. „Selbst-Setzung“ der idealistischen Philosophie oder (b) unter Bezugnahme auf den „Blick des Anderen“. (a) Als ein Exponent, der die Selbst-Bestimmung im Sinne einer „Setzung“ expliziert, kann Johann Gottlieb Fichte angesehen werden, wenn er konstatiert: „Wenn das Ich in der intellektuellen Anschauung (das ist das Ich, allein in seinem individuellen Vernunftcharakter betrachtet) ist, weil es ist, und ist, was es ist […] so ist

es insbesondere sich selbst setzend, schlechthin selbständig und unabhängig“ (Fichte 1962: 150; Herv. im Orig.). „[…] Dasjenige, dessen Sein (Wesen) bloß darin besteht, dass es sich selbst als seiend setzt, ist das Ich, als absolutes Subjekt. So wie es sich setzt, ist es; und so wie es ist, setzt es sich […]“ (ebd.: 291; Herv. im Orig.). „Demnach ist Sich-Setzen und Sein Eins und dasselbe. […] Also alle Realität ist tätig: und alles Tätige ist Realität“ (ebd.: 329; Herv. im Orig.).

Fichte ‚übersetzt‘ damit gleichsam Kants Theorie des transzendentalen Subjekts in den objektwissenschaftlichen Diskurs. Gleichzeitig bereitet er damit aber auch den Weg für jene Deutungen vor, die den Einzelnen als eine autarke Persönlichkeit kennzeichnen, die als vernunftbegabtes Wesen die Welt selbst verantwortlich gestaltet. Eine Perspektive, die die sozialwissenschaftliche Theorietradition wesentlich beeinflusst hat. (b) Die Annahme, das Eigene lässt sich nicht aus sich heraus, sondern immer nur in Relation zum anderen als Re-Konstruktion entwickeln, hat ebenfalls weit reichende philosophische Wurzeln. So zeigte schon Platon im erwähnten Dialog des Alkebiades mit Sokrates, dass „die Reflexion, die Konstruktion des Selbst […] eine Reflexion im Blick des Anderen ist“ (Böhme 1996: 336). Im Gegensatz zu Fichte, für den sich das Selbst aus Selbstgewissheit erschließt, verweist diese zweite Traditionslinie auf einen reflexiven Re-Konstruktionsprozess, auf eine Deutung des Selbst als konstitutiven Prozess im Spiegelbild der Anderen, die ebenfalls die sozialwissenschaftliche Diskussion bis in die Moderne bestimmt hat. Insbesondere die Theorie des „self“ von Mead (1968) gehört zu dieser Gruppe klassisch-idealistischer Theorien. Nach George Herbert Mead konstituiert sich die Identität als reflexive Einheit von I and me, indem ich als Subjekt für mich zum Objekt werde. Dies gelingt immer dann, wenn ich die Position des anderen mir gegenüber als eines „generalisierten Anderen“ übernehme. Ein Perspektivenwechsel, der nur dann wirksam wird,

klärung noch kein physischer Gattungsbegriff, sondern er erhält seine Bedeutung zunächst unter erkenntnistheoretischen und ethischen Gesichtspunkten.

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wenn der Einzelne sich in Bezug zum anderen (verdeutlicht am Beispiel des Baseball) zum Mit-Spieler macht und d.h. als Subjekt gleichsam objektiviert. Kennzeichnend für die Spätmoderne ist, dass sie einen Teil jener Bedingungen, die Mead noch als konstitutiv für die Selbst-Bildung annimmt, in Frage stellt, mit der Folge, dass die Vorstellung, eine Identität sei etwas Zeitunabhängiges, Zeitübersteigendes, zunehmend an Bedeutung verliert. So gibt es z.B. für Anthony Giddens (1992) im Wechselprozess des Menschen mit seiner Umwelt nicht mehr das identische Ich als fixen Ausgangspunkt, sondern nur noch die Rekonstruktion eines Ich im Sinne einer punktuellen Biographie, als der immer wieder neue aber letztendlich relative Versuch, so etwas wie Kontinuität bei gleichzeitigen permanenten Veränderungen für sich zu erreichen. Zygmunt Bauman (1993) stellt eher resigniert fest: „Es ist jetzt leicht, Identität zu wählen, aber nicht mehr möglich, sie festzuhalten. Im Augenblick des höchsten Triumphes muss Befreiung erleben, dass sie den Gegenstand der Befreiung vernichtet hat. Je freier die Entscheidung ist, desto weniger wird sie als Entscheidung empfunden. Jederzeit widerrufbar, mangelt es ihr an Gewicht und Festigkeit – sie bindet niemanden, auch nicht den Entscheider selbst; sie hinterlässt keine bleibende Spur, da sie weder Rechte verleiht noch Verantwortung fordert und ihre Folgen, als unangenehm empfunden und unbefriedigend geworden, nach Belieben kündbar sind. Freiheit gerät zur Beliebigkeit“ (Baumann 1993).

Eine Explikation, aus der sich ein aktuelles Dilemma ergibt: Wie kann in einer Gesellschaft der Zukunft einerseits einem vermehrten Bedarf an moralischer Verantwortung entsprochen werden, wenn andererseits diese Verantwortlichkeit immer weniger an die Identität einer bestimmten Person gebunden werden kann? In seinem Entwurf einer kommunikativen Rationalität geht Jürgen Habermas (1981) u.a. auch auf diese Frage ein und betont, dass es trotz aller Veränderung der Moderne weiterhin sinnvoll und möglich ist, dem vernunftbegabten Subjekt einen selbstbestimmten Platz in der pluralistischen Gesellschaft zuzuweisen. Der Skepsis, wie eine zeitgemäße kritische Theorie diesen SelbstBezug legitimieren kann, begegnet er mit dem Verweis auf die große Bedeutung der Reflexivität, die – und das ist für die späteren Ausführungen wichtig – von ihm in kognitiv-begrifflicher Weise gedeutet wird. Zusammenfassend kann nach dieser stichwortartigen Skizze zunächst konstatiert werden, dass sowohl die Frage der Positionierung des Subjekts als auch jene nach seiner Akzeptanz als reflexives Selbst im aktuellen sozialwissenschaftlichen Diskurs sehr unterschiedlich beurteilt wird. War die Soziologie des beginnenden 20. Jahrhunderts noch geprägt von Versuchen, das Wechselverhältnis von Individuum und Gesellschaft so zu fassen, dass sowohl die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als auch die subjektiven Handlungsumstände angemessen berücksichtigt werden, dominierten ab den 1960er Jahren struk190

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turorientierte, objektivierende Ansätze. Sie wurden anschließend z.T. von eher subjektiven (kognitivistischen) Theorien überlagert, ohne dass dadurch die prägenden Dualismen von Struktur – Handlung, System – Lebenswelt etc. überwunden werden konnten.

Bourdieus Habitus-Konzept – und das Selbst Vor diesem Hintergrund ist es vor allem die Kulturtheorie Bourdieus, die als eine „Theorie der Praxis“ den Eindruck vermittelt, sie könne diesen Dualismus überwinden und eine Brücke schlagen von den strukturellen Rahmenbedingungen der Gesellschaft zur Verarbeitung körpernaher Lebenseindrücke des Subjekts. Durch die besondere Theoriearchitektur, differenziert in „Klasse“, „soziales Feld“ und „Habitus“ sowie den daraus sich ergebenden verschiedenen Formen von „Wissen“, eröffnet Bourdieus Ansatz die Möglichkeit, allgemeine gesellschaftliche Voraussetzungen auch als subjektive Bedingungen zu kennzeichnen. So führen historische Erfahrungen innerhalb spezifischer Klassenverhältnisse zu jeweils besonderen Anpassungen und Zwecksetzungen, die im Alltagsleben als „Denk-, Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata“ fungieren. Schemata – und dies ist die Botschaft in Abgrenzung zu traditionellen Handlungstheorien – die nicht als Ergebnis eines intentionalen Lernprozesses autonomer Subjekte gedeutet werden können. Pointiert stellt Bourdieu fest: „Klassenspezifische Habitusformen werden im praktischen Leben als Positionen erworben, ‚einverleibt‘ als ‚Denk-, Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata‘ […] von Welt und fungieren in dieser Form immer in doppelter Weise als Bindeglied der Gesellschaft. Strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken“ (Bourdieu 1976: 165).

Konkret bedeutet das: „Menschen verinnerlichen unbegriffen teilweise automatisch äußerliche Verhältnisse und veräußerlichen sie aus habitusgeleitetem Handeln“ mit dem Ergebnis, „dass durch die Handlung der Subjekte und klassenspezifischen Kultusformen […] sich die objektiven Klassenverhältnisse […] reproduzieren“ (Hradil 1989: 116, Anm. 3). In guter sozialwissenschaftlicher Tradition hat Bourdieus Konzeption jedoch auch zum Widerspruch angeregt. Dabei bot er durch die Mehrdeutigkeit seines Begriffsinventars, das bewusst dem Gegenstand geschuldet häufig situativ und am Einzelfall expliziert worden war, vielfältige Angriffsflächen. Auf sie kann in diesem Rahmen nicht weiter eingegangen werden. Allerdings erscheint ein Vorwurf vertiefungswürdig, da durch seine Bearbeitung der dritte Teil dieses Beitrages vorbereitet werden kann: der Determinismus. Er besagt, dass die wechselseitige Strukturierungsannahme des Habi191

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tuskonzepts („strukturierte Strukturen wirken als strukturierende Strukturen“) einem Determinismusdenken Vorschub leistet, das keinen Raum lässt für biographische Brüche, Bewältigung von Krisen oder statusübergreifende Kontakte einer Person. Bourdieu hat auf diese Vorwürfe frühzeitig reagiert: „Zur ‚Stabilität‘ des Habitus und dem damit einhergehenden Vorwurf des Determinismus: Erstens, der Habitus realisiert, aktualisiert sich lediglich in der Beziehung zu einem Feld, wie auch ein und derselbe Habitus je nach Zustand des Feldes zu höchst unterschiedlichen Praktiken und Stellungnahmen führen kann […]. Zum Zweiten: der Habitus, Produkt sozialer Konditionierungen, folglich einer Geschichte (im Gegensatz zum Charakter), ist im unaufhörlichen Wandel begriffen […] (und) zum Dritten: der Habitus (innerhalb bestimmter Grenzen) ist durch den Einfluss einer Laufbahn veränderbar, die zu anderen als den ursprünglichen Lebensbedingungen führt, kann schließlich auch durch Bewusstwerdung und Sozialanalyse unter Kontrolle gebracht werden“ (Bourdieu 1989: 406f.).

Entscheidend für die weitere Darstellung ist einerseits die Feststellung, dass die Vorwürfe eines zu weitreichenden Determinismus unbegründet erscheinen, wenn man zunächst grundsätzlich anerkennt, dass der Habitus funktional als ein „Spielsinn“ gedeutet werden kann, den ein Akteur unbewusst oder bewusst anwendet, als eine „tief in den Körper eingegangene ‚sedimentierte Situation‘ (Mallin 1979: 12) […], die nur darauf wartet, dass sie reaktiviert wird“ (Bourdieu/ Wacquant 1996: 43, Anm. 2). Eine Situation, die Bourdieu unter Bezugnahme auf Merleau-Pontys Beispiel des Fußballspiels (vgl. Bourdieu 1992: 193, Anm. 4) verdeutlicht, bei dem ein Spieler aus dem Augenblick entscheidet, in dem eine „praktische Logik“ wirksam wird, eine „Logik der Praxis“, die bis zu jenem Punkt gültig ist, „an dem Logischsein nicht mehr praktisch wäre“ (ebd.: 101). Andererseits wird aber gerade in dieser berechtigten Zurückweisung substanzontologischer Vorstellungen vom Habitusbegriff zugunsten eines prozesshaften Handlungsprinzips eine nicht unwesentliche Schwachstelle in der Theoriekonstruktion Bourdieus sichtbar. Sie zeigt sich in der Frage nach dem Selbst (einer Person) innerhalb der Habituskonzeption. Das heißt, wenn man Bourdieu auf der makrosoziologischen Ebene zustimmt, dass das Habituskonzept als strukturiertes und strukturierendes Prozess-Schema verstanden werden muss, von dem sich eine Person auch in spielerischer Weise distanzieren kann, ergibt sich jedoch auf der mikrosoziologischen Ebene – also u.a. auf der nichtverbalen individuellen Körper-Ebene eingebunden in eine Logik der Praxis – die Frage, wer bzw. was ist es, das auf dieser Ebene den Habitus „kontrolliert“, „modifiziert“ oder in „spielerischer Weise“ mit ihm umgeht? Wodurch bestimmt das habitusgeprägte Subjekt letztlich seine individuellen Handlungen, z.B. sein Verhältnis von nicht-öffentlicher, privater, emotionaler Körperlichkeit zum Habitus als seiner Ordnungsform? Die Antwort müsste anders ausfallen als auf der Makro-Ebene, wo Bourdieu dem Einzelnen noch 192

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eine reflexive Distanz zum eigenen Habitus zugesteht, wo das Subjekt den Habitus im Einzelfall modifizieren, kontrollieren, wie ein Spieler benutzen kann. Konkret: Bourdieu müsste zeigen, in welcher Form es auf der Ebene der leibkörperlichen Habitusprägung nicht nur eine implizite Subjektivität gibt, sondern wie diese sich auch als explizite Individualität, als entscheidungsrelevantes Selbst verstehen kann, und d.h. letztlich, wie eine „körperliche Reflexivität“ des Subjekts innerhalb habitueller Formungsprozesse möglich ist. Sucht man in dem vielfältigen Œuvre Bourdieus nach einer Antwort, fällt diese zwiespältig aus. So verweist er einerseits auf einen Weg, der erstaunlich traditionell erscheint. „Das bedeutet, dass die Akteure eine Chance, überhaupt so etwas wie ‚Subjekte‘ zu werden, nur in dem Maße haben, wie sie das Verhältnis, in dem sie zu ihren Dispositionen stehen, bewusst beherrschen, und wie sie wählen, ob sie ‚agieren‘ lassen oder im Gegenteil am Agieren hindern […]. Aber diese Arbeit des Umgangs mit den eigenen Dispositionen ist nur um den Preis einer ständigen, systemischen Aufklärungsarbeit möglich“ (Bourdieu/Wacquant 1996: 170f., Anm. 2).

Konkret bedeutet das, dass die Ich-Identität des habituell geprägten Subjekts, wenn überhaupt, nur über einen kognitiv-reflektorischen Distanzierungsprozess möglich ist, womit unklar bleibt, welche Bedeutung die von ihm in anderen Zusammenhängen so zentral behandelten praxeologisch-körperlichen Habitusbedingungen für einen Selbst-Reflexionsprozesses haben. Andererseits gibt es aber auch verschiedene Hinweise, die sichtbar machen, dass Bourdieu eine solche kognitive Reflexivität gerade nicht in Anschlag bringen möchte, indem er auf jene „nicht gedachten Strukturen“ verweist, die sich u.a. als „Prädispositionen“ oder „Orientierungen“, in erlernten und „nicht gedachten Körpertechniken“ wie etwa dem Schwimmen, Gehen, Laufen oder Tennisspielen zeigen. Sie stellen Formungsprozesse der Praxis dar, die im Fluss des Gelingens als implizites Körperwissen fungieren, die aber prinzipiell auch transparent und zugänglich gemacht werden können. „Im Gegensatz zu den scholastischen Welten verlangen bestimmte Universen wie die des Sports, der Musik oder des Tanzes ein praktisches Mitwirken des Körpers und somit die Mobilisierung einer körperlichen ‚Intelligenz‘, die eine Veränderung, ja Umkehrung der gültigen Hierarchien herbeiführen kann. Man sollte die hier und da, vor allem in der Didaktik dieser Körperpraktiken – des Sports natürlich […] auch des Theaterspielens und des Musizierens – […] einmal methodisch zusammenstellen; sie würden wertvolle Beiträge zu einer Wissenschaft dieser Erkenntnisform liefern“ (Bourdieu 2001: 185).

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Fragt man in dieser Hinsicht jedoch genauer nach, in welcher Weise dies nach Bourdieu geschehen könnte, wie eine Reflexion körperlicher Praxis möglich sein kann, bleiben die Aussagen vage bzw. beschränken sich eher auf Hinweise. „Umgekehrt aber fehlt es den Improvisationen der Pianisten oder der so genannten Kür des Turnens nie an einer gewissen Geistesgegenwart, wie man so sagt, nämlich an einer gewissen Form von […] praktischem Reflektieren, einem situativen, einem in die Handlung eingebunden Nachdenken, das erforderlich ist, auf der Stelle die vollführte Handlung oder Geste zu beurteilen und eine schlechte Körperhaltung zu korrigieren“ (ebd.: 209).

Diese Empfehlung, Pianisten oder Turner genauer zu beobachten, um nicht nur zu erfahren, wie diese Körpertechniken gekonnt ausführen, sondern sie auch während des Handlungsprozesses korrigieren, erweitert zwar traditionelle Unterscheidungen von Wissen und Nicht-Wissen um jene Prozesse, die durch Können und Nicht-Können gekennzeichnet sind. Unklar bleibt aber bei einer solchen Ausweitung des lerntheoretischen Gegenstandsfeldes, in welcher Weise jenes „praktische Reflektieren“ möglich wird, wodurch bestimmte Formen impliziten Körper-Wissens nicht nur explizit, sondern auch reflexiv werden können. Im Vorgriff auf das folgende Kapitel bedeutet das, dass es hierbei nicht um die Frage geht, in welcher Weise über eine sinnlich-praktische Körper-Erfahrung im zeitlichen Nachgang diskursiv – also in sprachlicher Form – reflektiert werden kann. Vielmehr zeigt sich Klärungsbedarf, ob und in welcher Weise es eine Reflexion während des Handlungsprozesses, also auch eine Reflexion im Vollzug geben kann. Ein Hinweis, der in soziologischen Arbeiten im Rückgriff auf den Erfahrungsbegriff häufig übersehen wird. So gibt es zwar differenzierte Aussagen zur „Risikoerfahrung“, „Grenzerfahrung“, „Konfliktbewältigung“ etc. Aber in der Regel beziehen sie sich auf die jeweiligen relevanten Folgen. Das heißt, die Bedeutung einer Risikoerfahrung ergibt sich aus den erkennbaren gesellschaftlichen Konsequenzen für den Einzelnen oder die Gesellschaft, wobei unbestimmt bleibt, worin das Spezifische einer „Erfahrung mit dem Risiko“ z.B. in Abgrenzung zum „Wissen um das Risiko“ oder einer „Wahrnehmung des Risikos“ liegen könnte. Zugespitzt lässt sich daher behaupten: die zeitgenössische Soziologie argumentiert häufig mit dem Begriff der Erfahrung, ohne ihn in seiner Spezifik zu thematisieren. Geht man davon aus – und nur dieser Hinweis soll hier genügen –, dass in Abgrenzung zu einer schlichten Wahrnehmung (von etwas) eine „Erfahrung“ sich immer durch einen distanzierenden Bezug in zeitlicher oder perspektivischer Sicht auszeichnet, lässt sich die These aufstellen: Erfahrungen unterscheiden sich von einfachen Wahrnehmungen durch ein „reflexives Potential“. 194

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Dieses Potenzial ist nicht nur kognitiv und (oder) begrifflicher Art, wie es insbesondere dem vernunftbasierten Wissen zugeschrieben wird, sondern es ist in der Struktur einer Erfahrung als Erfahrung immer angelegt. Zentrale Merkmale der Konstituierung von reflexiver Erfahrung sind, wie im folgenden Kapitel gezeigt werden wird, „Störungen“, „Brüche“, „Abgrenzungen“, kurz: Widerfahrnisse in den Mensch-Welt-Bezügen. Diese distanzierenden Aspekte können vielfältiger Art sein. Generell zeichnen sie sich aber dadurch aus, dass sie in ihrer Vielfalt ein reflexives Potential schaffen, wobei bisher offen ist, in welcher Weise es wirksam werden kann. Im folgenden Kapitel wird zur weiteren Präzisierung eine Differenzierung vorgeschlagen in: • Reflexion im Vollzug (im Sinne von „während des Vorganges“) und • Reflexion des Handlungsvollzugs (im Sinne von „über“, „danach“ etc.). Gelingt es, plausible Argumente für diese Unterscheidung zu entwickeln, ergäbe sich auch die Möglichkeit, jene von Bourdieu hervorgehobenen, aber unbestimmt gelassenen Hinweise zu einer „körperlichen Reflexion“ zu präzisieren und auf diese Weise die eingangs gestellte Frage einer Habitus geprägten Selbst-Reflexion genauer zu bestimmen.

Bruchlinien der Erfahrung – ein reflexives Potential des Körpers3 „Unsere Erfahrung ist nicht aus einem Guss. Sie […] macht selbst Sprünge und zeigt Sprünge wie ein angeschlagenes Glas […] sie ist gebrochen wie eine Linie, die einen Knick macht, wie ein Lichtstrahl, der sich in einem fremden Medium spiegelt, wie eine Farbe, die eine gebrochene Tönung annimmt.“ (Waldenfels 2002: 9)

Metaphorische Verweise, durch die Waldenfels versucht, auf einen Aspekt hinzuweisen, der häufig bei der Positionierung der sinnlichen Erfahrung in Diskursen der Soziologie übersehen oder in dichotomen Deutungsmustern eliminiert wird: Die prinzipielle Gebrochenheit der Erfahrung, aus der sich eine spezifische Bedeutung in Erkenntnisprozessen ergeben kann. Das heißt, es geht um die „Genese der Erfahrung selbst […] nicht bloß um das, was aus der Erfahrung stammt“ (ebd.: 10).

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Die Überschrift orientiert sich an dem Titel eines Buches von Waldenfels (2002), dem ich auch Denkanstöße für dieses Kapitel verdanke

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Daraus folgt, es müsste gezeigt werden, in welcher Weise aus sinnlicher Erfahrung Sinn entstehen kann und zwar ein Sinn, zu dem reflexiv Stellung bezogen werden kann, ohne dass dies wie in der kognitiven Tradition immer auch als ein spezifischer Bewusstseinsakt oder in Weiterführung diskurstheoretischen Denkens als ein sprachrelevanter Distanzierungsprozess erscheint.

Sprachliche Ordnungsmuster und Prozess-Erfahrungen Kennzeichnend für den Menschen ist, dass er zwar einerseits, wie Gehlen (1993) hervorhebt, als ein „Homo inermis“, ein Mängelwesen der Natur bezogen auf seine Instinktreduzierung angesehen werden kann, andererseits jedoch versucht, dies durch gattungstypische Leistungen eines „Homo sapiens“ auszugleichen und als „animal rationale“ in der Lage ist, die verschiedenartigen sinnlichen Bezüge zur Welt vernunftorientiert zu ordnen. Bisher weitgehend unbeantwortet bei diesen unterschiedlichen anthropologischen Deutungsangeboten bleibt jedoch die Frage, wie die quantitative Vielfalt an Eindrücken der fünf Sinne qualitativ so strukturiert wird, dass aus beliebigen Wahrnehmungen sinnvolle Erfahrungen werden. Das heißt, wie es gelingt, dass z.B. die unterschiedlichen Raumeindrücke eines „perspektivischen Seh-Raumes“, eines „kugelförmigen Hör-Raumes“ und eines „euklidischen Vorstellungs-Raumes“ zu einer bedeutungshaften „Raum-Erfahrung“ verbunden werden können. Oder, wodurch ein Wahrnehmungsaspekt im Fluss der permanenten sinnenhaften Vernetzung mit der Umwelt so „bedeutsam“ wird, dass er als „Erfahrung“ den Prozess strukturiert und u.U. zukünftige Handlungen prädestiniert. Neben unterschiedlichen psychologischen oder neurophysiologischen Erklärungsangeboten, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll, hat sich auch die Philosophie seit ihren Anfängen mit diesen Fragen beschäftigt, wobei sich ein Aspekt wie ein roter Faden durch unterschiedliche Theorieentwürfe zieht. Es ist die Frage nach der Bedeutung der Sprache als Ordnungsmuster von Welt. Durch ihre Begriffsangebote, in Gebrauchssituationen der Kulturgeschichte entwickelt, gelingt es uns, Vielfalt zu ordnen und Komplexität zu reduzieren, wobei sich ein höchst effektives Instrument herausgebildet hat. Es ist die binäre Struktur, die es erlaubt, Eindrücke als hell/dunkel, kalt/ warm, schwarz/weiß, laut/leise etc. zu kennzeichnen. Sie ordnen nicht nur Wahrnehmungseindrücke in klassifikatorischer Weise, sondern bilden auch die Deutungsmuster für verschiedenartige Erfahrungen und ermöglichen uns damit als Person, einen sinnhaften Bezug zur Welt und d.h., eine reflexive Bedeutungsbestimmung der Erfahrungen zu entwickeln. Die sich darin zeigende Omnipotenz der Sprache, gestärkt durch die Effizienz ihres Gebrauchs und legitimiert durch den so genannten linguistic turn hat jedoch auch eine häufig übersehene Schattenseite. Sie zeigt sich bei jenen 196

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Phänomenen, die nur schwer in die angebotenen Sprachmuster eingeordnet werden können. Dazu gehören u.a. die so genannten „Prozess-Kategorien“. Im Gegensatz zu „Produkt- oder Zustandskategorien“, die sich durch ihre raumzeitliche Positionierung diskursiv bestimmen lassen und dementsprechend auch direkt bei der Bedeutungsbestimmung von Erfahrungsqualitäten wirksam werden, entziehen sich Prozess-Aussagen häufig solchen Begriffszuordnungen. So erscheint es sinnvoll und meist auch möglich, sich über die Wärme eines Badewassers oder die Lesetauglichkeit einer Lampe mit Hilfe der Klassifikation der Sprache diskursiv zu verständigen, Erfahrungsqualitäten zu entwickeln und zukünftiges Handeln zu systematisieren. Die Sprache beschreibt dabei die Erfahrungen nicht wie ein Etikettensystem, sondern strukturiert und konstituiert sie. Entsprechend ist es auch möglich, über den sprachlichen Diskurs reflexiv Bezug zu nehmen auf Erfahrungen und diese selbst-reflexiv zu verarbeiten. Schwieriger wird eine solche begriffslogische Klassifikation und sprachliche Rekonstruktion bei Erfahrungen von Prozessen. Anders als bei Zustandsoder Produkt-Erfahrungen scheinen Bewegungen wie das Tanzen, Fliegen, Schweben oder der Rhythmus zwar über die Sprache beschreibbar. Hinsichtlich der bedeutungshaften Bestimmung der Erfahrung als Erfahrung drängt sich jedoch der Eindruck eines Bedeutungsüberschusses des Tuns gegenüber der sprachlichen Strukturierung auf, die nicht selten in dem Satz mündet: Es gibt Erfahrungen, die lassen sich nicht beschreiben, ihre Bedeutung ergibt sich schlicht aus dem Tun. Fahrradfahren, der Rhythmus eines Walzers, die Fliehkraft in einem Kettenkarussell sind Erfahrungen, deren prozesshafte Bedeutung sich aus den Situationen als eine je spezifische ergibt – mit den weiterführenden Fragen: • • •

Wie ist eine solche Erfahrung als Erfahrung erfassbar und reflexiv bzw. selbst-reflexiv bestimmbar? Gibt es eine Reflexion als Reflexion im Vollzug des Tuns? Und worin unterscheidet sich diese von einer (gleichsam höherstufigen) Reflexion des Vollzugs eines Tuns?

Dem vorliegenden Darstellungsrahmen geschuldet, wird versucht, diese drei grundsätzlichen Fragen in exemplarischer Weise zu beantworten. Gleichzeitig ist es ein Versuch zu zeigen, dass es neben der in der Soziologie üblichen Bestimmung von Erfahrung über die jeweiligen Folgen noch Präzisierungsmöglichkeiten gibt, eine Erfahrung als Erfahrung zu bestimmen. •

Zunächst wird auf so genannte „Schwellen-Erfahrungen“ bzw. „ZwischenEreignisse“ eingegangen, die sich als Übergangsphänomene einer dichotomen sprachlichen Zustandsbeschreibung entziehen.

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Anschließend wird am Beispiel aus der Sportpraxis gezeigt, in welcher Weise insbesondere Bewegungs-Erfahrungen geeignet sind, die Besonderheit jener „Prozess-Reflexion“ zu verdeutlichen. Abschließend werden einige Hinweise gegeben, in welcher Weise gerade an Hand von Prozess-Erfahrungen die häufig übersehenen spezifischen Merkmale von Erfahrungen als Erfahrungen verdeutlicht werden können.

„Schwellen-Erfahrungen“ und „Zwischen-Ereignisse“ – eine Herausforderung für Erfahrungsdiskurse Beim Versuch, die Lebenspraxis in oben skizzierter Weise begriffslogisch und effektiv zu ordnen, gibt es Situationen, für die die Klassifizierungsangebote ungeeignet erscheinen. Waldenfels (1987) nennt sie „Schwellen-Erfahrungen“ und Walter Benjamin (1983) spricht von „rite de passage“. „So heißen in der Folklore die Zeremonien, die sich an Tod, Geburt, an Hochzeit, Mannwerden etc. anschließen. In dem modernen Leben sind diese Übergänge immer unkenntlicher […] geworden […] das Einschlafen ist vielleicht die einzige, die uns geblieben ist […] die Schwelle ist […] von der Grenze zu scheiden. Schwelle ist eine Zone, Wandel, Übergang“ (ebd., Bd. 1: 617).

Dies bedeutet, dass das jeweilige Diesseits und Jenseits der Schwelle vom Einschlafen – Erwachen, Fortgehen – Hingehen, Erkranken – Genesen, Heranwachsen – Altern nicht nach Belieben vertauscht werden kann. „Zur Schwellenerfahrung gehört […] eine gewisse Asymmetrie […] (es sind) keine reversiblen Standortbereiche“ (Waldenfels 1987: 30). Daraus leitet sich ein zweiter orientierender Begriff ab, der des „ZwischenEreignisses“ (Schwemmer 2000). Ausgehend von der Asymmetrie, die gleichsam quer steht zu symmetrischen Ordnungsvorstellungen, nach denen wir allgemein bestrebt sind, etwas Erfahrenes als Teil eines übergeordneten Ganzen zu deuten, zeigt sich hierbei, dass es unangebracht ist, asymmetrischen Erfahrungsbedingungen in Positiv-Negativ- bzw. Aktiv-Passiv-Mustern darzustellen. Kennzeichnend für „Zwischenereignisse“ ist, dass sie, in dem sie geschehen, gleichsam an etwas anderes anknüpfen. Als ein konkretes Beispiel für ein solches Zwischen-Ereignis, in dem sich in besonderer Weise Differenz-Erfahrung artikuliert, zeigt sich beim „allmählichen Verfestigen der Gedanken beim Reden“, wie es in besonders anschaulicher Weise durch Heinrich von Kleist in seiner Darstellung der Pariser Ereignisse vom 23. Juni 1789 deutlich wird. „Ich glaube, dass mancher große Redner in dem Augenblick, da er den Mund aufmachte, noch nicht wusste, was er sagen würde. Aber die Überzeugung, dass er die nötige Gedankenfülle schon aus den Umständen und der daraus resultierenden Erre-

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gung seines Gemüts schöpfen würde, machte ihn dreist genug, den Anfang, auf gutes Glück hin, zu setzen. Mir fällt jener ‚Donnerkeil‘ des Mirabeau ein, mit welchem er den Zeremoniemeister abfertigte, der nach Aufhebung der letzten monarchischen Sitzung des Königs am 23. Juni, in welcher dieser den Ständen auseinander zugehen anbefohlen hatte, in dem Sitzungssaal, in welchem die Stände noch verweilten, zurückkehrte und sie befragte, ob sie den Befehl des Königs vernommen hätten? – ‚Ja‘, antwortete Mirabeau, ‚wir haben des Königs Befehls vernommen‘. – Ich bin gewiss, dass er bei diesem humanen Anfang, noch nicht an die Bajonette dachte, mit welchem er schloss: ‚Ja, mein Herr‘, wiederholte er, ‚wir haben ihn vernommen‘ – man sieht, dass er noch gar nicht recht weiß, was er will. ‚Doch was berechtigt Sie‘ – fuhr er fort und plötzlich geht ihm ein Quell ungeheurer Vorstellung auf – ‚Uns hier Befehle anzudeuten? Wir sind die Repräsentanten der Nation.‘ – Das war es, das er brauchte! ‚Die Nation gibt Befehle und empfängt keine.‘ – Um sich gleich auf den Gipfel der Vermessenheit zu schwingen. ‚Und damit ich mich Ihnen ganz deutlich erkläre‘ – und erst jetzt findet er, was den ganzen Widerstand, zu welchem seine Seele gerüstet dasteht, ausdrückt: ‚So sagen Sie Ihrem Könige, dass wir unsere Plätze anders nicht als auf die Gewalt der Bajonette verlassen werden.‘ – Worauf er sich selbstzufrieden auf einen Stuhl niedersetzte“ (von Kleist 1977: 320 f.).

In diesem Beispiel zeigt sich zweierlei: Zum einen wird deutlich, dass das „was wir sagen, schon im Augenblick seiner Äußerung ein Eigenleben zu führen beginnt. […] das Gesagte löst sich von der Person, die es gesagt hat, und auch von der Situation, in der sie es gesagt hat. Und dies geschieht gleichzeitig mit und in dem Reden (Herv.: E.F.), in dem wir unsere Gedanken allmählich verfestigen“ (Schwemmer 2000: 26). Zum anderen wird deutlich, dass „die Differenz von Sagen und Gesagtem und alle analogen Differenzen […] als ein Prozess der Selbstdifferenzierung zu begreifen sind. Dass Rede und Erfahrung nicht aufgehen in dem, was jeweils sinnhaft und regelgerecht gesagt oder erfahren wird, besagt, dass das Ereignis des Zur-Sprache-Kommens und des In-Erscheinung-Tretens sich selbst entgleitet“ (Waldenfels 2002: 235).

Dies bedeutet, die Prozessstruktur von Handlungen und Ereignissen und die Rekonstruktion dieser sind weder deckungsgleich noch spiegelt letztere das Sinnvollwerden des (Rede-)Prozesses wider. Wobei bemerkenswert ist, dass diese Differenz, die sich im vorliegenden Beispiel in der Konkretisierung des Redens auf dem Hintergrund von Sprache und Denken zeigt, auch in jeder Art von körperlicher Erfahrung relevant ist, wenn diese sich als eine körperliche Erfahrung manifestiert. Beispielhaft kann dies an dem Übergang, also der

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Schwellenerfahrung,4 vom Nicht-Können zum Können einer körperlichen Bewegung gezeigt werden.

Vom Nicht-Können zum Können – eine Aneignung des Fremden Als Fachleute für eine reflexive Körper- und Bewegungs-Erfahrung hatte Bourdieu u.a. Pianisten und Turner genannt. Im Folgenden soll dieser Hinweis am Beispiel des Ski-Laufens präzisiert werden unter zwei Gesichtspunkten: 1. Das (alpine) Erfahrungsfeld „Ski-Laufen“ ist keine Ausweitung des Neuen aus einem Bekannten, sondern ist ein Fremdes gegenüber dem bisher vertrauten Eigenem. 2. Die Aneignung des Fremden geschieht insbesondere über die kinästhetische Erfahrung, der aufgrund der besonderen Materialität eine prototypische Bedeutung einer Prozess-Erfahrung zugeschrieben werden kann. (1) Die Frage, ob das Ski-Laufen in mimetischer Weise aus dem alltagsbekannten Gehen im Sinne einer Erfahrungsgenese entwickelt werden kann, wird inzwischen aus didaktischer Sicht nur noch für das Ski-Laufen in der Ebene positiv beantwortet. Ski-Laufen am Hang ist anders. Es setzt eine Bewegungserfahrung voraus, die aus der Alltagswelt nicht bekannt ist, was zu der Frage führt: Wie kann etwas Fremdes, Anderes gelernt werden, wenn das Neue nicht eine Erweiterung des Bekannten darstellt? Es scheint nahe liegend, eine Antwort im Rückgriff auf Skilehrpläne zu versuchen. Ein Ansinnen, dem hier nicht entsprochen wird. Vielmehr soll jener Übergang vom Nicht-Können zum Können mit Bezug auf verschiedene Reflexionsstufen kinästhetischer Erfahrungen skizziert werden, die in systematischer Sicht eine Erweiterung der Diskussionen zum Tastsinn darstellen. (2) In der Tradition wurde der Tastsinn – insbesondere in der Sportwissenschaft – zum Teil überschätzt. Meist geschah dies dann, wenn man ihm durch die körperliche Nähe eine gewisse Authentizität und zwar in doppelter Weise zuschrieb, durch das Er-Fassen von Phänomenen im Tastvorgang im wörtlichen Sinne und das Zusammenfallen von Sinneserfahrung und Sinnesobjekt. Zum anderen jedoch, und diese Auffassungen überwiegen in der sprachbetonten Erkenntnistheorie der Moderne, wurde der Tastsinn unterschätzt, weil ihm letztlich nur eine begrenzt generalisierbare Erkenntnisbedeutung zugewiesen wurde. Befreit man den Tastsinn von solchen epistemischen Relativierungen und praktischen Überschätzungen, zeigt sich, dass die darin wirksam werdende 4

Der Begriff „Schwelle“ rechtfertigt sich hier in der Annahme, dass das Können nicht einfach eine Erweiterung des Nicht-Könnens zum Können, sondern eine andere neue Qualität darstellt, die zunächst fremd war und dann erreicht wurde.

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haptische Erfahrung ein besonderes Erkenntnispotential besitzt. Dies zeigt sich, wenn man einige Merkmale des Tastsinns etwas genauer herausstellt. Aus der Sicht der Tastqualitäten kann man zunächst oberflächlich zwischen „hart/weich, glatt/rau, feucht/trocken, klebrig/glitschig“ etc. (Waldenfels 2002: 66) unterscheiden. Eine genauere Analyse zeigt jedoch, dass sich darin sehr unterschiedliche Bewegungsformen der Tasterfahrung spiegeln: „Rauhigkeit hält die Bewegung auf […] am Klebrigen bleibt die Bewegung hängen, während sie am Glitschigen ausgleitet“ (ebd.). Die schlichte alltägliche Tasterfahrung ist demnach häufig eine komplexe Integration von Aisthesis und Kinesis – ein Umstand, der sich im Skibeispiel durch die besondere Relevanz der Gleichgewichtsrelation noch potenziert. Eine weitere Ausdifferenzierung des Tastsinns, die hier nicht geleistet werden kann, würde zeigen, dass das Tasten (einschließlich der kinästhetischen Wahrnehmung) anders als das Sehen oder Hören kein spezifisches Organ (Auge, Ohr) und auch kein Medium (Licht bzw. Luft) zur Übertragung besitzt. Es bündelt in besonderer Weise andere Sinneserfahrungen bzw. stellt für sie eine Nahtstelle dar. Aristoteles sieht deshalb die Materialität des Körpers als ein „angewachsenes Zwischen“ (De Anima II, 11, 423 a 16f.), wodurch jedoch auch „gnostische“ und „pathische“ Elemente der Erfahrung beim Tastvorgang enger verknüpft sind. Andererseits zeigt sich gerade im Übergang vom Tasten über das Berühren bis hin zur kinästhetischen Wahrnehmung jener „Überschuss“ an Sinnhaftigkeit, der auch eine spezifische körperliche Reflexivität ermöglicht. Im Ski-Beispiel zeigt sich mit der Erfahrung des Glatten, Rutschigen (einschließlich aller aisthetischen und kinästhetischen Bedingungen), dass die Füße nicht aufgehalten werden können, der Körper beschleunigt wird, die Gleichgewichtsbalance auf neue Weise gefunden werden muss. Das Neue, Andere, Fremde der Situation ist dabei u.a., dass es erlitten wird. Übersieht man die daraus sich ergebenden Differenzierungsangebote, wie sie insbesondere von Waldenfels (2002) entfaltet werden, und überträgt die bisherigen Gedanken in ein schlichtes Kräftemodell, ließe sich immer noch unterscheiden in verschiedene Kraftrichtungen, zwischen abstoßenden und anziehenden Kräften, aus denen sich wiederum der Zustand einer in mehrfacher Weise gestuften „Widerfahrnis“ ergibt, die als Differenz im Prozess von Wahrnehmung und Bewegung erfahren wird. Sie führt dazu, dass etwas bzw. eine Situation, die als Widerfahrnis sich zeigt, nicht nur erkannt, sondern an-erkannt wird. Wobei dieses An-Erkennen zu einem Verfügenkönnen über eine Erfahrung führen kann und damit eine Reflexion einer Reflexion darstellt. Das Beispiel war der Versuch, deutlich zu machen, in welcher Weise Differenz-Erfahrungen nicht nur ein Merkmal besonderer Erfahrungsformen (Risiko- oder Erlebnisplanungen) sind, sondern jede leibliche Erfahrung, die als Erfahrung Relevanz erhält, sich durch Differenzbedingungen auszeichnet. Die

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Bruchlinien der Erfahrung sind ihr Merkmal und damit gleichzeitig aber auch ihr Reflexionspotential.

Körper- und Bewegungs-Erfahrung als Basis von Selbstreflexion Die Konsequenz daraus ist: Eine Körper- und Bewegungs-Erfahrung kann nicht nur als ein schlichtes Tun im klassischen Sinne gedeutet werden; vielmehr schließt ein Erfahrungsvorgang immer ein, dass etwas als etwas erfahren wird. Wesentlich für diese Differenzierungsmöglichkeit sind drei Aspekte: •

• •

das Medium, das die Erfahrung als Erfahrung möglich macht (das Licht als Voraussetzung für das Sehen, die Luft für das Hören, körperliches Gleichgewicht und Rhythmus als das „angewachsene Zwischen“, kinästhetische Wahrnehmung etc.); das Werkzeug, die Technik, durch die Erfahrung in ein instrumentalisiertes Verhältnis gesetzt wird (Ski mit den ihn definierenden Eigenschaften); die Medialität, durch die das Tun des Einzelnen zu einer gemeinsamen Tätigkeit wird (im klassischen Sinne die Sprache, erweitert mit Bezug auf Cassirer [1953], Wittgenstein [1967] u.a. auch als symbolische, performativ-ästhetische Präsentation).

Alle drei Aspekte stellen ein Reflexions-Potenzial dar, das immer dann explizit wird, wenn im weiten Sinne „Widerfahrnisse“ im Erfahrungsprozess wirksam werden. Als „Stolpersteine“ im Fluss unauffälliger Sinnes-Wahrnehmung ermöglichen sie eine Reflexion in doppelter Weise: 1. eine Reflexion im Vollzug 2. eine Reflexion über den Vollzug (vgl. Gutman 2004: 701-734). (1) Eine Reflexion im Vollzug ist jene das Handeln begleitende Reflexivität, die nicht zeitlich nach einem Tun dieses Tun als etwas deutet, sondern eine andere Perspektive im Tun. Im Prozess des Sehens „sieht man, wie man sieht […].“ Diese andere Perspektive ist „kein begriffliches Deuten […] Genauer: Der Akt des Sehens wird durchsichtig. Er erfasst seinen eigenen Grund“ (Paetzold 1990: 65). Diese allgemeinen Hinweise auf eine Prozess-Reflexion erhalten bei körperlichen Erfahrungen eine Spezifik durch die Besonderheit des Mediums. Anders als beim Sehen oder Hören gibt es kein „materiales Zwischen“ (Licht/ Luft), sondern dieses ist, wie Aristoteles betont, ein „angewachsenes Zwischen“, woraus sich auch bei tast- und kinästhetischen Erfahrungen eine spezifische Reflexion im Vollzug ergibt. Die für die Reflexion notwendigen dis202

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tanzierenden Perspektiven ergeben sich in diesem Fall aus einem korrigierenden Switchen der Handlungs- und Beobachterperspektive im eigenen Tun, wobei das Glatte, Rutschige am Skihang – geprägt durch unterschiedliche Gleichgewichts- und Rhythmuserfahrungen – die nicht darauf abgestimmte Körperhaltung und Bewegung modifiziert. Das Ergebnis dieser gleichzeitigen Teilnahme und Beobachtung als handelnde Person ist auf dieser 1. Stufe eine reflexive Vollzugserfahrung hinsichtlich der Umstände – im Unterschied zur noch anzusprechenden 2. Stufe der Reflexion der Vollzugserfahrung bezüglich der Situation. Dies bedeutet, ein Vollzug ist nie einfach ein Tun, sondern immer ein bestimmtes Verhältnis zwischen einem Einzelnen und seinem Tun (vgl. Gutman 2004: 711ff.). (2) Eine Reflexion über den Vollzug zeichnet sich dadurch aus, dass der Vollzug des Tuns (einschließlich der darin involvierten, in (1) skizzierten Reflexionen) zum Gegenstand wird. Sie kann deshalb gegenüber (1) als eine höherstufige Reflexion angesehen werden. In der Regel gibt es • • •

eine zeitliche Differenz zum Vollzug, eine symbolische Präsentationsform (Sprache, Bilder, Metaphorik) und einen angemessenen Logos (Mythos, sprachlogisch, erkenntnislogisch im Sinne Cassirers).

Auf diese Weise können unterschiedliche Wissensformen über den Vollzug als ‚Wissen wie‘, ‚Wissen dass‘ und ‚Wissen warum‘ entstehen. Sie stellen u.a. durch die zeitliche, symbolische etc. Differenz zum konkreten Vollzug eine Möglichkeit dar, zu diesem nicht nur als Subjekt sondern auch in inter-subjektiver Weise einen reflexiven Bezug zu entwickeln – unter Beachtung einer Spezifik, die sich aus dem Medium des „angewachsenen Zwischen“ (Aristoteles) kinästhetischer Erfahrung ergibt: •



So bleibt die Reflexion über den Vollzug einerseits in gewisser Weise unbestimmt, da z.B. eine sprachliche Rekonstruktion offen lässt, in wie weit sie die Bedingungen z.B. der ‚Erfahrungen des glatten Hanges‘ gegenstandsangemessen (bezogen auf Gleichgewicht und Rhythmus) erfassen kann. (Über Bilder oder Metaphorik wird mitunter versucht, dieses Defizit einer angemessenen reflexiven Repräsentation auszugleichen.) Anderseits scheint gerade die Schwierigkeit, eine angemessene Differenzierung für diese Reflexionsform zu finden, ein Indiz dafür zu sein, dass solche prozessrelevanten Erfahrungen erkenntnislogisch jenen Formen zu entsprechen scheinen, die Cassirer für die religiös-mythische Welt als typisch bezeichnet hat. Das heißt, es gibt im Reflexionsprozess über den

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Vollzug nicht die gegenstandsangemessene symbolische Differenz, sondern er verbleibt letztlich auf der Ebene einer Tätigkeit gebunden an das eigene Tun.

Dieser scheinbare erkenntnislogische Nachteil körper- und bewegungsrelevanter Reflexionsprozesse kann sich jedoch auch als Gewinn erweisen, wenn man beide Reflexionsformen auf das Selbst bezieht, das handelt: Die in diesem Prozess erkennbare Nichthintergehbarkeit des Leibes als reflektierter Körper ist immer auch die Grundlage für eine unaustauschbare Selbst-Reflexivität.5

Resümee Kommen wir abschließend zum Ausgangspunkt des Beitrages zurück und fragen noch einmal nach dem erkennenden Selbst, dann wird deutlich, dass dies nicht in fokussierender Weise als ein Agens gedacht werden kann, sondern sich aus der Frage nach dem Reflexionspotential sozialer Welten ergibt. In Abgrenzung zur sprachbetonten Kulturtradition besitzen auch die vielfältigen Sinneserfahrungen und damit auch sportive Bewegungen ein Reflexionspotential – geht man davon aus, dass die verschiedenen Formen von Differenz eine wesentliche Voraussetzung für Reflexionsprozesse darstellen. Im vorliegenden Beitrag wurde unterstellt, dass die unhintergehbare Leiblichkeit, einschließlich der daran gebundenen verschiedenen Differenzbedingungen, die Konstitution von Selbstbezügen ermöglicht. Entsprechend ist es weiterhin sinnvoll und angebracht, von Selbst-Reflexion und Selbstbezüglichkeit zu sprechen und diese auch in der Theoriearchitektur moderner Sozialwissenschaften einzuklagen – allerdings weder im ontologischen oder transzendentalen noch im Sinne einer fokussierten unhintergehbaren Agens-Annahme. Vielmehr scheint es sinnvoll zu sein, die Frage nach dem Selbst in sozialwissenschaftlichen Theorien als eine Frage nach dem Potential an Reflexivität anzusehen, wobei so etwas wie ein „Selbst“ eher im Sinne einer Kontingenzannahme verstanden werden sollte, also nicht beliebig, sondern in einer Ordnung, die sich jedoch nicht als eine schon vor geordnete Ordnung erweist, sondern die sich aus Reflexionsprozessen ergibt. „‚Ich erfahre Dieses-und-nicht-Jenes‘, was etwas anderes ist als ‚ich bemerke dieses Merkmal und auch noch jenes und auch noch jenes dort und dort‘ […]“ (Schürmann 2005: 10).

5

Aus einer anderen Perspektive sind Überlegungen dieser Art u.a. von Gugutzer (2002) entwickelt worden. Der Aspekt der Reflexionsformen in Erfahrungsprozessen hat vor allem Gutmann (2004) differenziert bearbeitet.

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Körperdiskurse und Bew egungskulturen

Bew egte Diskurse, die bew egen. Überlegungen z ur Spa nnung von Kons titution und Konstruktion am Beispiel des Tango Argentino PAULA-IRENE VILLA

Bewegung ist ein vielfältiger Begriff mit einer Fülle an Verwendungsweisen und Semantiken. Er kann gleichermaßen metaphorisch wie konkret verwendet werden, kann eine individuelle Praxis (‚ich bewege mich von A nach B‘) ebenso bezeichnen wie eine kollektive (‚soziale Bewegungen‘). In diesem Text möchte ich verschiedene Semantiken des Bewegungsbegriffs einbeziehen, um den ‚transnationalen‘ bzw. translokalen Aspekt einer Bewegungskultur zu reflektieren und um damit auch die produktive Spannung zwischen Diskurs und Praxis im Konkreten auszuloten. Der Gegenstand ist dabei der argentinische Tango als Praxis, die sich – wie ich zeigen werde – konkret an spezifischen Orten vollzieht und dabei die phantasmatischen Diskurse immer wieder variiert, durch die sie selbst konstituiert ist. Diskurse bilden demnach für die sinnenhafte Praxis und für die Erlebniswelt des Tangos, so meine begriffliche Ausgangsposition, den Konstitutionsrahmen, in denen sich die Bewegungspraxis als Konstruktionspraxis vollzieht. Mir geht es dabei auch darum, eine diskurstheoretische Perspektive auf den Tango als Bewegungskultur zu entwickeln, die die inhaltlichen Verhandlungen und Auseinandersetzungen innerhalb des Tango-Diskurses ebenso ernst nimmt – und damit einen erweiterten und komplexen Diskursbegriff voraussetzt – wie die m.E. systematisch gegebene Kluft zwischen Diskursen einerseits und Bewegungen bzw. körperlichen Praxen andererseits. Kurz: Meine Idee ist die, dass sich der Tango-Diskurs selber permanent in Bewegung befindet und dass diese Bewegung auch aus den konkreten Bewegungspraxen der Menschen resultiert, die sich im Rahmen dieses Diskurses bewegen.

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Diskurse in Bewegung Diskurstheoretisch ist der argentinische Tango in komplexer Weise konstituiert. Zwei Aspekte möchte ich zunächst gewissermaßen als Ausgangspunkte festhalten: Erstens, dass es (metaphorisch gesprochen) Bewegungen im Diskurs selbst gibt, d.h. dass Diskurse keine homogene, starre, fixierte Gebilde sind. Vielmehr sind sie jeweils in sich gebrochen, sie durchkreuzen sich untereinander und bieten dadurch für konkrete Menschen vielfältige Lesarten und Aneignungsweisen. Zweitens gehe ich davon aus, dass sich konkrete Körper-Bewegungen aus Diskursen ergeben bzw. von diesen konstituiert werden – und umgekehrt, dass spezifische Körperpraxen Diskurse wieder in Bewegung bringen können. Abstrakter formuliert: Diskurse bilden den Konstitutionsrahmen für Konstruktionen. Letztere sind z.B. spezifische lebensweltliche Bewegungspraxen in konkreten raum-zeitlichen und materiellen Konstellationen. Diese Konstruktionen sind nicht deckungsgleich mit ihren Konstitutionsbedingungen und bringen Effekte hervor, die langfristig und weit über die einzelnen Konstruktionssituationen hinaus prinzipiell unvorhersehbare Effekte haben. Für die Anwendung einer auch diskurstheoretischen Perspektive auf eine Bewegungskultur ist dieser Punkt zentral. Denn er eröffnet den Blick dafür, dass ‚diskursive Praxen‘ (bzw. Praxen überhaupt) nicht deckungsgleich sind mit den Diskursen, von denen sie konstituiert werden. Nur so sind Eigensinn und Eigenlogik lebensweltlicher (also immer auch körperlicher bzw. körpergebundener) Praxen angemessen zu verstehen – freilich ohne das Defizit einer zu engen mikrosoziologischen, etwa ethnomethodologischen, Perspektive zu reproduzieren. Dieses Defizit besteht in der Annahme, Normen und Deutungen entstünden primär aus Handlungspraxen heraus, d.h. je konkret situativ. Aus soziologischer Perspektive stellt diese Emergenzthese gewissermaßen nur die ‚halbe Wahrheit‘ dar, denn es ist – wie mehrfach von verschiedener Seite kritisch reflektiert worden ist – mit einer auf situative Handlungspraxen fokussierten Perspektive nicht angemessen zu verstehen, wie spezifische Deutungen und Bedeutungen für Handelnde den Status des Gegebenen und bisweilen Natürlichen annehmen. Das Gemachte wird in historischen (und nicht situativen) Prozessen zu etwas Gegebenem und „begrenzt als solches die Möglichkeiten des Machbaren“ (Meuser 2002: 50). So gesehen, begreifen Analysen, die die Ebene des ‚Machens‘ ohne eine systematische Einbindung der Ebene des ‚Gegebenen‘ rekonstruieren, das Tun selbst nicht. Umgekehrt, und dies ist ebenso wichtig, gehen Konstruktionspraxen nicht in den Konstitutionsrahmen auf; das ‚Gegebene‘ ist nicht das ‚Machen‘. Handlungen haben ihren Eigensinn, ihre eigene Zeitlichkeit und Logik. Und analog zur Warnung vor der mikrosoziologischen Verengung gilt bei einem allzu ausschließlichen diskurstheoretischen Blick auf (Körper- und Bewegungs-)Praxen

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ebenfalls, dass methodisch die systematische Differenz zwischen Konstruktionen als Interaktionspraxen einerseits und diskursiven Ordnungen andererseits berücksichtigt werden muss.1

Diskursbegriff Mein Diskursbegriff orientiert sich an Michel Foucault und Judith Butler und umfasst die Annahme, dass Diskurs weniger konkrete Sprechweisen und Sprache meint – wenngleich diese Teil spezifischer Diskurse sind – als vielmehr und vorrangig feldspezifische, zeitlich situierte, vorläufig stabile Strukturen der Wissensproduktion (vgl. Foucault 1990; Díaz-Bone 2003: Absatz 6-9). Solche Strukturen sind insofern die Bedingungen von Praxen und lebensweltlichem Agieren, als sie „Objekte und Subjekte in ihrer Intelligibilität ausdrücken“ (Butler 1993: 129). Diskurse sind, um es einfach zu übersetzen, Systeme des Denkens und Sprechens, die das, was wir von der Welt wahrnehmen, konstituieren. Dabei sortieren spezifische Diskurse die Welt mitsamt ihrer Subjekte und Objekte in Kategorien, die immanent normativ sind. Diskurse bzw. diskursive Formationen regulieren nämlich durch spezifische Abgrenzungsmechanismen, was in einem Feld (Medizin, Wissenschaft, Ökonomie usw.) als angemessene und legitime Art der Aussage gilt und was nicht. Damit formieren Diskurse Gegenstände (vgl. Foucault 1990: 61-74) anstatt diese, wie in so genannten Abbildtheorien der Sprache oft angenommen, lediglich abzubilden. Diskurse sind also „produktiv“ (Butler 1993: 129); sie erzeugen Phänomene, Dinge, subjektförmige Personen usw. durch ihre supraindividuelle und zeitlich stabilisierte Fähigkeit, Ordnung qua Klassifikation zu erzeugen. Das meint selbstverständlich nicht, dass man in einem magischen Sinne lediglich ein Wort aussprechen und damit einen Gegenstand ‚aus dem Nichts‘ materialisieren kann. Vielmehr ist gemeint, dass die spezifische Bezeichnung als ‚etwas‘ (einer sexuellen Handlung als ‚homosexuell‘, einer Person als ‚Frau‘, einem Körper als ‚gesund‘, einer Aktivität als ‚Wellness‘ usw.) dem Phänomen erst eine Form und eine scheinbare Essenz gibt. Diese Form bzw. Essenz ist unter einem anderen Namen und im Rahmen eines anderen Diskurses eben auch eine andere.

Dekonstruktivistische Erweiterung Dabei ist allerdings zu beachten, dass sich die diskursive Erzeugung von Intelligibilität nicht durch transparente, allgemein verbindliche, explizite oder gar fixierte ‚Definitionen‘ vollzieht. Wenngleich es für verschiedene Gegenstände 1

Letzteres geht als geläuterte Reflexion auch an meine Adresse, insofern ich in einigen früheren körpersoziologischen Beiträgen zum argentinischen Tango m.E. Praxen bisweilen zu eng aus den diskursiven Semantiken heraus gezeichnet habe.

