Das Handeln der Systeme: Soziologie jenseits des Schismas von Handlungs- und Systemtheorie [1. Aufl.] 9783839415696

Die handlungstheoretische Fundierung der Soziologie ist durch die Systemtheorie Niklas Luhmanns zurückgewiesen worden: D

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German Pages 312 Year 2014

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Inhalt
1. Einleitung
2. Handlungstheorie und Semantikanalyse
2.1 Handlung: von der Übergangs- zur Überforderungssemantik?
2.2 Dimensionen der Analyse
3. Handlung und Handlungssemantik
3.1 Einleitung
3.2 Praktische Klugheit, sittliche Handlung, interessegeleiteter Tausch
3.2.1 Das ideengeschichtliche Erbe
3.2.2 Das teleologische Handeln als Konstruktionsleistung der guten Gesellschaft
3.2.3 Die „dramaturgische“ Handlung und die „Vergegenständlichung der Person“
3.2.4 Instrumentelles Handeln in der gemeinsamen Welt der Sachen
3.3 Handlung, Arbeit, Gesellschaftstheorie
3.3.1 Die materialistische Wendung der Handlung
3.3.2 Anthropologie der Handlung
3.3.3 Systemische Handlungstheorie
3.3.4 Handlung, Kommunikation, Praxis
3.4 Zusammenfassung
4. Die Handlung in der Systemtheorie
4.1 Einleitung
4.2 Luhmann als Aufklärer
4.2.1 Kritik am instrumentellen Handlungsbegriff
4.2.2 Kritik des interaktionsbezogenen Handlungsverständnisses
4.3 Luhmanns systemtheoretische Auflösung der Handlung
4.3.1 Soziale Systeme als Sinnhorizont des Handelns
4.3.2 Doppelte Kontingenz als Konstituens sozialer Ordnung
4.3.3 Autopoiesis sozialer Systeme im Rahmen von Medien, Kommunikation und Sprache
4.4 Die Kopplung von Kommunikation, Bewusstsein und Verhalten
4.4.1 Die Sprache
4.4.2 Verhalten, Wahrnehmung und Bewusstsein
4.4.3 Formselektion: Kommunikation
4.4.4 Hierarchie, Energie und Plastizität
4.5 Zusammenfassung
5. Das Handeln der Systeme
5.1 Einleitung
5.2 Die „oktopodeske“ Gesellschaftstheorie
5.2.1 Luhmanns Kritik an der Handlungslogik mit Blick auf Gesellschaftstheorie
5.2.2 Handlungstheoretische Positionen zu Luhmanns Kritik
5.3 System- und lebenswelttheoretische Konstitution von Sozialität
5.3.1 Pragma, Wirkwelt, Bewusstseinsspannung
5.3.2 Wahrnehmung, Wir-Beziehung und Kommunikation
5.3.3 Relevanzen und Typiken
5.3.4 Subjektiver und objektiver Sinn, Handeln
5.4 Handlung und pragmatisches Motiv in der kommunikativen Situation
5.4.1 Pragma und Kopplung
5.4.2 Pragmatisches Motiv, Sprache und Kommunikation
5.5 Handlungssemantik, soziale Systeme und alltägliche Lebensführung
5.5.1 Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien als Handlungssemantiken
5.5.2 Symbiotische Mechanismen und Trivialmaschinen
5.5.3 „Inviolate levels“: Handeln, Kultur und Alltag
5.6 Fazit
6. Resümee
Literatur
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Das Handeln der Systeme: Soziologie jenseits des Schismas von Handlungs- und Systemtheorie [1. Aufl.]
 9783839415696

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Matthias Klemm Das Handeln der Systeme

Matthias Klemm (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kultur, Kommunikation und Wissen im Kontext von Arbeit und Organisation.

Matthias Klemm

Das Handeln der Systeme Soziologie jenseits des Schismas von Handlungs- und Systemtheorie

Inaugural-Dissertation in der Philosophischen Fakultät und Fachbereich Theologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (2009) mit dem Titel: Handlung und Handlungssemantik im Rahmen der Selbsterzeugung sozialer Systeme.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Matthias Klemm Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1569-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1. Einleitung | 7 2. Handlungstheorie und Semantikanalyse | 21

2.1 Handlung: von der Übergangs- zur Überforderungssemantik? | 21 2.2 Dimensionen der Analyse | 34 3. Handlung und Handlungssemantik | 41 3.1 Einleitung | 41

3.2 Praktische Klugheit, sittliche Handlung, interessegeleiteter Tausch | 45 3.2.1 Das ideengeschichtliche Erbe | 45 3.2.2 Das teleologische Handeln als Konstruktionsleistung der guten Gesellschaft | 47 3.2.3 Die „dramaturgische“ Handlung und die „Vergegenständlichung der Person“ | 58 3.2.4 Instrumentelles Handeln in der gemeinsamen Welt der Sachen | 71 3.3 Handlung, Arbeit, Gesellschaftstheorie | 88 3.3.1 Die materialistische Wendung der Handlung | 88 3.3.2 Anthropologie der Handlung | 93 3.3.3 Systemische Handlungstheorie | 97 3.3.4 Handlung, Kommunikation, Praxis | 104 3.4 Zusammenfassung | 108 4. Die Handlung in der Systemtheorie | 113 4.1 Einleitung | 113 4.2 Luhmann als Aufklärer | 117

4.2.1 Kritik am instrumentellen Handlungsbegriff | 118 4.2.2 Kritik des interaktionsbezogenen Handlungsverständnisses | 126 4.3 Luhmanns systemtheoretische Auflösung der Handlung | 136 4.3.1 Soziale Systeme als Sinnhorizont des Handelns | 137 4.3.2 Doppelte Kontingenz als Konstituens sozialer Ordnung | 143

4.3.3 Autopoiesis sozialer Systeme im Rahmen von Medien, Kommunikation und Sprache | 156 4.4 Die Kopplung von Kommunikation, Bewusstsein und Verhalten | 166 4.4.1 Die Sprache | 170 4.4.2 Verhalten, Wahrnehmung und Bewusstsein | 175 4.4.3 Formselektion: Kommunikation | 181 4.4.4 Hierarchie, Energie und Plastizität | 186 4.5 Zusammenfassung | 191 5. Das Handeln der Systeme | 195 5.1 Einleitung | 195

5.2 Die „oktopodeske“ Gesellschaftstheorie | 199 5.2.1 Luhmanns Kritik an der Handlungslogik mit Blick auf Gesellschaftstheorie | 199 5.2.2 Handlungstheoretische Positionen zu Luhmanns Kritik | 203 5.3 System- und lebenswelttheoretische Konstitution von Sozialität | 210 5.3.1 Pragma, Wirkwelt, Bewusstseinsspannung | 211 5.3.2 Wahrnehmung, Wir-Beziehung und Kommunikation | 218 5.3.3 Relevanzen und Typiken | 225 5.3.4 Subjektiver und objektiver Sinn, Handeln | 235 5.4 Handlung und pragmatisches Motiv in der kommunikativen Situation | 240 5.4.1 Pragma und Kopplung | 242 5.4.2 Pragmatisches Motiv, Sprache und Kommunikation | 247 5.5 Handlungssemantik, soziale Systeme und alltägliche Lebensführung | 250 5.5.1 Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien als Handlungssemantiken | 251 5.5.2 Symbiotische Mechanismen und Trivialmaschinen | 260 5.5.3 „Inviolate levels“: Handeln, Kultur und Alltag | 264 5.6 Fazit | 271 6. Resümee | 275 Literatur | 283

1.

Einleitung „Was meinen wir überhaupt, wenn wir von Handeln und sozialem Handeln sprechen?“ (Behrmann 1978, S. 9)

Dem modernen Verständnis zufolge ist soziale Ordnung nicht Folge eines göttlichen Planes oder einer kosmischen Logik, sondern menschlichen Handelns. Dieses Verständnis liegt auch der modernen soziologischen Handlungstheorie zugrunde: Aufgabe der Soziologie sei es, so Max Weber, alle möglichen Formen kollektiver Gebilde, geistiger und sprachlicher Vorstellungen auf „verständliches Handeln, und das heißt ausnahmslos: auf Handeln der beteiligten Einzelmenschen, zu reduzieren.“ (Weber 1988, S. 439) Das hohe Maß an Übereinstimmung zwischen der gesellschaftlichen Vorstellung, Geschichte sei das Produkt des Handelns und der Strategie der Soziologie, soziale Ordnung auf das soziale Verhalten, auf das Handeln Einzelner, zurückzuführen, wirft eine Reihe von Fragen auf, die Gegenstand der folgenden Untersuchung sind. Soziologische Theoriebildung auf der Grundlage der Evidenz des individuellen Handelns ist mit mindestens drei ernsthaften Problemen verbunden: 1. „Verständliches Handeln“ ist eines, das nicht am Vollzug, sondern am Entwurf orientiert ist: Es folgt der überlegten Imagination eines durch Eingriff veränderten Zustandes im Verhältnis zur Unterlassung eines solchen Eingriffes. Überlegung setzt das Vermögen der Distanzierung vom eigenen Hier und Jetzt voraus, von der unmittelbaren Erfahrung also und die Kalkulation eines Dort und Dann, eine zeitliche und räumliche Transzendierung der unmittelbaren Situation (vgl. Luckmann 1991, S. 81ff.). Das Vermögen der Distanzierung und der Planung wird begleitet von der Annahme der

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Verantwortlichkeit für das eigene Handeln. Das so verstandene Handeln ist weder wissenschaftlich noch alltäglich direkt beobachtbar. Da weder ein Dann noch ein Dort „real“ in das Hier und Jetzt geholt werden können, ebenso wenig wie die Ziele des Handelns einfach „da“ sind, haben wir es mit „Gegenständen“ zu tun, die nicht der unmittelbaren Wahrnehmung entspringen. So einsichtig die Weber’sche These erscheint, alle soziale Ordnung ließe sich „letztlich“ auf die sinnhaften Verhaltensweisen der vielen Einzelnen in der Form sozialen Handelns zurückführen, so wenig ist sie „empirisch“ überprüfbar. 2. Handelnkönnen ist selbst voraussetzungsvoll und insofern weiter dekomponierbar. Dass überhaupt ein Bewusstsein von der Vorstellung ergriffen werden kann, es könne „in der Welt“ etwas bewirken, ist voraussetzungsvoll, die Handlung demnach ein „Substratgegenstand“ (Martens 2000, S. 272ff.), der nur im Sinngeschehen der sozialen Wirklichkeit vorkommen kann. Bedingungen, Mittel, Zwecke, Reichweiten und Grenzen des Handlungsvermögens werden demnach mit dem Erkenntnisstand und der Struktur der Gesellschaft variieren – und innerhalb der Gesellschaft je nach Typus sozialer Systeme, „in denen“ gehandelt wird. 3. Das „Grundgesetz des Alltags“, nämlich, „dass hier in der Selbsteinschätzung der Akteure im Prinzip jeder Handelnde kompetent und damit zugleich für seine Handlungen verantwortlich ist“, (Soeffner 1989, S. 13) kann zweifelsohne als soziale Tatsache beschrieben werden. Damit ist aber nicht geklärt, ob es sich um ein konstitutives Moment jedweder sozialer Systeme handelt oder um ein Wissenselement des gesellschaftlichen Wissensvorrats. Handelt es sich dabei um unseren primären und „direkten“ Weltzugang als Menschen oder wissen wir das „nur“ aus Erfahrung – Erfahrung im Rahmen des Aufwachsens in einer gesellschaftlich gestalteten Wirklichkeit, in der bestimmte Ereignisse als Handeln ausgegeben und einzelnen Handelnden zugerechnet werden? Die Zuschreibung von Handlungsfähigkeit, die Vorstellung, Wirklichkeit werde durch Menschen gemacht, mag ebenso gut ein Produkt der Kommunikation wie einer „ursprünglichen“ jederfrau und jedermann zugänglichen Evidenz des In-der-Welt-Seins sein. Es führt also kein direkter Weg zur Bestätigung dieses „Grundgesetzes“.

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Die neuere Systemtheorie Luhmann’scher Prägung vertritt vor diesem Hintergrund die These, die Vorstellung des Handlungsvermögens sei von einer Semantik der Handlung abgeleitet, die Folge gesellschaftlicher Evolution ist. Wäre dies der Fall, so läge ihr Zweck vornehmlich in der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung. Eine der Folgen einer solchen Semantik wäre es zwar, dass sich die an die gesellschaftlichen Entwicklungen angeschlossenen Individuen mit der Erwartung konfrontiert sähen, handlungsfähig zu sein. Aber die aus der Semantik entnommene Vorstellung, Gesellschaft manifestiere sich im Handeln als einer Art letzter (und sichtbarer) Wirklichkeit, müsste als eine operative – inhaltliche – Fiktion „darunter“ liegender kommunikativer Prozesse verstanden werden: Wir sehen nicht etwa Handlungen und ihre Resultate und müssen fragen, welchen Sinn die Handelnden mit diesen ihren Handlungen verbinden oder verbunden haben und schließen daraus auf die sozialen Bedingungen des Zustandekommens dieser Handlungsorientierungen (also auf die Handlungsprobleme, die sozial typisiert vorliegen). Vielmehr sehen wir auf einen Kommunikationsprozess, in dem von Handlung die Rede ist, und in dem mitthematisiert wird, dass die Handlungen Menschen mit Motiven, die in einer materialen Welt beheimatet sind, zugerechnet werden. Die Vorstellung spezifisch menschlicher Handlungsträgerschaft, wäre somit gesellschaftliches Wissenselement im Rahmen sozialer Ordnungsvorstellungen. Als solches würde es weniger auf ein spezifisch menschliches Vermögen verweisen, das ihn von anderen Lebensformen unterscheidet, sondern auf gesellschaftliche (Selbst-)Erkenntnis, deren Grundlage zu klären wäre. Wir fragen dann nach der Funktion dieser Fiktion und ihren semantischen Auskleidungen im Rahmen der Strukturen der Kommunikation und benötigen, um so fragen zu können, eine neue und andere Konstitutionstheorie des Verhältnisses von Kommunikation, Bewusstsein und Leben jenseits des Handlungspostulats. Für die Soziologie steht also die Frage im Raum, ob der Rekurs auf das Handeln auf theoretischer Ebene ein gesteigertes empirisch ausgerichtetes Erkenntnisprogramm eröffnet, weil ein grundlegender Baustein sozialer Ordnung im Übergang zur Neuzeit im Zuge der Entstehung der Wissenschaft entborgen wurde (so etwa Luckmann 1992, S. 9), oder ob der Rekurs auf menschliches Handlungsvermögen eine soziale „Erfindung“ im Zuge gesellschaftlichen Wandels darstellt (so etwa Taylor 2009, S. 307f.), deren gesellschaftliche „Funktionalität“ adäquat erfasst und beschrieben werden muss.

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Folgt aus der (vermeintlich) alltäglichen Selbstwahrnehmung der Handlungsfähigkeit der Akteure also, dass soziale Ordnung, die den sozialen Verkehr regelt, tatsächlich Produkt individuell überlegten Handelns sozialisierter Subjekte ist, indem diese sich an sozialer Ordnung von Moment zu Moment orientieren, sie so am Laufen halten und intentional gestalten – oder ist die Vorstellung selbst das Produkt jener sozialen Ordnung, aus der sie hervorgeht? Und, davon unabhängig: Kann die Orientierung am und auf das Handeln als Grundlage sozialer Ordnung universelle Gültigkeit beanspruchen? Die Fragen sind voneinander unabhängig, weil letztere sich auch dann stellt, wenn sich zeigen ließe, dass die individuelle Handlungsorientierung als Semantik einer sich ausschließlich aus Kommunikation aufbauenden Gesellschaft, wie sie etwa Luhmann vorschwebt, zu verstehen wäre. Denn auch in diesem Falle, daran lässt auch die Systemtheorie keinen Zweifel, kann Gesellschaft nur sein, wenn das empirisch verstandene Individuum und dessen grundsätzliches Bewusstseinsvermögen an Kommunikation angeschlossen sind und als „Brücke“ und „Filter“ zu seinem Organismus und dessen ökologischer Umwelt, die wiederum andere Individuen beinhaltet, wirkt. Wie Luhmann lapidar schreibt: „Schließlich setzen Menschen einander notwendig wechselseitig als Körperbewohner voraus; sie könnten einander sonst weder lokalisieren noch sonst wie wahrnehmen. Körperlichkeit ist und bleibt eine allgemeine (und insofern theoretisch triviale) Prämisse sozialen Lebens.“ (Luhmann 1987, S. 334)

Abgesehen davon, dass diese Prämisse phänomenologisch keineswegs trivial ist, betrifft sie auch unmittelbar das Handeln:1 Die körperliche Existenz des mit einem plastischen und reflexiven Bewusstsein ausgestatteten Menschen umfasst ein Moment der Sorge, aus der Notwendigkeit und Chance des „ich muss“ und des „ich kann“ resultieren. Körperlichkeit begründet pragmatische Orientierung und verbindet den

1

Trivial in einem phänomenologischen Sinne ist sie nicht, weil sie die intersubjektive Konstitution von Sinn im transzendentalen Ego betrifft – als fremder Leib nach Husserl bzw. in der Kritik daran als Körper und historisch-kulturell als Leib eines Menschen bei Luckmann. Sie berührt so auch die Frage nach den „Grenzen der Sozialwelt“ in der Konstruktion sozialer Lebenswelten (Luckmann 1980, S. 56ff., insbes. S. 60ff.; Husserl 1995, S. 117f.).

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Einzelnen jenseits sozialer Ordnung mit „seiner“ Umwelt – die nur auf diesem Wege als Umwelt relevant wird. Kommunikation würde demzufolge nur möglich, soweit sie den Charakter von Handlungen annimmt. Setzen Menschen einander also notwendig nicht nur als Körperbewohner, sondern auch als Handelnde im oben genannten Sinne voraus, das heißt als unwillkürliche Aktivitätszentren? Luhmann würde das schwerlich bestreiten wollen. Sicher „steuern“ Menschen ihre Körper, indem sie arbeiten, denken, Sätze bilden und aussprechen, auf die Aussagen und Körperbewegungen anderer reagieren. Nur: Nach Luhmann gehört all das nicht „in“ die Gesellschaft, sondern findet an ihren Außenseiten statt. Im Fluchtpunkt der vorgetragenen Überlegungen steht somit die Frage, ob die Autogenese sozialer Ordnung gleichsam die Individuen involviert, weil sie deren Handlungen gestaltet, oder ob sie besser als Produkt (Selbstbeschreibung) der Autopoiesis sozialer Systeme begreifbar ist, an der die Individuen zwar notwendig angeschlossen sind, aber nicht intentional, sondern strukturell. Autogenese bedeutet, dass sie sich zwar jenseits einzelindividueller Absichten und auch „rationaler“ Diskurse vieler Individuen vollzieht, dabei aber dennoch „material“ auf die Leistungen, das heißt vor allem: das sinnhafte „Orientierungsvermögen“ der Einzelindividuen und deren Steuerung ihres körperlichen In-der-Welt-Seins angewiesen ist und bleibt, weil sie sich aus den durch diese Bewusstseinsleistungen ermöglichten Verhaltensweisen zusammen setzt und sie „anleitet“. Autopoiesis besagt, dass soziale und psychische Sinnordnung und -verarbeitung radikal zu trennen und wiederum vom Leben und den körperlichen Geschehnissen im weitesten Sinne abzutrennen sind. Als notwendig vereinfachende Formen der Selbstbeschreibung sozialsystemischer (gesellschaftlicher) Autopoiesis reproduzieren sich soziale Systeme einzig und allein durch und in der Kommunikation. Im ersten Falle besetzt das Handlungspostulat gleichsam die „Verleimungsstelle“2 zwischen sozialer Selbstkonstitution, dem Rückgriff auf subjektiven Sinn und der Verhaltensorganisation: soziale Ordnung steht den Menschen zwar äußerlich gegenüber, trägt jedoch Züge ihrer pragmatischen Konstitution in sich, die es den Menschen erlaubt, sie zu verstehen und „in“ ihr zu wirken – und sie so zu realisieren. Im zweiten Falle bildet Handlung

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So einer von Luhmanns Kritikpunkten am Handlungsbegriff (Luhmann 2006, S. 255).

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(und Erleben) eine spezifische kontingenzerzeugende Semantik, die als Produkt ausschließlich sozialsystemischer Kommunikation angesehen werden muss, die gerade den „subjektiven“ Beitrag im konkretoperativen sozialen Systemgeschehen ersetzt. Auch Bewusstsein verfügt dann über eine Handlungsvorstellung, aber im Kontext der Selbstbezüglichkeit des Bewusstseins: Ihm obliegt die Synchronisation sozialer Erwartung und körperlicher (Selbst-)Beherrschung im Umgang mit seiner Umwelt. Im ersten Falle hat Soziologie vom Handeln auszugehen, im zweiten Fall bildet Handeln ein „Artefakt“ sozialer Systemgeschichte, ein wenn auch zentrales Phänomen sozialer Selbstbeschreibung, dessen zweifellos wichtige Funktion erst noch entschlüsselt werden muss und nur historisch-systematisch rekonstruiert werden kann. Eine Rückführung sozialer Ordnung auf das Handeln ist dann jedoch unzureichend. In der folgenden Auseinandersetzung mit diesen knapp skizzierten Fragen bildet die systemtheoretische Position den heuristischen Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen. Die Kernfragen lauten noch einmal zusammengefasst: • Warum greifen soziale Systeme bei ihrer Selbstbeschreibung auf Handlungssemantiken zurück? • Konstituiert sich soziale Ordnung zwar autogenetisch, jedoch unter „subjektiver“ Beteiligung als Elementen des sozialen Prozesses oder alleine durch den autopoietischen Vollzug gesellschaftlicher Kommunikation? • Sind die letztgenannten Argumentationsweisen ineinander überführbar? Die Fragen zunächst aus der systemtheoretischen „Perspektive“ zu stellen, erlaubt es, erstens, eine anthropologische Rückversicherung zu umgehen, die das Handeln und den Handlungszusammenhang als etwas „objektives“ fasst (wodurch die Fragen „verschwinden“ würden). Zweitens kann so eine Letztbegründung der nur „subjektiven“ Relevanz der Handlung in der Systemtheorie empirisch und theoriesystematisch in die Untersuchung einbezogen werden. Die Radikalisierung in Luhmanns Ansatz liegt dabei in der Abtrennung der Beteiligung psychischer Systeme von der operativen Ebene der Kommunikation, also der Ebene der reziproken Dar- und Herstellung von Handlungssubjekten im Sinne der Reproduktion des Problems der doppelten Kontingenz. Die Bildung und Reproduktion sozialer Systeme folgt

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demnach einem eigenständigen Mechanismus, aus dem heraus die Entwicklung der Semantik(en) der Handlung zu erklären ist. Angesichts der alltäglichen Evidenz des selbstbezüglichen Tuns, der strukturierenden Logik sowie der historischen Tragweite des modernen, in der Wertigkeit des im Subjekt geborgenen Handlungsverständnisses stellt die von Luhmann vollzogene, radikale Kritik am Handlungsverständnis zwar eine Provokation handlungstheoretischer Grundpositionen in der Soziologie dar. Die Diskussion über Luhmanns Theoriemanöver ist seither nicht zum Erliegen gekommen (siehe jüngst den diesbezüglichen Beitrag von Gresshof in der Zeitschrift für Soziologie sowie die Reaktionen von Schneider und Srubar; Gresshof 2008; Schneider 2008; Srubar 2008). Diese Provokation ist jedoch ihrerseits, wie im folgenden Kapitel erläutert wird, in der soziologischen, auch der handlungstheoretischen Tradition verankert (siehe Kapitel zwei). Im Rahmen der Theorie sozialer Systeme betrachtet ist der Grundgedanke der handlungstheoretischen Soziologie, der zufolge sich soziale Ordnung immer auch als konkreter Handlungszusammenhang manifestieren muss (Luckmann 1992, S. 3ff.) zwar selbst als ein gesellschaftliches Konstrukt zu verstehen, das es gilt aufzuklären. Unbestrittener Ausgangspunkt bleibt dabei jedoch, dass Handlung kommunikativ „existiert“. Worauf aber verweist Handlung als Projektion gesellschaftlicher Realität – auf einen sinngenerierenden Beitrag von Subjekten, auf den die „Gesellschaft“ qua Handlungssemantik zugreift? Oder auf Bewusstsein als einem „Prozessor“, das heißt als einem Generator von Sinn, der es ermöglicht, dass Kommunikation sinnhaft verläuft? Kann man anhand des Handlungsbegriffes der Kommunikation auf das tatsächliche Tun der Menschen als eines „realen“ externen Referenten zurück schließen? Der erste Teil der Arbeit widmet sich dem Nachweis der „objektiven“ Problematik dieser Rückversicherung sozialer Ordnung im Handeln der Einzelnen. Der Grundgedanke ist dabei keineswegs „revolutionär“. In einer Reihe teils polemischer Spitzen gegen die Handlungstheorie hat Luhmann auf diesen Sachverhalt hingewiesen, etwa in der folgenden Weise: „Der Mensch wird an der Unterseite des Handlungsbegriffs angeklammert und, wie Odysseus am Fell des Liebsten der Böcke, aus der Zyklopenhöhle in die Gesellschaft seiner Gefährten hineingerettet.“ (Luhmann 2005x, S. 9)

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Das Problem liegt demnach darin begründet, dass in der Rede von der Handlung das Feld der Theorie und dasjenige Feld der „großen Erzählungen“ sich überlappen. Das sieht man nicht, weil theoretisch aus der Alltagspraxis durchaus geläufige Unterschiede zwischen Tun und Handeln nicht berücksichtigt werden. Jene Überlappung im Felde der Handlung kommt zustande, weil die neuzeitliche Erkenntnis Handlung zum klassifikatorischen Oberbegriff menschlicher Deutungsakte, leiblicher Bewegungen und des Lebens in der Welt sowie der Reflexion darauf avancieren lässt. Infrage steht, ob der Handlungsbegriff nicht grundsätzlich einen „sozialwissenschaftlichen Steuerungsoptimismus“ (Srubar 2007f, S. 410) sichert, sei es in einer „technischen“ (rational choice), sei es in einer „kreativen“ (Joas), „planerischen“ (Parsons, Mannheim) oder „vernunftorientierten“ Variante (Habermas), die zugleich sozial exklusiv wirkt und nur dadurch jene Optik erzeugt. Die vermeintliche Einheitlichkeit und Eindeutigkeit der Bestimmung der Handlung findet „vom Gegenstand“ her jedenfalls nur bedingt eine Bestätigung, insofern alle Verweise auf die „Innerlichkeit“ der Handelnden sich auf „gestaltete Figuren“ im Universum der Rede beziehen (vgl. Goffman 1980, S. 587f.; siehe Kapitel drei). Zugleich wird aber auch deutlich, und das wird Gegenstand des zweiten Hauptteils sein, dass die Frage der individuellen, bewusstseinsmäßigen „Leistung“ bei der Reproduktion sozialer Systeme umso dringlicher für die Entwicklung der Theorie sozialer Systeme wird,3 umso dringlicher, weil eine umstandslose Identifikation des Handelns mit dem sinnhaftem Verhalten Einzelner nicht mehr ohne weiteres zu haben ist. Die systemtheoretische Antwort stellt Aspekte der Formung und Bindung individueller Aufmerksamkeit (einfach formuliert: „Geistesgegenwart“, so Baecker in Anlehnung an Weick und andere; Baecker 2007, S. 21) in den Mittelpunkt ohne notwendig dieses Vermögen als Element sozialer Systeme selbst verstehen zu müssen. Kommunikation nämlich ist, wie Sprache, grundsätzlich nicht gegenständlich zu bestimmen, aber sie funktioniert dennoch zweifelsohne sinnbildend.

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Bislang liegen zu Luhmanns Theorie vor allem Positionen der weiteren Ausarbeitung vor und Kritiken aus der Perspektive konkurrierender Theorieprogramme. Eine Aufarbeitung der „Verstrickung“ seiner Theorie mit der „Tradition“, gegen die sich der Ansatz versucht abzuheben, steht dagegen (natürlich mit Ausnahmen, etwa seiner Bezugnahme auf Hegel) weitestgehend aus.

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Die Dinge, die in der Sprache benannt oder in der Kommunikation angesprochen werden, sind nicht in der Sprache oder der Kommunikation beheimatet. Das Wort Baum enthält keinen Baum und ist kein Baum. Ebenso wenig „enthält“ Kommunikation Gedanken oder Menschen als Beitragssender oder -empfänger oder deren Handlungen als materialem Stoff. Wenn dies als empirisches Faktum gelten kann, das auch besagt, dass Kommunikation „passiert“, also existiert, dann kann man Kommunikation als ein umfassendes System der Deixis – oder der Kopplung – verstehen. Luhmanns Substitution des Handlungsbegriffes durch den Kommunikationsbegriff trägt genau diesem Umstand Rechnung. Unter der Prämisse, dass Kommunikation an die menschliche Lebensform angeschlossen bleibt, lautet aber dann die Frage, ob die kommunikativ generierten Sinngehalte nicht doch jene Form der Handlung annehmen müssen, soweit dies der menschlichen Lebensform entspricht und sonst kommunikativer Sinn gar nicht verständlich wäre. Es kann also kein Zweifel daran bestehen, dass soziale Ordnung auch dann auf Bewusstsein verweist, wenn der Terminus des sozialen Systems anderes als die lebensbezogenen Attitüden und Möglichkeiten des Bewusstseins bezeichnet. Und es kann kein Zweifel sein, dass auch avancierte Theorien wie die Luhmanns Erleben und Handeln an wichtigen, systemfunktionsbegründenden Stellen einsetzen. Wie zu zeigen sein wird, bedarf eine sich auch als Aufklärung verstehende Gesellschaftstheorie einer Lösung dieses Problems der Konstitution des Teilnahmevermögens und der wechselseitigen Stabilität psychischer und sozialer Systeme in ihrer Kodetermination (oder vielleicht besser: Ko-Indetermination). Ich wende mich hier dem zweiten Hauptanliegen zu, nämlich der Lösung Luhmanns, psychische und soziale Sinnverarbeitung radikal zu trennen – als Folge der Suche nach einem Ausweg aus dem genannten Theoriedilemma subjektbezogener „Abbildkonstruktion“ sozialer Ordnung via Handeln an der Stelle des originären Selbstbeschreibungsmodus sozialer Systeme im Rahmen gesellschaftlicher Evolution. Luhmann postuliert die Autopoiesis des Sinngeschehens, aus dem sich – gleichsam in Analogie zu Schelers Argumentation der Ausdifferenzierung des Ich aus dem Wir (Scheler 1974 S. 240) – beide Systemtypen ausdifferenzieren. Gelingt diese Lösung mit Blick auf Erleben und Handeln und das darin begründete Subjekt-Objekt-Dilemma? Worauf also wird verwiesen, wenn „empirisch“-kommunikativ Handeln (und Erleben) sozial appräsentiert wird?