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– etwa Homosexualität im Kontext von Psychiatrie, Bevölkerungspolitik, Medizin, Psychoanalyse und sozialen Bewegungen – durchaus sehr wirkmächtige Versuche gibt, diesen eine definitorische Essenz zu ‚geben‘, so sind solche Versuche letztlich zum Scheitern verurteilt. Offensichtlich ist dies alltagsweltlich allein daran, dass es letztlich zu jedem Begriff immer wieder intensive Debatten darüber gibt, was sie bedeuten, bedeuten können und bedeuten sollen. Dies gilt in der Bundesrepublik derzeit z.B. für Familie, Arbeit, (deutsche) Kultur, Islam, Bildung, Mutterschaft – um nur einige Beispiele zu nennen. Wären Begriffe festlegbar und verbindlich definierbar, so gäbe es solche öffentlichen wie privaten Debatten nicht. Theoretisch gewendet ‚scheitern‘ Begriffe deshalb, weil die „Ordnung des Diskurses“ (Foucault) einerseits einer ‚unordentlichen‘ Handlungs- und Erfahrungswirklichkeit gegenüber steht und zweitens meistens darauf beruht, binäre Oppositionen zu verwenden, deren Termini einander in zirkulärer Weise konstituieren: Vernunft/Wahnsinn, krank/gesund, wahr/falsch, Natur/Kultur, Mann/Frau usw. Dabei ist der eine Begriff immer eine Negation, eine Abgrenzung und Verwerfung dessen, was er nicht ist – und umgekehrt. Binär konstituierte Begriffe (Signifikate) und ihre Gegenstände (Signifikanten) sind demnach durch ihr konstitutives Außen konstituiert und dadurch tragen sie das, was sie (angeblich) ‚nicht sind‘, im Herzen ihrer selbst. Diese Einsicht geht auf Jaques Derrida zurück, der in seinen dekonstruktiven Lektüren, etwa philosophischer Texte, auf die ‚Leere‘ im Kern von Begriffen und Bezeichnungen aufmerksam macht (Derrida 2004: 114ff.). In Bezug auf den tango argentino spielen begriffliche Binaritäten wie männlich/weiblich, führen/folgen, Kopf/Bauch (alias Körper/Geist), hier/dort eine Rolle. Sie bilden, als Teil verschiedener Diskurse, eine konstitutive Rolle diverser Aspekte der Körperpraxen. Derrida geht es vor allem darum, mit der (z.B. hermeneutischen) Idee zu brechen, den Begriffen liege ein aus sich selbst heraus bestehender (ontologischer) Kern zugrunde, der jenseits des Begriffes existiert. Einer solchen Idee zufolge gäbe es etwas, das an sich und aus sich selbst heraus z.B. ‚leidenschaftlich‘, ‚elegant‘, ‚argentinisch‘ wäre – und zwar unabhängig von den spezifischen Konstellationen, in denen solche Begriffe verwendet und/ oder erfahren werden. Dekonstruktivistisch betrachtet ist diese Idee ein Irrtum. Tatsächlich entziehen sich solche Begriffe immer einer Definition, sie sind immer verwiesen auf andere Begriffe und Semantiken. Sie sind, anders gesagt, immer in Bewegung. Für die Dekonstruktion ist die prinzipiell unaufhaltsame Verschiebung von Bedeutung und Sinn, ihr „unendliches Gleiten“ (Stäheli 2000: 5) – etwa durch je verschiedene Lesestrategien und -kontexte, textimmanente Instabilitäten und intertextuelle Verweisungsketten – ein integraler Bestandteil jedweder Sprach- und Schriftpraxis. Anders gesagt: Die beständige Bedeutungsverschiebung aufgrund ihrer radikalen Kontextabhängigkeit ist in dekonstruktivistischer Perspektive notwendiges Charakteristikum jedweder Erzeugung von Bedeutung. Derrida betont dabei die prinzipielle Unabschließbar212

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keit von Verweisen, die Bedeutung konstituieren. Die Herausarbeitung des „Nicht-Fassbaren“ (ebd.: 23) in einem wie auch immer gearteten Text, die Offenlegung impliziter, unsichtbarer und damit umso wirkmächtigerer Spuren (vgl. Derrida 1974: 287; 2004: 125), die in den Texten selber operieren, das macht eine dekonstruktive Strategie aus. Und ist zugleich auch das Ziel der Kritik metaphysischen Denkens in der Dekonstruktion: Es geht darum, das notwendige Scheitern jeglicher Begriffe aufzuzeigen. Scheitern meint dabei die Unmöglichkeit, einen Begriff mit einer Bedeutung abschließend in Deckung zu bringen (und nicht etwa den Zusammenbruch von Verständigung). Es kann demnach nie endgültig mit verbindlicher Sicherheit fixiert werden, was ein Begriff meint, worauf er sich ‚genau‘, ‚nur‘, oder ‚eigentlich‘ bezieht. Diese Unabschließbarkeit hat alltagsweltlich überaus produktive Dimensionen, z.B. die andauernde reflexive Verhandlung von Begriffen.2 Nur deshalb ist ja z.B. im Rahmen der Subkultur des tango argentino die permanente Verhandlung charakteristischer Begriffe – wie Eleganz, Stil, Ursprung, Originalität, Harmonie usw. – nicht nur möglich, sondern geradezu notwendig. Mir scheint diese dekonstruktive Erweiterung einer diskurstheoretischen Position, die sich an Foucault und Butler anlehnt, notwendig, um die ‚Bewegung‘ in Diskursen selbst erkennen und theoretisch wie empirisch produktiv machen zu können. Diskurstheorie und Dekonstruktion werden z.B. bei Judith Butler durchaus verbunden, so wenn sich Butler im Rahmen der politischen Theorie mit zentralen Begriffen wie ‚Universalismus‘ auseinander setzt (vgl. Butler 1998: 128ff.). Butler weist dabei darauf hin, „dass es eine permanente Diversität im semantischen Feld gibt“ (ebd.: 125). Jeder Begriff, der im Rahmen eines Diskurses Bedeutung konstituiert, ist mit einer Instabilität behaftet, die nicht nur unausweichlich ist, sondern in der auch die systematisch angelegte Chance für konkrete Menschen liegt, Begriffe beständig eigensinnig, eigenwillig, performativ und in überraschender Weise zu ‚dekodieren‘ (vgl. Hall 1999). Damit ist auch ein forschungspragmatischer Blick auf Menschen und ihre Praxis möglich, bei dem diese nicht zu ‚Verkörperungen eines Diskurses‘ verkümmern. So kann man die vergleichsweise triviale, in der Soziologie aber immer wieder vernachlässigte Einsicht einlösen, dass „Verhalten nicht identisch mit Verhältnissen“ ist (Becker-Schmidt 2004: 191) – und doch beide Ebenen sowie ihre Spannung im Blick behalten. Diese ‚Nicht-Identität‘ von Handeln und Strukturen, der Eigensinn und bisweilen subversive Charakter von Handlungen gegenüber Strukturen ist gerade dann möglich, wenn Personen gar nicht in expliziter, bewusster Absicht kritisch, eigensinnig, individuell sein ‚wollen‘, sondern als Potenzial letztlich immer gegeben: „Bedeutungseffekte können die Sprecher nicht wirklich überblicken, noch weniger können sie Bedeutungseffekte kontrollie-

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Für eine ausführlichere Darstellung der Dekonstruktion als produktive Methode in den Sozialwissenschaften vgl. Villa (2006).

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ren, auch wenn sie sich der – notwendigen – Illusion hingeben, ‚verantwortliche Stifter‘ des Sinns zu sein“ fasst Díaz-Bone (2003: Absatz 6) diese Position zusammen. Sie gilt für diskurstheoretische wie für dekonstruktivistische Perspektiven gleichermaßen. Aus gegebenem Anlass hierzu nur ein kleines Beispiel: Wenn sich Fußballspieler etwa nach einem Tor im Jubel küssen, einander umarmen, übereinander liegen und dabei ihre Körpersäfte in innig-intensiver Weise austauschen, dann produzieren sie Bilder und Bedeutungen (und Erfahrungen) von Homoerotik, die den Diskurs des Fußballs als prototypische heterosexuell-männliche Praxis unterlaufen und die zudem zeigen, dass das Verworfene im Herzen dessen wohnt, was etwas sein soll:

Diskurse und Populärkultur: Performativität und Mimesis Die bis hierher skizzierte Bewegtheit von Diskursen ist gerade für die Betrachtung von Bewegungskulturen dann zentral, wenn man diese als Teil der Populärkultur auffasst. Dies tue ich und folge damit den Positionen der Cultural Studies, die für den tango argentino bedeuten, diesen als praxeologischen, körperbezogenen Aushandlungsraum mit offenem Ausgang zwischen „den determinierenden Gesellschaftsbedingungen und dem Versuch einzelner, ihre Identität und Beziehungen selbst zu bestimmen“ (Fiske 1995: 322) zu fassen. Populäre Kultur ist aus dieser Sicht Praxis zwischen Norm und Widerstand mit einem eigenlogischen Überschuss; ist ein Tun zwischen verobjektivierten Bedingungen, die ebenso ökonomischer wie diskursiver Art sind einerseits, und den überraschenden, lustvollen, widerspenstigen Praxen konkreter Menschen andererseits. Letzteres ergibt sich in dieser Perspektive vor allem auch daraus, dass populäre Kultur körperlich ist und an der „Schnittstelle von Körper und 214

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Gefühl“ (Grossberg 1999: 227) wirkt. Doch körperliche Praxis ist – und dies berührt wieder den bereits ausgeführten Punkt des subjektiven Eigensinns – immer auch produktiv; bringt immer auch etwas Neues hervor. Das hat damit zu tun, dass körperliche Praxis „performativ“ ist (Wulf 2005: 11f. und Kap. 3). Sie stellt nicht nur etwas dar, was es bereits gibt, sondern stellt zudem auch potenziell immer etwas Neues her. Mimetische Handlungen, die körperlich eine „Anähnlichung“ (Wulf 2001: 260) durch Körperhandeln meinen, „bringen etwas zur Aufführung“ (ebd.: 257), das „es genau so noch nicht gegeben hat“ (ebd.). Mimesis ist, bündig formuliert, das körperliche Pendant zum kulturellsymbolischen Zwischenraum der Populärkultur im Sinne der Cultural Studies: In diesem Raum bewegen sich – und zwar wortwörtlich – konkrete Menschen so, dass sie ebenso etwas nachmachen und reproduzieren (Choreographien von Britney Spears-Clips ebenso wie ‚Leidenschaftsposen‘ des argentinischen Tangos aus einem Film) wie etwas Neues hervorbringen: „Mimesis ist […] ein anthropologischer Begriff, mit dem die beim Menschen stark entwickelte Fähigkeit zur Nachahmung bezeichnet wird. Als mimetisch werden allerdings nicht Prozesse der bloßen Reproduktion oder Imitation, sondern Handlungen gekennzeichnet, in denen unter Bezug auf andere Menschen, Situationen oder Welten etwas noch einmal gemacht wird, und in denen dadurch etwas entsteht, das sich vom Bezugspunkt der Handlung unterscheidet. Unter Bezug auf Vorausgehendes erzeugen mimetische Prozesse etwas, das es genau so noch nicht gegeben hat; sie bringen etwas zur Aufführung; sie sind performativ“ (ebd.; Herv. im Orig.)

(Tango-)Diskurse und (Tango-)Subjekte Für meinen Gegenstand – den argentinischen Tango als populäre Bewegungskultur, Handlungspraxis und als durch die widersprüchliche und in sich gebrochene Schnittmenge verschiedener Diskurse konstituiert – umfasst die Anwendung eines entsprechenden Diskursbegriffs inklusive einer dekonstruktivistischen Weiterung die (diffuse und letztlich nicht eingrenzbare) Gesamtheit aller sprachlichen, bildlichen, imaginären und auch musikalischen Ausdrücke, die etwas zum tango argentino ‚sagen‘. Diese bilden eine vielschichtige und ‚endlos gleitende‘ Tango-Semantik, die sich, wie angedeutet, als Schnittmenge verschiedener Diskurse verstehen lässt. Man könnte diesen Tango-Diskurs auch ex negativo definieren, nämlich als all jene nicht-leiblichen, nicht unmittelbar somatischen Aspekte einer körper- und sinnenzentrierten Bewegungskultur. Wesentlich ist dabei zudem, dass diese Tango-Semantik – als diskursive Konstitutionsmatrix – einerseits die konkreten Körperpraxen anleitet, diese zugleich überdauert und damit eine eigene Zeitlichkeit hat, die weit über konkrete Praxen hinausgeht. Zugleich ist der Tango-Diskurs abhängig von seiner materiellen Aktualisierung in und durch konkrete Praxen. Zwischen beiden

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Ebenen gibt es zwar eine Kluft, eine Differenz; doch bleiben sie aufeinander bezogen und voneinander abhängig. In diesem Sinne ist der Tango-Diskurs in seiner Breite Praxis konstituierend; Fotos, Kleinanzeigen, Interviews, Werbeplakate, Sprechweisen im Unterricht, Interviews, Geschichten, Filme, Netzportale, Filme, Stereotype etwa zu Lateinamerika, Vorstellungen von Alterität, Habitusformen spezifischer Milieus usw. konstituieren beispielsweise spezifische (Tango-)Subjekte in ihrer Intelligibilität. Diese Konstitution fasse ich im Anschluss an Butler (und Althusser) als ‚Subjektivation‘ (vgl. Butler 2001). Dabei wird auch die Kluft der Performativität betont, wie sie im MimesisBegriff und in der Differenz zwischen Diskurs und Praxis aufgehoben ist. So unterscheidet Butler zwischen Subjekten und Personen: „[Das Subjekt ist; P.-I.V.] nicht mit dem Individuum gleichzusetzen, sondern vielmehr als sprachliche Gelegenheit aufzufassen […], als Platzhalter, als in Formierung begriffene Struktur“ (ebd.: 15).

Analog also zur Unterscheidung von Diskurs und Praxis sowie Konstitution und Konstruktion lässt sich die Unterscheidung Subjekt und Individuum bzw. Person fassen. Subjekte sind der Ebene der normativen konstitutiven Diskurse zuzurechnen, Personen bzw. Individuen der Ebene der eigenlogischen (Körper-)Praxen bzw. (genauer) leiblichen Erfahrungen und damit im mikrosoziologischen Sinne als Akteure der Konstruktion. Individuen sind konkrete Menschen mit ihrer dynamischen biographischen Zeitlichkeit, sind reale Personen und damit eben keine Subjekte im beschriebenen Sinne. Personen konstruieren sich aktiv in der Auseinandersetzung mit normativen Konstitutionsverhältnissen eine Identität – und zwar im Vergleich zu den normativen Diskursen eigensinnig. Personen scheitern – so betrachtet – bei dieser alltäglichen Konstruktionsarbeit an der Verkörperung von diskursiven ‚Normen‘. Und wir scheitern notwendigerweise: Der Diskurs ordnet nämlich ein Sein an, die Praxis aber ist ein beständiges Werden. Und zugleich ist die Annahme oder doch zumindest Bezugnahme auf Subjektpositionen die Bedingung der Möglichkeit der Teilnahme an spezifischen Praxen, da diese ja durch Diskurse bzw. durch den in diesen gebetteten Subjektpositionen konstituiert ist: „Niemand kann in die Ordnung des Diskurses eintreten, wenn er nicht gewissen Erfordernissen genügt, wenn er nicht […] dazu qualifiziert ist“ (Foucault 1999: 68f.). Allerdings darf dies nicht so verstanden werden, als ob man gewissermaßen vor oder jenseits des Diskurses, in den man eintreten möchte, einschlägig „qualifiziert“ sein müsse. Vielmehr ist, dies ist bei Butler wie bei Foucault ein zentraler Punkt, die Subjektkonstitution erst durch und im Diskurs möglich (als unaufhörlicher Prozess der Subjektivierung). Konkrete Personen sind zeitweilig, vorläufig und in komplexer Weise dazu genötigt, Subjektpositionen einzunehmen, die in einem Praxisfeld durch die dazu gehörigen Diskurse konsti216

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tuiert sind – doch gehen Personen nie in diesen Subjektpositionen gänzlich auf. Auch hier bleibt ein nicht-identischer Überschuss, ein ‚Rest‘, ein Eigensinn. In diesem Sinne ist keine konkrete Person die ‚Frau‘, der ‚Dozent‘, der ‚Hartz IV-Empfänger‘, die ‚Lesbe‘, der ‚Fußballer‘ oder eben die ‚tanguera‘. Auch im Feld des Tangos herrscht also ein „Wille zum Wissen“ innerhalb einer „Ordnung des Diskurses“ (Foucault), der die Bedingungen dafür konstituiert, an eben diesem teilnehmen zu können. Wer sich also nicht in die Subjektformationen des Tangos einfädeln kann, ist nicht Teil dieses Feldes; ist keine tanguera, kein tanguero. Doch sind eben auch im Tango Subjekte eine Sache, Individuen als konkrete Menschen eine andere. Beide sind aufs Engste miteinander verschränkt und füreinander konstitutiv – sie sind aber nicht deckungsgleich. Es gibt, darauf haben sowohl Foucault wie mehr noch Butler hingewiesen, eine systematische und hochproduktive Kluft zwischen Subjektpositionen auf der einen und konkreten Menschen in ihrer raum-zeitlich gebundenen (Bewegungs-)Praxis auf der anderen Seite. In dieser Kluft tanzen und agieren Mitglieder der Subkultur tango argentino. Und zwar überall – ob in Buenos Aires, Tokio, Bologna oder Köln. Diskurse, z.B. materialisiert in Form von Bildern, Shows, Büchern, Interviews oder Werbeanzeigen des tango argentino enthalten, so möchte ich es krude zusammen fassen, Subjektanrufungen (im Sinne Althussers) und stellen ein heterogenes, umkämpftes und sich beständig veränderndes Arsenal normativen Körper-Wissens zur Verfügung. Beide, also intelligible ‚Titel‘ oder Subjektpositionen sowie Bestandteile des Körper-Wissens werden von den Akteuren der Subkultur in der Bewegungspraxis angeeignet und dabei notwendigerweise variiert. Sie werden mimetisch angeeignet, was notwendigerweise ebenso Variation wie Reproduktion bedeutet.

Tango-Szene Im argentinischen Tango ist dies umso deutlicher ausgeprägt, als es sich hierbei um eine subkulturelle Szene handelt.3 Gerade weil es demnach keine eindeutigen, fixierten Codes gibt, ist der Diskurs ständig in Bewegung. Dies ist zwar auch dann der Fall, wenn, wie etwa im Standardtanz oder im Kampfsport, explizite Regeln fixiert und gewisse Elemente damit vorläufig verbindlich definiert sind. Doch selbst dann verkörpert nicht jede Bewegung eine definierte Technik oder Regel, und selbst dann gibt es eine permanente diskursimmanente Bewegung, die sich in den andauernden, z.T. kontroversen Thematisierungen des eigenen Tuns materialisiert. Im argentinischen Tango wird permanent verhandelt, permanent wird reflektiert. Immer wieder geht es am Rande der Tanzfläche, in den einschlägigen Internetportalen und -listen, bei Autofahrten von/zu den milongas, beim Unterricht, am Telefon mit der Freundin 3

Zum Begriff der Szene vgl. Hitzler/Bucher/Niederbacher (2000: 20).

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um das ‚Was‘ des Tangos in all seinen Facetten: „Die Frage lautet [von jeher]: Ist das Tango?“ (Nau-Klapwijk 1999: 109) fasst Nicole, eine sehr bekannte Profitänzerin solche Dauerdiskussionen zusammen, und auch sie sieht sie als integralen Bestandteil des Tangos selbst. Anders als Nicole Nau-Klapwijk denke ich jedoch, dass sich die reflexive Bewegung auch aus der Diskrepanz zwischen den diskursiven Anrufungen und hegemonialen Angeboten einerseits und den faktischen Erfahrungen andererseits speist. Sie ist also nicht nur Ausdruck der tänzerischen und stilistischen Vielfalt, die es im Tango zweifellos gibt. Sondern m.E. auch Konsequenz der Differenz von normativen Darstellungen ‚des‘ tangueros/‚der‘ tanguera einerseits und konkreten Erfahrungen andererseits. Darauf werde ich im Detail weiter unten eingehen. Die bewegungsbasierte reflexive Dauerbewegung des Tango-Diskurses ergibt sich auch daraus, dass der Tango eine „post-traditionale Gemeinschaft“ (Hitzler 1998) bzw. Szene ist, insofern sie eine Wertegemeinschaft darstellt, die eben nicht im Sinne von Ferdinand Tönnies oder Max Weber auf Zugehörigkeit qua Geburt basiert, sondern auf die freiwillige Selbstverpflichtung mit mehr oder minder starker Verbindlichkeit. Letztere resultiert dann auch nicht aus einer formalen Mitgliedschaft oder aus der starken sozialen Kontrolle, die die klassische Definition von Gemeinschaften diesen unterstellt. Sie resultiert vielmehr aus dem deutlichen Erlebnischarakter, d.h. ihrem emotionalen Sog, und dieser stützt sich auf – im weiten, obigen Sinne – diskursive Semantiken wie z.B. das Versprechen auf ‚argentinische Leidenschaft‘ oder auf eine vom Alltag gänzlich unterschiedene ‚Kopflosigkeit‘ körperlicher Praxis. Ersteres Versprechen wird getragen von den binären Kodierungen ‚wir/die‘ sowie ‚hier/ dort‘, letzteres durch die Binarität ‚Kopf/Gefühl‘.4 Auf die binären Begriffe ‚wir/die‘ sowie ‚hier/dort‘ komme ich noch im Detail zurück. Zunächst sei zusammengefasst: Das Moment der mimetischen Neuproduktion diskursiver Wissensbestände bezüglich spezifischer Bewegungspraxen und leiblicher Erfahrungen ist in der Tango-Szene nicht nur wichtig, sie ist konstitutiv. Anders gesagt: Der Diskurs ist in Dauerbewegung, d.h. er ist auf Dauerreflexion gestellt – und diese Dauerreflexion macht einen gehörigen Teil der Faszination aus, die von dieser subkulturellen Gemeinschaft ausgeht. Dass diese Faszination so stark ist, hat – sicher nicht nur, aber auch – damit zu tun, dass die Semantik des Tangos Versprechungen macht, die sich letztlich selten erfüllen.

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Für eine ausführlichere Darstellung der Verknüpfung von Alteritäts- und Körpersemantiken im Tango vgl. Villa (2002).

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Geschichte(n) Der argentinische Tango ist ein Paartanz, der nicht zu den hierzulande durch die ADTV-Tanzschulen gelehrten Standardtänzen gehört, sondern gänzlich und dezidiert in einer unorganisierten Subkultur gedeiht. Der argentinische Tango heißt so, weil er – Genaueres weiß man jenseits zahlreicher, für den Diskurs enorm wichtiger Mythen und Legenden nicht – um 1900 in Buenos Aires und Montevideo entstand, in den 1920er Jahren in Europa große Erfolge feierte, um hernach geadelt nach Buenos Aires zurückzukehren und gewissermaßen zum Symbol der nationalen Identität zu werden.5 Seine Blütezeit in Buenos Aires und Montevideo waren die 1940er und 1950er Jahre. In den 1960er und bis weit in die 1990er Jahre hinein dämmerte der Tango, insbesondere das Tango-Tanzen, in Buenos Aires hingegen aus verschiedenen, vor allem politischen Gründen (Diktaturen inklusive nächtliche Ausgangssperren, Zensur usw.) vor sich hin. Doch die transnationale (Erfolgs-)Geschichte wiederholte sich gewissermaßen, denn es gab in Europa ab Ende der 1980er Jahre – aus verschiedenen und schwer zu fixierenden Gründen – einen regelrechten Tango-Boom, der inzwischen allmählich wieder abebbt. Wie zuvor in den 1920er Jahren sind es auch in der jüngsten Zeit bildungsnahe, materiell gut gestellte Milieus, die in Paris, Berlin und Amsterdam den tango argentino tanzen. Und auch in den 1990er Jahren wollen die Eliten in Buenos Aires möglichst argentinisch sein, um europäisch zu werden. Wenn und nur insofern der argentinische Tango in Europa, genauer in West- und Nordeuropa in entsprechenden Milieus erfolgreich ist, wurde und wird er es auch daraufhin in Buenos Aires. Der Tango ist und war, zumindest soweit bekannt ist, immer ein spezifisch urbanes Phänomen der Metropolen am Rio de la Plata. Und so ist es kein Zufall, dass der Tango, auch dies immer so weit in der Literatur bekannt, seit Anbeginn und immanent eine hybride, transnationale Angelegenheit gewesen und geblieben ist. Denn beide ‚Ursprungsstädte‘ des Tangos, Buenos Aires und Montevideo, erlebten um die Jahrhundertwende Migrationswellen sondergleichen. Beide Städte, besonders aber Buenos Aires, hatten so gut wie keine autochtone Bevölkerung mehr, seit die Spanier diese ausgerottet hatten, dafür aber hatte Argentinien enorm viel Land, natürliche Ressourcen und Versprechen auf eine bessere Lebensqualität als die Armut des späten 19. Jahrhunderts in Süd- und Osteuropa. Es sind also Spanier, Italiener, Russen, Iren, Deutsche, Polen etc., die das Gros der Bevölkerung der um die Jahrhundertwende rapide wachsenden Stadt Buenos Aires stellen. Und es sind überwiegend Männer, weil es sich oft um als temporär konzipierte Arbeitsmigrationen handelt. Aber darüber und über die genauen Zahlen von Frauen in dieser Zeit gibt es in der historiographischen 5

Für eine historische Darstellung des Tangos vgl. Ferrer (1999) sowie deutschsprachig Reichardt (2003). Kritisch im Hinblick auf Exotisierungs- und Aneignungsprozesse im Zuge der globalen Tangogeschichte vgl. Savigliano (1995).

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Forschung viel Streit. Das ist für meine Überlegungen kein unwichtiges Detail, sondern insofern wichtig, als eine der mächtigsten diskursiven Semantiken zum Tango davon handelt, dass dieser in halbseidenen Spelunken und Bordellen der Hafenmetropole entstanden ist. Schaut man sich heute einschlägige, kommerzielle Tango-Shows an, so sieht man mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit einige Bordell-Szenen. Immer dann, wenn es um die Ursprungsgeschichte geht, tauchen bestimmte Figuren auf, männliche Tango-Subjekte, die sich in den Bordellen um die wenigen Frauen streiten:

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Die Kodierung des Tangos als leidenschaftlich, erotisch, machista, anrüchig hat ganz sicher hier eine wesentliche Stütze. Die Bordell-Szenen in einer Show sind denn auch ziemlich wahrscheinlich besetzt mit genau drei prototypischen Subjekten: der Hure, dem Messer tragenden, armen, virilen und von seiner Ehre besessenen Macho-Kleinganoven sowie dem snobistischen, eleganten, begüterten, allerdings hinterhältigen und zugleich unbeholfenen Angeber aus gutem Hause. Dieser fürchtet nichts so sehr wie den Verlust seines guten Rufes, doch ist er zugleich fasziniert von der für ihn verbotenen Welt des Tangos. Als materiell begüterter Snob kann er die tangueras leicht verführen, doch – und davon handeln unzählige Tangotexte – kehren diese nach einer Zeit reuig in ‚ihre‘ Welt zurück, nachdem sie merken, wie unehrlich und letztlich unmännlich die Pimpfe der Oberschicht sind. In den Inszenierungen des Tangos, etwa auf der Bühne oder in der Lyrik, hat jede und jeder einen festen, qua Herkunft definierten Platz. Dieser wird immer wieder verlassen, davon handeln viele Texte, doch letztlich können die Menschen nur glücklich werden, wenn sie den vom Schicksal bestimmten sozialen Platz einnehmen. Solche Beschwörungen sozialer Statik üben sicherlich eine gewisse Faszination aus und sind gegenwärtig, insbesondere in Westeuropa, als wichtiger Teil des Diskurses zum Tango zu sehen: Argentinien und generell Südamerika werden phantasiert und inszeniert als sozial statische Orte, als Regionen mit vergleichsweise fixen sozialen Ordnungen, insbesondere in Bezug auf Männer und Frauen: „Der Tango ist Spiegel des sozialen, geschichtlichen und kulturellen Geschehens und verändert sich mit diesem. Einige Aspekte bleiben jedoch über das Jahrhundert hinweg konstant. Neben der Beziehung von Mann und Frau (Symbolik der Umarmung) sind Improvisation und Freiheit konstante Elemente in der Entwicklung des Tangos. Sie bilden gemeinsam eine feste Basis. Die Begegnung von Mann und Frau im Tango ist fundamentaler Teil des Rituals. Dennoch kommt es im Laufe der Geschichte zu Ausnahmesituationen. So z.B. dazu, dass Personen gleichen Geschlechtes miteinander tanzen. Doch ausnahmslos sind dies gewissermaßen Notstände“ (Nau-Klapwijk 1999: 94).

Als solche, scheinbar immer hochgradig erklärungsbedürftige ‚Ausnahmen‘ werden Bilder und Quellen aus der Jahrhundertwende präsentiert, auf denen Männer miteinander tanzen. Die gängigste nachträgliche Legitimation ist die des Unterrichts, d.h. die homosoziale gegenseitige Vorbereitung darauf, mit einer richtigen Partnerin zu tanzen.6 Nur so kann scheinbar die homoerotische oder doch zumindest homosoziale Praxis miteinander in enger Umarmung tanzender Männer in die als heterosexuell phantasierte Tangowelt integriert werden. Doch auch hier ist zu fragen, ob die homoerotischen ‚Spuren‘ im Herzen des Tangos ein Hinweis auf die immanente Instabilität der vermeintlich uner6

Vgl. hierzu ausführlich und kritisch Saikin (2004: 83-100).

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schütterlichen Heterosexualität des Tangos sind – der, wie Saikin (2004) herausgearbeitet hat, auch als Versuch gelesen werden kann, der Unordnung von Geschlechter- und sexuellen Identitäten durch Verdrängung, Verwerfung, Abwertung und Umdeutung Herr zu werden.

Wir/Die: Diskursive Grenzziehungen in Bewegung Wie bereits angesprochen, ist einer der konstitutiven Elemente der Tangoszene ihre Dauerreflexion und -auseinandersetzung darüber, was der Tango genau ist. Und hierzu gehört immer auch die folgerichtige Frage, wer denn ‚tango‘ sei. Wer sind ‚wir‘ und wer sind ‚die‘? Wer darf den ‚tango‘ verkörpern? Diese binäre Kodierung hat viele Semantiken, sie ist nicht auf einen Gegenstand oder eine Grenzziehung begrenzt. Ich will im Nachfolgenden einige ausleuchten: Tango wird in seiner kommerziell erfolgreichen Form weiterhin und immer wieder als leidenschaftlich, authentisch, intensiv, sinnlich inszeniert. Tango ist irgendwie immer ‚Pasión‘! Folgende Elemente gelten dabei als genuin ‚tanguerische‘ Qualitäten: • • • •

Eleganz der Bewegungen, Absolute Musikalität, Völlige Harmonie im Paar, Jederzeit einsetzbare Fähigkeit zur Improvisation und Flexibilität als tänzerisches ‚Handwerk‘, • heterosexuelle erotisierte Spannung als ‚intensive und ursprüngliche Begegnung von Mann und Frau‘ sowie • Individualität im Rahmen des Gemeinsamen, deren Ausdruck der Stil ist.7 Angesichts dieser diskursiven Szenarien und Kodierungen sind alle Menschen letztendlich scheiternde Außenstehende. Denn faktisch bewegt sich kein Mensch sofort, automatisch, immer, mit jedem oder jeder elegant, harmonisch, flexibel und souverän. Keine Tänzerin und kein Tänzer erlebt erotische Spannung bei jedem Tanz. Damit ist nicht gemeint, dass es in der Praxis bedauerli7

Diese Zusammenstellung beruht auf meiner langjährigen Erfahrung als Tangotanzende und -unterrichtende sowie als im Feld des Tangos forschende Soziologin. Empirisch beziehe ich die aufgelisteten Merkmale nicht nur aus vielen Gespräche und nicht-formalisierten Interviews sondern auch auf zahlreiche (Selbstverständigungs-)Materialien der Szene selbst. Zu diesen zählen z.B. in Deutschland die Zeitschrift „Tangodanza“ (unter www.tangodanza.de), in NL die Zeitschrift La Cadena (unter www.lacadena.nl), in Buenos Aires El Tangauta (unter www. eltangauta.com); die elektronische Zeitschrift www. tangokultur. info sowie die verschiedenen mailing-Listen, z.B. www.cyber-tango.com/tango. de. (10.07.06)

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che Ausnahmen gibt, bei denen im Vergleich zu diesen Normen etwas ‚schief läuft‘. Vielmehr ist die Praxis des Tanzens und der Teilhabe an der Szene kaum von der leiblichen Erfahrung dieser Normen geprägt. Dieser Widerspruch bewegt die Tangomenschen im metaphorischen wie konkreten Sinne; es gilt, ihn produktiv zu erfahren, zu reflektieren und zu ‚vertanzen‘. Darin steckt, wie ich meine, die Lebendigkeit des Tangos als Diskurs und als Bewegungskultur. Eingelagert in ursprungsmythischen Szenarien, die endlos in Shows, in der Tango-Lyrik, in Erzählungen, Büchern, Zeitschriften und Reiseführer zirkulieren, sind verschiedene Spannungen und „Paradessenzen“, die den Tango-Diskurs bis heute prägen. Paradessenzen sind paradoxe Gleichzeitigkeiten wie etwa „authentische Inauthentizität“, d.h. die Kombination zweier gegensätzlicher Eigenschaften.8 Paradessenzen sind, folgt man einer dekonstruktivistischen Lesart, weit verbreitet, denn – wie bereits erwähnt – leben binär verfasste Begriffe davon, dass das ihnen Entgegengesetzte konstitutiv im Begriff selbst enthalten ist. Eine solche Kodierung, die sich durch den Tango als Diskurs und als symbolischem wie materiellem Ort von Bewegungspraxen zieht, ist die Gleichzeitigkeit von argentinisch/global. Dies führt zu der auf Dauer gestellten Virulenz der Frage, wer ‚eigentlich‘ dazu gehört. Wer darf sich zu einer Szene dazugehörig wähnen, die durch eine ethnisch-nationale Rahmung konstituiert ist (argentinischer Tango) – obwohl bzw. gerade weil er oder sie sich diese Zugehörigkeit hart erarbeiten musste und eben nicht qua Geburtsort oder familiärem Hintergrund erworben hat? Historisch betrachtet, durfte es die urbane Elite von Buenos Aires und Montevideo nicht. Sie wurde, dies zeigen viele Quellen und auch entsprechende Inszenierungen, wie die oben beschriebene, in Gestalt des arroganten Snobs, der die ‚leichten Mädchen‘ begehrt, aber nicht verbindlich lieben kann, durchs Messer und durchs Tanzen bekämpft. Gleichwohl hat sie sich des Tangos bemächtigt; gerade die an Europa orientierten Eliten am Rio de la Plata haben sich den Tango als nationales Symbol angeeignet.9 Solche Auseinandersetzungen gibt es heute in der Form sicher nicht mehr. Aber sie leben notwendigerweise dann fort, wenn sich sowohl in Buenos Aires wie in Europa ein Milieu mit dem Tango identifiziert, das sich nicht mit den Tango-Subjekten des Ursprungs in einem emphatischen Sinne identifizieren kann. Und Außenstehende sind europäische, beispielsweise deutsche, Tangotänzerinnen und Tangotänzer allemal. Denn sie sind eben nicht argentinisch. Das ist, ob bewusst oder unbewusst, immer eine Herausforderung inso8

9

Der Begriff der Paradessenz wurde vom US-Amerikanischen Schriftsteller Alex Shakar in einem Roman verwendet und bezeichnet dort insbesondere die werbetechnische Möglichkeit, ein Produkt mit zwei gegensätzlichen Eigenschaften auszustatten und entsprechend zu bewerben. Ein solches Beispiel wäre etwa Anregung / Entspannung. Vgl. http://www.ideenfreiheit.de/erg_id.php3?b=1&typnr =5 (10.07.06). Vgl. hierzu Savigliano (1995: 137ff.).

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fern, als der argentinische Tango als Quintessenz der Argentinizität kodiert wird. Mehr noch, der argentinische Tango ist m.E. nur deshalb dermaßen erfolgreich, weil er in ganz bestimmter Weise als argentinisch verkauft wird. Das war in den 1920er Jahren so, das ist heute so. Gleichzeitig – und darin liegt für Westeuropäer/innen die eigentliche Exotik – ist eben diese Argentinizität hybrid, multiethnisch, transnational. Kaum ein Zeitungsbericht, Tango-Portal, kein Workshop bei Lehrern aus Buenos Aires, keine Gesprächsrunde nach einem tango-salón kommt ohne den Verweis darauf aus, dass der Tango absolut argentinisch sei und dass diese Essenz (aber) multiethnisch ist. Sie sei, genauer, europäisch: „Buenos Aires [ist] die europäischste Metropole Lateinamerikas. […] Im Grunde finden die Porteños, wie die Bewohner von Buenos Aires sich nennen, dass Armut nicht zu ihrem Land passt. Sie sind der Meinung, dass Buenos Aires die wahre Hauptstadt Europas sei – schließlich ist die 14-Millionen-Metropole der Schmelztiegel unserer alten Welt. Und dieses Erbe und ihre europäischen Pässe haben die Porteños gut aufbewahrt. Aus eben dieser Mischung wurde der Tango geboren: aus dem Durcheinander europäischer Sprachen, Musiken und Kulturen, aus der Fusion von Alter Welt und Neuer Welt, aus Armut und Heimatlosigkeit, Sehnsucht und der Suche nach Geborgenheit in der Umarmung eines Tanzes“ (Christen 2005: 9).

Das ist ein gravierender Unterschied zu den ethnonationalen Fundierungen westeuropäischer Nationalstaaten und deren Selbstverständnis, in Deutschland allemal. In Argentinien sind die meisten Menschen stolz darauf, mehrere nationale Zugehörigkeiten zu haben. Dazu das Jiddisch oder Baskisch ihrer Eltern und Großeltern als Akzent im Spanischen und nichts als Hybridität im Blut. Anders gesagt: Argentinizität ist multiethnisch, sie definiert sich als translokal. Dies mag auf den nunmehr zweiten Blick nicht paradox sein, doch wie eignen sich Menschen einen solchen Diskurs an, der den ethnonationalen Semantiken ihrer Bezugsländer deutlich widerspricht?

D a s g l a t t e P a r k e t t : Al l e s ( n u r ) e i n S p i e l Wie eignen sich nun deutsche, niederländische, französische, nordamerikanische, japanische Menschen Argentinizität im und durch Tango an? Und wie gehen Menschen aus Buenos Aires damit um, sich im Tango als Verkörperungen ethnonationaler Klischees erkennen zu müssen? Wie wird der kognitive Widerspruch erfahren, der darin besteht, einerseits ethnonationalistisch zu phantasieren und sich andererseits translokal und transnational zu bewegen? Die grundsätzliche Lösung des Problems der ‚Fremdheit‘ liegt in der Überführung des Tangos in ein Spiel, einer bewusst nicht-alltäglichen Welt, sowie der am Rande des Spielfelds dauerreflexiven Haltung. Aber Spiele sind keine 225

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vollkommen autonomen Welten, wie auch Gebauer und Wulf betonen (vgl. Gebauer/Wulf 1998: 187ff.), sondern beziehen sich immer auf ihre Umwelt, d.h. auf alltagsweltliche Aspekte.10 Diese werden innerhalb des Spiels auf komplexe Weise thematisiert und dabei variiert. Für Bewegungskulturen wie dem Tango gilt dabei, dass die alltagsweltliche Umwelt das je Lokale darstellt, in dem sich der argentinisch-europäisch-translokale Diskurs materialisiert. Global kursieren dieselben Bilder, Ursprungsmythen oder essentialisierenden Abtraktionen – lokal sind die ‚transweltlichen‘ Elemente der Bewegungskultur als Spiel und die entsprechenden Bewegungspraxen. Und damit auch die mimetischen Aneignungen im Rahmen der praxeologischen Konstruktion des Tangos. Oder, wie es eine Tänzerin in einer Zeitschrift formuliert: „Mein Tango baut auf kulturellen Codes auf, die zu mir und meiner Gesellschaft gehören. Der Tango erlaubt mir, sie wahrzunehmen und sie körperlich auszudrücken und zu variieren“ (Claudia aus Kassel in Tangodanza 3/2001: 57).

Im Tango wird das transweltliche lokale Element z.B. an den spezifischen ‚Eigenheiten‘ von Szenen und ihren Praxen gezeigt. In den Niederlanden z.B. gibt es einen regelmäßigen Oranje-Ball zum nationalen Feiertag, bei dem sich alle Teilnehmenden eben Orange anziehen sollen. „The first year (1994) the orange salon was organized, many foreigners came to this typically Dutch event. Due to the labour day celebration on May 1st. the foreign guests could party all night long. Opposed to the Dutch who have to work the next day. […] The dress code is generally very well received. This is el corte‘s only theme salon and I must say: it makes a difference seeing all these dancers wearing orange instead of traditional black!“ (http://www.elcorte.com/dance/orangeball.htm; 10.07.06)

Oder es gibt im rheinischen Teil Deutschlands Karneval-Tango-Events, bei denen verkleidet Tango getanzt wird. In den USA herrscht seit vielen Jahren, ja Jahrzehnten bei den Salóns absolutes Rauchverbot, die Leute bringen zu diesen eigenes Essen mit oder lassen große Rohkostplatten auftischen – in Buenos Aires oder Spanien sind Nichtraucher-Salóns hingegen (noch?) kaum anzutreffen, und auch gegessen wird dort eher nicht. Viele solcher kleinen, aber feinen Unterschiede werden in der Tango-Szene nicht nur erlebt, sondern auch explizit thematisiert und zwar so, dass diese Unterschiede sie jeweils als translokale Szene konturieren. Die regionalen Unterschiede werden nicht eingeebnet, sondern – soweit möglich – in die Kodierung argentinisch/europäisch eingebaut. So widmet sich die vierteljährlich erscheinende Zeitschrift „Tangodanza“ in einer regulären Rubrik immer dem Thema „Szene“ und stellt da10 Für eine Betrachtung des Tangos als ‚Spiel‘ im anthropologischen Sinne von Gebauer und Wulfs vgl. auch Villa (2003).

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rin ein bis zwei regionale Szenen vor. Auch die einschlägigen Portale im Netz bieten auf ihren Terminübersichten sehr häufig Anmerkungen zu Stil, Ambiente, Bodenbeschaffenheit, Gepflogenheiten einzelner Lokalitäten; die Tango-Gemeinschaft ist sich ihrer internen Differenzen reflexiv bewusst. Zugleich, und dies ist außerordentlich wichtig, verändert sich der Bezugspunkt für Authentizität, die ‚Argentinizität‘ dabei auch. Durch den beständigen Austausch innerhalb der global vernetzten Tangoszene, insbesondere durch den Fluss an Touristen von und nach Buenos Aires – dem ‚Mekka‘ des Tangos – und durch die ökonomische Angewiesenheit der Tangoprofis aus Argentinien auf den europäischen und nordamerikanischen Markt, werden die je regionalen Spezifika integriert, absorbiert und variiert. Damit gerät und bleibt der Tangodiskurs in Bewegung. Dies kann man beispielsweise an der Veränderung der Werbebilder im Kontext von Lehr- und Showannoncen beobachten, die etwa in Bezug auf Kleidung heute weitaus weniger die Ursprungsmythen der Jahrhundertwende anrufen und stattdessen auf Jugendlichkeit und Kreativität fokussieren. Die Gemeinschaft der Tango-Szene wird durch und anhand der regionalen Differenzen betont und auch erlebt, indem der Tango als ‚Essenz‘ inzwischen sehr abstrakt und vereinfacht beschrieben wird. Gesprochen wird kaum (mehr) über konkrete Techniken, Stile oder gar Schritte. Die derzeit vorherrschende Semantik negiert die faktische Vielfalt der Bewegungserfahrungen zugunsten einer abstrakten, geradezu metaphysisch-existenzialistisch kodierten Eindeutigkeit: der Tango sei Harmonie zwischen Mann und Frau, Eleganz, Verschmelzung mit der Musik, Dynamik, Sensibilität; eigentlich sei Tango das Miteinander-Gehen von Mann und Frau zu einer Musik. Tango ist immer „eine Begegnung zwischen einer Frau und einem Mann“ (Sartori/Steidl 1999:15); der Tango ist „ein subtiler Dialog zwischen Mann und Frau“ (ebd.: 14); „Eins plus eins ergibt beim Tango nicht zwei, sondern eins. Ein Mann plus eine Frau sind ein Paar. […] Daher besteht die Bemühung um technische Perfektion beim Tanz darin, zur Idee der Einheit, zum Bild der Einheit zu gelangen. […] Sobald das Paar sich verliert, geht der Tango verloren“ (Dinzel/Dinzel 1999: 9).

Auf solche Abstraktionen würden sich die allermeisten sicher einigen. Doch dieser Diskurs erzeugt auch Widerspruch: Von diesem handelt z.B. ein längerer Beitrag in der „Tangodanza“ unter dem Titel „Wider dem Mythos von Eleganz und Harmonie. Über das Differenzerleben beim Tango Argentino“. Arnold, ein Tänzer und Tangoautor aus dem Ruhrgebiet, formuliert darin den sicherlich verallgemeinerbaren Widerspruch in der Tango-Szene, den ich vorhin angedeutet habe: „Wer sich jedoch mit der ästhetischen und philosophischen Geschichte der Harmonie beschäftigt, kann nicht umhin festzustellen, dass sie in sich einem geradezu göttlichen

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Vollkommenheitsanspruch birgt, der dem irdischen Alltagsmenschen praktisch mit wenigen Ausnahmen unerreichbar bleibt“ (Arnold Voß in Tangodanza 1/2002: 56).

Arnold betont die Differenz zwischen Erleben und Mythos im Tango-Tun. Der Mythos verlangt nach Harmonie und Eleganz nicht nur der Körper, sondern auch der Seelen der Tanzenden – die Wirklichkeit ist aber von Differenzerfahrungen, von Frustrationen und Ängsten geprägt. Deshalb plädiert er nachdrücklich dafür, die „Normalität des Scheiterns“ (ebd.: 59) anzuerkennen und damit das Klima in der Tango-Szene zu verbessern. Ebenso beansprucht Claudia im obigen Zitat mehr Ehrlichkeit im Umgang mit den Eigenheiten der lokalen Codes, die dann das berühmt-berüchtigte „Gehen“ gestalten, die das Gehen überhaupt ermöglichen, die die Musik, zu der gegangen wird, auswählen sowie den Ort des tänzerischen Gehens schmücken. Diese Variationen dieser Codes werden ebenfalls reflexiv thematisiert. Ein roter Variations-Faden, ein Distinktions- und Unterscheidungsmerkmal ist der ominöse Stil. Dieser wird immer dann beschworen, wenn sich Tänzer und Tänzerinnen individuell als Mitglied der Community positionieren sollen oder wollen. Doch muss dieser immer auch die Balance finden zwischen Originalität und Traditionswahrung. Um dies zu bewerkstelligen, werden, z.B. in Interviews von Lehrer/innen und Profis, Genealogien angerufen. Da heißt es dann immer wieder ‚wir haben bei den Maestros soundso in Buenos Aires gelernt, nach und nach aber unseren eigene Stil entwickelt‘; das Eigene wird dabei variabel, feld- und situationsspezifisch, prozesshaft und explizit erzeugt. Wer sich als besonders souverän ausgeben möchte, argumentiert ganz im Sinne Bourdieus mit der Fähigkeit, alle legitimen Stile zu beherrschen, sich aber von keinem beherrschen zu lassen. So bestehen die meisten Profitänzer/innen und Lehrer/innen darauf, dass sie für die Bühne anders tanzen als in den milongas, also den regulären Tanzgelegenheiten. Sie bestehen darauf, ebenso den ‚estilo milonguero‘, also das sehr enge Tanzen zu meistern wie das offene, figurenbetonte, manchmal geradezu akrobatische, verschnörkelte ‚tango fantasía‘. Auch das häufig in Anschlag gebrachte Generationenargument bietet innerhalb der Tango-Gemeinschaft die Möglichkeit, sich ungestraft selbständig zu machen und gerade damit ein Teil der Szene zu bleiben. Eingekleidet in Familienmetaphern werden die alten ‚maestros‘ gewürdigt, die nunmehr über 80jährigen Tänzer, die alle Glanzepochen des Tangos aktiv erlebt haben – doch werden diese inzwischen eben wie Eltern oder Großeltern behandelt: Man verdankt ihnen die (Tango-)Existenz, aber hat ein eigenes Leben. Auch dies geschieht gewissermaßen mimetisch. Chicho, ein kommerziell sehr erfolgreicher Profi aus Buenos Aires, wird in einem Interview mit der „Tangodanza“ gefragt, ob er denn „auch zu alten Milongueros gegangen sei, um bei ihnen Unterricht zu nehmen oder um Rat zu fragen“:

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„Nein, nie. Ich habe immer zugeschaut und ausprobiert. Mit den alten Tänzern zu reden, ist oft kompliziert. Sie kommen aus einer anderen Zeit. Sie haben ein anderes Verhältnis zum Tango. Mit den meisten von ihnen kann man nicht über die Veränderungen im Tango reden. Die Älteren haben teilweise harte Zeiten hinter sich und tanzen ihren Tango so, wie sie ihn fühlen. Das ist ihre Wahrheit und das ist o.k. so. Es ist einfacher, ihnen zuzuschauen und Anregungen aufzunehmen. Reden hilft da oft nicht weiter“ (Chico in: Tangodanza 1/2002: 14).

Durch die Aktualisierung der je eigenen Zeit, d.h. durch die Veränderungen der jeweiligen transweltlichen Elemente im Spiel verändert sich denn auch die Bewegungspraxis. Und damit verändern sich langsam, aber unausweichlich auch die oben beschriebenen Dimensionen des hegemonialen Tango-Diskurses: „Die Tangoshow, in der ich gerne mittanzen würde, gibt es noch nicht. Das sind alles bekannte Muster, teilweise auch falsche und alberne Klischees. Das langweilt mich. Alle Shows sind mehr oder minder identisch. Viele jüngere Tänzer, nicht nur ich, empfinden das so. Wenn sich die Tangowelt weiter verändert und es Choreographen und Regisseure mit neuen Ideen gibt, dann machen wir – Lucia und Chicho – gern in einer Show mit. Aber soweit ist es leider noch nicht“ (ebd.: 15).11

Eine Veränderung, die die Tango-Welt durchmacht, ist der Wandel der Geschlechterverhältnisse bzw. genauer, der symbolischen Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit sowie der Geschlechterbeziehungen auf der Interaktionsebene. Dieser Wandel wird in sehr vielen Selbstverständigungstexten thematisiert – auch weil der Tango symbolisch wie körperpraktisch von einem klaren Geschlechterdualismus lebt, der sich in der klaren Struktur von Führen/Folgen materialisiert. Durchweg wird zugestanden, dass sich generell seit den 1920er oder 1940er Jahren die Geschlechterbeziehungen deutlich verändert haben und dass der Tango gewissermaßen einen Anachronismus darstellt, wenn man ihn als Spiegel bestehender Verhältnisse nähme. Aber erstens tut das ja niemand ernsthaft – Tango ist bekanntlich ein Spiel –, und zweitens wird durchgängig betont, dass „beim Tango grundsätzlich gilt, dass der Mann führt und die Frau folgt. Alles andere ist kein Tango mehr“ (ebd.). Eine Grenze, die die Subkultur selber also immer wieder zieht, um das zu bestimmen, was denn der Tango genau sei, besteht in der m.E. deutlich heterosexuellen Fixierung der Führen/Folgen-Struktur. Diese bewegen zu wollen, etwa durch die Aufhebung dieser Trennung, gilt so gut wie immer als ‚kein Tango mehr‘. Andererseits ist aber interessanterweise die biologische Naturalisierung keinesfalls notwendig, um die heterosexuelle Norm des Tangos zu fixieren. Gleichgeschlechtliche

11 Doch, möchte man ihm zurufen. Soweit ist es zum Teil durchaus. Aber die neueren, am Tanztheater orientierten Shows, sind eben kommerziell nicht so erfolgreich.

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Paare sind in Europa längst keine anstößige Seltenheit mehr, in Buenos Aires sieht man zunehmend Frauenpaare miteinander tanzen, und aus den USA habe ich jedenfalls schon lange nicht mehr gehört, dass gleichgeschlechtliche Paare (vor allem Männer) der Tanzfläche verwiesen wurden (wie noch vor einigen Jahren außerhalb der San Francisco Bay Area üblich). Die Entnaturalisierung, die sich auch darin zeigt, dass im Tango von Männern und Frauen gesprochen wird, wenn Führen und Folgen-Positionen gemeint sind, diese Entnaturalisierung folgt aber – meist unbewusst – alltagsweltlichen Mustern. Biologische Frauen nämlich übernehmen sehr viel häufiger als Männer den Part der Führenden im Tango. Sie sind schlicht viel schneller frustriert über die Art der Interaktionen im Tango, die z.B. nicht nur vorsieht, sondern auch so aussieht, dass Frauen Männer zum Auffordern verführen. Die hohe Kunst des „wallflowering“, des aktiven Sitzens und Wartens auf die Aufforderung seitens der Frauen auf Salóns, hat Savigliano (2003) das in einer dichten Beschreibung der Tango-Szene in Buenos Aires genannt. Ich kann hierauf aus Platzgründen nicht weiter eingehen, belasse es also mit dem Hinweis, dass die von Connell genannte „patriarchale Dividende“ von den Männern auch im Tango eingestrichen wird und sie sich diese nicht entgehen lassen wollen, indem sie sich zu ‚verweiblichten‘ Folgenden machen. Doch darüber wird in der Szene weitestgehend geschwiegen. „Milongas are a harsh environment within a harsh environment […]. Belonging to the milonga scene is […] an unstable status. […] Belonging to the milonga scene must be constantly re-enacted. […] There is no social contract beyond that ephemeral incident of a one-night encounter. […] In entering the milonga, tango dancers step onto a highly competitive stage ruled by the laws of naked seduction. […] Rules, codes, and the dance technique must be mastered. […] Nothing and nobody should be trusted. In the milonga everything means something else, and everyone pretends to be somebody else“ (ebd.: 181f.).

Diese ‚Verstellung‘ wird kollektiv, bewusst, reflexiv und damit in posttraditionaler Weise praktiziert. Sie führt zu einer entsprechenden Gemeinschaft, deren Diskurse und deren Bewegungen immer in Bewegung bleiben. Denn die Kluft zwischen Diskurs und Körperpraxis, zwischen Konstitution und Konstruktion bietet viel Raum für tänzerische und semantische Bewegungen. Kämen diese zum Stillstand, wäre der Tango tot.

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Präsenzeffekte. Zum Verhältnis von Bew egung und Sprache am Beispiel lateinamerikanischer Tänze GABRIELE KLEIN/MELANIE HALLER

„Es fließt wirklich“, „es geht wie von selbst“, „plötzlich passt alles“ oder „das war richtig der Kick“ – mit derartigen Formulierungen kommentieren nicht nur Sportler nach einem Wettkampf den für sie geglückten Verlauf des sportlichen Ereignisses. Auch Tänzerinnen und Tänzer1 benutzen diese Redewendungen, um ihr eigenes Empfinden während des Tanzens oder auch um das Verhältnis zu ihrem Tanzpartner bzw. der beiden Körper zueinander zu beschreiben. Während aber für Sportler das Gelingen der Bewegung funktional zu einem Ziel, dem sportlichen Erfolg steht, ist es für Tänzer das Ziel selbst. Es ist das besondere Kennzeichen des Tanzes als Bewegungskultur, dass Bewegung, verstanden als raum-zeitliche Form, und Bewegtheit, das Erleben der Bewegung, zusammenfallen müssen, um Bewegung als Tanz wahrzunehmen. Und so erleben Tänzer genau diese Synthese von Bewegung und Bewegtheit 1

„Es fließt wirklich“ (6S/487), „es geht wie von selbst“ (6S/489), „plötzlich passt alles“ (8T/466) oder „das war richtig der Kick“ (11T/173). Die Abkürzungen (Interviewnummer Tanz/Zeilennummer) beziehen sich auf die Experteninterviews, die wir im Rahmen des Forschungsprojektes „Trans/nationale Identität und körperlich-sinnliche Erfahrung. Urbane Tanzkulturen aus Lateinamerika im europäischen Kontext. Das Beispiel Tango und Salsa.“ in den Berliner und Hamburger Tango- und Salsa-Szenen geführt haben. Das von der DFG geförderte Projekt ist an der Universität Hamburg unter Leitung von Gabriele Klein angesiedelt und hat eine Laufzeit von November 2004 bis Juni 2007 (vgl. www1. uni-hamburg.de/gklein). In diesem Projekt werden die Tango- und Salsa-Szenen in Deutschland untersucht unter den zentralen Fragen, wie sich 1. der globale Transfer und die lokale Etablierung performativer Kulturpraktiken vollziehen und 2. welchen Stellenwert die Tänze anderer Kulturen für die Konstitution der für unsere Gesellschaft charakteristischen Identitäten haben.

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(vgl. Klein/Haller 2006) als einen besonderen Augenblick, für den es sich zu tanzen lohnt. Vor allem in Paartänzen scheint das Erleben des Verschmelzens von gemeinsamer Bewegung und dem Empfinden von Gemeinsamkeit in der Bewegung von besonderer Bedeutung zu sein, versprechen doch Paartänze jene Sehnsucht zu erfüllen, die die Menschheit seit jeher beschäftigt: die Verschmelzung mit dem Anderen, die Auflösung der Körperdistanzen und, für die moderne Gesellschaft charakteristisch, den Verlust einer stabilen Ich- und Körperkontrolle. Der besondere Augenblick, der als absolute Gegenwart, als ein körperlichsinnlicher Zustand von besonderer Intensität, als reine Präsenz erlebt wird, ist Bestandteil ästhetischer Erfahrung: Präsenz ist, so die grundlegende These dieses Textes, ein besonderes Erleben, das sich im Körper ablagern und auf das Subjekt verändernd wirken, also Erfahrung werden kann. Präsenz ist ein Erleben, das als unaussprechlich gilt und dass auf die erkenntnistheoretische Problematik von Bewegung verweist. Denn Bewegung als eine dynamische, in Raum und Zeit sich vollziehende und vergängliche Form ist einerseits nicht sprechbar. Andererseits aber müssen wir uns der Sprache bedienen, um z.B. die tänzerische Bewegung zu erkennen und sie in Bedeutungskontexte zu stellen. Bewegungs- und Tanzforschung sind von daher immer mit dem Problem der unaufhebbaren Differenz von Bewegung und Sprache konfrontiert. Verschiedene Autoren haben den Moment besonderen Erlebens mit unterschiedlichen Konzepten zu umschreiben versucht: So beispielsweise Jean-François Lyotard mit dem Konzept der „Intensität“ (vgl. Lyotard 1973), Karl-Heinz Bohrer mit „Plötzlichkeit“ (vgl. Bohrer 1981), Michail M. Bachtin über „Insularität“ (vgl. Bachtin 2001), Dieter Mersch über „Ereignishaftigkeit“ (vgl. Mersch 2002a, 2002b), Martin Seel mit Hilfe des Konzepts der „Epiphanie“ (vgl. Seel 2000), Walter Benjamin mit „Aura“ (vgl. Benjamin 1963), Philip Auslander über das Konzept der „Liveness“ (vgl. Auslander 1999) und schließlich Jean-Luc Nancy, Hans Ulrich Gumbrecht und Gerald Siegmund über das Konzept der „Präsenz“ (vgl. Nancy 1993; Gumbrecht 2004; Siegmund 2005, 2006). Das Konzept der Präsenz soll in diesem Beitrag herangezogen werden, um eine Annäherung an das Ereignis vorzunehmen, das Tänzer als dem Tanzen eigene, besondere Erfahrung von Gegenwärtigkeit kennzeichnen. Im nächsten Kapitel wird deshalb das Verhältnis von Bewegung und Präsenz skizziert. Danach wird auf dieser theoretischen Grundlage empirisches Material aus dem o.g. Forschungsprojekt herangezogen, um die verschiedenen Ebenen des Sprechens über das besondere Erleben im Tanz herausarbeiten zu können. Abschließend wird der Frage nachgegangen, inwieweit Tanz einen heterotopischen Raum eröffnet, indem er über die Ambivalenz von Gegenwärtigkeit und Gegenwelt, Authentizität und Andersartigkeit, Präsenz und Repräsentation Reales und Utopisches zu vermitteln vermag.

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PRÄSENZEFFEKTE

Bewegung und Präsenz Tanzen ist ein nicht-sprachliches Geschehen. Wie der Körper nicht spricht, sondern zeigt (vgl. Mersch 2000, 2003), hat auch die tänzerische Bewegung Zeigecharakter, der nur in der Negation, als das Andere sprechbar wird. Tanzen ist kein Ereignis, das erst im Nachhinein versprachlicht wird, d.h. die tänzerische Erfahrung ist nicht das Vorgängige, Eigentliche oder Ursprüngliche und vermeintlich Authentische. Anders als jene Konzepte von Erfahrung, die Erfahrung von Erleben abgrenzen, das Erleben als oberflächliches Empfinden kennzeichnen und der Erfahrung Tiefe zusprechen (vgl. Adorno 1970), oder die Erfahrung als ein subjektives Geschehen verstehen, das dem Einzelnen entweder passiv widerfährt2 oder das er aktiv herstellt3, liegt diesem Text ein Konzept von Bewegungserfahrung zugrunde, das die enge Verflechtung von Erfahrung und Diskurs betont. In Anlehnung an Michel Foucault verstehen wir Erfahrung als das Korrelat, das „in einer Kultur zwischen Wissensbereichen, Normativitätstypen und Subjektivierungsformen besteht“ (Foucault 1986: 10). Die tänzerische Erfahrung ist aus dieser Perspektive nicht ein sich im Inneren des Subjekts ereignendes und sich dort ablagerndes Geschehen. Sie ist vielmehr sozial, indem sie über den Bezug zu tänzerischem Wissen, zu Regeln, Techniken und Konventionen des Tanzes sowie zu Individualisierungsstrategien und Identitätsmustern hergestellt wird. Da Tanz aber neben dem diskursiven Wissen auch ein über den Körper hergestelltes narratives Wissen produziert (vgl. Klein 2006) und Normativitätstypen und Subjektivierungsformen entsprechend immer auch auf körperliche Regeln, Techniken und Konventionen bezogen sind, ist das, was sich im Tanzen ereignet, nur bedingt über Sprache darstellbar. Über Sprache lassen sich nur Annäherungen an Tanz vollziehen, die aber letztendlich immer an der unauflösbaren Differenz von Sprache und Bewegung scheitern müssen. Wie Bewegungserfahrung nur diskursiv, als Korrelat von Wissen, Subjekttechnologien und Macht hergestellt werden kann, ist auch das Erleben von Präsenz eine Setzung, die über Sprache erfolgt. Denn erst im Sprechakt, d.h. in der sinnweltlichen Rahmung wird Tanz als Ereignis hervorgebracht, weil erst über Kontextualisierung Bedeutung hergestellt und der Tanz als Erleben von Präsenz gedeutet werden kann. Entsprechend lautet die diesen Text leitende These: Präsenz wird sprachlich als Ereignis gesetzt. Diese Setzung bezeichnen wir als Präsenzeffekte. Präsenz ist ein zentrales Konzept einer Theorie des Körpers und der Bewegung, ist doch Präsenz ein wesentlicher Bestandteil einer Performativitätstheorie des Körpers bzw. einer Theorie der Verkörperung. Zudem ist Präsenz

2 3

Vgl. etwa den Chockmoment bei Walter Benjamin (1972). Vgl. z.B. Schulze (1993), Hartmann (1996), Kamper et al. (1987).

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relevant für die Kultur- und Wissenssoziologie, da Präsenz ein besonderer Effekt von Sinnstiftung ist. Die Konzepte von Präsenz, die für eine Soziologie des Körpers und der Bewegung relevant sind, stammen aus den der Soziologie benachbarten kulturwissenschaftlichen Disziplinen wie der Theaterwissenschaft, der Literaturwissenschaft, der Philosophie und Phänomenologie sowie der Performance-Theorie. Im deutschsprachigen Sprachraum hat sich vor allem die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer Lichte (2004) in jüngerer Zeit mit dem Konzept der Präsenz befasst. Sie versteht Präsenz als das Hier und Jetzt einer unwiederholbaren Gegenwart (ebd.: 14ff.). Die von Fischer-Lichte im Hinblick auf eine theatrale Aufführung formulierte These von Präsenz als Gegenwart unterstützt die amerikanische Performancetheoretikern Peggy Phelan (2004) mit Blick auf den Tanz. Auch sie versteht Präsenz als die Herstellung von Gegenwart. Gegenwart bedeutet für sie: die Unwiederholbarkeit des Tanzes. Phelan verbindet mit dieser Unwiederholbarkeit die Möglichkeit einer Kritik an der Repräsentationspolitik spätkapitalistischer Gesellschaften, vor allem von ethnischen Minderheiten. Denn: Je sichtbarer Minderheiten nach Phelan im öffentlichen Diskurs werden, desto mehr laufen sie Gefahr, zum Bild verfestigt zu werden, das sie auf bestimmte Verhaltensmuster oder Charaktereigenschaften festlegt. Wenn es z.B. über ‚Latinos‘ heißt, sie zeichneten sich durch eine „Geschmeidigkeit der Körper“ aus (7S/154f.), oder unterstellt wird, „ein Latino fühlt anders die Musik“ (15T/540), dann klingt in diesen Redeweisen eine postkoloniale Form des Rassismus an. Der Tanz hingegen, so Phelan, entzieht sich aufgrund seiner ‚Flüchtigkeit‘ dieser Repräsentationspolitik, die immer auch eine Strategie sozialer Ein- und Ausgrenzung ist. Dennoch, so zeigen die Äußerungen über ‚Latinos‘, ist die von Phelan unterstellte Differenz von Tanz als flüchtiges Medium der Präsenz und Sprache als Medium von Repräsentationspolitiken nicht haltbar, erscheint doch das Flüchtige als ‚Flüchtiges‘ nur im Kontext einer vor allem über Sprache hergestellten Bedeutungskultur, die sich der Wissensdiskurse, Normativitätstypen und Subjektivierungsformen bedient und auf diese Weise Tanz normativ als das ‚Andere‘, als Utopie oder Subversion oder als das Ausgegrenzte oder Diskriminierte deutet. Die Idee von Präsenz als einer unwiederholbaren Gegenwart stützt Dieter Mersch (2002a). Die von Fischer-Lichte beschriebene Gegenwart interpretiert er als ein Verstehen, eine Kontextualisierung des Sich-Ereignenden im Medium der Sprache.4 Präsenz ist demnach, wie Gerald Siegmund in seiner umfangreichen Habilitationsschrift nachgewiesen hat (vgl. Siegmund 2006), immer schon von Abwesenheit durchdrungen. Präsenz kann immer nur meinen: die Ef-

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Damit befindet er sich in Differenz zu der Annahme Martin Seels, der von einer materiell fassbaren Gegenwart ausgeht (vgl. Seel 2000).

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fekte von Präsenz, und diese müssen gerahmt werden, da Präsenzeffekte nur innerhalb einer Bedeutungskultur erkannt werden. Da das tänzerische Geschehen erst dann Erfahrung wird, wenn es kontextualisiert, d.h. in den Kontext von Wissens-, Normativitäts- und Subjektivitätsdiskursen gestellt und mit Bedeutung aufgeladen wird, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Präsenz und Bedeutung. Ähnlich wie Mersch eine Unterscheidung von Körper und Sprache, Zeigen und Sprechen unterstellt, beantwortet Jean-Luc Nancy (1993) diese Frage über eine grundlegende Differenzsetzung von Präsenz und Bedeutung, indem er sie als zwei sich widersprechende Formen menschlichen Weltzugangs begreift. Demnach ist das Bewusstsein Bedeutungserzeuger, aber von Präsenz ausgeschlossen wie umgekehrt Präsenz die Abwesenheit des Verstehens und Interpretierens voraussetzt. Allerdings kann das Eine das Andere nicht zum Verschwinden bringen. Im Unterschied zu einem Komplementärverhältnis bezeichnet Hans Ulrich Gumbrecht die Beziehung zwischen Präsenz- und Bedeutungseffekten als „Spannung“ oder „Oszillation“ (Gumbrecht 2003: 213) und unterstellt, dass es gerade das Charakteristikum des Kunstsystems sei, eine Simultaneität von Präsenz und Bedeutung herzustellen. Aber gerade diese Simultansituation ist auch für den Tanzenden schwierig zu bewältigen. Gumbrecht selbst führt als Beispiel den Tango Argentino an: Wer beispielsweise beim Tangotanzen auf den Text achte, könne sich nicht in die Musik „fallen lassen“. „Wer die Vielschichtigkeit der Bedeutungsnuancen nachvollziehen möchte, durch die der Text eines Tangos so melancholisch wird, verfehlt den vollen Genuss, der sich aus der Verbindung zwischen den Körpern der Tänzer ergibt“ (ebd.). Wenn ästhetisches Erleben sowohl auf Präsenz- wie auf Bedeutungseffekten beruht, dann ist deren Balance abhängig vom Medium: Im Unterschied zur Lektüre eines Textes beispielsweise, bei der trotz einer Vielzahl von Präsenzen wie etwa Schriftbild, Papierqualität und -geruch die Bedeutungsdimension Überhand gewinnt, ist im Tanz der Körper das Medium und mit ihm eine Dominanz von Präsenzeffekten provoziert, die den Tanz als das sich einer Repräsentationspolitik entziehende Medium par excellence erscheinen lässt. Nancy stellt die „Produktion von Präsenz“ (Gumbrecht 2004) in einen sozialen Kontext. Demnach produziert das in einer Inszenierungsgesellschaft über Medien forcierte beständige Erzeugen von Bedeutung eher Sinnentleerung. Das subjektive Verlangen nach Präsenz markiert von daher eine Gegenbewegung, in welcher der Wunsch nach der Produktion des ‚eigentlichen Sinns‘ zum Ausdruck kommt. Anders formuliert: In dem Verlangen nach Präsenz steckt auch das Bedürfnis, in einer zunehmend inszenatorischen und medialisierten Gesellschaft Kriterien zu haben, um zwischen Sein und Schein, Real und Fake unterscheiden und im Zuge von Eventisierung, Theatralisierung und Disneyfizierung das vermeintlich Echte, den authentischen Sinn ausmachen

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zu können. Und genau hier liegt auch die Relevanz des Tanzes, da er die Sehnsucht nach mehr Sinn im und durch körperliches Erleben zu erfüllen verspricht. Entsprechend sieht Gumbrecht die Produktion von Präsenz als eine Reaktion auf die dominant cartesianische Alltagswelt. Demnach produziert Tanz eine Gegenwelt. Denn Tanz ist, ähnlich wie Sport, ein gesellschaftliches Feld, das, ob im Stadion, in der Salsatheca oder im Tangosalon einen Situationsrahmen schafft, dem eine Distanz zur Alltagswelt eigen ist. Neben dem sozialen Ort vermögen Sport und Tanz das Verlangen nach Präsenz zu erfüllen, da sie unmittelbar an den Körper gebunden sind. Anders aber als im Sport ist der Körper im Tanz nicht primär das Instrument, Mittel oder Objekt der Zielverfolgung. Er ist eher das Medium, also der Sinnvermittler, über den eine Synthese von Bewegung und Bewegtheit hergestellt und damit das Erleben von Präsenz erzeugt werden kann. Präsenz kann nicht als gegenwärtig erlebt werden, sie ist, wie Nancy zeigt, immer schon von Absenz durchdrungen. Präsenzeffekte sind immer schon abwesend und nur als Abwesende, als Erinnerung reflexiv zugänglich. Bernhard Waldenfels nennt dieses Phänomen des Nicht-Einholens „originäre Absenz“ (Waldenfels 1999a: 30). „Vergegenwärtigung setzt voraus, dass das, was vergegenwärtigt wird, nie gänzlich anwesend ist, sondern eine bestimmte Abwesenheit bewahrt. […] Die räumlich-zeitliche Nähe und Ferne des Abwesenden wird nicht durch die Angleichung des Abwesenden an das Anwesende überwunden, sondern dadurch, dass Abwesendes durch Anwesendes herbeigerufen, in Erinnerung gerufen, beschworen wird, dass sich also etwas bemerkbar macht“ (Waldenfels 1999b: 134).

Bewegung ist nicht: „Ich fasse mich nur, indem ich mir entgleite. Leiblichkeit besagt, dass ich nur als anderer ich selbst sein kann“ (ebd.: 51; Herv. im Orig.), formuliert Waldenfels dieses Fehlen von Evidenz aus phänomenologischer Warte. Bewegungen sind flüchtige Phänomene. Sie verschwinden im Moment ihrer Ausführung sofort wieder. Sie sind einzigartig und können nur als das jeweils Andere wiederholt werden. Die Aufmerksamkeit auf Bewegung zu richten heißt demnach, sie immer schon zu verfehlen. Das Hier und Jetzt des Augenblicks, dessen wir im Medium der Sprache habhaft werden wollen, ist uneinholbar. Es ist immer schon im Übergang begriffen und damit ein jetztschon-nicht-mehr. Das ist die These der Präsenzeffekte. Insofern sind Wahrnehmung und Erkennen von einer Nachträglichkeit gekennzeichnet, die den Augenblick einer Bewegung nur aus der Erinnerung, aus der unmittelbaren Vergangenheit in den Blick nehmen kann. „Der Tanz gehört uns nicht und er gehorcht uns nicht“, schreibt Gerald Siegmund (2005: 71). Tanz ist eine kulturelle Praktik, die existiert, damit wir uns selbst erfahren und erkennen und uns über ihn, in seiner Abwesenheit mit238

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einander verständigen können. Die Abwesenheit des tänzerischen Ereignisses ist nicht nur das notwendige Übel der Flüchtigkeit der Bewegung. Sie gestattet auch, dem Phänomen der Präsenz im Tanz überhaupt Bedeutung beimessen zu können, weil genau dies im unmittelbaren Erleben nicht geschieht und geschehen kann. Und so ist es gerade die Qualität von Bewegung und Tanz, dass sie als ‚flüchtige Phänomene‘ von einem utopischen Nicht-Ort aus gedacht und gesprochen werden müssen. Erst diese Grundannahmen der konstruktiven Abwesenheit der tänzerischen Bewegung und deren Kontextualisierung im Rahmen eines Bedeutungssystems schaffen die Voraussetzungen für eine Annäherung an eine Theorie der Bewegung und des Tanzes.

Präsenz und Bedeutung: Empirische Befunde Ausgehend von diesen Überlegungen einer Differenz von Bewegung und Sprache, Präsenz und Bedeutung richteten sich unsere Interviews auf die Bedeutungszuschreibungen von tänzerischem Erleben. Wenn es kein ästhetisches Erleben im Tanz ohne Präsenzeffekte geben kann und Präsenz substanziell, d.h. im Tanz über und am Körper wahrgenommen wird und diese Wahrnehmungen wiederum über Bedeutungszuschreibungen Erfahrung werden und damit identitätsstiftend wirken und Alltagswelten transformieren können,5 dann stellt sich die Frage nach den Bedingungen, unter denen tänzerische Praxis als verinnerlicht, verkörpert oder verleiblicht erlebt und dieses Erleben umschrieben wird. Unser empirisches Material beruht insgesamt auf mehreren qualitativen Untersuchungen wie Ethnographie, Bild- und Bewegungsanalysen und qualitativen Interviews mit Experten sowie Gruppendiskussionen. Das für diesen Text herangezogene Interviewmaterial wurde im Hinblick auf die Frage ausgewertet, wie die Gesprächspartner Präsenz, das besondere Erleben im Tanz umschreiben. Dabei rückten vor allem jene sprachlichen Performanzen in den Vordergrund, die über das Sprechen das Erlebte hervorbringen. Dementsprechend interessierten uns nicht jene Äußerungen, die das Tanzen nach Geltungsansprüchen von Wahrhaftigkeit oder Richtigkeit, nach gut oder schlecht, richtig oder falsch charakterisieren. Anders als diese konstative Qualität (vgl. Austin 2002: 27ff.; Habermas 1982: 427ff.) von Äußerungen fokussierten wir die performativen Äußerungen, die den Tanz als ‚intensiv‘, ‚gelungen‘ oder ‚echt‘ charakterisieren. Um ihr tänzerisches Erleben zu umschreiben, benutzten die Interviewpartner verschiedene Sprachmuster und Sprachebenen, die sich vornehmlich in fünf Kategorien einteilen lassen: Verbildlichungen, Verkörperungen, Tanztechniken, Ereignishaftigkeiten und Positionierungen. 5

Die transformatorische Kraft des Tanzes wird zum Beispiel in (Tanz-)Filmen suggeriert wie z.B. Fame. Der Weg zum Ruhm, Dirty Dancing, Rhythm is it!, Mad Hot Ballroom, Dance! Jeder Traum beginnt mit dem ersten Schritt.

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Verbildlichungen meint die Symbole, Bilder und Metaphern, die die Interviewten verwenden, um den Tanz zu beschreiben. Obwohl Salsa und Tango beides lateinamerikanische Tänze sind, stehen sie für verschiedene soziale und imaginäre Welten und werden mit entsprechend unterschiedlichen Bildern belegt: Salsa wird beispielsweise mit Sommer (4S/455), Sonne (7S/682) und Spaß (12S/973) assoziiert, Tango weckt Assoziationen wie Leidenschaft (11T/45), Erotik (8T/465) und Sinnlichkeit (15T/215). Salsatanzen, so könnte man den Aussagen entnehmen, entspricht eher einem Freizeitvergnügen, das Zerstreuung im Augenblick verspricht, Tango hingegen ist ein Tanz, der eher als Medium für Erfahrungen dient. Ähnliche Differenzen zeigen sich bei der Umschreibung von Präsenz. Salsatänzer nennen es: „Alles flutscht“ (6S/426) oder „es kommt automatisch“ (4S/308), Tangotänzer benutzen Redewendungen wie „die körperliche Chemie muss stimmen“ (3T/1102), „da gibt es einen Fluss“ (11T/174) oder „es geht dann ins Schweben über“ (8T/696). Präsenz wird hier über eine tänzerische Bildsprache, die szenespezifisch differenziert ist, als ein körperliches Ereignis umschrieben, das geschieht, das dem Einzelnen widerfährt und ihn in eine Welt versetzt, die eine andere, nicht-alltägliche körperliche und soziale Erfahrung verspricht. Verkörperungen bezeichnet Prozesse der Inkorporierung und Verleiblichung sowie der Darstellung und Vermittlung des Inkorporierten (vgl. Alkemeyer 2004: 47). Im Tango bewegt man sich „aus der Mitte heraus“ (3T/654); er „geht unter die Haut“ (11T/198). Man braucht das „Großhirn nicht zu benutzen, Tanzen geht über das Rückenmark“ (10T/548). Und auch im Salsa heißt es: „Fühlt nur euren Bauch. Denkt nicht nach“ (6S/473,445), denn „der Körper muss erstmal das spüren, diesen Beat“ (12S/500), um dann „mit einer Bewegung des Körpers in den Rhythmus reinzukommen“ (12S/509). „Die Füße müssen den Rhythmus haben“ (2S/121), heißt es beim Salsa, während im Tango „das ruhige geschmeidige Gehen extrem wichtig ist“ (15T/263). Auffallend an diesen Umschreibungen ist die Trennung von Ich und Körper, der Tanz selbst wird in unterschiedliche Körperteile und -regionen verortet: Tanzen entsteht aus der Körpermitte, einzelne Körperteile, wie Füße oder Rückenmark, werden als Agenten der tänzerischen Bewegung vorgestellt. Tanzen setzt demnach ein Wissen und eine Erfahrung des Körpers voraus. Zu Verkörperungen fassen wir zudem Aspekte von Interkorporalität (vgl. Merleau-Ponty 1966, 1967). Das an das Konzept der ‚Intersubjektivität‘6 angelehnte Konzept der Interkorporalität fokussiert die Interaktion der Körper miteinander, eine Interaktion, die sich leiblich vollzieht. „Durch meinen Leib verstehe ich den Anderen, so wie ich auch durch meinen Leib die ‚Dinge‘ wahrneh-

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Vgl. zur Diskussion um Intersubjektivität und das Problem des Solipsismus: Joas (1985), Reckwitz (2000: 393ff.), Crossley (1996), Honneth (2003).

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me“ (Merleau-Ponty 1966: 220). Diese „Zwischenleiblichkeit“7 erleben Tangotänzer als „Verschmelzungserlebnis“ (3T/1076), das Paar erscheint als ein „vierbeiniges Tier“ (Elsner 2000: 11). Tangotänzer umschreiben diese Verschmelzung als „gemeinsame Wellenlänge“ (10T/765f.): „da passt alles zusammen“ (11T/174) oder „du stehst halt total im Austausch miteinander in der Bewegung“ (10T/897). Während das Gemeinsame im Tango als besondere Paarerfahrung bis hin zu einer Auflösung von Ich und Anderem beschrieben wird, formulieren Salsatänzer das gemeinsame Erleben eher als eine andere Paarerfahrung: Salsa bietet die Möglichkeit, gemeinsam ‚abzuschalten‘, wenn man „sich öffnet“ (12S/951): „man vergisst eigentlich alles um sich herum und ist nur mit dem Partner“ (7S/1004), man nimmt niemanden „um sich herum wahr, ist nur noch ganz im Tanz und mit dem Partner“ (6S/491). Im Salsa zeigt sich Zwischenleiblichkeit darin, „dass etwas zwischen den Menschen passiert“ (6S/621). Beide Tänze sind demnach Garanten für ein anderes Erleben, das der unterschiedlichen sozialen Funktion der jeweiligen Tanzszene (Salsa als Freizeitvergnügen, Tango als andere Seinserfahrung) entsprechend different, d.h. unterschiedlich sprachlich kontextualisiert ist. Es ist charakteristisch für Tanz, dass Präsenzeffekte als ein körperliches Erleben beschrieben werden, aber immer auch über Technik hergestellt werden. Deshalb fokussieren wir unter Tanztechniken die technische Durchführung von tänzerischen Bewegungen. Technik meint sowohl erlernbare und mitunter fixierte Tanztechniken (z.B. Grundschritte, Schrittkombinationen, Drehungen, Hebefiguren), aber auch subjektive Techniken wie z.B. Techniken des Spürens der Bewegung. Gelungen ist die Tangobewegung demnach beispielsweise, wenn „man Gewicht bewusst in die Erde gibt, durch das Plié und den flachen Fußauftritt“ (3T/656). Während im Tango das tanztechnische Können wichtiger für das Erleben von Präsenz erscheint, stehen im Salsa, möglicherweise auch aufgrund des vermeintlich geringeren technischen Schwierigkeitsgrades, eher subjektive Techniken im Vordergrund. Technische Anweisungen lauten dann: „Bewegt die Knie und die Hüfte, egal was ihr macht“ (12S/420). Tanzen kann man, „wenn man den Bauch sehr gut bewegen kann“ (4S/679). Eine zentrale subjektive Technik ist der Umgang mit dem Sehen, dem distanziertesten Sinn des Menschen. Auch hier finden sich Differenzen zwischen Tango und Salsa, die mit den spezifischen Erfahrungen von Interkorporalität korrespondieren. Im Tango sei es einfacher, mit geschlossenen Augen „sich führen zu lassen als mit offenen Augen“ (1T/16), im Salsa hingegen sorgt gerade der Blickkontakt für „ein Feeling“ (4S/563). Im Unterschied zum Sehen erfolgt die tänzerische Wahrnehmung in beiden Tänzen über das Spüren (vgl. Gugutzer 2002: 88ff.): „Du fühlst den anderen, du kannst ihn riechen, du spürst 7

Zwischenleiblichkeit ist die gängige Übersetzung von intercorporéité bei Merleau-Ponty, die er auch als „leibliche Intersubjektivität“ (Merleau-Ponty 1967: 59) bezeichnet.

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wie er sich bewegt“ (7S/329), heißt es im Salsa. Zentral für Tango ist „das Fühlen, das Hören, das Spüren des Körpers des Anderen“ (15T/133). Wie nun wird das tänzerische Erleben als Ereignis präsentiert? Diese Frage ist gebündelt unter der vierten Kategorie Ereignishaftigkeiten. Hierunter soll die Qualität und Intensität des Tanzes gefasst werden. Sie lässt sich differenzieren nach dem Erleben des eigenen Körpers im Tanz: Ich habe „mit meinem Körper Frieden geschlossen durch Salsa“ (6S/341), und nach dem subjektiven Erleben, das in beiden Tänzen an transzendente Erfahrungen erinnert: Tango offeriert „himmlische Momente“ (15T/397), Salsa ermöglicht „Trance“ (6S/ 492) oder „Rausch“ (14S/852). Tanz erscheint zudem als soziales Ereignis („und alle probieren mit allen“ [12S/322]), wobei der zentrale Dialog in der Bewegung mit der Musik erfolgt („die Musik so umsetzen, wie ich es spüre und kein anderer“ [11T/51]). Das tänzerische Erleben erscheint als eine Symbiose zwischen den beiden Tanzenden und der Musik, als ein „symbiotisches Erlebnis zu dritt“ (3T/532). Gerade dieses Erleben befördert die Erkenntnis einer Differenz von Bewegung und Sprache: „Tango ist irgendwie natürlich unbeschreiblich“ (13T/486) oder „Salsa ist etwas, das man nicht verstehen kann, sondern fühlen muss“ (4 S/304). Die fünfte Kategorie ist die der Positionierungen des Selbst im sozialen Raum. Hierzu zählen Beschreibungen, die der Herstellung und Aktualisierung von individueller und sozialer Identität dienen. So betonen die Tangotänzer, dass der Tanz identitätsstiftend sei: „Das Tanzen deckt sich mit meiner Person, meiner Persönlichkeit“ (11T/462f.) und man „hat das Gefühl, […] in eine Familie aufgenommen zu werden“ (10T/1033), in eine „eingeschworene Gemeinschaft“ (8T/266). Bei diesen Subjektivierungsstrategien fallen aber vor allem genderspezifische Aussagen auf, in denen eine Konventionalisierung des traditionellen Geschlechtercodes durch den Verweis auf traditionelle Rollenmuster erfolgt. Für Männer werden beide Tänze als Möglichkeit beschrieben, wieder „klar zu kommunizieren, wieder Mann zu sein“ (6S/666). Den Frauen hingegen wird zugeschrieben, durch das Tanzen Selbstbewusstsein entwickeln zu können („die Frauen stehen mehr zu sich“ [15T/1059]), abschalten zu können und nicht denken zu müssen, sich auf den Mann einzulassen und sich führen zu lassen („ich möchte am Abend mich führen lassen“ [15T/495]), um auf diese Weise einer traditionellen Geschlechterrollenaufteilung zu folgen: „Der Mann führt, die Frau folgt“ (3T/627). Zusammenfassend lässt sich festhalten: Über die Erzählung wird das tänzerische Erleben als Ereignis gesetzt. Im Zuge dieser Übersetzung von Präsenz in einen Bedeutungskontext findet eine Transformation des Flüchtigen, Vergänglichen, Abwesenden statt: Aus dem flüchtigen Ereignen wird ein Ereignis, aus dem Fühlen ein Gefühl, aus dem leiblichen Erleben ein körperliches Erlebnis und aus dem ‚flow‘ der Bewegung und mit den Anderen eine 242

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Interaktion, aus den Imaginationen symbolträchtige Bilder. Über die Bedeutungszuweisung gerät das tänzerische Erleben in den Raum sozialer Repräsentation. Tango und Salsa als differente soziale Szenen und Tanz als Medium körperlicher Erfahrung repräsentieren eine „eigene Welt“ (7S/680), die vor allem im Tango als „andere Welt“ (11T/265) vorgestellt wird. Diese sozialen Repräsentationen sind Effekte einer zeitlich vorgelagerten, individuell erlebten Präsenz. Sie sind selbst performativ, weil sie zugleich kulturell tradierte Diskurse einer okzidentalen Sozialwelt aktualisieren. Wenn also Präsenzeffekte des Tanzes in Bedeutungskontexte gestellt werden, dann zeigt sich die Differenz von Bewegung und Sprache auch als eine Differenz von Präsenz und Repräsentation, von Leiblichkeit und Körperbildern, die unauflöslich und unhintergehbar der Bewegungs- und Tanzforschung eigen sind.

Tanz als Heterotopie Die lateinamerikanischen Tanzszenen in Deutschland erscheinen als Modelle eines heterotopischen Raumes, wie ihn Michel Foucault formuliert hat, als ein realer Raum, der aber immer das Potenzial des Utopischen in sich birgt. Heterotopie ist zunächst ein Raumkonzept, das in jeder Kultur existiert. Foucault beschreibt Heterotopien als „wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hinein gezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können“ (Foucault 1991: 68). Heterotopien sind aber nicht allein an reale, räumliche Strukturen gebunden, sie sind „gewissermaßen eine zugleich mythische und reale Bestreitung des Raumes, in dem wir leben“ (ebd.). Das Selbsterleben im Tanz ist das Erleben eines anderen Raumes, einer imaginierten Sozialwelt, die über naturalisierende Bilder (Kuba: Sommer, Sonne, Salsa; Argentinien: Erotik, Sinnlichkeit, Tango) hergestellt wird. Tanzen befördert insofern ein neues Verhältnis von imaginierter und realer Welt, wie es für posttraditionale Gesellschaften als charakteristisch erachtet wird: Imaginäres und Reales vermischen sich, Bilder erscheinen als real, das Reale als Bild. Tango und Salsa erscheinen aus dieser Perspektive als eine postkoloniale Form des kulturellen Dialogs, der die soziale Realität einer anderen Kultur und ihrer Bewohner zum Wunschbild einer schönen Welt transformiert. Tango und Salsa sind Tänze, die einen heterotopischen Raum eröffnen und eine paradoxe Erfahrung erlauben. Als Produkte anderer Kulturen können sie transformierend wirken, indem sie eine andere kulturelle Erfahrung in einer anderen, wenn auch kommerziell hergestellten Sozialwelt versprechen. Als Tänze erlauben sie körperlich-sinnliche Erfahrungen des Fremden, in der sich die 243

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der Begegnung mit dem Fremden eigene Ambivalenz von Bedrohung und Begehren weitgehend zugunsten des Letzteren auflöst. Aber: Die Tänze gehorchen auch einem tradierten Normenkodex von Führen und Folgen, der traditionelle Geschlechterrollen und entsprechende Bewegungsfiguren aktualisiert. Insofern ist das Tanzen als Erleben von Präsenz zwar eine ‚andere‘, vermeintlich authentische Erfahrung, als kinetisch-physiologisches Erleben kann es aber auch als eine Einübung in traditionelle normative Codes gelesen werden, gerade weil über den Wunsch nach Präsenz soziale Codes in den Körper so wirksam eingeschrieben werden können. Dieses Oszillieren zwischen Transformation und Konvention korrespondiert mit dem Oszillieren zwischen Präsenz und Repräsentation. So erscheint die tänzerische Erfahrung einerseits als Gegenpol einer ständigen Bedeutungsproduktion, da sie, an den Körper gebunden, Echtheit garantiert. Das in den Interviews umschriebene Erleben von Präsenz ist als ein körperlicher Versuch zu lesen, die für das Subjekt notwendige Trennung von Sein und Schein in einer immer bedeutungsreicheren und Symbolismen produzierenden Gesellschaft vorzunehmen. Gleichwohl sind die Tango- und Salsa-Szenen selbst inszenierte und szenifizierte Sozialwelten, die sich in theatralen Räumen der Clubs, Salsatecas oder Tangosalons über posttraditionale Vergemeinschaftung, d.h. als Gemeinschaften des Augenblicks (vgl. Hitzler/Pfadenhauer 2001; Pfadenhauer/Gebhardt 2000) konstitutieren und damit eine Vergemeinschaftungsform favorisieren, die als Prototyp einer Spektakelgesellschaft und eines flüchtigen Erlebens im Hier und Jetzt gelten können. Denn: Wie kann, wenn die Gesellschaft des Spektakels „immerwährende Gegenwart“ verspricht, wie es Guy Debord (1996: 203) nannte, der Tanz als eine flüchtige Form ein widerständiges, sozialen Alltag transformierendes Potenzial beinhalten? Kann nicht gerade der Tanz als Apologie für die Werte der globalisierten Welt wie Beweglichkeit, Flüchtigkeit, Flexibilität und Sich-ständig-Neuerfinden gelesen werden? Hier greifen die Thesen von Phelan, Gumbrecht und Nancy zu kurz, ist doch die aufgeladene Gegenwart selbst zum Imperativ einer eventisierten, theatralisierten, disneyfizierten Konsumgesellschaft geworden. Genau das Flüchtige, das für Phelan oder Gumbrecht oder Nancy das stärkste Argument für Präsenz als Gegenerfahrung und mögliches transformierendes Potenzial ist, vermag die Ökonomie der neoliberalen Gesellschaft auch zu stützen: Durch die beständige Produktion und den fortwährenden Konsum von immer Neuem, auch in der Kunst, die selbst immer mehr eventisiert wird. Die auf neoliberalen Konzepten beruhende Produktion des immer Neuen befördert ein Geschichtsverständnis, das sich ständig selbst auslöscht und möglichst keine Spuren hinterlässt, um den reibungslosen Neukonsum – auch von Kultur – nicht zu behindern. Die Produktion von Präsenz im Tanz provoziert demnach nicht so sehr eine Gegenwelt. Vielmehr wäre gerade das Verlangen nach Präsenz ein Indiz dafür, dass Tanz als geeignetes Medium eines Einübens in die für 244

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die neoliberale und globalisierte Gesellschaft zentrale Gegenwartsproduktion fungiert. Doch gerade die in diesem Text dargelegte Analyse zeigt, dass Tanz weder reine Präsenz noch Repräsentation, weder reine Bewegung noch Sprache ist, sondern seinen Ort im heterotopischen Raum des Dazwischen hat.

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Schw ere Felsfahrt. Leo Maduschka und de r alpinistische Diskurs um 1930 MICHAEL OTT

Al p i n i s m u s u n d a l p i n i s t i s c h e r D i s k u r s In einem Interviewband äußerte vor einigen Jahren der wahrscheinlich berühmteste Bergsteiger der Gegenwart, Reinhold Messner: „Mit dreiundzwanzig, vierundzwanzig Jahren hatte ich erkannt, dass das Ausgesetzt-Sein in der wilden Natur Grundvoraussetzung für meine Art des Erlebens war. Wo Helfer, Vorgaben, Technologie fehlten, tat sich mit dem Todesrisiko der Himmel auf“ (Messner 1996: 60). Der Extremalpinismus, das Klettern und Durchsteigen schwierigster Felsund Eiswände, ist wohl diejenige ‚sportliche‘ Körperpraxis, in der Menschen diesen Körper am häufigsten ganz buchstäblich aufs Spiel setzen. Unfälle – und damit Gefahren von Invalidität oder Tod – kommen zwar auch in anderen Sportarten vor, beispielsweise im Motorsport; ihre Möglichkeit macht vielleicht sogar einen oft verschwiegenen Teil von deren Spektakularität für die Zuschauer aus. Doch keine andere Bewegungspraxis ist im Höchstleistungsbereich so sehr vom körperlichen Risiko geprägt wie der Extremalpinismus – und zwar meist ohne alle Zuschauer: Trotz der inzwischen bis ins Detail ausgefeilten Sicherungstechnik ist er eine förmliche Aussetzung des Körpers an natürliche Gefahren und bewegen sich seine Grenzgänge in der ‚Todeszone‘ oder an der Grenze zum tödlichen Absturz. Über die Gründe, warum im Zeitalter der Versicherungen gerade diese riskante Körperpraxis im Bürgertum – zuerst in Großbritannien, dann auch in anderen Ländern – so attraktiv und faszinierend wurde, ist schon oft spekuliert worden. Die Angst-Lust am Erhabenen wurde ebenso dafür in Anschlag gebracht wie die Kompensation zivilisatorischer Langeweile, das Bedürfnis nach ‚starken‘ Erfahrungen in einer medial strukturierten und nur mehr ‚sekun249

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däre‘ Erlebnisse vermittelnden Kultur oder die Suche nach einem neuen Heroenideal bürgerlichen ‚Aufsteigertums‘ (vgl. Böhme 1997). Es geht im Folgenden aber nicht um Bestätigung oder Widerlegung solcher Erklärungen. Vielmehr soll, in Ergänzung zu neueren körper- und sportsoziologischen Untersuchungen des gegenwärtigen (und ‚postmodernen‘) Risikosports (vgl. Bette 2004), an einem historischen Beispiel eine Besonderheit dieser alpinistischen Körperpraxis untersucht werden.1 In ihr wurden nämlich praktisch seit den Anfängen des organisierten Bergsteigens das Erlebnis, das Risiko und damit auch die Frage nach dem Sinn dieser Praxis Gegenstand eines intensiven internen Diskurses; man erzählte (und interpretierte damit) die eigene Körperpraxis und Körpererfahrung permanent selbst. Einer der berühmtesten englischen Alpinisten, der 1895 am Nanga Parbat verschollene Albert Frederick Mummery, leitete sein im Todesjahr erschienenes Buch My Climbs in the Alps and Caucasus mit dem Satz ein: „Es scheint das Schicksal jedes Bergsteigers zu sein, dass er früher oder später ein Opfer des ‚furor scribendi‘ wird“ (Mummery 1988: 9). Alpinisten werden, wenn sie nicht zu früh Opfer des Berges werden, Opfer der Schreibwut. Tatsächlich gab es auch nach Mummery kaum einen berühmten Bergsteiger, der nicht wenigstens in Aufsätzen schriftstellerisch aktiv wurde, und der eingangs erwähnte Reinhold Messner, inzwischen Autor von mehr als vierzig Büchern, bietet für diesen „furor scribendi“ wohl das anschaulichste Beispiel. Die Alpinschriftstellerei diente aber nicht nur dem Erwerb symbolischen oder auch einfach materiellen Kapitals – beispielsweise zur Finanzierung der kostspieligen Expeditionen. In der deutenden Beschreibung wird vielmehr einerseits immer wieder die eigene Form des Bergsteigens in Abgrenzung zu anderen profiliert und legitimiert. Andererseits durchziehen auch ganz andere soziale und politische Diskurse diese Selbstinterpretation und Legitimation. So liefert zum Beispiel seit dem 19. Jahrhundert der kolonialistische Kontext ganz selbstverständlich die Rhetorik des Beschreibens alpinistischer ‚Eroberungen‘ und des ‚Tilgens weißer Flecken auf der Landkarte‘; dagegen wurden in der postmodernen Vervielfältigung alpinistischer Praktiken seit den 1970 er Jahren häufig die Diskurse der Ökologie-, Friedens- oder Frauenbewegung aktiviert und Rhetoriken männlicher und national aufgeladener ‚alpiner Groß1

Der Alpinismus scheint diejenige ‚sportliche‘ Praxis zu sein, wo am ehesten eine Parallele zu zahlreichen neueren Sportarten (wie Paragliding, Rafting etc.) vermutet werden kann, in denen das körperliche Risiko nicht nur ein mehr oder minder in Kauf genommener (aber zu minimierender) Faktor beim Erzielen messbarer Höchstleistungen ist, sondern Unvorhersehbarkeit, Abenteuerlichkeit und die Auslieferung an Extremsituationen geradezu Motiv der Körperpraxis werden (vgl. hierzu neben Bette [2004] auch Gebauer et al. [2004]). Gerade aufgrund dieser – scheinbaren – Kontinuität gilt es freilich, die alpinistische Praxis historisch zu differenzieren und ihre jeweiligen diskursiven Kontexte zu berücksichtigen.

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taten‘ folglich abgelehnt. Der körperlichen Risiko-Praxis des Alpinismus korrespondiert, so ließe sich zugespitzt sagen, ein sich historisch permanent verändernder Rahmen möglicher diskursiver Selbstdeutung dieser Praxis, welcher dann – durch die Lektüre dieser Texte in Alpinistenkreisen – auf das Bergsteigen selbst zurückwirkt. Die folgende Skizze soll versuchen, diesen Zusammenhang von Körperpraxis und Diskurs an einem Beispiel aus der für den Alpinismus wichtigen Entwicklungsphase zwischen den Weltkriegen zu erkunden.

„Junger Mensch im Gebirg“ Leo Maduschka war einer der besten Felskletterer der Zeit um 1930. 1908 geboren, hatte er mit vierundzwanzig Jahren gerade in München seine germanistische Dissertation über „Das Problem der Einsamkeit im 18. Jahrhundert“ abgeschlossen, als er im September 1932 in der berüchtigten Civetta-Nordwestwand während eines Wettersturzes erfror. Schon kurze Zeit später erschien unter dem Titel Junger Mensch im Gebirg eine von Walter Schmidkunz redigierte Sammlung von Erinnerungen, Tourenberichten, programmatischen Aufsätzen und Gedichten Maduschkas, die ihn bald berühmt machte (Maduschka 1932):2 Seine Texte und sein früher Tod ließen ihn für eine ganze Generation junger Bergsteiger zu einer Art Ikone werden, vergleichbar vielleicht dem 1917 gefallenen Dichter Walter Flex für die Weltkriegsveteranen gut fünfzehn Jahre zuvor. Diese nahezu mythische Verehrung kann allerdings, liest man heute Maduschkas Texte, zunächst etwas verwundern: Sie wirken bei aller sprachlichen Gewandtheit häufig pathetisch, in den Naturbeschreibungen klischeehaft und in ihrer Bildlichkeit epigonal. Ihre Qualität erschließt sich allenfalls im Vergleich mit anderer zeitgenössischer Alpinliteratur,3 und die Befremdlichkeit aus heutiger Sicht signalisiert einen historisch erheblichen Abstand. Doch darf 2

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Die Erstausgabe des Erinnerungsbuchs erschien 1932, das (undatierte) vorliegende Exemplar jedoch frühestens im Sommer 1937, da darin (S. XXXIV) vom Tod Martin Pfeffers berichtet wird, der 1937 am Nanga Parbat von einer Lawine verschüttet wurde. Im Geleitwort zu einer Neuausgabe von Maduschkas Schriften schrieb Helmuth Zebhauser 1992: „‚Leo Maduschka – Junger Mensch im Gebirg‘ war in den dreißiger Jahren und bis etwa 1950 eines der Kultbücher junger, kritischer Bergsteiger“ (Maduschka/Zebhauser 1992: 335). Nur wenige Beispiele: „In wenigen Wänden noch hat die letzte Felseinsamkeit meine Seele tiefer ergriffen, haben die leisen Schauer der Verlassenheit mich eindringlicher überkommen als in dieser Mauer“; „Der Aufstieg: weiße Mondwiesen, vorbei an den schlafenden Höfen der Leutasch mit den singenden Brunnen, oben die blei-chen Wände und darüber gebreitet die funkelnden Silberfluren des Herbsthimmels; Rauschen des Wassers […]“ (Maduschka 1932: 82, 95). – Zebhauser nennt als vergleichbare Texte Meyers Tat und Traum, Der denkende Wanderer von Henry Hoek und als Gegensatz die „alpine […] Trivialliteratur des Luis Trenker“ (Maduschka/Zebhauser 1992: 302).

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dieser nicht darüber hinwegtäuschen, dass Maduschkas Texte von seinen Zeitgenossen gerade als Ausdruck eines ‚modernen‘ alpinistischen Selbstverständnisses und insofern im Gegensatz zu traditionellen Selbstbildern verstanden wurden. Seinen Status als Kultbuch verdankte Junger Mensch im Gebirg offenbar nicht zuletzt dem Umstand, dass es in diesem Sinn als zeitgemäßer Generationsausdruck gelesen wurde; und zudem gab der frühe Tod Maduschkas dem Buch die Weihe eines ‚Vermächtnisses‘, eines durch diesen Tod beglaubigten authentischen Sprechens vom Erlebnis des Gebirges. Unabhängig von dieser, vor allem im Vorwort und den Grußworten von Freunden zum Ausdruck kommenden Eigentümlichkeit des Buchs sind Maduschkas Texte allerdings auch signifikante Beispiele des skizzierten alpinistischen Diskurses. Dieser Diskurs artikuliert sich überwiegend im Schrifttum von Büchern und (Vereins)-Zeitschriften und ist von den Genres (wie z.B. Tourenberichten) über die möglichen Themen bis hin zur Metaphorik relativ stark reglementiert. Er adressiert sich vorwiegend an alpinistisch Aktive und fungiert insofern als Selbstverständigungsmedium, in dem extremer körperlicher Erfahrung Ausdruck und potentiell auch Sinn verliehen wird. Dieser interne Diskurs ist im Bergsteigen nun jedoch unvergleichlich wichtiger als in anderen ‚sportlichen‘ Praktiken, denn seit seiner sportlichen Verselbständigung, nämlich der Ablösung von wissenschaftlichen Zielsetzungen, verstand sich der Alpinismus gleichwohl stets anders und weiter denn als ‚Sport‘. Man ist nicht im selben Sinn Alpinist, wie man zum Beispiel FreizeitFußballer ist; das Bergsteigen ist mit charakteristischer Natur- und Landschaftsästhetik verbunden, entwickelt ein eigenes Ethos (in dem Kameradschaft und Treue zentrale Werte sind) und bestimmt im extremen Fall total, von der Berufswahl bis zur Kleidung und vom sozialen Umfeld bis zur Sprache, den Lebensstil und das Selbstverständnis seiner Anhänger. Spätestens seit der Jahrhundertwende ist gerade die Grenzziehung zum nur als Ausgleich und Freizeitvergnügen verstandenen ‚Sport‘ konstitutiv für dieses Selbstverständnis. In Maduschkas Worten: „Gewiß, unser Tun, von äußerlich technischer Seite betrachtet, ist Sport. […] Allein das Wort besagt hier gar nichts: Denen von uns, die es ehrlich mit ihrer Liebe zu den Bergen meinen, ist ihr Tun, an das sie viel von der schönsten Zeit ihres Lebens vergeben, jedenfalls mehr als das, was man so gemeinhin unter Sport versteht“ (Maduschka 1932: 149).

Die sich so zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken formierende, mit Bourdieu als Habitus zu beschreibende ‚Lebensform‘ ist freilich alles andere als unabhängig von sonstigen sozialen und symbolischen Verhältnissen, sie ist vielmehr geradezu ein Kreuzungspunkt der Kraft- und Konfliktlinien ihres Entstehungsfeldes (vgl. Bourdieu 1993: 97ff.). In diesem Sinn kann 252

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man versuchen, auch die Texte Leo Maduschkas als Überschneidungen heterogener zeitgenössischer Diskurse in den Blick zu nehmen. Bezogen bleiben sie freilich fast alle auf das Bergsteigen als körperliche Praxis und vor allem als Praxis körperlichen Risikos: Maduschka konnte, insofern er ein zugleich bergsteigender und schreibender Student und in gewisser Weise nichts anderes war, in den Augen seiner Um- und Nachwelt zur Inkarnation eines bestimmten Typus des Alpinisten werden.4

Al p i n i s m u s a l s L e b e n s f o r m Seine bergsteigerische Laufbahn begann Maduschka zu einem Zeitpunkt, als der Alpinismus weitgehend etabliert, in Verbänden und Vereinen organisiert und eine bestimmte Phase des alpinen Heroismus bereits abgeschlossen war (vgl. Günther 1998). Alle Gipfel der Alpen waren erstiegen (oder ‚bezwungen‘), auch ein Großteil schwieriger Grate und Wände waren erstbegangen, und die im engeren Sinn alpinistischen Techniken des Fels- und Eiskletterns, der Sicherung mit Seil und Haken und des Verhaltens bei verschiedener Witterung waren bereits in Fachliteratur und Lehrschriften beschrieben. Sie waren freilich auch mentale Lehrschriften: „Als ich nach […] Sommern voll von Bergschönheit und Einsamkeit, von Wandern und Erinnern wieder in die große Stadt kam, vermeinte ich, der nüchtern-graue Alltag müß-te mich erdrücken. Und da die Berge in dieser Zeit gleichsam nur ein fernes Traumbild am Horizont meiner Wünsche waren, so trieb ich Bergsteigen eben in der Theorie: Franz Nieberls ‚Felsklettern‘ war das erste alpine Buch, das ich las – nein förmlich verschlang, während mir dabei schon die leuchtendsten Phantasiebilder von zukünftigen eigenen Klettertaten vor Augen schwebten“ (Maduschka 1932: 4).

Einige Jahre später sollte Maduschka selbst zwei Lehrschriften verfassen – Neuzeitliche Felstechnik (sic!; vgl. Maduschka/Zebhauser 1992: 223ff.) und Die Technik schwerster Eisfahrten (vgl. Maduschka 1934). Zwischen der ersten Lektüre und der alpinen Schriftstellerei vollzog sich bei ihm eine klassische bergsteigerische Sozialisation: Nachdem er in den Ferien im Allgäu die Berge für sich ‚entdeckt‘ und in den folgenden Sommern und Wintern Klettern und Skifahren gelernt hatte, wurde Maduschka mit Studienbeginn 1928 vom „Akademischen Alpenverein München“ (AAVM) aufgenommen.

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Nicht berücksichtigt wird im folgenden Maduschkas von Walter Brecht betreute Dissertation über Das Problem der Einsamkeit als geistesgeschichtliche Erscheinung (1932, Auszüge in Maduschka/Zebhauser 1992: 273ff.), da sie eher wissenschaftsgeschichtlich von Interesse als in unmittelbarem Zusammenhang mit seinen alpinistischen Schriften zu sehen ist.

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Diese durchaus exklusive Vereinigung, 1892 gegründet, verstand sich als elitärer, akademischer Gegenpol der großen Alpenvereine, vor allem des seit 1873 vereinigten „Deutschen und Österreichischen Alpenvereins“ (DÖAV) (vgl. Amstädter 1996; Märtin 2002: 59ff.). Formal wie eine studentische Verbindung aufgebaut, entwickelte sich der AAVM vor allem in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg zu einer Schule herausragender Fels- und Eiskletterer: Zu den Vorgängern Maduschkas als Vorstand zählten unter anderem Wilhelm („Willo“) Welzenbach, späterer Münchner Stadtbaurat, dessen Tourenbuch zwischen 1920 und 1933 „über 50 spektakuläre Erstbegehungen und 940 Gipfelbesteigungen“ (Märtin 2002: 72) verzeichnete, bevor er 1934 am Nanga Parbat erfror, und Karl („Carlo“) Wien, der als Expeditionsleiter der nachfolgenden Nanga-Parbat-Expedition 1937 mit sechs weiteren europäischen Bergsteigern und neun Sherpa von einer riesigen Eislawine erschlagen wurde (vgl. ebd.: 181). In diesem Kreis war Bergsteigen ‚der härteren Gangart‘ das Ziel, und entsprechend wurden neue Mitglieder nur nach Probetouren aufgenommen und mussten jährlich ihre Tourenberichte abgeben. Zum gemeinsamen Klettern kam freilich auch ein geselliges Programm von Vereinsabenden, traditionellen Treffen und großen Tourenfahrten, von denen im Erinnerungsbuch häufig berichtet wird (vgl. Maduschka 1932: 102ff., 135ff.); dadurch wurde die Mitgliedschaft im AAVM tatsächlich zu einer Art organisierter Lebensform – mit übrigens deutlich männerbündlerischen Zügen. Es ist unschwer erkennbar, dass die Diskurse in diesem elitären Milieu sich auch in Maduschkas programmatischen Texten wiederfinden; doch ist auffällig, dass sie durch seine literarischen und geistesgeschichtlichen Interessen auch in einer charakteristischen Brechung erscheinen.

Sachlichkeit, Neuromantik und Jugenddiskurs Der erste Gegensatz, in dem sich die akademischen Elite-Alpinisten selbst verstanden, war derjenige zum ‚Sonntagsalpinismus‘, der auf befestigten Wegen immer mehr ‚Auch-Alpinisten‘ auf die inzwischen über 500 Schutzhütten in die Alpen brachte. Dies war durchaus im Sinn der auf Breitenwirkung angelegten Alpenvereine in Österreich (1862 gegründet) und Deutschland (1869), die nach ihrer Vereinigung 1873 steten Zulauf hatten, so dass der „DÖAV“ 1930 bereits 244000 Mitglieder zählte (vgl. Märtin 2002: 168ff.). Aus der Sicht der radikaleren Alpinisten aber wurde mit dieser Entwicklung – mit der Anlage gesicherter Wege und Steiganlagen, komfortabler Hütten und schließlich vor allem von Bergbahnen, die praktisch bis zu den Gipfeln führten – genau jene Ursprünglichkeit der alpinen Natur zerstört, deretwegen die Alpen für sie überhaupt faszinierend waren. Entsprechend war das Ziel der akademischen Ver-

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einigung die Förderung des extremen Bergsteigens, möglichst ohne Hüttenbenutzung, und die entsprechende Einflussnahme in den alpinen Vereinen. Das Stichwort, unter dem die Diskussion in den zwanziger Jahren geführt wurde, lautete „Ödlandfrage“. 1924 schrieb Welzenbach: „Die vornehmste Aufgabe einer alpine Interessen vertretenden Vereinigung wäre es, ihr Arbeitsgebiet systematisch verkommen zu lassen, Weganlagen zu vernachlässigen, gekünstelte Steiganlagen zu entfernen. Unseren Alpen würde dadurch ihre Ursprünglichkeit wiedergegeben“ (Welzenbach, zit. n. Märtin 2002: 69).

In Maduschkas Aufsatz Der junge Bergsteiger von heute liest sich dieses Programm einer systematischen ‚Verödung‘ (also Ent-Zivilisierung) so: „Daß eine entscheidende Durchsetzung der Ödlandforderung eine unbedingte Notwendigkeit [ist], darüber sind wir jungen Bergsteiger uns alle einig. Wir wissen zwar, daß die einstige Einsamkeit der Berge unwiederbringlich ist, wir wissen auch, daß wir die Entwicklung nie werden zurückschrauben können – aber wir wissen auch, daß wir es als geschlossene Einheitsfront unternehmen können, den Kampf gegen das Kapital aufzunehmen, das heute bereits am Werk ist, die Ursprünglichkeit der Berge zu untergraben. […] Bergbahnen im eigentlichen Hochgebirge lehnen wir ab; nicht weil wir Feinde der Technik sind, aber weil wir der Ansicht sind, daß es bereits genug gibt und einmal ein Ende sein muß“ (Maduschka 1932: 151f.).

Es ist evident, dass mit der Erwähnung von „Einheitsfront“ und dem nötigen „Kampf gegen das Kapital“ hier Elemente der politischen Rhetorik der späten Weimarer Republik ins Spiel gebracht werden; dabei ist allerdings der Antikapitalismus zeitgenössisch keineswegs eine exklusiv linke Position, und die „Einheitsfront“ könnte auch als ironisches Zitat verstanden werden. Wichtig bleibt für Maduschka (in dessen Schriften ansonsten politische Anspielungen weit gehend fehlen) aber jedenfalls das Ziel, in den Bergen weiter einer Ursprünglichkeit begegnen zu können, die von der Anstrengungs- und RisikoMinimierung der technisch-kapitalistischen Zivilisation bedroht ist: Gerade weil dieser Raum unzivilisiert und in diesem Sinn „öde“ ist, gilt es ihn als Fluchtraum aus der Zivilisation zu retten. Jedoch ist, wie der Schluss des Zitats andeutet, seine Ablehnung des Technischen keineswegs absolut. Denn ein weiterer, sich in gewisser Weise bis in die Gegenwart fortziehender Diskussionspunkt im alpinistischen Diskurs der Weimarer Zeit ist die so genannte „Mauerhakenfrage“ – also die Frage technischer Hilfsmittel beim Klettern selbst. Das Problem technischer Sicherungen war etwa seit der Jahrhundertwende aktuell geworden, als immer mehr Alpinisten zum einen ‚führerlos‘ zum Bergsteigen gingen und zum andern gefahrvolle neue Routen den bekannten Normalwegen vorzogen: Man begann, die verhältnismäßig sicheren

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Grataufstiege zu verlassen und durch Wände, vor allem Nordwände und Eisflanken zu steigen, die bis dahin als unersteigbar galten; und man verwendete zur Selbstsicherung, aber teilweise auch zur Fortbewegung immer häufiger Haken, Karabiner und Seilzüge. Von britischer Seite wurde diese Entwicklung als unverantwortlich und zerstörerisch kritisiert, da man viel zu hohe Risiken eingehe, mit den Haken den Berg selbst verändere und ihn schließlich zu einer Art Sport-Areal herabwürdige (vgl. Märtin 2002: 66ff.), und auch einer der herausragenden Kletterer vor dem Ersten Weltkrieg, Paul Preuß, hatte einen völligen Verzicht auf Mauerhaken gefordert. Bei den Extremkletterern der Münchner Akademiker stieß diese Tabuisierung aber auf Widerstand. Welzenbach hatte als erster Haken zur Sicherung bei schweren Eistouren verwendet, und im erwähnten Aufsatz schreibt Maduschka zur „Frage künstlicher Hilfsmittel“: „Jedermann weiß, daß Haken bei den meisten modernen Fahrten im Fels (und auch bereits bei vielen im Eis) heute eben unumgänglich notwendig sind. Und über Notwendigkeiten debattiert man nicht. Wir jungen Bergsteiger wollen nun einmal das Letzterreichbare in Fels und Eis leisten, und dazu haben wir – neben manchem anderen – eben auch die technischen Hilfen von Haken, Karabinern und Seilzug nötig. Und wir haben, wenn eine solche Fahrt hinter uns liegt, gar nicht das Gefühl einer bösen Tat oder einer ‚Entweihung‘, sondern im Gegenteil ein Hochgefühl der Befriedigung, das sicher ebenso stark und ebenso ehrlich ist wie das der Pfadfinder vor 50 Jahren nach ihren Siegen ohne Haken und Seilquergang“ (Maduschka 1932: 153).

Entscheidend ist hier, dass Maduschka den Gebrauch von Haken und Karabinern nicht etwa zur Risiko-Minimierung legitimiert, sondern gerade zur „Durchführung schwerer und schwerster Fahrten“ (ebd.: 154), ja, des „Letzterreichbare[n] in Fels und Eis“.5 Ebenso wendet er sich gegen die implizite Sakralisierung des Gebirges und seiner „Felskathedralen“, die durch technisches Klettern profaniert würden. Es wird also ein durchaus positives Verhältnis zur Technik sichtbar; und dieses drückt sich ebenso in Maduschkas Faszination von Autos und Motorrädern aus, die seit Ende der 1920er Jahre von den AAVMMitgliedern auch häufig verwendet werden: „Alles Technische aus den Bergen zu entfernen, ist keineswegs unser Wille; wir grämen uns weder über elektrisches Licht, noch über ein kleines Grammophon auf der Hütte und benützen Motorrad und Auto, um unsere Turen [sic] immer weiter

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Es ist freilich erwähnenswert, dass er sich ebenso wie Welzenbach explizit gegen einen übermäßigen Gebrauch von Sicherungshaken, das „Vernageln“ von Routen mit „Hakenleitern“, ausspricht (vgl. Maduschka 1932: 153; Märtin 2002: 67f.).

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auszudehnen und immer unabhängiger gestalten zu können. Wir tun das, weil wir zu sachlich sind, um Maschinenfeinde zu sein“ (ebd.: 152).6

Das Stichwort hier ist offenbar „sachlich“: Für den mit den zeitgenössischen intellektuellen Debatten vertrauten Maduschka konzentriert sich darin Modernität und sein eigenes Generationengefühl. „Heute bereits zum Schlagwort geworden, ist Sachlichkeit trotzdem das hervorstechendste Kennzeichen junger Menschen von heute. Sachlichkeit in allem. Sachlichkeit, die äußerlich bis zur Kälte und Nüchternheit geht. Sachlichkeit auf allen Gebieten, zu denen der junge Mensch irgendeine Beziehung hat: angefangen von seinem privatesten Leben bis in die großen Bezirke von Beruf, Sport, Staat, Wissenschaft, Kunst, Welt. […] Sachlichkeit ist uns die wundervoll kühle Hülle, mit der wir unser Inneres gegen die Treibhausluft eines falschen Seelenkultes, gegen Gefühlschaustellung und alle verstiegene Verlogenheit und jegliche Prüderie, kurzum: gegen all dies und vieles andere uns Fremde einer früheren, anderen Zeit abgrenzen und schützen“ (ebd.: 147f.; Herv. im Orig.).