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Der dritte Abschnitt ist dem Versuch gewidmet, das Kind zurück in die Badewanne zu setzen. Die wissenssoziologische Diagnose Luhmanns und ihre gesellschaftstheoretische Einbettung können zwar einen hohen Grad an Plausibilität beanspruchen, demgegenüber entsteht jedoch ein erheblicher Begründungsbedarf bezüglich des Verhältnisses menschlicher Aktivität, subjektiven Sinnes und sozialer Ordnung. Diese Relation ist nicht nur systemtheoretisch problematisch, sondern neuralgischer Punkt auch der Handlungstheorie. Um dies aufzuzeigen, ist eine Auseinandersetzung insbesondere mit der Schütz’schen Tradition der pragmatischen Lebenswelttheorie elementar. Mehr als andere hat Schütz auf der Trennung zwischen sozialer und einsamer Lebensform hingewiesen. Das Wort, so Schütz, trennt den Einzelnen von seinen originären Erlebnissen (Schütz 2003a, S. 44f.). Seine Konzeption stellt die Sinnkonstitution in den Kontext des leiblichen und sprachlichen Pragma, die pragmatische Sinnkonstitution jedoch ihrerseits in den Kontext ihrer Ermöglichung durch die Transzendenzerfahrung qua symbolischer Appräsentation. Sie vermeidet damit einen „ahistorischen Dogmatismus“ (Srubar 1996, S. 66) in der Form ontologisierender Handlungstheorien. Sie behält jedoch den Handlungsbezug grundsätzlich im Kontext einer pragmatischen Lebenswelttheorie bei. Verschränkungsmöglichkeiten mit der systemtheoretischen Trennung psychischer und sozialer Sinnverarbeitung auf der Grundlage ihrer Kopplung liegen in der Idee der „lebendigen Gleichzeitigkeit“, die beheimatet ist „in“ der Wirkwelt, die nach Schütz aber grundsätzlich durch Kommunikation einerseits und durch die „vivid present“ des Bewusstseins andererseits transzendiert wird. In der Annahme, die Teilnahme an Kommunikation sei für den Einzelnen nur unter der Bedingung einer spezifischen pragmatischen Attitüde möglich, berühren sich die Ansätze Luhmanns und Schützens ebenso wie in der Transzendenz der Kommunikation, wobei Kommunikation zwar expressis verbis bei Schütz nicht selbst als eigenständige Sinnprovinz betrachtet wird, jedoch möglicherweise auf die Sinnprovinz „idealer Gegenstände“ verweise, wie Knoblauch und andere vermuten (vgl. Knoblauch et al. 2003, S. 15f.). Die Transzendenz der Kommunikation begründet das Moment der Gleichzeitigkeit von Bewusstsein und Kommunikation aus der Sicht des Bewusstseins: „Die Rede des Anderen und unser Zuhören werden als eine lebendige Gleichzeitigkeit erfahren. Jetzt beginnt er einen neuen Satz, er fügt Wort an Wort; wir

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wissen nicht, wie der Satz enden wird, und vor seiner Beendigung sind wir im Ungewissen, was er bedeutet. [...] Es hängt von den Umständen ab, wie weit wir der Entwicklung seines Gedankens folgen wollen. Solange wir dies jedoch tun, nehmen wir an der unmittelbaren Gegenwart des Denkens des Anderen teil.“ (Schütz 2005, S. 95)

Schützens Schwierigkeit besteht in der Annahme, man nehme an den Gedanken des Anderen teil. Wir nehmen jedoch an Kommunikation teil. Wir nehmen leiblich am „Erscheinen“ der Kommunikation teil, das heißt wir nehmen Teilnahme und Kommunikation (für) wahr. Und wir beide sind Wahrnehmende (und nicht: ein Sprecher, Ein Wahrnehmer). Diese dreiseitige Konstellation ist, mit Luhmann gesprochen, selbst kein kommunikativer Akt, sondern die Situation der Verselbstständigung der Kommunikation sowie ihrer Verankerung in der Wirkwelt. Die Transzendenz der Kommunikation schlägt sich in symbolischen Appräsentationen nieder. Infrage steht, ob die Handlung nicht in diesem Sinne als eine symbolische Appräsentation aufzufassen ist, anhand derer – und im Rahmen struktureller Kopplung – erst das phänomenologische „ich kann“ Gestalt gewinnt und (reflexiv) verfügbar wird. So verstanden findet die Handlung zurück in Luhmanns Theorieprogramm: als notwendiges kulturelles Supplement zur Ausdifferenzierung psychischer und sozialer Sinnverarbeitung, die sich in unterschiedlichen Formen in den verschiedenen sozialen Systemtypen identifizieren lässt. Luhmann hat die Notwendigkeit einer „Grundierung“ auch seiner auf Funktionssystemdifferenzierung und auf unwahrscheinliche Beobachtungsweisen zweiter Ordnung aufsetzende Gesellschaftstheorie angesprochen. Aufgabe der Soziologie sei es, zu sehen, „[…] ob und wie eine Gesellschaft mit so sehr ins Unwahrscheinliche getriebenen Strukturformen überhaupt möglich ist, wenn sie durch ihre Erfolge ihre Umwelt und ihre lebensweltlichen Verkehrsformen erodiert oder doch so verändert, daß die Folgen dieser Veränderung mit den Mitteln, die sie auslösen, nicht mehr zu kontrollieren sind.“ (Luhmann 1980, S. 126)

Jene lebensweltlichen Verkehrsformen zu rekonstruieren, die gesellschaftliche Strukturen ermöglichen (und tragen), ohne diese auf „Selbstverwirklichungserwartungen des Subjekts“ und auf eine „dichotome Kontrastierung“, etwa zwischen Gesellschaft und Gemein-

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schaft oder zwischen System und Lebenswelt zu beziehen, dieser Schritt steht insbesondere in der Systemtheorie weiterhin aus. Man kann an der Art der Problemformulierung eine Skepsis erkennen, die an Husserl angelehnt scheint. Allein, ihre Fragerichtung ist umgekehrt: Ihr geht es nicht um den Nachweis der Lebenswelt als Grundlage von Wissenschaft und sozialer Ordnung, sondern sie fragt nach den Möglichkeitsgrenzen, Interferenzen und „ökologischen“ Belastungen zwischen lebensweltlichen „Existenzbedingungen“ der Gesellschaft einerseits und den durch Kodierungen und Programmierungen ins Extrem gesteigerten Funktionslogiken gesellschaftlicher Subsysteme andererseits.4 Sie adressiert Steigerungsverhältnisse. Dabei sollte die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass das eingangs zitierte „Grundgesetz des Alltags“ tatsächlich eine normative alltägliche Orientierung darstellt, dass diese alltägliche normative Orientierung oder Erwartung aber in hohem Maße selektiv und exklusiv wirkt. Menschen tun dieses und jenes. Im Alltag, das soll hier keinesfalls bestritten werden, wird gegessen, gelacht, gescherzt, Auto gefahren, geschlafen, gearbeitet und so weiter. Der größte Teil des Geschehens (das gilt natürlich auch für die biografische Integration von „Handlungen“) ist – in der Handlungsbetrachtung – völlig unerheblich, während es im Sinne der angesprochenen „lebensweltlichen Verkehrsformen“ der Möglichkeit von Gesellschaft zugrunde liegt. Diese alltägliche „Tuns-Orientierung“ mag sich nicht gut in Handlungstermini erfassen lassen, sondern sie wird – möglicherweise – durch die Explikation qua Handeln grundsätzlich „kolonisiert“. Es wäre einiges gewonnen, wenn es im Verlaufe der Argumentation gelänge, dieses handlungstheoretische Problem als ein „echtes“ theoretisches Problem

4

Luhmann fasst seine Version der „Aufklärung“ als Versuch der Kontrolle der „alteuropäischen Tradition“, die er vor allem mit Husserl in Verbindung bringt und als „traditionsgebundene Entelechie“ der „selbstkritischen Vernunft“, geboren aus der europäischen Adelsgesellschaft, versteht (Luhmann 1996, S. 22ff.). Der europäische Humanismus wolle die moderne technizistische Weltanschauung kontrollieren, um deren Bedrohungspotenzial menschlichen Lebens einzuhegen. Luhmann verfolgt demgegenüber die Annahme, dass der Rückbezug auf Werte, seien sie humanistisch oder anders motiviert, letztlich nur die Indienstnahme technischer Möglichkeiten gegen Dritte legitimiere. Dieser Gedanke ist natürlich selbst „alteuropäisch“.

E INLEITUNG

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einsichtig zu machen. Es findet seine Entsprechung in der Frage der „Wählbarkeit“ von „Weltwahrnehmungen“, die nicht auf Kommunikation, sondern direkt, gleichsam asemiotisch, auf andere gerichtet sind und in Formen der Sozialität münden, die nur unter spezifischen Bedingungen und gleichsam in Enklaven des Alltags erträglich sind, zugleich aber Grenzen ihrer kommunikativen Formierbarkeit anzeigen. Schließlich bin ich mir bewusst, dass im Folgenden eine gewagte Synthese möglicherweise inkommensurabler Ansätze angestrebt wird. Andererseits sehe ich keinen Grund, diesen Versuch nicht zu unternehmen. Sowohl Erfolg als auch Scheitern mögen Informationswert haben.

2.

Handlungstheorie und Semantikanalyse „Selbstverständlich kann es nicht darum gehen, der Gesellschaft das Handeln auszureden, selbst wenn die Folgen, aufs Ganze gesehen, zu Besorgnissen Anlaß geben. Man kann aber gleichwohl fragen, wie Handlung kommuniziert wird und wie eine Handlungssemantik überzeugen kann, wenn gleichzeitig die Kommunikabilität

des

Nichtwissens

zu-

nimmt.“ (Luhmann 1992a, S. 184)

2.1 H ANDLUNG : VON DER Ü BERGANGS Ü BERFORDERUNGSSEMANTIK ?

ZUR

Die Frage nach der Funktion von Handlung bzw. von Handlungen im Prozess der Selbsterzeugung sozialer Systeme drängt sich nicht nur aus systemtheoretischer Perspektive auf und sie lässt sich auch mit anderen als mit systemtheoretischen Mitteln formulieren. Für die Einnahme eines systemtheoretischen Standpunktes spricht, neben den bereits genannten Aspekten, die Ambivalenz des Handlungsbegriffes selbst, also ein wissenssoziologisches Problem. Die Handlung geht, sagt Aristoteles in der Nikomachischen Ethik, vom Menschen aus. Handlungsfähig sind allerdings nur „freie“ Menschen. Der Rest, auch dies Menschen, ist demnach nicht handlungsfähig im Sinne der Gestaltung und Repräsentation sozialer Ordnung und

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also im Sinne des zentralen Handlungsbegriffes. Bei Aristoteles ist so die Bedingung der Handlungsfähigkeit an eine spezifische Stellung gekoppelt und sozial exklusiv angelegt. Gab es also eine „alte“ Vorstellung, in der sich die Tätigkeiten sozialstrukturell sortierten und daher nur einige Menschen handeln konnten, während andere arbeiteten, so gilt für die societas civilis: alle können im Prinzip handeln, faktisch aber nur einige. Die Auswahl ist nicht an Status, sondern an Ressourcen geknüpft. Ressourcenmangel verhindert die selbstbezügliche Lebensgestaltung und schränkt das Potenzial ein, sich an gesellschaftlichen Leistungsprogrammen und Sebstverständigungsdiskursen zu beteiligen – kurz: ein handlungsfähiges Selbst, als dem Atom sozialer Ordnung, auszubilden. Obgleich die moderne Figur des Handelns über weite Strecken nur der besitzenden Gruppe der Bürger vollumfänglich zugestanden wurde, so wird heute konstatiert, dass sich jeder so verhalten könne oder sich so zu verhalten habe bzw. dahin gebracht werden müsse, sich so verhalten zu können und zu wollen und das nicht etwa, weil jeder in modernen demokratisch verfassten Gemeinwesen Bürgerstatus qua Staatszugehörigkeit „hat“ oder früher oder später bekommt, sondern weil der der Einzelne als „produktiv Realität verarbeitende[s] Subjekt“ (Hurrelmann 2006, S. 23) zur Handlung befähigt ist, auch wenn sie/er erst in diesem Sinne „hergestellt“ werden muss. Entkoppelt man die Handlung derart von institutionellen Bedingungen und bindet man sie anthropologisch zurück, entsteht eine spezifisch gelagerte Schwierigkeit: Aus der anthropologischen Annahme des handelnden Wesens folgen keine konkreten gesellschaftlichen Strukturen oder Entwicklungen. Aus dieser Warte erscheinen soziale Institutionen vielmehr als Affektregulative und Stabilisierungsrahmen der menschlichen Weltoffenheit oder menschlicher Bedürfnisse oder als individuell verfügbare Regularien des sozialen Verkehrs. Als solche ermöglichen sie die Entfaltung des menschlichen Kreativitätspotenzials, indem sie es kanalisieren. Dann aber sind es nicht Handlungen, sondern Erwartungen, die das „Soziale“ bestimmen. Und in diesem Sinne interessiert sich die Handlungstheorie ja auch nicht dafür, was die Menschen tun, sondern dafür, woran sie sich orientieren, wenn sie tun, was sie tun. Die Handlung in der Form des reflektierten Tuns fungiert darüber hinaus gewissermaßen als Motor des Projekts moderner gesellschaftlicher Selbstbeschreibung. „Wir“ nehmen das Heft in die Hand, machen unsere Geschichte, finden Lösungen für Probleme etc. Als zentrale

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Idee der Einkleidung und Richtungsgebung gesellschaftlicher Kräfte bringt die Handlung eine Zeitlichkeit zum Ausdruck, die ein geschichtliches Bewusstsein der Selbsterzeugung, Einwirkung und Verantwortung umsetzt und in Rechnung stellt. Autonomie, Kreativität, Veränderung, Wollen, Wahl – in der Handlung reflektiert sich der gegenwärtige Wahl- und Umsetzungsakt im Rückgriff auf die Vergangenheit mit Vorausblick in die Zukunft, fundiert in der Eigenwilligkeit des Subjekts (Koselleck 1989, S. 267ff., S. 336ff.; Habermas 1988, S. 21ff., S. 31ff.). Gesellschaftliche Ziele im Sinne von Handlungsprogrammen könnten nur realisiert werden, wenn Menschen frei sind, sich daran zu beteiligen im doppelten Sinne: kreatürlich als Macher und Hersteller einerseits und kultürlich als „Verarbeiter“ von Sinn andererseits. Sinn(orientierung) und Zweck(struktur) dieser Orientierung seien spezifisch menschliche Bedürfnisse vor aller konkreten Gestaltung des (Er)Lebens – und wenn es nicht so wäre, dann könnten wir das, was Menschen tun (die Handlungen) nicht verstehen, uns also auch wechselseitig nicht verstehen. Die menschlichen Entäußerungen bilden unabdingbare Elemente der Autogenese sozialer Ordnung (Artikulation von Interessen, Bedürfnissen, Sozialstrukturkonsolidierung, Kulturprogramme etc.), die sich aus seiner wahlweise instinktarmen, plastischen, transzendental-apriorischen oder eher begrenzenden anthropologischen Verfassung speisen. Durch individuelle, am eigenen Glücksstreben orientierte Entscheidungen auf der Basis wachsenden Wissens wird Gesellschaft, verstanden als Beziehung unter Gleichen dezentral (marktförmig) für alle verbessert (exemplarisch Stehr 2007, S. 126ff, S. 248ff., S. 305ff.).1 Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit, ökologisches Handeln etc. tre-

1

Die „Verheiratung“ des Subjekts mit seinem Handeln ist in der Variante der rational-choice-Theorie inklusive der daraus resultieren Forderungen der Freiheit einerseits und der „reinen“, diese Freiheit erhaltenden Rahmenregulierung andererseits ausformuliert. Vgl. dazu Srubars und Duxens überzeugende Kritiken der neo-utilitaristischen Theorien sozialer Ordnung als Autogenese des besten Zustandes qua rationaler, glücksorientierter Entscheidungen Einzelner (Srubar 1996, Dux 2008, S. 229ff.). Die Theorie negiert sich durch Einführung der zweiten Bedingung: Entweder entsteht eine „gute“ Ordnung von selbst oder sie bedarf institutioneller Vorkehrungen, dann entsteht sie nicht von selbst. Für Dux und Srubar folgt daraus,

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ten auf als Form der Selbsteinwirkung, gewissermaßen durch subjektivierte Fremdsteuerung sozialen Zusammenlebens. Soziale Institutionen werden als vereinbartes Korsett normativer Regulierung gefasst, während das eigentliche Leben in den Wahlhandlungen der Akteure begründet ist. Entwicklungen, die nicht die gewünschte Richtung einschlagen, werden als nicht-intendierte Folgen entweder rationaler Einzelentscheidungen oder kollektiver Willensbildungsprozesse betrachtet – oder als Verirrungspotenzial gesellschaftlicher Steuerung – wenn nicht, durchaus konsequent gedacht, die Idee der Steuerung des sich selbst ordnenden Prozesses mit dem Ziel „positiver Freiheit“ überhaupt negiert wird (vgl. Berlin 2006, S. 250ff.). Interessanterweise schließt diese Perspektive, bei Lichte betrachtet, freie Willenshandlungen aus. Ihr „Akteur“ ist kein „Subjekt“ sondern eine „Rationalitätsmaschine“ bzw. ist es nur soweit, als es die sozialtechnologische Modellierung und Lösung von Dilemma-Situationen zulässt (vgl. etwa Voss 1998, S. 125ff., insbes. S. 132). Dies ist einer der Ausgangspunkte für Luhmanns Kritik. Übergreifend hat sich das Konzept der „agency“ eingebürgert, um zum Ausdruck zu bringen, dass es sich dabei auch um eine kulturelle Sinnform handelt, die nicht nur individuellen, sondern auch sozialen (heute aber nicht mehr: transzendentalen)2 Akteuren zugesprochen wird:

dass die utilitäre Theorie weniger als Theorie und vielmehr als normatives gesellschaftspolitisches Programm betrachtet werden muss. 2

In der historischen Reflexion wird daraus die Überleitung einer handlungsbeseelten Welt (Gott handelt) zum Menschen und zur Anonymisierung der Handlungsmächtigkeit zum (transzendentalen) Subjekt hin, zunächst nur mit Blick auf Oberschichten und dann auch mit Blick auf zentrale Institutionen, auf die Handlungsmächtigkeit von Staat, Organisation, Individuum. Bei der sozialen Konstruktion von Agentschaft, aus der heraus auf Verstehbarkeit, Durchsetzungsfähigkeit, Verantwortlichkeit etc geschlossen wird, muss demzufolge eine subjektive Sinnfundierung nicht mitintendiert sein, sondern eher eine Art kognitiver Verarbeitungskapazität und eine Form des Anschlussverhaltens. Diese Momente werden nicht eigens thematisiert. In diesem Desiderat ist die Schwäche der neoinstitutionalistischen Theorien auffindbar.

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„Das System der Agentschaft, das wir hier untersuchen, ist […] eine historische Konstruktion in einem spezifischeren Sinne: Seine genauere Ausarbeitung ist ein Ergebnis des seit dem zweiten Weltkrieg vorherrschenden liberalen Modells soziopolitischer Ordnung, das individuelle Autorität höher bewertet als diffuse korporative oder staatliche Autorität, das auf Demokratie und Marktwirtschaft setzt usw.“ (Meyer/Jepperson 2005, S. 65)

Demzufolge liegt in der Handlungs(fähigkeits-)zuschreibung die grundlegende Dimension der Orientierung und Steuerung, das heißt Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung durch die Selbststeuerung der so konstituierten und die Ordnung konstruierenden Akteure. Variationen in den „agency“-Konzepten drücken unterschiedliche Kulturen aus (zum Beispiel „standardisierte Agentschaft“ der Individuen versus „explizite Strukturen sozialer Kontrolle“; ebd., S. 68). „Agency“ ist aus dieser Theorieperspektive als ein zentraler (kultureller) Selektionsmechanismus zu verstehen. Er verlagert das Spannungsverhältnis von Prinzipal-Agent in den Agenten und taucht dort als Widerspruch und professionell abarbeitbares Problembündel in der Spannung zwischen „me“ und „I“ (oder zwischen Selbstreproduktion und Zweckstruktur von Organisationen) wieder auf. Dadurch verspricht „agency“, nicht nur gesellschaftliche Planung, sondern auch individuelle Ausrichtung gestaltbar zu machen: etwa in Form des Selbstunternehmers als eines Normalisierungsprogrammes oder der Steigerung der individuellen Freiheit durch Ausbau von Selbst- und Fremdführungstechniken. Solange die Gesellschaft sich, das heißt sich im Verhältnis zu ihrer Umwelt, über Handeln beschreibt, so lässt sich vorstehendes zusammenfassen, erscheint sie im Prinzip als gestalt- und änderbar, denn das Handeln erscheint als Moment der Kontingenzöffnung und -strukturierung gesellschaftlicher Entwicklung. Die gesellschaftliche Ordnung selbst wird in diesem Sinne als emergente Ordnung der Ermöglichung des Handelns reflektiert. Nach Bauman ist es einsichtig, dass „[…] die beiden eindrucksvollsten und überzeugendsten Argumente für die Notwendigkeit von Gesellschaft (also eines umfassenden, stabilen und wehrhaften Systems von Einschränkungen und Regeln), die den Philosophen seit Beginn des Übergangs in die Moderne eingefallen sind, auf der Erkenntnis der physischen Bedrohung und geistigen Belastung beruhen, die dem Zustand der Freiheit innewohnen.“ (Bauman 2007, S. 25; Hervorhebung im Orginal)

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Der eine Strang rekurriert auf Hobbes und das Problem der natürlichen Feindschaft. Der andere Strang rekurriert im Gegensatz dazu auf die Einschränkung universeller und unendlicher Zwänge des lebensweltlichen Für-Andere-Daseins (ebd.). Einerseits reflektiert die Handlungssemantik demnach die „Freiheit von Beschränkungen“, andererseits „Freiheit von Verantwortung“ als reproduktionsnotwendige Grundlagen der Gesellschaft. Selbst einfachste Formen alltäglicher Begegnung, selbst die wechselseitige Nicht-Beachtung im Zug, auf den Gehsteigen der Großstädte funktionieren nur, weil und soweit man nicht fürchten muss, von hinten niedergestochen zu werden oder aber sich um alles und jeden zu kümmern. Gegen eine solche Perspektive der Freisetzung qua Handeln hatte sich Weber mit Nachdruck verwehrt – gerade weil er Gesellschaft in letzter Instanz ausschließlich auf das individuelle, sinnhaft orientierte Verhalten zurückführt. Die „strukturelle Ausdifferenzierung“ der Gesellschaft (Srubar 2007c, S. 95) bedingt ja schon bei Weber und natürlich: bei Durkheim die Einsicht in die „Selbstorganisation“ des Sozialen – das im Handeln den modernen Zwangscharakter des „MitMachens“ institutionalisiert. Man mag sich streiten, ob Parsons’ Theorie daraufhin zusteuert, dass die Individuen wollen, was sie sollen, indem den „Subjekten“ mit Hilfe aufwändiger Kulturinstitutionen Handlungsprogramme (Orientierungen) eingeimpft werden, deren erfolgreiche Abrufung dann mit „incentives“ (Bedürfnisbefriedigung) verknüpft wird. Das sozial zirkulierende Sinnangebot der Handlungsfähigkeit differenziert Individuen (und andere Akteure) dadurch aus, dass ihnen Interessen, Bedürfnisse, Werte und Mittel (Ziele) gegeben werden – die sie dann, in entgegen gesetzter Richtung, quasi energetisch zu realen Handlungen (materialen Umweltveränderungen) integrieren. In diesem Sinne konstituiert sich die moderne Handlungstheorie der Soziologie implizit oder explizit als systemische Handlungstheorie. Folgerichtig ist die Annahme der Irrelevanz eines individuell sinnvollen, geplanten Handelns und seiner Motivation einer der Kernaussagen der Weber’schen Rationalisierungsthese. Hieraus ergibt sich erst das spezifische empirische Erkenntnisinteresse etwa Luckmanns an der individuellen Lebensführung in der Moderne, in der diese in die Privatsphäre abgedrängt wird, während die „institutionelle Segmentierung“ der Sozialstruktur bewirkt, das soziale Institutionen das Handeln von der spezifischen Person ablösen und durch ihre Rationalität kontrollieren und legitimieren:

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„Der einzelne wird als Person in dem Maße ersetzbar, wie die Anonymität der sozialen Rollen, die durch die funktional rationalen Normen bestimmt werden, zunimmt. Genauer: Aus der Perspektive der institutionellen Bereiche wird der subjektive, biographische Zusammenhang der Rollenhandlungen bedeutungslos. Für sie ist nur eine wirksame Kontrolle dieser Handlungen von Interesse. […] Die Ausgrenzung „rationaler“ institutioneller Normen im Bewußtsein des einzelnen ist die sozialpsychologische Entsprechung der institutionellen Segmentierung der Sozialstruktur.“ (Luckmann 1991, S. 138; Hervorhebung M.K.)

Der Mensch handelt dem modernern Verständnis zufolge gewissermaßen jenseits der gesellschaftlichen Strukturen, „in“ denen er „nur noch“ arbeitet. Die Anspielung auf die Unterscheidung von Handlung und Arbeit ist keineswegs zufällig gewählt – soweit wir mit Scheler oder Arendt Arbeit eng fassen und als grundsätzlich fremdbestimmt verstehen (Scheler 1999, S. 40ff.; Arendt 2002, S. 98ff.). Denn neben der voranschreitenden Reflexion auf die Wissensformen der Gesellschaft quasi in idealistischer Tradition wird die Gesellschaft über den Arbeitsbegriff einerseits anthropologisch rückgebunden: bewusste oder planmäßige Naturtransformation als Gattungsgrundlage und eine der Quellen von Macht als Gestaltungspotenzial der Wirklichkeit – durch das Bewirken von Wirkungen in einer kausal gestrickten Welt (so Giddens 1984, S. 124 in Auseinandersetzung mit Marx). Andererseits wird hier das Verständnis der gesellschaftlichen Differenzierung und ihr Schwungrad angesetzt: Arbeitsteilung als Einfallstor von Herrschaft und als Konstituens der Gesellschaft – Sozialstruktur als ihr Ausdruck und Ideologie als die Legitimationsform der Sozialstruktur. Die Gesellschaft erscheint als Objektivation des menschlichen Notwendigkeit der (vor-)sorgenden Bedürfnisbefriedigung, die, einmal in die Welt gesetzt, der Logik sozialer Arbeitsteilung und semiotischer Konditionierung unterworfen ist (Gesellschaft als Menschenwerk und als zweite Natur). Zur Einsicht in die Verselbstständigung sozialer Systeme oder der jeweiligen sozialen Ordnung gehört die Einsicht in die „Indifferenz“ großer Makrosysteme gegenüber der individuellen Lebensführung. Die modernen Großerzählungen der „invisible hand“ der Maximierung individueller Freiheit (Smith) und – in der Fortsetzung – individuellen Glückes (Bentham) des Liberalismus durch Besitzindividualismus und freies Streben, also der Öffnung der Zukunftshorizonte und der ratio-

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nalen Planung (quasi: der „visible hand“) im Sinne der kollektiven Schließung der Zukunftshorizonte des Sozialismus haben sich als Verwandte im Geiste politischer Ideologie erwiesen. Sie hat einstweilen das gleiche Schicksal ereilt wie vormodernen Vorstellungen der göttlichen Ordnung und der guten Gesellschaft. Der Strukturbruch in den die Gesellschaft bestimmenden Kommunikationsformen, der Übergang zu anonymen, „technischen“ Funktionskodes, „entlarvt“ demzufolge die ältere Vorstellung der Herstellung von Gesellschaft durch das Handeln oder durch die Arbeit von als willensmäßig frei verstandenen bzw. als qua Recht freigesetzten Menschen, also der Träger und Repräsentanten der Gesellschaft, als Vorstellung stratifikatorisch differenzierter Gesellschaften. Die Vorstellung einer Relation zwischen Subjekt, Welt und Gesellschaft, die handelnd, arbeitend und erkennend (Habermas 1973, S. 59ff.) hergestellt wird, erscheint in Gänze als Ausdruck einer historischen Epoche, die vergangen ist. Dass überhaupt Kommunikation über die Vorstellung des Handelns läuft, wird daher als historisch entstandenes Funktionserfordernis der Selbstdarstellung eines Gesellschaftssystems mit spezifischen Strukturmerkmalen betrachtet. Ändern sich die Strukturmerkmale, und davon geht die Systemtheorie aus, dann wandelt sich die Bedeutung des Handelns mit Blick auf die Organisation von Interessen und von Gesellschaft von einer repräsentativen in Richtung einer selektierenden Funktion: Keine soziale Person, Position oder Klasse repräsentiert die Ordnung bzw. konditioniert sie, weil die Selbstherstellung sozialer Systeme anonymisierten Funktionskodes obliegt. Insofern führt die Universalisierung der Handlung zu ihrer Trivialisierung und verlagert sie so, im Sinne der oben genannten individuellen Sorge ums Leben, in die Interaktionsbereiche der systemischen Funktionsweise an den Randzonen der gesellschaftlichen Kommunikation, wo sie faktisch als Erwartung zur Steuerung „belangloser Entscheidungen“ verwendet, aber zugleich (noch) mit den „alten“ repräsentierenden Elementen aufgeladen wird.3 Die Folge scheint mit Blick auf die Handlung eine widersprüchliche Gemengelage zu sein: Die Handlungssemantik will das Soziale abhängig machen vom Vollzug individueller Handlungen. Der indivi-

3

Und, wie Luhmann zugesteht, im Sinne der Untersuchung alltäglicher Lebensführung, etwa durch Schütz, Luckmann und andere, ihre Funktion erfüllt (vgl. Luhmann 1971, S. 354f., S. 359).

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duelle Beitrag wird über Freiheit symbolisiert – als Freiheit auch anders zu handeln. Indem Sozialsysteme „nicht als Zwang, sondern als organisierte Formgebung der Orientierungen des historischen Subjekts“ (Touraine 1974, S. 59) konzipiert werden, wird das Tun des Einzelnen – als Handeln – zugleich mit historischer Tragweite versehen. An dieser Figur ist die systemtheoretische Kritik ausgerichtet. Luhmanns Kritik an der Verwendung der Handlung richtet sich auf die Effekte bzw. „Kosten“, die die Handlungssemantik für die beteiligten Sinnsysteme zeitigt: Die gesellschaftliche Selbstbeschreibung im personalisierten4 Modus der Handlung führt demnach zu einer Anspruchsinflationierung seitens sozialer Systeme an psychische Systeme und umgekehrt. Sie führt auf Seiten psychischer Systeme zu einer Diskrepanz zwischen Selbstanspruch und Realisierungsmöglichkeit, zu einer Überforderung qua intrapsychischen Raffinementanforderungen wie Authentizität, „aufrichtige“ Motive etc., die durch Zusatzsemantiken des Handelns ventiliert werden. Die daraus resultierenden Verantwortungszuschreibungen an Personen finden jedoch im Rahmen „technisch“ funktionierender Sozialsysteme statt, an deren Prozessieren das einzelne Bewusstsein qua Kopplung an Gesellschaft zwar strukturell beteiligt ist, ohne jedoch in die Prozesse intentional eingeschaltet zu sein. Handlung folgt also einer Logik der Beherrschbarkeit sozialer Systeme durch menschliche Steuerung, die kommunikations-technische Probleme mit Hilfe von Moralen und Ethiken (Handlungsmotive und deren Begrenzung) oder durch Zweck-Mittel-Kalku-lationen zu beheben versucht. Anstelle verbesserter Steuerung führt die Rede vom Handeln zur Moralisierung gesellschaftlicher Strukturen, und Moralisierung zeitigt nach Luhmann polemogene Effekte (zum Beispiel Fundamentalismus). Die Verwendung der Wissensform Handlung im gesellschaftlichen Kommunikationsgeschehen verstärkt demnach Abweichungstendenzen auf beiden Seiten der Kopplung sozialer und psychischer Systeme: Die Handlungssemantik bedroht die Bereitschaft der Teilnahme an Kommunikation durch wechselseitige Überanspruchung im Zuge

4

Person verstanden als Form struktureller Kopplung, die in diesem Falle Bewusstseine im sozialen (und psychischen) Kontext mit der Vorstellung der Urheberschaft, der Kreativität, des Anspruchs auf Änderbarkeit sozialer Strukturen und Situationen ausstattet (vgl. Chwaszccza 2004, S. 113).

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der zukunftsgerichteten dem Handeln inhärenten (und humanistischen) Optimierungslogik und führt – wenn man es so sagen darf – zur Inflation der Medien gesellschaftlicher Selbststeuerung. Dies zeigt sich denn auch an den Exklusionsbedingungen gelingenden Handelns durch systemische Kodierung und Programmierung. Die gesamtgesellschaftlichen Freiheitsgrade werden auf die eine oder andere Weise technisch „eingeschränkt“. Die dahinter stehende Annahme lautet also: Die Gesellschaft gefährdet sich (und die Individuen) durch die Handlungssemantik. Die Realisierung kollektiver Zwecke wird grundsätzlich prekär und die Individuen in Selbstoptimierungsprogramme getrieben, die an der Stelle von Gewissheit Ungewissheit erzeugen und auf Dauer stellen. Darüber hinaus führt der wissenschaftliche Rekurs auf das Handeln als einem Letztelement sozialer Ordnung aus dieser theoretischen Perspektive zur Abblendung des Wirklichkeitscharakters von Kommunikation. Sie führt zu dem, was Foucault die „Eliminierung der Realität des Diskurses“ genannt hat (Foucault 2007, S. 31). Einerseits schwindet also der Wert des Handlungsbegriffs für soziologische Erklärungen, weil die gesellschaftlichen Grundlagen der Bedeutung der Handlungssemantik abschmelzen. Andererseits erzwingt der Handlungsbegriff eine Anthropologisierung des Sozialen, die die Gesellschaft im Spiegel menschlicher Verfasstheit (Reduktion von Komplexität für den Menschen, gerechte Ordnung etc.) symbolisiert, während die Eigenständigkeit des kommunikativen Zusammenhangs, quasi die Physik der Kommunikation und der Gesellschaft, negiert wird – sei es, weil sie Gesellschaft aus der Negativität des Menschen heraus entwickelt, sei es, weil sie sie aus „random interests“ etc. heraus entwickelt, indem der Gesellschaft ein Zweck oder eine Entwicklungsrichtung im Sinne der Perfektionierung menschlichen Zusammenlebens untergeschoben wird. Luhmanns Position blieb und bleibt nicht unwidersprochen. Früh hat etwa Schelsky die Betonung der sozialen Konstruktion des Handelns kritisiert. Zwar weise der Handlungsbegriff, in der Tradition der Aufklärung, eine Überbetonung der Individualmoral der Person auf. Dennoch überbetone der moderne, sozialwissenschaftliche Handlungsbegriff die Rolle der organisatorischen Führung des einzelnen durch „seine“ Sozialgruppe (soziales Sein bestimme das individuelle Bewusstsein). Der Einzelne werde so zum „Handlanger“ einer abstrakten Gruppe (Gattungswesen, Geschlecht, soziale Position etc.) und

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damit praktisch der Deutungshoheit der jeweiligen Gruppenmoral unterworfen (Schelsky 1977, S. 370ff.). Dies unterwandere das Verhältnis der „Einheit der praktisch handelnden Person“ (ebd., S. 385) und verkenne die „epochalen Letztwertbedürfnisse der Menschen einer Kultur“ (ebd., S. 377). Auch Vertreter aktueller Handlungstheorien beharren darauf, dass sich das Soziale auch mithilfe der sinnhaften, wertbezogenen und leiblichen Handlungen der Gesellschaftsmitglieder konstituiere. Zwar werden spezifische diagnostische Momente der Luhmann’schen Position durchaus akzeptiert und bestätigt. An der grundbegrifflichen Bedeutung der Handlung wird jedoch nicht gezweifelt: Die Historisch-genetische Theorie sieht in der Handlungskompetenz die kulturelle Überformung der organischen Grundausstattung des Menschen (Körper, Gehirn, Sprechwerkzeuge) unter der Bedingung die Differenzierung sozial-moralischer Nahbereiche und der systemischen Indifferenz der gesellschaftlichen Strukturreproduktion gegenüber der grundsätzlichen Selbstsorgenotwendigkeit des Einzelnen. Handlung als motorischer modus operandi verfertigt demnach keine Einheit, sondern einen Hiatus zwischen der Binnenorganisation des Handelnden und dem Handlungsfeld, der erst nachträglich sprachlich überformt werden kann, und Weltbezug wird so als Handlungsbezug rekonstruiert (Dux 1998, S. 44ff.). Die Kontingenz- oder Verlustthese, die just an diesem Bezugsproblem ansetzt, wird von Dux betont: Die historisch-genetische Theorie geht von einer „Sinnkrise“ durch „Weltverlust“ aus, wobei eine feste Verklammerung von Handlung und Selbstplatzierung expliziert wird: Sinnstiftung für sich selbst: Sichtbarkeit und Welthalt (Dux 1994, S. 99, S. 468), Die Sinnkrise ist dabei Folge einer „wirklichen“ Erkenntnis: der Einsicht in die Härte der Welt und in das Desinteresse der Gesellschaftsordnung am Einzelnen. Daraus folgt fast schon automatisch die Frage nach der Gestaltbarkeit sozialer Ordnung als politischer Frage nach der Herstellung von Gerechtigkeit (vgl. Dux 2004, S. 281, S. 298 und das dieser Frage gewidmete Werk: Dux 2008). Lebenswelttheoretisch verweist Srubar auf das notwendige Zusammenspiel pragmatischer, sprachlicher und kognitiver Faktoren bei der Genese sozialer Sinnwelten (Srubar 2003, S. 95ff.). Der sinnhafte menschliche Weltzugang wird durch die doppelte Sinnklammer des handlungsbezogenen Pragma der Lebenswelt (Relevanz) sowie dessen sprachlicher Überformung in Prozessen von Interaktion (asemiotisch)