In seiner Studie „Verhaltenslehren der Kälte“ hat Helmut Lethen dargestellt, wie Habitus und Verhaltenslehren der Neusachlichkeit in der Weimarer Zeit die soziale Desintegration und der Zerfall von Tradition und traditioneller Moral auszutarieren versuchen (vgl. Lethen 1994). Auch bei Maduschka ist das Stichwort der Sachlichkeit ein Abgrenzungs- und Kampfbegriff, den er dem „falschen Pathos“ (Maduschka 1932: 152) nicht zuletzt der alpinistischen Literatur entgegensetzt. Indem er Sachlichkeit als Kennzeichen seiner Generation charakterisiert, wird eine implizite Grenzziehung vor allem zu jenen Bergsteigern erkennbar, die, teilweise noch aus der ‚Frontkämpfer‘-Generation des ersten Weltkriegs stammend, nun das Bergsteigen auch als ideellen Ersatz-‚Kampf‘, als Restitution einer verlorenen Integrität ansahen und entsprechend ideologisch aufluden. Paul Bauer beispielsweise, ebenfalls AAVM-Mitglied und später im „Dritten Reich“ linientreuer „Führer des deutschen Bergsteigerverbandes“, schrieb über seine Motivationen nach der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg: „Als wir das Gewehr aus der Hand geben mußten, tastete die verwaiste Hand nach dem Pickel. Der letzten Grundlage des Lebens scheinbar für immer beraubt, trieb es uns suchend nach neuem Boden hinaus in die Natur, dorthin, wo sie einsam, wild und unberührt ist. Dort hat uns der Kampf mit den Bergen das stolze Bewußtsein der Ehre und Wehrhaftigkeit wiedergegeben“ (Bauer, zit. n. Märtin 2002: 104).

Von der „Freude am scharfen Kampf mit dem Berg“ (Maduschka 1932: 148) ist auch bei Maduschka die Rede, doch ohne irgendwelche nationalen Impli6

Auch ein begeisterter Bericht über ein Flugerlebnis spricht für Maduschkas Technik-Faszination: Kleiner Rundflug über München (Maduschka 1932: 194f.).

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kationen. Stattdessen wird das reine „Erlebnis des Kampfes“ (ebd.: 149) hervorgehoben, zugleich aber die Sprödigkeit des Sprechens darüber verteidigt, die „sachlich-kühle, gefühlskarge und strenge Haltung“ und die „Zurückdrängung aller großen Worte“ (ebd.: 150). Die militaristische Rhetorik, welche die zeitgenössischen Berichte vor allem von vielen Himalaya-Expeditionen kennzeichnet, sucht man bei Maduschka vergebens.7 Dagegen aktiviert sein Betonen der „Jugend“ und der Begriffe von „junger Generation“ und „Bergjugend“ das semantische Potential des Diskurses der Jugendbewegung seit der Jahrhundertwende, die einen förmlichen Kult der Jugend eingeleitet hatte (vgl. Koebner/Janz/Trommler 1985). Dieser in gewissem Sinn mythische Jugendbegriff ist insofern signifikant für die politischen und kulturellen Diskurse seit 1900, als sich darin sowohl die – buchstäbliche – Re-Generations-Phantasie des wilhelminischen Bürgertums als auch eine vitalistische Aufbruchs-Geste konzentrierte, die aber – als „Mission ohne Ziel“ (vgl. Trommler 1985: 14) – letztlich immer wieder ins Leere lief: ‚Aus grauer Städte Mauern‘ brachen die Wandervögel und später die bündischen Jugendgruppen zwar in die Natur, aber damit auch in unklare politisch-soziale Zielsetzungen auf; und spätestens mit dem Erreichen eines gewissen Alters wich die Sinnstiftung durch Jugend regelmäßig nur umso größerer Desorientierung. Die neuromantischen – und insofern der neusachlichen Pathosvermeidung gerade entgegen gesetzten – Züge dieses Diskurses, seine anti-zivilisatorische Naturverklärung und Betonung scheinbar überzeitlicher Erlebniskonstanten (wie Wandern, Kameradschaft, emphatisches Landschaftserleben), findet man auch in anderen Texten Maduschkas häufig. Im Aufsatz „Bergsteigen als romantische Lebensform“ versucht er den „romantischen“ Aspekten und Motivationsgründen des Alpinismus zwar jedenfalls anfangs eine neu-sachliche Faszination gegenüberzustellen: Er beginnt mit einer parallelen Impression von rasenden Rennwagen, glitzernden Schienensträngen, Stromleitungen und Flugzeugen einerseits und einer nächtlichen Gebirgswanderung andererseits. Von der sich anschließenden Sammlung an Bestimmungen des ‚Romantischen‘ allerdings, die zwischen Ideen- und Literaturgeschichte und zeitgenössischer alpiner Literatur alles Erdenkliche zitiert, Ferne-Sehnsucht, Abenteuerlichkeit, Wanderlust und Tragik beschwört und teilweise recht unausgegorene Lesefrüchte wiedergibt,8 ist schwerlich zu sagen, ob sie seinem eigenen Anspruch an sachliche Kühle und Pathosfreiheit standgehalten hätte. 7

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Vgl. als besonders martialisches Beispiel eines solchen Berichts Bechtold (1935), der immer wieder von „Kampftagen“, „vorderen Linien“, „Tagesbefehlen“ und „gefallenen Kameraden“ schreibt. Um nur ein Beispiel zu nennen: „Und über allem Gestaltwandel der Geschichte und des Menschen hinweg lebt diese Mitgift germanischen, faustischen Geistes noch in den spätesten und jüngsten Enkeln: uns selbst im Blut“ (Maduschka 1932: 159). Die Berufung des „Germanischen“ an dieser Stelle stellt, so weit zu

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Verhaltenslehren der Höhe Sachlich-nüchtern freilich sind auf den ersten Blick wiederum jene Texte Maduschkas, die sich mit Kletter-Stil und Kletter-Technik im engeren Sinn beschäftigen. Vom Stil des Felsgehers erörtert in der Manier stilkundlicher Klassifizierung aus der Kunst- und Literaturgeschichte die „Bewegungsmethode“ (ebd.: 99) und die Grundkategorien („Ruhe und Bewegtheit, Technik und Kraft“, ebd.) des Felskletterns; mit der aus der Stilgeschichte erwartbaren, aber pragmatisch nicht unbedingt hilfreichen Pointe, dass daraus jeweils individuelle Kletterstile entstünden, deren Eigenart sich freilich erst mit zunehmender Schwere der zu kletternden Stelle deutlicher offenbare. So trocken der klassifikatorische Gestus dieser Texte erscheint, so deutlich sind allerdings im Vokabular – schon im Begriff des „Felsgehers“, deutlicher noch in denen von „Felsfahrt“ und „Eisfahrt“ – Spuren des neuromantischen Diskurses präsent: Die ‚große Fahrt‘ – „Wir wollen zu Land ausfahren“9 – ist Inbegriff des Sehnsuchtsprojekts schon der Wandervögel. Gänzlich pragmatisch, darum aber nicht weniger aufschlussreich sind andererseits die allgemeinen Anweisungen zum „Gehen im schweren Fels“ aus der Neuzeitlichen Felstechnik: „Mit den Augen klettern!“ wird da empfohlen (Maduschka/Zebhauser 1992: 223), „Kraft sparen!“ oder „Mehr mit den Füßen als mit den Armen klettern!“ (ebd.: 223f.), begleitet von kurzen Erläuterungen der Gründe, die dann in eher rätselhaften Kürzeln („Taylorisierung des Gehens“, ebd.: 224) nochmals zusammengefasst werden.10 Wichtig sind dabei vor allem die Forderung der Anpassung an die Felsformen und Gegebenheiten einer Stelle – also einer Art Flexibilisierung des ‚Stils‘, sowie gegen Ende ein „psychotechnischer Ratschlag“:

sehen ist, eine Ausnahme in Maduschkas Texten dar; allenfalls einige Landschaftsbeschreibungen lassen noch einen ‚nationalen‘, aber sicher nicht nationalistischen Subtext erkennen (vgl. Maduschka 1932: 196ff.). Vollständig fehlt im Übrigen die zeitgenössisch in Kreisen des Alpenvereins und des AAVM weit verbreitete antisemitische Dimension (vgl. dazu Märtin 2002: 139ff.; Amstädter 1996: passim); dabei ist allerdings wiederum nicht zu entscheiden, ob eine solche Gesinnung nicht ohnehin zu den unausgesprochenen Selbstverständlichkeiten im AAVM gehörte. 9 Im Begriff der „Fahrt“ wird in der Jugendbewegung auch das romantische Vorbild des „fahrenden Scholaren“ evoziert; vgl. Hepp (1987: 19f.). Der zitierte Lied-anfang – der Text stammt von Hjalmar Kutzleb (1885 – 1959) – lautet im Übrigen: „Wir wollen zu Land ausfahren über die Heiden breit, aufwärts zu den klaren Gipfeln der Einsamkeit“ (zit. n. ebd.: 26). 10 Vollkommen pragmatisch sind im Übrigen die Texte in Maduschkas anderer Lehrschrift, der 1932 erstmals erschienenen und später immer wieder neu aufgelegten Technik schwerster Eisfahrten (Maduschka 1934), die hier nicht weiter berücksichtigt werden.

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„‚Mach dich frei von allen Hemmungsvorstellungen, wie sie durch Ausgesetztheit und Luftigkeit hervorgerufen werden können, aber auch solche, die durch Urteile anderer entstehen‘ (E. Gretschmann). Dazu kommt noch etwas: sich durch keinen Zufall oder Unfall aus dem inneren Gleichgewicht werfen lassen, immer auf alles gefaßt sein und in kritischen Lagen eiserne Ruhe und Entschlossenheit bewahren. Es ist die einzige Möglichkeit, aus mancher Situation noch mit heiler Haut herauszukommen“ (ebd.: 225).

Man muss nur die „Ausgesetztheit“ und „Luftigkeit“ in metaphorischem Sinne lesen, um auch diese Schulung alpinistischer Bewegungstechnik als neusachliche „Verhaltenslehre der Kälte“ – oder eben der Höhe – zu entziffern: Das Bewusstsein der kritischen „Lage“ – ein Zentralbegriff politisch-kultureller Zeitdiagnose – hat Autonomie des Urteils, inneres Gleichgewicht und Kühle der Dezision eher zu forcieren als zu hemmen. In seltsamen Kontrast dazu stehen freilich wieder die Fahrtenberichte Maduschkas, insbesondere die schwelgerisch-wortverliebten Landschaftsbilder nach der Bewältigung kritischer „Lagen“: „In einem sonnbeglühten Graswinkel der Mittagsflanke lagerten wir uns, leicht müde wie immer nach schwerer Fahrt, ganz uns entspannend vom eingeprägten Erlebnis des Vormittags. Nichts ist schöner, als nach geendigter Tat so ruhend die Glieder zu lockern und sich selbst entäußernd ganz in die Landschaft hineinzuleben. Ein herrliches Motiv faßte wieder und wieder unsere Blicklinien wie in einem Brennpunkt zusammen: wie drüben im Osten aus der abgrundtiefen seespiegelnden Furche der Gosau der Dachstein aufragt. Firne hügeln sich schwellend zu seiner Gipfelkrone aus braunschwarzem Gefels auf; als rechte Bildkante aber zeichnet sich die Walhallburg des Torsteins gegen den Himmel ab, ungeheuer in ihrer emporstürmenden Steingewalt, ein felsgewordenes Symbol des nordischen Gottes […]“ (Maduschka 1932: 76).

Diese nicht nur stilistischen Widersprüchlichkeiten in Maduschkas Texten – das Erinnerungsbuch gibt im Übrigen auch einige sehr ‚rilkesche‘ Gedichte wieder – drücken indessen möglicherweise nur aus, dass er in seinem Schreiben eng an verschiedenen zeitgenössischen Diskursen Darstellungsformen und Sinndeutungen des Bergsteigens zu erkunden versuchte, diese widersprüchlichen Erkundungen aber der bergsteigerischen Praxis selbst, dem ‚Erleben‘ des Kletterns im denkbar emphatischen Sinn, letztlich äußerlich und nachträglich blieben. Romantizismus und Sachlichkeit sind gewissermaßen die Deckbegriffe, unter denen Maduschka in verschiedenen Genres – Fahrtenbericht, Aufsatz, Gedicht, Lehrschrift – sprachliche Ausdrucksformen dessen suchte, was ihn am Gebirge und der Bergsteigerei faszinierte; doch insofern keine Ausdrucksform den Eindruck des Erlebten wiedergab, ist der Wechsel zwischen ihnen nur die logische Konsequenz.

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SCHWERE FELSFAHRT

Doch am Ende ist es vielleicht weniger die Konsistenz und der Gehalt dieser Beschreibungsversuche, die Maduschkas kletternde Zeitgenossen wiederum an dem Buch faszinierten, als vielmehr gerade diese heterogene Ausdruckssuche selbst, die die alpinistische Praxis begleitet. Parallel zeigen eine Vielzahl von Fotografien den „jungen Menschen im Gebirg“ im Buch ganz unmittelbar: So entstand Anfang der 1930er Jahre ein ganzer „Lehrfilm“ über die Bewegung des Kletterns in der Südwand der Schüsselkar-Spitze (vgl. ebd.: 96ff.). Gleichsam gedeckt durch die damit sichtbare authentische Erfahrung, und am Ende beglaubigt durch den Bergtod in der Civetta-Wand, konnten Maduschkas Leben und Schreiben so als eine Art imaginäre Einheit gelesen werden – als Erkundungsfahrt ins Unwegbare und letztlich Unausdrückbare des Gebirges gleichermaßen. Welche Faszinationskraft davon ausging, wird im weiteren Weg von Maduschkas Freunden sichtbar. Im Aufsatz Der junge Bergsteiger von heute hatte er zwar angemerkt, dass diese jungen Bergsteiger „Epigonen“ seien (ebd.: 150), denn alle „großen Probleme“ seien gelöst; am Ende schließt er aber mit der Vision eines „ferne[n] Bild[es]“: „die silbernen Eisriesen Asiens, deren ungeheure Flanken uns rufen. Dort stehen die höchsten Zinnen der Welt, dort liegen Zukunft und Ziel“ (ebd.: 154). Bei den scheiternden Versuchen, in fast militärisch organisierten Großexpeditionen den Nanga Parbat ‚für Deutschland‘ zu ‚erobern‘, starben in den 1930er Jahren dann tatsächlich reihenweise andere AAVM-Mitglieder, darunter auch Maduschkas letzter Seilgefährte Martin Pfeffer. Ihr Tod wurde allerdings, keineswegs neusachlich, sofort als ‚Heldentod‘ für Deutschland propagandistisch verwertet – der Völkische Beobachter berichtete von der Katastrophe 1934 unter der Überschrift „Letzter Hitlergruß nach Deutschland“ – , und während der Trauerfeiern in Berlin zitierte der „Reichssportführer“ Lyrik des Weltkriegsdichters Walter Flex (vgl. Märtin 2002: 122 - 172). Die diskursive Sinngebung der alpinen Körperpraxis hatte sich erneut und auf fatale Weise verändert: Sie wurde als nationales Opfer und Bereitschaft zu solchem Opfer gedeutet, vergleichbar dem Sterben der Kriegsfreiwilligen in den Sturmangriffen des Ersten Weltkriegs; und sie wurde damit eine mentale Schule des Untergehens – im Zweiten Weltkrieg, der nur fünf Jahre später beginnen sollte.

Literatur Amstädter, Rainer (1996): Der Alpinismus. Kultur – Organisation – Politik, Wien. Bechtold, Fritz (1935): Deutsche am Nanga Parbat. Der Angriff 1934, München.

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MICHAEL OTT

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Körperpraktiken und Repräsentationen des Körpers

Rhythmen, Resonanzen und Missklänge. Über die Körperlichkeit der Produktion des Sozialen im Spiel THOMAS ALKEMEYER

Vorbemerkung Das Interesse einer Soziologie des Sports gilt vornehmlich den ökonomischen, politischen oder organisatorischen Rahmenbedingungen der sportlichen Praxis, Verbandsstrukturen und Rollenverständnissen, Institutionen, Regeln und Normen, Einkommensverhältnissen und Karrierebedingungen. Die Frage, wie Sport tatsächlich ‚gemacht‘, d.h. wie er in den praktischen Vollzügen seiner unterschiedlichen Akteure (Athleten, Trainer, Zuschauer usw.) erzeugt und dargestellt wird, tritt demgegenüber in den Hintergrund. Ausnahmen sind Untersuchungen zu den Binnenstrukturen und -prozessen in Sportspielen aus interaktions-, feld- und systemtheoretischen Perspektiven.1 Dass Sport ohne den Körper keinen Bestand hat,2 wird allerdings auch in diesen Ansätzen kaum berücksichtigt. Im ersten Teil des folgenden Beitrages soll dagegen anhand einer praxeologischen Beschreibung des Fußballspiels die grundlegende Bedeutung des Körpers für den Vollzug sportlicher Praktiken und die Produktion der sozialen Ordnungen des Spiels ausgeleuchtet werden. Die für diese Beschreibung unabdingbare Beschränkung auf die Binnenperspektive des sportlichen Geschehens

1 2

Zum Überblick vgl. Alkemeyer/Boschert/Rigauer (2005). Lindemann (2005: 135) postuliert entsprechend, „bei der Analyse jedes sozialen Phänomens [müsse; T.A.] systematisch gefragt werden, ob und inwiefern das Phänomen ohne den Leib bzw. den Körper Bestand haben kann“. Für den Sport ist die Antwort eindeutig: Die Athleten können die physische Ausführung ihrer Aktionen und Spielzüge nicht delegieren (vgl. Stichweh 1995: 17).

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THOMAS ALKEMEYER

bedeutet nicht, dass der Einfluss von Rahmenbedingungen und Wechselwirkungen mit anderen gesellschaftlichen Feldern für unerheblich gehalten oder gar geleugnet würde. Zweifellos ziehen z.B. Kommerzialisierung, Professionalisierung und Medialisierung tief greifende Veränderungen der sportlichen Praktiken nach sich. Mein Anliegen ist jedoch vor allem zu plausibilisieren, dass und wie die Spieler im Fußballspiel nicht nur mit ihrem Körper handeln, sondern als verkörperte Akteure agieren. Ein Ausblenden von Rahmenbedingungen und äußeren Einflüssen scheint mir zu diesem Zweck gerechtfertigt. Im zweiten Teil werden dann einige Überlegungen zu der Frage skizziert, welcher Beitrag ausgehend von praxeologischen Analysen sportlicher Praktiken für die empirisch begründete Formulierung einer Theorie des Sozialen geleistet werden kann, in der die Körperlichkeit und Leiblichkeit3 sozialer Praxis angemessen bedacht wird.

3

In phänomenologischer Perspektive wird – überwiegend im Rekurs auf Helmuth Plessners Konzept von Körperhaben und Leibsein – unterschieden zwischen einem ‚Körper‘, der instrumentell und/oder expressiv eingesetzt werden kann, und einem ‚Leib‘ als „passive, spürende Erfahrung“ (Gugutzer 2004: 105). Unklar bleibt mir dabei allerdings, welcher Art die Instanz ist, die sich im Rahmen dieses Modells ihres Körpers bedient (ein – körperloser – Geist?). Gugutzer (ebd.) wirft den „meisten körpersoziologischen Arbeiten“ vor, sie fokussierten „primär den gesellschaftlich und kulturell geprägten und von außen sichtbaren Körper“, übergingen jedoch „die soziale Relevanz des spürbaren Körpers“, d.h. des Leibes. Das mag sein. Allerdings scheint mir die Unterscheidung von Körper und Leib – sowie damit zusammenhängende Unterscheidungen von innen und außen, aktiv und passiv etc. – im Habitus-Konzept Bourdieus (in der Tat kein Körpersoziologe!) aufgehoben. In der Perspektive dieses Konzepts ist die körperliche, äußerlich sichtbare Haltung zur Welt untrennbar mit einem spezifischen Wahrnehmen und Spüren verbunden, das gleichsam von innen heraus zur Reproduktion und Stabilisierung, aber auch zur Veränderung der in Praktiken erzeugten sozialen Ordnungen beitragen kann. ‚Leiberfahrungen‘ sind in der Sicht des Habitus-Konzepts nicht nur etwas passiv Erlittenes, sondern aktive Wirklichkeitskonstruktionen auf der Basis bereits ausgebildeter Wahrnehmungsmuster. Im Grunde bringt ‚Habitus‘ auf den Begriff, was auch Gesa Lindemann (1993) in der Synthese von Helmuth Plessner und Herrmann Schmitz postuliert, nämlich dass ‚Leib‘ und ‚Körper‘ so ineinander verschränkt sind, dass die ‚eigenleibliche‘ Erfahrung durch den vergesellschafteten Körper geprägt ist. Wenn im Folgenden dennoch von Körper und Leib die Rede ist, dann zum Markieren einer analytischen Differenz: Vom Körper wird gesprochen, wenn es um die von außen beobachtbaren Dimensionen sozialer Praktiken geht, vom Leib hingegen, wenn auf das innere Wahrnehmen und Erleben der Akteure reflektiert wird.

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RHYTHMEN, RESONANZEN UND MISSKLÄNGE

Riskante Zusammenspiele: Zur Sozialpraxeologie des Fußballs Einstimmung Als die brasilianische Fußball-Nationalmannschaft am 29. Juni 2005 nach ihrem grandiosen Sieg über die argentinische Vertretung im Finale des so genannten Konföderationen-Cups in einer langen Polonaise im Wiegeschritt des Samba mit Trommeln, Rasseln und Tambourins durch das Frankfurter Stadion zog, war dies wie eine sinnbildliche Verdichtung eines bereits zuvor im Spiel spürbaren, nahezu vollkommenen Gleichklangs zwischen den Spielern. Seit 1970, schrieb ein enthusiastischer Christoph Biermann in der Süddeutschen Zeitung (1. Juli 2005), „hatte keine brasilianische – und wohl auch kaum eine andere – Mannschaft mehr so schön gespielt wie diese. Sie zauberte ein Spiel auf den Rasen, das auch an den Bildschirmen der Fernsehzuschauer noch wie ein Kunstwerk von Rang erschien, als eine perfekte Synthese von Einzelleistung und kollektiver Motorik, ähnlich einer Sinfonie aus individuellen Stimmen und aparten Klängen, deren Harmonie durch keine schrillen Töne und Dissonanzen gestört wird. Groß angelegt und zugleich fein ausgestaltet im Detail […] Ronaldinho, Kaka, Robinho und Adriano ließen mit all ihrer Spielkunst […] Spielzüge aus dem Nichts entstehen, auf die man selbst bei längerem Nachdenken nicht unbedingt kommen würde.“

Wer das Spiel verfolgt hat, wird die Begeisterung Biermanns teilen. So leicht schienen die brasilianischen Spielzüge, dass sie in der Tat der mythischen Vorstellung einer creatio ex nihilo performative Evidenz verliehen. Was aber an verblüffenden Kombinationen ohne ein ‚Dreinreden’ von Geist und Bewusstsein aus dem Nichts zu entstehen scheint, hat – so soll im Folgenden gezeigt werden – seine rekonstruierbaren Entstehungsbedingungen: Vorausgesetzt sind Fähigkeiten, die aus dem praktischen Wissen eines trainierten Körpers kommen.

Soziale Bindung dank Muskelspiel Der brasilianische Fußball ist im Schnittfeld von Straßenkultur, Samba und Karneval entstanden (vgl. Huppertz 1993). Womöglich haben viele – beileibe nicht alle – brasilianischen Fußballer deshalb besondere rhythmische Begabungen und Körpertechniken entwickelt, die in den Augen europäischer Zuschauer einen Eindruck größter Unbeschwertheit hervorrufen. Dass dies freilich nicht immer zu einer Harmonie der individuellen Rhythmen führt, hat die vergangene Fußballweltmeisterschaft gezeigt: „Die Brasilianer haben“, wie es der Ökonom Wolfgang Berger im Rekurs auf physikalische Erkenntnisse formu267

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liert hat, „Schwingungssalat produziert“. „Misserfolg“, so führt er in einem Interview der FAZ (vom 4.7.2006) weiter aus, sei eine „Folge der Disharmonie der Schwingungen“. Nicht nur in Brasilien, sondern überall auf der Welt schlagen sich nationale, regionale oder lokale Mythen und Traditionen in Übungsformen und Trainingskonzepten nieder und werden auf diese Weise ‚körpermächtig‘. In Serien von Übungen, Spielen und Wettkämpfen werden spezifische Körpertechniken und Spielsysteme ausgeprägt und eingeübt. Nach wie vor arbeiten beispielsweise in Brasilien Fußballschulen eng mit Sambaschulen zusammen, so dass die Spieler von Kindesbeinen an eine besondere Befähigung für kurze, trippelnde Schritte und damit für das Dribbling erwerben. Schulung und Training führen dazu, dass Spieler und Mannschaften eigene nationale, regionale oder auch lokale Stile entwickeln, d.h. je besondere, über die unmittelbaren motorischen Erfordernisse des Spiels hinausgehende Weisen, die von den Regeln des Spiels eingeräumten Möglichkeitsfelder praktisch zu nutzen und zu interpretieren. Es gibt nicht nur deutsche, französische, italienische oder eben brasilianische Weisen, Fußball zu spielen, sondern auch vereinsgebundene Stile, die durch einzelne Trainer – man denke beispielsweise an Hennes Weisweilers ‚Fohlen-Elf‘ der 1970er Jahre – ebenso geprägt werden können wie durch lokale kulturelle Traditionen. Die durch Schulen, Trainingsmodelle oder Verbandslehrgänge geformten Körpertechniken und Spiel-Stile sind Erscheinungsweisen einer „sozialen Motorik“ (Gebauer 2006: 121), die Gemeinsamkeiten herstellt und zugleich aufführt. In ihnen verkörpern sich – in Verbindung mit weiteren Merkmalen wie dem Sound der Spieler-Namen (Kaka, Robinho und Adriano hier, Metzelder, Mertesacker und Schweinsteiger dort) – Qualitäten, Ideen und Vorstellungen, in denen sich Gesellschaften, soziale Milieus oder Gruppen wieder erkennen und zu Hause fühlen können. Wie insbesondere die letzte Fußball-Weltmeisterschaft gezeigt hat, scheinen sich die Grenzen dieser sozialen Motoriken unter dem Einfluss der globalen Zirkulation von Spielern, Trainern, Trainingsmodellen, Körperbildern und Körpertechniken allerdings nachhaltig zu verändern, vielleicht sogar aufzulösen. Nationale stilistische Unterschiede sind jedenfalls immer weniger zu erkennen. In kulturwissenschaftlichen Arbeiten zum Fußball ist mitunter zu lesen, das Spiel verdanke seine Attraktivität und Popularität seiner Schlichtheit (vgl. Eggers/Müller 2002: 157). Weil es über eine „ungemein einfache“ (ebd.) und damit allgemein verständliche Bildsprache verfüge, reduziere es Komplexität. Die Zahl der immer wiederkehrenden Grundmuster – Torschuss, Eckball, Kopfball, Dribbling, Zweikampf, Grätsche, Flanke etc. – sei so gering, dass sich jede Spielsituation für Spieler wie Zuschauer sofort erschließe. Ich halte diese Ansicht für vollkommen falsch. Zwar verfügt das Spiel über einen überschaubaren Satz von Regeln, eine übersichtliche Ordnung von Raum und Zeit und eine klare Wettkampfstruktur, jedoch eröffnet dieser Rahmen eine große Band268

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breite von Handlungsmöglichkeiten. Die Offenheit des Rahmens fordert geradezu dazu auf, nach überraschenden Interpretationen und listigen Auslegungen zu suchen (vgl. Gebauer 2006: 145ff.). Mit einfachen Mitteln werden auf kleinem Raum so elementare und zugleich hoch differenzierte Prozesse erzeugt, dass kein Spiel dem anderen gleicht. Jedes Spiel ist, aus der Vogelperspektive betrachtet, eine kontinuierliche Neu-Gruppierung von Spielern, die ihre Beziehungen bei „fortlaufender gegenseitiger Abhängigkeit voneinander ständig in Raum [und] Zeit […] ändern“ (Elias/Dunning 2003: 339). Das Spiel konstituiert sich als praktischer Vollzug einer überaus komplexen und damit prinzipiell riskanten Gesamthandlung, die nicht nur die Beteiligung von Spielern, Schiedsrichtern Trainern und Zuschauern, sondern auch von nicht-menschlichen Partizipanden wie Spielfeldmarkierungen, Regeln und Ball voraussetzt. In den wenigen, wirklich glückenden Momenten verschränken sich die Einzelaktionen der Spieler zu noch nie gesehenen Spielbewegungen – bis hin zum Spielrausch, jenem plötzlichen Auftauchen und verblüffenden Funktionieren verschiedener Spielmuster über alle im Training einzuübenden Situationen hinaus (vgl. Brunner 1987: 449). Individuelle Aktion und Mannschaftsinteresse verbinden sich dann in praktischer Synthese so, dass kein Misston den Sound des Spiels stört. Als würden die Bahnen, Kreise und Kraftfelder der einzelnen Spieler durch eine stumme Musik koordiniert werden, taucht eine Gesamtbewegung auf, „in der alle Einzelaktionen in einer Art Choreographie miteinander verschmolzen werden“ (Gebauer 1998: 226). Eine solche, situativ entstehende Choreographie ohne planenden Choreographen ist auf ‚blindes Verständnis‘ angewiesen. Ein noch so kurzer Moment des Zögerns und Nachdenkens würde den Spielfluss sofort unterbrechen. Helmut Schön hat entsprechend über sein einstiges Zusammenspiel mit Fritz Walter geschrieben: „[Es] ergibt sich zwischen beiden oft so etwas wie ein Funkkontakt. Es ist die Übertragung der gleichen Spannung, eine Sendung auf gleicher Wellenlänge. Es geht blitzartig, wenn es ausgeführt wird. Sobald eine Aktion beginnt, der Funke überspringt, ist eine Art Telepathie im Gange. Einige hundert Bewegungsabläufe und Initiativen ergeben sich traumwandlerisch.“ (Schön 1980: 95; zit. nach Brunner 1987: 451).

Die paradoxe Aufgabe, Sprachloses zur Sprache zu bringen, ist dem deutschen Altbundestrainer hier überraschend gut gelungen. Wie Musik, so erzeugen auch die Bewegungen des Spiels immaterielle Bindungen zwischen den Körpern und organisieren ihre Koordination. „Muscular bonding“ nennt der amerikanische Historiker William McNeill (1995) solche merkwürdigen, zugleich physischen und sozialen Beziehungen. Wer von der Energie der gemeinsamen Gravitation erfasst wird, macht mit, findet den Rhythmus, greift ihn auf und verstärkt ihn.

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Im Resonanzraum der Stadionschüssel wachsen dann alle Beteiligten – Aktive und Zuschauer – über sich hinaus, finden mit Haut und Haaren in die Szene hinein, gehen in ihr auf. Erving Goffman (1961: 9f.) bezeichnet derartige Veranstaltungen als „fokussierte Versammlungen“ (focused gathering). Er meint damit soziale Gebilde, die weder stabil genug sind, um als Gruppe bezeichnet zu werden, noch „unstrukturiert genug, um Masse zu heißen“. Es handelt sich vielmehr um eine Menge von Personen, die durch das von ihnen mit produzierte Ereignis „völlig in Anspruch genommen werden“ und über seinen Verlauf „miteinander in Beziehung stehen“ (vgl. Geertz 1987: 218f.).4

Körperintelligenz und praktischer Sinn Telepathie – der von Helmut Schön gebrauchte Begriff – heißt umgangssprachlich ‚Gedankenübertragung‘. Wörtlich bedeutet er jedoch so viel wie „Eindruck über eine Entfernung“, „Fernfühlen“. In diesem ursprünglichen Wortsinn ist Telepathie also nicht nur eine Angelegenheit des Geistes, sondern bezeichnet Fern-Verbindungen zwischen fühlenden, verstehenden Körpern. Solche Fernverbindungen sind nicht voraussetzungslos. Sie entstehen nur dann, wenn die Akteure auf „gleicher Wellenlänge“ (Helmut Schön) funken, wenn sie resonieren – zusammenstimmen –, wenn sie also eine Fähigkeit zur wechselseitigen Verhaltensanpassung entwickelt haben. Spielfluss entwickelt sich, wenn ein Pass nicht nur angenommen wird, sondern sich sein Adressat bereits vor und während der Annahme so positioniert, dass er den Ball entweder an den nächsten Mitspieler weiterleiten, zum Dribbling ansetzen oder eine Finte vollziehen kann. Jeder Spieler muss die Konstellationen des Spiels, die Bewegungen und Stellungen der Mitspieler, ja sogar deren Fußhaltungen, unter enormem Zeitdruck als Hinweise auf Zukünftiges zu ‚lesen‘, zu beantworten und gegebenenfalls zu durchkreuzen wissen. Verständig mitspielen kann nur, wer in einer gegebenen Spielstellung die kommende, in ihr bereits enthaltene, antizipieren kann, wer in der Lage ist, sich motorisch und gedanklich in die Be4

Mit Zumthor (1990) können Ereignisse wie Sportveranstaltungen, Rockkonzerte, Disco oder Protestmärsche überdies als Musterbeispiele für Oralität in modernen, literalen Gesellschaften untersucht werden. An diesen Ereignissen rückt in besonderer Weise der Zusammenhang von Oralität und Emotion ins Blickfeld. Auch wenn es für die genannten Veranstaltungen einen äußeren Grund gibt, sind sie doch wesentlich Selbstzweck: Ziel ist das Zusammensein als solches, oft in möglichst großer Zahl auf einer begrenzten Fläche, so dass eine überdurchschnittliche körperliche Dichte, eine außergewöhnliche Intensität sinnlicher Eindrücke entsteht. Emotionen werden erzeugt und ausgelebt, verstärkt, ausgerichtet und synchronisiert. Die Routinen und Konventionen des Alltags, Sitte und Anstand, können zeitweilig außer Kraft gesetzt werden; vorhandene Emotionsregeln werden umdefiniert, die Hemmungen und Distanzen des normalen gesellschaftlichen Verkehrs in einer gesellschaftlich legitimierten, raumzeitlich begrenzten, reglementierten Form überwunden.

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wegungslinien des Balles auf dem Feld einzuschalten und vorwegzunehmen, wo sich dieser demnächst befinden wird, so, wie es der französische Mittelfeldspieler Zinedine Zidane bis zu seinem spektakulären Abgang von der internationalen Bühne unnachahmlich gezeigt hat (vgl. Theweleit 2004: 152f.). Infolge des Zeitdrucks ist eine ‚Beaufsichtigung‘ des Handlungsverlaufs durch das reflektierende Bewusstsein nahezu unmöglich.5 Ein Spieler wie Zidane weiß offenbar bereits vor oder während der Ballannahme die nächsten Schritte voraus. In seinen gelingenden Aktionen fallen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in eins. Er zeigt damit beispielhaft zwei zusammenhängende Vermögen: zum einen das kognitive wie körperliche Vermögen zu einem praktischen Verstehen in actu in Gestalt einer ‚synthetischen Intuition‘, die es ermöglicht, gleichsam instinktiv permanent sich verändernde Umrisse von Körpern im Raum zu erfassen;6 zum anderen die Fähigkeit, im Training erworbene Körpertechniken den permanent sich verändernden Anforderungen des turbulenten Wettkampfgeschehens kreativ anzupassen.7 Es sind dies Fähigkeiten eines Experten, dem erlernte Körpertechniken und Wahrnehmungsschemata derart in Fleisch und Blut übergegangen sind, dass er situativ von antrainierten Spielweisen abzuweichen vermag, um den Gegner 5

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Dies hat bereits der literarische Soziologe bzw. soziologische Literat Robert Musil sensibel registriert: „Ihr Reiz [von Kampferlebnissen; T.A.] liegt auch wirklich darin, daß man in einem kleinsten Zeitraum, mit einer im bürgerlichen Leben sonst nirgendwo vorkommenden Schnelligkeit und von kaum wahrnehmbaren Zeichen geleitet, so viele, verschiedene, kraftvolle und dennoch aufs genaueste einander zugeordnete Bewegungen ausführen muß, daß es ganz unmöglich ist, sie mit dem Bewußtsein zu beaufsichtigen. Im Gegenteil, jeder Sportsmann weiß, daß man schon einige Tage vor dem Wettkampf das Training einstellen muß, und das geschieht aus keinem anderen Grund, als damit Muskeln und Nerven untereinander die letzte Verabredung treffen können, ohne daß Wille, Absicht und Bewußtsein dabei sein oder gar dreinreden dürfen.“ (Musil, Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 28; zit. nach Kuzcmics/Mozetic 2003: 252). Wie bereits Merleau-Ponty (1976: 193f.) ausgeführt hat, wird das Spielgeschehen von geübten Akteuren weniger als ein Wahrnehmungsobjekt erkannt, denn als eine Realität erlebt, in der sich der Wert der als relevant selektierten Vorgänge nach ihrer permanent sich verändernden Funktion im Ganzen bemisst.: „Der Spielplatz ist ihm [dem Fußballspieler; T.A.] nicht gegeben, sondern er ist gegenwärtig als der immanente Zielpunkt seiner praktischen Intentionen; der Spieler bezieht ihn in seinen Körper mit ein und spürt beispielsweise die Richtung des ‚Tores‘ ebenso unmittelbar wie die Vertikale und Horizontale seines eigenen Leibes“ (ebd.). Allerdings lässt Merleau-Ponty die gesellschaftliche Vermitteltheit dieser scheinbaren Unmittelbarkeit einer praktischen Intentionalität unberücksichtigt. Zur Kritik an Merleau-Ponty s. auch unten, Fn. 12. Zum praktischen Erfassen, Synthetisieren und Konstituieren der Welt durch einen ‚gebildeten‘ Körper vgl. auch Bourdieu 2001: 173ff. Zu den Verkürzungen körpersoziologischer Arbeiten, die Marcel Mauss’ Konzept der Körpertechniken benutzen, ohne zugleich deren (kreative) Variationen und Modifikationen in situierten Praktiken zu untersuchen, vgl. Crossley (2005).

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zu überraschen, zu verunsichern und zu täuschen. Zwar wird die unerwartete, alles Routinisierte und Schematische durchkreuzende Aktion in den gängigen Helden-Mythologien der Sportberichterstattung dem Genie des überragenden Einzelspielers zugeschrieben, genauere Spielanalysen würden jedoch zweifellos ihren kollektiven und relationalen Charakter belegen: Aufbewahrt in den vorbewussten Tiefenschichten der Person, tritt das Vermögen zur verblüffenden Variation des Erworbenen aus den Kulissen auf die offene Bühne, wenn es auf (Spiel-)Bedingungen und Konstellationen trifft, die ein Spieler aufgrund seiner inkorporierten Dispositionen als Stimuli wahrnimmt.8 Gerade in den Grenzsituationen möglichen Scheiterns werden bei besonders disponierten Spielern verborgene Potentiale aktualisiert, so dass sie überraschend Akte hervorbringen, zu denen sie sonst nie fähig gewesen wären (vgl. Bourdieu 1987: 167). Jede spielerische Aktion setzt einerseits Übung und Training voraus und ist in diesem Sinne systematischer Natur. Andererseits ist sie jedoch auch insofern ein Ad-hoc-Produkt, als ihr Auslöser das Zusammenstimmen mit einer besonderen Situation ist.9 Die Fähigkeit zum Anpassen antrainierter Reaktionen, Bewegungsmuster und Körpertechniken an das augenblicklich Erforderliche ist mithin nicht nur ein subjektiver Besitz, sondern entfaltet sich situativ im Zwischenraum von Feldmarkierungen, Gegnern, Mitspielern und Spielgeräten. Zwar können uns auch Standardsituationen wie genial gezirkelte Freistöße begeistern, noch stärker allerdings faszinieren scheinbar spontan sich ergebende Spielgestalten, wie überraschende Stafetten von Doppelpässen, die mehr sind als eine bloße Wiederholung eingeübter Spielmuster. Im Unterschied zur künstlerischen Kreativität als einem Gestaltungsprozess, der in einem fertigen Werk sich abschließen soll, zeigt sich in den schönsten Momenten eines Fußballspiels eine spielerische Kreativität, die allein unter der Regentschaft des Zufalls, aus der Not heraus, ohne Überlegungssicherheit, geboren wird (vgl. Blamberger 2005). Sie führt zu flüchtigen „Kunstwerken des Augenblicks“ (Bausenwein 1995: 60), die 8

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Wie Ostrow (1990: 10) ausgeführt hat, besteht die Voraussetzung dafür, Erkenntnisobjekte und ‚Reize‘, auf die sich das Verhalten richten kann, überhaupt unterscheiden und damit erkennen zu können, in einer „fundamental[en], nichtreflexive[n] Vertrautheit einer Person mit der Welt […] Weder vorprogrammierte ‚Responses’ noch Routineverhalten: Die Gewohnheit ist die verkörperte Sensibilität für eine sinnlich erfahrbare Welt, und in dieser Hinsicht sorgt sie für ein Feld von erfahrbaren Verhaltensmöglichkeiten.“ (zit. nach Wacquant 1996: 42, Fn. 35; Herv. im Orig.) Bourdieu bezeichnet die Einsicht darin, dass sich Menschen „nur durch die von bestimmten Feldern ausgehenden Stimuli – und durch keine anderen – aus dem Zustand der In-Differenz“ (Bourdieu/Wacquant 1996: 48f.; Herv. im Orig.) reißen lassen, mit dem Begriff des Interesses, später immer häufiger auch mit den Begriffen illusio oder libido. Vgl. auch Wacquant 1996: 40. Wacquant geht hier auf die Relationalität von Habitus und Feld ein und akzentuiert in diesem Zusammenhang die gerahmte, begrenzte Kreativität der Vermögen des eingefleischten Habitus.

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so rasch vergehen, wie sie entstanden sind: es sind ‚Wolken‘ von Kunstwerken, die ihren Vollzug nicht überdauern können. Eine solche Kunst des augenblicklichen Handelns ist weder durch die Lektüre von Lehrbüchern, noch allein durch beharrliches Üben zu erwerben, sondern setzt das Mitspielen voraus. Denn die Bedeutung einer Bewegung, Körperstellung oder Spielfiguration existiert ausschließlich im praktischen Vollzug des Spiels. Ob z.B. eine Bewegung eine Finte ist oder nicht, bleibt der Spielsituation ganz und gar implizit.10 Die Antwort auf die Aktionen des Gegenspielers muss „reflexartig vor der Reflexion kommen, weil das Denken das Handeln nur verzögern würde“ (Blamberger 2005). Spieler, die – wie Lukas Podolski – naturalisierend als Instinktfußballer bezeichnet werden, verfügen über eine außergewöhnliche praktische Intelligenz, die traumwandlerisch bereits in der Gegenwart das Zukünftige vorzubereiten erlaubt. Bei den Zuschauern ruft eine solche instinktiv erscheinende Sicherheit den Eindruck einer geradezu unerhörten Unbekümmertheit, ja auch Frechheit, hervor. Aber es ist kein angeborener Instinkt, sondern ein erlernter. In der Praxis selbst – im Üben, Trainieren, Experimentieren und Spielen – entwickelt sich der Körper nach und nach zu einem Agens sui generis: sowohl als Erkenntnissubjekt, das das Spiel im praktischen Vollzug vor-reflexiv erschließt, wie auch als kreativer Produzent von Tricks und Spielzügen, die den Spielverlauf ebenso beeinflussen wie ihre Produktion durch den Spielverlauf veranlasst wird.11 Ein geübter Spieler erfasst das Spiel deshalb scheinbar intuitiv, weil die Wahrnehmungsmuster, die er dazu verwendet, aus der Einverleibung der Strukturen des Spiels selbst resultieren.12 Das Spiel ist mithin kein starres Gerüst von Positionen, sondern verändert sich mit den Fähigkeiten seiner Akteure. Neue Spielsysteme wie der ‚Konzept10 Vgl. dazu den Beitrag von Schmidt in diesem Band. 11 Vgl. auch Wacquant (2001: 102) in Bezug auf das Boxen: „Steht man erst einmal im Ring, dann ist es der Körper, der versteht und lernt, der die Informationen einordnet und speichert, die angemessene Antwort aus dem Repertoire möglicher Aktionen und Reaktionen wählt und somit zum eigentlichen ‚Subjekt‘ (wenn es denn ein solches gibt) der boxerischen Praxis wird. 12 Diese Formulierung richtet sich gegen Merleau-Pontys einseitiges Erfassen der Praxis vom Standpunkt des handelnden Subjekts. Wacquant (1996: 41ff.) zufolge gibt es in Merleau-Pontys Verhaltenstheorie „kein objektives Moment“, so dass „der Weg zu einer Untersuchung der Wechselbeziehung zwischen der subjektivistischen Wahrnehmung des Spielers und den zugrunde liegenden objektiven Konfigurationen und Regeln des jeweiligen Spiels“ verstellt sei. Ähnlich wie Durkheim könne Merleau-Ponty also keinen „analytisch tragfähigen Zusammenhang zwischen den internen und den externen Strukturen“ herstellen, hier also „zwischen dem Gefühl des Spielers für das Spiel und den tatsächlichen Konstellationen des Feldes“ (ebd.: 43f.). Indem Bourdieu demgegenüber auf die „zweifache soziale Genese der subjektiven und objektiven Strukturen des Spiels“ (ebd.: 44) reflektiere, sei er ein dessen Gedanken reformulierender „soziologischer Erbe“ Merleau-Pontys (ebd.: 41f., Fn. 34).

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fußball‘ mit seinem Fluss an Kurzpässen, rotierenden Positionen, Verschieben und Übergeben sind auf ein Kollektiv praktisch (mit-)denkender Spieler angewiesen; sie benötigen keine großen Regisseure. Jedes Spielsystem braucht Spieler, die mit ihm vertraut sind. Und selbst dann schwingen diese nur in Sonderfällen auf einer Wellenlänge. Nur ausnahmsweise funktioniert ihr Spielsinn wie ein unfehlbarer Instinkt, der jederzeit mit der Situation in Einklang ist. Jeder Fußballer kennt das Gefühl, nicht ins Spiel zu finden. Dafür kann eine vorübergehende Formschwäche verantwortlich sein, aber auch ein dauernder Missklang zwischen veränderten Spielsystemen einerseits und den eigenen, eingeschliffenen Bewegungs- und Wahrnehmungsmustern andererseits. Die erworbene Spielintelligenz ist dann mit Aktualisierungsbedingungen konfrontiert, die erheblich von den Bedingungen abweichen, unter denen sie erworben wurde. Spielern, deren Dispositionen einem System der klaren Arbeitsteilung von ‚Regisseuren‘ und ‚Wasserträgern‘ (Günter Netzer und Hacki Wimmer, ‚Kaiser‘ Franz und Katsche Schwarzenbeck etc.) angepasst waren, gelingt es kaum, sich auf die Erfordernisse eines modernen Konzeptfußballs einzustellen, in dem möglichst alle Fähigkeiten in einer Person vereint sein müssen. In der Vergangenheit einverleibte Verhaltens- und Wahrnehmungsmuster werden dysfunktional. Je mehr Mühe sich der Spieler nun gibt, sie am Leben zu halten, umso gründlicher wird ihr Misslingen. Wutausbrüche alternder Helden gegen die Vertreter einer neuen Trainergeneration, deren taktische Arbeit darin besteht, die einzelnen Mannschaftsteile und Spieler so exakt aufeinander abzustimmen, wie es früher nur im Eishockey oder Basketball üblich war, sind Ausdruck einer aus diesem Missklang resultierenden, tiefen Verzweiflung. Die unmittelbare Harmonie zwischen dem Spielverlauf und dem eigenen Vermögen ist dann suspendiert. Die Folgen sind unterschiedlich. Wer nun den Kopf einschaltet und Handlungsalternativen durchdenkt, verliert den Rhythmus des Spiels. Nur eine dem Spiel zugewandte Korrektur der Bewegung in der Bewegung, die eine Art reflexives Spüren – ein Nach-Spüren – voraussetzt, können Spiel und Spieler wieder in Einklang bringen.13 Der Erfolg einer solchen Selbstkorrektur in actu variiert sowohl mit dem Ausmaß, in dem es gelingt, 13 Mit der Vorstellung von Handeln als bloß körperlichem Vollzug eines vom Bewusstsein gesetzten Handlungsziels ist diese Praxis nicht zu begreifen. Schon besser eignet sich Arnold Gehlens (1976: 180ff.) „Auffassung vom Handeln als einer reaktionsverzögerten und komplexen Kreisbewegung, bei der sinnliche Empfindungen, kognitive Bewusstseinsleistungen, leibliche Vorstellungen und körperliche Bewegungsvorgänge miteinander in Wechselwirkung stehen“ (Raab/Soeffner 2005: 171). Bourdieu (2001: 208f.) nimmt die sportliche Praxis ausdrücklich als ein Musterbeispiel für das praktische Reflexionsvermögen eines trainierten Körpers in den Blick. Zum Zusammenhang von Bewegung und Rückempfindung sowie zur Bedeutung eines gesellschaftlich konstruierten Körpers als Fundament nicht nur von sozialer Erfahrung, sondern auch der Orientierung in Interaktionen, vgl. auch Loenhoff (2001: 129ff.).

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sich den Reaktionen und der Kreativität des einverleibten Spielsinns zu überlassen, als auch mit der Position innerhalb des Spiels und der Mannschaft: Wem vom Trainer eine Position zugewiesen wird, auf der er sich heimisch fühlt, kann sich seinem Spielsinn vollständiger und ungezwungener überlassen als derjenige, der auf einer unvertrauten Position spielen muss oder untere Ränge in der Hierarchie der Mannschaft einnimmt und deshalb dazu neigt, bewusst auf sich acht zu geben. Umso erstaunlicher ist der rasche Erfolg von jungen Bundesligaspielern wie Lukas Podolski oder Sebastian Schweinsteiger, die bereits nach kürzester Zeit die Lockerheit von Etablierten zeigen.

Kontingenz und Risiko Entgegen der These, es reduziere Komplexität, ist das Fußballspiel ein überaus komplexes Interaktionsgeschehen bewegter Körper, das Momente des Missklangs und des Scheiterns systematisch heraufbeschwört. Der notorische Satz des ‚Trainerfuchses‘ Sepp Herberger, die Leute gingen deshalb zum Fußball, weil sie nicht wüssten, wie es ausgeht, trifft diesen Tatbestand durchaus. Das Spiel begründet im Rahmen fester Spielzeiten und -regeln einen unwiederholbaren Ereignisraum, der sich endgültiger Planung und völliger Berechnung entzieht. Sportler wie Zuschauer stehen vor einem prinzipiell offenen Zukunftshorizont (vgl. Blamberger 2005). Dafür sind zum einen die Regeln verantwortlich. Sie organisieren die Einheit beider Mannschaften in ihrem Gegeneinander. Das Spiel schafft eine Differenzbeziehung, in der sich Eigenes und Fremdes gegenüberstehen und zugleich im Wettkampf so miteinander verbunden sind, dass sie sich gegenseitig konditionieren. Regeländerungen sollen dafür sorgen, dass die Spannungsbalance aufrechterhalten und dauerhaft asymmetrische Verhältnisse verhindert werden (vgl. Elias/Dunning 2003). Denn nur bei totaler Überlegenheit kann es einer Mannschaft gelingen, der anderen monologisch ihren Stil aufzuzwingen. Scheitern und Kontrollverlust als Bedingungen der Fußball-Faszination werden zum anderen durch die prekäre Beziehung von Fuß und Ball sichergestellt. Der Ball ist im Fußballspiel ein Agent prinzipiell unsicherer Interaktionen (vgl. Gebauer 2006: 34ff.). Im Vergleich mit anderen Objekten, wie Messern, Taschentüchern oder Telefonhörern, ist schon die Handhabung eines Balles recht schwierig (vgl. Krais 2003: 74). Wird dieses unberechenbare Ding gar mit dem Fuß gespielt, d.h. mit einem im Vergleich zur Hand ungebildeten Organ, dann resultiert daraus ein Handeln in permanenten Krisensituationen.14 Bereits das Annehmen des Balles mit dem Fuß bereitet außerordentliche Schwierigkeiten: Dem Ball muss seine Wucht und Geschwindigkeit genommen wer14 So auch der Held – ein Fußballtrainer – in Thomas Brussigs wunderbarer Erzählung „Leben bis Männer“: „Lippen, Zunge, Finger, Hände – alle können mehr als die Füße –, und wir spielen Fußball. Wir können das doch gar nicht!“

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den; er darf nur so weit abprallen, dass er den Aktionsraum des Spielers nicht verlässt usw. Die stets riskante Verbindung von Fuß und Ball öffnet das Spiel zum Improvisatorischen, Zufälligen. In anderen Sportspielen, wie Handball, Basketball oder auch American Football, in denen der Gebrauch der Hand erlaubt ist, ist der Ballbesitz weitaus sicherer; es dominieren die Taktiken, und auch die Hierarchien in der Mannschaft sind wohl klarer ausgebildet (vgl. Gebauer 2006: 19). „Mit den Füßen“, schreibt Gunter Gebauer (ebd.: 17), „kann man keine Besitzansprüche begründen“. Der Spieler wird künstlich hilflos gemacht und kann diese Hilflosigkeit nur überwinden, wenn er zumindest einen seiner Füße zu einem hoch sensiblen Tastorgan erzieht, so dass er die Bewegung des Balles in seine eigenen Bewegungen zu verlängern vermag, also nicht den Ball, sondern mit dem Ball spielt, wie unnachahmlich einst Diego Maradona oder heute ein Ronaldinho und ein Thierry Henry. Das Fußballspiel verlangt und befördert mithin eine Bildungsarbeit an Beinen und Füßen, d.h. an Körperteilen, die – zumindest in unserer Kultur – im Vergleich zum Arm und zur Hand ‚ungebildet‘ sind und eine weniger große kulturelle Bedeutung besitzen.15 Im besten Fall wird der ungeschickte Fuß so trainiert, dass er den Ball nicht nur zu treten, sondern auch zu streicheln und kunstvoll zu platzieren vermag. Bei Ballartisten wie Ronaldinho werden die Bewegungen von Bein und Fuß nahezu graziös, ja tänzerisch. Dennoch bleibt der Ball ein – mit Bruno Latour (vgl. Latour 2002: 213ff.) zu sprechen – eigenwilliger „Ko-Akteur“ des Sozialen. Aufgrund seiner „seltsamen Einheit von Labilität und Stabilität“ weist er keinen „Vorzug einer Bewegungsrichtung oder Lage“ auf (Buytendijk 1953: 17). Wie der Ball von den Spielern rekrutiert wird, so rekrutiert er umgekehrt die Spieler.16 Seine Elastizität, die ihn von einer Kugel unterscheidet, macht ihn zu einer Art Gegenund Mitspieler, der „auf jeden Druck oder Stoß mit einem Gegendruck oder Gegenstoß“ antwortet und „in dieser Gegenwirkung immer aufs neue die Aktivität des Spielers“ herausfordert (ebd.: 18). Wenn alles stimmt, werden in der Verbindung von Ball und Spieler aus der Spielsituation heraus Aktionen kreiert, die jedes ursprüngliche Handlungsprogramm hinter sich lassen. Die überraschende Aktion ist dann die Schöpfung einer situativen Verbindung von Spieler und Objekt, das beide Elemente modifiziert: Mit dem Ball am Fuß ist der Spieler ein anderer als ohne ihn, genauso, wie der Ball zu einem anderen Objekt wird, wenn er eine Beziehung zum Spieler unterhält. Beide Seiten der Beziehung sind im Grunde weder Subjekt noch Objekt, sondern Propositionen, die sich jählings zu einem neuen hybriden Akteur verbinden, dessen Handlungen ein Produkt dieser Verbindung sind. Eine har15 „Man gibt jemanden die Hand, nicht den Fuß.“ (Buytendijk 1953: 21) 16 „Man spielt ja nur mit etwas, was wiederum mit dem Spieler spielt; das tut der rollende Ball mehr als jeder andere Gegenstand.“ (Buytendijk 1953: 18).

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monische, flüssige Symbiose ist das Resultat einer wechselseitigen, stets labilen Assimilation: Die spielbezogenen Eigenschaften des Balles müssen auf entsprechende Geschicklichkeiten beim Spieler treffen.17 Zur fortschreitenden technischen Entwicklung und Verfeinerung des Spiels tragen somit auch Schuh- und Ballfabrikanten bei. Ultraleichte, an der Außenseite gebundene Fußballschuhe lassen die Eigenschaften des Balles mit nahezu allen für das Fußballspielen wichtigen Teilen des Fußes spürbar werden. Die Symbiose haptisch neu ermächtigter Spieler mit qualitativ neuen Bällen ermöglicht Schusstechniken, Flugkurven und Spielzüge, an die zuvor nicht zu denken war. High-Tech-Schuhe treffen auf High-Tech-Bälle. Was heutzutage über den Rasen rollt, ist nicht irgendein Stück Leder, sondern konstruiert aus mehreren Lagen Kunststoff. Sein Kernstück ist eine Schaumschicht, deren Bläschen nach dem Aufprall sofort wieder in Form gehen und den Ball beschleunigen. Sie sind gewissermaßen der Turbo des Fußballs. Der neue Wettkampfball macht das Spiel damit auch attraktiver für Zuschauer, die an das Tempo schnell geschnittener Fernsehübertragungen gewöhnt sind.

Kinästhetische Sympathie In die Dynamik des Spiels sind neben Spielern und Ball auch die Zuschauer verwickelt. Zwar stehen sie nicht mitten im Spielgeschehen, sondern haben von den Stadionrängen aus eine Perspektive der Über-Sicht, dennoch ist das Spiel zumindest für die Kenner unter ihnen keine bloße Abfolge von Bildern, d.h. nicht nur Schau-Spiel (Spektakel). Wenn das Spielgeschehen einen Resonanzboden in ihren motorischen und affektiven ‚Tiefenschichten‘ findet, nehmen sie trotz räumlicher Trennung nicht nur über den distanzierenden Seh-Sinn am Spiel teil, sondern auch in einem Modus „kinästhetischer Sympathie“. Mit diesem Begriff bezeichnet der Ethnologe Clifford Geertz (1987: 209ff.) das von ihm bei Balinesischen Hahnenkämpfen beobachtete Phänomen, dass die Köpfe der männlichen Zuschauer den Bewegungen der Hähne folgen, weil sich die Männer tief greifend mit ihren Hähnen identifizieren. Ein vergleichbares Verhalten kann man bei Kinobesuchern beobachten, die sich im Anblick 17 Ein anderes Beispiel für eine solche Assimilation schildert Gabriele Goettle in ihrem Buch über „Experten“ in einem Auszug aus einem Interview mit einer Hochseilartistin: „Viele sagen – uh, ist doch bloß ein Stahlseil. Aber dieser Stahldraht, das sind meine Adern und meine Arterien, mit denen lebe ich, ich muss mit dem Seil zusammenarbeiten. Wenn ich beispielsweise zu schnell laufe – ich laufe ja mit meiner Tochter zusammen –, entsteht eine schädliche Vibration, wie eine Welle, und diese Welle kann bei einer bestimmten Aktion meines Partners unglaublichen Schaden nach sich ziehen. Wenn man sich nicht genauestens auskennt und nicht hunderttausendprozentig ein Fleisch und ein Blut ist, einen Herzschlag, einen Rhythmus hat, dann ist das ganze zum Tode verurteilt“ (Goettle 2004: 221; Herv. im Orig.).

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einer Autoverfolgungsjagd auf der Leinwand mit in die Kurve legen. Im Fußballstadion greifen die Bewegungen und lautlichen Skandierungen der Zuschauer den Rhythmus und das Tempo des Spiels auf und beeinflussen es eventuell ihrerseits.18 Mit ihrem Über-Blick nehmen die Zuschauer das Idealbild eines gelungenen, für sie schönen Spielzuges, den sie unbedingt realisiert wissen möchten, bereits vorweg, während der Ball führende Spieler das Spiel unter dem Zeitdruck einer unübersichtlichen Praxis noch zu entfalten sucht. Die Zuschauer versuchen dann den Spieler durch Zurufe, Bewegungen und Gesten zum vorgestellten Spielzug zu bewegen. Sie machen die Aktionen der Spieler also nicht nach, sondern ahmen die von ihnen erhoffte Aktion gleichsam vor oder zumindest doch mit – und sind dabei selbst ständig in Bewegung: Beine zucken, als würden sie selbst den Schuss ausführen wollen, Körper schnellen zum Kopfball hoch und lassen sich dann – viel zu oft – enttäuscht und erschöpft auf den Tribünensitz zurückfallen, Gesichter verziehen sich zu erbarmungswürdigen Grimassen der Verzweiflung (vgl. auch Brunner 1987: 452ff.). Die ästhetische Erfahrung im Stadion ist mithin kein hermeneutischer, sondern ein somatischer Prozess. Auf vergleichbare Phänomene des Gepackt- und In-die-Szene-Hineingezogen-Werdens ist aus phänomenologischer Perspektive nicht nur am Beispiel der Bewegungen anderer Personen, sondern auch in Bezug auf das Wahrnehmen von Musik hingewiesen worden.19 Allerdings bleibt in dieser Sichtweise unberücksichtigt, dass uns Bewegungen und Töne nicht unmittelbar berühren (so z.B. Straus 1930: 639) und die Fähigkeit zum Berührt-Werden nicht allein auf eine ‚natürliche‘ Veranlagung20 zurückzuführen ist. Vielmehr ist jede ‚Berührung‘ insofern gesellschaftlich vermittelt, als im Wahrgenommenen Geschichtliches, Kulturelles und Soziales ‚objektiviert‘ ist, wie der Wahrnehmende diese Objektivationen nur aufgrund seiner erwor18 So antwortet der Ökonom Wolfgang Berger in dem bereits erwähnten Interview auf die Frage nach der Bedeutung des Publikums für den Erfolg der deutschen Mannschaft bei der vergangenen Fußball-Weltmeisterschaft: „Die Reaktion der deutschen Öffentlichkeit hat die Schwingungen des Teams noch verstärkt. Das Spiel der Mannschaft war die Initialzündung. Sie hat die Fans emotional aufgeladen. Durch die Begeisterung der deutschen Fans wirkt diese Energie als Resonanzverstärker auf die Mannschaft zurück und gibt ihr zusätzlich Energie.“ (FAZ, 4.7.2006) 19 „Denn wir hören einen Rhythmus nicht nur besser, als wir ihn zu sehen vermögen, die rhythmische Tonfolge drängt uns […] zu Bewegungen“ (Straus 1930: 638; zit. nach Ennenbach 1989: 214). „Während der Anblick einer Truppe, die ohne Musikbegleitung auf der Filmleinwand vorübermarschiert, bei uns keine Mitbewegungen hervorruft, werden wir von der Marschmusik sofort gepackt und motorisch induziert“ (Straus 1930: 645; zit. nach ebd.). 20 „Motorisch und visuell besonders veranlagte Naturen werden durch gutes rhythmisches Vorturnen so stark in ein innerlich erlebendes Mitbewegen hineingezogen, dass sie bereits den Bewegungsablauf der gesehenen Übung in seinen Impulsen und Phasen unmittelbar erfassen, ohne schon selbst die Übung am Gerät versucht zu haben.“ (Hanebuth 1964: 99; zit. nach Ennenbach 1989: 218).

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benen, also ebenfalls geschichtlich, kulturell und gesellschaftlich geprägten Empfindungs- und Wahrnehmungsmuster zu differenzieren und zu erkennen vermag. ‚Ansteckung‘ und motorische Induktion setzen eine Relationierung beider Seiten voraus. Mit anderen Worten: Der ‚schweigsame Logos‘ der Praktiken kann nur von einem Habitus erfasst und verstanden werden, in dem diese Praktiken einen Resonanzboden finden. Nur in diesem Fall verfügen die flüchtigen Oberflächenphänomene des Spiels über eine stumme Beredsamkeit und vergegenwärtigen die vorsprachlichen ‚Tiefendimensionen‘ des Sozialen. Man kann diesen Vorgang als „Resonanzphänomen“21 begreifen, als ein wortloses Wiedererkennen der eigenen körperlich-mentalen Konstitution im Spielgeschehen.22 Wie ein Spieler die Aktion eines anderen Spielers nur dann als einen Sinnvorschlag praktisch verstehend aufgreifen kann, wenn er entsprechend trainiert ist, so müssen auch die Zuschauer eine Fähigkeit zum Antwortenkönnen entwickelt haben, um vom Spiel ‚angesteckt‘ zu werden. Fehlt diese Fähigkeit, dann lässt sie das Spiel ‚kalt‘. Es geht nur ‚ins Blut‘, wenn eine Empfänglichkeit vorhanden ist, d.h. wenn das Spiel Erinnerungen, Gefühle und Gedanken wachzurufen vermag, die im eigenen Körpergedächtnis aufbewahrt werden.23 Aktive und Zu21 Der Begriff der „Resonanz“ scheint mir für die Bezeichnung solcher Phänomene geeigneter als beispielsweise der Begriff der „Ansteckung“ (vgl. Schaub et al. 2005), insofern er die Zweibahnigkeit des Phänomens und damit den aktiven Beitrag aller Seiten zu seiner Konstitution akzentuiert. „Ansteckung“ hingegen suggeriert Einbahnigkeit, die Einwirkung eines aktiven Parts auf einen passiven. 22 Arnold Gehlen hat die Faszination der Automatismen moderner Technik auf den Menschen verschiedentlich durch solche „Resonanzphänomene“ erklärt: „Nun ist aber der Mensch in ganz zentralen Bereichen seiner Natur Automatismus, er ist Herzschlag und Atmung, er lebt geradezu in und von sinnvoll funktionierenden, rhythmischen Automatismen, wie sie in der Bewegung des Gehens, vor allem aber in den eigentlichen Hantierungen und Arbeitsgängen der Hand vorliegen, in dem ‚Handlungskreis‘, der über Sache, Hand und Auge zur Sache zurücklaufend sich schließt und dauernd wiederholt. So faszinieren ihn die analogen Vorgänge der Außenwelt kraft einer ‚Resonanz‘, die sozusagen eine Art des inneren Sinnes für das Eigenkonstitutionelle im Menschen darstellt, der auf das anspricht, was dieser Eigenkonstitution in der Außenwelt ähnelt. Und wenn wir heute noch vom ‚Gang‘ der Gestirne, vom ‚Gang‘ der Maschine reden, so sind das keine oberflächlichen Vergleiche, sondern aus der Resonanz heraus objektivierte Selbstauffassungen bestimmter Wesenszüge des Menschen – der die Welt nach seinem Bilde interpretiert und umgekehrt sich nach Weltbildern“ (Gehlen 1962: 16f.; vgl. auch Schelsky 1961: 19). Freilich vernachlässigt auch Gehlen die Geschichtlichkeit und Gesellschaftlichkeit sowohl des Eigenkonstitutionellen des Menschen, seines ‚Wesens‘, als auch der Strukturen der Außenwelt, die in der Perspektive einer historischen Anthropologie ins Rampenlicht der Erkenntnis treten. 23 Zum Körper als „Speicher für bereitgehaltene Gedanken“ vgl. Bourdieu (1987: 127f.). Bourdieu interessiert sich hier vor allem für die körpervermittelten Modi der Ausübung symbolischer Gewalt. Gedanken und Gefühle können, wie er

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schauer haben dann gemeinsam Teil an einer körperlich-sinnlichen Sozialität.24 Die Gleichgerichtetheit der Bewegungen und der mit ihnen verknüpften Gedanken und Gefühle schafft dann eine vorübergehende Vereinheitlichung der individuellen Perspektiven: eine soziale Einheit in Zeit und Raum. Neue, hermetisch geschlossene Stadionarchitekturen – der Architekt Volkwin Marg bezeichnet sie als „Hysterienschüsseln“ (Herzog 2002: 36) – sollen die affektive Wucht der Gemeinschaftserfahrung durch eine Intensivierung der Töne und Geräusche noch verstärken.

Konjunktion und Distinktion, Inklusion und Exklusion Zwar wird dem Fußball gern die Fähigkeit zugesprochen, alle sprachlichen Grenzen zu überwinden und die Kulturen und die sozialen Klassen zusammenzubringen, jedoch bleiben aus dieser Einheit diejenigen ausgeschlossen, die die Fähigkeit zum Antwortenkönnen – aus welchen Gründen auch immer – nicht haben. Die Teilhabe am Spiel ist Teilhabe an einer Lebensform. Nur wer mit dieser Lebensform vertraut ist und sich darin mit seinen Vorlieben, Neigungen und Wertvorstellungen wieder erkennt, kann in das Spiel eintreten. Die Kehrseite der im Spiel erzeugten Konjunktion ist mithin die Distinktion, der Inklusion korrespondiert die Exklusion, der Resonanz die Dissonanz: Die Interkorporalität des Spiels hat ihre kulturellen und sozialen Grenzen.25 Global Player der Verständigung ist das Fußballspiel nur für diejenigen, deren sozialisierte Körper von seinen Tempi, Rhythmen und Figurationen berührt und zum Mitschwingen angeregt werden.

schreibt, „aus der Entfernung und mit Verzögerung schon dadurch abgerufen werden […], dass der Leib wieder in eine Gesamthaltung gebracht wird, welche die mit dieser Haltung assoziierten Gefühle und Gedanken heraufbeschwören kann, also in einen jener Induktorzustände des Leibs, der Gemütszustände herbeiführen kann, wie Schauspielern bekannt ist. Daher die Sorgfalt, die bei der Inszenierung großer Massenfeierlichkeiten nicht nur auf das […] Bemühen um feierliche Darstellung der Gruppe zurückgeht, sondern auch … auf die sicher unbestimmte Absicht, Gedanken zu ordnen und […] besonders durch leibliche Ausdrucksformen […] Gefühle zu suggerieren. Symbolische Wirkung dürfte auf der Macht über andere und insbesondere über deren Leib und Glauben fußen, verliehen von der kollektiv anerkannten Fähigkeit, durch die verschiedensten Mittel auf die zutiefst verborgenen verbal-motorischen Zentren einzuwirken, um sie zu neutralisieren oder um sie zu reaktivieren, indem man sie mimetisch fungieren lässt“ (ebd.). 24 Das setzt nicht unbedingt voraus, dass man als Zuschauer auch selbst aktiv Fußball gespielt haben muss. Ein Sinn für das Spiel lässt sich etwa auch durch regelmäßiges Zuschauen oder dadurch erwerben, dass man eine andere, ‚familienähnliche‘ Sportart betrieben hat. 25 Zu den kulturellen und sozialen Grenzen körperlicher Vergemeinschaftung s. auch Meuser (2002: 42) und Alkemeyer (2002).

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Allen Veränderungen zum Trotz sind dies nach wie vor überwiegend Männer. „Mit dem nahezu unmöglichen Ziel, den unberechenbaren Ball mit dem Fuß hinter die Torlinie zu befördern und dabei gegen eine Gruppe männlicher Gegner zu kämpfen, repräsentiert Fußball“, schreibt Beate Krais (2003: 74) „eine Herausforderung, die den Herausforderungen der Helden der griechischen Mythen ähnelt“.26 Zwar wächst die Zahl Fußball spielender Frauen und mögen zunehmend auch Frauen Fußballfans sein, gleichwohl ist das Spiel immer noch hauptsächlich an Männer adressiert. Seiner Entstehungsgeschichte nach bildet es ein homo-soziales Universum aus Praktiken und Erzählungen, aus Verhaltensweisen und Mythen, aus Körpereinsätzen und männlichem Tratsch (vgl. Eco 1985), aus dem Frauen bis in die Gegenwart hinein so weitgehend ausgeschlossen sind, wie kaum mehr aus einem anderen gesellschaftlichen Bereich.27 Das Spiel zeigt, wie Männer ihre Körper in Auseinandersetzungen investieren, wie sie sich dabei bewegen und miteinander umgehen, wie sie Gefühle zeigen und sich für andere darstellen. Immer noch gehört das Fußballspiel zu jenen „ernsten“ männlichen Spielen, an denen Frauen vornehmlich vermittelt über andere, d.h. „durch eine emotionale, solidarische Verbundenheit mit dem Spieler“ teilnehmen, „die keine wirkliche, intellektuelle und affektive Beteiligung am Spiel impliziert und die aus ihnen oft bedingungslose, aber mit der Realität des Spiels und seiner Einsätze wenig vertraute Anhänger macht“ (Bourdieu 1997: 196f.). Frauen, schreibt Beate Krais (2003: 77), werden in der Welt des Fußballs nach wie vor nicht als gleichberechtigte Mitspielerinnen anerkannt. Damit zeige diese Welt einen Exklusionsmechanismus, der komplementär zur Abschaffung formaler Barrieren des Ausschlusses von Frauen beispielsweise aus dem Berufsleben an Bedeutung gewonnen habe: die Exklusion aufgrund einer symbolischer Gewalt, die sich maßgeblich auf die körperlichen Dimensionen des Habitus stützt.

26 Übersetzung aus dem Englischen vom Verfasser (T.A.). 27 Vielleicht mit Ausnahme der akademisch institutionalisierten Wissenschaften. Zur Männlichkeit des Spiels vgl. auch Kreisky/Spitaler (2006).

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Für eine vom Sport ausgehende Theorie des Sozialen Eine Ästhetik des Zeigens Die Diskussionen über die Beziehungen zwischen den Spielen des Sports und anderen gesellschaftlichen Bereichen, wie der Arbeit oder alltäglichen Lebensvollzügen, bewegen sich in einem Spannungsfeld, dessen Pole durch die These vom Sport als Gegenwelt einerseits sowie seine Deutung als Abbild von Gesellschaft andererseits markiert werden. In der Perspektive der GegenweltThese sind die Spiele des Sports Räume des Ausbruchs aus den gesellschaftlichen Zwängen zur Regulierung, Zivilisierung und Disziplinierung des Verhaltens. Abbild-Theoretiker hingegen versuchen z.B. nachzuweisen, dass der (Wettkampf- und Leistungs-)Sport von eben jenem Geist der Zweckrationalität und der Effizienz geprägt sei, der auch die industriekapitalistische Arbeit kennzeichne, oder dass Sport allgemeinverständlich und damit überzeugend die Leitideen moderner Gesellschaften wie den Triumph der antagonistischen Leistung oder das Prinzip des unbegrenzten Fortschritts visibilisiere.28 Über ihre inhaltlichen Gegensätze hinweg konvergieren beide Deutungen allerdings darin, dass sie die sinnlich fassbaren Seiten des Sports, seine Materialität und Körperlichkeit, weitgehend unbeachtet lassen. Weder am einen noch am anderen Pol wird darauf reflektiert, dass die Figurationen des Sports körperlich erzeugt und damit auch auf eine spezifische, oben als „kinästhetische Sympathie“ bezeichnete Weise von den Zuschauern wahrgenommen bzw. mit vollzogen werden. Die Aufmerksamkeit richtet sich hier wie dort auf die ideale, körperlose Form der sportlichen Praxis, auf die abstrakten ‚Prinzipien‘ und konstanten ‚Tiefenstrukturen‘ hinter den konkreten, vergänglichen Erscheinungen. Der Sport wird als eine Art Aussagesystem betrachtet, aber es wird nicht berücksichtigt, dass die Materialität der Aussage konstitutiv für diese selbst ist, bedarf doch jede Aussage einer Substanz, eines Trägers, eines Orts und eines Datums (vgl. Wirth 2002: 43). Aktuelle Varianten beider Positionen – das Präsenztheorem (Gumbrecht) einerseits und das Mimesiskonzept (Gebauer) andererseits – sind differenzierter. Gumbrecht (1998, 2005) zufolge erzeugen sportliche Spiele eine eigene, flüchtige Ästhetik markanter Körpertechniken, Spielgestalten und Stile. Das Vergnügen an dieser Ästhetik speise sich aus der Brillanz körperlicher Aktionen, einer Körper-Kunst ohne intentionalen Ausdruck, an unberechenbarem Kombinationsfluss und berauschend schönen Ballstafetten. Nicht die Tiefe des Sinns sei entscheidend, sondern die Oberfläche des Sinnlichen – seine Körperlichkeit, Ereignishaftigkeit, Flüchtigkeit und Kontingenz. Gumbrecht überwindet 28 Vgl. ausführlicher Alkemeyer/Boschert/Rigauer (2005).

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damit die „Sehschwächen“ (Boschert 2003: 287) des auf den lingustic turn der späten 1960er Jahre zurückgehenden Modells von Kultur als Text sowie das geisteswissenschaftliche „Weg-Intellektualisieren von Körperlichkeit“ (Junghanns 1999: 6). Allerdings droht er das Kind mit dem Bade auszuschütten. Denn seiner Aufmerksamkeit für die sinnlich-körperlichen Oberflächen korrespondiert ein Vernachlässigen, wenn nicht gar Negieren ihrer sozialen und kulturellen Bezüge. So reproduziert Gumbrecht letztlich das klassische Selbstverständnis des Sports „als einer selbstzweckhaft-formalisierten Körperpraxis“ (Schmidt 2003: 71): Unter den Prämissen des performative turn lebt die alte Idee wieder auf, die Faszination des Sports gründe in seiner Gegenweltlichkeit, d.h. darin, dass er sich der gesellschaftlichen Rationalisierung weitgehend entziehe und demgegenüber dem Widerständigen und Unvorhersehbaren – der Unverfügbarkeit des Körperlichen – einen Spiel-Raum gewähre. Das von Gebauer und Wulf (1998) ausgearbeitete und von Gebauer (1998) auf den Sport bezogene Konzept der sozialen Mimesis (vgl. auch Alkemeyer 1997) zielt demgegenüber darauf ab, der „Sehschwäche“ des Text-Modells abzuhelfen, ohne gleichzeitig zu neuen „Sehschwächen“ zu führen. In der Perspektive des Mimesiskonzepts wird die Spezifik des Sports als körperliche Praxis betont, ohne diese Praxis von ihren gesellschaftlichen Bezügen abzutrennen. Diese werden vielmehr von ihrer Körperlichkeit her erschlossen, indem die sportlichen Praktiken als Modellierungen vorgängiger, historisch, gesellschaftlich und kulturell geprägter Körpertechniken und Bewegungsmuster in den Blick genommen werden. Sport ist in dieser Perspektive eine kulturelle Aufführung des Sozialen in den Medien der Körperlichkeit – dargestellte Gesellschaft (vgl. Gebauer 1998). Mit meinen Schilderungen des Fußballgeschehens sollte im Unterschied sowohl zum Präsenztheorem als auch zur Mimesisthese plausibel gemacht werden, dass die Praktiken des Sports, als Aufführung betrachtet, weder zur Ordnung der Darstellung gehören, noch vollkommen selbstbezüglich sind, sondern eine Ästhetik des Zeigens realisieren.29 Gezeigt wird etwas dann, wenn es auf anderem Weg nicht artikulierbar, wenn es unsagbar ist. Die Spiele des Sports stellen keine konkreten Inhalte des gesellschaftlichen Lebens dar, sondern zeigen – so meine These – auf die Körperlichkeit des Sozialen als Kehrseite der Gesellschaftlichkeit des Körpers. Die Inhalte, Zwecksetzungen oder Interaktionsmuster der außersportlichen sozialen

29 Dass die Rolle des Sports „gegenüber der sozialen Praxis [ist] die des Zeigens“ sei, wird auch von Gebauer (1995: 195) bemerkt. Allerdings bleibt unklar, in welcher Beziehung diese Auffassung zu derjenigen vom Sport als Darstellung von Gesellschaft steht.

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Praxis klingen im Sport allenfalls aus der Ferne noch an,30 sie verflüchtigen sich gleichsam in der ‚Schwerelosigkeit‘ des Spiels. Sport fokussiert demgegenüber die Bedeutung des Körperlichen in den und für die Wechselwirkungen sowohl zwischen den Menschen als auch zwischen ihnen und ihrer materiell-symbolischen Umgebung: Er rahmt die Körperlichkeit des Sozialen und vollzieht in dem Sinne eine „phänomenologische Reduktion“,31 als er die körperlichen Aspekte der Konstitution sozialer Ordnungen ein- und die sprachlichen Dimensionen des gesellschaftlichen Verkehrs damit weitgehend ausklammert. Rahmung und Klammerung lassen ins Scheinwerferlicht treten, was normalerweise in den Vollzügen des alltäglichen Lebens verborgen ist und auch in den „scholastischen“ Räumen32 der Wissenschaften und Bildung mit ihrer „Vorliebe für Wissen, Sprache und Semantik“ (Lindemann 2005: 115) verkannt und vergessen wird: Die Wissenschaften haben zwar eine starke „Affinität zur sprachlichen Dimension des Sozialen“, ‚fremdeln‘ allerdings allem gegenüber, was – wie der Sport – wortlos, unartikuliert, gleichsam ‚analphabetisch‘ sich vollzieht (vgl. Hirschauer 2001). Aufgrund dieser Blindheit entgeht ihnen, dass auch bei allen vermeintlich rein mentalen Akten der Körper beteiligt ist. Sportliche Spiele demonstrieren und machen für ihre Akteure demgegenüber leiblich spürbar, dass soziale Ordnungen nicht nur kognitive Konstrukte sind, sondern insofern auch ‚körper-logische‘ Systeme33, als sie, einer eigenen – unscharfen, kreativen – praktischen Logik34 folgend, im regelhaften Zusammenspiel unterschiedlicher „Partizipanden des Tuns“ (Hirschauer 2004) erzeugt werden: Sie 30 Insofern können die Ereignisse des Sports mit Simmel (1911) als „Spielformen der Vergesellschaftung“ betrachtet werden. 31 Der Begriff geht auf Edmund Husserl zurück. Für ihn war die phänomenologische Reduktion eine geisteswissenschaftliche Methode, um die untersuchten Phänomene von allen Aspekten zu befreien, die für die gestellte Frage irrelevant sind, diese also ‚einzuklammern‘ und beiseite zu schieben (vgl. Münch 2003: 191f.). 32 ‚Scholastische‘ Räume sind von der körperlichen Arbeit bzw. der Alltagspraxis institutionell abgelöste Räume „sozialer Schwerelosigkeit“ (Bourdieu 2001: 23). Sie bedingen und ermöglichen eine besondere Sicht der sozialen Welt, die Bourdieu (vgl. Bourdieu 1998: 203) im Anschluss an John Austin als „scholastische Sicht“ (scholastic view) bezeichnet. Damit ist eine neutralisierende Einstellung gemeint, die „Lebensformen“ (Wittgenstein), Kontexte, Existenzzwänge, schließlich alle praktischen Ziele und Intentionen z.B. des Sprachgebrauchs ausblendet. 33 So Gugutzer (2004: 102) im Rekurs auf O’Neill (1990: 46). 34 Dass die praktische Logik komplexer, kreativer und damit unschärfer ist als von einem externen Beobachter nachträglich theoretisch (re)konstruierte Regelsysteme, ihr aber gleichzeitig auch als gültig vorausgesetzte, den Akteuren allerdings reflexiv kaum zugängliche Leitprinzipien zugrunde liegen, zeigt und reflektiert Bourdieu (1979) bspw. in seinen theoretisch-empirischen Studien zur kabylischen Gesellschaft.

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exemplifizieren, dass soziale Verflechtungszusammenhänge (in Gestalt von Spielmustern, Ballstafetten, Doppelpässen usw.) nicht nur über das bewusste Erfüllen von Regeln und Rollenerwartungen oder rationale Kalküle zustande kommen, also weder von festen, den Akteuren reflexiv völlig zugänglichen Grundlagen (Regeln oder Strukturen) her zu erklären sind, noch im Rekurs auf bewusst-intentional planende Subjekte, sondern aus dem Zusammentreffen menschlicher und nicht-menschlicher Handlungsträger.35 Mit der Körperlichkeit sozialer Ordnungen wird zugleich deren Performativität ausgeleuchtet, ihr unumkehrbarer Vollzugscharakter in Raum und Zeit, ihre temporale, rhythmische Ordnung:36 Sportspiele zeigen das Soziale als tempo- und variationsreiches Kräftespiel sich körperlich und mental aufeinander beziehender Akteure, die ihre Entscheidungen augenblicklich treffen müssen. Wie das Spiel nicht ohne die Spieler existiert, so existieren diese nicht ohne das Spiel. Beide Seiten konstituieren sich wechselseitig. Die Figurationen des Spiels tauchen auf und tragen sich unter der Bedingung selbst, dass es Spieler mit entsprechenden Fußfertigkeiten, Ballgefühl, Dribbelkunst und einem praktischen Sinn für das Spiel gibt, der ihnen im Idealfall ein ‚blindes Verstehen‘ ermöglicht.37 Die „außerordentlich anspruchsvolle und unwahrscheinliche Selektion aus einem Horizont von Weltmöglichkeiten“ (Esser 1991: 157), die bereits jeder einzelne Akt eines Doppelpasses erfordert – Ballannahme, Ballweitergabe, Rückpass –, setzt Akteure voraus, die zu diesen Selektionen ohne langes Überlegen in der Lage sind. Am sportlichen Spiel wird mithin aus der Zuschauerperspektive mitvollziehbar und aus der Akteursperspektive spürbar, dass der sozialisierte menschliche Körper weder nur ein Medium oder Instrument des Handelns ist, dessen sich ein planender Geist bedient, um seine Entwürfe in die Realität umzusetzen, noch ein bloßes Objekt kultureller Formungen oder Disziplinierungen, sondern „Träger einer generativ-kreativen Verstehensfähigkeit, einer Form von ‚kinetischem Wissen‘, das strukturierende Kraft besitzt“ (Wacquant 1996: 41f.). Die praktischen Vollzüge des sportlichen Spiels kehren damit die in scholastischen Räumen gültigen Hierarchien von physischen und intellektuellen Fähigkeiten nicht nur – wie Bourdieu (2001: 185) ausgeführt hat – um, sondern machen darüber hinaus auf die Unzulänglichkeit dieser Trennung aufmerksam: Sie demonstrieren, wie viel praktische Intelligenz, Kreativität und Improvisationsfähigkeit im situationsgerechten Vollziehen und Variieren erlernter Körpertechniken steckt. Schließlich machen sie deutlich, dass diese Fähig35 Zum Konzept der „verteilten Handlungsträgerschaft“ vgl. Rammert (2003). 36 Zum von Bourdieu am Beispiel der algerischen Gesellschaft der 1960er Jahre aufgezeigten „Rhythmus der Gesellschaft“ vgl. Vogel (2006). 37 Mag Esser (1991: 155f.) auch all diese Konzepte zur Erklärung des Systems „Doppelpass“ als veraltet bzw. alteuropäisch bezeichnen.

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keiten der Praxis nicht vorausgehen, sondern ihr innewohnen und sich in der Auseinandersetzung mit auftauchenden Problemen entwickeln und verändern. Sportspiele beinhalten damit eine sprachlose, implizite Kritik jener „intellektualistischen Legenden“ (Ryle 1969) und „quasi-mentalistischen Bornierung“ (Lindemann 2005: 115), die insbesondere das wissenschaftliche Diskursuniversum auszeichnen. Sie korrigieren die – eng mit der illusionären Vorstellung einer Trennung von Planung und Ausführung sowie der verstandesmäßigen Regulierung des Handelns verbundenen – hegemonialen Leitbilder eines planmäßig-rationalen Handelns und seiner vollständigen Berechenbarkeit (vgl. z.B. Böhle 2006), indem sie die Bedeutung sozialisierter Intuitionen, trainierter Instinkte und eines erlernten Gespürs akzentuieren. Vorgeführt wird, dass praktische Intelligenz, Erfahrungswissen und habituelles Können, die von den Akteuren als Gefühl leiblich spürbar werden, unabdingbare Ressourcen für soziales Handeln, Improvisationen und die kreative Lösung unvorhersehbarer Probleme sind.38 Umgekehrt geben sie zu erkennen, dass die Akteure von den sozio-kulturell unterschiedlichen Tempi, Rhythmen und Stilen gesellschaftlicher Spiele in selektiver Weise profitieren können: das (Wettbewerbs-)Spiel produziert Gewinner und Verlierer. Es werden diejenigen buchstäblich abgehängt, die aus dem Takt geraten bzw. den Rhythmus verlieren. Das für die Spiele des Sports charakteristische Zeigen erfolgt somit in genau dem Medium, auf das gezeigt wird; es findet kein Medienwechsel statt.39 Das Spiel repräsentiert kein Abwesendes, sondern präsentiert die Bedeutung körperlich-leiblicher Vermögen gegenseitiger Verhaltensabstimmung, praktischer Beherrschung und des situationsadäquaten Einsatzes von Körpertechniken im Hier und Jetzt des Vollzugs. Praktische Intelligenz wird nicht beschworen, sondern vergegenwärtigt. Es wird auf- und vorgeführt, dass in jedem Hand-

38 Für den Sport führt bspw. Lippens (1997, 2004) aus, dass eine gekonnte Bewegungspraxis weniger auf einem expliziten Wissen um den optimalen Bewegungsverlauf und bewussten Kognitionen beruht, als auf subjektiven Erfahrungs- und Wissensbeständen, die zum großen Teil implizit und von außen nur teilweise rekonstruierbar sind. Er zeigt u.a., dass der Praxis des Ruderns ein transmodales Gespür dafür zugrunde liegt, ob ‚alles stimmt‘. Solange die Bewegungsausführungen problemlos gelingen, fungiert dieses Gespür als subjektiver, emotional orientierter Verhaltensregulator. Erst bei Störungen setzt eine kognitiv orientierte Phase der Handlungsjustierung und -modifikation ein. Ebenso rücken Forschungen zum impliziten Bewegungslernen mit Bezug auf die Arbeiten Polanyis und Neuwegs die Unbewusstheit und Körperlichkeit des Lernens in den Mittelpunkt (vgl. z.B. Kibele 2001a). Sie relativieren damit die Bedeutung kognitiver Planungs-, Verstehens- und Handlungsregulationsakte z.B. beim Übergang von der Situationswahrnehmung zur motorischen Aktion ebenso wie die Rolle expliziter sprachlicher Belehrung beim Bewegungslernen (vgl. Neumann/ Prinz 1987; Prinz 1997; Kibele 2001b). (Für diese Hinweise danke ich Kristina Brümmer, Studentin in einem meiner Seminare zu soziologischen Praxistheorien.) 39 Vgl. den Beitrag von Schmidt in diesem Band.

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lungsverlauf Unwägbarkeiten auftauchen, die ein der Praxis zugewandtes Erkennen, Experimentieren und Nachdenken erfordern, das einem leiblichen Nachspüren gleichkommt. Insofern die Spiele des Sports Verkettungen von Situationen sind, in denen blitzschnell Entscheidungen getroffen werden müssen, bekräftigen sie, dass die in der Praxis allgegenwärtigen Unwägbarkeiten nur auf der Grundlage eines inkorporierten Erfahrungswissens antizipiert und ‚bewältigt‘ werden können. Gerade das Fußballspiel verdichtet die Unberechenbarkeiten jeder Praxis sogar in besonderem Maße, indem es den Gebrauch der Hand verbietet. Vor dem Hintergrund dieser Dramatisierung von Unsicherheit treten die Bedeutung und der Wert von Erfahrungswissen, Spielsinn und habituellem Können umso prägnanter hervor.40

Ein soziologisches Laboratorium In methodologischer Perspektive verfügt das sportliche Geschehen damit über bislang weitgehend ungenutzte Erkenntnispotenziale. Es kann geradezu als ein soziologisches Laboratorium betrachtet werden, in dem wie durch ein Brennglas hindurch Prozesse untersucht werden können, deren Tragweite weit über den Rahmen des Sports hinausweist. Die sportliche Praxis eignet sich in hervorragender Weise als Modell zur Beobachtung und Beschreibung der wechselseitigen Konstitution von verkörperten Strukturen und verkörpertem Handeln. Empirisch begründet ließe sich durch methodisch-systematische Untersuchungen solcher Konstitutionsprozesse ein einseitiges, auf bewusste Intentionen, Kognition und Reflexion begrenztes Akteursverständnis korrigieren, dem Handeln „als bloß körperliche Ausführung eines vom Geist oder Bewusstsein gesetzten und auf ein bestimmtes Handlungsziel gerichteten Bewegungsablaufes“ (Raab/Soeffner 2005: 171) gilt.41 40 Auch andere Kunstformen folgen dem Prinzip, banale Alltagspraktiken durch Formen, Regeln oder Objekte so zu erschweren, dass Nicht-Könner scheitern und den Könnern die Möglichkeit gegeben wird, ihre Könnerschaft demonstrativ in Szene zu setzen: In der Dichtung treiben Vers- und Reimschemata neue Formen des künstlerischen Sprechens hervor; im klassischen Ballett werden durch das Reglement von Bewegungscodes und Ballettschuhen hoch artifizielle Tanzfiguren generiert usw. Sport transponiert diese Mechanismen auf die Ebene des Populären (vgl. Gebauer 2006: 17f.). 41 Damit stellt sich im Feld des Sports zugleich auch die Frage nach der Rolle des ForscherInnen-Körpers im Forschungsprozess in besonderer Schärfe: In welcher Weise ist er an der Produktion von Erkenntnis beteiligt? Wie kann er als eigenständiges Erkenntnismedium produktiv gemacht werden? Im Rahmen des Arbeitsbereichs „Sport und Gesellschaft“ der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg sind diese und ähnliche Fragen derzeit zentraler Gegenstand eines weiteren, für die Veröffentlichung vorgesehenen Beitrags zur Bedeutung des Sports als soziologisches Laboratorium. Darin wird in der Synthese von Überlegungen Pierre Bourdieus zur ‚Verkörperung‘ der Soziologie und Bertolt Brechts zum

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Unsere Idee42 ist, dass der besondere Gegenstand einer Wissenschaft vom Sport gerade im Zuge der in den letzten Jahren verkündeten ‚performative‘ und ‚practice turns‘ eine allgemeine, über den Sport weit hinausreichende Relevanz erlangt, indem er den Ansatzpunkt für eine analytische Perspektive liefert, die den Körper als Träger, Vollzugsmedium und Produzent sozialer Ordnungen und kultureller Bedeutungen begreift. Bei aller Diffusität und Vielgestaltigkeit besteht ein gemeinsamer Grundzug dieser ‚turns‘ in vergleichbaren Blickwechseln: Das Interesse verschiebt sich von der unsichtbaren Tiefe des (subjektiven) Sinns hin zu den sichtbaren (öffentlichen) ‚Oberflächen‘, vom immateriellen Geist zu Materialität und Körperlichkeit, von den Intentionen eines autonomen Subjekts zur Emergenz von Praktiken und Wissen zwischen den unterschiedlichen Handlungsträgern,43 vom ‚fertigen Werk‘ zum kontingenten Prozess des Entstehens und Erzeugens von Ordnungen usw.44 Gesellschaftliche Phänomene werden in der Perspektive dieses „Denkstils“45 nicht primär über Individuen, Interaktionen, Sprache, Institutionen, Rollen oder Systeme erschlossen, sondern als beobachtbares körperliches Geschehen thematisiert.46 Körper, Handlungen (actions), Weltsichten und Intelligenz gehen den Praktiken danach nicht voraus, sondern konstituieren sich in ihnen. Im Anschluss an Pierre Bourdieus Einsicht, gerade die Wissenschaft vom Sport sei mit einer „Reihe höchstrangiger theoretischer Fragen“ (Bourdieu 1992: 205) bezüglich der stummen, vorbewussten Vollzüge des Sozialen konfrontiert, lässt sich unserer Ansicht nach an sportlichen Bewegungen ein analy-

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Lehrstück als soziologischem Experiment auf die Möglichkeiten einer soziologischen Erkenntnis der schweigsamen Dimensionen des Sozialen im Medium körperlich-ästhetischer Praxis reflektiert. Das ‚uns‘ bezieht sich auf Robert Schmidt und den Autor dieses Beitrags. Zum Folgenden vgl. ausführlicher Alkemeyer/Schmidt (2006). Praktiken werden dabei betrachtet „as embodied, materially arrays of human activity centrally organized around shared practical understanding“ (Schatzki 2001: 2f.). Diese Blickwechsel deuten auf ein Reflexivwerden moderner Gesellschaften hin: Sie zeugen von einer Reflexion auf die in der Vergangenheit ‚verkannten‘ körperlichen wie materiellen Grundlagen und Bedingungen der sozialen Prozesse, in denen sich historische Subjekte konstituieren, und richten den Blick auf jene körperlich-materiellen Zusammenhänge und Entstehungsprozesse des Sozialen, des Handelns, Denkens und Fühlens, die infolge der langen Herrschaft des Geistigen über das Körperliche zum Verschwinden gebracht worden sind. Zum Begriff des Denkstils als historisch gewachsener und gesellschaftlich bedingter Form der Wirklichkeitskonstruktion s. Fleck (1980). Autoren wie Theodore Schatzki und – für die deutschsprachige Diskussion – Andreas Reckwitz haben diesen gemeinsamen Fokus der verschiedenen praxeologischen Ansätze Theorie vergleichend deutlich gemacht. Vgl. Schatzki (2001), Reckwitz (2003). Zur Debatte um die ‚praxistheoretische Wende‘ in den Sozialwissenschaften s. auch Schatzki (1996), Schatzki et. al. (2001), Hörning/Reuter (2004). Zur ‚performativen Wende‘ vgl. u.a. Fischer-Lichte (2004), Wirth (2002).

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tischer Blick entwickeln, der geeignet ist, die grundlegende Bedeutung des Körpers für die Produktion des Sozialen auch in anderen, vermeintlich vollkommen körperlosen gesellschaftlichen Bereichen auszuleuchten. Mit seiner (auto-) ethnografischen Untersuchung der Aneignung eines boxerischen Habitus hat bereits Loïc Wacquant den Anspruch erhoben, über die Rekonstruktion der spezifischen Logik des Boxens etwas über „die Logik jeglicher Praxis“ (Wacquant 2003: 21) zu erfahren. In Weiterführung dieser Perspektive meinen wir, vom Sport aus zeigen zu können, dass und wie jedes Handeln ein praktisches Mitwirken des Körpers und somit die Mobilisierung einer spezifisch körperlichen Intelligenz verlangt, die in der sozialen Praxis selbst – durch Sozialisation, Training, Lernen, usw. – eingeschliffen und erworben wird. Im Sinne des ethnographischen Befremdens der eigenen Kultur haben wir auf der Basis erster explorativer Studien zur Körperlichkeit von Bildungs- und Arbeitsprozessen (vgl. Alkemeyer 2006 und Schmidt in diesem Band) zu plausibilisieren versucht, dass aus der Übertragung eines an der sportlichen Praxis geschulten Blicks auf andere gesellschaftliche Bereiche auch für diese Neubeschreibungsgewinne zu erzielen sind. Es geht uns mithin gerade nicht um eine Soziologie des Körpers, sondern darum, vermittelt über theoretisch-empirische Untersuchungen sportlicher Praktiken einen Beitrag zur Ausarbeitung, Präzisierung und Weiterentwicklung jener handlungs- bzw. praxistheoretischen Ansätze von Mead über Goffman bis hin zu Bourdieu47 zu leisten, die dem Körperlichen eine konstitutive Bedeutung für soziale Prozesse zuerkennen, um – so die langfristige Perspektive – vom Sport aus eine Theorie des Sozialen zu formulieren, die die Dimensionen des Leiblich-Körperlichen angemessen berücksichtigt (vgl. auch Lindemann 2005: 114f.; Gugutzer 2004). Exemplarisch können am Sport insbesondere der Erwerb und das Prozessieren der Fähigkeit zum wechselseitigen Verstehen von Körper und Welt, d.h. zu praktischer Beherrschung, erforscht werden. Am Sport tritt zum einen die Arbeit an der Disziplinierung und Modellierung der eigenen Physis, Emotionen und sinnlichen Wahrnehmungen zu Tage, die nötig ist, um sich selbst in der sozialen Ordnung zu halten und darin handlungsfähig zu werden,48 zum anderen das Kreativitäts- und Gestaltungspotenzial eines vergesellschafteten, gebildeten Körpers, ohne das in unvorhergese47 Bereits Mead (1995: 82ff.) hat die Zeigequalitäten des Boxens für das Ausarbeiten einer intersubjektiven Handlungstheorie fruchtbar gemacht, in der geistige Prozesse in den körperlichen Praktiken und Kontakterfahrungen des handelnden Organismus fundiert werden (vgl. Meuser 2004: 204). Bourdieu (1979: 146) greift Meads Darstellungen auf, um die Bedeutung und Funktion eines „praktischen Erkennens“ als Grundlage für das Erzeugen und Regulieren der eigenen Aktionen zu verdeutlichen. Vgl. auch den Beitrag von Schmidt in diesem Band. 48 Zur emotionalen, physischen und perzeptiven Arbeit im Boxen vgl. Wacquant (2003: 90ff.).

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henen Situationen nicht angemessen reagiert werden kann. Wie eine praxeologische Sportforschung in der einen Richtung von ethnomethodologischen Forschungen zur Logik der Jazzimprovisation (Sudnow 1978) oder zum Vollzug von Arbeits- und scheinbar körperlosen Denkprozessen (Bergmann 2005), Untersuchungen zum Technikgebrauch (z.B. Beck 1997; Hörning 2001) sowie der Expertiseforschung zur „Bewältigung des Unplanbaren“ (Böhle et al. 2004; vgl. auch Bromme 1992; Dreyfus/Dreyfus 1988) profitieren könnte,49 so könnten diese Ansätze in der anderen Richtung von einer praxeologischen Sportforschung befruchtet werden, die die unauflöslichen Zusammenhänge zwischen dem Formen, Trainieren und Einschleifen von Bewegungsfolgen, Körperhaltungen und Gesten einerseits und dem Ausbilden von Mustern und Fähigkeiten des intuitiven Wahrnehmens, Erkennens und Beurteilens andererseits in den Blick nimmt.50 Die wechselseitige Konstitution von Subjekt, Körper und sozialer Welt51 ist am Sport so gut fassbar, wie an kaum einer anderen Praxis.

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49 In der Expertiseforschung wird insgesamt hervorgehoben, dass in der praktischen Auseinandersetzung mit Unwägbarkeiten ein planmäßig-rationales Handeln und bewusstes Abwägen von Handlungsalternativen auf der Basis theoretischen Wissens unzureichend ist. Benötigt ist vielmehr ein nur in der Praxis zu erwerbendes, freilich ebenfalls prinzipiell fehlbares Erfahrungswissen, das im Expertenstadium ein intuitives Erfassen der Situation ermöglicht. 50 Zum Zusammenhang zwischen der Ausbildung bestimmter Denk-, Sicht- und Wahrnehmungsweisen und dem Einschleifen typischer Körperhaltungen, Gesten und Geschicklichkeiten vgl. ansatzweise Knorr Cetinas (1988: 96ff.) Ausführungen zur „Bemächtigung“ des Körpers im naturwissenschaftlichen Labor. 51 Menschen werden in dieser Sicht zu Subjekten im Doppelsinn von ‚freiwilligen‘ Trägern und ‚Unterworfenen‘ sozialer Strukturen dadurch, dass sie an diesen Strukturen körperlich-praktisch teilhaben und sich in ihnen körperlich wie mental formen und bilden.

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„Geistige Arbeit“ als körperlicher Vollzug. Zur Perspektive einer vom Sport ausgehenden praxeologischen Sozialanalyse ROBERT SCHMIDT „Die für uns wichtigsten Aspekte der Dinge sind durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen. (Man kann es nicht bemerken, weil man es immer vor Augen hat.)“ (Ludwig Wittgenstein) „Es ist nicht leicht, über die Praxis anders als negativ zu reden.“ (Pierre Bourdieu)

Den Ausgangspunkt dieses Aufsatzes bildet die vergleichende Konfrontation zweier Praktiken: Boxen und Programmieren. Dies geschieht zum einen, um deutlich zu machen, dass eine ethnografische Darstellung des Programmierens mit am Boxen entwickelten Beschreibungsmitteln Eigenschaften und Eigentümlichkeiten dieser Praktik ans Licht bringen kann, die in der vorherrschenden Deutung des Programmierens als „geistige Arbeit“ verdunkelt werden. Mit dieser inkongruenten Perspektivierung des Programmierens im Lichte des Boxens verfolgt der vorliegende Beitrag aber zugleich ein übergreifendes Argumentationsziel: Es soll die These der allgemeinen soziologischen Relevanz des besonderen Gegenstandes der Soziologie des Sports entwickelt und erläutert werden: Versteht man sportliche Praktiken nämlich als je spezifische Figurationen kulturell geformter und kodifizierter Körperbewegungen (vgl. Elias/Dunning 2003),1 wird erkennbar, dass diese für den Sport konstitutiven Eigenschaften zugleich 1

Elias zufolge bilden „Figurationen den Kern dessen, was man erforscht, wenn man den Sport untersucht“ (Elias 2003: 281).

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Kennzeichen aller sozialen Praktiken sind.2 Darauf hat aktuell v.a. die Debatte um eine praxistheoretische Wende in den Sozialwissenschaften (vgl. Hörning/ Reuter 2004; Reckwitz 2000, 2003; Schatzki/Knorr-Cetina/von Savigny 2001) aufmerksam gemacht. Demnach konvergieren die verschiedenen praxeologischen Soziologien in dem Versuch, das Soziale eben nicht über Interaktionen, Sprache, Institutionen, Rollen oder Systeme, sondern als beobachtbares Geschehen raum-zeitlich sich vollziehender Körperbewegungen zu erschließen (vgl. Schatzki 2001). Die Sportsoziologie kann zum sozialwissenschaftlichen Verständnis dieser von den Praxistheorien akzentuierten körperlichen Dimension des Sozialen insbesondere dadurch beitragen, dass sie die besonderen Zeigequalitäten sportlicher Praktiken analytisch fruchtbar macht. Denn – so die hier vertretene These: sportliche Praktiken führen Eigenschaften sozialer Praktiken vor, die üblicherweise im Alltäglichen, Offensichtlichen und Selbstverständlichen verborgen sind. Sie gestalten und verdichten innerhalb ihrer je spezifischen bühnenartigen Rahmungen und in ihrer mimetischen Bezugnahme auf soziale Praktiken deren Eigentümlichkeiten. Diesen Zusammenhang hat Gunter Gebauer (1995, 1998; vgl. auch Gebauer/Wulf 1998: 62ff.) in seiner Konzeption des mimetischen Charakters des Sports ausgearbeitet.3 Sport ist in diesem Verständnis „Darstellung von Bewegungen, die in der sozialen Praxis vorgefunden werden“ (Gebauer/Wulf 1998: 62). Sportliche Praktiken modellieren ein in den sozialen Praktiken vorgefundenes Repertoire kulturell und sozial konstituierter motorischer Schemata im Sinne der Mauss’schen Körpertechniken (vgl. Mauss 1978). Die besonderen Zeigequalitäten der sportlichen Darstellungen hängen v.a. damit zusammen, dass hier kein Medienwechsel stattfindet. Weil der Sport Körperbewegungen der sozialen Praxis im Medium von Körperbewegungen zeigt, erreichen seine Darstellungen die gleiche Faktizität, Gewissheit und Tiefenschärfe wie das Dargestellte. Zugespitzt formuliert kann der Sport in dieser Perspektive als eine Einrichtung verstanden werden, die zur Beobachtung und Vergegenwärtigung der schwer beobachtbaren und ansonsten kaum thematisierungsfähigen Dimensi2

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Diese These und weitere Grundakkorde, auf denen das Folgende aufbaut, sind in der Zusammenarbeit mit Thomas Alkemeyer entstanden. In einer anderen Akzentuierung wird die These von der allgemeinen soziologischen Relevanz des besonderen Gegenstandes der Soziologie des Sports auch in Alkemeyer/Schmidt (2006) vertreten. Gebauer zufolge besitzt der Sport „seinen spezifischen Sinn, weil in unserer gesellschaftlichen Praxis gelaufen, gerungen, Auto gefahren wird, weil Kleingruppen gemeinsame Techniken, Strategien und Kooperationen ausbilden, mit deren Hilfe sie sich gegen andere Gruppen behaupten, weil in Handlungssituationen spontan Entscheidungen getroffen werden, die Vorteile in Auseinandersetzungen mit anderen bringen, weil der Natur listig ein Sieg abgerungen oder in geduldigem Warten ihre Kraft genutzt wird“ (Gebauer 1995: 190).

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onen des Sozialen gesellschaftlich hervorgebracht wurde und bereitgehalten wird. Als implizite Sporttheorie findet sich eine solche Sichtweise bei einer ganzen Reihe wichtiger soziologischer Autoren, die sich die skizzierten Zeigequalitäten zunutze machen und ihre Konzeptionen und Analysen sozialer Praktiken exemplarisch an sportlichen Praktiken entwickeln.4 Im folgenden ersten Abschnitt des Beitrages werden diese Erkenntnismöglichkeiten, die sportliche Praktiken einer praxeologischen Soziologie bieten, an Beschreibungen des Boxens in Texten von George Herbert Mead, Pierre Bourdieu und Loic Wacquant herausgestellt. Daraufhin wird die an der sportlichen Praktik des Boxens gewonnene Sichtweise auf die Tätigkeit von Programmierern angewendet. Die in diesem Zusammenhang vorgestellten Beschreibungsversuche stammen aus laufenden ethnografischen Arbeitsplatzbeobach-tungen im Bereich Softwareentwicklung und Webdesign; eine soziale Welt so genannter „geistiger“ oder „Kopfarbeit“, für die signifikant ist, dass die körperlich-mentale Logik der hier typischen Arbeitspraktiken dethematisiert und für irrelevant erklärt wird. Für eine an der Körperlichkeit sozialer Praktiken orientierte Perspektive stellen solche Bereiche „geistiger Arbeit“ deshalb eine besondere Herausforderung dar. Im nachfolgenden letzten Abschnitt werden die Thesen und Ergebnisse des Beitrags in den Kontext der Diskussion um einen practical turn in den Sozialwissenschaften gestellt. Dabei wird abschließend dafür plädiert, die analytische und empirische Fokussierung von sozialen Praktiken immer zugleich reflexiv als Kritik der scholastischen Vernunft anzulegen.

Boxen In den letzten zwanzig Jahren haben sich auf dem Gebiet der Sozialtheorie und in vielen Forschungsfeldern Konzeptionen und Ansätze herausgebildet, die in ihrem Bemühen um ein modifiziertes, anti-mentalistisches Verständnis des Subjektes und des sozialen Handelns die Analyse sozialer Praktiken in den Mittelpunkt rücken (vgl. Reckwitz 2003). George Herbert Mead und seine Konzeption der Intersubjektivität sozialen Handelns als einen in der aktuellen praxistheoretischen Diskussion vernachlässigten5 Ahnherren diesem Kom4

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Neben den im Folgenden behandelten Autoren Mead, Bourdieu und Wacquant hat v.a. Elias (1971: 75ff.; Elias/Dunning 2003) zentrale theoretische Konzeptionen seines Ansatzes an sportlichen Praktiken und deren Zeigequalitäten erarbeitet (vgl. dazu Boschert 2001). Diese etwas verwunderliche Vernachlässigung Meads wird etwa in Reckwitz (2000) groß angelegter Rekonstruktion einer epochalen Konvergenzbewegung der Kulturtheorien hin zu einer Theorie sozialer Praktiken deutlich. In den Reihen der für die entsprechende „Transformation der Kulturtheorie“ einflussreichen Autoren (Lévi-Strauss, Oevermann, Foucault, Bourdieu bzw. Schütz, Goffman,

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plex heterogener, aber familienähnlicher Ansätze (vgl. Schatzki 1996: 12f.) zuzurechnen, erscheint v.a. deshalb gerechtfertigt, weil Mead in Übereinstimmung mit zentralen Gemeinsamkeiten dieser ‚Theoriefamilie‘ zeigt, wie sich geistige Prozesse erst auf der Grundlage körperlich-praktischer Kooperation entwickeln.6 Für die Ausarbeitung einer solchen „praktischen Intersubjektivität“ (Joas 1980) nutzt Mead die Zeigequalitäten sportlicher Praktiken: In seinen sozialpsychologischen Vorlesungen (vgl. Mead 1968), in denen er seine intersubjektive Handlungstheorie entwirft, finden sich neben den bekannten Rekursen auf das Baseballspiel auch immer wieder Beschreibungen des Boxens. An der Praktik des Boxens stellt Mead modellhaft die Prozesse wechselseitiger Verhaltensanpassung in sozialen Praktiken dar und unterstreicht dabei das Gestische der Interaktion. Mead versteht den Schlagabtausch zweier Boxer zugleich als einen Austausch von Gesten. Die Kontrahenten deuten, beantworten und durchkreuzen durch Körperbewegungen und Körperstellungen die jeweiligen Absichten ihres Gegners: „es kommt unter Umständen zu einem sehr lange andauernden Hin und Her, bevor tatsächlich ein Treffer erzielt wird“ (ebd.: 82). Wie in diesen Kampfphasen des gegenseitigen Abtastens und Austestens bei niedriger Trefferfrequenz deutlich wird, sind Gesten „Teil der Organisation der gesellschaftlichen Handlung“ (ebd.: 83), und zwar jene „Teile der Handlung des Individuums, die aufzeigen, wie es gegenüber einer anderen Person handeln wird, so dass es in sich selbst die Haltung der anderen Person auslöst, wenn diese den Hinweis erfasst“ (ebd.: 114). Diese über signifikante Gesten sich vollziehende Perspektivenübernahme arbeitet Mead am Beispiel der Finte heraus: Indem er die Perspektive seines Gegners seinem eigenen Schlag gegenüber einnimmt, löst dieser Schlag, den der Boxer in Richtung auf seinen Gegner anzusetzen beginnt, auch bei ihm selbst eben jene Reaktion aus, die er von seinem Gegner erwartet. Dieses Einnehmen der Haltung seines Gegners gegenüber seinem eigenen Schlag ist die Bedingung der Möglichkeit der Finte: der Boxer kann auf diese Weise nämlich vergegenwärtigen, dass sich infolge der erwarteten Reaktion des Gegners (die er ebenso in sich spürt), dessen „Deckung […] öffnen und ihm einen Schlag ermöglichen wird“ (ebd.: 112). Der Sinn seines nur angesetzten Schlages „ist

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Geertz, Taylor), die in eigenen Unterkapiteln behandelt werden, sucht man Mead vergeblich. Wie Meuser deutlich macht, bleibt diese bei Mead angelegte körperlichpraktische Fundierung geistiger Prozesse allerdings häufig unbemerkt: „Die Rezeption des Werkes von Mead durch den Symbolischen Interaktionismus, welche das Mead-Verständnis lange Zeit geprägt und vor allem in der Blumerschen Version Meads breit gefassten handlungstheoretischen Ansatz kognitivistisch verengt hat, lässt leicht übersehen, dass Mead geistige Prozesse im handelnden Organismus verankert“ (Meuser 2004: 204).

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ein Reiz für die Vorbereitung des tatsächlich geplanten […]. Er weiß, was sein Gegner tun wird, da die schützende Bewegung bereits ausgelöst ist und ihn dazu reizt, die Blöße auszunützen“ (ebd.). Die Bedeutung einer Finte erhält der angesetzte Schlag also im Vollzug des Boxens, und zwar dadurch, dass sich der Gegner wie erwartet eine Blöße gibt. Die Finte kann aber auch erkannt und damit als solche praktisch unwirksam werden, wenn sich nun wiederum der Gegner in den die Finte ausführenden Boxer hineinversetzt. Dieser registriert dann am Ausbleiben der Schutzreaktion, dass sein Gegner den angesetzten Schlag als Finte erkannt hat. Aus dieser mikrosoziologischen Analyse des Schlagabtausches entwickelt Mead die Grundzüge über signifikante Gesten vermittelter symbolischer Interaktion. Die detaillierte Lektüre dieser Boxanalyse bringt dabei ein praxeologisches Charakteristikum der Meadschen Konzeption ans Licht: Die boxerischen Gesten tragen eine der Interaktion implizite praktische Bedeutung, die nur lokal und temporär im praktischen Vollzug des Boxens existiert: Unabhängig von der praktischen Interaktionssituation kann nicht expliziert werden, welche Merkmale eine Bewegung zu einer Finte machen. Darüber existiert nur ein implizites, an die Praktik des Boxens gebundenes Wissen.7 Indem der Boxkampf den Vollzug praktischer, über signifikante Gesten sich vollziehender Perspektivenübernahmen vorführt, macht er zugleich Prozesse des Denkens transparent: Wenn, wie beim Austausch von Finten und Schlägen, „[…] die Reaktion der anderen Person hervorgerufen wird und zu einem Reiz für die Kontrolle der eigenen Handlung wird, tritt der Sinn der Handlung der anderen Person in der eigenen Erfahrung auf. Das ist der allgemeine Mechanismus des ‚Denkens‘, denn dafür sind Symbole notwendig, in der Regel vokale Gesten, die im Individuum selbst die gleiche Reaktion wie in den anderen auslösen, und zwar so, dass es vom Standpunkt dieser Reaktion aus in der Lage ist, sein späteres Verhalten zu lenken“ (Mead 1968: 113).

Als Praktik konzipiert, gründet Denken Mead zufolge nicht in einem als Substanz gedachten Geist oder Bewusstsein, sondern in Prozessen körperlich-mentaler, praktisch sinnvoller, gestisch vermittelter Interaktion. Gesten sind dabei jene Bestandteile von Praktiken, die diese in ihrem Vollzug für die Teilnehmer – im Fall des Boxens für den Gegner und die kundigen, mitspielkompetenten Zu7

Rammert hat Meads Boxanalyse ähnlich interpretiert: „Ob eine Bewegung eine Finte ist oder nicht, lässt sich letztlich nicht explizit machen. Es bleibt der Interaktionssituation der Kämpfenden implizit. Man kann dieses implizite Wissen nur erwerben, wenn man die Praxis des Boxens häufig ausübt, wozu Training und Kämpfe eingerichtet sind. Und man kann es sich aneignen, indem man den Gegner beim Kampf beobachtet, mit Gesten taktisch experimentiert und sich schließlich den Stil des Gegners in Videoaufnahmen von seinen anderen Kämpfen ansieht“ (Rammert 2000: 6).