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und Kommunikation (semiotisch) konkretisiert und vom Einzelnen unabhängig als Kosmion installiert (Srubar 1988, S. 229ff.). Der Inversionsvorgang von Handeln und Sprechen schlägt sich demzufolge in den Sprachstrukturen empirischer Sprachgemeinschaften nieder. Die Differenzierung zwischen den systemisch geordneten symbolischen Universa und ihrer wirklichkeitsgestaltenden Macht und den alltäglichen Handlungs- und Kommunikationswelten, in denen die Gesellschaftsmitglieder leiblich und körperlich beheimatet sind, führt einerseits zwangsläufig zu Formen der semiotischen und asemiotischen Konditionierung, andererseits aber auch zu Fragen der Passfähigkeit (bzw. Repräsentation) zwischen der systemischen und der alltäglichen Ebene. Die Welt alltäglichen Handelns ist dabei keine der Verständigung, sondern der Zugehörigkeitsregulierung und Bestätigung der Welt als „taken for granted“ (Srubar 1997; 1999, S. 29ff.). Die rational-choice-Theorie hat ebenfalls die Deontologisierung des Handelns vorgenommen, aber auf der Basis der Annahme der „Ontologie des Akteurs“ (Schmid 2006, S. 34; Hervorhebung im Original). Als allgemeine Handlungstheorie postuliert sie als Grundannahme, dass „jeder der Akteure in allen Handlungssituationen die Möglichkeit hat, sich auch anders zu entscheiden als er selbst und andere erwarten.“ (Schmid 2004, S. 117) Im Rückgriff auf Parsons wird sowohl die „Unaufhebbarkeit“ der doppelten Kontingenz als auch – nunmehr mit Luhmann – die daraus resultierende prinzipielle „Unsicherheit“ als Ausgangspunkt konzediert, gleichsam als Folge und Bedingung der Entscheidungsfähigkeit und -notwendigkeit des Individuums (ebd.). Es ist dann aber nur jenseits der Intentionen und der Reflexivität des Akteurs möglich, anzunehmen, Akteure könnten sich „dazu entscheiden, den Interessen und Erwartungen ihrer Mitakteure Beachtung schenken.“ (Ebd., S. 123) Die Möglichkeit der „Einsicht“ – im doppelten Wortsinne! – des Akteurs selbst als Lösung des Problems der Unsicherheit widerspricht dem Prinzip der Unsicherheit, das ja besagt, dass diese Möglichkeit systematisch nicht zur Verfügung steht. Dieses Konzept bringt genau jene Paradoxie zutage, die als Folge sozialer Systembildung verstanden werden kann. Die Handlungstheorie neuester Prägung sieht dagegen nur im „ersten Glied“ der Problematik („Bewältigung von Unsicherheit“; Schmid 2006, S. 30) den Ausgangspunkt zur Modellbildung der Handlungstheorie schlechthin. Sie sieht darin keine Notwendigkeit der Modifikation ihrer Handlungsund Subjektkonzepte (ebd.). Stattdessen verzichtet sie auf jedweden

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gesellschaftstheoretischen Anspruch und bietet dafür eine „Mikrofundierung der gesellschaftstheoretischen Analysen“, indem sie auf einem ahistorischen Handlungs- und Akteursmodell beharrt (ebd., S. 40ff.) Diese bleiben der unveränderbare Kern der Theorie – deren Kern wiederum eine Theorie des „individuellen Entscheidens“ sei –, während (sozialer) Wandel nur in den „situativen Rahmenbedingungen“ erfasst und dann auch theoretisch modelliert werden solle. Demgegenüber kann – auch von Vertretern gemäßigter Varianten des rational choice – betont werden, dass das Modell des rationalen Entscheidens selbst eine zentrale Semantik (und nicht: eine anthropologische Konstante) der modernen Gesellschaftsstruktur darstellt: „Rationalisierung des Alltagsverhaltens, in deren Folge die strategischopportunistische Verfolgung eigener Interessen immer weniger missbilligt und im Gegenteil zunehmend zu einer sozialen Norm erhoben wird […], die dem Verlierer im Wettbewerb der Opportunisten am Ende noch abverlangt, die Überlegenheit des besseren Strategen neidlos anzuerkennen.“ (Streeck 2004, S. 33)

Damit stellen die modernen soziologischen Handlungstheorien zwar das Handeln auch weiterhin in den Mittelpunkt konstitutionstheoretischer Überlegungen im Schnittfeld der Genese und Geltung sozialer Ordnung und subjektiver Teilnahmebedingungen und -leistungen „für“ diese Ordnung. Dass dabei gesellschaftlicher Vollzug und das moderne individuelle Handeln durch eine breite Kluft getrennt scheinen, wird in den diskutierten theoretischen Positionen einhellig reflektiert und problematisiert. Man kann aus den bestehenden Positionen zumindest den Schluss ziehen, dass sich das Gesamtgefüge der Handlung: Situation (Instrumentalität), (Ent-)Äußerung (Expressivität) und Kommunikation zumindest heuristisch (das heißt: ohne erkenntnistheoretische Vorentscheidung) als semantischer Zusammenhang im Rahmen der Selbsterzeugung sozialer Ordnung analysieren lässt. Zu berücksichtigen ist dann aber auch die konstitutionstheoretisch inspirierte Kritik an Luhmann aus diesen Positionen heraus: Die Zurückweisung des systemtheoretischen Postulats, die Handlung sei als ein historisches Artefakt zu erfassen, wird unter anderem durch den Verweis auf eine „nebulöse“ Verwicklung in der Systemtheorie begründet. Auch Luhmann sieht sich gezwungen, zu konzedieren, dass sich soziale Systeme über die Unterscheidung Handeln und Erleben beschreiben wür-

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den und unter gegebenen Umständen: müssten. Zwar will Luhmann diesen Sachverhalt weniger als Ausdruck der direkten Beteiligung von Bewusstseinsakten an der Genese sozialer Realität verstanden wissen, sondern als Folge kommunikativer Asymmetrisierungsnotwendigkeiten im ausschließlich sozialen Sinngeschehen. Das ändert aber nichts daran, dass die Behauptung, Kommunikation müsse sich über Handeln (und Erleben) beschreiben, bei Luhmann letztlich nur ex negativo begründet wird: Als solche sei Kommunikation für sich selbst intransparent und müsse also auf eine reduktive Erfassung ihrer selbst zurückgreifen (Luhmann 1987, S. 226ff.). Dass sich Gesellschaft über Handlung beschreibt, wird also zugestanden. Und die Frage ist dann, warum sie das tut, oder ob es auch anders geht. Die nur negative Positionsverteidigung muss mit anderen Worten positiv formuliert werden und das heißt letztlich konstitutionstheoretisch fundiert werden: Artifizialität und Bestandsgefährdung, Faktizität und Relevanz sowie Sozialität ohne Bewusstseins- und Leiblichkeitsbeteiligung kennzeichnen Luhmanns Verständnis der Handlung als Element gesellschaftlicher Selbstbeschreibung. Nur wenn sich dieser Zusammenhang einsichtig machen lässt, lässt sich die These von der Autopoiesis sozialer Systeme gegen die Position, Bewusstseins- und körperliche Leistungen seien jene Bausteine, die Gesellschaft ausmachen, vertreten.

2.2 D IMENSIONEN

DER

A NALYSE

Welche Rolle spielen also Handlung und Handlungssemantiken im Prozess der Selbsterzeugung sozialer Systeme, wenn sowohl Handlungen als auch Selbsterzeugung soziale, selbst-konstruktive Aspekte bezeichnen? Muss sich Gesellschaft nicht mehr über Handlungen beschreiben, „tut“ es aber dennoch? Oder muss sie sich tatsächlich auch über Handlungssemantiken beschreiben, weil das Signifikat der Handlung eben jener Stoff der Selbstordnung sozialer Systeme (zum Beispiel Organismus und Bewusstsein) ist, der Gesellschaft ausmacht? Dies ist der Fragenkomplex, der einer Beantwortung zumindest näher gebracht werden soll. Die drei Dimensionen der Untersuchung sind:

H ANDLUNGSTHEORIE

UND

S EMANTIKANALYSE

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1. Erstens sollen Semantiken des Handelns in der Verbindung zur

Frage der Autonomie der sozialen Ordnung einer Untersuchung unterzogen werden (Kapitel drei); 2. zweitens soll die Systemtheorie in der Weise, in der sie die Handlung „deontologisiert“, nachgezeichnet werden; untersucht wird, wie die „Verleimung“ von Kommunikation und Bewusstsein dort ohne Handlung vorgestellt wird, einschließlich der Frage, ob der Theorieumbau zu überzeugen vermag (Kapitel vier); 3. drittens werden die Konzepte der Autogenese sozialer Ordnung und der Autopoiesis sozialer Systeme (siehe Einleitung) entlang der Bedeutung subjektiven und sozialen Sinnes ins Verhältnis zueinander gesetzt; im Zentrum der Analyse steht, wie gesellschaftstheoretisch die Kodes der funktionalen Differenzierung verankert sein müssen, bzw. auf welcher Grundlage sie funktionieren können und ob dabei ein Rückgriff auf das Handeln – und wenn ja, in welchem Kontext – nötig ist (Kapitel fünf). Die Untersuchung changiert gewissermaßen zwischen einem wissenssoziologischen und einem konstitutionstheoretischen Zugang. Ihr empirisches Material bilden in erster Linie Theorien, also Formen der Beschreibung der Gesellschaft (und des Handelns). Wenn man die gesellschaftliche Konstruktion des Handelns (bzw. besser: der Handlung) betont, dann muss deren Grund zunächst in der gesellschaftlichen Kommunikation und in der durch sie hervorgebrachten Erkenntnis gesucht werden – und nicht vorderhand als Fundament menschlichen Zusammenlebens postuliert, im Wert- und Orientierungsbedarf des Bewusstseins oder in der conditio humana verankert werden. Der theoretische Diskurs um das Handeln wird daher als Reflexion auf Gesellschaft in der Gesellschaft erfasst. Andererseits muss ein Verhältnis sozialer Systeme zu relevanten Umweltzonen, das heißt vor allem zu Bewusstseinen vorausgesetzt werden, um überhaupt zu einem Verständnis der Selbsterzeugung5 gesellschaftlicher Kommunikation, die sich gegenüber ihrer Umwelt abhebt, kommen zu können. Verändern sich die Handlungsverständnisse,

5

Der Begriff der Selbsterzeugung soll quasi die argumentative Unentschiedenheit zwischen dem Emergenz-Verständnis der Autopoiesis und dem eher konstitutionstheorietisch inspirierten Begriff der Autogenese zum Ausdruck bringen (vgl. Srubar 1994, S. 95).

36 | D AS HANDELN DER SYSTEME

verändert sich das Gesellschaftsverständnis. Weder können System und Systemwissen konvergieren, noch ein System und seine Umwelt. Damit ist gesagt, dass selbst die neue Systemtheorie ein Verhältnis von Selbsterzeugung und Handlungssemantik bzw. zwischen Gesellschaftsstruktur und Semantik herstellt, das zwar den Vorrang des ersten gegenüber dem zweiten hervorhebt, dies aber durch die Verschiebung dessen, was mit Handlung gemeint ist, in einen anderen „Gegenstandsbereich“ erreicht. Es folgt also keine Begriffsgeschichte, sondern der Versuch einer wissenssoziologischen Sondierung des jeweiligen Verhältnisses von Handlungssemantiken und der Selbsterzeugung sozialer Systeme im gesellschaftlich hervorgebrachten Wissen. Selbsterzeugung sozialer Systeme soll heißen, dass diese sich gegenüber den sie bedingenden Faktoren verselbstständigen, also eine soziale Tatsache im Durkheim’schen Sinne bilden. Sie bilden Ordnung durch Schließung. Mit Max Weber bezeichnet Schließung einen Abgrenzungsvorgang, der durch Handeln im Medium des Sinnes vollzogen wird (Weber 1980, S. 23ff.; 201ff.). Traditionell würden hier also zumindest zwei Dimensionen unterschieden: die tatsächlich prozessierende Selektion, Objektivation, Differenzierung etc. auf der einen Seite und die die Vorgänge „verkürzend“ erfassenden Formen des Repräsentation der Schließung auf der anderen Seite: Handlung und Kommunikation, Struktur und Semantik, Typik und Relevanz etc, die sich allerdings wechselseitig bedingen (Handlung kann in diesem Verständnis zunächst nur erscheinen, indem sie sprachlich zum Ausdruck gebracht wird). In der neuen Systemtheorie werden beide Ebenen mehr oder weniger zusammen gezogen, dabei jedoch mit einem eindeutigen Primat der Strukturen versehen, von denen aus Semantiken auf ihre Veränderung und „Tauglichkeit“ hin untersucht werden. Da aber die Einsicht in Strukturformen selbst nur über Semantikanalysen eingeholt werden kann, entsteht ein Dilemma in der Bestimmung der Strukturentwicklung als erklärendem Faktor. Deshalb muss die den genannten Zusammenhang begründende Konstitutionstheorie der Autopoiesis sozialer Systeme ebenso in die Untersuchung einbezogen werden wie das Verhältnis von Struktur (Kommunikationskodes und -medien) und Semantik selbst. Handlungssemantik bezeichnet jene Formen verfügbaren, typisierten Sinnes, die aufgerufen werden müssen, wenn von Handlung und Handeln die Rede ist. Handlungssemantiken stellen demnach eine

H ANDLUNGSTHEORIE

UND

S EMANTIKANALYSE

| 37

Wissensstruktur dar, die sich in Form der Verkettung bedeutungstragender Elemente manifestiert. Handlungssemantiken weisen notwendig einen Bezug auf Gesellschaftsstruktur auf sowie auf Akteure, Intentionen und auf die Effekte des Handelns. Bestimmt werden muss, warum überhaupt ein Eingriff in den „Lauf der Dinge“ möglich ist und sinnvoll sein könnte (siehe Kapitel drei). Handlungssemantiken konkretisieren das, was unter Handlung jeweils verstanden werden kann, welche Wirkungen Handlungen haben und wie diese erzeugt werden. Anders ausgedrückt formulieren Handlungssemantiken gesellschaftliche Erwartungen über die Mittel und Ziele des Handelns, über den Träger des Handelns und über die Folgen des Handelns. Alle diese Dimensionen können – und werden – weiter ausformuliert (werden), etwa unter Fragen der Angemessenheit, der Motivlagen, der Konsensfähigkeit etc. Dabei muss das Handeln als Selektionsleistung – für diese und gegen jene Alternativen und Umwelten – ausbuchstabiert werden. Schließlich verweist das Handeln auf einen asemiotischen Weltausschnitt des Werdens, die in jeder Handlungssemantik enthalten ist, also auch so symbolisiert (reflektiert) wird: Erst, wenn auf einen Befehl hin wirklich geschossen wird, funktioniert Militär als Organisation, und erst wenn geschossen wird, entscheidet sich, wer gewinnt, verlieren Menschen ihr Leben, können sich – unter Androhung der Wiederholung – Regime etablieren oder destabilisieren und durch andere ersetzt werden. Sicher ist richtig, dass die „Ausführungen solcher Handlungen […] selbst die wesentlichste Manifestation der Verfügung über diese Begriffe“ darstellt (Winch 1966, S. 159). Aber der „leibliche“ Vollzug, das Handeln im Schütz’schen Sinne (in Abgrenzung zur Handlung) als einem „äußeren Wirken“ (Schütz/Luckmann 1994a, S. 104ff.; Srubar 2003, S. 77) ist zumindest ein Bereich dessen, was nach Luhmann durch Nicht-Wissen gekennzeichnet werden kann und in der einen oder anderen Weise auch wird. Das „Handeln“ in actu, der Einschnitt in die unbeobachtbare Welt als solcher wird als in seinen Folgen als nicht notwendig antizipierbar dargestellt, läuft insofern in der Kommunikation mit und wird in unterschiedlichem Ausmaß symbolisiert. Infrage steht, ob die Handlung als „Kompaktformulierung“ für diesen Sachverhalt in der Lage ist, das Spektrum der konstitutionstheoretischen Prämissen sozialer Ordnung in dieser Hinsicht abzudecken. Zu berücksichtigen ist, wie erwähnt, dass auch dem systemtheoretischen Zugang zufolge die Handlung eine funktionale Notwendigkeit der Kommunikation darstellt. Da diese über das Sinngeschehen der

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Beobachtung laufen muss, muss Kommunikation diskriminierbar gegenüber Nicht-Kommunikation sein. Luhmanns Idee war, dass Kommunikation sich als Handlung „ausflaggen“ müsse, um weiterlaufen zu können. Das Sonderproblem der Gesellschaft besteht ja darin, dass in „[…] systemtheoretischer Perspektive […] die Gesellschaft als ein soziales System [erscheint; M.K.], das Kommunikationszusammenhänge ausdifferenziert und abgrenzt gegen eine Umwelt, die aus anderen Systemen und deren Interdependenzen besteht. Zur Gesellschaft gehört danach nur das Kommunikationsgeschehen selbst.“ (Luhmann 2005r, S. 52, Hervorhebung M.K.)

Eine solche Funktion übernimmt, wäre zu vermuten, die Handlung. Mit Hilfe der Handlung lässt sich die Abschließung gegenüber der Nicht-Kommunikation vornehmen. Die Abschließung gegen NichtKommunikation definiert den möglichen Operationsraum des Sozialen im Sinne eines „Grenzmanagement“ der Bestimmung des SystemUmwelt-Verhältnisses und der (Selbst-)Festlegung was wohin gehört. Für die Entfaltung der Gesellschaftstheorie der funktionalen Differenzierung entlang symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien mit jeweiligen Funktionskodes ist ein Rückgriff auf das Handeln nötig, regeln diese Kodes doch die jeweilige reziproke Verteilung von Handeln und Erleben sowie deren Absicherung in symbiotischen Mechanismen – und die Frage ist, inwieweit man dabei auf den Rückgriff auf Handeln und Erleben verzichten kann. Wenn Kommunikation über Handlung disponiert, dann geschieht dies auch im Bewusstsein. Kommunikation braucht Bewusstsein und Bewusstsein braucht „seinen“ Körper. Die Entscheidung, Bewusstsein, Körperlichkeit und Verhalten sowie Kommunikation strikt zu separieren enthebt nicht von der Notwendigkeit, zeigen zu können, wie deren Kopplung möglich ist und wie sie selbstverständlich kontinuierlich hergestellt und aufgelöst wird. Das stärkste Argument für die Handlung als einem individuellen Vermögen und in dieser Hinsicht als Element sozialer Ordnung besteht sicher in der Homologie zwischen Handlungs- und Sprachstruktur einschließlich der pragmatischen Klammer zwischen beiden. Nur wenn dieser Zusammenhang innerhalb des systemtheoretischen Ansatzes adäquat rekonstruiert werden kann, vermag die These der Selbsterzeugung sozialer Systeme im Zusammenhang mit der Autopoiesis von Bewusstsein und einer an der Kopplung zwischen beiden sich bildenden sozialen Ordnung zu überzeugen,

H ANDLUNGSTHEORIE

UND

S EMANTIKANALYSE

| 39

innerhalb derer die Handlungssemantik eine wichtige Schematisierungsfunktion einnimmt, ohne selbst Konstitutionsbedingung zu sein oder zu bezeichnen.

3.

Handlung und Handlungssemantik „Handlungen

sind

Interpretations-

konstrukte.“ (Lenk 1978, S. 214)

3.1 E INLEITUNG In den beiden vorangegangenen Abschnitten wurde das Problem des Rückgriffes auf Handlung als einem konstitutiven Element autogenetischer sozialer Ordnung und als Selbstbeschreibungselement sozialer Systeme umrissen. Aus der eingangs formulierten Entscheidung, den Rückgriff auf Handlung von Seiten sozialer Systeme zu rekonstruieren, folgt methodisch, sich zunächst für die semantische Ausformulierung dessen zu interessieren, was mit Handlung jeweils gemeint ist: Was „leisten“ Handlungen und wie wird ihr Zustandekommen verstanden? Selbst eine oberflächliche Betrachtung legt, diese Fragen betreffend, ein Missverhältnis offen zwischen der Selbstverständlichkeit, mit der von der Handlung die Rede ist und der Vielfalt und Mehrdeutigkeit des damit bezeichneten „Gegenstandes“. Wenn, mit anderen Worten, die Sinnorientierung des „individuellen Verhaltens“ bzw. Handlung als Ausdrucksform menschlichen Lebens zum Ausgangs- und Endpunkt sozialer Ordnung deklariert wird, fangen die Schwierigkeiten der Bestimmung der Handlung erst an. Erinnert sei nur an die umfangreiche Präzisierung der Weber’schen Begriffe, zu der sich Schütz im „sinnhaften Aufbau der sozialen Wirklichkeit“ veranlasst sah. Einerseits musste Sinn in Bewusstseinsakten des Einsamen Ich aufgesucht wer-

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den.1 Andererseits sollte in die Genese der letztlich auf Bewusstseinsakte zurückgehenden Sinn- und Kulturformen Sozialität von Beginn an als konstitutives Element eingebaut sein (Schütz 2004, S. 93ff.). Die Einheit des Handlungsbegriffes (subjektive absichtsvolle Sinnorientierung als reflexive Zuwendung zu „wohlumgrenzten“ Erlebnissen), den Ausgangspunkt der Analyse, konnte Schütz nur durch eine faktische „Mehrfachverwendung“ des Handlungsbegriffes aufrechterhalten: einmal als grundsätzliche Akte des Bewusstseins schlechthin, einmal als spezifische Form der attention a la vie der Lebenswelt des Alltags.2 Diese Mehrfachverwendung ist symptomatisch für den Umgang mit der Handlung. Was das individuelle Verhalten in der Form der Handlung, sei es als willentliches oder nicht-willentliches materiales Verhalten, sei als kausales und/oder intentionales Geschehen, sei es als Akte der Interpretation und der Sinnverarbeitung, sei als teleologische Struktur oder als Organismus-Umweltverhältnis zur Genese und Reproduktion sozialer Ordnung beiträgt, bleibt mehrdeutig.3 Handlung ist so gesehen „Kompaktformulierung“ par excellence.4

1

Der Aufbau des Werkes mit dem Beginn beim „einsamen Ich“ hat Schütz den – bei Lichte betrachtet unhaltbaren – Vorwurf einer egozentrischen bzw. egologischen Handlungstheorie eingebracht. Schütz gehe von einer monologischen Bewusstseinsstruktur aus, für die (oder: in der) das Postulat der Intersubjektivität nur als Unterstellung fungiere (vgl. etwa Eickelpasch/Lehmann 1987, S. 42f.; Habermas 1995a, S. 197ff.).

2

Bzw. einerseits als Akte, „in“ denen man lebt, andererseits als reflexive Zuwendung zu Erlebnissen (Schütz 2005, S. 94).

3

Eine kurze Zusammenfassung über die Entwicklung der philosophischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Handeln geben für die Soziologie Parsons (1968, S. 51ff.), Luckmann (1992, S. 8ff.), Schöllgen (1984), Nassehi (2006, S. 70ff.) und Ricœur (2006, S. 97ff.). Eine umfassende historisch-semantische Aufarbeitung ist mir nicht bekannt.

4

Mit dem Label des „Kompaktformulierung“ versieht Gresshof systemtheoretische Formulierungen (2003, S. 79). Die Unklarheit dessen, was handlungstheoretisch als Handeln gefasst wird, sah demgegenüber schon Elias. Die Unklarheit besteht darin, nicht genau zwischen unterschiedlichen kognitiven, organischen und sprachlichen Ausdrucksformen zu unterscheiden (Elias 1987, S. 178ff.). Luhmann spricht vom „Komplexbegriff“ Handlung (Luhmann 1993a, S. 259).

H ANDLUNG

UND

H ANDLUNGSSEMANTIK

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An diesem Punkt stellt sich die Frage, worin der als Handlung bezeichnete „Input“ für soziale Ordnung, die den Austausch zwischen Individuen regelt, bestehen könnte. Soziale Systeme kommen sicher nicht ohne körperliche Bewegungen – etwa denjenigen Bewegungen, die dem Sprechen oder Schreibens zugrunde liegen – und ohne bewusst beteiligte Individuen (psychische Systeme) zustande. Das aber ist nicht notwendig gleichbedeutend mit „Handlung“ – schon gar nicht mit einem subjektiv-individuellen „Beitrag“ zur Sinnordnung sozialer Systeme qua Handeln. Betrachtet man die „soziale Konstruktion“ der Handlung genauer, so fällt zunächst die Verwischung einer Unterscheidung ins Auge, nämlich die zwischen dem Tun (to do) im Allgemeinen und dem Handeln (to act) im Besonderen. Mit Tun bzw. Tätigkeiten meine ich die einzelindividuell bedeutsame Erlebnisweise im Sinne von „Kinästhesen oder Körperbewegungen“ und sie begleitende, planende oder bewertende Gedankengänge, kurz: Schützens Leben in Akten.5 Etwas geschieht nicht von sich aus, sondern von mir aus. Mit Handlung im Besonderen ziele ich auf eine spezifische Form der symbolischen Bezeichnung einiger, aber nicht aller Tätigkeiten, Denk- und Erlebensweisen. Vergegenwärtigt man sich, was mit „Handlung“ begrifflich erfasst wird und wodurch die „Handlung“ im Rahmen semantischer Beschreibungen bestimmt wird (also Unterscheidungen, Bezeichnungen, Kontextuierungen, Bewertungen), so kann man von einer Handlung gerade nicht schon dann sprechen, wenn jemand (irgend) etwas macht.6 Wir können nur dann von Handlungssemantiken sprechen, wenn

5

Wobei Schütz selbst eine etwas abweichende Unterscheidungsweise wählt: Tun bezieht sich auf „sinnhafte[n] Erfahrungen der Spontaneität“ und liegt in derselben Dimension wie das Denken sowie des traditionell oder affektuell motivierten Tuns. Denken und so motiviertes Tun bilden bei Schütz die Klasse des Verhaltens. Handlungen werden als „Ausdrucksformen des sozialen Lebens“ verstanden, die einen Entwurfscharakter tragen, worunter Tagträume, Leistungen, Wirken rubriziert werden (Schütz 2004, S. 183ff.).

6

In gewisser Weise folgt die Unterscheidung der Differenzierung zwischen Sinn aktualisierenden Ereignissen und dafür zur Verfügung stehenden semantischen Formen – aber nur in gewisser Weise (vgl. Luhmann 1993, S. 19).

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die Frage, was getan (oder vermieden) werden soll, nicht von vorneherein, gleichsam lückenlos geklärt ist, sondern Gegenstand der Reflexion ist (vgl. Ricœur 2006, S. 273f.), bestimmt werden muss, wie, ob, und wenn ja, warum man (wer immer) den „Mut“ zum verändernden Eingriff in das So-Sein der Welt aufbringt oder dieses unterlässt (vgl. Luhmann 1997, S. 239, Gumbrecht 2004, S. 100f.) und eine im weitesten Sinne symbolisch und sprachlich manifestierte Ordnungsvorstellung über schiere Gewaltakte (oder Flucht) hinausweist (Mauss 1990, S. 180f.; Reemtsma 2008, S. 406f., 458ff.; Boltanski/Thévenot 2007, S. 45; Winch 1966, S. 65ff.; Gehlen 1956, S. 28ff. u.v.m.).

In diesem Sinne steht die Handlung immer im geschichtlichen Zusammenhang, also in einem Zusammenhang mit offenen – oder genauer: problematischen – Möglichkeiten (Schütz, 2003d S. 336f.). Das Hineinstellen in eine solche Möglichkeitsstruktur macht Handlung erst zur Handlung resp. zu einem relevanten Ereignis und damit das Ereignis abhängig von seiner kulturellen (bzw.: kommunikativen) Identifikation (vgl. Koselleck 1989, S. 144). Das „eigentliche“ Handeln erhebt sich erst – mit Blick auf das individuelle Tun – jenseits des Notwendigen, jenseits der Arbeit, mit Blick auf Dasein und „Triebe“. Aktivitätszentrum ist man deshalb nicht schon, man wird es: „Die Fähigkeit zur Selbstführung, die Subjektivität ausmacht, hat man nicht schon, sondern muß erworben werden. Erworben werden kann die Fähigkeit zur Selbstführung aber nicht abstrakt oder als solche; erworben wird die Fähigkeit zur Selbstführung vielmehr so, daß die Fähigkeit zur Ausübung bestimmter Handlungsweisen oder Praktiken erworben wird. Im Begriff der Fähigkeit, des Vermögens, der Kraft, der Macht […] sind diese beiden Aspekte von Beginn an miteinander verbunden; Sich-führen-Können wird als Etwasausführen-können erworben.“ (Menke 2005, S. 328)

Die Gleichsetzung des Oberbegriffs Handlung mit „praktischen Tätigkeiten“ (bzw. mit dem Tun) führt deshalb zu einer Reihe von Verwischungen. Die Verwendung der Handlung als klassifikatorischem Oberbegriff für alle Verbklassen, die leiblich-körperliche oder geistige Tätigkeiten bezeichnen, verdeckt einerseits den beobachtbaren Sachverhalt des nur eingeschränkten Gebrauchs des Substantivs Handlung

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UND

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und des Verbs des Handelns in der kommunikativen, alltäglichen Praxis, in welcher die Handlung nur eine besondere (rechtliche, politische, religiöse, moralische etc.) Form bezeichnet (Davidson 1990, S. 21). Andererseits wird so dem Tätigsein die Struktur des Sprechaktes als einer notwendig überlegten Form von Information und Mitteilung aufgeprägt.7 Und dann beschreiben teleologische und instrumentelle, dramaturgische und normenregulierte, schließlich verständigungsorientierte (kommunikative) Handlungen, wie sie von Habermas zusammengetragen wurden (Habermas 1995, S. 126ff.; 1995a. S. 273ff.) nichts anderes als Elemente von Kommunikation.8 Im Folgenden werden diese Modi der Verwischung des Unterschiedes als Formen der Selektion des Relevanten vom Irrelevanten und der bedeutenden und unbedeutenden Akteure als Handlungssemantiken untersucht. Gefragt wird, was gemeint ist, wenn man behauptet, Handeln sei notwendig für soziale Ordnung oder soziale Systeme. Und diese der „gepflegten Semantik“ entnommenen Postulate werden überführt in die Frage: Warum greifen soziale Systeme auf Handlung zurück?

3.2 P RAKTISCHE K LUGHEIT , SITTLICHE H ANDLUNG , INTERESSEGELEITETER T AUSCH 3.2.1 Das ideengeschichtliche Erbe Das Thema der (relevanten) Handlung streut über gesamte die Breite der Entwicklung der europäischen Ideengeschichte. Dabei waren es nicht immer „die“ Menschen, und schon gar nicht jeder Einzelne, die

7

„Wir können nun sagen, dass eine Handlung (wie ein Sprechakt) nicht nur nach ihrem propositionalen Gehalt, sondern auch nach ihrem illokutionalen Moment identifiziert werden kann. Beide zusammen konstituieren ihren „Sinn-Gehalt“.“ (Ricœur 1972, S. 262)

8

Damit wäre auch eine Antwort auf die Frage gegeben, was die von Habermas unterschiedenen Handlungsarten überhaupt zusammenhalte. Diese Frage hat Bernstein aus der Sicht der pragmatischen Theorietradition formuliert (Bernstein 1975, S. 25ff.). Habermas selber führt seine drei Haupttypen des Handelns auf Arbeit, Herrschaft und Bildung im Rahmen der Selbstherstellung der Gattung Mensch zurück (Habermas 1973, S. 346f.).

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für die Geschicke des sozialen Zusammenlebens über „ihre“ Handlungen verantwortlich zeichneten. Am einschlägigen Beispiel des Ödipus wird in verschiedenen Studien verdeutlicht, dass die kosmologische Ordnung unabhängig von den Absichten des Einzelnen ihn in das Schicksal einspinnt und er dennoch als Handelnder reflektiert (wird) und deshalb Verantwortung für „sein“ Tun zu übernehmen hat. Auch ohne Absicht bleibt der Akteur derjenige, der die Taten vollzogen hat, quasi „center of agency“ (Ricœur 2006, S. 101ff.). Nach Ricœur artikuliert sich das als unwillentlich gehandelt habend reflektierende Ich dabei dennoch im Rahmen der Handlung – und dort als Form des SichSelbst-Erkennens. Der Mensch wird durch die Einsicht in diesen Zusammenhang gleichsam mit seinem Schicksal versöhnt. Das Tun (mit Davidson: die Körperbewegungen) vollzieht der Handelnde, aber die Intention liegt außerhalb seines Einflussvermögens. Diese Paradoxie der Ansiedelung von Verantwortlichkeit in den Sachen (einschließlich des „äußeren“ Tuns) und der gleichzeitigen „Schwemme“ von Verantwortungsethiken finden wir auch heute: als Unbehagen, dass den modernen Menschen in seinem Handeln auszeichne: für etwas verantwortlich zu sein, für das er – angesichts der Fernwirkung globaler Infrastrukturen nichts könne (Heidbrink 2003; 2007, S. 34ff, S. 174ff.). Vergleichbares gilt für die Frage, wer überhaupt mit Agentschaft ausgestattet ist und was da getan wird, wenn jemand handelt. Die soziale Ordnung ermöglicht das Miteinander-Handeln und folgt einem Telos, das mehr oder minder gut praktisch umgesetzt werden kann. Handlung und Ordnung sind durch einen gemeinsamen Letzthorizont integriert, als deren Autoren zwar „die Menschen“ erscheinen mögen. Sie sind aber selbst im eigentlichen Sinne „nur“ Akteure – die zum Beispiel durch Vertrag und die Aufgabe der interpersonalen Willkür in ein wechselseitiges Konstitutionsverhältnis höherer Ordnung mit dem Staat oder der Ökonomie als Ordnungsgaranten zusammengeschlossen werden. Der konstitutive Akt verschwindet in der hypothetisch angenommenen Vorgeschichte: etwa dem Vertragsabschluss. Damit wird Begrenzung in hohem Maße thematisch, denn im Prinzip könnte ja der Schöpfer zurückkehren und die Ordnung wieder infrage stellen – wie Verträge generell, so haben auch diese Vertragsformen Ausstiegsklauseln. Sie verschiebt die Perfektion in die Ermöglichung subjektiver Entfaltung, soweit das Selbst eine transzendente Größe wird, etwa als Subjekt mit entsprechenden Neigungen, etwa der menschlichen Sympathie, die die Ordnung begründet, wenn man ihr Bahnen schafft –

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UND

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wobei dann hinzugefügt wird, dass weniger Zuneigung und mehr Kalkül das Wesen des Subjekts bestimmen sollen. Dynamik und Wandel zum Besseren entwickeln sich auf der Basis der Entfaltung individueller, rationaler Entscheidungsmöglichkeiten und deren Ergreifen durch den Einzelnen als sozial anerkannter Träger von Recht und Eigentum (Parsons 1972, S. 28ff.).9 Diese Freisetzung hat – im Lichte sozialer, das heißt sinnhafter Ordnung – gerade eine orientierende, das heißt „ideologische“ Funktion der symbolischen Überhöhung der politischen Ordnung des Liberalismus. Es ist nahe liegend, die Vertiefung und Systematisierung dieser knappen Skizze bei Aristoteles einsetzen zu lassen – bei der sprachlich-gesellschaftlichen Bestimmung des Handelns im Verbund mit einer auf die praktische Perfektionierung dieses Handelns entfalteten Ethik. Im Anschluss bietet sich, folgt man den heute gängigen Rekonstruktionen, insbesondere die Konzentration auf Motivlagen inszenierten Handelns an. Schließlich bilden die Epochen des Liberalismus und der Aufklärung jenen Umschlagpunkt der Naturalisierung der Handlungspotenz in rechtlicher, wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Manier, der (Meta)physik der sozialen Ordnung und der Objektivität der Dinge. Die letztere wird als erste Reaktion auf die Umstellung stratifikatorischer auf funktionale Gesellschaftsstrukturen gesehen bzw. wird mit der „beschreibend-analytische[n] Haltung zu den Grundfragen des Handelns“ verbunden (Luckmann 1992, S. 9.). 3.2.2 Das teleologische Handeln als Konstruktionsleistung der guten Gesellschaft Die aristotelische Handlung sichert als bedeutsame Rede die Ordnung des griechischen Polis-Oikos-Verhältnisses. Die zentralen gesellschaftsbildenden Kräfte werden in der gemeinsamen Rede zusammengebunden. Sie wirkt struktursichernd durch Verständigungsorientie-

9

Wie häufig hervorgehoben basiert dies utilitaristische Argument daher nicht auf der Möglichkeit des egoistischen Kalküls „an sich“, sondern auf der Notwendigkeit des Vollzugs dieses durch soziale Regulierung aufgezwungenen Kalküls und keines anderen, in jeder Situation, durch jeden Einzelnen, im Kontext spezifischer Wertsphären (darin sah bekanntlich Weber die spezifische Leistung des Okzident; zur Kritik siehe klassisch: Parsons 1968, S. 101f. und 1973, S. 136ff.).

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rung und ist deshalb exklusiv: Sie setzt „darunter“ liegende Lebensformen als nicht-gesellschaftsbildend – aber als soziale Verkehrsformen – voraus und aus sich heraus: die Künste der Herstellung, des Warentauschs und des Geldverkehrs, die Arbeit (und im Sinne einer funktionalen Notwendigkeit auch: Erziehung). Das Handeln überspannt die Differenzierung der Haushalts- und der politischen Regelung unter anderem über die Formen der Freundschaft und der Tugend in der Gesellschaft freier Bürger, die willentlich dafür Sorge tragen, dass das als Telos gesetzte System nicht zerfällt.10 Die praktische Philosophie dient der Einordnung der Ordnung in den Kosmos sowie der Einübung der Bürger in die Ordnung im Sinne einer nötigen „Diätetik der Affekte“ – was nichts anderes bedeutet, als dass die Ordnung zwar als kontingent angenommen wird (Hesse 1999, S. 129), aber durch ein Telos zu sich selbst geführt und damit nicht einfach dem ideosynkratischen Entscheidungen der Einzelnen überantwortet wird, sondern einen Bildungsprozess bei diesen einschließt (den der Praxis). Hierin besteht des spezifisch gesellschaftliche Band der Polis vor dem Hintergrund deutlich gesehener innerer und äußerer Bedrohungslagen, die nicht zuletzt den umfassenden schriftlichen Quellen und dem Modus der Fremdbeobachtung auf dieser Basis geschuldet sind (siehe Moscovici 1984, S. 21; Arisoteles 1981, S. 82ff., S. 228ff.). Aus diesem Kernbestand heraus entwickelt sich eine Lehre der Sozialstruktur der Polis entlang verschiedener Lebensformen und Künste, die auf der einen Seite vom dem Alltagsleben entrückten Schauen (Theorie) und auf der anderen Seite vom bloß tierischen, gesellschafts- und vor allem sprachlosen Leben begrenzt wird (s. Aristoteles 1981, S. 49ff.) sowie deren positionaler Ordnung (räumlich innen-außen sowie sozial obenunten; vgl. Arendt 2002, 35ff., S.241ff.). Dass das Handeln vom Menschen ausgehe, sagt Aristoteles, und er gilt deshalb als Begründer der Handlungstheorie als praktischer Philosophie und Ethik: „Es scheint nun, wie gesagt, der Mensch der Ausgangspunkt der Handlungen zu sein.“ (Aristoteles 2004, S. 157)

10 Diese Figur identifizieren Boltanski und Thévenot auch für die spätere Tradition des Staatsbürgerschaftsverständnisses.

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UND

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Das Handeln betreffend ist nicht der „Mensch an sich“ gemeint, sondern ein spezifisch „qualifizierter“ Mensch, der als Bürger und Hausvorstand die beiden Ordnungen des Oikos und der Polis repräsentiert (Ritter 1969, S. 99). Handeln kann der Mensch nur oder erst, insofern er „frei“ ist in der und durch die Gesellschaft seinesgleichen, sozusagen im Dreieck zwischen politischer, häuslicher und freundschaftlicher (gesellschaftlicher) Ordnung. Der Ausschluss, namentlich von Metöken, Frauen (und Kindern) sowie von Sklaven, ist insofern ein interner Ausschluss: die benannten Gruppen sind Teile der Haushalte und daher quasi im Handeln der Hausvorstände mitrepräsentiert. Soweit kann man festhalten, dass das Handeln als ein Zuschreibungsprozess organisiert ist, der nicht alle „Menschen“ umfasst, gleichzeitig die Gestaltung der Sozialordnung durch die Handelnden als sich „enthüllende“ Autoren (nicht: als Aktoren) hervorgebracht wird – und zwar indem sie zwischen dem Allgemeinen und Besonderen je situativ und gemeinschaftlich vermitteln (Aristoteles 2004, S. 221ff.; vgl. Arendt 2002, S. 213ff.; Ritter 1969, S. 68ff.; Hesse 1999). Das Handeln gibt sich seinen Zweck jedoch nicht alleine „durch“ den Menschen, sondern durch ein natürliches Streben zu einem höchsten Ziel (die Folgen sind in den Ursachen bereits angelegt). Die Strebensstruktur des Handelns umfasst die Vorzugshandlung, das Abwägen zwischen Alternativen und eine die Abwägung zwischen Mitteln und Zwecken übergreifende Tugendschule qua Praxis. Folglich kommt es nicht auf die individuellen Motive, sondern auf die Verständigungsorientierung an, die einerseits standesbezogen ermöglicht, andererseits durch Praxis geschliffen wird (werden muss), wobei die Praxis durch das Telos der Polis (das Ganze) bestimmt wird. Es ist die Ordnung der Polis, die das Menschliche verbürgt und zum Vorschein bringt (ebd.). Sie weist daher eine Teleologie zum Menschlichen auf: Der Zweck der Bewegung als Zweckursache, das Streben zum Zweck hin als telos: Glück als beständiger Zustand in sich, ohne weiter irgendwohin zu streben. Glück heißt dann auch das Ende des Strebens: „Selbständigkeit und Vollendung“, alle Arbeit, Geld etc. sind Mittel dahin und als Mittel selbst kein Handeln (s. Ritter 1969, S. 66f.; Aristoteles 1981, S. 61f.). Autarkie erscheint als „konstitutiver Begriff“ der Polis im Sinne von nicht-bedürftig-sein. Das hat seine Verbindung zum „Sagen“ schon methodologisch. So wird etwa die Frage nach dem Glück über den hermeneutischen Umweg dessen beantwortet, was darüber gesagt wird – also wie es betrachtet wird (so die Rekonstruktion von Ritter

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1969, S. 64f.). Es kommt also nicht nur darauf an, was gesagt wird, sondern vor allem, wie etwas gesagt wird – und dessen „Konditionierung“. Glück ist das (Vorstellungs-)Vehikel des Naturdrängens der Praxis in Richtung des selbständigen und autarken Menschen (des Hausvorstandes). Dies geht nur vermittels Sprache und in der Gesellschaft der Freien. Die Lehre Aristoteles’ zeigt, nochmals nach Ritter, „[…] daß die Begründung der politischen Ordnungen darum den Rückgriff auf die Natur des Menschen fordert, weil mit der Polis zuerst eine Gesellschaftsform in die Geschichte eingetreten ist, deren Subjekt der Mensch als Mensch ist.“ (Ritter 1969, S. 71)

Das „Gesagte“ ist Ausdruck der Ordnung, so zu Sprechen also Anzeichen für die – reflexive – Form des Lebens in der Polis. Die reflexive und auf Bewahrung ausgestaltete Ebene der Handlung und der Handelnden ermöglichen es, dass Bedürfnisse mit Hilfe des eigenen Verfügungsbereichs befriedigt werden, nämlich qua Haushalt im Verhältnis zu anderen Haushalten, deren Tauschhandel (und Binnenstruktur) durch den Rahmen des Ganzen, also der Polis, gesichert wird. Die Arbeitsteiligkeit der Haushalts-Verschränkung erzwingt denn auch die Unterscheidung von Lebensformen und wenn man so will, funktionale Spezialisierung – in Form von „Künsten“, denen jeweils Bedürfnisse und deren Befriedigung zukommen. Handlung als Künste zieht eine scharfe Grenze zwischen den „ausgebildeten“, quasi begrifflich versprachlichten Handlungsformen und dem, was nebenher laufen muss, aber keine strukturbildende Kraft gewinnen kann (zum Beispiel dem Arbeiten). Die Praxis, das sind daher nicht zum Beispiel die Produktionsverhältnisse, sondern tatsächlich der Vollzug der Kommunikation. Die biologischen Bedürfnisse, die Notwendigkeit der Arbeit etc., aber auch die Arbeitsteilung reichen nicht hin, eine Gesellschaft zu bestimmen. „Es gibt auch Handeln, das nicht kunstgerecht ist; aber solches Handeln ist für die Stadt unwesentlich, es geht in ihr mit, ohne daß es die gesellschaftliche Praxis konstituiert.“ (Ritter 1969, S. 79)

Ob hier von Handeln, und wenn ja, von welchem Typus gesprochen werden kann, sei dahingestellt. Wichtig erscheint eher die Identität des eigentlichen Handelns mit der (Selbst-)Beschreibung des „Bandes“ der

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Polis-Gesellschaft durch die Art und Weise des Handelns und die Identifizierung ihrer Träger als spezifische Form des sprachlichen (und ethisch begrenzten) Verkehrs untereinander. Wer handeln kann ist die Polis und umgekehrt: nicht im Sinne eines Repräsentationsverhältnisses, sondern im Sinne eines Vollzuges bzw. der sozial vermittelten Autorenschaft – im konstitutiven Medium der relevanten Praxis- und Lebensform. Insofern ist die Handlungslehre eine Ethik praktischer Klugheit, die dafür sorgt, adäquat zu handeln. Die adäquate Handlung ist ein Abwägen um einen spezifischen, wie Ricœur festhält, friedlichen Kern herum. Das Handeln bestätigt also die Ordnung, weniger den Sprecher, denn dieser ist qua Haushaltsvorstand automatisch Sprecher. Im Mittelpunkt steht also das Verstehen (oder sich-verständlichmachen). Wir halten also fest: das Ganze emergiert bei Aristoteles als Folge des Erzogenwerdens zur sprachlichen Sicherung im Spannungsfeld mit „äußeren“ (Mehrere Poleis; Assoziationen jenseits der Poleis, „Natur“) und „inneren“ Horizonten (Haushalte und deren sozialstrukturelle Differenzierung, Bedürfnislagen und Affekte) – inklusive Verantwortung, ermöglicht menschliches Handeln, das gerade deshalb nicht auf subjektive Motive zurückführbar ist, sondern teleologisch sich selbst entfaltet oder entfalten würde, wenn dem nicht anderweitige Kräfte entgegenstünden bzw. soweit dem nicht anderweitige Kräfte entgegen stehen. Das Zwischenglied ist das der Praxis, die Lehre exemplifiziert sich an sich selbst, das Leben und seine soziale Reproduktion (Arbeit) muss zwar, aber kann dann auch „mitlaufen“ als Folge der geregelten Praxis. Die Handlung geht also zwar vom Menschen aus, macht aber das Wesen der städtischen Gesellschaft aus, die diese spezifische Form der Handlung dem (zugehörigen) Menschen ermöglicht – genauer: es handelt sich um Zirkel der Handelnkönnenden durch die die Polis-OikosOrdnung sichernden Gesellschaft, die aus deren Handlungen besteht und nicht in der Polis aufgeht. Handlung ist Abwägung (Gephart 1993, S. 18ff.) – und nur dann ist es ein Handeln: Es dient der „Korrektur des gesetzlich Gerechten.“ Gesetz ist allgemein und man kann „in einigen Dingen aber in allgemeiner Weise nicht korrekt“ sprechen, das Billige gleicht diesen Sachverhalt aus und ist daher „das Bessere“, denn: „Die Materie des Handelns ist nämlich von vornherein von dieser Art.“ (Aristoteles 2004, S. 227)

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Zwischen allgemeiner Regel und konkretem Fall klafft eine hermeneutisch zu überbrückende Lücke. Öffentliche Rede und individueller Spielraum der Abweichungsbegrenzung machen das Handeln zur vita activa im Sinne Arendts (vgl. Arendt 2002,S. 17ff.). Handlung erhält so Prominenz in der Form der Abwägung in der nahräumlichen und doch öffentlichen Austauschform von Sprachzeichen. Hieran knüpft die Debatte um „praktische Klugheit“ bzw. um „berechnende Weisheit“ an (phronesis, prudentia), vergleichbar mit dem eben genannten „Billigen“. Dies geschieht jedoch im Rahmen eines (wiederum: sprachlich) definierten Korridors, den es gilt zu bestätigen – und insofern findet eine grundsätzliche Transformation des Pragma auf die Verständigung hin statt, als willentliche und wenn man so will gutwillige (friedensorientierte) Einstellung der Verbindung vom Besondern und dem Allgemeinen (vgl. Boltanski/Thévenot 2007, S. 208f.; Ricœur 2006, S. 116f.). Die Ordnung setzt Einsicht voraus – und fällt dahingehend gerade nicht mit einem alltäglichen, sozialen Grundmuster zusammen, sondern hebt sich von diesem ab (Srubar 1999, S. 19ff.). Handeln in diesem Sinne ist demnach kein Herstellen (keine Konstitution), sondern eben Konstruktion im Rahmen einer Konstitution. Die Mauern sind errichtet, das Recht steht, jetzt gilt es, zu bewahren – und nur dann ist das Handeln als Entfaltung menschlichen Potenzials möglich, so die Rekonstruktion der aristotelischen Lehre von Arendt (Arendt 2002, S. 78).11 So gesatzt, wird eine Ordnung in Freiheit von der Not ermöglicht, deren Voraussetzungen jedoch immer wieder erneuert werden, aber nicht durch Handeln per se, sondern durch ein Abwägen im Sinne der Erhaltung der Ordnung. Die Handlung dient der Vermittlung zwischen den Ordnungssphären des Haushalts und seiner Interessen sowie der die Haushalte überspannenden und sie „retro-aktiv“ ermöglichenden politischen (und rechtlichen) Ordnung. Wie leicht ersichtlich, erzwingt die Verständigungsorientierung gerade eine Distanzierung zur „alltägliche[n] Attitüde“, der situativ orientierten Interessenverfolgung, was auch für andere Erkenntnisstile, etwa das der Kunst gilt (vgl. Srubar 2007b, S. 77 für die Poetik). Gerade hierin besteht die Notwendigkeit

11 „Kollektives Handeln“ wird praktisch in allen Verwendungskontexten bezogen auf eine rechtlich konstituierte Einheit: etwa den Nationalstaat (vgl. exemplarisch: Cerny 1998).

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der praktischen Philosophie: der schon gennanten Diätik der Affekte durch Einsichtigmachen. Innerhalb der Ordnung im ausgeschlossenen Bereich kann dann auch nicht gehandelt werden: der Unfreiheit und jenseits der Künste (Irrelevanz) bzw. außerhalb der Ordnung: Einzelner (Tier) oder Beweger (Gott). Die Vorstellung fehlenden Handlungsvermögens würde mit dem Ende der Existenz der bestehenden Ordnung konvergieren (und nicht nur: unsittlich sein) – Handlungsmacht und -begrenzung sind zwei Seiten einer Medaille. Als zunächst wichtigste Handlungslehre erscheint, so Luhmanns Interpretation, entsprechend die politische der Willkürbegrenzung – und das kann nur im Sinne der Sicherung der Polis und als Lebensform der Polis verstanden werden (Luhmann 2005c, S. 175f.). Das muss auch so sein, auch wenn es nur eine Dimension des Gesellschaftlichen darstellt, eine weitere wäre die Theologische (s.u.). Der Grund ist in der eben beschriebenen Exklusivität zu finden: Die „gesellschaftliche Ungleichheit“ ist keine solche, denn die Ausgeschlossenen sind Angehörige der Haushalte, und die Gesellschaft setzt sich aus den Hausvorständen zusammen. Die Beschreibung formuliert damit automatisch eine politische Integration qua Hierarchie der Lebensformen (vgl. Stapelfeldt 2006, S. 21). Diese Eingrenzung lässt sich auf zwei Wegen relativieren, einerseits durch Unterscheidung von Handlungsarten, andererseits durch die Auseinandersetzung um die Frage nach der Natürlichkeit der Sozialstruktur. Bei Aristoteles konvergieren die beiden Richtungen, sodass jenseits der Gesellschaft etwa in Haushalten auch Bande zwischen den Einzelnen möglich bleiben – aber nur einigen die Handlungsfähigkeit zugeschrieben wird (vgl. Koselleck1989). Diese Ordnung ist „konservativ“: mit einem inhärenten Telos versehen auf der Basis der „natürlichen Verfasstheit“ – ihr oberstes Ziel: weltabgewandt. „Leben ist wesentlich Handeln, nicht Arbeit“, sagt Schöllgen über die Aristotelische Handlungslehre (Schöllgen 1984, S. 12). Er dürfte dabei die einschlägige Stelle in der Politik im Auge haben: „Die Werkzeuge im geläufigen Sinne sind produzierende Werkzeuge, der Besitz dagegen dient dem Handeln. Denn durch das Weberschiffchen wird etwas hergestellt, was von seinem Gebrauch verschieden ist; das Kleid und das Bett sind zum Gebrauche dar.

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Ferner: da sich das Produzieren seiner Art nach vom Handeln unterscheidet und beide der Werkzeuge bedürfen, so müssen auch diese denselben Unterschied aufweisen. Das Leben wiederum ist ein Handeln und kein Produzieren. Darum ist auch der Sklave ein Gehilfe beim Handeln.“ (Aristoteles 1981, S. 51f.)

Das ausschließende Moment des Einschlusses von nicht-Freien (Frauen, Kindern, Sklaven, Metöken) im bzw. in den Haushalt entzieht ihnen Rede-, Verhandlungs- und Entscheidungschancen, insofern diese vom Hausvorstand im Rahmen der Versammlung der so als frei gesetzten Hausvorstände vollzogen werden (Balibar 2005, S. 127). Genau dies ist Ausdruck von Gesellschaft sowie Ausdruck gesellschaftlichen Strukturwandels. Die Semantik der Oberschicht grenzt also die Mehrzahl der Einwohner als handlungsfähigem Teil der Polis-Gesellschaft intern ebenso aus wie die Bewohner von Gebieten außerhalb der Polis und des Systems der Poleis (vgl. Parsons 1986, S. 163). Analytisch betrachtet zeichnet sich die Ordnung durch Stasis aus, wie Parsons bemerkt. Niedriger Bürokratisierungsgrad, die Abhängigkeit von den Unterschichten und die prekäre Balance beschneiden die Möglichkeiten effektiverer Organisation (ebd.). Daher stammt denn auch das spezifische Spannungsfeld zwischen zwei Ordnungsformen, das bei Luhmann, zweifellos anhand der Parsons’schen Rekonstruktion in die allgemeine Definition stratifizierter Gesellschaftsformen eingeht: die relative Entkopplung von Verwandtschaftsgraden durch ein neues, politisches Ordnungssystem, wobei das Verhältnis beider zueinander in der zeitgenössischen Behandlung thematisiert wird (zum Beispiel Antigone, rekonstruiert bei: Reemtsma 2008, S. 56ff.; siehe Luhmann 1998, S. 678ff.; Luhmann 2005c, S. 174ff.; Parsons 1986, S. 164f.). Gesellschaft verweist also über den Rechtsbund der Haushalte, die Arbeitsteilung zum Zwecke der Bedürfnisbefriedigung, die Hierarchisierung der Lebensformen etc. hinaus auf freundschaftliche Bande und sittliche Lebensführung. Sie wird durch die Praxis der Handlung zusammengehalten: Als intersubjektive Sprachpraxis unter Gleichen und Bekannten – in einem System, das wesentlich mit Anwesenheit ein-

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hergeht.12 Das Entscheidende für Luhmann ist die vornehmlich politische Ausrichtung der Gesellschaftssemantik, die eine stratifikatorische Sozialstruktur etabliert: „Es waren also im Rahmen einer stratifizierten Gesellschaft nur kleine Teile der Bevölkerung, die als populus, als cives, als subditos handeln konnten; und es waren Leute, die etwas zu verlieren hatten und dadurch diszipliniert wurden.“ (Luhmann 2003a, S. 141)

Auch dem Inhalte nach gehört nicht viel zur Gesellschaft, wesentlich weitere Teile des zwischenmenschlichen Verkehrs liegen außerhalb der Gesellschaft, werden durch diese ermöglicht aber fließen in sie gerade nicht ein. Die Semantik etabliert „[…] eine Differenz von oben und unten“, die politisch als Herrschaft konzipiert werden konnte, so daß die oberen Teile, die majores partes, als jene angesehen werden konnten, die, obwohl Teile, das Ganze repräsentierten.“ (Luhmann 2005c, S. 175)

Die Bereiche sind nicht funktional, sondern gleichsam schichtmäßig ausdifferenziert (und deshalb kommt es auf denjenigen Einzelnen an, der als mutipler Rollenträger zur herrschenden Schicht gehört, dessen individuelle Autonomie gleichwohl de facto durch Einwilligung beschnitten wird). Die Semantik (der Handlung) ist also ein wichtiges Element der Stabilisierung der Ordnung. Sie wird von einem Teil „realisiert“ und schafft darin die Vorstellung des Ganzen vermittels der Handlungsfähigkeit, mit deren Hilfe sie sich (den Teil) beschreibt und obwohl der Zusammenhang des zwischenmenschlichen Verkehrs natürlich weiter gefasst wird (es findet ja Geldwirtschaft und Sklavenhaltung etc. statt): Gleichheit und Ungleichheit, Tausch und Vergeltung, Gemeinschaft wird durch den Austausch von Leistungen zusammen gehalten und begründet sich daher in der Arbeitsteilung bzw. der Aufteilung und Hierarchisierung der „Künste“ (Aristoteles 2004, S. 214). Geld kommt von Vergeltung (jedem das seine) als Währung der dahinter stehenden,

12 Mit der weiteren Folge, dass eine vertrauensstiftende Kommunikation auch die expressive Dimension der Zustimmung zur kosmischen bzw. religiösen Ordnung zu enthalten hat (Reemtsma 2008, S. 56ff.).

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den Tausch bedürfenden Bedürfnissen. Man hat also der Waffengewalt unter den Haushalten entsagt (und auf die Ebene der Außenkontakte verlagert) und tauscht miteinander (und über die Polis-Grenzen hinweg) – auf der Grundlage einer sozialen Ordnung allerdings, die eigene Ansprüche aus sich heraus treibt und im höchsten Gut, das sprachlich geformt wird, aufgehoben sind. In diesem Sinne bezeichnet das Handeln gerade nicht eine Herstellung von etwas, sondern ein durch die Polis ermöglichtes In-Erscheinung-Treten, wie man mit Arendt formulieren könnte (Arendt 2002, S. 214). Wichtig dabei ist Arendts Verweis auf die Genese von Objekten im Rahmen dieser Form des Handelns, die zugleich die Macht durch Perspektivität in die Welt setzt und durch die Handlungsform begrenzt (siehe dazu auch Dewey 1995, S. 167ff., insbes. 171f.): die Genese der und positionale Zuordnung zur Sozialstruktur und Arbeitsteilung. Die Relevanz des aristotelischen Modells liegt in jener Begründung dieser Ordnung durch die verbale Handlung: „Krisen und Urteile sind […] Momente, in denen die Akteure ihr Handeln verbal ausführen und darlegen. Sie sind darum bemüht, mit sprachlichen Mitteln Verallgemeinerungen vorzunehmen und Fakten zu schaffen und machen davon einen Gebrauch, der dem wissenschaftlichen Gebrauch der Sprache nicht un13

ähnlich ist.“ (Boltanski/Thévenot 2007, S. 476)

Die wahrhafte Form des Tugendlichseins wird im (zweckfreien) Theoretisieren, im Schauen, in der Beobachtung angesetzt. „Sie bietet uns außer dem Betrachten nichts; vom praktischen Handeln dagegen haben wir noch einen größeren oder kleineren Gewinn außer der Handlung.“ (Aristoteles 2004, S. 346)

Worin besteht also die aktuelle Relevanz der Rückwendung zu Aristoteles? Folgt man Conze und Groh, dann besteht er in der Ausdehnung

13 Boltanskis und Thévenots Studie ist deshalb interessant, weil sie die Rechtfertigung, Kritik und Einigung gleichsam als Grundlage des Sozialen ansehen – also das Polis-Modell zur Grundlage aller Sozialformen als reflexiver Begründungsordnungen machen – und von Beginn an dabei den Verzicht auf Gewalt als entscheidendes Charakteristikum hervorheben (Boltanski/Thévenot 2007, S. 45).

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des eng gefassten Gesellschaftsverständnisses der Handelnden (selbständige „Hausväter“) auf „prinzipiell alle Menschen ohne Unterschied“ (Conze/Groh 1966, S. 13). Dadurch bekommt das Handeln seinen vergesellschafteten und vergesellschaftenden Sinn. Hier hakt Habermas’ Verständnis zunächst der Öffentlichkeit, später des kommunikativen Handelns ein: In dem von den eigenen und Einzelinteressen entlasteten Räsonement der aufkommenden bürgerlichen Gesellschaft (der bürgerliche Sphäre der Öffentlichkeit), deren Trägern die Besitzrechte bereits eingeräumt sind, in der der Marktverkehr (Privatrecht, Vertragsrecht, Eigentumsrecht) existiert und in der die Bürgerschaft zur politischen Mitsprache drängt – und ihr Mitsprachrecht über ihre Interesseneutralität legitimiert (Öffentlichkeit statt Staatsräson). Sie wird verstanden als Sphäre, in der „die bürgerliche Gesellschaft ihre Interessen reflektierend zur Darstellung bringt.“ (Habermas 1971, S. 90)14 Sie entwickelt nach Habermas eine Eigendynamik der Abstraktion und Universalisierung – sie spricht nicht nur für sich, sondern für die Gesellschaft. Entsprechend gilt ihr Kredo, dass zwar faktisch nur eine Minderheit (der Hausvorstände!), theoretisch aber alle Menschen „in ihr“ vertreten sind oder sein könnten (ebd., S. 107). Freien Zugang gibt es also zur Sphäre – des kommunikativen Handelns (eben im Sinne des Räsonierens).15 Von entscheidender Wichtigkeit scheint

14 Diesbezüglich ist der Vorwurf Luhmanns, die Theorie rette sich im Angesicht der Komplexität moderner Gesellschaft in die societas civilis, nachvollziehbar. Die Pointe ist, dass sich seine Kritik auf Kommunikation, nicht auf Handeln bezieht – bzw. auf den kommunikativen Handlungsbegriff. Der Zivilgesellschaftsbegriff suggeriert die Vorstellung einer Gesellschaft ohne ihre großen, die Geschicke bestimmenden institutionellen Felder oder Subsysteme (Recht, Politik, Ökonomie etc.) auf der einen Seite und ohne ihre institutionalisierten Sozialgebilde (insbesondere: Organisationen, aber auch Familien etc.) auf der anderen Seite (Luhmann 2002a, S. 10ff.). 15 Die Kontinuitätslinie von der Kategorie der Öffentlichkeit als einer Ermächtigung der die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmenden Sprechweisen zum Konzept kommunikativen Handelns liegt auf der Hand: „Solange Sprache nur als Medium für die Übertragung von Informationen und Redundanzen genutzt wird, läuft die Handlungskoordinierung über die wechselseitige Einflußnahme zwecktätig aufeinander einwirkender Aktoren. Sobald hingegen die illokutionären Kräfte der Sprechhandlungen eine

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die Öffnung für alle und Schließung für viele durch den Verweis auf die soziale Autonomie im Sinne erstens der wirtschaftlichen Absicherung (des Bürgerstatus) und zweitens des dadurch bedingten Vermögens, vom Partikularinteresse absehen zu können. Dem Handlungskonzept kommt die Bedeutung zu, die Ordnung des Sozialen dergestalt zu bestimmen, dass die Spielräume des Handelns begrenzt werden durch die Ordnung selbst, auf die hingehandelt – und das heißt: gesprochen – wird. Praxis dient ihrer Aufrechterhaltung, nicht ihrer Umgestaltung. In diesem Sinne weist Handeln als Verständigen zwei Dimensionen auf: Wahrheit und Wahrhaftigkeit auf der einen Seite und Konsens, Überzeugung und Rechtfertigung auf der anderen Seite. In diesem Doppelbezug auf der Basis des Sprechens begründet Habermas seine Diskursethik. 3.2.3 Die „dramaturgische“ Handlung und die „Vergegenständlichung der Person“ Im Kontext der im weitesten Sinne politischen Verortung erscheint das Handeln als ein sprachlich vermitteltes Abwägen, das den Anliegen der Gesellschaft der Handlungsträger gerecht wird im Sinne einer je konkreten Vermittlung zwischen allgemeinen Regeln und der konkreten Einzelfallentscheidung. Die Handlungsträgerschaft ergibt sich aus der Stellung als Hausvorstand unter Hausvorständen. Von dieser Tradition des teleologisch auf Verständigung hin orientierten (und daher im weitesten Sinne politischen) Handelns hebt sich jene der dramaturgischen Handlung ab. Sie betont weniger ein Abwägen und eher eine Bekenntnis zur sozialen Ordnung über die Inszenierung rechten Gebarens als individualisierter Teil einer Gemeinschaft. Allerdings zeigt sich auch in diesem Handlungsverständnis, dass deren Form eine genuin soziale ist und „subjektiv“ eine Wahl, nicht aber einen inhaltlichen Beitrag einfordert. Sie ist in einem stratifizierenden Sinne selektiv (Mitgliedschaftsgrenzen regulierend) und inklusiv (Zugehörigkeit anzeigend) angelegt. Das dramaturgische Handeln ist so auf das Engste mit dem normenregulierten Handeln verknüpft: Normen werden als

handlungskoordinierende Rolle übernehmen, wird die Sprache selbst als primäre Quelle der sozialen Integration erschlossen. Nur in diesem Falle soll von „kommunikativem Handeln“ die Rede sein.“ (Habermas 1992, S. 33f.)

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Motive internalisiert, im Ordnungssinne zu agieren. Dass diese Form der Handlungssemantik dient – funktional betrachtet – der Regulierung des Affekthaushaltes der Gesellschaft (und anderer Sozialsysteme), indem das ethologische Problem des Wahrgenommen-Werdens mit der Folge des Zwanges zur Reaktion (seriell, reziprok, komplementär) in den „grünen Bereich“ der Bekundung sozialen Vertrauens dirigiert wird – quasi als Möglichkeit des Erkennens und Einordnens der betreffenden Person.16 Dabei steht gerade nicht das, was tatsächlich getan wird, im Vordergrund, sondern die pro- und retrospektive, kommunikative Validierung der Ereignisse bilden den Kern des Handlungsverständnisses. Das dramaturgische Handeln wird – im europäisch-amerikanischen sozialwissenschaftlichen Diskurs – in diesen Sinne in erster Linie auf das Aufkommen und die Entwicklung der christlichen Glaubensgemeinschaft zurückgeführt: Sie institutionalisiert den universellen Gedanken der gesamten Menschheit als Trägern von Agentschaft – in eben dem Sinne, sich zum Glauben bekennen zu sollen und zu können.17 Ich beginne die Darstellung an diesem Punkte, gehe im Anschluss zur bürgerlichen, normenregulierten Lebensführung über, behandle in Kürze die Verbindung zur Nationalidee und schließe mit aktuellen Beobachtungen „konsumistischer“ Handlung und zur Frage nach der Verantwortlichkeit für Handeln im Kontext der Differenzierung zwischen Bekenntnis und Arbeit. Die Wahl der Gemeinschaft in den Entstehungszeiten der christlichen Gemeinschaft – vor ihrer differenzierenden Einbettung in „diesseitige“ Macht- und Herrschaftsformen – beinhaltet eine individuelle Positionierung bzw. willentliche Heraushebung aus anderen Sozialformen (Soeffner 2000, S. 84f., S. 93f.; Halbwachs 1985, S. 243ff.). Die religiöse ist nicht als familiale Versorgungsgemeinschaft, als Haushalt, sondern als eine bekenntnisgetragene, das heißt eine gewählte zu verstehen – und das Vermögen, sie (und sich) zu erkennen, ist an Formen der Darstellung in Abgrenzung zur „sozialen Umwelt“ gebunden: durch das Handeln. Ihre Institutionalisierung setzt dabei auch

16 Dabei muss es sich nicht um eine „natürliche Person“ handeln, wie aktuelle Diskurse über „social corporate responsibility“ belegen. 17 Im Sinne der Vorstellung des „moralischen Status“ des „menschlichen Individuums“ durch seine Verbindung zur „höchsten moralischen Autorität“ (Meyer 2005 et al. 37ff.).