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schauer – intelligibel machen. Es ist – so lässt sich dieser an Mead anschließende Gedanke weiterführen – offenbar die spezifische Leistung der gestischen Dimension von Praktiken, im Vollzug zugleich eine lokale und temporäre sinnhafte Ordnung im Sinne einer „natural accountability“ (Garfinkel 2002: 173) hervorzubringen. Pierre Bourdieu ist der zweite Praxistheoretiker, der uns hier interessieren soll, weil er Meads Analyse des gestischen und körperlichen Schlagabtausches zweier Boxer auf für seine Konzeption sozialer Praktiken charakteristische Weise kommentiert (vgl. Bourdieu 1987: 147f.). Auch Bourdieu hebt hervor, dass das Boxen in besonderer Deutlichkeit Eigenschaften sozialer Praktiken zeigt. Im Boxen werden jene an ihre Zeitlichkeit gebundenen Eigentümlichkeiten der Logik der Praxis verdichtet und dramatisiert, durch die diese sich von der theoretischen Logik der ‚nach der Schlacht‘ zu ihrer Erklärung konstruierten Modelle unterscheidet: Vollständig in die Dauer eingebunden, gerichtet, durch ein charakteristisches Spiel mit Rhythmus und Tempo gekennzeichnet, unumkehrbar und dringlich, ist der Schlagabtausch einer jener praktischen Tauschvorgänge, „bei denen man für jeden hermeneutischen Fehler augenblicklich büßen muss“ (ebd.: 147). Beim Boxen „enthält jede Körperstellung des Gegners Hinweise, die im Entstehungszustand erfasst werden müssen, im Ausholen zum Schlag oder im ausweichenden Zurückzucken errät man die Zukunft, also Schlag oder Finte“ (ebd.: 148). Es sind v.a. zwei Akzente, durch die sich Bourdieus Box- und Praxisanalyse von derjenigen Meads unterscheidet: Neben dem reflexiven Zug der Bourdieuschen Konzeption, die die Differenz zwischen praktischem Vollzugscharakter und der totalisierenden, entzeitlichenden Logik theoretischer Modelle betont, konzipiert Bourdieu auch die Bedingungen der Möglichkeit praktischer Vollzüge ganz anders. Während Mead die Voraussetzungen für den Austausch signifikanter Gesten und ihre intersubjektive Verständlichkeit letztlich ins zentrale Nervensystem verlegt,8 werden diese Prozesse bei Bourdieu nicht im Inneren des Organismus, nicht in der Physiologie fundiert, sondern ins So-

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Mead zufolge ist die signifikante Übermittlung von Gesten (und damit die Möglichkeit und Fähigkeit des Denkens) an physiologische Gegebenheiten des menschlichen Organismus geknüpft: „Es muss im Organismus eine bestimmte implizite Haltung (eine begonnene Reaktion, die aber nicht voll abläuft) geben, die die Geste setzt – eine Haltung, die der sichtbaren Reaktion auf die Geste durch ein anderes Individuum und der Haltung entspricht, die in diesem anderen Organismus durch die Geste ausgelöst und hervorgerufen wurde –, wenn sich Denken im Organismus, der die Geste setzt, entwickeln soll. Das Zentralnervensystem liefert eben diesen Mechanismus für solche impliziten Haltungen oder Reaktionen“ (Mead 1968: 113, Anm. 11).

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ziale verlagert: Die Voraussetzungen der Vollzüge sozialer Praktiken liegen für Bourdieu in der sozial konstituierten Körperlichkeit des Habitus.9 Die Voraussetzungen für den boxerischen Schlagabtausch sind demzufolge also von beiden Boxern in langwieriger Trainingsarbeit einverleibte habituelle Dispositionen. Nur das Aufeinandertreffen ähnlicher, in der selben Praktik gebildeter körperlich-mentaler Dispositionen garantiert und gewährleistet das von permanenter wechselseitiger Wachsamkeit getragene subtile Spiel von Schlägen, Finten, Abwehrreaktionen, Körpertäuschungen und Kontern. Bourdieu nutzt nun die Zeigequalitäten des Boxens, um im Lichte dieser sportlichen Praktik soziale Praktiken in der vom Sport weit entfernten und diesem im Hinblick auf den Stellenwert des Körperlichen scheinbar entgegengesetzten scholastischen Welt der Wissenschaft auszuleuchten. Ganz analog zum Boxen – nur eben viel weniger offensichtlich, bzw. so alltäglich, dass man es nicht bemerkt, weil man es ständig vor Augen hat – operiert ein von übereinstimmenden, verkörperten habituellen Dispositionen der Teilnehmer generierter praktischer Sinn auch bei der akademischen Pflichtkonversation und bei anderen typischen Gepflogenheiten des sozialen Spiels der Wissenschaft. Auch hier bedarf es einer dem Boxen vergleichbaren „permanenten Wachsamkeit […], damit dieses Ineinandergreifen vorgefertigter Gebärden und Worte überhaupt funktioniert“ (Bourdieu 1987: 148). Mit einem am Boxen geschulten Blick lässt sich auch am sozialen Geschehen während einer wissenschaftlichen Tagung entdecken, „welche Aufmerksamkeit für alle Zeichen bei den rituellsten Scherzen nötig ist, um beim Spiel mitgehen zu können, ohne sich davon hinreißen zu lassen, wie dies manchmal passiert, wenn aus Schattenboxen plötzlich Ernst wird“ (ebd.). Wie das unmittelbar praktische Differenzieren zwischen Schlag und Finte setzen auch die sozialen Spiele akademischer Konversation einen praktischen Sinn für die „Kunst der Zweideutigkeiten, Unterschwelligkeiten und Doppelbedeutungen beim Umgang mit körperlichen oder sprachlichen Symbolen“ (ebd.) voraus. Gut trainierte und geübte Akteure im sozialen Spiel der Wissenschaft können „die objektiv richtige Distanz wahren, Verhaltensweisen zeigen […], die uneindeutig sind, d.h. beim geringsten Anzeichen von Ablehnung oder Zurückweisung widerrufen werden können und beim anderen Ungewissheit über die stets zwischen Hingabe und Distanz, Engagement und Gleichgültigkeit schwankenden eigenen Absichten fortbestehen lassen“ (ebd.). Bourdieu nutzt also die Darstellungsqualitäten des Boxens, um die Leistungen des sens pratique, die hier in besonderer Weise kenntlich werden, he9

Den Analysen Bourdieus zufolge rückt an die Stelle des Meadschen Zentralnervensystems das Körper gewordene Soziale, „die Habitusformen als Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, als strukturierte Strukturen, die wie geschaffen sind, als strukturierende Strukturen zu fungieren, d.h. als Erzeugungsgrundlagen für Praktiken“ (Bourdieu 1987: 98).

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rauszustellen. Ähnlich wie ein Boxkampf prozessieren ihm zufolge aber alle sozialen Felder auf der Grundlage eines verkörperten praktischen Spielsinns der Zugehörigen. Der dritte praxeologisch orientierte und am Boxen interessierte soziologische Autor, der uns hier beschäftigen soll, ist Loic Wacquant. Er hat in seiner Ethnografie des Boxens in einem gym im schwarzen Ghetto von South Side Chicago (vgl. Wacquant 2003) an der Modellierungs- und Darstellungsfähigkeit des Boxens Bourdieus Konzeption habitueller körperlicher Dispositionen und habituell generierter Praktiken empirisch weitergearbeitet. Wacquants Beschreibungsversuche sind durch das Bemühen gekennzeichnet, der stummen, körperlich-mentalen, praktischen Logik des Boxens gerecht zu werden: „Die Bewegungen des Boxers sind bei weitem nicht so einfach, wie es scheint: die korrekte Ausführung der Grundschläge (Jab, Haken, Gerade, Uppercut) ist sehr schwer und erfordert eine vollständige ‚physische Umerziehung‘, d.h. eine veritable Neuformierung der Bewegungskoordination wie auch eine psychische Konversion. Es geht zum einen um ihre Visualisierung und darum, sie im Kopf zu verstehen, zum anderen um ihre Ausführung und, mehr noch, um ihre Anwendung und Aufeinanderfolge in der Praxis. […] Die theoretische Beherrschung allein nutzt wenig, solange der Körper den Bewegungsablauf nicht verinnerlicht hat; erst wenn der Schlag durch ständige ad nauseam wiederholte physische Übung assimiliert wurde, kann der Intellekt ihn vollständig erfassen. Es gibt hier in der Tat ein Verständnis des Körpers, das Bedingung für das visuelle und mentale Verständnis ist und gleichzeitig darüber hinausgeht. Nur das dauernde körperliche Experimentieren, das dem Training als kohärentem Komplex der Praktiken der Inkorporation zugrunde liegt, ermöglicht den Erwerb der praktischen Beherrschung der Regeln des Faustkampfes, der eben diese Regeln nicht als solche im Bewusstsein festschreibt“ (ebd.: 72f.).

Um die nirgends explizierten körperlichen Vollzüge des Boxens aufzuschließen, hat Wacquant in einer entschieden teilnehmenden Beobachtung, die schließlich in eine fast vierjährige Laufbahn als Amateurboxer überging (vgl. dazu Schmidt 2005), eine körperlich-praktische Mitspielkompetenz in seinem Feld erworben. Den zentralen Ansatzpunkt seiner Beschreibungsversuche bilden die damit einher gehenden, von der Praktik des Boxens an ihm vollzogenen körperlichen Veränderungen, die dem Ethnografen in der Rolle des Novizen allmählich das „indigene Erfassen“ (Wacquant 2003: 62) der körperlichen Praktiken des Boxens ermöglicht haben. In seinen Beschreibungen des Boxens zielt Wacquant immer auf die allgemeine soziologische Relevanz dieser besonderen Praktik. Er will aufzeigen, was die spezifische Logik des Boxens „uns über die Logik jeglicher Praxis lehren kann“ (ebd.: 21). Wacquant entwirft in seiner Auseinandersetzung mit dem Boxen eine praxeologische Perspektive, in der der Körper nicht lediglich das Objekt sozialer Einprägungen ist, son304

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dern in doppelter Hinsicht als agens auftritt. Der Körper wird als Produzent sozialer Praktiken kenntlich, und er fungiert zugleich als Untersuchungs- und Erkenntnisinstrument, an dem die Ethnografie der Praktiken ansetzt. Mit seiner Studie der körperlich-mentalen Produktion eines boxerischen Habitus im Selbstversuch rückt Wacquant die dynamischen Aspekte des Habituskonzeptes in den Mittelpunkt, die in den Arbeiten Bourdieus vor allem empirisch oft im Dunkeln bleiben. Obwohl Bourdieu zwar mit dem Habituskonzept die Körperlichkeit des Sozialen ins Zentrum der Soziologie rückt, dominiert in seinen eigenen materialen Untersuchungen eine Akzentsetzung, die gerade die Körperlichkeit des Habitus in enge Verbindung mit dessen Beharrungskräften bringt (vgl. dazu Schmidt 2002: 277ff.). Während Bourdieu den Habitus überwiegend nicht als werdende, sondern immer schon als gewordene, als schon verfestigte Form, als Körper gewordenes Resultat von Sozialisationsprozessen thematisiert, zeigt Wacquant am Beispiel des Boxens den Prozess des ‚habitus in the making‘. Er macht transparent, wie sich über körperliche Praktiken und materielle Arrangements die Bildung des Habitus vollzieht. Die von Mead, Bourdieu und Wacquant mit Hilfe der Zeigequalitäten und der Darstellungsfähigkeit des Boxens herausgearbeiteten Eigenschaften sozialer Praktiken sollen nun in einem kurzen Zwischenresümee zusammengefasst werden. Dabei soll ein als Kontrastfolie unterlegter traditioneller soziologischer Handlungsbegriff10 dazu dienen, diese Eigenschaften und Eigentümlichkeiten von sozialen Praktiken deutlich zu konturieren. Soziale Praktiken grenzen sich allen drei Autoren zufolge in drei wesentlichen Hinsichten von in der Soziologie üblichen Sichtweisen sozialen Handelns ab: 1. Von Mead, Bourdieu und Wacquant wird der Intentionalismus im Begriff sozialen Handelns zugunsten des Konzeptes einer praktischen Intentionalität revidiert. Diese praktische Intentionalität wird nicht als subjektive Sinnsetzung oder bewusste Absicht, sondern als das situationsabhängige Einneh10 Obwohl die Diskussion zum soziologischen Handlungsbegriff nicht zu überblicken ist, kann man doch einige grundlegende, den unzähligen Auffächerungen gemeinsame Bestimmungen dieses Begriffs festhalten: Im Unterschied zum Verhalten als einer „submotivational, z.B. neuronal gesteuerten Zustandsänderung von Lebewesen“ (Hennen 1989: 266) gilt Handeln als motivational, durch individuelle Antriebslagen, Sinn- und Zwecksetzungen oder intentionale Orientierungen an Werten und/oder Normen gesteuerte soziale Erscheinung (ebd.). Sozialem Handeln, das sich nach Weber (1972: 11) im Unterschied zu sachlich motivierten Handeln „am vergangenen, gegenwärtigen oder für künftig erwarteten Verhalten anderer“ (ebd.) orientiert, liegt demzufolge immer eine individuelle, subjektive Auswahl, Einsetzung und/oder Modifikation verhaltenssteuernder Programme (Rollen, Normen, Werte, Affekte etc.) zugrunde. Entsprechend handelt es sich bei Webers einflussreichen Differenzierungen zwischen zweckrationalem, wertrationalem, affektuellem und traditionalem sozialen Handeln (ebd.: 12) um je unterschiedliche subjektive Handlungsintentionen und -motivationen, die als Handlungsgründe von den Handlungssubjekten erfragt werden können.

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men einer Haltung, das Ansetzen eines Schlages, als erkennbare, gestisch intelligible Vorspannung der Muskeln verstanden. Während bei Handlungen die Sinnzuschreibungen der Akteure im Mittelpunkt stehen, ist es im Bezug auf die Praktiken gleichgültig, ob die Akteure, die sie ausführen bzw. die in sie eingesetzt sind, diese Ausführung intendieren oder mit Sinn belegen. Während bei sozialen Handlungen die subjektiven Sichtweisen, inneren Befindlichkeiten und/oder die Wert- und Normorientierungen der handelnden Subjekte im Mittelpunkt stehen, sind soziale Praktiken – wie der Schlagabtausch beim Boxen – vollständig äußerlich, öffentlich und beobachtbar.11 Praktiken sind also immer auch Darstellungspraktiken. Ihnen eignet immer ein gestisches Moment. Sie zeigen in ihrem Vollzug zugleich an, um was es sich handelt. Sie machen sich für andere erkennbar. 2. Von den drei Box-Praxeologen Mead, Bourdieu und Wacquant wird der Mentalismus soziologischer Handlungstheorien zugunsten eines praktischkörperlichen, impliziten tacit knowledge (Polanyi 1985), eines Tun-Könnens und situationalen Wissens-Wie zurückgewiesen. In scharfem Kontrast insbesondere zum Begriff zweckrationalen Handelns (vgl. Weber 1972: 12), der in seiner Stilisierung des Handlungssubjektes zu einem kalkulierenden, planenden Bewusstsein die sozialen Akteure als körperlose Geistwesen entwirft, machen alle drei Autoren am Beispiel der Praktik des Boxens die unauflösbare Verbundenheit von geistigen Prozessen, Gesten und Körperbewegungen deutlich. 3. Schließlich wird mit dem Bezug auf die Ebene sozialer Praktiken von allen drei Autoren der handlungstheoretische Individualismus zurückgewiesen. Soziale Praktiken sind über- oder transindividuell; sie sind nicht Sache eines isolierten Subjektes, sondern sie befinden sich sozusagen zwischen den Teilnehmern eines sozialen Spiels. Praktiken setzen die Teilnehmer zueinander in Beziehung – so wie die Praktik des Boxens die Boxer in „antagonistischer Kooperation“ (Wacquant 2003: 89) miteinander verbindet.

11 Eine ähnliche, am Kriterium der Intentionalität orientierte Unterscheidung zwischen sozialen Handlungen und Praktiken trifft auch Hirschauer: „Eine Handlung muss in Gang gesetzt werden, sie verlangt nach einem Impuls und einem Sinnstiftungszentrum. Daher fragt man nach ihr mit Warum- und Wozu-Fragen. Eine Praxis dagegen läuft immer schon, die Frage ist nur, was sie am Laufen hält und wie ‚man‘ oder ‚Leute‘ sie praktizieren: Wie wird es gemacht und wie ist es zu tun? Nach einer Handlung fragt man am besten die Akteure, eben weil ihre Sinnstiftung im Zentrum steht, Praktiken haben eine andere Empirizität: Sie sind in ihrer Situiertheit vollständig öffentlich und beobachtbar“ (Hirschauer 2004: 73; Herv. im Orig.).

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Programmieren In diesem Abschnitt soll durch die an der Praktik des Boxens scharf gestellte Linse nun eine ganz andere Praktik betrachtet werden12: die Praktik des Programmierens. Dabei soll überprüft werden, inwieweit die in den Beobachtungen und Beschreibungen des Boxens präzisierte praxeologische Perspektive geeignet ist, körperlich-mentale Praktiken gerade auch in Bereichen „geistiger Arbeit“ sichtbar zu machen. Die Herausbildung solcher Bereiche „geistiger Arbeit“ zu einer selbstverständlichen sozialen Tatsache wird gemeinhin aus der historischen Entwicklung der Arbeitsteilung, namentlich der Trennung von „Hand- und „Kopfarbeit“ erklärt (vgl. Sohn-Rethel 1972; Resch 1988). Unter der Voraussetzung der Entwicklung überdauernder äußerer Symbolgestalten (von den frühen Rechensteinen bis zur schriftlichen Fixierung) kann sich „Kopfarbeit“ als Planung, Verwaltung und Kontrolle anderer Arbeit (Resch 1988: 18) von der „Handarbeit“ ablösen. Diese Trennung vollzieht sich zugleich im Kontext von Klassenverhältnissen, die diesen Tätigkeiten ihre soziale Form und ihre symbolische Bedeutung als exklusive, privilegierte, mit Herrschaftsfunktionen ausgestattete „geistige Arbeit“ verleihen (ebd.: 11). Die funktionelle Teilung der Arbeit in „Hand- und Kopfarbeit“ fällt also mit einer sozialen Teilung, d.h. mit der Absonderung und Privilegierung der Welten „geistiger Arbeit“ zusammen.13 Es gehört zur Logik dieses Prozesses, dass mit der zugleich funktionellen, sozialen und symbolischen Besonderung und Privilegierung „geistiger Arbeit“, die körperlich-praktischen Aspekte dieser Tätigkeiten im Alltäglichen verborgen, unsichtbar und unthematisch bleiben. Wenn „geistige Arbeit“ als Gegensatz zur „körperlichen“ im Ungegenständlichen und Unsinnlichen angesiedelt wird, haben ihre spezifischen sinnlich-körperlichen und praktischen Vollzüge und Routinen wenig Aussicht, bemerkt, beschrieben und reflektiert zu werden.14 Dabei ist der Terminus „geistige Arbeit“ natürlich insofern irre12 Eine ähnliche ‚optische‘ Technik der Betrachtung einer sozialen Praktik durch die Linse einer anderen, verwendet beispielsweise Knorr Cetina in ihren ethnografischen Wissenschaftsforschungen: „Using a comparative optics as a framework for seeing, one may look at one science through the lens of the other. This ‚visibilizes‘ the invisible; each pattern detailed in one science serves as a sensor for identifying and mapping (equivalent, analog, conflicting) patterns in the other“ (Knorr Cetina 1999: 4). 13 Vgl. Sohn-Rethel, der gegen funktionalistische und ökonomistisch-produktionszentrierte Ansätze die Herrschaftsverhältnisse, die die „Kopfarbeit“ als „geistige Arbeit“ konstituieren, in den Mittelpunkt rückt: „Gesonderte Geistesarbeit entsteht […] als Mittel der Aneignung von Arbeitsprodukten durch Nichtarbeiter, sie entsteht nicht, oder jedenfalls nicht ursprünglich, als Hilfsmittel der Produktion“ (Sohn-Rethel 1972: 132). 14 Dieses Thematisierungshindernis erstreckt sich bis in die Arbeitswissenschaft. Resch zufolge finden sich hier kaum Untersuchungen und Analyseverfahren für

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führend, als jede Tätigkeit Geist und Körper bzw. Kopf und Hand beschäftigt. So wie die mit dem Terminus „Handarbeit“ bezeichneten Tätigkeiten nie als reine mechanische Automatismen ohne innere, mentale oder kognitive Anteile vorkommen, ist umgekehrt in allen „Kopfarbeit“ genannten Vollzügen immer eine körperliche, handwerklich- praktische Seite mitenthalten. Im Rahmen einer praxeologischen Perspektive auf die immer zugleich körperlichen und mental-kognitiven Arbeitstätigkeiten empfiehlt sich insbesondere die Ethnografie als entscheidendes empirisches Verfahren, denn die Ethnografie setzt zunächst an der äußeren, beobachtbaren, körperlichen Seite der materiell eingebundenen und miteinander verflochtenen Arbeitstätigkeiten an. Durch ihre Konzentration auf Bereiche und Phänomene des Stimmlosen, auf körperliche Alltagspraktiken, stumme Arbeitsvollzüge, auf Gesten und bildhafte Performanzen (vgl. Hirschauer 2001) bildet sie darüber hinaus ein innovatives Gegengewicht zur in der empirischen Sozialforschung verbreiteten Sprach-, Text- und Diskursfixierung.15 Im Folgenden soll nun am Fall der Praktik des Programmierens gezeigt werden, dass die praxistheoretische und ethnografische Rehabilitierung der vermeintlichen Platitüde, dass auch „geistige“ Arbeitstätigkeiten sich immer auch als beobachtbare Körperbewegungen vollziehen, eine neue Sichtweise dieses Tätigkeitsbereichs vorbereiten kann. Die folgenden Beschreibungsversuche stammen aus einer ethnografischen Arbeitsplatzbeobachtung16 in einer kleinen Agentur für Softwareentwicklung anspruchsvollere Bürotätigkeiten. „Es existieren noch nicht einmal brauchbare Vorstellungen davon, was überhaupt zu den Bürotätigkeiten zu rechnen sei.“ Dabei bestehe zugleich Konsens darüber, dass „die Schwierigkeiten der Analyse dieses Bereichs damit zusammenhängen, dass es sich […] um ‚geistige Arbeitstätigkeiten‘ handelt“ (Resch 1988: 9). Diese Situation wurde erst in allerjüngster Zeit durch die Untersuchungen der Workplace Studies etwas korrigiert (vgl. Heath/Luff 2000; Luff/Hindmarsh/Heath 2000; Knoblauch 2000), die verschiedene zeitgenössische Settings von Büroarbeit und Computer-gestützte kooperative Arbeitssysteme (CSCW) ethnografiert haben. 15 Man kann hier fragen, inwieweit sich die Bevorzugung von Verbaldaten und Verschriftlichungsverfahren sowie die dominierende Rolle von Interviews, Transkripten, Fragebögen, Gesprächsanalysen etc. einer verzerrten, ‚scholastischen‘ Perspektive auf die soziale Wirklichkeit verdankt: Eine Wissenschaft, die überwiegend sprachlich, als Text und Diskurs existiert, kann sich auch die sozialen Welten, mit denen sie sich beschäftigt, nur als Text- und Diskurswelten vorstellen. Dieser Zusammenhang wird weiter unten etwas ausführlicher angesprochen. 16 Die dabei angewandte Feldforschungsmethode lässt sich am besten als ‚dabeisitzende Beobachtung‘ charakterisieren. Ich habe in der betreffenden Agentur zunächst am Arbeitsgeschehen insofern partizipiert, als ich versucht habe, an einem mir zugewiesenen Arbeitsplatz an einem der Schreibtische der Programmierer das Geschehen auf meinem Laptop ‚mitzuschreiben‘. Dieses opportunistische Anschmiegen der Beobachterpraktik an die Teilnehmerpraktiken wurde

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und Webdesign. Von den insgesamt zehn Beschäftigten sind hier neben dem Geschäftsführer drei mit außertariflicher Vergütung fest angestellt. Die Übrigen, d.h. neben einem auf Prämienbasis beschäftigten Akquisiteur die Programmierer, arbeiten entweder als Teilzeitbeschäftigte mit Studentenstatus oder als Selbständige. Die Aufteilung der Büroräume in einem repräsentativen Altbau in der westlichen City Berlins artikuliert nicht nur die für diesen Arbeitsbereich typische Koppelung von technischen und kaufmännischen Funktionen, sie etabliert diese funktionale Gliederung zugleich als materialisiertes Machtverhältnis: Neben dem Büro des Geschäftsführers, einem Besprechungszimmer und dem Arbeitszimmer des Art Directors, das dieser sich mit dem für die Kundenakquisition Zuständigen teilt, besteht das Büro aus einem großen, zentralen Raum, in dem lange Schreibtische aus hellem Holz so zusammengestellt sind, dass sich insgesamt fünf Arbeitsplätze ergeben, an denen man sich gegenüber sitzt. Während also die Geschäftsführung, das Design der Produkte und die Kommunikation mit den Kunden in Sonderräume ausgelagert ist, arbeiten in diesem von den Sonderräumen aus jederzeit einsehbaren zentralen Raum die vom Kontakt mit den Kunden und von allen finanziellen Vorgängen und Angelegenheiten abgeschirmten Programmierer. Die Agentur besteht seit 1996 und hat die Branchenkrise des Jahres 2001 dadurch überstanden, dass es gelungen ist, eine Angebotsnische zu finden, auf die sie sich seither nahezu ausschließlich konzentriert: Die Entwicklung und Implementierung von so genannten Content Management Systemen (CMS)17. CMS-Tools müssen in engem Kontakt mit den Auftraggebern ausgearbeitet werden. Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, die Vorstellungen, Bedürfnisse und Probleme der Kunden richtig zu interpretieren und sie den Programmierern, die die entsprechenden Anwendungen entwerfen und programmieren sollen, richtig zu übersetzen. Gleichzeitig müssen die Vorstellungen, Konzeptionen und die Schwierigkeiten, die bei der Programmierung entstehen, wiederum den Kunden verständlich gemacht werden.18 von der Praktikergemeinschaft des Büros allmählich mit der Gewährung eines partiellen Teilnehmerstatus beantwortet. 17 Content Management Systeme sind Tools (Software Werkzeuge) für das Webdesign. Sie werden insbesondere für das Web Publishing von Unternehmen und Organisationen entwickelt, die so genannten „dynamischen Content“ (also Texte und Daten, die umfangreich sind und laufend aktualisiert werden müssen wie Börsenkurse, Fahr- und/oder Flugpläne, Bestandsdaten der Lagerverwaltung etc.) im Internet bereithalten. Content Management Systeme versprechen eine Reduktion des dafür notwendigen Arbeitsaufwandes. Die Anbieter von CMS werben v.a. damit, dass sich durch den Einsatz dieser Tools die Pflege von Websites wesentlich verbillige. Da mit CMS „dynamischer Content“ ohne Programmierkenntnisse überarbeitet und aktualisiert werden kann, sollen diese Tätigkeiten nun weniger qualifizierten Mitarbeitern übertragen werden können. 18 Software-Entwicklung ist ein kollektiver und prinzipiell unabschließbarer hermeneutischer Prozess. Die Frage, wie Entwickler die Kundenbedürfnisse und

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Diese inhaltlichen Aspekte des Programmierens sollen hier nicht weiter ausgeführt werden. Die folgenden Beschreibungsversuche setzen stattdessen am gemeinhin übersehenen äußeren körperlichen Vollzug der Praktiken des Programmierens an. Was ein Programmierer am Computer tut, ist zunächst ein beobachtbares, situiertes, für alle ko-präsenten Teilnehmer öffentliches körperliches Geschehen, das von diesen als ein körperlich aufgeführtes Können, eine „bodily performance“ (Schatzki 1996: 49) der „geistigen Arbeit“ des Programmierens beobachtet und gedeutet wird.19 Dem fremden Beobachter, der nichts von Entwicklungsumgebungen, Programmiersprachen und dergleichen versteht, bleibt dieses beobachtbare körperliche Geschehen zunächst unverständlich. Er entwickelt jedoch über die Vertrautheit mit dem Feld allmählich die TeilnehmerFähigkeit, ohne Sicht auf das auf dem Bildschirm Angezeigte verschiedene Tätigkeiten, in die der Programmierer involviert ist, zu unterscheiden. Diese Unterscheidungsfähigkeit ist nicht an den Erwerb von Programmierkenntnissen oder an ähnliche inhaltliche Wissensformen geknüpft; sie orientiert sich am körperlichen Vollzug der Tätigkeiten. Der Programmierer zeigt durch seine Körperhaltungen und Körperbewegungen an, was er gerade macht. Er liefert allen Teilnehmern der Situation im praktischen Vollzug seiner Tätigkeit zugleich einen gestischen „account“ (Garfinkel) seiner Praktiken. Durch charakteristische Mikrogesten der Feinmotorik gibt er zu erkennen, ob er gerade Code schreibt, ob er chattet oder ob er ein Computerspiel spielt. Der einzelne Programmierer darf dabei jedoch nicht als programmierender ‚Autor‘ verstanden werden; es ist vielmehr die Praktik des Programmierens, die ihn wie seine Kollegen als Mitspieler einsetzt. Als überindividuelle Phänomene verbinden und konstellieren die verschiedenen Praktiken im Büro (Pro-

Anwendungserfordernisse verstehen, interpretieren und schließlich in Programmen modellieren, ist das Kernproblem dieser Informationstechnologie. Die verschiedenen Lösungsversuche dieses Problems reichen vom Einsatz von Notationssystemen zur formalen Beschreibung von Nutzerverhalten (so genannte Task-Notation) über die Entwicklung formalisierter Tools bis hin zum Einsatz ethnografischer Verfahren im so genannten „Requirements Engineering“, der „benutzerorientierten Aufgabenanalyse“ (Funken 2001: 52). 19 Diese äußere Seite der Praktiken, d.h. das, was sie zu sehen geben, erläutert Reckwitz folgendermaßen: „‚Nach außen‘ bedeutet die Körperlichkeit des Vollzugs von Praktiken, dass sie von der sozialen Umwelt (und im Sinne eines Selbstverstehens auch von dem fraglichen Akteur selber) als eine ‚skillful performance‘ interpretiert werden kann: die Praktik als soziale Praktik ist nicht nur eine kollektiv vorkommende Aktivität, sondern auch eine potentiell intersubjektiv als legitimes Exemplar der Praktik X verstehbare Praktik – und diese soziale Verständlichkeit richtet sich auf die körperliche ‚performance‘. Entsprechend wendet sich auch der Sozialforscher in seiner Rekonstruktion von Praktiken zunächst auf die Beobachtung der ‚skillful performance‘ von Körpern“ (Reckwitz 2003: 290).

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grammieren, Entwerfen, Besprechen, Präsentieren etc.) die Teilnehmer wie Spieler in einem Fußballspiel oder Boxer in einem Boxkampf. Sehr deutlich wird dies in den häufigen kooperativen Sequenzen, in der figurativen Dynamik des Zusammenspiels, der Verflechtung der einzelnen Tätigkeiten. Dazu ein Ausschnitt aus einem Feldprotokoll: „M fragt H um Rat. Er schildert ein Problem. H sagt: ‚zeig mal!‘ Er verlässt seinen Arbeitsplatz, um sich zu Ms Rechner zu begeben. Hier probiert er herum, gibt etwas ein, überlegt, findet schließlich eine Lösung; M ist begeistert: ‚He super, genau so muss es aussehen!‘ Nachdem sich H gerade wieder auf seinen Arbeitsplatz begeben hat, ruft O, Bezug nehmend auf das von M geschilderte Problem: ‚Mir ist gerade eine Idee gekommen; das geht auch viel einfacher!‘ Er springt mit seinem Laptop auf, trägt es zu H hinüber und zeigt ihm die einfache – und wie H und M, der sich nun ebenfalls zu Hs Laptop begeben hat, bestätigen, wirklich beste – Lösung des Problems.“

Die Praktik des Programmierens setzt also nicht nur Akteure, sondern auch Artefakte, d.h. neben Bürostühlen und Schreibtischen insbesondere feste Standcomputer und tragbare Laptops ein. Die häufigen Ortswechsel und das Hinund Hertragen der Laptops weisen darauf hin, dass die praktische Kooperation die individualisierenden Wirkungen, die in die Artefakte Standcomputer und Laptop eingelassen sind, überwinden muss, denn die Schnittstellen Bildschirm und Tastatur sehen immer nur den Anschluss eines einzelnen Benutzers vor. Das Arbeitshandeln im Büro vollzieht sich als Fluss interdependenter, aufeinander bezogener Körperbewegungen, dem eine charakteristische Verlaufsstruktur zukommt. Auf das gemeinsame Frühstück im Besprechungszimmer folgt fast immer zunächst eine Phase stillen, konzentrierten Arbeitens. Die Türen, die die Sonderräume mit dem großen Raum verbinden, in dem die Programmierer sitzen, stehen meistens offen. Die dadurch wechselseitig spürbare körperliche Ko-Präsenz ermöglicht Blicke, Handzeichen, Zurufe oder an alle adressierte Fragen in den Raum. Als Reaktion auf solche Unterbrechungen und sprachlichen Kommunikationszumutungen und um sich unansprechbar zu machen, werden von den Programmierern immer wieder für bestimmte Zeit Kopfhörer angelegt. Um die Praktik des Programmierens, die genau so, wie sie jetzt beschrieben werden wird, auch von einem Kollegen ausgeführt werden könnte, nun in den Details ihres Vollzuges darzustellen, wird im folgenden Feldtagebuch-Ausschnitt ein Mitglied dieser Praktikergemeinschaft ‚herangezoomt‘: „Henning setzt sich Kopfhörer auf, um sich der mit der Ko-Präsenz gegebenen Möglichkeit sprachlicher Kommunikation zu entziehen. Durch die Kopfhörer zeigt er zugleich an, dass er nun codiert, also Programmzeilen schreibt. Codieren ist die geräuschvollste und schnellste Tastaturbearbeitung im Büro. Henning tippt in Schüben, rhythmisch akzelerierend, mit Schlussbetonungen auf der Return-Taste. Dazwi-

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schen immer wieder Phasen des Innehaltens. Plötzlich steht er ruckartig auf und schlägt sich eine Hand vor die Stirn. Dann rhythmisches Klackern mit den Fingernägeln auf dem Schreibtisch, im selben Rhythmus und in derselben Geschwindigkeit, in der unmittelbar vorher die Tastatur zum Klappern gebracht wurde. Die Finger laufen nun leer. Dann berühren drei Finger die Stirn: Henning zeigt, dass er überlegt. Das gleichzeitige Trommeln der Finger der anderen Hand ist das feinmotorische Korrelat des Nachdenkens, dem eine Art Induktorfunktion zukommt. Die Bewegungen der Finger auf der Schreibtischplatte produzieren praktische Einfälle, um daraufhin gleich wieder in Tastaturbetätigungen überzugehen. Diese Klänge und Rhythmen erzeugenden Fingerbewegungen auf der Schreibtischoberfläche und der Tastatur sind prozesshaft. Ganz offenkundig handelt es sich nicht um Ausführungen vorangegangener Gedanken, Ideen und Konzepte, sondern um Prozesse des Denkens selbst – d.h. um Vollzüge praktischen Erkennens, um ein ‚Jetzt-plötzlich-weiterWissen‘, das dem Beobachter und den ko-präsenten Kollegen über das Trommeln auf dem Schreibtisch und das Klackern auf der Tastatur körperlich und akustisch angezeigt wird.“

Diese Beschreibung versucht zum einen, den gestischen Charakter des Programmierens kenntlich zu machen. In der Beobachtung erscheint Programmieren als eine Figuration ganz bestimmter, geformter feinmotorischer Bewegungen,20 die wiederholt werden und wiedererkannt werden können. Nicht nur durch das Aufsetzen der Kopfhörer, sondern v.a. durch die feinmotorischen Mikrogesten des Bearbeitens der Tastatur, durch das Tempo und die charakteristische Rhythmik bringt die Praktik des Codierens im Vollzug gestisch ihre Erkennbarkeit hervor. Sie zeigt allen ko-präsenten Kollegen der Praktikergemeinschaft des Büros an, um was es sich handelt. Zum anderen wird in dieser Beschreibung deutlich, dass in der vermeintlich „geistigen Arbeit“ des Programmierens und Codierens ein körperlich-mentales, praktisches Wissen und Können mobilisiert wird. Dieses praktische, implizite Wissen der Programmierer beruht auf einer körperlichen Unterlage von feinmotorischen Kunstfertigkeiten, kombinierten Muskelleistungen, Fingerbewegungen und dem Orientierungssinn der Fingerkuppen auf ihren Wegen über die Tastatur. Von dieser körpernahen, proximalen Wissensform (vgl. Polanyi 1985: 18) kann es sich als eine Art Gestaltwissen auf die distale Entität des Programmcodes ausrichten. Wie Polanyi gezeigt hat, bildet der proximale Pol dieses Wissens den unentbehrlichen „Hintergrund“ (ebd.: 27) aller Formen expliziten Wissens. Ver20 Solche „ways of the hand“, d.h. die von den ‚wissenden‘ Fingern gefundenen Wege zu den verschiedenen Orten auf der Tastatur hat Sudnow (1978, 1979) in seinen mikro-praxeologischen Beschreibungen von Praktiken des Klavierspielens und Schreibmaschine-Schreibens nachgezeichnet. In ganz ähnlicher Weise beschreibt er in seiner Analyse des Videospiels Breakout die Spieler als „microathlets“ (Sudnow 1983: 93) der Feinmotorik.

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suche zur Ausschließung, Explizierung und Formalisierung dieses impliziten, körpergebundenen Wissenshintergrundes müssen „de facto auf die Zerstörung allen Wissens hinauslaufen“, weil „der Prozess der Formalisierung allen Wissens im Sinne einer Ausschließung jeglicher Elemente impliziten Wissens sich selbst zerstört“ (ebd.). Wenn man Polanyis kritische These von der Zerstörung allen Wissens durch vollständige Explikation teilt und zugleich aber konzediert, dass diese Selbstzerstörung in der Programmierung und SoftwareEntwicklung trotz eines hier permanenten starken Drucks zur Explizierung und Standardisierung noch nicht eingetreten ist, dann kann man die in diesem Tätigkeitsbereich bislang wenig berücksichtigte Relevanz impliziter körperlicher Wissensformen, die bei allen Explikationsoperationen offenbar naturwüchsig mitentstehen, gar nicht hoch genug veranschlagen. Eingehendere ethnografische Analysen der praktischen Logik des Programmierens als einem körperlich-mentalen und gestischen Vollzugsgeschehen wären diesbezüglich sicher aufschlussreich.

Schluss: Praxeologie als Kritik Die Praktik des Programmierens ist wie die meisten Arbeitstätigkeiten am Computer Teil einer symbolischen Ordnung des Büros, in der all diese Tätigkeiten als „geistige Arbeit“ gelten. Die beschriebene Agentur für SoftwareEntwicklung und Webdesign kann man als einen der gegenwärtigen Orte des historischen Reisewegs (trajectoire) des materiell-räumlichen und symbolischen Ensembles ‚Büro‘ verstehen. Als unterschiedener und unterscheidender Ort der Angestelltenarbeit durchläuft das Büro auf diesem Reiseweg verschiedene Raumordnungen: vom Kontor über die mechanisierten und später elektrifizierten Schreibsäle mit ihren aus der industriellen Produktion übernommenen Kontrollformen und Körperordnungen (vgl. Fritz 1982) bis hin zu den Arbeitsumgebungen zeitgenössischer computerbasierter Büroarbeit.21 In all diesen verschiedenen, mit dem technologischen und organisatorischen Wandel variierenden Raum- und Körperordnungen wird die Büroarbeit als white collar work,22 als mit sauberem Kragen zu verrichtende „geistige 21 Für den Architekten Francis Duffy ist die gebaute Umgebung des Büroarbeitsplatzes in den westlichen Großstädten des späten zwanzigsten Jahrhunderts entscheidend bestimmt durch die Verbreitung des Personal Computers. Diese neue digitale Informationstechnologie ist ihm zufolge gegenüber ihrer physischen Umgebung so anspruchsvoll, dass sie die Büroarchitektur zu einer ihrer Funktionen macht: „The office is now part of the computer“ (Duffy 1992: 185). 22 Im Vergleich zur gebräuchlichen Übersetzung „geistige Arbeit“ hält die Bezeichnung white collar work den relationalen, historisch kontingenten und symbolischen Charakter dieser Klassifizierung transparent. Im Unterschied zwischen weißem und schmutzigem Kragen artikuliert sich zugleich die Willkür-

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Arbeit“ aufgeführt. Diese Aufführungen werden ganz entscheidend dadurch realisiert, dass die soziale Welt des Büros, ähnlich wie Bourdieu dies für die scholastischen Universen beschreibt und im Unterschied zur blue collar work, den Körper so behandelt, „dass er gewissermaßen aus dem Spiel ist“ (Bourdieu 2001: 181).23 So stellt sich das beobachtete Büro für Software-Entwicklung und Webdesign dar als ein Bereich „geistiger Arbeit“, der mit Hilfe einer spezifischen körperlichen Ordnung Körperliches still stellt, neutralisiert und aus dem Spiel nimmt. Büromöbel, Beleuchtung, Belüftung, Beheizung, der Gehgeräusche dämpfende Teppichboden und nicht zuletzt die technischen Artefakte und ihre nur an sitzende Körper anschließbaren Schnittstellen Bildschirm, Tastatur, Maus, Telefonhörer und Head-Sets wirken mit an der körperlichen Erzeugung von Habitus, die sich in einem sozialen Universum bewegen, das den Körper exkommuniziert. Indem sie gegen diese Ausblendungen des Körperlichen kontrafaktisch an den äußeren, beobachtbaren körperlichen Vollzügen, an dem, was diese gestisch zeigen und zu sehen geben ansetzt, entfaltet die praxeologische Sozialanalyse ihr kritisches Potenzial und delegitimiert die Exklusionsfunktionen und Herrschaftseffekte „geistiger Arbeit“. Die vom Sport ausgehende Praxeologie trifft an diesem Punkt auf die von Bourdieu entwickelte Kritik der scholastischen Vernunft. Dieser Zusammenhang soll hier vor dem Hintergrund der Diskussion um einen practical turn in den Sozialwissenschaften abschließend skizziert werden. In einer groß angelegten Rekonstruktion der einflussreichsten sozialwissenschaftlichen Kulturtheorien des zwanzigsten Jahrhunderts hat Reckwitz (2000) die These entwickelt, dass diese zunächst gegensätzlichen Ansätze zwischen Strukturalismus und Sozialphänomenologie über verschiedene Phasen ihrer immanenten Transformation – von Lévi-Strauss über Foucault zu Bourlichkeit eines Herrschaftsverhältnisses, die in funktionalistisch oder substantialistisch angelegten Unterscheidungen zwischen ‚planender‘ und ‚ausführender‘ oder zwischen ‚geistiger Kopf‘- und ‚körperlicher Handarbeit‘ verschwindet (vgl. dazu auch Krais 1990). 23 Durch die Taylorisierung der Büroarbeit wurde dieser Unterschied allerdings prekär. Technisierung und arbeitsteilige Zergliederung machten in dieser Phase die Büroarbeit der Fabrikarbeit so ähnlich, dass sich die Büroangestellten von den Fabrikarbeitern kaum mehr durch ihre Tätigkeiten und erst recht nicht durch ihre Entlohnung, sondern nur noch durch ihr „gepflegtes Äußeres […] sowie die Tatsache, dass sie bei der Arbeit Straßenkleidung tragen können“ (Mills 1955: 113), unterschieden. Einige Jahrzehnte später drohte die Einführung von digitaler Informations- und Steuerungstechnik in der industriellen Produktion diese Unterscheidung in umgekehrter Richtung zu destabilisieren: Viele Arbeiter wechselten von der Werkshalle in den Kontrollraum, um die automatisierten Produktionsabläufe von einem bequemen Stuhl aus zu überwachen. Für diese nunmehr „almost white collar work“ (Zuboff 1988: 91) schrieben die meisten Betriebsordnungen allerdings weiterhin Arbeitskleidung vor.

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dieu einerseits und von Schütz über Goffman und Geertz zu Taylor andererseits – schließlich in eine kulturtheoretische Praxistheorie konvergiert seien. Reckwitz zufolge entwickeln sich aus der Frontstellung zwischen Objektivismus und Subjektivismus verschiedene Versuche, dieses Erkenntnis hemmende, unfruchtbare epistemologische Gegensatzpaar, diese zwei falschen Alternativen aufzulösen. In den verschiedenen Absetzbewegungen von beiden Polen wird dabei eine unausgesprochene Gemeinsamkeit beider rivalisierenden Denkschulen deutlich. Beide, Strukturalismus wie Sozialphänomenologie, zielen, obzwar in gegensätzlicher Perspektivierung, in ihren Kultur- und Sozialanalysen auf eine Untersuchung der „geistigen Welt“. Wo der Strukturalismus die Strukturen des „kollektiven unbewussten Geistes“ dechiffrieren will, da bemüht sich die Sozialphänomenologie darum, die geistige Welt des „Bewusstseinserlebens des Subjektes“ zu verstehen und auszulegen. Schließlich wird dann in der weiteren Fortentwicklung von dieser gemeinsamen mentalistischen Grundbeschränkung in einer grundsätzlichen Abkehr von Untersuchungen des Geistes oder des Bewusstseins die Kultur- und Sozialanalyse in eine Analyse sozialer Praktiken transformiert (vgl. ebd.: 184ff.). Ein so groß angelegter Theorievergleich setzt sich fast notgedrungen dem Vorwurf aus, dem einen oder anderen der behandelten Ansätze nicht gerecht zu werden. Problematisch an der Arbeit von Reckwitz sind aber weniger einzelne Verkürzungen und schiefe Wiedergaben. Fraglich erscheint vielmehr die konzeptionelle Ausrichtung der Studie, die den practical turn als das Resultat einer eigenlogischen, so genannten „Theoriebewegung im kulturtheoretischen Feld“ (ebd.: 51) rekonstruieren will. Eine solche Theorierekonstruktion der Praxiswende unterschlägt die theoriekritische Pointe praxeologischer Soziologie, die ihren analytischen Blick auf die sozialen Praktiken aus einer selbstreflexiven Wendung auf die intellektuellen Praktiken, auf deren implizite soziale Voraussetzungen, Verzerrungen und Blindheiten gewinnt. Ausgangspunkt einer solchen kritisch-reflexiven Praxeologie, wie Bourdieu sie exemplarisch ausformuliert hat, ist die empirische Forschungserfahrung, dass die in der Feldforschung beobachteten Praktiken einer spezifischen, unscharfen, indexikalischen, situationsabhängigen, opportunistischen, d.h. eben einer „praktischen Logik“ folgen, die den theoretischen Konzepten und Modellen, mit deren Hilfe diese Praktiken beschrieben werden sollen, notwendig entgeht (vgl. Bourdieu 1979: 228ff., 1987: 147ff.). Diese Divergenz zwischen praktischer und theoretischer Logik resultiert aus unterschiedlichen sozialen Bedingungen und Positionierungen: Die interesselose, von den Zwängen der beobachteten Praktiken befreite, „scholastische“ Position und Perspektive des wissenschaftlichen Beobachters unterscheidet sich grundlegend vom involvierten, Zwängen unterliegenden, interessierten praktischen Verhältnis, in dem die beobachteten Akteure zu ihrer Handlungssituation stehen. Kennzeichnend für die Praxeologie ist es nun, im Interesse angemessenerer Beschrei315

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bungsverfahren beide sozialen Voraussetzungen, also nicht nur die der beobachteten Akteure, sondern zugleich auch die des Beobachters, soziologisch zu objektivieren. Soziale Voraussetzung des wissenschaftlichen Beobachters ist das Privileg der Interesselosigkeit, der skholè, „jener freien, von den Zwängen dieser Welt befreiten Zeit, die eine freie, befreite Beziehung zu diesen Zwängen und zur Welt ermöglicht“ (Bourdieu 2001: 7). Aus dieser privilegierten Interesselosigkeit resultieren grundlegend verzerrte Sichtweisen des Sozialen, Ergebnis der Projektion einer typisch intellektuellen Sozialerfahrung und eines intellektuellen Selbstverständnisses auf die soziale Welt: Dazu zählt z.B. die Neigung, vom Modell der Wirklichkeit einfach zur Wirklichkeit des Modells überzugehen, d.h. in einer intellektualistischen Projektion zu unterstellen, das zur Beschreibung einer beobachteten Praxis entworfene Modell sei die Grundlage dieser Praxis oder die Regel, die die Akteure in ihrem Handeln befolgen würden. Des Weiteren kommt der scholastische oder intellektualistische bias z.B. darin zum Ausdruck, dass soziale Handlungen als bewusste Erfüllung von Normen, Regeln, Gesetzen, Erwartungen, Rollen und rationalen Kalkülen betrachtet werden. Ein solches Handeln spielt sich v.a. in den Köpfen der Individuen ab (vgl. Krais/Gebauer 2002: 74). In der Vorstellung vom rational handelnden Akteur, der kalkuliert und Pläne fasst, deren Ausführungen dann für soziologisch nebensächlich gehalten werden, oktroyiert der Intellektuelle der sozialen Wirklichkeit sein Selbstbild als reines Geistwesen, das denkt oder entwirft und dabei weitgehend ohne Körper agiert. Die Praxeologie eröffnet nun mit der Kritik solcher intellektualistischen Projektionen zugleich die Perspektive, gerade das, was der scholastische Blick zur Nebensache erklärt, empirisch ernst zu nehmen: nämlich die Ausführungen und Vollzüge des Sozialen in beobachtbaren Praktiken. Dies gilt ganz besonders für die sozialen Vollzüge in jenen Bereichen, die als Orte des Geistes und/oder der geistigen Arbeit gelten. Solche Vollzüge sind in ihrer kleinsten Analyseeinheit beobachtbare Ketten und Figurationen von Körperbewegungen – zugleich der besondere Gegenstand der Sportsoziologie in seiner allgemeinsten Formulierung und in seiner allgemeinen soziologischen Relevanz.

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„GEISTIGE ARBEIT“ ALS KÖRPERLICHER VOLLZUG

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ROBERT SCHMIDT

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Repräsentationen des Trendsports. Jugendliche Bew egungskulturen, Medien und Marketing JÜRGEN SCHWIER

Bedeutungsproduktion im Feld des Trendsports Die jugendlichen Bewegungskulturen gehören sicherlich nach wie vor zu den schillernden und facettenreichsten Phänomenen im Feld des modernen Sports. Praktiken wie BMXing, Crossgolfen, Kite-, Snow- oder Skateboarding artikulieren nicht nur ein alternatives Sportverständnis, sondern sind wegen ihres noch nicht automatisierten Bewegungs- und Zeichencodes für unterschiedliche Lesarten, Sinnzuschreibungen und Nutzungsoptionen offen. Derartige Trendsportarten können einerseits für vieles stehen, andererseits trennscharf bewegungskulturelle Differenzen anzeigen und insgesamt einen Wettstreit um Stil stimulieren. Ihre im Wechselspiel zwischen Szene, Medien und Jugendmarketing hervorgebrachten Diskurse sind zugleich Ressourcen für unsere Imagination, sie halten Worte und Bilder bereit, wie Körperlichkeit, Sportivität, Freiheit und Gemeinschaft für junge Frauen und Männer in zeitgenössischen Inszenierungsgesellschaften zu leben sind. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, nach den Repräsentationen des Trendsports und den Orten ihrer Produktion zu fragen. Dabei wird unterstellt, dass Repräsentation zu den Praktiken zählt, die an der Entfaltung der Bewegungs- und Sportkultur nicht unerheblich mitwirken. In der Tradition der britischen Cultural Studies erscheint Repräsentation so als ein wesentlicher Teil des fortlaufenden und nicht-linearen Prozesses, in dem die Angehörigen einer Kultur durch Sprache, Zeichen, Symbole, Bilder und Diskurs (geteilte) Bedeutungen erzeugen und austauschen (vgl. Hall 1997: 15f.). Der Sport ist zweifelsohne in allen seinen Erscheinungsformen auf individuelle und kollektive Sinnstiftung angewiesen. Was Surfen, Streetball oder Wakeboarding – aber auch Fußball, Leichtathletik und Turnen – bedeuten können, ergibt sich über „Signifying Practices“ (Du Gay et al. 1997: 17) im Kon321

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text ihres Gebrauchs, wobei allerdings der Common Sense mit seinem konventionellen Sportverständnis eine wichtige Rolle spielt. Erst geteilte Bedeutungen machen bestimmte Handlungen auf dem Wasser bzw. unter dem Korb zum Race Jibe, Fade Away Jump Shot oder Toeside 720. In gewisser Weise übersetzen also Prozesse der Bedeutungsbildung ein Bewegungsverhalten in die kulturellen Praktiken des Surfens, Streetballs oder Wakeboardings. Mit der Entwicklung innovativer Bewegungsformen kommt es im Übrigen vermehrt zur Nutzung von Orten, die sich erheblich von den normierten Sportplätzen und -hallen unterscheiden. Sowohl innerstädtische Areale als auch naturnahe Landschaftsflächen werden beispielsweise erst durch die Aktionen der Crossgolfer, Streetballspieler, Skateboarder, Freeclimber oder Mountainbiker temporär in einen Bewegungsraum verwandelt (vgl. Borden 2001). Trends im Feld des Sports sind also nicht zuletzt dadurch gekennzeichnet, dass sie eingewöhnte Sportvorstellungen überschreiten, Räume und Objekte neu deuten, zuvor unbekannte oder vernachlässigte Auslegungen des menschlichen SichBewegens in unseren Horizont rücken und eine eigenständige Szene etablieren (vgl. Schwier 1998, 2004). Der Begriff Trendsportarten verweist daher immer auch auf jene Veränderungstendenzen des Sports, die mit bewegungskultureller Erneuerung einhergehen. Die polysemischen Botschaften der jugendlichen Bewegungskulturen und anderer Trendsportarten werden jedoch nicht nur von den Rändern des Sportbetriebs in dessen Mitte transportiert, sondern auf diesem Weg von den verschiedenen Akteuren und Interessengruppen unterschiedlich decodiert. Kennzeichnend für die sportwissenschaftliche Analyse des so entstehenden Kreislaufs der Bedeutungsbildung sowie des Beziehungsgeflechts zwischen den jugendlichen Bewegungskulturen und der Kulturindustrie sind in diesem Zusammenhang idealtypisch zwei Argumentationsfiguren. Auf der einen Seite sind Positionen anzutreffen, die die ökonomischen Dimensionen, den Produktcharakter und damit die Mache des Trendsports hervorheben sowie von einer Anpassung erfolgreicher Trendsportarten an das bestehende Sportsystem ausgehen (vgl. Lamprecht/Stamm 2002: 107ff.). Demgegenüber rückt man auf der anderen Seite den Aspekt der Selbstermächtigung und das bunte, grenzgängerische, im Fluss befindliche Selbstverständnis des Trendsports mit seiner Erlebnis- und Spaßorientierung in den Mittelpunkt. Jugendliche Bewegungskulturen lassen sich in diesem Sinne als „Culture of Commitment“ (Wheaton 2000: 267f.) beschreiben, die Individualismus, Freiheit, Hedonismus und Konsum mit körperlichen Sensationen, mit Momenten des rauschhaften Aufgehens im Tun zu verbinden suchen und mit diesem Stil des Sich-Bewegens eine mehr oder weniger subversive Herausforderung des herkömmlichen Sports bleiben (vgl. Beal 1995: 265f.; Loret 1995: 118ff.; Schwier 1998: 39ff.). Weitgehend konsensfähig dürfte trotz der unterschiedlichen Akzentsetzungen die Annahme sein, dass die fortlaufenden Interaktionen zwischen den 322

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jeweiligen Szenen und der Medien- bzw. Sportbranche die Entfaltung innovativer Bewegungspraktiken vorantreiben. Die Praxis des Trendsports ist für alternative Modi der Selbstsetzung offen, kann aber niemals völlig authentisch sein, sondern lässt sich als ein Schauplatz symbolischer Auseinandersetzungen zwischen den Interessen des Sportkomplexes (Medien, Verbände, Industrie) und denen bestimmter sozialer Gruppen begreifen. Die Entwicklung von Trendsportarten vollzieht sich also im Widerstreit zwischen den Kräften der Disziplinierung, der Routinisierung, der sozialen Kontrolle und denen der Antidisziplin, der Subversion, des populären Vergnügens (vgl. Schwier 2000: 37ff.). An dieser Stelle deutet sich zugleich an, warum Trendsportarten gerade für Heranwachsende und junge Erwachsene attraktiv sind. Sie können einerseits selbstgesteuert in Gleichaltrigengruppierungen ausgeübt werden und versprechen andererseits mit ihrem Avantgardismus und Guerilla-Image lustbetonte Möglichkeiten zum Sich-Unterscheiden sowie zur Selbstthematisierung mit besonderer Intensität (vgl. Gugutzer 2004: 220; Telschow 2000: 25). Jugendliche Bewegungskulturen stellen sich in einer solchen Perspektive nicht zuletzt als ein Experimentierfeld für unkonventionelle Formen des körperlichen Ausdrucks und der Erlebnissuche sowie als Plattform für eigenwillige Bedeutungsprozesse dar.

Bewegungskulturen und Jugendmarketing – Ein Kreislauf der Bedeutungen Die Wechselbeziehungen zwischen den jugendlichen Szenen, dem Marketing und den Medien bringen zwischen avantgardistischem Sportsgeist und ökonomischen Verwertungsinteressen vielfältige Repräsentationen des Trendsports hervor. In diesem Zusammenhang spielen Medien im Alltagsleben von Jugendlichen und jungen Erwachsenen eine wichtige Rolle. Als bevorzugte Freizeitbeschäftigungen gewährleisten vor allem Fernsehen, Filme und neue Medien soziale Beziehungen unter Heranwachsenden und sind für deren Identitätsarbeit bedeutsam (vgl. Fritz/Fehr 1997; Mikos 2001; Schwier 2004; Vogelsang 2002). Ähnlich wie bei den Trendsportarten treten Angehörige der heranwachsenden Generation beim Umgang mit innovativer Informations- und Unterhaltungstechnologie sogar als medienhandwerkliche Pfadfinder auf. Neben der Beliebtheit des Fernsehsports zeigen die Verbreitung von sportbezogenen Spielen für Computer, Konsolen oder Handys sowie die Nutzung entsprechender Angebote im World Wide Web, dass sich heutige Heranwachsende alltäglich in einer Mischung von wirklichen und virtuellen (Sport-)Welten bewegen. Eine solche Vernetzung von medialer und körperlicher Praxis wirkt ebenfalls in das Feld des Trendsports hinein. Und ob eine innovative Bewegungsform als

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Trend erfolgreich sein wird, hängt sicherlich nicht zuletzt von der Aufmerksamkeit oder dem Desinteresse der Medien ab. Mit der Aufbereitung innovativer Bewegungspraktiken – von der Berichterstattung über Magazine und Computerspiele bis zu Bekleidungskollektionen und Events – versucht sich einerseits die Industrie an jugendkulturelle Szenen anzuschmiegen, während diese andererseits mittels selbst hergestellter PrintFanzines, DVDs, Videos oder Webseiten ihren Stil propagieren und die Kommunikation unter Gleichgesinnten fördern. Medienangebote werden eben von Heranwachsenden konsumiert, modelliert und mitunter auch produziert. Charakteristisch für Jugendkulturen wie die des BMXing, Crossgolfens, Streetballs, Skate- oder Snowboardings ist in diesem Zusammenhang die Schaffung eines eigenen Stils, dessen multimediale Inszenierungen die von den Eingeweihten geteilten Bedeutungen spiegeln, den Strömungen in der Szene aktiv nachspüren und gleichzeitig auf den „dramaturgischen Körper“ (Gugutzer 2004: 234) als Medium der Selbstdarstellung setzen. Und in gewisser Hinsicht lassen sich sowohl Trendsportgerätschaften als auch Multimediacomputer als Werkzeuge betrachten, die die individuellen Möglichkeitsspielräume der juvenilen Surfer erweitern, Interaktionserfahrungen stimulieren und eigenwillige Zugänge zur Welt begünstigen (vgl. Schwier 2000: 132ff.; Marlovits 2001). Jugendliche Bewegungskulturen sind auf der einen Seite kein zentraler Gegenstand des Medieninteresses und spielen in der gesamten Sportberichterstattung eine eher marginale Rolle. Im Rahmen einer Untersuchung zum Sportmediennutzungsverhalten wird so auf die Frage nach den von den Massenmedien vernachlässigten Sportarten an erster Stelle der Trendsport genannt (vgl. Schauerte 2002: 316). Eine Integration in den massenmedialen Mainstream wäre auf der anderen Seite wohl auch für das avantgardistische bzw. subkulturelle Image des Trendsports und das Selbstverständnis seiner Akteure nicht unproblematisch. Grundsätzlich liegt es in der Struktur derartiger Bewegungspraktiken begründet, dass sie tendenziell eher als Minderheitenprogramme erscheinen, die jedoch eine gezielte Ansprache jüngerer Zielgruppen ermöglichen. Der zuletzt genannte Aspekt trägt maßgeblich dazu bei, dass die alten und neuen Medien inzwischen nahezu ausnahmslos innovative Bewegungsformen (z.B. Brettsportarten auf Asphalt, Schnee und Wasser) in ihre Sportprofile integriert haben. Die Mediatisierung des Trendsports erfolgt dabei sowohl inhaltlich als auch quantitativ unterschiedlich und ist beispielsweise für Softwarehersteller oder Internetanbieter weitaus bedeutsamer als für Fernsehsender (vgl. Schwier 2004). Es spricht allerdings einiges für die Annahme, dass die neuen Bewegungskulturen eine besondere Affinität zu den neuen Medien aufweisen. Die „gleitende Generation“ (Loret 1995) bleibt nicht nur im Feld des Sports widerspenstig und immer in Bewegung, sondern schätzt ebenfalls die geringen Zugangsbarrieren, die hohe Verbreitungs- und Veränderungsgeschwindigkeit des World 324

REPRÄSENTATIONEN DES TRENDSPORTS

Wide Web. Grundsätzlich können bestimmte Trendsportveranstaltungen, die – wie vor einigen Jahren die Siemens Mobile Wave Tour im Flowboarding – über einen längeren Zeitraum angelegt sind und an weit voneinander entfernten Orten stattfinden, wohl ohnehin primär durch das Internet angemessen multimedial vermittelt werden (vgl. auch Boyle/Haynes 2000: 221). Wenn man unterstellt, dass die Bedeutungen in einem von Medien, Marketing und Szenen gebildeten magischen Dreieck hin und her fließen, bieten die neuen Medien darüber hinaus günstige Voraussetzungen für eine Vernetzung der verschiedenen Diskursstränge und Aktivitäten. Bei der zuvor genannten Mobile Wave Tour konnte das Publikum so per Handy über die gezeigten Leistungen der Boarder abstimmen und sich ein Flowboarding-Game auf das Telefon laden. Die unter Mitwirkung renommierter Streetball- und Hip Hop-Artisten produzierte DVD Inner City Streetball Vol. 1 ist zum Beispiel wiederum mit einem gleichnamigen Internetauftritt verbunden, der quasi als Archiv, Galerie und Sprachrohr der Bewegung konzipiert ist: „The Action is Fast and Furious, the game starts and ends in the streets“ (http://www.innercitystreetball.com; 15.8.2005). Des Weiteren entwerfen sich beispielsweise die Websites zahlreicher Streetball-, Surf- oder Skateboardausrüster als respektvolle Förderer des jeweiligen Stils und halten umfangreiche Textressourcen, Bilder- sowie Klangwelten bereit. Der aus der Szene hervorgegangene Skateboardausrüster Titus bietet auf seiner Homepage (http://www.titus.de) neben einem Webshop auch eine Online-Community, Gewinnspiele sowie eine nahezu unbegrenzte Vielfalt an Informationen über und von der Skateboardszene. Gleichzeitig veröffentlicht die Firma eigene Musik-CDs (Titus Tunes), übernimmt das Ticketing für Konzertveranstaltungen, begleitet mit TitusTV ein Magazin des Fernsehsenders MTV, betreibt mit seinem Reiseableger das Titus Skate College in Münster sowie Skateboard-Sommercamps in mehreren europäischen Städten. Das Unternehmen unterhält ferner ein eigenes professionelles Skaterteam und veranstaltet mit den Monster Masterships einen der weltweit größten Events für Skateboarder. Jede Aktivität auf dem Board oder in den Medien verweist dabei gleichzeitig immer auf andere Spielflächen in der World of Titus und soll dieser die nachhaltige Aufmerksamkeit der jugendlichen Akteure sichern. Nicht zuletzt aufgrund der Interaktionen zwischen Benutzerinput und Systemoutput erweitern die Inszenierungen des Streetballs, des Surfens, des Kite-, Skate- oder Snowboardings in den Multimedia-Plattformen des World Wide Web ebenfalls die Kontroll- und Gestaltungsspielräume der Konsumenten und kombinieren gewissermaßen die Zuschauer- mit einer Teilnehmerrolle. Online-Darbietungen jugendlicher Bewegungskulturen gestatten also Eingriffe der Konsumenten in die Dramaturgie und Regie. Der Cybersport stellt seinen aktiven Nutzern – die durch ihr Navigieren und ihre sonstigen Aktionen mit den Eingabegeräten ohnehin an der situativen Rahmung der jeweiligen Online325

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Inszenierung mitwirken – zum Beispiel zahlreiche Tools (Weblogs, MailingListen, Datenbanken, Diskussionsforen, Games, Videosequenzen, Galerien, Foren und Votings) bereit, mit denen diese selbst zu Sendern und zu Akteuren einer vernetzten Community werden können (vgl. Bieber/Hebecker 2002: 226ff.; Schwier 2000: 132ff.). Der Aspekt der Interaktivität dürfte darüber hinaus vor allem für jene Firmen von Interesse sein, die als Veranstalter oder Sponsoren von TrendsportEvents auftreten. Bei den Internet-Auftritten der And 1 Mixtape Tour, der Globe Wildcard Series, des Red Bull Vertical Battle oder der Etnies European Open geht es immer auch darum, das Besondere der genannten Unternehmen zu kommunizieren und einen im jugendkulturellen Kontext angesiedelten sowie elektronisch vermittelten Dialog mit den für das jeweilige Marktsegment relevanten Zielgruppen aufzubauen. Der Schuh- und Streetwearhersteller Etnies stellt so nicht seine Produkte, sondern die Praktiken des BMXing, Moto X, Surfens, Skate- und Snowboardens ins Zentrum seiner Homepage (http://www. etnies.com). Die Website kreist um Trendsport-Events und Neuigkeiten aus den Szenen, wobei die Nutzer zur aktiven Teilnahme an Veranstaltungen und zur Partizipation an der Online-Community eingeladen werden. Geworben wird hier scheinbar für Erlebnisse und Gemeinschaft in jugendlichen Bewegungskulturen, die neue Kollektion von Etnies taucht dabei lediglich dann als ein Subthema auf, wenn man sich per Mausklick dafür entscheidet. Und ein weiterer Internetauftritt des Unternehmens (http://www.etniesgirl.com) wendet sich unter Verwendung der Rhetorik der Selbstbestimmung und Eigenleistung – kurz: Just do it! – an Mädchen und junge Frauen, die in den genannten Bewegungskulturen bislang eine Minderheit bilden. Letztendlich offerieren die Websites von And 1 bis zu Titus moralische Erzählungen über die fruchtbare und in alle Richtungen offene Vernetzung von Sub- und Konsumkultur, wobei der Diskurs der (sportiven) Selbstermächtigung mit Marketingstrategien verschränkt wird. Obwohl die Befundlage zur Fernsehpräsenz des Trendsports und zur SelbstMedialisierung der Szenen keineswegs als hinreichend bezeichnet werden kann, sollen die beiden Themenkomplexe im Folgenden dargelegt werden. Zunächst erfolgt allerdings eine Skizze zur Einbettung von jugendlichen Bewegungskulturen in Computer- und Videospiele.

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REPRÄSENTATIONEN DES TRENDSPORTS

Virtuelle Spielformen jugendkultureller Bewegungspraktiken Ein sicherlich von Heranwachsenden besonders geschätztes gemeinsames Merkmal der Welten des Sports und des Computerspiels besteht gewissermaßen darin, dass die Akteure in beiden Handlungsbereichen subjektiv hoch bewertete Erfahrungen der Eigentätigkeit und Selbstwirksamkeit machen können. Es überrascht daher kaum, wenn in Deutschland einerseits das Sporttreiben neben dem Zusammensein mit Freunden und dem Sich-Ausruhen zu den drei beliebtesten Freizeitbeschäftigungen der 12-19-Jährigen zählt, und andererseits rund die Hälfte der Mitglieder dieser Altersgruppe regelmäßig Computer- bzw. Videospiele nutzt (vgl. Feierabend/Rathgeb 2005: 321f.; Klimmt 2004: 135). Gerade auch Angehörige jugendlicher Trendsportszenen explorieren in ihrer Freizeit sowohl reale als auch virtuelle Räume und sind dabei als erlebnisorientierte Weltenbummler unterwegs. Zahlreiche Mitglieder von BMX-, Streetball-, Skate- oder Snowboardszenen beschäftigen sich so vor oder nach der Bewegungspraxis intensiv mit Simulationen der jeweiligen Trendsportart, und selbst die Internet-Auftritte solcher Gruppierungen weisen häufig eine Rubrik auf, die der Vorstellung von Computerspielen gewidmet ist. Auch nach Meinung von Experten gehören Computer- und Videospiele, die jugendkulturelle Bewegungsformen thematisieren oder – wie die dem gleichnamigen Fernsehprodukt nachempfundenen ESPN X Games – sogar kombinieren, zu den führenden Genres in diesem Feld (vgl. Bryan 2000). Aus Sicht der Spieledesigner besitzen die Trendsportarten ohnehin gewisse Vorteile gegenüber den ebenfalls erfolgreichen Basketball- oder Fußballsimulationen: Aufgrund ihrer Offenheit und fehlenden Routinisierung bieten sie weitaus größere Freiräume für ein Experimentieren mit alternativen Spielmodi, neuen Handlungsorten und Charakteren. Die Spielsimulationen der Brettsportarten, des Moto X oder des Streetball stellen dabei insgesamt Action, Artistik, Härte, Tempo sowie das vermeintliche Überlisten der Schwerkraft in den Mittelpunkt und lassen diese Spektakularisierung als genuines Stilelement der jugendkulturellen Bewegungspraktiken erscheinen. Jede neue Version eines Skater-Games beansprucht beispielsweise noch kompromissloser und dynamischer als ihre Vorgängerin zu sein oder tritt gleich mit dem Anspruch an, auf den Straßen und in den Szenen ein Chaos zu verursachen: „This time it’s not just about skating, it’s about mayhem“ (http://www.activision.com/microsite/thug2; 10.3. 2006). Die virtuelle Spielwelt übersteigert letztlich einige der in der realen Bewegungspraxis angelegten Elemente und wirkt so in begrenztem Maße an der künftigen Ausrichtung der Trendsportart mit. Vor diesem Hintergrund wird ebenfalls nachvollziehbar, warum das schnell wachsende Advergaming bevorzugt auf innovative Bewegungsformen zurückgreift. Als Advergaming bezeichnet man Werbung in Computer-, Video- und 327

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Online-Spielen bzw. spezielle Varianten derartiger Spiele, die Unternehmen der Konsumgüterbranche als interaktive Werbemittel (DVD, Download auf Computer und Handy) einsetzen. Nicht zuletzt Downloads wie die Suzuki Motocross Challenge signalisieren, dass Advergaming die Aufmerksamkeit der jungen Konsumenten auf die jeweiligen Marken lenken und die Zielgruppe emotional ansprechen soll. Der Automobilhersteller DaimlerChrysler setzt beispielsweise in Nordamerika inzwischen zehn Prozent seines Marketingbudgets für Werbung in Computerspielen ein und präsentiert seine Marke Jeep in den bekannten Skateboard-Games Tony Hawk Pro und Tony Hawk Underground 2 (vgl. Schotzger 2004; Wilhelm 2005). Dem Konzern geht es offensichtlich darum, das körperbetonte, spaßorientierte, coole und unangepasste Image des Skateboardings auf die aktuellen Modelle des Jeep zu übertragen. Sowohl die traditionsreichen Offroader dieser Automarke als auch die juvenilen Skateboards werden im Kontext des Advergaming letztendlich zu verwandten Objekten der Freiheitsliebe stilisiert. Im Mittelpunkt des Interesses von Streetballakteuren stehen dem gegenüber Computerspiele, die sich an die NBA anlehnen und seit Jahren das Verfahren des motion capturing einsetzen. Diese Technik erhöht gerade für Streetball erfahrene Akteure den Spielreiz, da hierbei die Bewegungsabläufe real existierender NBA-Stars über Sensoren an den Computer weitergegeben und von diesem auf eine Spielfigur übertragen werden. Die vom Rechner generierten Bewegungen der virtuellen Basketballer wirken daher flüssiger und insgesamt echter. Sicherlich haben nicht zuletzt die Möglichkeiten des motion capturing dazu beigetragen, dass Trendsportler die virtuelle und die reale Bewegungswelt mitunter aufeinander beziehen und in beide Richtungen Übertragungen vornehmen. Im Rahmen ihrer Untersuchung über Transferprozesse beim Computerspiel berichten beispielsweise Esser und Witting (1997: 254) von Streetballspielern, die Handlungsmuster aus der virtuellen Welt der NBASimulation in ihre reale Praxis integrieren. Wer Streetballgruppierungen beim Spielen beobachtet, wird wahrscheinlich bestimmte Gesten, Geräusche und Stimmen entdecken, die ursprünglich aus den Sportsimulationen stammen. Und auch am Computer oder an der Konsole kennen gelernte Wurftechniken und Finten lassen sich spielerisch-experimentell auf das Handeln im wirklichen Streetballspiel übertragen. Schwier (2000: 134) kommt ferner zu dem Ergebnis, dass dem Computerspielen die Funktion einer emotionalen Vor- und Nachbereitung der eigentlichen Streetballpraxis zukommen kann. Die Basketball-Simulationen sind in dieser Sicht Nachahmungsspiele, mit denen Akteure auch die Hoffnung verknüpfen, dass sich die im virtuellen Raum gesammelten Könnenserlebnisse und das dort entfaltete Gefühl der Kontrolle zumindest als Stimmung mit unter den Korb nehmen lassen. Computeranimierte Körper, die Bewegungsabläufe professioneller Basketballspieler zeigen, liefern so wiederum Bewegungsvorbilder für menschliche 328

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Körper, wobei das Vorbild im Medium des Sich-Bewegens noch einmal hergestellt und in der realen Streetballpraxis ausprobiert wird (vgl. Schwier 1998: 97ff.). Dies gilt in vergleichbarer Weise ebenfalls für populäre Skater-Games wie Aggressive Inline, Tony Hawk Pro oder Tony Hawk Underground, die mit Musikuntermalung ein- bis zweihundert Fahrfiguren simulieren und deren ausbaubare Levels vom Nutzer an die eigenen Kompetenzen angepasst werden können. Darüber hinaus haben die Spieler bei den Tony Hawk-Simulationen die Wahl, ob sie in der Rolle eines bekannten Skateboarders agieren oder sich entsprechend ihrer Neigungen und Fähigkeiten eine eigene Spielfigur aus einem Baukastensystem zusammenstellen wollen. An Trendsportarten orientierte interaktive Computerspiele erfinden also eine zweite Realität des Spiels, in der die Akteure unter anderem aktiv mit dem Überschuss an Bedeutung umgehen und neuartige Handlungsmuster oder alternative Problemlösungen erproben. Eine wichtige Voraussetzung für solche Prozesse ist aber die wahrgenommene Realitätsnähe der Sportsimulation, die – wie Klimmt (2004: 150ff.) in einer Experimentalstudie zeigen konnte – eng mit dem Unterhaltungserleben zusammenhängt. Nur am Rande sei angemerkt, dass dieses Game-Genre ebenfalls bei Jugendlichen populär ist, die nicht an den Beach-, Boarder- oder Streetballszenen partizipieren, sich aber mit dem avantgardistischen und coolen Sportsgeist identifizieren möchten. Das virtuelle Eintauchen in den Trendsport verspricht offenbar Unterhaltungserlebnisse sowie zumindest bescheidene Stilisierungsgewinne. Daher ist es nur folgerichtig, wenn Software-Hersteller bei der inhaltlichen Konzeption der Trendsportsimulationen die Idee der sportiven Selbstermächtigung propagieren und eine Nähe zur jeweiligen Bewegungskultur herzustellen suchen. Wer sich an eine Trendsportszene anschmiegen will, sollte aber unbedingt deren Selbstverständnis unverfälscht und unverdünnt zu Grunde legen. Der Fernsehsender RTL hat beispielsweise zum Start seiner Beach-Volleyball-Übertragungen im Jahr 2005 ein entsprechendes Computerspiel auf den Markt gebracht, das die Namen echter Sportlerinnen verwendet und den vermeintlichen Lifestyle des Beach-Volleyball propagiert, wobei das Spiel allerdings auf die eskapistische Botschaft Sonne, Sand, Spaß, Schweiß verkürzt wird. Dazu passt ferner, dass in der Simulation nur leicht bekleidete weibliche Akteure, aber keine männliche Beach-Volleyballer auftauchen. Nicht zuletzt der weitgehend ausgebliebene Markterfolg des Computerspiels deutet jedoch auf die begrenzte Anziehungskraft hin, die von einer derart simplen Reduzierung einer Trendsportart auf ihr fragwürdiges Unterhaltungspotenzial auszugehen scheint.

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Au f d e r S u c h e n a c h d e m X - M o m e n t . Trendsportarten im Fernsehen Während das Fernsehen gegenwärtig als uneingeschränktes Leitmedium der Berichterstattung über traditionelle Sportarten dient, erscheint zumindest fraglich, ob ihm diese Funktion auch für den Bereich der jugendkulturell geprägten Trendsportarten zukommt. Bedingt durch die Orientierung an Einschaltquoten und Marktanteilen konzentrieren sich die Fernsehsender nicht nur in Deutschland auf die Übertragung weniger weltweit populärer Sportarten, wobei in der Regel lediglich Wettkämpfe auf höchstem Leistungsniveau Berücksichtigung finden. Trendsportarten, an deren TV-Präsenz vorwiegend jüngere Zuschauer interessiert sind, nehmen daher in der Berichterstattung der vier größten deutschen Sender (ARD, ZDF, RTL, SAT 1) generell eine ausgesprochen randständige Position ein, erzielen aber hinsichtlich der Sendedauer bei den Spartenkanälen DSF und Eurosport höhere Werte (vgl. Rühle 2003: 223f.). Vor diesem Hintergrund hat Lothar Mikos (2004) Kinder und Jugendliche als vernachlässigte Zielgruppe des Fernsehsports porträtiert und darauf hingewiesen, dass sowohl die Auswahl als auch die Inszenierungsmuster des TV-Sports den anhaltenden Veränderungen in der Sportkultur von Heranwachsenden kaum Rechnung tragen sowie deren Engagement in den Trendsportarten weitest gehend ignorieren. Die üblichen Formen der Sportberichterstattung sind in dieser Perspektive ferner kaum geeignet, „Trendsportarten fernsehtauglich zu machen. Dazu bedarf es einer Integration der spezifischen jugendkulturellen Sportarten in so genannte neue Formate, wie Real Life Shows, Dokusoaps etc., die eher deren Erlebnis- und Gemeinschaftscharakter gerecht werden“ (Mikos 2004: 172).

Abbildung 1: Beach-Volleyball auf RTL (http://www.sport.rtl.de; 07.09.2005) Die Einbindung von Trendsportarten in neue Formate und Präsentationsformen kann sich allerdings ebenfalls als schwieriges Unterfangen erweisen, da hierbei eine Balance zwischen der Produktionslogik des Fernsehens und der eigensinnigen Logik der jugendlichen Bewegungskultur – mitsamt ihrer Authentizitäts-Versprechen und Distinktionspotentiale – notwendig wird. Auf diese Pro330

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blematik weist beispielsweise die Aufbereitung des Beach-Volleyballs durch den Sender RTL hin, der erstmals im Jahr 2005 die ranghöchste deutsche Turnierserie, die nationalen Meisterschaften in Timmendorfer Strand und die Weltmeisterschaft in Berlin live übertragen hat. Die televisionäre Inszenierung des Beach-Volleyballs versuchte dabei diese Sportpraxis als unbeschwert heitere Variante des Leistungssports zu entwerfen sowie eng mit Sommer, Sonne, Jugendlichkeit und Partystimmung zu verbinden. Ein lifestyleorientiertes Rahmenprogramm mit urlaubsnahen Musik- und Tanzauftritten zielte des Weiteren auf eine Verstärkung derartiger Assoziationen ab (siehe Abbildung 1). Mit dieser Mischung aus Sport und Animation sollten nach Auskunft des Co-Sponsors Bitburger Menschen angesprochen werden, „die das LockerLeichte, das Unkonventionelle mögen und die Spaß daran haben, etwas Neues auszuprobieren“ (Bitburger Business News 2005). Anscheinend handelt es sich bei der von der Werbe-Lyrik umschmeichelten Zielgruppe jedoch um einen Personenkreis, der entweder an Sonntagnachmittagen eher selten fernsieht oder der die Choreographie und Visualisierung des Beach-Volleyballs schlicht jenem populärkulturellen Mainstream zuordnet, gegen den man sich abgrenzen will. Als Reaktion auf die hinter den Erwartungen zurückbleibenden Einschaltquoten hat RTL Dauer und Umfang der Übertragungen jedenfalls schon nach den Weltmeisterschaften (mit einem TV-Marktanteil von rund 3,5% am Finalsonntag) erheblich eingeschränkt. Die im Vergleich zu den großen Fernsehanbietern stärkere Berücksichtigung des Trendsports durch DSF und Eurosport ergibt sich zunächst aus der besonderen Situation von Spartensendern, bei denen eine Thematisierung jugendlicher Bewegungskulturen der Erschließung von Nischenmärkten und der Schärfung des eigenen Senderprofils dienen kann. Die Trendsportarten sind schließlich erstens bei einem jüngeren Fernsehpublikum beliebt und zweitens verstärkt sich das Interesse an diesen Praktiken „mit zunehmendem formalen Bildungsgrad und Einkommen“ (Rühle 2000: 500). Derartige Programmformate sprechen also genau jene Zielgruppen an, die von der werbetreibenden Wirtschaft präferiert werden. Die Fernsehsportkanäle ESPN, Eurosport, DSF oder der Musiksender MTV – unter anderem mit dem Skateboard-Format TitusTV oder der Stuntshow Jackass – haben diesen Weg seit längerem konsequent eingeschlagen und ihre Magazine dabei gleichzeitig zu Plattformen des Jugendmarketing entwickelt. Diese Sender tragen mit der Berichterstattung über innovative Bewegungsformen, der Schaffung von Events (X Games) sowie eigener Szenemagazine (Stoke, Yoz) auf der einen Seite zur Popularisierung von Risikosportarten und jugendkulturellen Bewegungspraktiken bei. Auf der anderen Seite ergibt sich das televisionäre Potenzial des Trendsports aus seiner Bedeutung in den lebensweltlichen Kontexten der Heranwachsenden. Mit der Präsentation des BMXing, des Kite-, Skate-, Snow- oder Wakeboardings werden nun einmal zahlreiche Heranwachsende erreicht, die solche Bewegungs331

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formen gar nicht ausüben, aber am Faszinationsgehalt des damit verbundenen Adrenalin- und Underground-Images partizipieren wollen. Gerade die Magazinformate richten ihr Augenmerk nicht zuletzt auf diesen Personenkreis und setzen neben Szene-Veteranen zum Teil sogar gezielt Moderatoren ein, die keinen Insider-Status besitzen, sondern sich der jeweiligen Bewegungskultur – stellvertretend für das Fernsehpublikum – mit einer Mischung aus Interesse, Naivität, Humor und Respekt nähern. Gleichzeitig geben die Trendsportformate augenzwinkernd vor, im realen und unverfälschten Szeneleben mit zu schwimmen. Und gerade wegen dieses selbstironischen Augenzwinkerns kann die Inszenierung allen Beteiligten unter Umständen Vergnügen bereiten. Als weltweit erfolgreichstes TV-Format des Trendsports gelten nach wie vor die vom US-amerikanischen Kabelsender ESPN seit 1995 produzierten X Games, die jährlich in einer Sommer- und Winter-Variante mit Teilnehmern beiderlei Geschlechts aus mehr als zwanzig Nationen ausgetragen werden. Bei dem jeweils viertägigen Event finden unter anderem Praktiken wie BMX, Freeclimbing, Iceclimbing, Inline-Skating, Kiteboarding, Moto X, Mountainbiking, Skateboarding, Snowcross, Snow- und Wakeboarding in verschiedenen Disziplinen Berücksichtigung. Nicht zuletzt wegen der extra für die X Games hergestellten Werbespots, dem umfassenden Sponsoring, Merchandising oder den als Download gehandelten Mobile Games betrachtet beispielsweise Rinehart (2000: 508ff., 2004) die fernsehgerechte Aufbereitung und globale (Selbst-) Vermarktung der Trendsportarten als eine Form der Vereinnahmung durch den Mainstream des Mediensports. Gleichzeitig haben Fernsehformate wie die X Games zahlreichen Trendsportlern erst die Möglichkeit gegeben, aus ihrer Leidenschaft zumindest temporär einen Beruf zu machen, eigene Produkte am jeweiligen Nischenmarkt zu platzieren und nahezu weltweit für heranwachsende BMXer, Skater, Surfer, Snow- oder Kiteboarder als Rollenmodelle zu fungieren. Die televisionäre Inszenierung des Trendsports folgt dabei einer Medienlogik, die durch kontinuierliche Innovationen ein möglichst großes Publikumsinteresse erzielen und erhalten will. Der häufige Wechsel ist in dieser Perspektive gewissermaßen ein konstitutives Merkmal der televisionären Trendsportangebote und die Sender sind immer auf der Suche nach neuen Bewegungsformen, die für das TV-Publikum attraktiv sein könnten. Bei den H20 Winter Classics (ESPN) vergleichen so Snowboarder und Surfer in beiden Disziplinen ihre Fähigkeiten, wobei die Wettbewerbe an einem Tag im Meer und am nächsten Tag auf der Skipiste stattfinden. Ein weiteres Beispiel ist die Integration des für die Fernsehzuschauer attraktiven Boardercross in die winterlichen X Games. Und die Einführung des Moto X Best Trick Contest oder des BMX Freestyle Dirt signalisieren des Weiteren, dass die Entwicklung in Richtung immer actiongeladener, riskanterer, spektakulärer und kamerafreundlicher Varianten verläuft (siehe Abbildung 2). Manchmal scheint es, als ob sich die realen X Games inzwischen den Handlungsmustern der Computerspiele anzunä332

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hern beginnen, deren dramaturgisches Vorbild sie einst gewesen sind (vgl. Schauerte/Schwier 2004). Aber nicht nur der Fernsehsport sucht immer wieder aufs Neue nach dem X-Moment – den noch nie gesehenen Sportbildern, der überraschenden Aktion, dem nicht für möglich gehaltenen Bewegungskunststück, der Grenzüberschreitung zur Normalität des Körpers – sondern auch die jugendlichen Bewegungskulturen selbst sind durchgängig erlebnisorientiert, auf eine Steigerung des „Lebendigkeitsgefühls“ (vgl. Bette 2004: 20f.) angelegt und für fortlaufende Veränderungen ihrer Handlungspraxis offen. Mit der Hervorbringung und Verbreitung der Themen, Codes und Mythen der X Games rekonstruiert der Sender ESPN nach Auffassung von Robert Rinehart eine körper- und sportnahe Metasprache, die sowohl dominante als auch unterhandelnde und oppositionelle Lesarten unterstützt: „These readings are not discrete, but rather fluid, with the readers moving in and out of the positions as they and the producers co-produce the event. In this way a kind of reader identification – and a television viewing audience – is created“ (Rinehart 2004: 319; vgl. Jhally 1989: 88-91). Die Polysemie der televisionären Inszenierung des Trendsports und seine uneindeutigen Lesarten beinhalten eben Spielräume für widerspenstige Interpretationen, haben aus der Sicht des Produzenten aber vor allem die Funktion, eine Bindung der Zuschauer an die X Games zu fördern.

Abbildung 2: Moto X Best Trick Contest Abbildung 3: BMX Freestyle Dirt (http://expn.go.com; 12.10.2005) Insgesamt lässt sich die von Mikos (2001, S. 224ff.) vorgelegte Beschreibung des Musiksenders MTV durchaus auf die televisionären Inszenierungen der jugendlichen Bewegungsformen übertragen. Trendsportformate wie Stoke, TitusTV, Yoz oder X Games symbolisieren „eine nicht mehr politisch radikale

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[…], sondern eine ästhetisch radikale Jugendrebellion, die über Kommunikation und konsumistische Aktivität herrschende Wertmaßstäbe in Frage stellt“ (Mikos 2001: 225). Die Verwandlung von Bewegungskultur in Mediensport hält in gewisser Hinsicht die Differenzen im Spiel: Die Berichterstattung wirkt nicht nur an der Reproduktion der dominanten Sportkultur mit, sondern bietet ebenfalls Foren zur Präsentation spektakulärer Facetten bewegungskultureller Erneuerung und alternativer Auslegungen des Sich-Bewegens (vgl. Schwier 2000: 95ff.). Die Pluralisierung der Sportpraktiken korreliert sozusagen mit den Bedürfnissen einer sich ausdifferenzierenden Fernsehindustrie und die Entfaltung innovativer Bewegungskulturen bleibt daher von vorne herein in den konsumkulturellen Programmfluss integriert.

Zur Selbst-Medialisierung jugendlicher Trendsportszenen Die auffällige Tendenz jugendlicher Bewegungskulturen zur Selbst-Medialisierung und Ästhetisierung hängt wohl damit zusammen, dass sie Aufmerksamkeit erregen, Respekt für den eigenen Stil gewinnen sowie die Zwischenergebnisse ihrer mit besonderer Intensität betriebenen individuellen und kollektiven Selbsterforschung ungefiltert mitteilen wollen. Trendsportszenen artikulieren sich in diesem Zusammenhang seit einigen Jahren vermehrt über das World Wide Web und stellen mittels eigener Webseiten, Weblogs, E-Zines oder Newsgroups quasi eine Medienöffentlichkeit von unten her. Die Nutzung des Internet bietet den Protagonisten von Trendsportarten eine Chance, unter Umgehung der etablierten Medienkanäle kostengünstig ihre Botschaften zu verbreiten, die Communitas unter den Eingeweihten zu fördern, ortsunabhängig zahlreiche Menschen zu erreichen sowie miteinander zu vernetzen. Mit derartigen Medienobjekten können also engagierte Akteure des Trendsports zu (Multimedia-) Produzenten werden, ein alternatives Sportverständnis propagieren und ihre bewegungskulturelle Differenz zum Sport-Medien-Komplex (vgl. Jhally 1989) abbilden. Sowohl in Nordamerika als auch in Europa haben sich jugendliche Bewegungskulturen von Anfang an nicht nur mit der populären Sport- und Medienkultur auseinander gesetzt, sondern selbst Medienerzeugnisse hervorgebracht und deren Vertrieb organisiert. Eine derartige textuelle Produktivität zeigen unter anderem Vertreter innovativer Bewegungsformen, die mittels Videos, DVDs, Webseiten und Fanzines das Lebensgefühl des Crossgolfs, Surfens, Skate-, Sand- oder Snowboardings zu kommunizieren versuchen (vgl. Schwier 2000: 120ff.; Wheaton/Beal 2003). Die Begriffe Fanzine bzw. Webzine stehen allgemein für unabhängige Nischenmagazine (Zines), die – in gedruckter Form oder online – von engagierten Anhängern einer Sache für Gleichgesinnte 334

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gemacht werden. Die seit den siebziger Jahren von subkulturellen Jugendszenen wie der Punk-Bewegung hervorgebrachten Zines gehören heute geradezu selbstverständlich zur Surfer-, Skater- oder Snowboardszene sowie zur Techno- und Fußballfankultur (vgl. Schwier 1998: 80ff.). Einige dieser Medienerzeugnisse veröffentlichen inzwischen ebenfalls Sonderausgaben auf Video und DVD, die – wie zum Beispiel das Monster Movie Magazine – neben Interviews oder der Vorstellung von Skateparks vor allem actiongeladene Bilder von den besonderen Tricks bekannter Skateboarder sowie so genannte MixParts und Battles mit schneller Schnittfolge inszenieren. Die Fan- und Webzines dienen vorwiegend der Darstellung des Stils der jeweiligen Trendsportart, beschäftigen sich mit Neuigkeiten aus der Szene und verstehen sich zugleich als provokanter Gegenentwurf zum offiziellen Mediensport bzw. zur legitimen Publikationskultur. Tendenziell stellen diese Nischenmagazine ferner ein flüchtiges Medium dar, da ständig einzelne Zines ihr Erscheinen einstellen und gleichzeitig neue Formate entstehen. Darüber hinaus haben sich inzwischen einige Trendsportmagazine zu professionellen Special-Interest-Zeitschriften entwickelt, was nicht zuletzt mit dem entsprechenden Interesse der Werbewirtschaft zusammenhängt. Eine Inhaltsanalyse deutschsprachiger Skate- und Snowboardzeitschriften hat Friedrich (1998) vorgelegt, für den die Magazine in erster Linie einen Überblick über korrekte Ausrüstungsgegenstände, angesagte Events oder Fahrtechniken geben, zu-gleich aber einen bildästhetischen Stil kultivieren, der sich einer Gewalt- und Aggressionssymbolik bedient. Nach Friedrich (1998: 91) kann diese Stilorientierung als eine Reaktion auf die Popularisierung des Skate- und Snowboardings gedeutet werden, wobei der medial präsentierte aggressive Habitus den Verkauf der Magazine bzw. der dort beworbenen Ausrüstungsgegenstände stimuliert sowie der jugendlichen Subkultur eine scharfe Abgrenzung gegen die nachrückenden erwachsenen Freizeitsportler ermöglicht. Ferner fällt auf, dass die Nischenmagazine das weiße, männliche Subjekt als authentischen BMXer, Surfer, Skate- oder Snowboarder entwerfen und zumindest einige nordamerikanische Szeneblätter latent sexistische, homophobische und rassistische Tendenzen aufweisen. Bezüglich der Medienerzeugnisse juveniler Trendsportszenen stellt so Robert Rinehart bilanzierend fest: „The content […] is anti-authority, in every possible theme, so that, as it shocks and offends, it creates a feeling of adolescent kinship. The message is: us against the Other, however the Other may be defined“ (Rinehart 2000: 515; vgl. hierzu Wheaton/Beal 2003:170f.). Die Medienaktivitäten der Trendsportszenen zeichnen sich nach meiner Einschätzung online und offline durch die Merkmale Abgrenzung, Mitwirkung und Selbstdarstellung aus, deren Bedeutung für Fankulturen Fiske (1997) bereits detailliert nachgezeichnet hat. Neben dem offenkundigen Bemühen um Distinktion, der digitalen Dokumentation von Geschmacksunterschieden zum 335

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Mainstream des organisierten Sports, versuchen die Internet-Auftritte, die DVDs und gedruckten Nischenmagazine die geteilten Werte, Orientierungen sowie die Gemeinschaft aller BMXer, Crossgolfer, Skateboarder oder Surfer zu bestätigen. Den Erfahrungshorizont der Internetauftritte jugendlicher Bewegungskulturen und die damit verbundenen Prozesse der Selbstermächtigung bestimmen in dieser Perspektive letztendlich die komplexen Wechselbeziehungen zwischen der Demonstration von Gruppenidentität bzw. von alternativen Mustern des Sporttreibens auf der einen Seite und dem alltäglichen Aufzeigen von (sport-) kulturellen Differenzen zu den hegemonialen Kräften des Sport-Medien-Komplexes auf der anderen Seite. Die feinen Unterschiede zwischen den diversen Ausprägungsformen des Sporttreibens lassen sich jedenfalls auf der digitalen Bühne dauerhaft, kreativ und multimedial dokumentieren: „In the spaces of the subcultural media the ‚challenge‘ is principally a contest of representation“ (Wheaton/Beal 2003: 173). Die entsprechenden Internet-Auftritte von Trendsportgruppierungen sind so immer ein Bestandteil des Kampfes um Deutungshoheit im Feld des Sports und bieten sowohl den Eingeweihten als auch anderen Interessenten szenetypische Wissensbestände an, deren Aneignung sowohl Zugehörigkeit nachweisen (z.B. Community oder Members Area) als auch zur Erweiterung des subkulturellen Kapitals dienen kann. Widerspenstiger Sportsgeist und kommerzielle Interessen gehen dabei mitunter enge Verbindungen ein. Die Hamburger Natural Born Golfers brauchen beispielsweise nach eigenem Selbstverständnis „keine Regeln, keine Etikette und keine Karohosen. Für die Erfinder des Crossgolfs gibt es keine Limits […]“ (http://www.naturalborngolfers.com/2005/nbg.de.html; 8.10.05). Diesen demonstrativ zur Schau gestellten rebellischen und grenzgängerischen Habitus vermarktet die Gruppierung gleichzeitig mit einer eigenen Bekleidungslinie (Poloshirts, Sweater, Caps) und als Organisator von CrossgolfTurnieren, die für Wirtschaftsunternehmen als Kunden-Incentive durchgeführt werden. Der auf einen medienkritischen Autorenfilm von Oliver Stone anspielende Name der Gruppe, deren Emblem – ein Totenkopf mit zwei gekreuzten Golfschlägern – sowie die gesamte Selbstinszenierung der Natural Born Golfer spielen ähnlich wie das genannte Road Movie mit Genrekonventionen und ästhetischen Mitteln (vgl. hierzu Mikos 2002), zitieren vielschichtige Bedeutungen eines avantgardistischen, spaßorientierten Außenseitertums, die jedoch bei Bedarf ebenfalls als Verkaufsargument zu Buche schlagen können. Vor diesem Hintergrund scheint die These nicht ganz abwegig zu sein, dass die semiotische Strategie zahlreicher Trendsportszenen ebenso auf Distinktion wie auf (ökonomische) Teilhabe abzielt. Ob die Anderen die Symbolik und die wilden Rituale solcher Bewegungskulturen hinreichend verstehen, dürfte für deren Erfolg kaum ausschlaggebend sein. Im Kontext ökonomischer Verwertungsinteressen ist vielmehr vor allem wichtig, ob die

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potenziellen Konsumenten sie richtig oder falsch Missverstehen (vgl. hierzu Eco 1985: 230ff.). Im Rekurs auf die von Roland Barthes (1974: 21-33) eingeführten Begriffe Plaisir und Jouissance unterscheidet John Fiske (1989: 50-59) zwei Formen des populären Vergnügens, die auch bei jugendlichen Bewegungskulturen zum Tragen kommen. Das „Vergnügen am Ausweichen und Flüchten“ (Jouissance) setzt vorwiegend am Körper an, entzieht sich den Bedeutungen und der sozialen Kontrolle, während das „Vergnügen am Herstellen von Bedeutungen“ (Plaisir) stärker die (sozial-)kognitiven Kompetenzen anspricht und die Chance beinhaltet, die vom Sport-Medien-Komplex vorgegebene Ordnung des Diskurses auf die eigene Sporterfahrung zu beziehen. Stimuliert Jouissance das leibhaftige Vergnügen, der sozialen Ordnung über das rauschhafte Aufgehen im sportlichen Tun, über gemeinschaftliche Aktivitäten, Reisen oder Partys temporär zu entrinnen, so gewährt Plaisir das kreative Vergnügen, sich mit der Definitionsmacht des Sport- und Mediensystems auseinander zusetzen sowie eigene Interpretationen des menschlichen Sich-Bewegens vorzulegen. Innerhalb der Trendsportszenen scheint die kollektive Handlungspraxis auf Asphalt, Schnee oder Wasser eher ein günstiger Ort für das Auftreten von Jouissance zu sein, während sich die Freude am Herstellen von Bedeutungen vermehrt im medialen Raum der Fan- bzw. Webzines sowie der Internet-Auftritte wieder finden lässt. Mit seiner offensiven Körperlichkeit liefert Jouissance ferner einen starken Affekt, dessen Energie wiederum auf das Vergnügen am Herstellen von Bedeutungen ausstrahlt. Das Erleben von ozeanischen Gefühlen beim Surfen kann beispielsweise durchaus eine anschließende textuelle Produktivität stimulieren (vgl. Schwier 2000: 39ff.). Die selbst produzierten Medienobjekte spiegeln online und offline unter anderem den Willen der jugendlichen Akteure, einen Unterschied in der (Sport-) Welt zu machen. Wenn die verschiedenen Trendsportszenen unermüdlich ihre Differenzen zum Sport-Medien-Komplex anzeigen und die „Revolte gegen das Herkömmliche“ (Marlovits 2001: 432) sowohl körperlich als auch medial zelebrieren, halten sie an der Hoffnung fest, mit ihrer Leidenschaft, ihren Ideen und ihrem Engagement zu einer ebenso eigensinnigen und unabhängigen wie grenzgängerischen und spektakulären Bewegungskultur beizutragen. Als Interpretationsgemeinschaften setzen sich die Szenen der BMXer, Crossgolfer, Surfer, Kite-, Skate-, Snow- oder Wakeboarder listenreich und lustbetont mit den vom Medien- und Sportsystem bereitgestellten Ressourcen auseinander, wobei vorhandene Spielräume für Prozesse der Selbstermächtigung genutzt werden. Unter Bezugnahme auf die Diskurse der Konsumkultur und des ökonomisierten Sports entfalten jugendliche Bewegungskulturen ein Reservoir an Aktionen und Symbolen, das sie quasi zum Stichwortgeber des Jugendmarketings und zum Motivationstrainer der Sportbewegung macht. Die mannigfachen Verflechtungen von Kultur und Ökonomie bilden sich eben auch in den 337

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Repräsentationen des Trendsports ab und die jeweiligen Szenen sind nicht zuletzt mit ihrer Tendenz zur Selbst-Medialisierung längst an den rasch einsetzenden Vermarktungsprozessen aktiv beteiligt.

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Sehen und Gesehenw erden – Auf dem Laufsteg der Gesellschaft. Sozial- und Selbsttechnologien des Körpers HANNELORE BUBLITZ „Im Zentrum der Gesellschaft steht der menschliche Körper, ein scheinbares Zeichen der Natur, tatsächlich aber gänzlich kulturell.“ (Dosse 1996: 57)

Soziologische Zugänge zum Körper sind keine Selbstverständlichkeit. Eingebunden in eine Kultur der Körperdistanz, wenn nicht Körperfeindlichkeit, befand sich der Körper als sozial- und kulturwissenschaftliches Phänomen lange Zeit in einer marginalen Rolle. Wenn überhaupt, erschien er am ehesten als Gegenstand einer ‚unterirdischen Geschichte‘ (vgl. Rittner 1976). Auch als der Körper längst zum Fluchtpunkt diverser Jugendszenen und -kulturen geworden war, die sich dem körperlich und physisch Möglichen verschrieben, ließ die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Körper weitgehend noch auf sich warten. Das hat sich geändert; längst ist der Körper ins Zentrum erhöhter Aufmerksamkeit auch wissenschaftlicher Diskurse gerückt. So erfolgt im Rahmen der Körpergeschichte nicht nur die elaborierte Rekonstruktion einer Kulturgeschichte des Körpers und seiner historischen Repräsentation. Vielmehr tritt der Körper hier als strikt historische Kategorie auf, die ohne (Macht-)Geschichte nicht denkbar ist. Kulturwissenschaftlich informierte Analysen der ‚leibhaftigen Moderne‘ siedeln Körperlichkeit und ihre historischen Ausdrucksformen vor allem in den Bereichen der Kunst und Politik, der Industrie-, Freizeit- und Populärkultur sowie der Massenmedien an. Hier gerät die Funktionalisierung des Körpers und seine Effizienz, aber auch seine künstlerische und massenmediale Inszenierung in historischer Perspektive in den Blick (vgl. Dröge/Müller 1995; 341

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Sasse/Wenner 2002; Cowan/Sicks 2005). Darüber hinaus verweist die Geschichte der Soziogenese des – modernen í Individuums auf die zentrale Rolle des Körpers als Medium der Einverleibung und Verkörperung gesellschaftlicher Standards: Disziplin und Norm haben ihren Ort am und im Körper. Seit geraumer Zeit ist der Körper mehr als eine historische Kategorie. Am Körper scheiden sich die Geister, er ist zum Schauplatz von – nicht nur symbolischen – Kämpfen geworden. Ausgehend von feministischen Diskursen, in denen die Debatten über diskurstheoretische Zugänge zum Körper zu weit reichenden Überlegungen über den erkenntnistheoretischen Status des Körpers führten, avancierte der Körper zur zentralen, aber unbestreitbar auch kontrovers diskutierten Kategorie im Streit wissenschaftlicher Positionen, die, wie Heiko Stoff im Anschluss an Barbara Duden ausführt, regelrecht zu einem „körpergeschichtlichen Bruch“ (Stoff 1999: 147f.) führten. Die Demarkationslinien verliefen nun entlang durchaus heterogener und in sich differenzierter Positionen: So erschien der Körper, ungeachtet seiner historischen Formierung, zum einen als Garant einer fraglosen physischen Realität und als Ort einer – ursprünglichen – leiblichen Erfahrung, während er auf der anderen Seite als Effekt historischer Bezeichnungspraxen und Körperpolitiken konturiert und als historischen Normierungspraxen vorgängige Naturkategorie dementiert wurde (vgl. Butler 1995; Foucault 1976a und 1976b, 1977, 1993, 2005). Über allem schwebte der Vorwurf der ‚Entkörperung‘ und die These vom ‚Verschwinden des Körpers‘. Im Grunde lief es auf die visionäre Befürchtung hinaus, dass der Geist nun endgültig den Körper aufgibt oder sich zumindest aus seiner körperlichen Verankerung löst, was sich ja in einem ganz anderen Kontext technisch schon längst ankündigte. Zugleich aber verwies die Argumentation in ihrer Vereinseitigung auf den Körper als ahistorische Materie und passiv unterworfenes Objekt sich in ihn einschreibender Zeichensysteme und Diskurse. Das aber musste letztlich dazu führen, dass der Körper ganz den Geist aufgibt, bis dieser, entkörpert und entmaterialisiert, in der technik- und medieninduzierten Artifizialisierung des Körper-Menschen wieder auftaucht, um den sterblichen Körper – als vom Zeichensystem abgelösten – verschwinden zu lassen (vgl. zum gesamten Komplex der technologischen Verkörperung auch Weber/Bath 2003; Bath et al. 2005). An dieser Debatte zeigt sich, dass der Körper ein paradigmatischer Kristallisationspunkt zentraler Dualismen der Moderne ist, auf dessen í sprach- und diskurstheoretische í ‚Entkörperung‘ entgeistert reagiert wird (vgl. exemplarisch Duden 1993; Benhabib et al. 1993; vgl. dazu auch Bublitz 2002: 48f. und 2003: 19f.). Zunächst an der Schnittstelle von Natur, Kultur und Gesellschaft situiert, rückt der Körper zunehmend ins Zentrum der Gesellschaft. Der Körper boomt, er ist ‚in‘; das zeigt sich an der schier unüberschaubaren Fülle an wissenschaftlicher Literatur zum Körper, nicht zuletzt aber an einem Paradigmenwechsel innerhalb der Sozial- und Kulturwissenschaften, dem ‚body turn‘ 342

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(vgl. Ellerbrock 2004; Klein 2004). Mittlerweile bildet der Körper nicht nur die zentrale Kategorie einer í diskursanalytisch angeleiteten – Körper-Kulturgeschichte (vgl. Sarasin 1996, 1999), sondern auch körpersoziologischer Überlegungen (vgl. Gugutzer 2004; Klein 2004; Schroer 2005). Im Folgenden geht es um Sozial- und Selbsttechnologien des Körpers, der als Topographie von lebendiger Natur eine Grenze zu markieren und sich der Einschreibung von Körpertechniken und Körperdisziplin(ierung) zu entziehen, wenn nicht zu widersetzen scheint, an dessen ‚Natürlichkeit‘ unablässig gearbeitet wird, um sie – und am besten auch den ganzen Körper í zum Verschwinden zu bringen. Seine Architektur ist Gegenstand von Disziplinartechniken und Selbsttechnologien, die ihn formen und formieren, ihn in Gesten, Bewegungen, Haltungen und Kräfte zerlegen, um ihn wieder zu einem dynamischen Kräftekörper zusammenzufügen und ihn auf dem Laufsteg der Gesellschaft schließlich als ideale Verkörperung ästhetischer Formen zu konfigurieren, wo er sich als ästhetisch gestylter Körper möglichst von allen Seiten, vor allem aber von seiner besten Seite zeigt. In der Reziprozität der Perspektiven von Sehen und Gesehenwerden avanciert der Körper nicht nur zur visuellen Verkörperung des Sozialen, sondern zugleich zum zentralen Medium der Subjektwerdung. Als solches gilt der Körper weder als Ausdruck einer ihn determinierenden Natur noch als Opfer repressiver Kulturpraktiken oder -techniken. Es wird vielmehr davon ausgegangen, dass es spezifische Übersetzungs- und Transformationsprozesse von Körper, Technik und Gesellschaft gibt, die den Körper, ebenso wie das Subjekt und seine ‚Identität‘, immer wieder neu ‚erfinden‘ und formieren. Körper vermischen sich demnach auf je spezifische Weise immer schon mit Technologien, ohne dass diese zu bloßen Herrschafts- und Machtinstrumenten verkommen und ohne dass der Körper als passives Objekt dieser Technologien gesehen wird. Er fungiert demnach nicht als Garant und Zeichen von Authentizität, es sei denn, diese wird als performativ und erfolgreich inszenierte ‚Authentizität‘ gefasst (vgl. Butler 2003; Klein/Friedrich 2003). Körper haben demzufolge keine unveränderliche Form, sondern vollziehen immer wieder aufs Neue ihre Materialisierung. Unwesentlich bleibt dabei die Frage nach der den Körpern eigenen Materialität, die den Techniken und Bedeutungspraktiken, den Formen der Wissensproduktion und den medialen Anatomien voraus- und entgegengesetzt werden könnte. Denn als Objekt des Wissens ist die historische Vielzahl der Körper nicht als den Zeichen und den kulturellen Ordnungen vorgängiger, sondern nie anders denn als immer schon ‚gesprochener‘, beschrifteter und kartographierter Körper zu haben.

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Visualität des Sozialen am Körper Zentral für die aktuelle Debatte um den Körper ist die Frage, ob und wo der Körper zwischen Natur und Kultur zu situieren ist und in welcher Beziehung er zur Gesellschaft steht. Körperbilder und Körperpraktiken zeigen, dass es den Körper als physiologisches Urgestein, unabhängig von kulturellen ‚Ablagerungen‘ nicht gibt. Der Körper ist in seiner Unmittelbarkeit nicht zugänglich. Historische Körpermodelle widersprechen dem Körper als Ort des Natürlichen ebenso wie soziale Körpercodes, mit denen die soziale Ordnung auf und am Körper ‚abgebildet‘ werden. Weder bildet der Körper als Naturressource die Grundlage von Kultur und Gesellschaft noch ist er in sich kohärent strukturiert. Und dennoch verbürgt nichts die soziale Ordnung, die Ordnung der Geschlechter eingeschlossen, mehr als der Körper. Am Körper wird die soziale Matrix sichtbar, am körperlichen Habitus zeigen sich sozialer Status und Position. Er ist in seiner Materialität der zuverlässige Beweis für Körperkontrolle, Ordnung und Disziplin. Der Körper liefert augenscheinlich das somatische Material für Technologien jeder Art, ja, er ist die Verkörperung und Materialisierung des Sozialen. Die enge Koppelung der physischen Materialität des Körpers mit gesellschaftlichen Disziplinaranordnungen und -architekturen macht ihn zum quasi-natürlichen, disponiblen Fundament einer Gesellschaft, die sich – gegen Gefährdungen – absichert, indem sie sich seiner Bewegungen und Haltungen, seiner Gesten und Konturen vergewissert. Einer Hierarchie privilegierter Bedeutungen unterworfen, untermauert der Körper kulturelle Imperative, indem er diese physisch repräsentiert und zur Schau stellt. Der Körper unterliegt Einschreibungs-, Vergesellschaftungs- und Disziplinierungsprozessen, die ihn zum zentralen Distinktionsmedium machen, sich in ihn wie Gravuren einkerben und entzifferbare Spuren hinterlassen. Selbstbeherrschung zeigt sich an Körpern, die unausweichlich Haltung annehmen. Körperbeherrschung ist der sichtbarste Ausdruck des zivilisatorischen Projekts der Moderne (vgl. Elias 1997). Über den Körper bindet sich das moderne Individuum an Konventionen und normative Zwänge, bildet aber auch Formen der Selbstgestaltung und -führung aus. Das Körperliche bildet, in verhüllter oder entblößter Form, Mittel der Erhöhung des Individuellen und der Selbstinszenierung (vgl. Warncke 1998; Rittner/Mrazek 1986a, 1986b). In der – performativen – Darstellung pluralisierter (Lebens-)Stile und der motorischen Erfahrung öffentlicher Räume visualisieren sich am Körper Sozialund Selbstverhältnisse (vgl. Alkemeyer 2004; Bourdieu 1984, 1987; Gebauer et al. 2004; Klein 1999, 2004; Klein/Friedrich 2003; Rittner/Mrazek 1986a, 1986b).

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Körpertechniken Die immer wieder vorgenommene Veränderung des Körperverständnisses und die mit ihm verknüpften Bestimmungen körperlicher Idealität verweisen auf den Körper als í offene í Projektionsfläche historisch wechselnder Einschreibungen. Gleichzeitig bildet der Körper eine Topographie der Natur und der Natürlichkeit, die beherrscht und vom Geist unterworfen werden müssen. So erscheint der Körper letztlich als Produkt des menschlichen Geistes; es ist der Geist, der den Körper unterwirft und baut. Aber der Körper bildet auch den Ort, an dem sich Automatismen, die nicht willentlich gesteuert sind, versammeln und die Routinen sozialer Praxis, eingeschliffene Schemata und Dispositionen erkennbar sind. Haltungen und Gewohnheiten werden bei den elementarsten Bewegungsformen, etwa beim bloßen Gehen wirksam. Der Körper wird selbst zum Instrument unbewusster Handlungen. In den Körper schreiben sich die sozialen Regeln der Gesellschaft, die individuellen und sozialen Erfahrungen ein, die ihn unbewusst steuern. Die gesellschaftlich antrainierten Gewohnheiten gehen in Fleisch und Blut über. „Der Körper ist“, so der französische Ethnologie Marcel Mauss, „das erste und natürlichste Instrument des Menschen“ (Mauss 1989: 206). In einer Archäologie der Körpertechniken entdeckt Mauss, dass bereits die elementaren (Bewegungs-)Formen des Körpers kulturellen Mustern folgen, die im Rahmen einer Kultur durch Nachahmung weitergegeben werden. Jede Gesellschaft hat, so Mauss, ihre eigenen Gewohnheiten für das Verhalten und die Bewegungen des Körpers, die sich bereits in der Art des Gangs manifestieren. Jede Gesellschaft zwingt dem Individuum also, vermittelt durch Körpertechniken, eine streng determinierte Verwendung seines Körpers auf. Mit der sozialen Natur des körperlichen Habitus1, verstanden als Technik und Kunst, sich des Körpers zu bedienen, prägt die Gesellschaft den Individuen eine soziale Struktur auf (vgl. ebd.: 200); sie wird einverleibt. Die Bewegungen des Körpers sind daher Existenzweisen des Sozialen (vgl. auch Alkemeyer 2004: 57). Im Zentrum des Körpers verbirgt sich das Unbewusste der Kultur und der Gesellschaft (vgl. Dosse 1996: 57). Kultur und Gesellschaft schreiben sich über eine Tiefengrammatik in die Körper ein. Dabei fungiert der Körper, so Bourdieu, als ‚Automat‘ und ‚Speicher‘. Der körperliche Habitus ist die somatische Dimension sozialer Strukturen, die sich in Praktiken und Dispositionen einschleifen. Mit anderen Worten: Der Körper ist, was er gespeichert hat (Bourdieu 1987: 127). Das Verhältnis zur sozialen Welt ist auf Dauer festgehalten 1

Mauss betont, dass mit dem Habitus nicht etwa „metaphysische Gewohnheiten“ oder „mysteriöse Erinnerungen“ gemeint sind, die jeweils individuell abgerufen werden, sondern „Techniken und das Werk der individuellen und kollektiven praktischen Vernunft […], wo man gemeinhin nur die Seele und ihre Fähigkeit der Wiederholung sieht“ (Mauss 1989: 202f.).