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voraus, sie von den die alltägliche Lebensführungen betreffenden Moralvorstellungen abzuheben (bzw. diese mit einem „dogmatischen und rituellen Schutzwerk“ zu umgeben; Halbwachs 1985, S. 254), um als dauerhafte Religion erkannt werden zu können. Mögen ihre Zwecke auch das Diesseits betreffen, Stabilität entsteht durch die Sphärenunterscheidung des Hier und des Transzendenten. Sie entwickelt sich mit anderen Worten nicht zur Theokratie, greift also nicht in das „sündige“ Diesseits per se ein, sondern setzt es voraus und gewinnt daraus ihre spezifische Anziehungskraft. Als Ausdruck der Bildung eines institutionellen Kerns begründet der Bezug zum Heiligen und Außeralltäglichen deshalb nach Boltanski und Thévenot das „Gemeinwesen der Inspiration“ (Boltanski/Thévenot 2007 S. 120ff.).18 Diese Formen des Handelns sind nicht auf diese, sondern auf eine andere, die wahre, Welt bezogen, denn sie streben innige (und individuelle) Erkenntnis an und stellen in Abgrenzung vom Haushalt (Verwandtschaft, Nachbarschaft, Sprachgemeinschaft) die innere, unvermittelte Rede in den Mittelpunkt. Aus der (relativen) Weltabgewandtheit leitet sich die Innerlichkeit der Motivlagen, der „innere Gerichtshof“ bzw. die Tradition der „Selbstthematisierung“ ab (Nassehi 2006; Soeffner 2000, S. 41). Dabei spannt sie einen Zeithorizont auf, der zwischen dem Vergänglichen und Ewigen vermittelt und arrangiert sich gerade so mit der Sündigkeit des Diesseits (und aus heutiger Sicht: der Ungleichheit). Die Zugehörigkeit zur „imaginierten“ Gemeinschaft fordert Folgeleistung. Bezüglich des inneren Horizonts des Einzelnen geschieht dies etwa auf der Basis des „Zwangsmittels“ der Sakramente19 als demjenigen Gut, dass qua Beichte und Sühne den Zugang zum jenseitigen Himmelreich gewährt. Die Pflege von „Motiven“ findet unter

18 Inspiration nennen Boltanski und Thévenot das legitimatorische Fundament des im Wesentlichen religiösen Gemeinwesens. Es handelt sich um ein direktes Verhältnis zwischen dem Gläubigen und seinem Glauben. Die Sinnstruktur des Gemeinwesens begründet, was Akteure, Handlungen, Dinge etc. sind, die für die Erklärung und Bewertung des eigenen Verhaltens eine Rolle spielen. 19 Und die Sakramente erhalten ihre Wirksamkeit nicht durch die jeweiligen Tätigkeiten (Wasser über den Kopf gießen, Wein trinken, Brot essen), sondern durch die diesen gegebenen Worte (Taufen, Abendmahl; siehe Soeffner 2000, S. 36).

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anderem in Beichtpraktiken ihre Wurzeln, die obligatorisch im 13. Jahrhundert eingeführt werden (vgl. Luhmann 2003a, S. 78; Schulze 2006, S. 117; Hahn 1988). Die Genussfeindlichkeit der „sieben Todsünden“, die mit der „Überwindung der Klostermauern“ (Schulze 2006, S. 117) wichtig werden, verschaffen Bedarf für die Beichte: „Die zehn Gebote fordern Respekt vor Gott und schützen die Interessensphäre der Nächsten; die sieben Todsünden dagegen stigmatisieren das Innenleben.“ (ebd., S.118)

Dabei ist der Gegenstand der Todsünden zunächst das, was man dem leiblichen Leben zurechnen kann – also Genuss und Sinnlichkeit. Beinahe alles Tun fällt demnach unter den Bannstrahl und den Verdacht der sinnlichen Lüste und Leidenschaften und deren Verderbtheit und Ordnungswidrigkeit (List 2007, S. 126ff.). „Der Weg führt von der Klassifizierung der Taten zur Kategorisierung der Gesinnungen, von der Außenbeobachtung zur Innenbeobachtung.“ (Soeffner 2000, S. 42)

Im christlich-religiösen, durch die Institution der katholischen Kirche getragenen Kosmos des europäischen Mittelalters ist, anders gesagt, das alltägliche Handeln, wenn man es Handeln nennen darf grundsätzlich problematisch und ebenso unausweichlich: handelt es sich doch um den „Sündenfall“ in Form der Verbotsüberschreitung. Mit der Sünde wird – folgt man Luhmann – die Einheit des Mediums der religiösen Kommunikation, die Verbindung von überleben wollenden und sterben müssenden Körpern mit den unsterblichen Seelen in ihrem Verhältnis zu Gott formuliert. Die Seele überlebt den Tod und die Kirche monopolisiert die Frage, ob sie Heil oder Verdammnis zu erwarten hat. Diesseits und Vergänglichkeit und Jenseits und göttliches Urteil werden kombiniert: „Sünde wird sowohl analog als auch digital verstanden, das heißt als Dauerzustand (habitus) des körperlichen Lebens in der Welt und als aktuelles Handeln, also als Schuld.“ (Luhmann 2002, S. 207)

Das Bekenntnis ist daher das Handeln im eigentlichen, relevanten Sinne, sie schafft und erneuert den Übergang von einem zum anderen Zu-

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stand.20 Während also die Aristotelische Handlung nicht auf Gemeinschaftsbildung, sondern auf Gesellschaftserhaltung ausgerichtet ist, ist die motivhervorlockende Versprachlichung des Handelns auf zunächst freiwillige, imaginäre Gemeinschaftsbildung mit individualisierendem Charakter aus – weil die Gemeinschaft vorderhand noch nicht, zunächst exklusiv und schließlich expansiv angelegt ist. Jeder kann, jeder muss dann allerdings „Mitglied“ werden. „Damit besaß die frühe Kirche als voluntaristische Vereinigung prinzipiell eine Tendenz zur Universalität, denn ihre Mitglieder konnten aus beliebigen Herkunftskollektiven stammen und diesen zugehörig bleiben.“ (Brandt 1993, S. 157)

In den seit etwa dem 16. und 17. Jahrhundert laufenden „Moralisierungswellen“ inflationiert jedoch die diesseitige Verbotslehre. Sünde (und Schuld) betreffen beinahe jede Lebensäußerung und ziehen notwendig eine „psychologische Dekonditionierung“ nach sich (Luhmann 1993b, S. 292; vgl. Aries 2003, S. 182ff.). Die Konsequenz ist bekannt: Verpflichtung zur Arbeit als „Mühsal“. Der springende Punkt scheint, im Sinne der These der Universalisierung und Veralltäglichung des Handelns, der Umweg über die (Selbst-)Thematisierung und damit die Einübung im „rechten Handeln“ nicht durch das Tun im alltäglich-praktischen Sinne, sondern qua Innerlichkeit zu sein. Dieser Befund verweist wiederum darauf, dass das alltägliche Leben weit weniger unter dem Regime der Unterdrückung „schlechter“ Motive (im strengen Sinne: nicht Motive sondern gleichsam ödipale, schicksalhafte Laster) zu leiden hatte – die Sünde lässt sich sowieso nicht vermeiden und muss mit der Bußhandlung dann beglichen werden. Sinnlichkeiten und Leidenschaften werden also als innerweltliche Tatsachen behandelt. Die Scharniere der Versöhnung zwischen Praxis und Gebot manifestieren sich samt und sonders im Medium der Sprache (und seiner Derivate), während die Probleme in der Seele und in der (verderbten) Wahrnehmung der Sinnlichkeit aufgehängt werden. Man kann also festhalten, dass das Handeln in der Zurschaustellung sozial akzeptierter Einstellungen, die institutionell von einer „an-

20 Mit Blick auf Zugehörigkeit etwa durch das Getauftwerden (vgl. Koselleck 1989, S. 231).

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ordnenden“ Ordnung getragen werden, besteht. Die dominante Form, und damit auch die Begründung der Frage nach Handlungsmotiven ist die der Bekenntnis. In „Handlungen“ wie der Konfirmationshandlung vor der evangelischen Gemeinde wird dieser Zusammenhang heute noch alltäglich und plastisch erfahrbar. Sie setzt die Univeralisierung und Semiotisierung in Gang. Anders gesagt, es handelt sich nicht nur um eine Versprachlichung in dieser Form schon vorliegender Motivlagen, sondern überhaupt um deren Schaffung im Dienste der Disziplinierung (Mills 1940, S. 908ff.). In allgemeiner Form hat Luhmann diesen Sachverhalt so zusammengefasst: „Man wird nicht bestreiten wollen, daß der Handelnde nach seinen Intentionen handelt. Aber kann das nicht auch heißen, daß er, wenn er handelt, sich Intentionen zu beschaffen hat?“ (Luhmann 2005k, S. 105)

Die Hineinverlagerung der Intention ins Subjekt fungiert im Kontext der Glaubensgemeinschaft als Aufforderung zur die Gemeinschaft konfirmierenden Stellungnahme.21 Sie bestätigt gerade auch im Abweichungsfalle, dass immerhin die Einstellung stimmt. Luhmann entnimmt im Übrigen dieser Vorstellung das Konzept der „Zeitannihilation“ als Form, qua Bekenntnis eine Mitteilung irreversibel zu gestalten. Insofern ist Luhmanns vorgetragene Infragestellung der „Letztherrschaft des Subjekts“ über das Konzept des Handelns alles andere als neu und schon gar nicht revolutionär, sondern gerade eine Explikation dessen, was ein so verstandenes religiöses Handeln ausmacht (Luhmann 2005l, S. 116, weiter S. 135ff.). Wir finden diesen Gedanken in der innerweltlichen Askese im Sinne Webers als Zurschaustellung von Ehrlichkeit und Zuverlässlichkeit im Rahmen des Wirtschaftsgebarens des „ehrlichen“ Kaufmanns (vgl. Weber 1947,S. 54ff.; Hansen 1992, S. 49ff.). Diese Dimension bestätigt insofern die Deutung der Ermöglichung oder Unterstützung gesellschaftlicher Evolution durch die Variation des Gedankenguts: „Kollektiver Hyperritualismus“ und „rituelle Disziplinierung“ als die andere, mit Zwang verbundene Seite des Phänomens (Soeffner 2000, S. 265), daneben bzw. dadurch die Aufspaltung der Person: so tun als

21 In der monotheistischen Glaubensform verliert die unmittelbar gegebene „Außenwelt“ ihre Stützfunktion für den Glauben, das heißt für die Darstellung und Verständlichmachung der Welt (Gehlen 1956, S. 64).

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ob, Aufbau von Plastizität und eben als Differenz von Binnen- und Außenperspektiven in der Kommunikation. Handeln dem Stande nach funktioniert entsprechend, eben über die Zugehörigkeit zu Familien in einem Netzwerk solcher Familien, lassen sich bis zum Spiel am Hofe Ludwigs des XIV. verfeinern und verlieren den Kontakt zu den Funktions- und Reproduktionsleistungen gesellschaftstragender Kommunikation. Denn, einmal institutionalisiert, bedeutet das bislang Gesagte nichts anderes als eine Funktionsbestimmung des Handelns als Mechanismus sozialer Schließung, der die Beteiligung des Subjekts an dieser Schließung einfordert. Dem entspricht auch das westliche Verständnis der Zivilgesellschaft, das das Engagement aus dem Ziel der Zivilgesellschaft ableitet. Handeln heißt also, die Zugehörigkeit zur Ordnung als Möglichkeit zu ergreifen und so dem Zwang der Zurschaustellung des Dazugehörens ausgesetzt zu sein (dies im Sinn eines religiösen Motivs; Reemtsma 2008 S. 69ff.). Das betrifft dann alle, gerade unabhängig von Rang und Stand, zumindest alldiejenigen, die Teil der jeweiligen Gemeinschaft sind, lässt sich darin schichtmäßig variieren, zeigt an, wer welchen Standes ist. Andererseits ermöglicht gerade das auch die Differenzierung der Sphären und das, was Giesen mundane Zone des Handelns beschreibt vgl. (Giesen 1991, S. 21ff.). Das heißt: Pflichterfüllung. Die systematische Umgestaltung der Natur erscheint dann quasi als Beackerung – Zeit als Vergänglichkeit, die genutzt werden soll – also bekommt die Arbeit einen transzendenten Sinn (vgl. Luhmann 1993, S. 262; Weber 1947, S. 74ff.). Dies wird denn auch als zwischenzeitliche Erstarkung der Religiosität interpretiert. Die Ethik des Protestantismus bildet eine der Grundlagen kapitalistischen, das heißt reflexiven Wirtschaftens im Medium der Investition – und auch deswegen ist dieser ein so entscheidender Gradmesser der Modernisierung qua • Öffnung eines Handlungshorizontes durch Sphärendifferenzierung (nur am Sonntag ist Ruhetag, ansonsten wird gearbeitet), • Inklusion des Einzelnen als Teil der potenziell allumfassenden Gemeinde der Kinder Gottes (und Abhängigkeit von dessen Motivlagen bzw. dann: des Nationalstaates),

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die Lehre der Selbsterhaltung und der „Unterwerfung“ der Schöpfung durch den Menschen qua Naturrecht (siehe insbesondere Locke 1977, S. 203), 22 Moralisierung als Folge der Ausdifferenzierung und Segmentierung des institutionellen Glaubens und damit auch: zunehmende Regulierung der Verkehrsformen des Alltagslebens, im Sinne der „Technisierung“ der Bekenntnisfunktion in der Form von Takt, Tugend und Tischsitten etc. (vgl. Elias 1977; 1983; Aries 2003, S. 182ff.; Luhmann 1993; Schulze 2006).

In keinem der genannten Fälle steht Informationsübermittlung oder ein modifizierendes Verstehen im Vordergrund, sondern immer die Regulierung von Mitteilungshandeln. Dabei sind die „Handlungsanforderungen“ in Hochstrassers Sinne (1981, S. 21ff.) perfektioniert, verfeinert und kompliziert worden. Das ändert nicht an ihrem „rituellen“ Gehalt. Und der war immer schon und ist immer noch „konsumistisch“ ausgerichtet (De Certeau 1988, S. 78ff.). Das „konsumistische“, das heißt erlebnisorientierte Handeln der Theorie der „Erlebnisgesellschaft“ lässt sich in diesem Sinne deuten (vgl. Schulze 2005, S. 35ff., S. 50f.). Daher möchte ich noch auf eine ausgearbeitete Theorie der Zeichenverwendung im Kontext dramaturgischen Handelns eingehen, die dieses in den Kontext einer „objektiven Weltsicht“ stellt: der Smith’schen Theorie der ethischen Gefühle (Smith 2004). Wahrheit und Bewertung sind Smith zufolge Ergebnis gleichsinniger (Selbst-)Beobachtung, will sagen, der Beobachtung der durch Objekte bewirkten Gefühle. Diese über Objekte laufende kommunikative Validierung von Wahrheit und Richtigkeit (mit der Chance zur Erzeugung von Reputation durch Hinweise auf besonderes, spezifisches Erleben) betrifft jedwede Erscheinung der „großen Maschine des Universums“. Nach Smith sind Wahrheit und Richtigkeit ursprünglicher als allerlei Nützlichkeitserwägungen, denn ein Urteil wird zunächst als richtig und zutreffend, nach Richtigkeit und Wahrheit bewertet (ebd., S. 21). Innerhalb dieser Weltverankerung zeigen sich jedoch Besonderheiten und zwar im sozialen Verkehr untereinander. Sympathie, das Vermögen der Erzeugung einer Perspektive durch gedankliche Versetzung in

22 Gewissermaßen sind sowohl Deszendenztheorie als auch Aszendenztheorie der Herrschaft religiös legitimiert; (Coleman 1986, S. 63ff.).

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die Situation des Anderen, reicht nicht hin zu einem besonderen, besonders relevanten Erleben: Das Problem der Betroffenheit bzw. der Widerfahrnis. Tatsächlich ist damit ein Problemkreis angesprochen, der Auferlegtheit, Relevanz und „Pragma“ betrifft und damit auch: Perspektivik (ebd., S. 22ff.). Smith empfiehlt die Temperierung des Ausdrucks im sozialen Verkehr (ebd., S. 26), die Rücksichtnahme auf das begrenzte Vermögen der Beobachter, sich in die Lage des vom Unglück Getroffenen anhand der objektiven Verursachung zu versetzen. Er entwickelt ein komplementäres Modell von zwei selbstbezüglichen Erlebnisentitäten, und das Moment der Widerfahrnis wird auf eines der beiden als „Unglück“ bezogen. Daher ist das Unglück nicht ausdrucksfähig (nicht voll objektivierbar mit Blick auf die objektive Situation). Das Unglück ist nur eingeschränkt sprachfähig.23 Das Handeln hat sich dem Erleben in der Kommunikation anzupassen, weil Erleben handelnd mittegeteilt werden muss. Die (soziale) Lösung liegt dann in der vom Durchschnitt abweichenden, tugendhaften Selbstbeherrschung, der Kontrolle der Zurschaustellung der eigenen Affekte. Als Referenz gilt: der „unparteiische Beobachter/Zuschauer“. Tugend ist dann: eben vom Mittelmaß (nicht: von der Vollkommenheit) positiv, Untugend entsprechend negativ abweichendes Verhalten (historisch-relativ wie auch in der Kunst; Smith 2004, S. 23ff.). Das Spannende an Smith’s Ansatz ist nun, dass er im Grunde die soziale Konditionierung der Affekt- und der Aufmerksamkeitssteuerung für Interaktionssituationen durch Medien (zum Beispiel Tragödie, Musik, Bauwerke) etc. und nicht durch „Alter Ego“ untersucht. Die „Theorie der ethischen Gefühle“ ist eine Interaktionsethik der (bürgerlichen) Publikums-Gemeinschaft – jedoch geht es ihr nicht um Billigkeit, sondern um die Begrenztheit des Auffassungsvermögens und um die Nicht-Kommunizierbarkeit subjektivinnerlicher Perspektiven. Sie fungiert als eine der Bestimmung des dramaturgischen Handelns,24 während im „Wohlstand der Nationen“ dann die gesellschaftlichen, instrumentellen Handlungsbezüge unter-

23 Sofsky meint, dies sei Folge einer aktivitistischen Theorie und Lebensanschauung, die sich nur aufs Handeln konzentriert (Sofsky 2005, S. 67ff.). 24 Sie ist ebenso meisterhaft beschrieben wie eine spätere Variante, die die Notwendigkeit der Maske im sozialen Verkehr begründet: Plessner (2003, S. 58ff.).

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sucht werden.25 Seinem Handlungsmodell zufolge werden die spezifisch menschlichen Affektklassen (Bedürfnisse, Einbildungskraft, unsozial: Hass etc., sozial: Wohlwollen etc., individuell: Kummer, Freude) durch äußere Gegebenheiten verursacht und verursachen ihrerseits die Reaktion: das Handeln. Sie sind jedoch dadurch konditionierbar, dass das Handeln coram publico abläuft, also zur öffentlichen Verkehrsform wird. Durch Hereinnahme des generalisierten Anderen (nämlich: des Unbeteiligten Zuschauers) werden die Grenzen der Übertragbarkeit von Glück, Unglück etc. überwunden, indem die Reaktionen in Ausdruck und Folgen temperiert, also auf eine erwartungsgemäße Aufführung zurückgeführt werden. Da die Affekte (nicht mehr: Sünde) als Folge von Gottes maschinenartiger Schöpfung anerkannt werden, können sie nicht verdammt (oder aufgehoben) werden. Die bürgerlichen Tugenden ermöglichen, es jenen „Arbeitsbezirk“ zu bearbeiten, der dem Menschen zugewiesen wurde, und dieser Arbeitbezirk ist „der Schwäche seiner [des Menschen; M.K.] Fähigkeiten und der Enge seiner Fassungskraft weit angemessener“ (Smith 2004, S. 401) und auf deren Verbesserung (Glückseligkeit der Gemeinschaft) solle er hinarbeiten. Smith’s Theorie ist also eine Interaktionstheorie, die die Trennung des zwischenmenschlichen Verkehrs, der gesellschaftlichen (wirtschaftlichen) und der institutionalisierten Sphären vollzogen hat als Folge der Annahme, dass „auf dem großen Schachbrett der Gesellschaft“ jeder Figur ein eigenes „Bewegungsprinzip“ inne wohnt (ebd., S. 396). Die Kompetenz des „selbstkontrollierten Handelns“ ergibt sich, zusammen genommen, gerade aus ihrem Aufführungscharakter, nicht aus ihrem unmittelbaren Wirken im gegenständlichen Sinne heraus und auch nicht aus Intersubjektivität, sondern dient der Überwindung der Unmöglichkeit der Intersubjektivität. Die Notwendigkeit der konventionellen Verwendung von Ausdruckszeichen und Gesten ergibt sich also aus der Begrenztheit des Mitteilungsvermögens individuell-psychischen Erlebens. Dieser Sachverhalt wird heute ethologisch als Grundtatbestand ausgewiesen und als Unmöglichkeit der Nicht-Kommunikation unter der Bedingung wechselseitiger Wahrnehmung (Watzlawick/Beavin 1972, S. 181f.) – mit Blick auf Smith – nur unzureichend erfasst. Dieser Modus blockiert auch in einem positiven Sinne alternative, personalisierte Aus-

25 Arbeitsteilung, Interessenverfolgung, Regulierung von Nähe durch Märkte etc. (Smith 2003).

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drucksweisen und gibt ein Bewertungsschema für die Aufführungen an die Hand, das nach gut und schlecht sortiert. Anders formuliert heißt das, dass eine solche Handlung nur zur Handlung gerinnen kann, wenn sie vorsortiert ist mit Blick auf die Gültigkeit ihrer Ausdrucksmittel als einer spezifischen Relation, die sich aus einem breiteren Kontext (sei es: der Zuschauer, sei es: des gesellschaftlichen Prozesses) einsichtig macht, nicht aus sich selbst oder gar aus dem inneren Erlebenshorizont des Subjekts.26 Die Selbstbezüglichkeit des Handelns ist Folge der Unmöglichkeit der unmittelbaren Beobachtung dessen, was im Anderen vor sich geht. Umso mehr ist die Zuordnung dann jedoch darauf angewiesen, auch eine negative Seite (oder eine Schwankungsbreite in der erwarteten Darbietung) mitzuführen. Denn sonst gäbe es nur die Handlung – und sonst innerliches Schweigen. Abweichung ist Teil (und Regulativ) des rituellen Idioms. Erst der Ausbruch aus der Selbstinszenierung hebt den Zustand, dass nichts weiter los ist, auf, was mit Kasernierung, körperlicher Züchtigung, Ausweisung oder sonstigem beantwortet werden mag. Auch der Nationalstaat verdankt diesem Mechanismus einiges seiner Anziehungskraft als „imagined community“. Die Gründung seiner Autorität auf „seine“ Individuen als Staatsbürger scheint als Erbe der französischen Revolution für praktisch alle Nationalstaaten typisch zu sein (Meyer 2005, S. 152, S. 161f.). Die dabei vonstatten gehende Fusion von Staat und Religiosität ist gerade für die Folgezeit der französischen Revolution gut dokumentiert (neuer Kalender, öffentliche Festlichkeiten etc.; Castel 2000). Das transzendente Reich verschiebt sich quasi ins Immanente und bekommt dadurch einen exklusiven und oft aggressiven Charakter. Es steht daher gerade nicht das Wissen oder der „Logos“ als Entscheidungsgrundlage im Fokus, sondern, wie Marcuse auch für Ansätze „totalitärer Staatsauffassungen“ wie etwa den Faschismus und Nationalsozialismus theoretisch rechtfertigende Ansätze aufzeigt, sondern das „Partei-ergreifen“, das „Sich-einsetzen-für“ ohne die individuelle Frage des Warum und Wofür. Fundiert durch eine naturalisierende, „existentielle Anthropologie“ wird eine „irrationalistische“ Haltung proklamiert, deren Kern in der „Rechtfertigung des von ihm verlangten Handelns“ liege (Marcuse 1934, S. 188).

26 Smith spricht davon, „unseren Affekt auf jenes Maß herabzustimmen, bis zu welchem gerade diese Gesellschaft – wie wir erwarten können – in ihrer Anteilnahme noch mitgehen dürfte.“ (Smith 2004, S. 26)

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Aktuelle Aufführungsregeln, die Bedingungen der Selbstpräsentation im Handeln weniger in der Temperierung und eher in Momenten der Authentizität suchen, folgen demselben Mechanismus. Die Tendenz der Sakralisierung individueller Einzigartigkeit (Durkheim 1983, S. 390f.) wird unter Bezeichnungen wie etwa der Gouvernmentalität, der Subjektivierung sowie des Selbstmanagement diskutiert (exempl. Opitz 2004, S. 141ff.; Broeckling 2007, S. 19ff.). Eine gelungene Aufführung ist eine emphatische, authentische. Die Aufführung erfordert – gar nicht einfach zu lernende – Ausdrucksmittel, die selbst um empirisch bestimmbare Standards herum kreisen: Ästhetik, Kreativität und nahe liegend: Postmaterialismus. Sennett spricht von der Ideologie der Kreativität, die stets mit „subjektivem Leiden“ verbunden sei. So wird das Leiden zum innersten Kern der Person ästhetisiert. Er sieht eine Kreativitäts-Ideologie im Management als Anspruch an jeden Einzelnen am Werke, seine Originalität in sein Tun für seine Organisation einzubringen. Originalität macht aber besonders abhängig von den Auftragnehmern oder Vorgesetzten (Sennett 2008, S. 133 und passim). Dieses Umschlagen von „anthropologischer Potestativität“ über die „Kreativität des Handelns“ in eine Ideologie des Originalität darstellenden Verhaltens und die Ideologie der Gestaltbarkeit sind Ausdruck der modernen Semantik des Handelns – sie verweisen zugleich auf deren traditionelle Quellen: Das Leben als pädagogische Situation; als sozialstrukturelle Geschmacksdifferenzierung und als Differenzierung des Handlungsvermögens, als die letzte große „Versklavung“ des Individuums, wie Luhmann vermutet (Luhmann 1992a, S. 72).27 Die Nachhaltigkeit ihrer Propagierung hat ihrerseits vor die Frage geführt, in welchem Maße dieser „Wertewandel“ die Funktionsweise der bürgerlichen, politischen Öffentlichkeit durch die „Tyrannei der Intimität“ (Sennett 2008a, S. 460ff.) bedrohe. Bei Luhmann sind es die Funktionsweisen der Subsysteme und der Organisationen, aber auch die Ökologie des Bewusstseins und der „natürlichen“ Umwelt, die durch den Formwandel beschädigt zu werden drohen. Das Handlungsmodell setzt Kompetenzen der „Informationskontrolle“ (Goffman 1967, S. 56ff.) voraus, so sehr die Duplikationsregeln der Individuali-

27 „Und vielleicht war es die letzte externe Zumutung an den Menschen, emanzipiert zu werden; was voraussetzt, daß man ihn als Sklaven sieht und nicht in seiner Individualität.“ (Luhmann 1992a, S. 72; Hervorhebung im Original)

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tät (der Gesellschaft) sozial „pasteurisiert“28 sein mögen. Wie noch zu zeigen sein wird, entsteht hier das Problem der Differenz zwischen Ausdrucksfeld und Kommunikationssteuerung, welches die Kontinuisierung von Kommunikation betrifft (siehe Kapitel fünf). Denn umgekehrt erwächst der Erwartung an ein solches Verhalten der Anspruch auf ein solches Verhalten. Man wird nicht fehlgehen, aktuelle Programme des „life-long-learning“ auch auf diese Problematik zu beziehen (im Sinne von Becks Theorie reflexiver Modernisierung; Beck 1986, S. 254ff.). Durch die Abkoppelung von gegenständlichen Bezügen erhält diese systemisch-lebensweltliche ästhetisierende Expressionsverständnis des Subjekts (als Folge seiner Selbstbezüglichkeit) die Funktion, ihn als eines Adressaten für Handlungsverantwortung auf der Basis der Unterstellung der Willensfreiheit, was ihn zum Gattungswesen der Universalgemeinschaft macht, in die Pflicht zu nehmen. Die emphatische Verkoppelung über den Modus der Verantwortung führt auch heute wieder zurück in religiöse Deutungen: Angesichts einer unübersichtlichen Welt ist, so einschlägige Positionen, zwar niemand dafür verantwortlich, was er ist, aber er ist dafür verantwortlich dafür, dass er seine Talente quasi talentkonform einsetzt, das heißt weiterentwickelt. In beinahe begriffsidentischer Terminologie zu Locke wird jedem zugemutet, mit dem was er hat, pfleglich umzugehen.29

28 So der Ausdruck Luhmanns für die Literalisierung und Massenmedialisierung der Individuen an der Außenseite der Gesellschaft (Luhmann 2004, S. 143). 29 Siehe Locke (1977, S. 203ff.); die moderne Variante nach der Diskussion aktueller Ungewissheit, erzeugt durch die Komplexität sozialer Systeme: Heidbrink (2007, S. 170ff.). Heidbrink argumentiert zwar aus der „Perspektive der Unverantwortlichkeit“, also der Freisetzung aus Verpflichtungen, nicht aber als emanzipatives, sondern als faktisches Korrelat der gesellschaftlichen Komplexität. Er hält am Handeln fest und der daraus resultierenden Selektion: „Wir müssen aber auch dafür sorgen, dass der Mensch das Privileg der Verantwortung erkennt und sich aktiv am notwendigen Umbau der Wohlfahrtsgesellschaft beteiligt. Die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung bildet eine Auszeichnung für diejenigen, die dazu in der Lage sind. Sie stellt freilich genauso eine Last für die Menschen dar, die aufgrund ihrer natürlichen Begabungen, ihrer sozialen Lage und ihrer persönlichen Vermögen nicht dazu fähig sind.“ (Ebd., S. 172)

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Festzuhalten bleibt also: die positionale Identität der Person wird durch die Handlung markiert, und die Handlung variiert die Möglichkeit der identisch gehaltenen Person. Dass dabei insbesondere ästhetische Terminologien verwendet werden, fällt auf. Der Einsatz expressiv-ästhetischer Mittel (Handlungen) verweist auf Kompetenz und auf „Interesse“ an Normalität (siehe Luhmann 1995, S. 138). 3.2.4 Instrumentelles Handeln in der gemeinsamen Welt der Sachen Instrumentelles Handeln ist der Paradefall des modernen, in die Welt eingreifenden, planvollen und subjektiven Verständnisses der Handlung.30 Im modernen Verständnis ist jeder Mensch rationaler Akteur, vertritt durch sein Handeln seine subjektiven Interessen, plant hierzu den Einsatz von Mitteln und wägt über Zielsetzungen ab. Soziale Ordnung ist Folge der Gerinnung von Einzelentscheidungen. Soweit Steuerungsbedarf besteht, bezieht er sich darauf, die optimalen Bedingungen individuellen Entscheidens und Handelns zu gewährleisten. In der Ermöglichung dieser Bedingungen steckt sowohl die Legitimität der sozialen Ordnung als auch der einzige legitime Zweck der Gestaltung sozialer Ordnung. Begründung und Entwicklung des instrumentellen Handelns als einer diesseitsorientierten, weltgestaltenden, individualisierenden und erkenntnisermöglichenden Sinnform stehen mit List gesprochen, „[…] im Kontrast zur mittelalterlichen Konzeption einer Welt jenseits des Wirkungsbereichs menschlichen Handelns“ (List 2007, S. 207).

Auf die eine oder andere Weise scheint sowohl die Plausibilität einer Harmonielehre des Weltgeschehens mit inhärentem Telos oder inhärenter Ordnung als auch die Vorstellung einer „unschuldigen“ vorgesellschaftlichen und -geschichtlichen Situation (korrumpiert nur durch die Sündhaftigkeit menschlichen Denkens und Verhaltens) abzuneh-

30 „Dies ist das Modell des Instrumentalismus, wo Gegenstände allein unter dem Gesichtspunkt der Bedürfnisse des Beobachters oder im Blick auf einen Verwendungszweck wahrgenommen werden. Es ist diese Sichtweise, die im 17. Jahrhundert als neu und revolutionär verteidigt wurde.“ (List 2007, S. 151)

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men. Der mehr oder minder geschlossene Horizont einer durch weltliche und kirchliche Herrschaft gestützten Sozialordnung mag dabei durch die Allgegenwart sich selbst antreibender kriegsbedingter Gewalt- und Zerstörungserfahrungen im heutigen Europa seine Glaubwürdigkeit verloren haben (Luhmann 1995, S. 281ff.). Im Angesicht unmittelbarer Gewaltausbrüche stellt sich die Frage nach Ursachen und Gegenentwicklungen hin zu einer friedlich(eren) Ordnung – und die instrumentelle Handlung scheint darauf die Antwort zu sein. Die Handlung wird zur Ursache einer Wirkung bzw. Handeln ist „Bewirken einer Wirkung“ und damit gleichsam das steuernde Moment einer gerichteten Kraft, ist „Zwecktätigkeit“ (Habermas 1995, S. 143). Die „Kraft“ entspringt dem Menschen als Naturgestalter (als „artificier“, wie Hobbes meint).31 Der Mensch selbst muss dabei allerdings natürlich verstanden und daraus seine konstruktive Kapazität abgeleitet werden: Als Teil der Natur ist er in der Natur das Antriebsmoment, quasi die Batterie der Naturtransformation. Der (individuelle) Mensch wird nicht in erster Linie mit Blick auf seine Sündhaftigkeit und der Frage des Seelenheils thematisiert, sondern eben diese Batterie als „passions“ anthropologisch gewendet: „The desires, and other passions are in themselves no sin. No more are the actions, that proceed from those passions, till they know a law that forbids them; which till laws be made they cannot know: nor can any law be made, till they have agreed upon the person that shall make it.” (Hobbes 1996, S. 85).

Die Natur der „passions“ ist die Quelle der Handlungen. Der Mensch wird als einsames Aktivitätszentrum angesprochen, dessen Handeln regiert wird von Leidenschaften. Die Einsicht darein muss ihn darin bestätigen, sich Mittel herzustellen, um die Bedrohung durch Andere jederzeit abwehren zu können. Aus der natürlichen Gleichheit der Menschen resultiert die Unmöglichkeit, im Naturzustand anders als im permanenten Krieg miteinander zu existieren – oder genauer: im Naturzustand überhaupt zu existieren. Der Naturzustand ist paradox, er ist nicht lebensfähig: Aus der gattungsmäßigen Gleichheit leiten sich na-

31 Ganz im Sinne von Elias: „Aber je mehr Menschen im Handeln den eigenen ungezähmten Naturgewalten, die sie selbst sind, zu folgen haben, um so weniger verschieden sind sie in ihrem Verhalten voneinander.“ (Elias 1988, S. 191)

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turrechtliche Grundlagen und Regeln ab. Die Grundlage besteht in der Freiheit, die eigene Macht so einzusetzen, wie es im Sinne der Sicherung des eigenen Lebens nötig erscheint – also dem eigenen Urteil und der eigenen Vernunft zu folgen. Die generelle Regel ist die, dass es verboten ist, etwas gegen den Erhalt des eigenen Lebens zu unternehmen oder die Mittel dafür aus der Hand zu geben. Die Regel folgt der Vernunft. So wirken sowohl die Leidenschaften als auch Naturrecht und Vernunft dahin, dass ohne Absprachen und die Übertragung von Rechten (Autorität) auf einen repräsentativen Akteur die Grundregeln nicht eingehalten werden können Der Akteur ist daher jene künstliche Veranstaltung, die es ermöglicht, das Naturrecht in Praxis lebbar zu machen. Dafür muss jedoch das Recht, sich alles und jeden zu nehmen, willkürlich eingeschränkt werden. So werden der Schutz des Lebens, Eigentumsrechte und die Möglichkeit arbeitsteiliger Kooperation garantiert. Die menschlich geschaffene Ordnung ist also notwendig konstruktiv in dem Sinne, dass die natürlich angelegte (gewissermaßen von der Natur gesollte) Gesellschaftsstruktur des friedlichen zwischenmenschlichen Verkehrs nur gegen die Natur der Handlungsverursachung (passions, Naturrechte, Vernunft) realisiert werden kann.32 Sie bindet die Differenz zwischen Kraft und Handlung als Unterschied der natürlichen Affekte sowie der Vernunft der Naturrechte und ihrer künstlichen, externalisierten Kontrolle. Ähnlich der griechischen Polis bedarf also auch diese Ordnungsform eines Moments der Stiftung oder der Rahmung, bevor in einem positiven Sinne gehandelt werden kann. Sie bedarf einer Zähmung. Kontrolle obliegt dann der sozialen Ausdifferenzierung von Richtern und Lenkern, liegt in der Etablierung von rechtmäßiger personaler Herrschaft (vgl. Hume 2007a, S. 111ff.; Smith 2004, S. 391ff.; Giesen 1991, S. 34ff.). Herrschaft definiert die Grenzen der legitimen Handlungen. Der sich ausbildende territoriale und zentralistische (Verwaltungs-)Staat kann dann als Maschine er-

32 Vgl. Dux, der die Schlussfolgerung der natürlich angelegten Sozialordnung auf die fehlende Einsicht in die Konstruktivität der Bildung der kognitiven Kompetenz zurückführt: „Die Konstruktivität wird jedoch so verstanden, als habe sich die Gesellschaft vermöge der dem Menschen eigenen naturalen Fähigkeit just so ausbilden müssen, wie sie sich in den Organisationsformen der frühneuzeitlichen Gesellschaft ausgebildet hat.“ (Dux 2008, S. 41).

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scheinen: Das Kalkül der objektiven Determinierung unterbindet dann auch die Vorstellung, ein Herrscher würde schlicht nach Gutdünken (genauer: nach seinen Leidenschaften) entscheiden. Humes Bewusstseins- und Moraltheorie betrachtet den Menschen über Hobbes hinausweisend als ein Mängelwesen.33 Er ist gekennzeichnet durch eine Diskrepanz zwischen seiner Bedürfnisstruktur und den Fertigkeiten/Ausstattung, diese zu befriedigen. Die Gesellschaft fungiert als (Über-)Kompensation: Sie ermöglicht die Steigerung der Bedürfnisse und dabei die Steigerung der Fertigkeiten zur Befriedigung allerdings mit der Einschränkung der Knappheit bestimmter Güter, die immer begehrt bleiben und nicht für alle reichen. Damit tritt die herstellende, technische Gestaltbarkeit des individuellen und sozialen „Handelns“ in den Mittelpunkt der Betrachtung: „In einer Sinnkultur […] halten die Menschen die Umgestaltung (Verbesserung, Verschönerung usw.) der Welt tendenziell für ihre wichtigste Aufgabe. Die Vorstellung von einer durch menschliches Verhalten teilweise veränderten Welt nennen wir „Motivation“ und jedes auf die Verwirklichung einer solchen Vorstellung gerichtete Verhalten ist eine „Handlung“. Derartige Zukunftsvisionen und solche Versuche ihrer Verwirklichung erscheinen uns um so legitimer, je mehr sie auf von Menschen produziertes Wissen über die Welt beru34

hen.“ (Gumbrecht 2004, S. 103)

In der politischen Theorie handelt es sich um das Aufkommen einer neuen Trägerschicht der Handlung selbst, mit dem Kern der „privatwirtschaftliche[n] Organisation der Gesellschaft auf der Basis der An-

33 Luhmann schreibt Hume die Einsicht in die Nicht-Identität zwischen Erkenntnis und Gegenstand zu, in der Formel der Kontingenz der Welt schlechthin (alles ist auch anders möglich) und damit der Notwendigkeit der Spezifikation von Negationsmöglichkeiten als Katalysator für die Entstehung von Supertheorien, die sich mit diesen Fragen auseinander setzen (zum Beispiel: Komplexitätsreduktion; Luhmann 2008, S. 62). 34 Dem stellt Gumbrecht den für die Präsenzkultur vergleichbaren Begriff der „Magie“ gegenüber als einer Praxis des „Präsentmachens abwesender Dinge und der Entfernung präsenter Dinge.“ (ebd.) Die Magie beruhe nicht auf menschlichem Wissen, sondern auf der Annahme eines in die kosmologische Ordnung integrierten Menschen. Sie beruht einfach gesagt auf der Macht des Wortes über die Macht der Tat.

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erkennung des Sondereigentums und der Privatinitiative des Unternehmers“ (Marcuse 1934, S. 166). So wird „die Gesellschaft“ in Gegenlage zum Staat gebracht. Das Instrumentelle wird im Umfeld des „ethischen Utilitarismus“ ordnungsfähig (im 18. Jhdt; Luhmann 2003a, S. 74). Sein „Mehr Glück für eine größere Zahl“ resultiert aus der Individualisierung der Handlung und des Interesses und der sie begleitenden Vorstellung, Kooperation und individuelles Handeln seien rationalisierungsfähig (steigerbar in der kollektiven Wirkung). Dies führt auf Entscheidung zu, das heißt, es wird angenommen, dass in weiten sozialen Feldern die rationale Wahl oder Entscheidung des Einzelnen zu den besten Resultaten auf höherer Ordnungsstufe führen würden unter der Voraussetzung, das es so etwas wie eine vorauslaufende Übereinkunft gebe, die den Pakt bzw. die Versprechen rückversichere (s.o.). Die Wahlmöglichkeit wird dadurch begründet, dass zwar der Antrieb zur Handlung gleichsam körperlich begründet ist, dass aber im Kausalitätsverständnis mit und nach Hume die Ursache nicht bereits die Wirkung enthält, sondern von ihr verschieden zu sein hat (vgl. Graumann 1979, S. 23ff.). Auf Wahl und Wille bezogen folgt, dass sie „Bewusstseinsreflexe“ der bereits angelaufenen Handlung sind. Eine Beeinflussung des Geschehens ist möglich, denn, wie Simmel schreibt, „[…] der Beginn der Handlung, die erste Innervation, ist selbst noch unbestimmt, keimhaft und läßt einer Mannigfaltigkeit möglicher Richtungen und Bestimmungen Raum.“ (Simmel 1992, S. 135)

Die Handlung vermag sich dann auf die Richtungsgebung der Nutzung der Kraft beziehen, zum Beispiel indem sich der Mensch selbst Zwecke setzt, die an seinem jeweiligen Vorteil orientiert sind und indem er zur Zielerreichung Mittel einsetzt. Das heißt: Er handelt um seiner Selbst willen. Nach Habermas setzt dieses Handlungsverständnis die objektive Welt voraus, Wahrheit (richtig/falsch) und Wirksamkeit (erreichen oder verfehlen von Zielen) vermitteln zwischen Aktor und Welt (Habermas 1995, S. 130). Differenziert und verkompliziert wird diese recht einfache Überlegung, sobald die Gründe und Werte des Eingriffes zur Sprache kommen (Interessen und Wirksamkeit) sowie durch die Feststellung, dass „Wahrheit“ eine Funktion der menschlichen Erkenntnisweise darstellt. Man kann dann auch davon sprechen, dass die Objektivität der Welt Folge ihrer Konstruktivität ist. Erst der

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Akt der Umwandlung der Natur, auch der menschlichen, erst die Einführung des Künstlichen bringt die objektive Welt hervor. In der Welt selbst gibt es keine „logischen Verknüpfungen“, etwa die der Kausalität, sondern nur in der erfahrungsbasierten Erwartung. Und dies gilt auch für die Idee von der „Herrschaft des Willens über die Glieder des Körpers“: „Wir lernen den Einfluß des Willens lediglich aus der Erfahrung kennen; und die Erfahrung lehrt uns nur, wie ein Ereignis beständig dem anderen folgt, ohne uns über die geheime Verknüpfung zu unterrichten, die sie zusammenhält und unzertrennlich macht.“ (Hume 2007, S. 89, 91)

Die objektive Welt erscheint als eine, die über Erfahrungsdaten zugänglich ist. Über Erfahrungsdaten wird Kausalität begründet – eben im Sinne einer Aufordnung, bei der die originären Daten nicht problematisiert werden und im Grunde auch nicht bestimmend sein können. Die Welt erscheint dadurch als im Hier und Jetzt modifizierbar oder anders herum: problematisch, nicht selbstverständlich. Kausalität öffnet Kontingenz, denn sie lehnt die Vorstellung ab, der Weltverlauf sei dem Menschen unabänderbar äußerlich oder nur eine Idee des Bewusstseins. Künstlichkeit, etwa im Sinne Humes Unterscheidung natürlicher und künstlicher Tugenden, hat hier eine sehr spezifische Bedeutung: Neben der Raummetaphorik, die sich durch den Objektivismus entfaltet und die durch Kausalität „gefüllt“ wird (im Sinne von: Bewegungsgesetzen), bezieht sich Künstlichkeit auf Herstellung.35 Was der Mensch selbst herstellt fällt in den Bereich, den er selbst regeln muss (so Locke, mit Blick auf das Geld), wandelt sich zur Formel: Nur das was er selbst herstellt oder bereits hergestellt hat, kann beobachtet werden – und zwar als änderbar. In diesem Sinne erscheint Künstlichkeit nicht als Beliebigkeit, sondern ihrerseits gerade als faktensetzende Notwendigkeit. Hume schließt die Subjektphilosophie über das Bindeglied der Wahrnehmung an den Raum der ausgedehnten

35 Dieser Sachverhalt – einhergehend mit dem Aufstieg der sozialen Figur des Ingenieurs aus dem Handwerker und in Kontrast zur kontemplativen Anschauung in den alten Naturdisziplinen – ist immer wieder hervorgehoben und zeitlich entsprechend verortet worden (Moscovici 1984, S. 206ff.; List 2007; Arendt 2002, S. 161ff. und im Anschluss an Arendt Sennett 2008).

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Gegenstände: Als ‚Wahrnehmungstrimmungǥ, nämlich der Umwidmung von Gegenständen in Sachen. Kunst und Künstlichkeit bedeuten die Modifizierbarkeit dessen, was gesehen und daher als relevante Umwelt für Änderungen qua Veränderung der Bedingungen des Handelns in Betracht kommt – also deshalb in Betracht kommt, weil es unter dem Paradigma der Handlung (der Aneignung) beobachtet wird. Was sich anschließt, ist nichts anderes als die instrumentelle Durchgestaltung des Wahrnehmungs- oder Vorstellungsraumes, den einzelnen Akteur bzw. sein naturhaftes Innenleben eingeschlossen. Daraus ergeben sich die individualisierten Koordinationsprobleme, die nach der rational-choice-Theorie Bedingung und Funktion des Sozialen ausmachen – und ihren ideologischen Gehalt bestimmen: Markt, Herrschaft und Moral (Schmid 1998, S. 400ff.). Diese Bestimmungsgründe des Gesellschaftlichen lassen sich als Mechanismen der Gesellschaft bei Hume identifizieren: • „Vereinigung der Kräfte“ (Macht/Herrschaft, Vermehrung der Leistungsfähigkeit) • „Teilung der Arbeit“ (Ökonomie/steigende Geschicklichkeit) • „gegenseitiger Beistand“ (gesellschaftliche Gemeinschaft/Sicherung gegen Glück und Zufall; Hume 2007a S. 49) „Durch diese Vermehrung von Kraft, Geschicklichkeit und Sicherheit wird die Gesellschaft nützlich.“ (ebd.; Hervorhebung im Original) Der eigentliche Clou in dieser Theorieentwicklung liegt darin, die Zwecktätigkeiten und Körperbewegungen als Besitz des Akteurs und als System der Regulierung (Kalkülisierung) der Zukunft im Jetzt zu stilisieren.36 Das Naturverständnis im Kontext der Kausalität begründet die rechtliche Eigenständigkeit der gesellschaftlichen Sphäre durch Aufwertung des Staates (der Herrschaft) als Sphäre der Konzentration von Machtmitteln zum Schutze des gesellschaftlichen Rechts auf Eigentum, Vertrags- und Unternehmensgründungsfreiheit. Die Rückführung einer Kontrollinstanz über den Verlauf der Handlung bringt die Annahme eines Selbstverhältnisses der so genannten Akteure mit sich, die diese instand setzt, den antizipierten Verlauf „ihrer“ Antriebspotenziale und Handlungsrichtungen zu bewerten und daraufhin auf ihren ei-

36 Nämlich als Selektion nach der Vorgabe der Vermeidung von Handlungen mit erfahrenen unerwünschten Folgen und Stabilisierung von Handlungen, die zu erwünschten Ergebnissen führen.

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genen Antriebsimpuls stoppend, ausbauend, kanalisierend einzuwirken. Das Neue sieht Luhmann darin, „[…] daß das Subjekt eine Beziehung zu sich selbst aktualisiert, die es ihm ermöglicht, Recht und Unrecht so wie Gutes und Böses, Wahres und Falsches zu unterscheiden“ (Luhmann 1993a, S. 97).

Sein, Sollen und Verpflichtung sind die „subjektiv“ notwendigen Kontrollformen für die Funktionsweise der Wirtschaftsgesellschaftsordnung. Als Vorläufer zum Behaviorismus wird das, um was es geht, jenseits des Bewusstseins situativ angesiedelt, und die Selbstdomestikation wird dem Subjekt zugeordnet. Jeder hat oder bekommt das Recht zu Handeln, das heißt vor allem: zu besitzen. Akteure werden zu Inhabern von Rechten und Ressourcen, ihr Handeln die rationale Antwort auf situative Restriktionen – also auf solche, die auch von ihren eigenen Antriebsimpulsen ausgehen (Schmid 2004). Der Akteur „besitzt“ demnach etwas, was sein Handeln ermöglicht. Die Theorie der individuellen Handlung verlagert Werte, Wissen, Ressourcen und Kompetenzen in den quasi-natürlichen, kognitiven Erfahrungskreis des Individuums, definiert ein Spannungsfeld zwischen Soll und Ist (Glück, Gleichgewicht etc.) und lässt das Wählen zwischen Alternativen aus diesem Kontext heraus passieren. Die „Ausübung“ der Kontrolle über die Handlung setzt sowohl die „Bearbeitung“ der Mittelseite (Input) als auch die Bearbeitung der Zweckseite (Output) voraus. Gewiss stark verzerrend kann man die Mitteloptimierungsseite als jene der (individuellen) Aufklärung bezeichnen, die Zweckseite als jene der (intersubjektiv geteilten) Interessen und Ideologien. Aufklärung: Eine Gesellschaft, die sich über instrumentelles Handeln beschreibt, macht sich davon abhängig, dass jedes strukturtragende Ereignis verursacht wird, weil es in einen Ursache-WirkungsKomplex, die Welt, eingelassen ist. Die Aufklärung kann sich darauf konzentrieren, die Handlungsgrundlagen zu konditionieren. Aufklärung als Möglichkeit der Perfektion greift ein in die mechanische Determination des Geschehens. Die Handlung wird universalisiert und zur Freiheit geschlagen über die Selbsterkenntnis und die Aufhebung des Herr-Knecht-Verhältnisses: „Das Handeln selbst leitet sich historisch her aus der knechtischen Arbeit“ – so die Rekonstruktion von Schöllgen (1984, S. 31ff.). Die Wissenschaft vermag in die Rolle eben

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jener Aufklärung zu schlüpfen: Die Wissenschaft bemächtigt sich der Mitteleffektivierung und schafft genau so – durch Distanzierung – neue Handlungsoptionen und überhaupt einen Raum des Handelns, also der zweckmäßigen Gestaltung der Handlungsbedingungen durch Mittelmanipulation. Sie blendet Zielfragen (Wertfragen) aus (Weingart 2008, S. 142 ff.).37 Zweifelsohne kann man dies als Erschließung der „praktischen Welt“ bzw. überhaupt des Praktischen verstehen, da die Welt Perfektion als Eigenwert verliert. Genau in diesem Sinne ist denn auch das kausale Handlungsverständnis nicht als Hinweis, dass alles ist wie es ist, sondern als Möglichkeit, die Dinge zu ändern, zu verstehen. Dem mechanischen Verständnis der Welt, also der Kausalität, kommt das Verdienst zu, die diesseitige „Welt“ und ihre Einwohner als Gestaltungszone zu erschließen. Das Handlungsverständnis bekommt so eine Wendung, in der einerseits das Zweck-MittelSchema kausalistisch interpretiert wird und so auf den Handelnden ursächlich zurückbezogen werden kann, dieser Antriebsimpuls aber Teil „externer“ (materialer, naturaler) Verursachungsketten wird. Die Funktion des Kausalschemas besteht, nach Luhmann, „[…] nicht in der Erkenntnis einer unabänderlichen Folge von Kausalfaktoren, die völlig uninteressant, weil unbeeinflussbar wäre; sondern gerade umgekehrt in der Erkenntnis einer bestimmt strukturierten Abänderungsfähigkeit solcher Ursache-Wirkung Beziehungen, die stets nur möglich, nie aber notwendig sind. Die Kausalauslegung des Handelns befreit, mit anderen Worten, von der Bindung an eine naturhaft vorgestellte Verlaufstypik.“ (Luhmann 1973, S. 27f.)

Die umgestaltende Handlung insinuiert nun nicht etwa die Freiheit des Willens, sondern ihrerseits Strukturiertheit: Bedürfnis ist naturnah, Interesse die reflexive Form des Bedürfnisses. Kausalität in diesem Sinne ist eine erfahrungsgesättigte Unterstellung, aber keine Idee. Insofern ist sie Weltqualität, Ausdruck der menschlichen Weltveranke-

37 Als Beispiel dient typisch die Gründung der Royal Society in England in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts (vgl. Weingart 2008, S. 46ff.); vgl. auch Latour (2008), der das die Operation der Trennung nennt zwischen Boyle und Hobbes, zwischen Natur und gesellschaftlicher Macht. Sowohl Weingart als auch Latour beziehen sich dabei auf eine Untersuchung aus der Schule der „strong sociology of knoweldge“ von Shapin und Schaffer von 1985.

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rung. Das neue „Handlungsparadigma“ verweist zwar nach List „zurück auf eine säkulare Form der Selbsterhaltung, der Selbstbehauptung durch Beherrschung der Natur.“ (List 2007, S. 139) Es thematisiert aber die Beherrschung der eigenen Natur durch Handlungsgestaltung. Mit dem instrumentellen, das heißt rationalen Handlungsverständnis wird, wie Hirschmann argumentiert, ein Drittes, eine neue Verständigungs- und vor allem Verlässlichkeits- und Kalkulationsbasis geschaffen, und zwar durch Objektivierung einer als künstlich verstandenen und also geschaffenen Ordnung. Sie beruht auf einem Pakt oder einem Akt der Selbstkonstitution. Die Vertragsunterzeichnung erscheint als Paradefall der Handlung (vgl. kritisch: Graumann 1979, S. 26). Es ist ein Allgemeinplatz, dass die oft vorgenommene Rückführung des Handelns auf eine rationale Strebensstruktur des Menschen (homo oeconomicus) selbst ein Konstrukt darstellt und dass die hierbei leitenden Begriffsverbindungen des rationalen Interesses Semantiken par excellence darstellen.38 Im Anschluss an Luhmanns Position fragt daher Plumpe: „Historisch (und theoretisch) aufzuklären aber ist gerade das Problem, warum die mittel- und westeuropäische Welt seit dem 15. und 16. Jahrhundert beginnt Handlungsmodelle wie eben das der Handlungsrationalität zu entwerfen, zu diskutieren, bis heute festzuschreiben und als Folie permanenter Selbstkritik und der daraus folgenden Generierung von Entscheidungssicherheit für die unbekannte Zukunft zu nutzen.“ (Plumpe 2002, S. 14)

Dieser Wandel wird mit der Abhängigkeit des aufsteigenden Bürgertums in Verbindung gebracht – im Zusammenhang mit dessen steigendem geldbasierten Wohlstand und damit dem Distinktionsgewinn gegenüber den „Armen“ und der Notwendigkeit der Rückversicherung. Soweit der Grundbesitz dem Adel vorbehalten bleibt und insbesondere Warenhandel und königliche Dienste Einnahmequellen bilden, ist nicht nur der Fernhandel gefahrenvoll, sondern ist es – Sombart zufolge – auch die Schuldnermoral vornehmlich des Adels, die die Zukunft des Kaufmanns bedroht und schließlich seine Orientierung am Vorbild des adligen Standes (Sombart 1992, S. 104ff.; Braudel 1994, S. 511ff.; Baecker 1999). Ein ganzes Spektrum an Tätigkeiten (Handwerk, Han-

38 Typisch im Unterschied zur Leidenschaft formuliert (vgl. etwa Neuendorff 1973, S. 10ff.; Mauss 1990, S. 173; Sahlins 1994, S. 235ff. u.v.m).

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del, Ingenieursleistungen) steigt im gesellschaftlichen Rang auf – und mit ihnen eine neue „Schicht“.39 So erscheint Handlung als rationalisierbar und kalkülisierbar, als Risiko. Die Handlung wird quasi durch Unterstellung ihrer intendierten Kausalwirkung zum signifikanten Symbol und als solche quasi ein Moment der Zeitbewegung: als Tat im Rahmen einer unterdeterminierten Zukunft. Die Welt schlechthin kann nicht erkannt werden, eben weil die Wahrnehmung als camera obscura erscheint und die Affektgeladenheit der Erscheinungen einbezieht: Was heute geht, das geht auch morgen – quasi als Leitsatz einer technischen Intervention. Das Alltägliche funktioniert nur durch diese reduktive Ordnungsleistung, die dadurch im Umkehrschluss gestaltbar wird als Raum funktionierender Verfahren vor dem Hintergrund einer „unerreichbaren Welt“ (vgl. auch Moscovici 1984, S. 43ff.). Interessen, „ehrliche“ Motive und rechtliche Sicherheit bilden jene Deutungsschemata, die die black box der Handlungsursache öffnen und die sozialen Verhältnisse planbar machen. So fasst denn auch Mannheim das Handlungsverständnis zusammen: „Das utopische Ideal einer jeden bürgerlichen Handlung wäre dies: jedes Unternehmen dermaßen berechenbar zu machen, daß überhaupt keine Risiko40

chance mehr übrigbliebe.“ (Mannheim 1984, S. 88)

Nur in dieser Form ist die Handlung dann in Mannheims Sinne konditionierbar und in diesem Sinne ist sie dann sichtlich als instrumentelle Handlung nicht mehr auf einen individuellen Beitrag, sondern auf Vollzug oder Nicht-Vollzug angewiesen über neue oder höherstufige

39 Zum Beispiel der Kaufmann der Renaissance (von Martin 1974, S. 30ff.; Hansen 1992); aber auch der Handwerker und in zunehmenden Maße der Techniker (siehe Sennett 2008 und Moscovici 1984,S. 206ff.). 40 Diesen Sachverhalt – und seine „Blaupause“ – arbeitet auch Schütz anhand der Theorie des Wollens von Leibniz heraus: „[…] das vollkommene Abwägen der Gründe, die unsere Wahl bestimmen, kann mit dem Verfahren eines Buchhalters verglichen werden, der eine Abschlußbilanz erstellt. Kein Posten darf ausgelassen werden, jeder muß seine entsprechende Bewertung erhalten, alle von ihnen müssen richtig angeordnet und zum Schluß genau summiert werden.“ (Schütz 2004a, S. 280) Freilich muss dann der „Sprung“ hinzukommen, das energische Moment des Entschlusses, zu beginnen.

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Formen der Programmierung, sprich über eine stufenförmige Optimierungslogik (Kalkülisierung, regulative Ideen; Luhmann 2008, S. 331). Auch die Mensch-als-Maschine-Metapher sieht Bedürfnisbefriedigung als einen durch Logik zu optimierenden Naturvorgang (mehr Lust, weniger Schmerz durch optimales Funktieren).41 Interessen: Wohl und Wehe der Gesellschaft als einer durch und durch künstlichen Ordnung hängen aus dieser Sicht davon ab, wie mit den Begierden mit Blick auf knappe Güter, die sich durch Übertragung nicht ändern umgegangen wird: mit Blick auf (Sach-)Werte durch Macht (Beliebigkeit) oder unter Fremden (fehlende gemeinsame Moral) oder in einem Zusammenhang, in dem offensichtlich geltende Maßstäbe an Verbindlichkeit verlieren. Dieser Umgang konstituiert Gesellschaft als einem Sinnzusammenhang von rechtsfähigen Personen – und heute würde man sagen von (anonymen) Rollenträgern, die in ihr Recht erst gesetzt wurden. Ihre Stellung leitet sich nicht aus der „natürlichen“ Zuneigung im Nahbereich der Eltern-Kind-Beziehung und der Familie ab. Die individuelle Moral (die Wirkung des Besitzes als angenehm und daher die Billigung von Tugend) kann gerade keine gesellschaftlichen Regeln begründen, sondern muss unabhängig davon instituiert werden (gleichsam als Sakralisierung des Eigentums), sodass sich eine der Natur entsprechende Moral (Billigkeit, praktische Klugheit, Abwägen) sich erst im Nachhinein bilden kann (Hume 2007a, S. 106ff.). Schon Locke hatte vor Hume die Ableitung des Rechts auf Herrschaft aus der Analogie zur Adams-Herrschaft abgelehnt und im Kontext der Geldwirtschaft – der Möglichkeit der Speicherung von Werten – platziert (Locke 1977). So folgert auch Hume, dass die Idee des Rechts nicht Ordnungsgarant sein kann: „Die Idee der Rechtsordnung kann diesem Zwecke nicht dienen; sie kann nicht als eine natürliche Triebfeder angesehen werden, die imstande wäre, die Men-

41 Vgl. die Rekonstruktion bei Anacker (1974, S. 45ff.). Anacker versucht in der zitierten Studie die konstitutive Rolle idealistischer bzw. diskursiver Reflexion für menschliches Handeln gegen deterministische Positionen, insbesondere aber gegen Gehlen zu verteidigen. Er bestätigt damit die hier u.a. verfolgte These, in der Folge der Einführung von Konzepten wie der Kommunikation oder des Diskurses werde die (einzelne) instrumentelle Handlung „ent-sinnt“ – eben weil sie als „nur“ instrumentell angesehen wird.

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schen zum rechtschaffenen Handeln gegeneinander zu bewegen.“ (Hume 2007a, S. 52)

Ohne direkte politische Macht wird das wechselseitige „rechtschaffene Handeln“ überlebenswichtig. Damit bekommt die Frage der moralischen (oder anderweitigen) Reduktion möglicher Optionen zum einen die Rolle zu, vorauseilend – ohne die Gefahr der physischen Bedrohung – zu sichern, dass keine destruktiven Entscheidungen getroffen werden und zwar über die Bedeutung der kognitiven Kapazitäten des Wählenden. Auch diese Rückversicherung liegt nicht in der Natur des Einzelnen, sondern in der Umgestaltung der sozialen Institutionen zur Ermöglichung der Entfaltung der (Entwicklungs-)potenziale, die in den Entscheidungen und Pakten enthalten sind (Zukunftsoffenheit). Man kann vielleicht sagen, dass Reziprozitätsunterstellungen abgebaut bzw. ausgedünnt werden können, soweit sie auf Komplementarität umgestellt werden. Daher erscheint denn auch das Interesse quasi als Triebaufschub, als erfahrungskontrollierte Leidenschaft. Die vernünftige Ordnung kommt trotz der Beibehaltung der Triebkräfte der Leidenschaften durch deren Kanalisierung qua Eigennutzorienterung (Hirschmann 1984, S. 39ff.) zur Geltung. „Egoismus“ (oder Selbstzweck) heißt dann nicht leidenschaftlich oder beliebig, sondern im Gegenteil kontrolliert und so auch koordinierbar (ebd.; Boltanski/Thévenot 2007, S. 68ff.) und zwar, weil die Interessen über Sachen (und: qua Geldmedium deren Knappheit) laufen. Die Welt der Objekte wird mit dem Problem der Bedürfnisse kurzgeschlossen, also anthropologisiert: Die Zähmung der Leidenschaften erfolgt, indem die Begierde reflexiv wird und in der Form eines transindividuellen Interesses postuliert wird. Egoismus bedeutet demnach nicht Bedrohung, sondern Befriedung der Willkür und der Beliebigkeit im öffentlichen Verkehr. Und nicht nur das: die Entwicklung der Kategorie der Objektivität als von personalen Motiven, Leidenschaften etc. abgetrennter Wirklichkeit, als Wissensgrundlage und als Legitimationsformel politischer Herrschaft. Das Interesse am dieseitig Objektiven wird zur dominanten Weltdeutung (die andere Seite ist Charisma, Parteilichkeit, Irrationalität – kurz – Nicht-Determiniertheit politischen Handelns im Unterschied zu sei-

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ner Einhegung durch öffentliche Demonstration seiner Wahrhaftigkeit; Weingart 2008, S. 66f.; Moscovici 1984, S. 497ff.).42 Interessen sind Ordnungsgarant. Dass sich die Individuen ihren Interessen zufolge verhalten werden – weil sie gar nicht anders können, ist Bedingung der Möglichkeit der Verständigung – und ebenso die Schlussfolgerung: in der (optimalen) Welt regieren nur die Interessen. Interessenegoismus ist dabei nicht Problem auseinanderstrebender Kräfte, sondern Lösung der zwischenmenschlichen Koordinationsschwierigkeiten. Denn Interessenegoismus bringt die Verpflichtung mit sich, die Gedanken einer Zweckstruktur zu unterwerfen und sich nicht ihrer Zügellosigkeit hinzugeben. Die nützliche Gesellschaft ermöglicht durch die internen Kontrollmechanismen erst die kotingente, das heißt erzieh- und steuerbare Verteilung von sozialen Positionen und arbeitsteiligen Tätigkeitsbereichen, die Ausbildung einer im weitesten Sinne leistungsbezogenen Funktions- und Sozialstruktur, indem Moralen und Wertpräferenzen den arbeitsteiligen Strukturen gleichsam aus der Einsicht heraus folgen. Das heißt, dass die Handlung als Manipulation auftritt, die die Folgen leidenschaftlichen Verhaltens wiederum ursächlich zu beschränken bzw. zu kanalisieren vermag (Trennung von Natur und Macht bzw. von zwei kausalen Kreisläufen). Das ist die Funktion der Gesellschaft bzw. der Ordnung der Handlungen und der Handelnden. Ihre Antriebsenergien werden quasi produktiv umgelenkt. Die Teleologie der selbstgenügsamen Ordnung wird in die Naturmechanik umgelagert und taucht dort in einem modifizierten Zeitverständnis auf, in der menschlichen Selbstermächtigung, die auf die Erhaltung seiner Natur (zum Beispiel das Begehren) durch Perfektionierung (Rationalisierung) und gegen Willkür (unlautere Mittel) abzielt und so relevantes Handeln „ideologisch“ identifiziert: „Die Rechtfertigung des Handelns durch ideologische Wertgesichtspunkte ist also das notwendige Gegenstück zur Auslegung des Handelns als Bewirken einer Wirkung und durch sie gefordert. Die kausale Auslegung des Handelns erschließt ein unendliches Feld möglicher Kausalbeziehungen. Die Ideologie regelt zunächst, welche Folgen des Handelns überhaupt beachtlich sind und

42 Dass dem die Renaissance und die Problematisierung von äußerer und innerer Einstellung als Möglichkeit der Machtpolitik des „Fürsten“ vorausgeht und insofern zum Erfahrungshintergrund des städtischen Bürgertums zählt, zeigt von Martin (1974, S. 115ff.).

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prägt so dem Kausalfeld eine Relevanzstruktur auf. Dadurch werden die Möglichkeiten des Wirkens eingeengt, übersehbar, entscheidbar.“ (Luhmann 2005a, S. 74)

Insofern ist das „instrumentelle Handeln“ weit davon entfernt, „monologisierend“ zu sein. Die instrumentelle Handlung ist keine unmittelbare Äußerung individuellen Wollens. Die Vorstellung der primordialen Interessenorientiertheit – also nicht die einer künstlichen Begrenzung, sondern einer natürlichen Entgrenzung – liegt einerseits vollkommen abseits dieser Konzeption. Und andererseits ist sie selektiv in der Hinsicht, dass es eben um Besitzverhältnisse an der „eigenen“ Vernunft geht, nicht um das Tun an sich (Schneise: Verantwortlichkeit), dass auch in „fremde“ Hände gegeben werden kann: Natur wird zur Sache und dadurch besitzbar. Die Handlung nimmt die Form einer (kalkulierbaren) Zweckstruktur an, verlagert den Antrieb in den Handlungsträger, aber den Konditionierungsspielraum qua Handlung in die – sozial gestaltete und mechanisch funktionierende – Erfahrungswelt. Der Köder besteht in der Affektbindung an Dinge als besitz- und gestaltbare Sachen und in der Reflexionsbegrenzung auf den menschlichen Weltzugang (es ist so und nicht anders). Zwecksetzung erscheint als Versachlichung und in Form der Sachqualität als Garant sozialer Ordnung. Handlung wird zur Folge des Besitzeskönnens von Sachen und des Sichern-müssens der eigenen Statusposition. Für Dux konstruiert sich die bürgerliche Lebensform deshalb im Zuge der politischen Revolutionen in England und Frankreich eine ihren Interessen entsprechende Ordnung (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit gewissermaßen als Formeln der „liberalen Ideologie“ für deren Koordinationsprobleme des Marktes, der Herrschaft und der Moral). Sie tue dies nicht willentlich, sondern nach Maßgabe ihrer zurhandenen Erkenntnisformen (Dux 2008, S. 68ff.). Sie will den Konflikt bannen – und die ökonomische Betätigung ist das Mittel dazu (Balibar 2005, S. 151ff.). Diese sieht vor, dass sich die Handelnden ihre Zwecke selber – frei – setzen, dabei jedoch an ihre Strebensstruktur rückgebunden sind. Der materialistische bias ist sozusagen der Anker der Rationalität und der Rationalisierbarkeit. Die (soziale) Person bestimmt als Ursachen- und Symbolkomplex die Handlung kausal. Ge-

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rade der „determinierte“ Wille und dazu Handlungsfreiheit (im Sinne von Kalkulierbarkeit) machen Verantwortlichkeit aus.43 Die Vorstellung der Freiheit erscheint als individuell notwendige Fiktion, die vom übergeordneten Beobachter aus nicht existiert: 44 Sie ist gleichwohl zwingende Fiktion, die die prinzipielle Kontingenz der Zukunft zum Ausdruck bringt. Man kann dies als Variante der Semiotisierung als Entkoppelung von unmittelbarer körperlicher (Bedürfnis)Orientierung auf Teilnahme an Kommunikation und daraufhin deren reflexiver Strukturierungspotenz von Sozialbeziehungen durch Medialisierung und technischer Konditionierung, also als Ausdruck neuer Temporalstrukturen verstehen. Sie erzwingt ein Abwägen verschiedener Interessen bzw. Handlungsziele. Die – heftig umstrittene – Frage ist dann die nach den Wertpräferenzen und danach, inwieweit eine Quantifizierung von Werten und damit ihre Umrechenbarkeit ermöglicht wird (Taylor 1992, S. 12ff.; Schütz 2004a). Der Ausweg kann dann nur darin bestehen, diese Form der Interessenabwägung als Wertabwägung als Folge von Übereinkunft zu setzen. Gesellschaft erscheint dann bei Hume als ein Zusammenhang sui generis, als anonyme Allgemeinheit der sprachlichen Konventionen („Worte oder Zeichen“; Hume 2007a, S. 97), die wie oben ausgeführt die „Sicherheit des Besitzes“, die „Übertragung durch Zustimmung“ und die „Erfüllung von Versprechen“; (ebd., S. 100) ins Werk zu setzen vermag. Die gesellschaftliche Steuerung vollzieht sich (wie beim Marktmechanismus) nicht qua Einsicht in die Gesellschaft, sondern qua Einsicht in die Evidenz ihrer Wirkung für die eigenen Interessen, setzt also keine höheren Vernunftansprüche voraus. Der Gedanke der sprachlichen Konditionierung (Aussprechen und dadurch wecken des „gleichen Interesse[s] bei den anderen“; ebd., S. 96) bildet das gesellschaftliche „Band“: „Alle beteiligen sich im wechselseitigen Einverständnis an einem System von Handlungen, das auf das Allgemeinwohl abzielt, und kommen überein, ihr Wort zu halten.“ (Ebd.)