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im Verhältnis zum eigenen Körper (vgl. Bourdieu 1984, 1987, 1992). Auf diese Weise werden soziale Ungleichheiten verfestigt, die, in (klassen- und geschlechts-)spezifischen Wahrnehmungsweisen einverleibt und in Körperpraktiken verkörpert, als quasi-natürliche Differenzen erscheinen. Über die Verkörperung symbolischer Ordnung(en) wird der Körper darüber hinaus zum Ort einer Ökonomie, die aus ihm Kapital schlägt und ihn selbst zum – unbewussten í Einsatz im Spiel um Machtpositionen macht. Hervorzuheben wäre hier jedoch, dass der sozialisierte Körper bei Bourdieu nicht ein bloß konditionierter Körper, also nicht nur bloßes Objekt von Disziplinartechnologien ist, sondern selbst aktiv strukturierende Kraft besitzt (vgl. Alkemeyer 2004: 54f). Erst im Prozess seiner Vergesellschaftung wird der Körper zu einem „spontanen Strategen“ (Waquant 2003: 101, zit. n. Alkemeyer 2004: 57). Der sozialisierte Körper funktioniert also keineswegs bloß wie eine Maschine, ein Computer, der, einmal programmiert, unverändert fortläuft, wiederholt. Vielmehr wird das im Körper gespeicherte ‚kinetische‘ Wissen durch neue Erfahrungen ständig überschrieben und überlagert. Dabei bilden sich komplexe Strukturen im Körper heraus. Wie der Speicherungsund Automatisierungsprozess im Körper funktioniert und wie es möglich ist, dass der Körper sich ‚erinnert‘ und Eindrücke nicht nur abruft, sondern zu Verhaltensmustern zusammensetzt, bleibt ein Rätsel. Körperhaltung, Körperpraktiken und í ‚überflüssige‘ í Körperbewegungen verweisen auf Anforderungsstrukturen, denen der Körpermensch ausgesetzt und unterworfen wird, aber auch auf ein Dagegenhalten des Körpers. Eine emphatische Überhöhung des Körpers als Ort des Unverfügbaren und Widerständigen ist jedoch unangebracht. Sowohl die Position einer fraglosen physischen Realität des Körpers, die als kohärent gedacht wird, als auch die konstruktivistische Position, die dem Körper jede Unverfügbarkeit abspricht, erscheint fragwürdig. In der Überschreitung von Positionen, die im Körper eine metahistorische, stabile Grenze zur Deformation des Menschen – durch eine körperfeindliche Rationalität und seiner Reduktion auf ein Messinstrument von Arbeitskraft – sehen, oder die den Körper als das die Zumutungen der Moderne Überschreitende und als imaginären Ausgangspunkt einer genuinen Körpererfahrung apostrophieren, zeigt sich, dass es eine Unmittelbarkeit des Körpers nicht gibt (vgl. Sarasin 1999: 443f).2 In verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen setzt sich die Einsicht durch, dass der Körper historisch ist. Er ist immer schon der Ort von Geschichte und deren ‚Eindrücken‘ (in den Körper). 2

Sarasin (1999) hintergeht sowohl Positionen, die von einer Unmittelbarkeit des Körpers ausgehen, als auch jene, die den Körper konstruktivistisch als bloß sprachlich codierten fassen. Dagegen betont Sarasin mit Lacan, dass der „Einbruch des Realen“ in Repräsentations- und Sprachnetze der Ort ist, an dem der Körper sprachlos ‚zum Ausdruck kommt‘, in Erscheinung tritt, ohne sich sprachlich zu artikulieren.

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Der Körper ist ohne das ‚methodische System der Zeichen‘ nicht zu denken – die Codierung des Körpers durch Repräsentationssysteme ist zugleich die Methode seiner Produktion.

Z u r M i k r o p h ys i k u n d K ö r p e r l i c h k e i t d e r M a c h t Foucaults Analyse der modernen Disziplinargesellschaft verfolgt das Anliegen, die Machtbeziehungen bis in ihre körperliche í und psychische í Materialität nachzuweisen. Foucault (1976a) spricht von einer „Mikrophysik der Macht“, die auf den Körper abzielt. In den Disziplinarinstitutionen wird vorrangig der Körper in Beschlag genommen, nicht um ihn zu unterdrücken und zu quälen (wie bei der Marter), sondern um ihn zu formen und zu formieren, zu unterwerfen und anzuordnen. Was auf den Körper zielt, ist also nicht bloße Repression, Manipulation oder Strafe. Die ‚Technologien der Macht‘ erzeugen vielmehr produktive Wirkungen, die den Körper gelehrig und nützlich machen, ihn an einen Produktionsapparat binden und kontrollieren. „Die Vermessung der Welt“ (Kehlmann 2005) bezieht sich seit dem 19. Jahrhundert auch auf den menschlichen Körper: Er wird zum physischen Messinstrument einer tayloristischen Arbeitskräfteökonomie ebenso wie er als Instrument der körperlichen Evidenz von ‚Rasse‘ und Geschlecht herhalten muss und zur Grundlage von Klassifikation und Hierarchisierung avanciert. Über ihn eröffnen sich Selektionsprinzipien dessen, was als Kultur- und Gesellschaftskörper gilt. Hier geht es folglich nicht nur um die ‚organische‘ Produktion der produktiven Arbeitskraft, sondern der Körper wird gleichsam als organisches Material von Kultur konfisziert (vgl. Bublitz et al. 2000). Aber es geht um mehr: In der machtförmigen Konstitution des Körpers artikuliert sich der Wille einer Macht, die nicht nur dem Körper eine – soziale – Existenz gibt, sondern die moderne Seele, ja, überhaupt das moderne Individuum hervorbringt. Seine Existenz ist Ausdruck derselben gesellschaftlichen Macht, die Macht über den Körper ausübt. Diese Macht ist die Gesellschaft als Zwangszusammenhang und zugleich als materielle und soziale Anordnung, die Subjektivierung erst ermöglicht und gewährleistet. „Die Seele: Gefängnis des Körpers“ (Foucault 1976b: 42) bezeichnet für Foucault das Resultat einer Unterwerfung des modernen Menschen. Sie ist das Element, in dem sich Macht und Wissen wie in einem Zahnradgetriebe verschränken. Sie ist derjenige Ort, an dem der Mensch zum Gegenstand des Wissens und der Machtbeziehungen wird und an dem das Soziale im Innern des Subjekts Platz greift. Hier entsteht erst das, was als inneres Hoheitsgebiet, als Innenwelt des modernen Subjekts erscheint: die Psyche. In den Seelenzuständen des Gewissens, der Moral, der Subjektivität und Persönlichkeit regieren die Institutionen und Apparate, die sozialkonstitutiven Normen und Regeln der Gesellschaft. 347

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Der Körper erscheint als Scharnier und Schaltstelle regulierender Technologien, mit denen sich die Gesellschaft im Bewusstsein des Subjekts installiert. Die Implementierung des Subjekts in den Gefügen der Macht ist sichergestellt durch überwachende Registrierung des Körper-Subjekts und seine Unterwerfung unter eine Mikrophysik der Macht, die sich í als innerer Zwang í in den elementarsten Verrichtungen, Bewegungen und Gesten des Körpers manifestiert. Im Innenleben des Subjekts agiert die Verdoppelung der Macht durch ein „Unkörperliches“, die Seele (vgl. ebd.: 41). Sie handelt als „Zahnradgetriebe, mittels dessen die Machtbeziehungen ein Wissen ermöglichen und das Wissen die Machtbeziehungen verstärkt“ (ebd.). Über die „Verzahnung von Machtwirklichkeit und Wissensgegenstand“ (ebd.) wird die Seele ein „Werkzeug der Macht, durch welches der Körper herangezogen und geformt wird. In gewissem Sinne agiert sie als machtgeladenes Schema der Produktion und Verwirklichung des Körpers“ (Butler 2001: 87).3 Dabei fungieren Körper und Seele nicht als ahistorische Universalien. Die Seele ist keine Substanz, sie ist vielmehr, wie der Körper, „Effekt und Instrument einer politischen Anatomie“, die, „Gefängnis des Körpers“ (Foucault 1976b: 42), „zum normativen und normalisierenden Ideal [wird], nach dem der Körper geschult, geformt, gezüchtet und ausgestattet wird; sie ist ein historisch spezifiziertes, imaginäres Ideal (idéal speculatif), unter welchem dem Körper Gestalt gegeben wird“ (Butler 2001: 87). Letztlich geht es dabei um die Fabrikation des – zuverlässigen – Menschen, die Konstruktion des – modernen – Individuums. Der Mensch als Funktionsträger hat einen disziplinierten Körper; er beherrscht sich selbst. Das moderne Individuum ist das Ergebnis einer Sozialdisziplinierung, die vor allem durch die Aufzwingung körperlicher Verhaltenweisen gekennzeichnet ist (vgl. Honneth 2003). Die Verfertigung von Individuen erfolgt durch Fremddisziplin, die zur Selbstdisziplin anleitet. Die Disziplinen setzen sich in der modernen Gesellschaft als Techniken durch, die nicht nur „das Ordnen menschlicher Vielfältigkeiten sicherstellen“ (Foucault 1976b: 279f.), sondern bei möglichst geringen Kosten eine größtmögliche gesellschaftliche Wirkung und ökonomische Effektivität entfalten sollen. Mit anderen Worten: Sie steigert die Produktivität und Leistungsfähigkeit aller Apparate und Systeme. Disziplinierung wird zur allgemeinen Technologie und zentralen Form der Vergesellschaftung (vgl. Treiber/Steinert 1980: 90). Foucaults Typus der Disziplinarmacht bewirkt nicht nur, dass Macht als dezentralisierte, sondern vor allem, dass Tiefenschichten sozialer Macht in den Blick geraten. Vor allem aber bedeutet es, dass Macht, nicht verstanden als Repression oder Unterdrückung, 3

Foucaults Analyse der Disziplinargesellschaft liest sich als ein Stück „Genealogie der modernen Seele“ (Foucault 1976b: 41), in der er der „Körperlichkeit von Machtbeziehungen bis in ihre psychische Materialität“ (Lemke 1995: 32) nachgeht.

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sondern als Prozess der Unterwerfung von Individuen unter ein gesellschaftsund subjektkonstitutives Netzwerk sozialer Regeln zu verstehen ist. Sie besteht in wiederholten Formen der disziplinierten Einübung, die in der Aufzwingung körperlicher Verhaltensweisen eingeübt und als psychophysischer Habitus vollständig zu übernehmen gelernt wird (vgl. Honneth 2003: 20). Mit dem Typus der Disziplinarmacht, den Foucault paradigmatisch im Überwachungsprinzip und Machtmechanismus des Panopticons vermutet, und mit der Formierung der Disziplinargesellschaft stellt Foucault ein elaboriertes Machtsystem vor, das an die Stelle eines totalitären Machtprinzips des Königs oder Diktators tritt. Es beruht auf der gegenseitigen Überwachung und Kontrolle aller Mitglieder der Gesellschaft. Dessen „dunkle Seite“ bildet allerdings, so Foucault, „die Entwicklung und Verallgemeinerung der Disziplinaranlagen“ (Foucault 1976b: 285). Sie garantieren als „Unterbau“ von Freiheit und Gleichheit die Unterwerfung der Kräfte und der Körper unter die körperlichen Disziplinen (ebd.). Die Disziplin richtet sich gegen die Massenphänomene und -bewegungen und löst sie in „kalkulierte Verteilungen“ auf; sie bewältigt die Kräfte, „die sich mit der Bildung einer organisierten Vielfalt formieren“ und neutralisiert die Wirkungen einer Gegenmacht, „die der beherrschenden Macht Widerstand entgegensetzen: Unruhen, Aufstände, spontane Organisationen, Zusammenschlüsse, alle Formen horizontaler Verbindung“ (ebd.: 282). Beschreibbar sind diese als Mechanismen der individualisierenden Kontrolle durch Vereinzelung, Fixierung der Besonderheiten des Einzelnen und dessen Einordnung in ein System von Unterschieden. Sie konstituieren die „Macht der Norm“, die sich als Gesetz moderner Gesellschaften „gegen das unkontrollierte Verschwinden von Individuen, gegen ihr diffuses Herumschweifen“ richtet (ebd.: 183), letztlich also gegen die unkontrollierte Ansammlung der „Massen“ und ihre gefährliche Materialität. Mit der „Verhinderung der Vermassung“ (Link 1997: 135) Hand in Hand gehen der Zwang zur Einhaltung einer Konformität und die Etablierung eines standardisierten Verhaltens. Sie zielen auf Nutzbarmachung individueller Unterschiede, die aufeinander abgestimmt und gleichzeitig in ein System von Normalitätsgraden eingetragen werden (vgl. Foucault 1976b: 237f.). Foucaults regulativer Machttypus führt zu konzeptionellen Transformationen im Dreieck Macht – Wissen – Subjekt. Über die Dezentralisierung von Macht und ihre Tiefendimensionen hinaus hat auch das Wissen nun, neben seiner epistemischen Gestalt, einen gesellschaftstheoretischen Ort; es ist immanenter Bestandteil sozial eingeübter Regeln, die den Typ der gesellschaftlichen Machtordnung festlegen (vgl. Honneth 2003: 22). Zentral ist der Materialismus des Wissens und der Macht(ordnung) bei Foucault: Wissen und Macht besitzen eine physische Ausdehnung: Wissen nimmt nicht nur in den Architekturen und Kommunikationsmedien materiell-körperliche Gestalt an, sondern auch die Subjektwerdung ist geradezu verwiesen auf die Materiali349

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sierung sozialer Regeln: Die Einübung in ein soziales Regelwerk geschieht unter physischem Druck. Das impliziert die physische Ausdehnung sozialer Regeln, die im Körper materielle Gestalt annehmen. Jede Einübung in soziale Regeln und jede Erzeugung von Typen sozialer Individualität besitzt ein unverrückbares Stück materiellen Zwangs, weil es, wenn nicht der handgreiflichen Disziplinierung, so doch der physischen Präsenz verräumlichter ‚Gewalt‘ bedarf, um Menschen in ein entsprechendes Netzwerk sozialer Regeln einzuüben (vgl. ebd.: 24). Über diese Einübung in ein Netzwerk sozialer Regeln erhellen sich aber nicht nur Anpassungsleistungen des Individuums, sondern auch Formen der Subjektwerdung. Mit dem Zugriff des Wissens und der Macht auf die Kräfte des einzelnen Körpers entsteht eine Technologie, die sich in der Produktion von Individuen und Körpern als komplexes Geflecht von Fremd- und Selbstführung ausweist. Nun geht es um einen Vergesellschaftungsmodus, der nicht nur über Normierung und Sozialdisziplinierung einzelner Individuen, sondern über die Normalisierung sozialer Gruppierungen und ganzer Bevölkerungen soziale Integration garantiert. Dabei werden Praktiken der Fremdführung, statistische Vorgaben und Wissensformen mit Selbsttechniken und Technologien der Selbstführung in wechselseitiger Durchdringung miteinander verzahnt. Regulativ des Individuums wird nun das Leben der anderen; mit ihm wird das eigene Leben abgeglichen. Im Horizont des ‚Durchschnittsbegehrens‘ der anderen findet das Individuelle, Außergewöhnliche seine Grenze, aber auch seinen Maßstab.

Exkurs: Das Phantasma des zerstückelten und perfekten Körpers Das Subjekt hat keine authentische Körpererfahrung. Es gewinnt Aufschluss über sich und seinen Körper von seinem exzentrischen Spiegelbild im Blick des/der Anderen, im Bild des Mediums. Die Beobachtung durch andere, die sich zur Selbstbeobachtung steigert, wird zum konstitutiven Medium des – sozialen – Seins. Dabei hat der Spiegel, das Medium, der Blick der Anderen, wie Lacan deutlich macht, eine gleichsam „orthopädische Funktion“ (Lacan 1996: 67). Im Spiegel und im Blick des anderen reflektiert sich der „zerstückelte Körper“ nicht in seiner chaotischen Gestalt, die in einzelne Glieder, Partialzonen und Sinnesorgane zerfällt, sondern als Idealkonstruktion. Der Blick wird zum wichtigsten Medium, die eigene Unvollständigkeit und Unvollkommenheit zu verdecken, ja, er wird zum Existenzmedium von Körper und Subjekt. Der Ort des Anderen wird zum primären Medium, über das sich das Subjekt seiner – körperlichen í Existenz versichert. Die primäre Erfahrung des 350

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Subjekts erfolgt also durch ein Außen; das Subjekt ist zunächst im Blick, im Spiegel und im Medium lokalisiert. Der Körper ist, in welcher Gestalt auch immer, der Ort und das Medium, an dem und über das sich Ordnung und Struktur des Subjekts herstellen. Vom Körperbild geht die Gewissheit aus, dass das Subjekt (fort-)existiert, es symbolisiert die Präsenz des Subjekts. Das heißt: Das Verhältnis zum eigenen Körper bildet den unhintergehbaren Bezugspunkt einer Subjektbildung, die sich als unabschließbares Projekt gestaltet. Der Körper ist als primärer Ort der Subjektbildung nicht das authentische Zentrum, sondern als Körperbild eine – immer unvollständige – Konstruktion, über die das Subjekt Zugang zu sich findet. Der reale Körper bildet, ebenso wie das über ihn eingesetzte Subjekt, immer nur Projektionen des in medialen Apparaturen Gespiegelten. Im Blick dieser ‚Apparaturen‘ konstituiert sich das Körpersubjekt, unter dem Eindruck seiner Einheit und Vollkommenheit, als perfekte Idealkonstruktion. Körper und Subjekt bilden so die Signifikanten für die Apparatur und sie repräsentieren zugleich auch deren Produkt, das Bild. In ihm spiegeln sich Körper und Subjekt als Idealbild. Begründet in „spiegelartigen Anordnungen“, generiert sich das Subjekt der Spiegelerfahrung also auf einer imaginären Basis, der Illusion eines Bildes, das als Selbstbildnis fungiert. Das Subjekt wird selbst zum Symbol, dessen Botschaft es in den (Augen der) anderen zu entziffern sucht. Ausgehend von einem zerstückelten Bild des Körpers, mündet es in einer gleichsam ‚orthopädischen‘, idealisierten Form, in dessen Hintergrund jedoch das unvollständige Bild des Körpers erhalten bleibt. Es ist zuständig für die Angst eines von Desintegration bedrohten Individuums.

Sehen und Gesehenwerden: Sozial- und Selbsttechnologien des Körpers Panoptische Macht zwingt dem Subjekt radikal Sichtbarkeit ‚auf dem Laufsteg der Gesellschaft‘ auf. Technisch-mediale Apparaturen bilden nun Beobachtungs- und Kontrollinstanzen, vor allem aber konstitutives Medium und Spiegel der Subjektivierung. Das Subjekt konstituiert sich als eines, das sich seiner im Feld der Sichtbarkeit, im Blick des Anderen, der Medien versichert. „Es genügt, dass sich jeder in einem Panoptikum beobachtet fühlt. Da niemand weiß, wann er wirklich, d.h. aktualiter gesehen wird, verhält er sich immer so, als sei dies der Fall“ (Schaub 2005: 113). Über die Visualisierung des Sozialen am Körper konstituiert sich eine am Blick der Anderen ausgerichtete, gleichsam ‚außengeleitete‘, Subjektivität, die ihre Position im sozialen Raum permanent über Antennen und Spiegel mit anderen abgleicht (vgl. Riesman et al. 1958; Bublitz 2005: 52f. und De Marinis 2000). Sehen und Gesehenwerden bilden die Bedingung einer auf flexible Strategien der Selbstadjustierung 351

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abgestellten eigenen Existenz í und der der anderen. Insofern der Blick und das Medium konstitutiv sind für derart vergesellschaftete Körper und Subjekte, entspricht der panoptischen Architektur und dem alles durchdringenden Blick auch der Wunsch, gesehen zu werden (vgl. Papilloud 2000). Er realisiert sich sowohl in der Transparenz sozialer Räume, als auch in situativ flexiblen Strategien der Selbstmodulation (vgl. Deleuze 1993). Aber jetzt gerät nicht nur der individuelle Körper, sondern das gesamte Leben in den Blick. Jetzt werden alle Kräfte mobilisiert, mit denen das Selbst sich selbst konstruiert und modifiziert. Dadurch ergibt sich eine Beziehung zwischen Fremd- und Selbstkonstitution, durch die Prozesse der Selbstproduktion und Selbstführung mit solchen Techniken gekoppelt werden, die der globalen Menschenführung im Sinne der Bevölkerungsregulierung dienen. Hier geht es nicht primär um Unterdrückung, sondern um die Erfindung und Förderung von Selbsttechnologien, die an Regulierungstechnologien des gesamten Gesellschaftskörpers gekoppelt werden können und die Individuen auf neue Art und Weise zugleich individualisiert und homogenisiert, sie vereinzelt und zugleich in die Gesellschaft integriert. Panoptische Macht wirkt nun nicht nur als Mechanismus, mit dem die Mikrophysik der Macht, die bis ins Körperinnere vordringt, diffuse Konglomerate von Körpern, in Einzelteile zerlegt, zu ‚Machtmaschinen‘ zusammensetzt. Sie überschreitet die Statik des Mechanismus, indem sie eine Eigendynamik entwickelt, die zur Selbststeigerung fähig ist. Sie ersetzt äußeren Zwang durch Selbstsorge, an vorgegebenen Normen orientierte soziale Kontrolle durch intersubjektive Regulierungstechnologien und disziplinär kontrollierende Macht durch eine ‚natürliche‘ Wachsamkeit gegenüber organischen Zuständen, Ungleichgewichten und Anomalien. Zugleich wandelt sich die panoptische Struktur der Beobachtungs- und Kontrollmacht zur Dynamik einer flexiblen Struktur. Panoptische Macht weitet sich zu Prozessen der zirkulären Selbststeuerung und -kontrolle aus, in denen das Subjekt immer schon mit dem – imaginierten – Blick der Anderen zusammengeschlossen ist. In der permanenten Selbstbeobachtung der eigenen Existenz und ihrer Ausrichtung an anderen ist das Subjekt aber vor allem auf den Einsatz des Körpers und seine öffentliche Präsenz und Darstellung verwiesen. Der Körper ist das zentrale und sichtbare Medium seiner unablässigen ‚Selbsterfindung‘, in dem sich Sozial- und Selbsttechnologien zu einem „Gesamtkunstwerk Ich“ (Beck 1998) verschränken. Er avanciert in der Verkörperung individualisierter Existenz- und Lebensformen zum zentralen expressiven Medium und ästhetischen Stilmittel, mit dem sich die Gesellschaft immer wieder ‚aufführt‘ (vgl. Gebauer et al. 2004). Eingebettet in eine künstliche Anordnung wird der Körper aber auch zum í gesellschaftlich produzierten í Ausdrucksmittel des ‚Authentischen‘ und ‚Natürlichen‘. Das ‚authentische‘ Selbst gestaltet sich am Leitfaden des Körpers. Es erweist sich als Effekt performativer, inszenato352

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rischer Praktiken und unterliegt einer permanenten Vergewisserung dessen, was als ‚echt‘ gilt. Die ‚Authentizität‘ kann daher nicht zurückgeführt werden auf einen ‚wahren‘ Kern des Selbst, sondern ist Effekt einer ‚theatralen‘ Inszenierung und ihrer Glaubwürdigkeit. ‚Authentizität‘ und ‚Echtheit‘ sind nicht der Gegenpol zur künstlich-theatralischen Inszenierung, sondern, was als authentisch gilt, ist immer schon in performativen Strategien der Selbst(er)findung des Subjekts und im Gelingen des performativen Aktes begründet (vgl. Klein/Friedrich 2003), der sich, körperlich präsentiert, nur in der Reziprozität der Perspektiven von Selbst und Anderen sicher sein kann, ‚authentisch‘ zu wirken. In der körperlichen Selbstdemonstration des Subjekts und in ritualisierten Formen körperlicher Selbstinszenierung realisiert sich eine gesellschaftliche Beziehung auf das Subjekt, das sich in der öffentlichen Manifestation des Selbst als solches erst ausweist. Die Beziehung zu sich besteht in der öffentlich und im Blick des Anderen inszenierten ‚Selbst(er)findung‘. In der Darstellung des Körperlichen im Raum des Sichtbaren zeigt sich daher weniger eine erzwungene Praxis im Dienste einer – medialen und sozialen – Ordnungsmacht, als vielmehr eine veränderte Praxis der Selbstkonstitution (vgl. Butler 2003: 118f.). Sie verschränkt sich auf demonstrative Weise mit dem Körper, indem sie ihn als auf Wirkung bedachten, wohlgeformten und ästhetisch gestylten Körper ins Spiel bringt.

Selbstbeobachtung: Der nach innen gewendete, i m a g i n i e r t e B l i c k d e r An d e r e n Dabei konstituiert sich das Subjekt im Fokus des í medial konstruierten í Blicks immer schon im Spiegel eines verallgemeinerten Anderen, dessen Perspektive es in die einer gesteigerten Selbstbeobachtung übersetzt. Der nach innen gewendete Blick, der das Medium und den Anderen als Beobachter bloß imaginiert, wird zum Bestandteil seiner inneren Disposition. Aber das Subjekt wird nicht nur zu einem dauernden Beobachter der Wirksamkeit seiner Handlungsstrategien und Interaktionen, sondern es ergeben sich folgenreiche soziale Konsequenzen: Der nach innen gewendete Blick der Anderen unterwirft das Individuum nicht nur einer Dynamisierung seiner Erfahrungsund Begehrenshorizonte, sondern damit zugleich ihrer Normalisierung, ihrer Angleichung an die Vielzahl. In der kommunikativen, reziproken Ausrichtung an anderen unterliegt Subjektivierung im Medium ihrer Körperlichkeit einer gesellschaftlich regulierten Normalisierungsdynamik. Flexible Normen bilden das Medium, durch das hindurch das Individuum sich selbst reguliert. Im Blick auf die anderen konstituiert sich das individualisierte Subjekt als eines, das sich in einem 353

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Normalitätsfeld selbst verortet. Im Blick auf sich selbst mit dem – alles durchdringenden panoptischen Blick der Medien, der Anderen – zusammengeschlossen, erweist sich sein nach innen gewendeter Blick als der auf das Individuum gerichtete, imaginierte Blick der Anderen. Immer mit dem Blick des verallgemeinerten Anderen zusammengeschlossen, bildet das Individuum selbst zugleich die selbstregulative, verändernde Instanz und verändertes Objekt von (Selbst-)Normalisierungsprozessen. Dabei orientiert die körperliche Präsenz des Subjekts sich nicht an vorgegebenen Normen, sondern konstituiert selbst Normalität, indem es sich in seinen expressiven, körperlichen Darstellungsweisen selbst normalisiert. Der Körper wird zum Zeichen dieses Normalisierungsprozesses nach dem Muster ‚alle gleich, jeder anders‘. In der Ausrichtung aller an allen wird Individualität am Körper sichtbar als eine, die standardisierten Mustern folgt – und sich dennoch abhebt. Der Körper ist also nicht die schlichte Verkörperung sozialer Normen, die auf dem Hintergrund eines normativen Gerüsts entzifferbar wären, sondern gewissermaßen selbst kreativer Akteur im Prozess der Normalisierung. Hervorragendes Merkmal dieser Form von Subjektivierung ist, dass das Individuum die eigene Position mit der imaginierten Position der anderen vergleicht und sich selbst in einer Normalitätszone einordnet. Die bindende Kraft sozialer Integration wird durch Ordnungsschemata gesichert, die, das Subjekt überschreitend, unmittelbar in es eingeschrieben sind und es über flexible Taktiken der „Selbst-Normalisierung“ (vgl. Link 1997: 80) in marktförmig organisierte Anschlussfähigkeit umsetzt. Das Individuum tritt dann, so scheint es, nur noch als statistische Messvariable in Erscheinung; es formt sich nach der Masse als technischer Apparatur. Gleichzeitig aber trägt es durch seine ‚Selbst-Adjustierung‘ in einem dynamischen Modell sich permanent verschiebender Normalitätszonen nicht nur zur Stabilisierung, sondern auch zur Verschiebung der Normalitätsmatrix bei. Damit verlagern sich aber auch die Mechanismen sozialer Kontrolle in das Individuum selbst. Das Wissen um Normalität bleibt nicht nur den Orten institutionalisierter Funktionsstätten verhaftet, sondern es schreibt sich in die Wirklichkeitskonstruktion der Individuen ein. Normalität arbeitet als Kontrollinstanz im Einzelnen selbst, um von dort aus den eigenen und fremden Tätigkeitsbereich zu überwachen und zu kontrollieren. Während die Disziplinierung, einer relativ abgesteckten, geometrischen und quantitativen Logik folgend, die Verfertigung von Individuen auf deren Einschließung in Institutionen beschränkt, ändert sich dieser Mechanismus in Kontroll- und Normalisierungsgesellschaften grundlegend: Es geht um die vollständige Vergesellschaftung der Individuen, auch ihrer organischen und individuellen Kräfte. Die erfolgreiche Produktion als Disziplinarindividuen bereits vorausgesetzt, greifen die Individuen nun selbst in die Kontrolle und Gestaltung ihres Selbst ein. Damit werden Indivi354

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duen zu Elementen eines Systems, das eine durch Anpassung an soziale Normen konstituierte Individualität ersetzt durch eine auf ständige Selbstveränderung des Individuums und der Norm basierende. Konformität des Einzelnen wird nun nicht mehr durch äußeren Zwang gesichert. Vielmehr bilden die Handlungen und Wünsche der anderen die Quelle flexibler Steuerungsmechanismen des Einzelnen. Dabei bildet einzig der Vorgang der Steuerung selbst das gleich bleibende Moment der Subjektegulierung. Verinnerlicht werden nicht fest vorgegebene, normative Verhaltensmuster, sondern verinnerlicht wird der Blick der anderen. Das Medium als Steuerungs- und Beobachtungsapparatur wird zum Bestandteil des Selbstverhältnisses der Individuen. An die Stelle ‚kulturell geprägter Einförmigkeit‘ und an die Stelle der Sicherheit einer vorgegebenen, individuell nur nachzuvollziehenden Ordnung, die jedem seinen Platz zuweist und die Grenzen zwischen Bekannten und Fremden klar markiert, tritt eine gleichsam aufnahmefähige Apparatur, die immer auf Empfang und immer auf die anderen, auch diejenigen, die sich dem unmittelbaren Blick entziehen, ausgerichtet ist. Dieser Steuerungsvorgang ersetzt die Orientierung an verinnerlichten Leitbildern und Prinzipien. Die Reziprozität der Perspektiven, die anderen immer im Blick zu haben und immer im Blick der anderen zu sein, gewährleistet, dass nicht nur der Einzelne sich nach den anderen richtet, sondern sich dessen gewiss ist, auch von den anderen gesehen zu werden. Hier wirkt soziale Macht als verdeckter Automatismus von Technologien, in deren Blick das Subjekt sich konstituiert als eines, dessen Begehren nicht nur darauf ausgerichtet ist, von den anderen gesehen zu werden, sondern das sich im verallgemeinerten Anderen wieder erkennt und diesen zugleich als Steuerungsregulativ verinnerlicht hat. Die Masse der anderen bildet – in Korrespondenz zu technisch-medialen Apparaturen – eine sozio-technische Anordnung, die im Individuum als anonyme, reale oder bloß imaginierte Beobachtungs- und Kontrollapparatur des Individuums fungiert. Sie wird zum inneren Maßstab, an dem sich das Individuum im individuellen Abgleich mit anderen, immer in unbewusster Kommunikation mit dem verallgemeinerten Anderen und in permanenter (Selbst-) Vergewisserung dessen, was ‚angesagt‘ ist, ausrichtet. Dieser Maßstab bildet den ‚Rohstoff‘ für die Konstitutionsprinzipien eines Subjekts. Damit wird die Masse zum Steuerungsmedium sozialer und individueller Normalität. Sie verändert sich von der physischen Versammlung an einem Ort, die Foucault als „gefährliche Anhäufung“ (Foucault 1976b: 183) apostrophiert, zur Beobachtungs- und Kontrollinstanz in den Individuen, die immer schon in medial organisierten Blickrastern angeordnet sind. Der ehemals ekstatische Kollektivkörper, der sich in der räumlichen Verdichtung seiner spezifischen Körperlichkeit versichert und sich als zusammenströmendes und losbrechendes Kollektivwesen erlebt, wird abgelöst von 355

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abstrakt-anonymen Strukturen, die als vom Individuum immer schon antizipierte Steuerungs- und Regulationsmedien wirksam werden und als mediale Effekte das sich selbst und seinen Körper beobachtende Subjekt hervorbringt. Durch das Medium einer abstrakten ‚Masse‘ gefiltert, werden die vereinzelten Individuen zu Voyeuren ihrer eigenen Existenz und unterliegen der reflexiv im Medium des Blicks auf ihr Inneres gerichteten (Selbst-)Kontrolle, die sich als ständige Selbstprüfung ausweist.4 Die ‚Masse‘ bildet dann in ihrer organisierten Vereinzelung den Rohstoff eines permanenten, medial gesteuerten Selbstexperiments, in dem es um Selbstführung geht. Die physisch massierte Masse löst sich in Ströme individualisierter Einzelner auf, die die Räume zeitweise durchqueren und durchstreifen, sich in ihnen aber nicht aufhalten und in ihnen verweilen. In diesen, für den überwachenden Blick vollständig transparenten Räumen ist jeder sichtbar. Einem anonymen Blick ausgesetzt, der sich vom Ort des Sehens nicht einsehen, sondern nur imaginär antizipieren lässt, richten sich die Individuen im Medium des Blicks auf sich selbst (vgl. auch Bublitz/Spreen 2003). Das bedeutet nicht nur, dass das Individuum sich immer schon im Spiegel eines verallgemeinerten Gegenübers wirksam zu inszenieren trachtet, sondern dass es selbst zu einem dauernden Beobachter seiner eigenen Inszenierungsund Marketingstrategien wird, die der kontinuierlichen Bewertung und Kontrolle durch das sich selbst beobachtende Individuum sowie durch die Anderen unterworfen sind.

Schluss: Umbauten der Körperarchitektur Das (post)moderne Selbst konstituiert sich körperlich und ist am Ort des Körpers sichtbar. Es thematisiert sich mittels des Körperausdrucks: ‚Wie sehe ich aus?‘ ‚Wie stelle ich mich am vorteilhaftesten dar, wie inszeniere ich mich am besten?‘ ‚Wie wirke ich auf die anderen?‘ Mehr denn je ist der Mensch als körperliches Wesen gefragt, und zwar weniger als reine Arbeits- und Produktivkraft denn als Ressource einer hybriden Identität, die an Formen der Selbstdarstellung und an performative Umbauten von Körper und Selbst gebunden ist. Diese beziehen sich auf einen ‚expressiven Individualismus‘, dessen Elemente theatralische Ausdrucksformen der Darbietung und Präsenz, des ‚Styling‘ und der ‚Performance‘ bilden. Die kulturkritische Sicht, die den Körperboom als Verfallserscheinung eines bewussten, autonom und willentlich handelnden Subjekts deklariert, greift daher zu kurz. Sie übersieht, dass 4

An die Stelle von Körpererfahrungen treten neben die medientechnisch organisierte Menge der Vielen massenmediale Symbole und Programme, die stellvertretend den Platz des Kollektivkörpers einnehmen und das vereinzelte Individuum steuern (Sloterdijk 2000).

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der Körper zur zentralen Quelle und Schaltstelle eines Subjekts geworden ist, das sich der Lenkung durch ein normierendes Geflecht sozialer Regeln gerade dadurch entzieht, dass es sich selbst als gestaltbares Objekt begreift und sich dem Projekt einer bsthetisierung der eigenen Existenz verschreibt. Im Körper verschränken sich Fremdführung und Selbstführung, ohne sich auf eine Disziplinarstruktur zu beziehen. Die Vielseitigkeit des Individuums und Vervielfältigung der Lebensstile zeigt sich am Körper. Der Körper wird zur Manifestation eines in ständigem Umbau begriffenen Subjekts, das sich in wechselnden Selbstbildern und immer neu ‚erfundenen‘ Identitäten spiegelt. Die Gegenwartsgesellschaft besteht ja aus durchaus heterogenen Körperkulturen, denen gemeinsam ist, dass sie den Körper, dessen Profil ständig bedroht ist und daher bewahrt und gesichert werden muss, als ‚Baustelle‘ verstehen. Seine Konturierung wird zum Halt einer schweifenden Subjektivität, die sich seiner aus den Tiefen der Organe, die technisch – mithilfe von Mess- und Fitnessgeräten í decodiert werden, versichert (vgl. Rittner/Mrazek 1986a: 58). Der neue Körper ist ein individualisierter Körper, der nicht nur ein intakter und gesunder, sondern ein sportlicher und wohlgeformter Körper ist, der in ästhetischer Öffentlichkeitsarbeit das Glück, das aus dem Körper kommt, zur Schau stellt. Entsprechend ist er nicht nur ‚visuelle Visitenkarte‘ und Mittel der Distinktion, mehr noch, er ist Glücksträger. Die Visualisierung des Glücks erfolgt am Körper, das mit diesem körperlich messbar wird. In Effekten (der Reduktion des Fettanteils, der Muskel-Definition) und Spiegeln eingefangen, die den Doppelcharakter von Arbeitsgeräten (der Selbstkontrolle) und ästhetischen Organen bekommen, wird er zum Instrument und zur ästhetischen Oberfläche einer Sicherheitsgesellschaft, die das Risiko im (Gesellschafts-)Körper trägt, sich zugleich aber des Körpers als ‚Joker‘ auf der Suche nach neuen Sicherheiten vergewissert. Diese Sicherheit sucht sich das konsumierende Individuum nicht nur im eigenen, sondern unter anderem auch im Warenkörper. Die Warenästhetik spielt mit der Angst eines von Desintegration bedrohten Individuums: Unablässig spiegelt sich das Individuum und seinen Körper in einer Vielzahl warenästhetischer Oberflächen, in idealisierten, perfekt konturierten und gestylten Model(l)körpern, die dem realen Körper als Projektionsfolien dienen und Vollkommenheit verheißen. Zugleich aber wird der reale Körper von der Schönheitsindustrie wieder in einen ‚zerstückelten‘, mangelhaften Körper verwandelt, der, in einzelne Körperteile zerlegt, zur Mangelerscheinung und damit nicht nur zum Gegenstand eines performativen Begehrens nach Vervollkommnung und Idealisierung, sondern zum ständig erneuerbaren Investitionsobjekt wird. Das Begehren nach körperlicher Schönheit wird marktförmig verwaltet. Es unterliegt dem Teufelskreis eines Mehr-Begehrens, das sich warenökonomisch realisiert. Der Wiedereinführung des ‚zerstückelten Körpers‘ aber entspricht seine visuelle Anordnung zum ‚reinen‘ Bild, die ihn der 357

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technischen Optimierung und der Angleichung an ein künstliches Ideal unterwirft. Mediale Körper(vor)bilder dienen als Folien einer kontinuierlichen, unabschließbaren und daher marktgerechten Perfektionierung des Körpers, der geformt wird, bis er sich dem Spiegelbild des Model(l)s angleicht oder zumindest annähert. Es ist die Geburt des fraktalen Körpers, der zum künstlichen ‚Organ‘, zum Implantat wird, das der technischen Optimierung unterliegt. So wird er nach allen Regeln der Kunst immer wieder auseinander genommen, neu zusammengesetzt und ästhetisch immer wieder neu angeordnet. Es handelt sich um die Angleichung der Körper und der Subjekte an ein künstliches Ideal, das die Stelle des realen Körpers und des subjektiven Erfahrungsraums vollständig besetzt. Diese werden aus dem Körperbild ausgeblendet und mit Hilfe technischer Apparaturen und Anordnungen ausgeschaltet. Das Ideal einer künstlichen Schönheit und Perfektion des Körpers ist durch Installation technischer Apparaturen im Körper, durch Verschaltung von Biomasse und technischen Schemata einholbar. Es unterliegt nicht nur einem ständigen ‚Mehr-Begehren‘, sondern überdies einem Begehren nach ständiger optischer Kontrolle.5

Literatur Alkemeyer, Thomas (2004): „Bewegung und Gesellschaft. Zur ‚Verkörperung‘ des Sozialen und zur Formung des Selbst in Sport und populärer Kultur“. In: Bewegung. Sozial- und kulturwissenschaftliche Konzepte, hg. v. Gabriele Klein, Bielefeld, S. 43-78. Bath, Corinna/Bauer, Yvonne/Bock von Wülfingen, Bettina/Saupe, Angelika/Weber, Jutta (Hg.) (2005): Materialität denken. Studien zur technologischen Verkörperung – Hybride Artefakte, posthumane Körper, Bielefeld. Beck, Ulrich (1998): „Gesamtkunstwerk Ich“. In: Die Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500-2000, hg. v. Richard van Dülmen, Wien, S. 637-654. Benhabib, Seyla/Butler, Judith/Cornell, Drucilla/Fraser, Nancy (Hg.) (1993): Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart, Frankfurt a.M. Bourdieu, Pierre (1984³): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M. Bourdieu, Pierre (1987): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a.M. 5

Zum gesamten Komplex des ‚Mehr-Begehrens‘, seiner Verräumlichung in der Warenästhetik und seiner Normalisierung in der Waren- und Massenkultur vgl. ausführlich Bublitz (2005: 119f.).

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Hinw eise zu den Autorinnen und Autoren

Anke Abraham (geb. 1960), Prof. Dr. phil. habil., studierte Sportwissenschaft (Schwerpunkt Tanz), Germanistik, Soziologie und Pädagogik in Köln (Deutsche Sporthochschule Köln bzw. Universität zu Köln). Sie arbeitete von 19821992 als Tänzerin, Choreographin und Tanzpädagogin und war von 19922003 wissenschaftliche Mitarbeiterin bzw. wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Bildungssoziologie der PH Erfurt (ab 2001: Universität Erfurt). Seit 2004 ist sie Professorin am Institut für Sportwissenschaft und Motologie der Universität Marburg im Arbeitsbereich „Psychologie der Bewegung“. Ihre Schwerpunkte in Lehre und Forschung sind die sozialwissenschaftliche Biographieforschung, Geschlechterforschung sowie Soziologie und Psychologie des Körpers, der Bewegung und der ästhetischen Erfahrung. Jüngste Publikation: Der Körper im biographischen Kontext. Ein wissenssoziologischer Beitrag (Westdeutscher Verlag 2002). E-Mail-Kontakt: [email protected] Thomas Alkemeyer (geb. 1955), Prof. Dr. phil., studierte Germanistik, Sportwissenschaft, Philosophie und Erziehungswissenschaft in Berlin. Er ist Professor für Sportsoziologie an den Instituten für Sportwissenschaft und Soziologie an der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg. Seine derzeitigen Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind neben der Soziologie von Körper, Bewegung und Sport soziologische Praxistheorien sowie Habitus- und Bildungsforschung. Ausgewählte Veröffentlichungen: Treue zum Stil (zus. mit Gunter Gebauer, Bernhard Boschert, Uwe Flick und Robert Schmidt; transcript 2004); Aufs Spiel gesetzte Körper (zus. mit Bernhard Boschert, Robert Schmidt und Gunter Gebauer; UVK 2003); Körper, Kult und Politik (Campus 1996, 2000). E-Mail-Kontakt: [email protected]

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PERSPEKTIVEN DER SOZIOLOGIE DES KÖRPERS UND DES SPORTS

Stefan Beier (geb. 1965), Dipl. Soz., studierte nach seiner Ausbildung zum Bankkaufmann Philosophie, Volkswirtschaftslehre, Psychologie und Soziologie in Freiburg, Glasgow und Berlin und arbeitet derzeit als Gendertrainer bei genderWerk und als Männerbildner bei Mannege e.V., der Berliner Männerberatungsstelle. Seine momentanen Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Geschlechterverhältnisse, Soziale Veränderungsprozesse, Persönlichkeitsentwicklung und Gesundheitsförderung für Männer sowie Arbeiten mit Natur, Körper und Bewegung. Jüngste Publikationen: Macht Bewegung gesund? in: Geschlecht oder Gesund? Männer und Gesundheit. Schriften zur Geschlechterdemokratie Nr. 13 der Heinrich-Böll-Stiftung (2006, i.E.); Kritische Männerforschung. Neue Ansätze in der Geschlechtertheorie (Argument 2001). E-Mail-Kontakt: [email protected] Hannelore Bublitz (geb. 1947), Professorin für Soziologie an der Universität Paderborn. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Technologien des Subjekts, des Körpers und des Geschlechts, technisch-mediale Formen der Vergesellschaftung und Ökonomien der Massenkultur, Diskurstheorie und sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Zahlreiche Publikationen zur poststrukturalistischen Gesellschafts- und Geschlechtertheorie. Ausgewählte Veröffentlichungen: In der Zerstreuung organisiert. Paradoxien und Phantasmen der Massenkultur (transcript 2005); Diskurs (transcript 2003); Judith Butler zur Einführung (Junius 2002). E-Mail-Kontakt: [email protected] Nina Degele (geb. 1963), Studium der Soziologie, Psychologie, Politischen Wissenschaften und Philosophie in München und Frankfurt a.M., seit 2000 Professorin für Soziologie und Gender Studies an der Universität Freiburg. Forschungsschwerpunkte: Modernisierungstheorien, Soziologie der Geschlechterverhältnisse, Körpersoziologie, qualitative Methoden. Neueste Publikationen: Schmerz erinnern und Geschlecht vergessen, in: Freiburger Frauen Studien (i.V. 2007); Modernisierung. Eine Einführung (zus. mit Christian Dries; Fink: UTB 2005); Sich schön machen. Zur Soziologie von Geschlecht und Schönheitshandeln (VS-Verlag 2004). E-Mail-Kontakt: [email protected]

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HINWEISE ZU DEN AUTORINNEN UND AUTOREN

Elk Franke (geb. 1942), Prof. Dr., Studium der Geschichte, Soziologie, Philosophie und Sportwissenschaft in Mainz, Berlin und Karlsruhe, Promotion in Philosophie/Sportwissenschaft. 1980-1995 Professor für Sport und Gesellschaft, Universität Osnabrück, seit 1995 Professor für Sportpädagogik/Sportphilosophie an der HU Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Ethik und Ästhetik des Sports, Handlungstheorie, Bildungstheorie im Sport. Neuere Publikation: Elk Franke und Eva Bannmüller (Hg.) Ästhetische Bildung (hg. zus. mit Eva Bannmüller; Afra 2003). E-Mail-Kontakt: [email protected] Robert Gugutzer (geb. 1967), Dr. phil., studierte Soziologie, Psychologie und Politikwissenschaft in Tübingen und München und arbeitet zurzeit als wissenschaftlicher Angestellter an der Fakultät für Sportwissenschaft der TU München. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind Körper- und Sportsoziologie, Kultursoziologie, soziologische Theorie, sozialwissenschaftliche Identitätsforschung, Leibphänomenologie und qualitative Sozialforschung. Buchpublikationen: Soziologie des Körpers (transcript 2004), Leib, Körper und Identität. Eine phänomenologisch-soziologische Untersuchung personaler Identität (Westdeutscher Verlag 2002). E-Mail-Kontakt: [email protected] Melanie Haller (geb. 1971), Dipl.-Soz., studierte Soziologie, Philosophie, Literatur und Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg und arbeitet zurzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg im DFG-Projekt „Trans/nationale Identität und körperlich-sinnliche Erfahrung. Urbane Tanzkulturen aus Lateinamerika in europäischen Kontext. Das Beispiel Tango und Salsa“ unter der Leitung von Prof. Gabriele Klein. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kultursoziologie, Cultural Studies, Qualitative empirische Sozialforschung, Kritische Sozialtheorie (insbesondere Rassismustheorien, Ethnizität), Gouvernementalität und Theorien des Performativen. Aktuelle Publikation: Bewegtheit und Beweglichkeit. Subjektivität im Tango Argentino (zus. mit Gabriele Klein), in: Margrit Bischof/Claudia Feest/Claudia Rosiny (Hg.): E_motion. Jahrbuch Tanzforschung 16 (Lit 2006, i.E.) E-Mail-Kontakt: [email protected]

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PERSPEKTIVEN DER SOZIOLOGIE DES KÖRPERS UND DES SPORTS

Gabriele Klein (geb. 1957), Soziologin und Tanzwissenschaftlerin, Professorin an der Universität Hamburg (Lehrstuhl für Soziologie von Bewegung, Sport und Tanz), Direktorin des Instituts für urbane Bewegungskulturen, Leitung des MA-Studiengangs Performance Studies. Sie studierte Sozialwissenschaften, Geschichte, Sportwissenschaft und Pädagogik. Studium moderner Tanz und Tanzimprovisation. 1990 Promotion in Sozialwissenschaften, 1998 Habilitation in Soziologie. Sie lehrte an den Universitäten Bochum, Essen, Bern/Schweiz, SmithCollege/USA und am Mozarteum/Salzburg. Arbeits- und Forschungsfelder: Kultur- und Sozialtheorie von Körper und Bewegung, Tanz- und Performance-Theorie, Kultur- und Sozialgeschichte des Tanzes, städtische Bewegungskulturen und populäre Tanzkulturen, Jugend- und Poptheorie. Auswahl letzter Buchpublikationen: Performance. Positionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst (hg. zus. mit Wolfgang Sting; transcript 2005); Bewegung. Sozial- und kulturwissenschaftliche Konzepte (transcript 2004); Electronic Vibration. Pop Kultur Theorie (VS 2004, erstmals Rogner & Bernhard 1999). E-Mail-Kontakt: [email protected] Michael Meuser (geb. 1952), PD Dr. phil, studierte Erziehungswissenschaft, Soziologie und Politikwissenschaft an der Universität Bonn, habilitierte sich an der Universität Bremen. Er vertritt zurzeit zur Hälfte eine Professur für Soziologie an der Universität Duisburg-Essen. Seine Lehr- und Forschungsgebiete sind Soziologie der Geschlechterverhältnisse, Methoden qualitativer Sozialforschung, Soziologie des Körpers, Wissenssoziologie, politische Soziologie. Aktuelle Publikationen: FrauenMännerGeschlechterforschung. State of the Art (hg. zus. mit B. Aulenbacher u.a.; Westfälisches Dampfboot 2006, i.E.); Frauenkörper – Männerkörper. Somatische Kulturen der Geschlechterdifferenz, in: Soziologie des Körpers, hg. v. Markus Schroer (Suhrkamp 2005); Hauptbegriffe qualitativer Sozialforschung (hg. zus. mit Ralf Bohnsack, Winfried Marotzki; Leske und Budrich: UTB 2003). E-Mail-Kontakt: [email protected] Michael Ott (geb. 1964), Dr. phil., studierte Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Geschichte und Politikwissenschaft in Erlangen, Pisa und München und arbeitet derzeit als wissenschaftlicher Angestellter am Department für Germanistik, Komparatistik und Nordistik der LMU München. Seine Forschungsschwerpunkte sind die deutsche Literatur seit dem 18. Jahrhundert, insbesondere Kleist und das frühe 20. Jahrhundert, Drama, Lite-

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HINWEISE ZU DEN AUTORINNEN UND AUTOREN

ratur- und Kulturtheorie sowie die Kultur des Sports und des Alpinismus. Buchpublikationen: Das ungeschriebene Gesetz. Ehre und Geschlechterdifferenz in der deutschen Literatur um 1800 (Rombach 2001); SportsGeist. Dichter in Bewegung (zus. mit Elisabeth Tworek; Arche 2006). E-Mail-Kontakt: [email protected] Bero Rigauer (geb. 1934), Prof. Dr. rer. soc., studierte Soziologie und Sportwissenschaft (Universität Frankfurt/M.), 1968 Diplom in Soziologie. 1969 bis 1975 wissenschaftlicher Assistent mit dem Schwerpunkt Sportsoziologie am Institut für Sportwissenschaft der Universität Tübingen, dort 1977 Promotion mit einer soziologischen Untersuchung zum Leistungssport. 1975 bis 2000 Professur für Sportsoziologie am Institut für Sportwissenschaft der Universität Oldenburg, seit Sommersemester 2000 pensioniert, weiterhin tätig als Lehrbeauftragter (Sportsoziologie). Derzeitiger Forschungsschwerpunkt: feld-, figurations- und systemtheoretische Untersuchungen zur sozialen Dynamik von Sportspielen. Ausgewählte Publikationen: Sportsoziologie in Deutschland zwischen Sport, Sportwissenschaft und Soziologie, in: Barbara Orth/Thomas Schwietring/Johannes Weiß (Hg.), Soziologische Forschung: Stand und Perspektiven (Leske & Budrich 2003); Sportspiele: Die Konstruktion sozialer Dynamik – Feldbewegungen und Bewegungsfelder, in: Michael Sukale/Stefan Treitz (Hg.): Philosophie und Bewegung. Interdisziplinäre Betrachtungen (Lit 2004). E-Mail-Kontakt: [email protected] Robert Schmidt (geb. 1964), Dr. phil., Studium der Soziologie und der Theaterwissenschaften in Erlangen, New York und Berlin. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich 447 „Kulturen des Performativen“ an der Freien Universität Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Ethnografie von Arbeit und Technik, Qualitative Methoden in den Sozialwissenschaften, Soziologie des Körpers, Techniksoziologie, Sportsoziologie. Jüngste Publikationen: Pop-Sport-Kultur. Praxisformen körperlicher Aufführungen (UVK 2002); Treue zum Stil. Die aufgeführte Gesellschaft (zusammen mit Gunter Gebauer, Thomas Alkemeyer, Bernhard Boschert und Uwe Flick; transcript 2004); Kalkuliertes Risiko. Technik, Spiel und Sport an der Grenze (hg. zus. mit Gunter Gebauer et al.; Campus 2006). E-Mail-Kontakt: [email protected]

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BODY TURN.

PERSPEKTIVEN DER SOZIOLOGIE DES KÖRPERS UND DES SPORTS

Bernd Schulze (geb. 1969), PD Dr. phil., studierte Sportwissenschaft, Germanistik, Soziologie, Wirtschaftswissenschaft und Politikwissenschaft in Münster und arbeitet seit 2001 als wissenschaftlicher Assistent am Institut für Sportkultur und Weiterbildung der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Schwerpunkte in Lehre und Forschung: Organisationssoziologie, soziologische Systemtheorie, Kommunikationsberatung, Unterrichtsmethoden, Schulsportsysteme, interkulturelle Sportforschung und Evaluationsforschung. Jüngste Publikationen: Fußball in Geschichte und Gesellschaft (hg. zus. mit Michael Krüger; Czwalina 2006); Sportarten als soziale Systeme (Waxman 2005); Sport und Gesellschaft in Uruguay (Waxmann 2002). E-Mail-Kontakt: [email protected] Jürgen Schwier (geb. 1959), Dr. phil. habil., ist nach Tätigkeiten als wiss. Mitarbeiter und Oberassistent an den Universitäten Marburg, Oldenburg und Jena seit 2000 Professor für sozialwissenschaftliche Grundlagen des Sports am Institut für Sportwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen sowie Direktoriumsmitglied des dortigen Zentrums für Medien und Interaktivität. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind Sport, Medien und Kommunikation, Jugendliche Bewegungskulturen, Fanverhalten im Fußballsport, Semiotik des Sports, eLearning in der Sportwissenschaft. Jüngste Buchpublikationen: Medienfußball im europäischen Vergleich (hg. zus. mit Eggo Müller, Halem 2006); Wettbewerbsspiele. Die Inszenierung von Sport und Politik in den Medien (hg. zus. mit Claus Leggewie, Campus 2006); Die Ökonomie des Sports in den Medien (hg. zus. mit Thorsten Schauerte, Halem 2004). E-Mail-Kontakt: [email protected] Paula-Irene Villa (geb. 1968) studierte Sozialwissenschaften in Bochum und Buenos Aires und arbeitet derzeit als wissenschaftliche Assistentin am Institut für Soziologie und Sozialpsychologie der Universität Hannover. Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind soziologische Theorien, Gender Studies, Sozialisations- und Subjektkonzepte sowie Körper- und Kultursoziologie. Jüngere Veröffentlichungen: Images von Gewicht. Soziale Bewegungen, Queer Theorie und Kunst in den USA (zus. mit Lutz Hieber, transcript 2006); Sexy Bodies. Eine soziologische Reise durch den Geschlechtskörper (3. Auflage, Wiesbaden 2005); Scheitern – Ein produktives Konzept für die Sozialisationsforschung, in: Helga Bilden/Bettina Dausien (Hg.): Sozialisation und Geschlecht (Opladen 2006, i.E.). E-Mail-Kontakt: [email protected]

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Weitere Titel zum Thema »Körper« Petra Eisele, Elke Gaugele (Hg.) TechnoNaturen Zur Verschränkung von Design, Körper und Technologie Dezember 2006, ca. 250 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-451-4

Anne Waldschmidt, Werner Schneider (Hg.) Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld Dezember 2006, ca. 260 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-486-7

Gabriele Brandstetter, Gabriele Klein (Hg.) Bewegung in Übertragung Methoden der Tanzforschung Oktober 2006, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 28,80 €, ISBN: 3-89942-558-8

Franz Bockrath, Bernhard Boschert, Elk Franke (Hg.) Körperliche Erkenntnis Formen reflexiver Erfahrung Oktober 2006, ca. 250 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-227-9

Karl-Heinrich Bette, Uwe Schimank Die Dopingfalle Soziologische Betrachtungen

Gerald Siegmund Abwesenheit Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart April 2006, 504 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 3-89942-478-6

Antje Stache (Hg.) Das Harte und das Weiche Körper – Erfahrung – Konstruktion März 2006, 208 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 3-89942-428-X

Johann S. Ach, Arnd Pollmann (Hg.) no body is perfect Baumaßnahmen am menschlichen Körper. Bioethische und ästhetische Aufrisse Februar 2006, 358 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-427-1

Christa Brüstle, Nadia Ghattas, Clemens Risi, Sabine Schouten (Hg.) Aus dem Takt Rhythmus in Kunst, Kultur und Natur 2005, 342 Seiten, kart., mit DVD, 27,80 €, ISBN: 3-89942-292-9

Mai 2006, 276 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-537-5

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Weitere Titel zum Thema »Körper« Gabriele Alex, Sabine Klocke-Daffa (Hg.) Sex and the Body Ethnologische Perspektiven zu Sexualität, Körper und Geschlecht 2005, 156 Seiten, kart., 14,80 €, ISBN: 3-89942-282-1

Corinna Bath, Yvonne Bauer, Bettina Bock von Wülfingen, Angelika Saupe, Jutta Weber (Hg.) Materialität denken Studien zur technologischen Verkörperung – Hybride Artefakte, posthumane Körper

Heike Hartung (Hg.) Alter und Geschlecht Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s

2005, 222 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 3-89942-336-4

2005, 286 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-349-6

Jan Weisser Behinderung, Ungleichheit und Bildung Eine Theorie der Behinderung

Claudia Franziska Bruner KörperSpuren Zur Dekonstruktion von Körper und Behinderung in biografischen Erzählungen von Frauen

2005, 114 Seiten, kart., 12,80 €, ISBN: 3-89942-297-X

2005, 314 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-298-8

Marcus Termeer Verkörperungen des Waldes Eine Körper-, Geschlechterund Herrschaftsgeschichte 2005, 644 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 3-89942-388-7

Michael Cowan, Kai Marcel Sicks (Hg.) Leibhaftige Moderne Körper in Kunst und Massenmedien 1918 bis 1933 2005, 384 Seiten, kart., ca. 50 Abb., 27,80 €, ISBN: 3-89942-288-0

Mirjam Schaub, Stefanie Wenner (Hg.) Körper-Kräfte Diskurse der Macht über den Körper 2004, 190 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 3-89942-212-0

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Weitere Titel zum Thema »Körper« Monika Fikus, Volker Schürmann (Hg.) Die Sprache der Bewegung Sportwissenschaft als Kulturwissenschaft 2004, 142 Seiten, kart., 14,80 €, ISBN: 3-89942-261-9

Eva Erdmann (Hg.) Der komische Körper Szenen – Figuren – Formen 2003, 326 Seiten, kart., zahlr. SW-Abb., 25,80 €, ISBN: 3-89942-164-7

Robert Gugutzer Soziologie des Körpers 2004, 218 Seiten, kart., 14,80 €, ISBN: 3-89942-244-9

Gabriele Klein (Hg.) Bewegung Sozial- und kulturwissenschaftliche Konzepte 2004, 306 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-199-X

Gunter Gebauer, Thomas Alkemeyer, Bernhard Boschert, Uwe Flick, Robert Schmidt Treue zum Stil Die aufgeführte Gesellschaft 2004, 148 Seiten, kart., 12,80 €, ISBN: 3-89942-205-8

Karl-Heinrich Bette X-treme Zur Soziologie des Abenteuerund Risikosports 2004, 158 Seiten, kart., 14,80 €, ISBN: 3-89942-204-X

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de