43 Zufällige Ereignisse und spontane Verhaltensäußerungen haben entsprechend keinen Ausdruckswert. 44 Siehe zu dieser Rekonstruktion der Position Humes auch Lüthe (2002).

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Ausdruck dieser Freigabe und Freihaltung der Zwecksetzung ist das politische Konzept der „negativen Freiheit“. Sie funktioniert, wenn Kalkulierbarkeit gegeben ist und also ein Rahmen existiert, der andere Orientierungsweisen sanktioniert. Die Ordnung sichert ihre Legitimität politisch und gesellschaftlich ja qua Anspruch auf „Freiheit“ und „Gleichheit“ und „Brüderlichkeit“. Einholbar sind diese Versprechen nur, wenn man überhaupt Spielraum für Interessenverfolgung, Moral und Regelkonformität hat bzw. haben kann. Verfügt man nicht über diesen Spielraum, dann ist man nicht handlungsfähig, denn es fehlen die Ansatzpunkte für die „Gewöhnung“ an die Konvergenz individueller Interessenvertretung und den Regeln des Allgemeinwohls, das die Verfolgung individueller Interessen fördert. Zuerst fehlt es also an einem Kontingenzverständnis der Zukunft bzw. individualistisch formuliert, an den Bedingungen der Möglichkeit der Kanalisierung des individuellen Strebens durch und in der wirtschaftlichen Betätigung (Hirschmann 1984, S. 119). Die Legitimation von Besitzansprüchen gegenüber den realen Machtverhältnissen über Naturrecht, fundiert in der göttlichen Übergabe der Natur an den Menschen mit dem Auftrag der Kultivierung (Locke 1977, S. 203, 215ff.), mündet über formale Handlungsfähigkeit qua „vertraglicher Vereinbarung“ in die Anthropologisierung des Gewinnstrebens (Konkurrenz) und in die Differenzierung zwischen Habenden und Nichts-Habenden. Verfügt man nicht über Zukunft (in der Form des Geldes), das heißt: besitzt man nichts, kann man nicht handeln, weder sittlich noch sonst wie. Die Lebensenergien sind auf den Erhalt konzentriert. Wir sehen also, dass der Handlung im Rahmen sozialer Ordnung durch die Differenzierung zwischen individueller (Interessenorientierung) und kollektiver Rationalität (Wohlstandssteigerung, friedliche Verhältnisse) eine das gesellschaftliche Zusammenleben stabilisierende Rolle zugestanden wird. Durch die Entfaltung des festgelegten, menschlichen Potenzials soll die Dynamik der freiheitlich wirtschaftlichen Ordnung die beste aller möglichen Resultate zeitigen (Berlin 2006, S. 53ff.) – und gerade deshalb muss sie erst hergestellt werden: „Entgegen aller Ausdifferenzierungstheorien tritt hier die wirtschaftliche Komponente als legitimierendes Merkmal des Politischen massiv in den Vordergrund und wird [...] durch den Bezug auf die Vernunft und/oder das Naturrecht charismatisch aufgeladen.“ (Srubar 2007g, S. 495)

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Sinnhaftes Verhalten wird in diesem Modell enggeführt auf ein spezifisches, utilitäres Entscheidungsprogramm. Das humanspezifische Triebpotenzial wird produktiv durch das Entscheidungsprogramm des Interessenegoismus. In diesem Programm gibt es, wie wir gesehen haben, keine Willkür, sondern, wenn man so will, eine dezentrale „Rechnerarchitektur“ unzähliger Individuen mit feststehender Programmierung. Die rational-choice-Theorie fügt denn auch als Dynamiken nicht-intendierte Konsequenzen einerseits, Macht und Ideologie andererseits und vielleicht am wichtigsten mangelnde Informationsgrundlagen als Spezifikationen ihres Modells ein – also Behinderungen in der Ausführung des Programms (wie wir es bereits bei Aristoteles gesehen hatten). Die instrumentelle (teleologische, teleomatische) Handlung kann also keinesfalls als monologisches, atomistisch-ideosynkratisches Handeln interpretiert werden. Im Gegenteil: der „frame of reference“, der mit der Handlung einhergeht, kanalisiert „Antriebsenergien“ (Leidenschaften) mit produktiver Wirkung. Er „tut“ dies formal inklusiv, faktisch jedoch sozial selektiv und exklusiv. Nicht alles Tun und nicht jeder „Akteur“ werden in die Beschreibung inbegriffen (anders gesagt: nur Akteure werden inkludiert). Zweifelsohne erlaubt der Zugriff auf die Gestaltung sozialer Ordnung über jenen selektiven Verfügungsbegriff eine klare Gestaltungsvorstellung, die letztlich nicht auf Organisation, sondern auf Tausch fokussiert ist (Smith 2003, S. 112ff.). Die Gestaltbarkeit des sozialen Miteinander scheint wiederum vor allem der Erfahrungswelt der bürgerlichen Eliten zu entspringen (Taylor 2009, S. 213ff.). Sie ist demzufolge auch nur eingeschränkt generalisierbar. Hier setzt die Kritik mithilfe des Arbeitsbegriffes an.

3.3 H ANDLUNG , A RBEIT , G ESELLSCHAFTSTHEORIE 3.3.1 Die materialistische Wendung der Handlung Das Problem der eigeninteressierten sozialen Handlungsordnung liegt darin begründet, dass sie nicht hält, was sie verspricht. Zwar wird das Spannungsfeld zwischen formaler, das heißt rechtlicher Gleichheit (Vertragsfreiheit, Marktteilnehmer) und der faktischen, das heißt interaktionsbezogenen Ungleichheit (Ressourcenverfügung) als inhärenter

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Antriebsmechanismus der ökonomischen Entwicklung zum Besseren postuliert. Aber die technowissenschaftlichen sowie produktionsorganisatorischen Neuerungen pflügen auf der Basis der Transformation von Boden, Geld und Arbeit in Waren die wahrnehmbaren Lebensumstände und Sozialformen so um, dass von einer spontanen Ordnungsbildung zum allgemeinen Wohl kaum mehr gesprochen werden kann. Mithilfe des Verständnisses der Arbeit als anthropologischer Grundlage (der Mensch hat seine Natur außer sich) gesellschaftlicher Reproduktion und der Faktizität dieser technisch-industriell durchwalteten „Natur“, in die der arbeitende Mensch immer schon eingestellt ist, drückt sich der Kern der Problematik als ein Gesellschaftliches aus: das anthropologisch begründete Potenzial wird deformiert anhand vergegenständlichter Zwänge (Geldwirtschaft, Produktion) und der manipulativen Besetzung von Interessen und Bedürfnissen qua korrespondierender Sinnkodes (Kalkül, Warenform, Fetisch, Charaktermasken; vgl. Márkus 1980, S. 14ff.). Ein Element der Sicherung der Entfremdungsverhältnisse, aber auch der Kritikfolie für die Entfremdung, scheint das Handeln im Sinne der freien Verfügung über das eigene Handlungspotenzial zu sein. Im Recht wurde eine Freiheit über die Verfügung der eigenen Produktivkraft ja lange Zeit nicht vorgesehen (Coleman 1986, S. 53ff.). Nicht Vertrag, sondern die Belehnung, der Schwur, der Eid, bildeten das Rückrat der feudalistischen Verfassungen. Rechtsfähige Personen (zum Beispiel Korporationen) wurden nur qua Macht begründet, nicht „selbsttätig“ auf der Grundlage von Recht. Insofern ist es vor allem das Recht, dass für die Erwartung der subjektiven Selbstorganisation in der Warenform verbindliche Richtlinie wird und das diese Erwartung im Handlungsbegriff zum Ausdruck bringt. Die Arbeit selbst wird, nach der klassischen Vorstellung, in Handlung überführt, wenn ihr Potenzial der planenden Vernunft des Einzelnen überstellt wird. Als Besitzer seiner Arbeitskraft darf er über seine Arbeit verfügen – und er „verkauft“ bzw. „handelt“ quasi diese Verfügungsgewalt (Vertragsfreiheit). Die Wirklichkeit aber gehorcht nicht nur dem Recht. Der Zwang zur Überlebenssicherung qua Lohnarbeit lässt die eigene Arbeitskraft zur Ware werden und entreißt dem Arbeitenden das Produkt seiner Arbeit, den von ihm geschaffenen Wert. Die „Ausstattung“ des Menschen: sein dem Selbsterhalt und der Selbstverwirklichung dienendes Tätigkeitspotenzial wird gesellschaftlich deformiert, denn die Notwendigkeit der Transformation des Potenzials in die Produktion zur

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Bedürfnisbefriedigung ist sowohl Ausgangspunkt der Geschichte als auch der Vergesellschaftung. Dabei wird die Annahme formuliert, dass menschliches Zusammenleben als immer konkretes und darin gesellschaftlich vermitteltes auftritt, das heißt in der Art der Arbeitsverrichtung als Weg der Bedürfnisbefriedigung – und also in der Art der Bedürfnisformung und der Art der Bestimmung des „Rohmaterials“ der „sinnlichen Tätigkeiten“. So gesehen fungiert die Arbeit als Weltzugang und ist dem Denken vorgeordnet. Die jeweiligen Gesellschaftskonstellationen prägen sich unentrinnbar bereits in die Art des Weltzugangs ein. Deshalb erscheint, wie Gephart herausarbeitet, die Handlungskategorie – im Werk Marxens – dem Sinne nach als Ausdruck der Entfremdung, soweit sowohl in der Form der vergesellschafteten Arbeit als auch in der Art der Bedürfnisbefriedigung das Moment der faktischen Selbstorganisation fehlt (Gephart 1993, S. 278ff.), Geschichte wird vom Menschen gemacht, aber nicht vom einsichtig Handelnden, sondern vom vergesellschafteten, arbeitenden Menschen. „Person“ und Sache“ erscheinen als Kern des ideologischen Überbaus einer Gesellschaft, die zwischenmenschliche Verhältnisse in die Form des geldvermittelten Warentauschs zwingt (Balibar 1977, S. 301ff.). Die Arbeit, Notwendigkeit und menschliches gerichtetes Potenzial schlechthin, wird zu einem Mittel-Verhältnis herabgedrückt, dessen Zweck nicht die Interessen und Bedürfnisse des einzelnen Arbeiters oder aber des Menschen als Gattungswesen sind, sondern durch denjenigen oder dasjenige gesetzt wird, der oder das über die Ziele der Arbeit verfügt. Die Verwendung von Arbeit im Sinne ihres instrumentellen Einsatzes in den Händen der „Arbeitgeber“ dezimiert die Freiheitspostulate im Handeln durch die Instrumentalisierung der Arbeit. Wenn aber eine breite Masse, das Proletariat, aus diesem arbeitsteiligen Herrschaftsverhältnis hervorgeht und selbst maßgeblicher Träger der Arbeit (der Wertproduktion) ist, zum Handeln jedoch kaum befähigt wird (Unfreiheit trotz formaler Freiheit), dann wird die Philosophie, soweit sie das Gegenteil behauptet, durch den historischen gesellschaftlichen Zustand negiert (Marcuse 1977, S. 231f). Gesellschaftstheorie findet entsprechend ihre Stellung „als Medium des Begreifens der Praxis.“ (Fleischer 1977 S. 178; Hervorhebung im Original)

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Die einsetzende Gesellschaftstheorie drängt quasi den Handlungsbegriff zurück oder wendet ihn auf Großkollektiva.45 Wenn überhaupt vom Handeln gesprochen werden kann, dann in der Auseinandersetzung um die Verteilung des Mehrwerts. Handlung wird damit als politische Handlung von um Repräsentativität kämpfenden Großkollektiven gefasst. Dann ist das Handeln aber wiederum an die Stellung im Produktionsprozess und den daraus resultierenden Interessen gebunden. Der Kampf um die Mehrwertverteilung hat die Mehrwerterwirtschaftung und dessen techno-wissenschaftliche, organisatorische Steigerung zur Voraussetzung. An der Spitze der materialistischen Tätigkeiten tritt, wenn man das salopp ausdrückt: das Anschaffen. Nicht einfach die Arbeit schlechthin, sie ist Voraussetzung und Vermögen der Bedürfnisbefriedigung in Verbindung mit einem nur der menschlichen Arbeit eigentümlichen Planungscharakter, sondern das produktiv werden lassen des – auch eigenen – Arbeitspotenzials, wird zur Quelle gesellschaftlicher Dynamik (vgl. Moscovici 1984, S. 57ff.). Arbeit erscheint zwar „[...] als Welt wie Selbst bildende wesentliche Tätigkeit des Menschen“ (ebd.).46 Sie kann das aber erst, wenn sie geschichtlich wird, also in ein gesellschaftliches Herrschaftsverhältnis überführt wird. Scheler sieht gerade hierin die Wirkung „objektiver Zwecksysteme“, die qua Strukturierung Arbeit als einen sozialen Tatbestand erst schafft (Scheler 1999, S. 44). Die Arbeit bildet sich als eine unabschließbare und unbegrenzte Verfügungsmasse an Tätigkeit, die sich weder ihren Zweck noch ihr Ende selbst zu setzen vermag. Insofern geht die Arbeitsteilung der Arbeit voraus (Scheler 1999, S. 37ff.). Ein emanzipatives Potenzial ist im Arbeitsprozess selbst nicht enthalten. Das Begreifen der Praxis zeigt, verbleibt man im Arbeitsparadigma, gerade die Unausweichlichkeit der historischen Gesetzesmäßigkeiten. Sie kann zwar die Formierung von Interessen und „sozialen

45 Die „soziale Frage“ nicht als Strukturänderungsprogramm (Bauman 2008, S. 101), sondern als Fähigkeit der Selbsteinwirkung der Gesellschaft zu thematisieren, ergibt, sich, indem nicht das Beobachtungsschema des Interessenantagonismus, sondern eben das des inkludierenden Handelns gewählt wird (Evers/Nowotny 1987, S. 116ff.). 46 Es wird demnach der „idealistische“ Gehalt des Handlungsbegriffes, seine Aufhebung in einem nicht-natürlichen, spezifisch kultürlichen Kontext kritisiert (Hesse 1999, S. 132).

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Bewegungen“ beobachten, sie muss dazu jedoch den Arbeitsbegriff in Richtung Handlung aufbiegen – als sozialem Typenbegriff einerseits (der Kapitalist, der Arbeiter etc.) und als potenziellem kollektivem Handlungsverband andererseits. Sie kann dieses Sich-erfahren als „geschichtskonstruktive Handlungssubjekte“ (Honneth 1980 S. 189; vgl. auch Honneth 1977) als wünschenswerte oder notwendige Folge der geschichtlichen Gesetzmäßigkeiten deuten (Neuendorff 1973, S. 31; Gephart 1993, S. 284). Soweit Steigerung der Produktivkräfte und Verarmung des Proletariats aber nicht quasi „von selbst“ zum Umsturz führen, wird die „Bindewirkung“ der Geschichte offenbar. Handlung tritt erst am Eingang zum Politischen in den Blick und betrifft die Entscheidungsbeteiligung an der kollektiv hervorgebrachten Verfügungsmasse – und zwar qua Inklusion im Kontext des „Nationalismus“ im weitesten Sinne (Conze/Groh 1966). Davor mag gerade ein emanzipatives Verständnis von Handlung zurückschrecken: „Die Paradoxie der politischen Handlung hat mit ihrer Doppelseitigkeit zu tun, d.h. einmal ihrem Beitrag zur Verwirklichung des Menschen in seiner Erhebung in den bürgerlichen Zustand und dann mit den manchmal sogar auf gewaltsame Weise auftretenden Kontingenzen in der Entstehung der nationalen Staaten.“ (Ferrer 2005, S. 21)

Denn der Instrumentalismus gilt natürlich dies- und jenseits der Klassenfronten – alle gesellschaftlichen Positionen sind mit Charaktermasken besetzt. Insofern kann es gelingen, die „alte“ einseitige Zuordnung von Handlungsfähigkeit, „[…] das politische und repräsentative Handeln der Herrschaftsstände“ (Honneth 1980, S. 188; Stapelfeldt 2006, S. 63f.) zu kritisieren. Zugleich ist es möglich, darauf zu verweisen, dass Arbeit nicht nur maschinell „ist“, sondern auch darüber hinaus soziale Bezüge aufweist. Arbeit und Handeln lassen sich demzufolge wechselseitig auf Augenhöhe bringen. Der Ansatzpunkt dafür ist die Absetzung von Marx. Marx, so Honneth, „[…] reduziert den sozialen Handlungszusammenhang begrifflich weitgehend auf instrumentelle oder instrumentalisierte Sozialbeziehungen, weil im Prozeß der Kapitalakkumulation nur solche reduzierten Handlungsformen relevant werden können.“ (Honneth 1977, S. 441)

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3.3.2 Anthropologie der Handlung Sobald das Handeln wieder eingeholt wird, verändert die Arbeit ihren Status. Soziologie der Arbeit ist die Soziologie des geschichtlichen Handelns, meint Touraine, denn die Arbeit ist Ausdruck der geschichtlichen Natur des Menschen, aus der heraus wiederum die normativen Orientierungen des Handelns stammen (Touraine 1974, S. 499ff.). Der Zweck der Arbeit liegt also nicht in ihr selbst, sondern im durch den Ertrag der Arbeit ermöglichten Freiheitspotenzial. So fordert Touraine, „[…] daß das soziale Handeln in seinen Orientierungen wie in seinen Beziehungssystemen oder seinen Symbolen im Ausgang von der Arbeit als ein geschichtlicher Akt schlechthin begriffen werden muß […].“ (Touraine 1974, S. 492)

Dem unmittelbaren Arbeitsprozess scheint selbst – gerade darin besteht ja die Entfremdung – kaum ein sinnkonstitutives Moment innezuwohnen (und daher auch Touraines Begriffsdopplung und Honneths Hinweis auf die sozialen Bezüge um das Arbeiten herum). Einerseits muss die Arbeit erst „lebendig“ gemacht werden, um Werte zu produzieren, andererseits entfalten sich Selbst-Potenziale erst jenseits der unmittelbaren Anwendung und Reproduktion der Arbeitskraft. Honneth und andere schließen daraus, dass die Entwicklung des handlungsfähigen Subjekts qua Arbeit (und Bildung) nur dann real werden kann, wenn Arbeitsteilung auch als kommunikativer Prozess betrachtet wird. „Das System“ mag dann ein profaner Ausbeutungsmechanismus sein, aber die sich darum wickelnden Interaktionsformen sind es nicht. Erst die Teilnahme am Handlungsprozess ermöglicht Individuierung, Handlung wird „gesellschaftlich organisierter Lebensprozess[e]“ (Joas 1980, S. 40). Somit kann am „Ideal der Autonomie“ festgehalten werden (ebd.). Historische Rekonstruktionen zeigen indes, in welchem Umfang auch die weiteren Sphären um den unmittelbaren Arbeitsprozess herum „fremdgestaltet“ wurden. Spezifische Formen der alltagsnahen „Edukation“ für die sich bildenden bzw. gebildeten Industriesysteme, sei es mit Blick auf Fabrikordnungen und Wohnsiedelungen (Foucault 1994, 173ff.; Treiber/Steinert 2005, S. 33ff., S. 120ff.), sei es mit Blick

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auf die Erhaltung der Gesundheit und Verwertbarkeit47 im ökonomischen und militärischen Sinne (Labisch 1985 und 1992), sei es für politische Zustimmung (Michels 1989, S. 103ff.), für die Ökonomie (s.o.), für den Arbeitsmarkt über die Konstruktion von Arbeitslosigkeit (Zimmermann 2006, S. 34ff.) etc. „arbeiten“ an der Verfertigung von „Aktivitätszentren“ mit. Es ist erst der Sozialstaat, der das Postulat der Handlungsfähigkeit als reale Möglichkeit für die Vielen aufscheinen lässt, nach mehreren Anläufen zumindest für einen Teil Erwerbsbevölkerung (nicht: den Kindern, Alten, teilweise den Frauen; Beck 1986, S. 174ff.). Das „neue“ Subjekt wird durch eine neue Zeitstruktur des Handelns sowie durch neue Sozialbezüge und durch Reflexion geprägt – als Folge der Herauslösung aus traditionalen Bindungen und des Hineinstellen in antizipative Interessenaushandlung (Kalkulation) von der Jetzt- und Vergangenheitsorientierung auf eine Orientierung an einem prinzipiell offenen Zukunftshorizont, auf den hin Einfluss ausgeübt werden kann. Interessenartikulation und -aushandlung wird zur Normalität, weil dem subjektiven Aneignungsprozess vorgeordnet. Das kann man – oder man kann es, aufgrund fehlender Ressourcen nicht. In dieser Formulierung wiederholt sich die personale Systembildung als ein Prozess der empirisch begründeten „Einzirkelung“ von agency. „Die starre Festlegung der Interessen auf kurze Zeithorizonte liegt an den eng begrenzten Handlungsspielräumen, welche von den individuellen wirtschaftlichen Lagen bestimmt werden.“ (Vobruba 1991, S. 25)

Die reformorientierte Sozialpolitik schafft demnach neue Grundlagen des Handelns durch die „Arbeit an den ökonomischen Ursachen“ der Notwendigkeit zur Kurzfristigkeit. „Rahmenbedingungen“ wie ökonomische Not und Zwang zur selektiven Nutzung von kurzfristigen Chancen werden in „Aktionsparameter“ verwandelt (ebd.). SozialPolitik hebt die Betroffenen über eine (Sicherheits-)Schwelle, wie Bourdieu sagen würde, von der aus sie in der Lage sind, zu erkennen, dass Umstände von ihnen beeinflussbar sind, sie erlangen genügend

47 Im Sinne „hygienischer Kultur“, als Assimilation der Unterschichten in die Sinnwelt Gesundheit und gesundheitsgerechtes Verhalten als ein Moment der Integration der Arbeiterschaft in die industrielle Lebenswelt (Labisch 1992, S. 180ff.).

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Rückhalt zur Ermöglichung von Reflexion (Kultur, expressives Handeln), Haushaltung (Ökonomie; instrumentelles Handeln) und Interessenartikulation (Politik; kommunikatives Handeln; Bourdieu 2000).48 Gerade hier aber sehen wir: Die Integration des Handelns in den biografischen Zusammenhang, als Entwurf weiter reichender Pläne, als Haben einer gegenwärtigen Zukunft, als Veränderung im eigenen Leben ist ihrerseits von sozialen Bedingungen abhängig, die darin bestehen, die „existentielle Nötigung“ durch die Lebensumstände abzuschwächen. Dies wiederum verweist darauf, dass zwar nicht alle sechs Milliarden Menschen, aber eine ausreichende Zahl von ihnen an der Reproduktion der Systemstrukturen in spezifischer Weise beteiligt sind. Bourdieu verfügt, wie ein rascher Blick in die „praktische Vernunft“ zeigt, gerade deshalb nicht über eine Handlungstheorie im strengen Sinne: an ihre Stelle treten die entsprechenden Kapitalsorten und deren habituelle Inkorporation: „Die Handlungstheorie, die ich (mit dem Begriff Habitus) vorschlage, besagt letzten Endes, daß die meisten Handlungen der Menschen etwas ganz anderes als die Intention zum Prinzip haben, nämlich erworbene Dispositionen, die dafür verantwortlich sind, daß man Handeln als zweckgerichtet interpretieren kann und muß, ohne deshalb von einer bewußten Zweckgerichtetheit als dem Prinzip dieses Handelns ausgehen zu können [… ].“ (Bourdieu 1998, S. 167f.)

Dieser wichtige Hinweis besagt, dass das Handeln gleichsam hinter dem Rücken der Betroffenen geschieht und sich praktisch durch situativ vermittelte Programmierung realisiert (so auch Schneider 2003, S. 47ff.). Die Gesellschaftstheorie setzt jedenfalls ein – und sich fort – mit der Zurückdrängung des Handelns ins „zweite Glied“ hinter Interessen und Ideen, zwischen Basis und Überbau. In der Weiterentwicklung steht denn auch das gestalterische Moment im Handeln, seine Einbin-

48 Srubar fragt mit Blick auf die neoliberale (Hayeksche) Vorstellung spontaner sozialer Ordnungsbildung aus den dezentralen Entscheidungen einzelner heraus: „Ist es nicht vielmehr ein Ergebnis der so gedachten spontanen Autogenese sozialer Ordnung, daß die Legitimation ihres treibenden Mechanismus [gemeint ist materiale Ungleichheit, der daraus resultierende Wettbewerb im Kontext formeller Gleichheit; M.K.] erst durch die Entstehung des Sozialstaats erfolgen konnte?“ (Srubar 1996, S. 73)

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dung in gesellschaftliche Strukturen im Vordergrund, die dennoch den Anspruch erheben, an die materiale Gestaltung von Welt angeschlossen zu bleiben. Die Zuschreibung der Fähigkeit zu handeln dient insofern auch weiterhin als Kriterium der Fixierung individueller und kollektiver Handlungssubjektivität. Handlungsfähigkeit wird nur dem zugeschrieben, der vorderhand bereits über Einsicht und Vernunft verfügt, weil und soweit er nicht durch seine Lebenssituation (die gesellschaftlichen Verhältnisse) daran gehindert wird, Einsicht in das jeweils gesellschaftlich Notwendige zu erhaschen. Handlungsfähig wird nur sein, wer über diese Einsicht verfügt, weil er den vorstrukturierten Zwängen (der Selbstsorge) nicht – mehr – oder zumindest zwischenzeitlich nicht unterworfen ist. Bei Mannheim finden wir eine solche klare Abgrenzung des Handelns vom Nicht-Handeln: „Es ist kein Handeln in unserem Sinne, wenn ein Bureaukrat ein Aktenbündel nach vorgegebenen Vorschriften erledigt. Es liegt auch kein Handeln vor, wenn ein Richter einen Fall unter einen Paragraphen subsumiert, wenn ein Fabrikarbeiter eine Schraube nach vorgeschriebenen Handgriffen herstellt, aber eigentlich auch dann nicht, wenn ein Techniker generelle Gesetze des Naturablaufs zu irgendeinem Zwecke kombiniert. Alle diese Verhaltensweisen sollen als reproduktive bezeichnet werden, weil diese Handlungen in einem rationalisierten Gefüge nach Vorschriften ohne persönliche Entscheidung vollzogen werden. Handeln beginnt erst dort, wo der noch nicht rationalisierte Spielraum anfängt, wo nicht regulierte Situationen zur Entscheidung zwingen.“ (Mannheim 1995, S. 100)

Nach Mannheim liegt – in scharfer Abgrenzung zum weiter oben aufgerufenen Verständnis bürgerlicher Handlung – ein Handeln nur dann vor, wenn es mit der sogenannten „substantiellen“ Rationalität verbunden auftritt, „[...] in einer gegebenen Situation auf Grund eigener Einsicht in die Zusammenhänge vernünftig zu handeln.“ (Mannheim, 1958, S. 68). Mannheim folgert: Es gebe einen nicht organisierten und „funktionell“ rationalisierten Raum, in dem Handeln und Politik nötig werden würden. Dieser Raum (diese Räume) öffnet/öffnen sich, weil es zwei „irrationale Zentren der gesellschaftlichen Struktur“ gebe, nämlich die freie Konkurrenz des Marktes sowie die Sphäre der „irrationalen Kämpfe“ um die politischen Machtkompetenzen (Mannheim

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1995, S. 100; 1970). Als dritte Sphäre kann und sollte man die „Konkurrenz auf dem Gebiete des Geistigen“ hinzunehmen. Es nimmt insofern nicht wunder, dass die Aufnahme der Handlung, auf die die eben genannten Ansätze und Untersuchungen rekurrieren, in den Theoriekatalog der aufkommenden Soziologie als einer Gesellschaftswissenschaft nicht selbstverständlich gewesen war und nach wie vor umstritten ist (vgl. Ferrer 2006, S. 107ff.; Gephart 1998, S. 41ff.; vgl. auch die kurze Übersicht zu damaligen Ansätzen bei Schütz 2004, S. 91f.; Kneer 1996, S. 17ff.; Nassehi 2006).49 Er dient offensichtlich weniger der Frage nach dem Einzelnen und mehr der Frage, was „das Ganze“ eigentlich zusammenhält. Die Frage nach der Handlung erhält vor diesem Hintergrund in der Sinnformel ihren aktualisierten Problembezug, als Frage der Vermittlungsmöglichkeit zwischen sozialem Zwang, dem individuellen Sich-Verhalten und der Aufrechterhaltung sozialer Ordnung. Dass soziale Gebilde letztlich auf individuelles Verhalten zurückzuführen seien kann als empirische Ausgangsfrage verstanden werden, die mit Abschlussformeln, etwa dem liberalen, sozialistischen und romantisch-nationalistischen Fortschrittsund Autonomiegedanken bricht (vgl. Berlin 2006, S. 74ff.). 3.3.3 Systemische Handlungstheorie Die Fundierung der handlungstheoretischen Soziologie in den wechselseitigen Verweisungen von Handlung und sozialer Ordnung werden im 20. Jahrhundert in erster Linie mit den Arbeiten Max Webers und Talcott Parsons’ verbunden (siehe etwa Joas 1996, S. 12; Münch 1988; Schmid 2004, S. 62ff., 93ff.; Touraine 1974). Die Notwendigkeit zur und die Begründung für die erneute und erneuerte Hinwendung zur Ebene des Handelns im Rahmen einer Theorie der Gesellschaft dient zugleich der Entschlüsselung der „Invisibilisierungsmetapher“ Gesellschaft („Entdinglichung“ in Webers Terminologie) und der Zurückweisung eines Reduktionismus des Sozialen auf psychologische, physiologische oder metaphysische Ursachen. Dabei spielt die Entdeckung der Sinnhaftigkeit der menschlichen Daseinsform als Folge der alltäg-

49 Für Nassehi beginnt die Moderne mit der Innerlichkeit der Motivlagen und die Soziologie beginnt mit der Kritik daran und der Berücksichtigung der Umstände, unter denen eine solche Konstruktion Plausibilität erheischt (Nassehi 2006, S. 69).

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lichen Erfahrung des ‚Sinn- oder auch Wissensverlustesǥ im Rahmen gesellschaftlicher Umwälzungen und der Abschwächung des Aufklärungsgedankens in Europa eine wichtige Rolle (zum Beispiel Durkheim 1983, S. 459; vgl. rekonstruierend: Srubar 1988, S. 13ff.; Joas 1996, S. 363). Die Umdisposition des Begriffs des Individuums im Sinne seiner Freistellung und seiner Bedrohung durch Wissens- und Orientierungsverlust entbergen gleichsam die Relevanz des Handelns vor dem Hintergrund mechanistischer und dynamischer Gesellschaftsvorstellungen Comtescher oder Spencerscher Art und prägen dem Handlungsverständnis seine spezifische Richtung auf (Durkheim 1984, S. 78). So wird verständlich, dass das Handeln in Abgrenzung zum behavioristischen Verhaltensbegriff und in der Verbindung mit der Frage normativer Integration in die Gesellschaftstheorie einrückt. Soziale Ordnung wird zum Handlungszusammenhang und dieser wird nicht nur als über Zwang und Herrschaft, sondern als über eine normative und „dahinter“ stehende symbolischen Ordnung integriert vorgestellt. Die Frage nach der Möglichkeit sozialer Ordnung bezieht sich dann weniger auf die Frage nach der Genese des alltäglichen Handlungswissens, sondern auf die Frage der Handlungsorientierung und deren Überschneidung mit normativen Vorgaben. Weder ultilitaristische noch idealistische Positionen seien in der Lage, diese Situation angemessen zu reflektieren und vor allem theoretisch konsistent zu erklären (so die Kernthese Parsons in „Structure of Social action“ 1968). Die Frage des Wissens als Grundlage des Handelns wird im Rationalisierungs- bzw. im Steuerbarkeitstheorem aufgefangen und der Wissenschaft, als nomologisches Wissen, etwa in Form des Zweck-Mittel-Schemas überantwortet. List fasst dies wie folgt zusammen: „Die neuzeitliche Wissenschaft ist […] Teil eines gesamtkulturellen Handlungsparadigmas – ein Paradigma, das das Selbst, seine Beziehung zu sich selbst, zur Natur und zur Gesellschaft symbolisch zum Ausdruck und als reales Praxisverhältnis hervorbringt.“ (List 2007, S. 73; Hervorhebung M.K.)

Weber gründet die Soziologie in dieser Weise auf dem Handlungsbegriff. Wie häufig hervorgehoben, führt die Konzentration auf den normativen Aspekt bei Weber zu einer Verwischung der beiden Begriffe Sinn und Motiv (Schütz 2004, S. 99f.; Gephart 1998, S. 59f.; Schluchter 1998 u.v.m.). Ohne weit in dieses Thema einzutauchen, ist der ak-

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tuell gemeinte Sinn einer Handlung Ergebnis des Einstellens des Handlungsereignisses in einen Sinnzusammenhang, etwa durch Benennung: Die „objektive Gegenständlichkeit des Handlungsablaufs“ wird etwa als Holzhacken gedeutet (objektiver Sinnzusammenhang). Das sagt nichts über den aktuellen subjektiven Sinnzusammenhang aus. Und schon gar nicht sagt es etwas über den weiteren Motivzusammenhang aus, der in Vergangenheit und Zukunft ausgreift (Schütz 2004, S. 96ff.). Kurz gefasst, gibt es einen Unterschied zwischen dem, was zum Ausdruck kommt und dem, was zum Ausdruck gebracht wird (ebd.). Die spezifische „intention a la vie“ einer Epoche wird entsprechend aus einem historischen Bewusstsein und der Struktur der Gesellschaft heraus erklärt, also weniger im Rückgriff auf subjektiven Sinn, sondern vielmehr im Hinblick auf soziale Ordnung. Der Erklärungsansatz Webers besteht darin, dass die Wissens- und Sozialordnung das Handeln nicht (vollständig) determiniert (vgl. Weber 1998, S. 42ff.).50 Der Akteur kann immer auch anders: Es besteht die Möglichkeit der Negation trotz der Kenntnis der Erwartungen, die durch Situation oder durch die Geltung sozialer Ordnung vorgegeben sind (Negationsmöglichkeit als Folge der stellungsnehmenden Position des Subjekts). Der Akteur muss sich bekennen! Wir begegnen hier dem Konzept der Erwartung im Zusammenhang mit der Notwendigkeit zur individuellen Entscheidung, den „Erwägungen“ als empirischer Freiheit (Weber 1988, S. 133). Damit stellt sich die Aufgabe, die Differenz zwischen Sinnhaftigkeit des und Motiviertheit zum Handeln in Übereinkunft mit den historisch-relativen, jedoch objektiven Möglichkeiten und Notwendigkeiten und unter Berücksichtigung des soeben genannten „voluntativen fiat“ (Schütz 2004a in Anlehnung an William Jamens, S. 255) zu klären.51 Über das voluntative fiat wird Kausalität in die Theorie eingeführt: Die subjektive Verursachung des Handelns ist gleichzeitig der Moment der Transformation von Verhalten in Han-

50 In der Studie zur Psychophysik der industriellen Arbeit ist Weber darum bemüht, die Weite des Hiatus an einem dafür optimalen Experimentierfeld: der Fabrik, auszumessen. 51 Siehe Webers Darstellung der Simmelschen Unterscheidung zwischen objektiven Verstehen eines Sinnes und dem subjektiven Deuten der Motive oder mit Luhmann: zwischen Information und Mitteilung oder aus Beobachterperspektive: zwischen Was- und Wie-Fragen (Weber 1998, S. 93).

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deln. Die Erklärung des Handelns muss also weniger in den subjektiven Intentionen gesucht werden, sondern in der subjektiven Stellungnahme auf der Basis und in der Aneignung der kulturellen und sozialen Ordnung, die dem Handelnden das Motiv und den Zwang zur Entscheidung für oder gegen ein spezifisches Handeln vorgeben. Die Kernfrage wird dabei die Überwindung qua „voluntativem fiat“, und diese wird aus subjektiven Motiven, die wiederum auf eine soziale Werteordnung bezogen werden, heraus erklärt (vgl. auch Parsons 1980, S. 155).52 Die „Sinn-Frage“ bezieht sich also nicht auf die Möglichkeit, als Beamter adäquat – das heißt „bürokratisch“ zu handeln, sondern auf die Bereitschaft resp. die Entscheidung, sich der Handlungslogik der Bürokratie zu unterwerfen.53 Er hat also die prinzipielle Möglichkeit sich auch anders zu verhalten – und dies ist insofern zentral für Weber, als die Epoche des Kapitalismus nach seiner Analyse Handlungsmöglichkeiten in spezifischer Hinsicht beschneidet und selegiert (Rationalisierung, Temperierung etc.), ohne dass der Handelnde über ein nomologisches Strukturwissen, das ihm dies einsichtig machen würde, verfügen würde und obwohl eine einheitliche Werteordnung zunehmend erodiert (woraus sich die Präferenz für eine Verantwortungsethik begründet). Die Rationalität des Handelns besteht demnach in der Überwindung des voluntativen Fiat im (zweck-)rationalen Interesse des Einzelnen – denn sonst ist das Handeln nicht verständlich. Vor diesem Hintergrund wird das Interesse für die Genesis einer solchen Ordnung aus ihrer Geschichte heraus einleuchtend (Weber 1947, S. 1ff.). Webers Interesse ist also historisch-spezifisch, der

52 Nach Gephart kennzeichnet dieses Moment des Handelns das gemeinsame Erbe der Rechtsphilosophie und der Gesellschaftstheorie. Denn hier entscheidet die Aufdeckung dieses Zusammenhanges über die Verantwortungszuschreibung des Handlungsergebnisses zum Handelnden – während die Wissensfrage ausgeblendet bleibt. Durch die Umformulierung zum regelgeleiteten Handeln – gleichsam an der finalistischen Rechtslehre vorbei! – werde diese gemeinsame Spur von Seiten der Soziologie verwischt (vgl. Gephart 1993, S 11ff.). 53 Man findet Luhmann hier nahe bei Weber – um nicht zu sagen, dass er Weber in seiner frühen Schaffensperiode in anderer Terminologie reformuliert; vgl. etwa Luhmann (2005f, S. 14): „Die Soldaten marschieren, die Schreiber protokollieren, die Minister regieren – ob es ihnen in der Situation gefällt oder nicht.“

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Handlungsbegriff nicht positivistisch oder „kreatürlich“, sondern „relational“ (Schluchter 1998, S. 348) als Erkenntnisinstrument eingesetzt. Plakativ formuliert ist dem Weber’schen Handelnden die Chance auf die Marx’sche Charaktermaske verbaut. Weber fragt also nicht, wie der Einzelne wissen kann, was zu tun ist, sondern warum er tut, was er soll. Schöllgen meint (und beklagt) daher, dass Webers Handlungsverständnis gar kein Handlungsverständnis mehr sei, die zweckrationale Handlung ein auferlegtes zweckrationales Sich-Verhalten (Schöllgen 1984, S. 106ff.). Dagegen scheint mir dies nur eine Dimension des Handlungsverständnisses (das der Bekenntnis bzw. des dramaturgischen Handelns nämlich, wie es in den Aufsätzen zur Politik und zur Wissenschaft als Beruf behandelt wird) abzudecken. Die modernisierenden, methodisierenden und rationalisierenden Aspekte der wertmäßigen Verständigung auf die soziale Ordnung, die Akzeptanz objektiver Chancen auf Zielerreichung, die Ausblendung anderer Optionsmöglichkeiten scheint die andere zu sein. Die integrative, wertende Stellungnahme (expressive Dimension) schiebt sich zwischen beide Dimensionen und lässt ein antagonistisches Handlungsmodell entstehen, das nicht umsonst die Kategorie der „Verantwortungsethik“ als „output“ in den Mittelpunkt stellt. Die Interpretation des Ansatzes von Weber führt zu der Erkenntnis: Seine Theorie reflektiert eine Phase des Wandels, in dem das Handeln einer Trägerschicht im Selbstbild eine Rolle gespielt hatte. Weber selbst sieht jedoch diese Phase als beendet an. Noch einmal bestätigt sich die mit dem Handeln in der Neuzeit verbundene formative, utopische Kraft in einer Übergangssituation der Formierung, der Schließung einer Trägerschicht. Im Stile der Schütz’schen Theorie muss gerade das erhaltend-gestaltende Element der nahräumlichen Integration der „systemischen Kräfteverhältnisse“ begründen können, wie der systemische Selektionsdruck zur Grundlage des Weltverständnisses gerinnen kann (wie auferlegte in wesentliche Relevanzen überführt werden). Im Gegensatz zum „antagonistischen Handlungsmodell“ Webers läuft Parsons’ Vorschlag eher auf ein „harmonistisches Handlungsmodell“ der erfolgreichen „Hineinsozialisierung“ des Individuums in gesellschaftliche Prozesse hinaus. Parsons formuliert seine Handlungstheorie theoriesystematisch anhand der universellen Frage: Wie ist soziale Ordnung möglich? Um ein „Spielbein“ für eine analytische Theorie zu bekommen, setzt er „realistisch“ Handeln als Wirklichkeit:

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„Alles soziale Verhalten, selbst die „Politik“ so komplexer Gesamtheiten wie der Nationalstaaten, ist letztlich Verhalten von Menschen und verstehbar über die Motivierung von Individuen – und seien es auch Millionen – in den Situationen, in die sie jeweils gestellt sind. Daher ist selbst für die verwickeltsten Massenerscheinungen das Verstehen der individuellen Motivierung auf psychologischer Ebene von grundlegender Bedeutung. Genau so wichtig ist es jedoch, die Komplikationen und Modifizierungen in Betracht zu ziehen, die sich daraus ergeben, daß die Individuen in sozialen Systemen organisiert sind.“ (Parsons 1973, S. 224; Hervorhebung im Original)

Die Besonderheit des Organismus-Umwelt-Verhältnisses im Bereich des menschlichen Handelns als einem subjektiv-rationalen Sinnverhältnis wird als die einzige, aber auch notwendige ontologische und die Theorie fundierende Annahme vorgestellt (Parsons 1986a, S. 60ff.). Das Denken im Modus von Handlungsschemata (means, conditions, ends, guiding norms) wird aus dessen Einbau in die Struktur aller Sprachen in Form des Verbs „to do“ abgeleitet (Parsons 1968, S. 51; Parsons 1980, S. 151). Parsons geht insofern davon aus, dass das Handlungsschema universell für das menschliche Sein gegeben ist und so eine Art primärer Erfahrungsstrukturierung darstellt – individuelles Leben also prinzipiell „gesellschaftlich“ ist. Als empirisches System kommt daher immer nur das Aktor-Situation-Verhältnis als einem symbolisch vermittelten in Betracht. Das Desiderat früherer Ansätze liege nicht in erster Linie auf der Ebene des Letztelementes – dem Handlungsschema –, sondern auf der Ebene des Handlungssystems als der emergenten Ebene der Verschränkung von sich als Prozesse in der Zeit entfaltenden „unit acts“. Die Frage nach der Möglichkeit sozialer Ordnung setzt also eine analytische Abstraktion – begriffliche Auflösung und Rekombination – voraus, gegeben den Fall, dass soziale Ordnungen empirisch existieren (Parsons 1986a, S. 66ff.; vgl. Münch 1988, S. 37). Die vielleicht größte Schwierigkeit besteht für die Theorie in der Klärung des Verhältnisses zwischen der differenzierten Sozialstruktur (die Ungleichheit der gesellschaftlichen Gemeinschaft) und der einheitsstiftenden Kultur, wie Parsons selbst einräumt: in der „latent pattern maintenance“-Funktion des Kultursystems, der Wiederholbarkeit von Handlungen/Zeichen/Ausdrücke zu einem späteren Zeitpunkt. Diese Zeitproblematik wird als Strukturerhaltungsfunktion einem Subsystem (dem Treuhändersystem) überantwortet. Nach Parsons über-

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nehmen spezifische empirische Institutionen diese Funktion: Religion, Schule, Wissenschaft etc. (Parsons 1986, S. 19ff.; Parsons 1972, S. 20ff.). Bei Parsons wird nun dieses „shared“ zugleich über eine kybernetische Kontrollhierarchie erklärt – als einem Tausch von Energie gegen Orientierung, wenn man so will (zum Beispiel Parsons 1967, S. 207ff.). Dieses Schema ist so wichtig, weil in ihm Sozio- und der Psychogenese über den Organismus und dessen Dispositionen und Bedürfnisse verschränkt werden. Das Schema erklärt, warum sich freiwilliges Handeln an Normen zumindest in ausreichend vielen Fällen orientiert: eben durch Konformitätsbelohnung von qua Kultur und Wissen geleiteten Handelns. Mir scheint bei Parsons entscheidend, das Problem tatsächlich als ein empirisches gestellt zu haben und die Antwort entsprechend empirisch zu suchen, wie auch immer seine Antwort zu bewerten ist. Die Einbettung in einen evolutionären Mechanismus der Standardhebung und der Universalisierung mit Respezifikationsnotwendigkeiten ist einer der zentralen Theorieelemente, die Luhmann in seine Theorie übernimmt. Handlung als Element einer empirisch sich realisierenden und reproduzierenden sozialen Wirklichkeit verweist auf seine Abkoppelung von der konkreten individuellen Tätigkeit. Darin liegt wiederum das Novum der soziologischen Handlungstheorie – in der vorgreifenden Orientierung an Erwartungsstrukturen und nicht der Faktizität des Tuns oder der retrospektiven „Verurteilung“, etwa im Rahmen eines Richterspruchs. Die Materialität des Handelns kann dabei nicht umstandslos vorausgesetzt werden, weil immer erst noch (kognitiv) verstanden, (sozial) akzeptiert und (sachlich) das Handeln umgesetzt, „korpo-real“ werden muss. „Hinter“ dem Handeln stehen Sinn und sprachliche Formierung sowie die Frage der auf diesem Wege erreichten Integration. Damit tritt jedoch das Moment der Materialität des Verhaltens (und der Leiblichkeit) in den Hintergrund, weil die Realisierung der Handlung als Handlung selbst nicht sozial „produktiv“, das heißt informativ wird (sondern nur: konfirmierend oder negierend beobachtet werden kann), denn Information läuft ja nur „von oben nach unten“. Entsprechend tritt das Thema der Kommunikation in den Vordergrund. Sein Problem besteht in der Annahme eines stabilen „Baldachins“, der vom konkreten Prozessieren des Gesellschaftssystems abgehoben wäre.

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3.3.4 Handlung, Kommunikation, Praxis Wir haben also gesehen, dass sowohl Weber als auch Parsons ein genetisch-universales Argument der Handlung (und ihrer Motivierung) sowie ein historisch-kontingentes der Entwicklung moderner Rollenpositionen und Motivsemantiken entlang der Ausdifferenzierung von Handlungsbereichen verfolgen. Die Moderne verstehen wir nach Parsons nur adäquat (das heißt kulturell), wenn wir die Differenzierung von Motivstrukturen (universell und spezifisch) verstehen und ihre An- und Einpassung in Gesellschaftsstrukturen, die in der Lage sind Subjekt, Bedürfnisse, Gemeinschaft und Kultur zu integrieren – über einen kybernetischen Steuerungsmechanismus des „Tauschs“ von Information gegen Energie (vgl. nochmals zum Beispiel Parsons 1967, S. 140ff.; Parsons 1973, S. 160ff.). Vergleichsgrundlage bleibt dabei gerade die Motivierung von Erleben als Erleben oder als Handeln (oder Unterlassen) im Kontext wechselseitiger Bezüglichkeit bzw. in der Komplementarität als Lösung eines Reziprozitätsproblems. Selbiges lässt sich für die Orientierung an, dem sozialen Handeln vorgängigen, sozialen Beziehungen und legitimen Ordnungen sagen. Allerdings ist das Weber’sche Individuum geplagt von der Unfähigkeit, in der sozialen Ordnung aufzugehen. Die Kulturbedeutung des individuellen Handelns sperrt sich gegen dessen Verbauung in einer auf Verberuflichung, Versachlichung und Bürokratisierung aufsitzenden Rationalisierung der Wertsphären. In der Theorie des kommunikativen Handelns zieht Habermas daher eine scharfe Grenze zwischen den zuletzt genannten beiden Polen von Bedeutung und Rationalisierung: zwischen individuellem Handeln und sozial orientiertem Sprechen (Habermas 1995, S. 167). Insofern kritisiert Habermas die Verkürzung des Handlungsbegriffes auf ein instrumentelles (Zweck-Mittel-)Schema und sieht darin die Schwäche der Theorien Marxens, Webers und Horkheimer/Adornos: „[…] deren Handlungsbegriffe sind nicht komplex genug, um alle Aspekte zu erfassen, an denen gesellschaftliche Rationalisierung ansetzen kann.“ (Habermas 1995a, S. 456)

So würde Weber nur am „monologischen Handeln“ ansetzen (ZweckMittel, Teleologie). Habermas verfolgt seinerseits die Absicht, das kommunikative Handeln als rationalisierungsfähig im Sinne von ver-

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nunftgeleitet einzuführen. Handeln erscheint als Absicht, Sprechen als Verständigung. Sprechen wird jedoch auch als spezifische Form des Handelns gedacht. Vermeintlich wird also vom Handlungsbegriff ausgegangen und die scharfe Grenze zwischen Handeln und Sprechen ein Stück weit zurück genommen. So werden zwei sprachtheoretische Aspekte in eine handlungstheoretische Klammer überführt: die Frage der intersubjektiven Verständigung (Gesellschaftsbezug) und die Frage des Wahrheitsgehaltes von Aussagen (Weltbezug). Heraus kommt eine Dreiteilung des Handlungsverständnisses nach expressiven, instrumentellen und verständigungsorientierten Aspekten. Man wird auch sagen können: Arbeit, Bildung und Verständigung/Handeln. Habermas versucht, gesellschaftliche Entwicklung, subjektive Orientierung und soziale Formen der instrumentellen und der dialogischen Selbsteinwirkung zu integrieren. Der „evolutionäre“ Sprung in der Theoriebildung wird von Habermas darin gesehen, dass an die Stelle des Verhältnisses zwischen disziplinierender Gesellschaft und Subjektivität des Einzelnen „Kreisprozesse zwischen Lebenswelten und Systemen“ treten (Habermas 1998, S. 228.) Daraus leitet er die Möglichkeit ab, Steigerung gesellschaftlicher Komplexität nicht nur als Entfremdungsprozesse, sondern auch als „Optionsspielräume“ und „Lernkapazitäten“ zu identifizieren. Damit bleiben allerdings die ‚Rollenǥ klar verteilt: Geld und administrative Macht der Funktionssysteme werden in Schach gehalten durch die Solidarität der Lebenswelt. Letztere müsse – oder auch könne – in zunehmenden Maße aufgrund der Rationalisierung der Lebenswelt selbst (als eigenständiger Rationalisierung) durch bewusste Setzung und Interpretationsleistung der Lebenswelt-Teilnehmer errungen werden. Mit Weber, Parsons, Münch, aber auch mit Bourdieu, Giddens und Luhmann teilt Habermas den Anspruch, Gesellschaftstheorie zu betreiben. Jüngere Studien, die teils handlungstheoretisch, teils „praxeologisch“ argumentieren, verzichten inzwischen auf gesellschaftstheoretische Ansprüche, kritisieren aber in diesem Zusammenhang sowohl verkürzende als auch „egologische“ Verwendungen des Handlungsbegriffs. Man kann eine im weitesten Sinne ethnografische Orientierung an kulturellen, körperlichen, mentalen und subjektiven Phänomenen und deren Wandel beobachten, innerhalb derer dieser Wandel als Wandel sozialer Praxis aufgefasst wird. Der „Preis“ der Praxeologie ist allerdings die Semiotisierung der Welt schlechthin, die als eine Veränderung der Milieubedingung des Individuums rekonstruiert wird

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(Reckwitz 2004, S. 225ff.). Praktiken (ob nun körperlicher oder anderer Natur) erscheinen quasi immer als Einzelleistungen – als Handlungen –, in denen und durch welche soziale Ordnung als soziale Praxis Wirklichkeit gewinnt. Einschlägige diskurstheoretische Studien zeigen konträr dazu an, wie stark der gesellschaftliche Diskurs in seinen Spezialbereichen die willentliche Handlung als Zurechnungspunkt hervorbringt (siehe Maasen et al. 2008). So werden zum Thema bürgerschaftliches Engagement Bücher wie etwa „Zeit zu handeln“ „Schluss mit lustig!“ oder „Warum wir weniger Staat und mehr Selbstvertrauen brauchen“ analysiert. Die Conclusio der Studie lautet: „Unsere Befunde deuten jedoch darauf hin, dass die normativ-praktische und gesellschaftliche Integrationswirkung durch den Bezug auf willentlich handelnde Selbste unaufgebbar ist.“ (Maasen et al. 2008, S. 168ff.)

Diese Feststellung, die sich auf „Willen“ und dessen Funktion bei der „Herstellung von handlungsmächtigen und sozial koordinierten Individuen“ (ebd., S. 167) bezieht, legt nahe, dass Teilnahme an „Gesellschaft“ im aktuellen gesellschaftlichen Diskurs grundsätzlich auf ein Selbstverwirklichungsversprechen aufgesetzt ist. Das Vermögen, etwas in Gang zu setzen, das nicht absehbar ist oder bewusst kontrolliert werden kann (Arendts Definition des Handelns) beinhaltet eine Teilerfüllung dieses Anspruchs. Das mag gerade jene Demarkationslinie zwischen sozialem und psychischem Sinn, zwischen Intentionalität und Emergenz bezeichnen und diese so in der Kommunikation bzw. in der Semantik der Gesellschaft bewahren und symbolisieren. Demzufolge sind Selbstverwirklichung und „technisch“-instrumentelle Orientierung zwei Seiten des Handelns und beide funktional in den Kontext der gesellschaftlichen (!) Integration gestellt. Zugleich bringt der Wille zwei grundlegende Dimensionen der Weltbeziehung zum Ausdruck, die jeweils eben nicht Erfahrungsgegenstände, sondern Erlebnisformen darstellen: Selbst-Mächtigkeit und Negationspotenzial der Du-Evidenz. Die Handlung zeigt vor dieser Du-Evidenz den Willen an, eine absichtsvolle Entscheidung getroffen zu haben (ebd.). Dadurch wird es jedoch erst zum Handeln resp. zur Handlung als einer Technik des Selbst. Diese Technik dient der Gestaltung der Situation mit dem Zweck, das eigene Erleben (der veräußerlichten Performanz) und das Erleben dieser Performanz durch Andere

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zu koordinieren. „Willentliche Handlung“, „entschiedene Handlung“ etc. sind insofern „weiße Schimmel“. An der Handlung ist nicht primär das „Zuschreibungsmoment“ interessant, sondern ihr Konstituens: Ein Tun wird zur Handlung, soweit es sozialen Informationswert gewinnt, also Information und Mitteilung kombiniert, also Kommunikation „ist“. Was dagegen für den Einzelnen aus dem weiten Bereich seines Tuns Handlung ist, gewesen ist, gewesen sein wird etc., kann dann nur in der Erfassung dieses Sachverhalts erfasst werden – also durch die Artikulation ermöglicht werden. Um Mitteilung und Information zu kombinieren, muss das Handeln einen Rahmenbezug im Sinne einer sozialen Ordnung aufweisen. Der Bezug besteht in eben dem, was man mit Subjektivierung umschreibt. Mit anderen Worten konzentrieren sich aktuelle soziologische Untersuchungen insbesondere auf das Modell des dramaturgischen Handelns. Einige Jahre früher hatte Elias bereits konstatiert, dass das Verhalten unter modernden Bedingungen so erscheinen müsse, als ob es aus innerem Antrieb heraus geschähe. Die sozial vorgegebenen Triebregularien seien eine „Kapsel“, das „Eingekapselte“ seien die Aktivitätsimpulse des Einzelwesens. Diese Haltung sei, so Elias, für die moderne Arbeits- und Erwerbsgesellschaft nötig. Ohne Trieb- und Affektkontrolle sei eine befriedete Konkurrenz, seien die modernen Formen der Arbeitsteilung in ihren wechselseitigen und komplementären Abhängigkeiten undenkbar (Elias, 1977, S. 207). Die Handlung erfährt so eine ideologische Aufladung und durch diese ideologisierende Wirkung wird die Form der Handlung als einer individuellen Verhaltenskontrolle, die nicht zu jeder Zeit auf sozialem Zwang aufruht, Grundlage moderner Vergesellschaftung. Die genannten Techniken formulieren Antworten in einer „technischen“ Sprache. Durch die aktuelle Handlungstheorie hindurch speist sich das Bild vom willentlich Handelnden als eines mit der Verpflichtung und dem Wunsch beseelten homo clausus, die eigene Handlungskapazität sozial informativ werden zu lassen (vgl. Neckel 2008, S. 119ff.; Schulze 2005, S. 252ff.). Die Form der Inklusion des Handelns in soziale Kontexte nimmt die der Selbstverwirklichung und damit der Arbeit am guten Leben an, wird erwartet und definiert so den Inklusionsbereich technisierter, „kommunikativer“, „instrumenteller“ und „expressiver“ Handlungen.

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3.4 Z USAMMENFASSUNG Die „Kompaktformulierung“ der Handlung mit Blick auf die Bedeutung zu untersuchen, die ihr für die Genese und Reproduktion sozialer Ordnung zugeschrieben wird, war das Anliegen des Abschnittes. Der erste Schritt bestand in der Unterscheidung zwischen dem Tun und der Handlung. Normalerweise dominieren in Gesprächen, Texten etc. einfache Tätigkeitswörter. In Ausnahmesituationen, das heißt in Fragen der Zuordnung, Bewertung, wird expressis verbis auf das Handeln selbst Bezug genommen: Wir mussten handeln, lasst uns handeln, Taten statt Worte, er hat falsch/richtig gehandelt. Der Gedanke dieser Differenzierung zwischen einem alltäglichen Tun und einer, reflexiv „gepflegten“ Form des Handelns impliziert, dass das Tun selbst keinen über sich hinaus weisenden exemplarischen Charakter beanspruchen kann – sondern nur dann, wenn es als Handlung verstanden wird. Die Handlung wird nur dann eine solche, wenn sie kommunikationsfähig wird, markiert dann aber die Unabwendbarkeit ihrer Setzung. Handlungen definieren den Inklusionsbereich des Sozialen bzw. des sozial Sichtbaren, daran lassen die Ausführungen in den Handlungstheorien keinen Zweifel. Sie tun dies durch Beantwortung der Frage, wer durch welches Handeln (und nicht lediglich: durch ein Tun) dazu gehört und durch die Zusatzinformation, inwiefern das Handeln etwas über den Handelnden auszusagen vermag. Umgekehrt erklärt sich so, warum wer über „agency“ verfügt. In der Abgrenzung zur Arbeit zeigt sich, dass die Handlungssphäre, das „Die-Dinge-Verändern“ zwar selbst real werden muss, aber gerade nicht in der ihrerseits systemischen Verfasstheit der unmittelbaren Arbeit bzw. der sinnlichen Tätigkeit liegt. Sozialsystemisches, ordnungsbezogenes Handeln und darüber stattfindendes Verhandeln (zum Beispiel als Selbsteinwirkung durch kommunikatives Handeln) sind nicht im Felde des Notwendigen, sondern im Felde des Kontingenten verortet. Aber auch die Handlung muss stattfinden und vollzieht sich vor den Augen der Akteure – und kann deshalb als gewollt, richtig, falsch usw. beobachtet und der Agent verantwortlich gemacht werden. Dabei bezieht sich die Ordnung des Handelns im zunehmenden Maße nicht mehr nur auf die Ordnung des Sozialen, sondern vorgeblich auf den individuellen, biografischen und je situativen Zusammenhang, entkoppelt sich von der Gesellschaftsstruktur. Die Darstellung der im Handeln „verkörperten“ subjektiven Intention (Luhmann 1998, S. 302) als einer informativen

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Leistung fordert „Techniken“ des Selbst, die sich der Mittel der Authentizität zum Zwecke der Selbstverwirklichung bedienen sollen. Um als Handeln sichtbar werden zu können sind spezifische Kontextbedingungen erforderlich, die auch für diese selbstbezügliche Handlungsform Geltung beanspruchen. Diese Kontextbedingungen haben alle etwas zu tun mit der Stabilisierung, dem Erhalt oder der Variation sozialer Ordnung in der Zeit. Dieses „etwas zu tun haben“ besteht also zum ersten in einem Zeitverhältnis und besagt, dass die soziale Ordnung durch das Ergreifen spezifischer Handlungsoptionen stabil gehalten wird und werden muss. Damit wird die Handlung zu einem Mechanismus des Umgangs mit der ungewissen Zukunft. Der Optionsraum ist vorstrukturiert: Das Handeln ändert etwas, aber nicht alles. Handlung wird damit zugleich universalisiert und in der sozialen Bedeutsamkeit relativiert (vgl. Srubar 2007c, S. 104ff.). Mit der Vorstellung der subjektiven Intendiertheit als Ergreifen einer Möglichkeit (unter Ausschluss anderer) wird diese zu einer Handlung in der Form eines öffentlichen Ereignisses. Die Vermittlung von sachlich relevantem und irrelevantem bildet also die zweite Dimension der Handlung, die ihr zugleich eine eigenständige Seinsregion zuspricht. Dieser Raum ist nicht identisch mit dem Raum allen möglichen „menschlichen“ Tuns. Seit Aristotels bildet sich dieser Raum im Sprachlichen und wird heute vor allem um den Terminus der Anerkennung54 herum verhandelt. Anerkennung verweist auf eine „Instanz“, die über Anerkennung oder Nicht-Anerkennung entscheidet. Durch die Verquickung mit der Arbeit und darüber mit menschlichen Praktiken oder Praxisformen, was sie im Übrigen kulturell einfärbt, also sozial für relevant erklärt, verdünnt sich die soziale Vorgabe zur „Idee“, während die Handlung (wieder nicht: das menschliche Tun als solches)

54 Nach Bauman sind „Anerkennungskriege“ Folge einer „fatalen Transformation“ des Denkens weg von Vorstellungen sozialer Gerechtigkeit hin zu temporären Experimenten mithilfe des Schemas individueller Menschenrechte. Menschenrechte lassen sich demnach nur kollektiv durchsetzen und führen deshalb zu Prozessen sozialer Schließung, um die Durchsetzbarkeit partikularer Selbstverwirklichungsinteressen zu steigern und dadurch zu Distinktionskämpfen ökonomischer und kultureller Natur (Bauman 2009, S. 91ff.). Die fatale Transformation besteht im Verlust anderer als utilitärer Gestaltungsperspektiven.

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zum korporealen Substrat, zum Endpunkt des Etwas-Gemacht-Habens regrediert. Die dritte Dimension besteht in der Frage nach dem Akteur der Handlung. Handeln können nur solche Akteure, Gruppen oder Institutionen, die „inkludiert“ sind, das heißt über das Vermögen zum Handeln verfügen. Das sind zunächst nur spezifische Subjekte, die Handlungsformen sind Modi der Inklusion von Positionen und Personen qua Handlungen in die soziale Ordnung. Heute allerdings sind das alle, was sich im Angesicht heterogener Handlungszusammenhänge im Rückzug von der konkreten Handlung auf das allgemein menschliche Handlungsvermögen zum Ausdruck bringt (siehe auch Kapitel vier). Handlungsvermögen ist wieder besonders qualifiziert: nicht, was jemand alles tut oder lässt, sondern, was relevant, zum Beispiel kreativ ist, kann als Handlung gelten. So werden, unter der Annahme einer grundsätzlichen Ambivalenz zwischen dem subjektivierten Einzelnen und seiner biografischen Handlungsintegration, der Legitimation sozialer Ordnung als freiheitlicher Ordnung zur Selbstverwirklichung und den objektivierten Handlungsanforderungen in systemischen Kontexten, gerade „konsumistische“ Strategien als Anzeichen für Handlung angesehen, nämlich als „verborgener Konsum“ (s. Illouz 2003, S. 69ff). So gefasst, operiert die Handlung gegen die Möglichkeit des Entzuges der Aufmerksamkeit von „eingefahrenen“ sozialen Ordnungsschemata. Aufmerksamkeit wird durch „Engagement“ (Elias 1987) gebunden und Engagement bedeutet Selbstselektion der dazu motivierten Akteure. Mit dem Handlungsbegriff ist insofern die Zumutung verbunden, sozialordnungsrelevante Ereignisse zu produzieren. Die Grundlage ist, dass Ordnung nicht Ausdruck einer an sich objektiven Logik sei, sondern erst der Umsetzung bedürfe. Die Öffnung und Konditionierung der sozialen Situationen für das Handeln im Sinne des Nadelöhrs der Realisierung und Reproduktion der Gesellschaft macht deutlich, dass Handeln nicht nur auf ein Sollen gegründet ist, sondern in zunehmenden Maße das Vermögen des Sollen-Könnens thematisiert, das nicht mehr durch Standeszugehörigkeit gesichert ist. Erziehung, Verberuflichung, Literalisierung usw. schaffen die Basis fürs „Mitspielen“. Wenn wir uns also eine im Prinzip offene Zukunft vorstellen und innerhalb der Zeitorganisation Markierungen fixieren wollen, so geschieht das über die Suggestion der korporealen Substanzialisierung

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der Handlung. Die Welt bekommt so eine beabsichtigte, immanent sinnhafte reale Struktur und Ordnung des Möglichen, eine Präferenzordnung des Möglichen. Handlung ist in diesem Sinne Struktur bzw. Erwartung, die der antizipierenden Verhaltenskontrolle dient oder dienen soll (Stäheli 2000, S. 206ff.). Subjektiv betrachtet bedeutet jene Universalisierung der Handlung also nichts anderes als das Postulat der Selbstführung als einem Anpassungsvermögen an reale Bedingungen. Die Handlung ist quasi die Überhöhung dieses „Tauschvorganges“: Wer handelt tut dies zwangsweise im Kontext der Selbstnormalisierung. Die Handlungsfunktion realisiert sich demnach im kulturellen Ordnungsbereich der Beobachtung erster Ordnung: die Welt ist so – und die Handlung Teil davon. Hier setzen einschlägigen Deontologisierungsversuche der Gesellschaftstheorie an, zu denen auch Luhmanns Ansatz zu zählen ist. Mit dieser Einsicht im Rücken ist eine zweite Annäherung an das Problem möglich: Wie verarbeitet die Systemtheorie dieses Rückgriffsthema als ein zwar artifizielles, aber im Rahmen literater Gesellschaften offensichtlich ubiquitäres Phänomen? Sie verarbeitet es in der Umformulierung der Handlung als Teilaspekt von Kommunikation. Damit einher geht eine umfassende Revision und Dekonstruktion der Ontologie der Handlung, die schließlich zur Radikalisierung des Autopoiesis-Gedankens nötigt, zu dessen Ergänzung durch das Konzept der strukturellen Kopplung und dadurch zu einem selektiven Kommunikations- und Sozialsystemverständnis. Ausgangspunkt, die theoretische Suchbewegung des Umgangs mit dem Handeln, Lösung und Grenzen der Lösung werden im vierten Abschnitt diskutiert.

4.

Die Handlung in der Systemtheorie „Die primäre Erfahrung ist die der gesellschaftlichen Eingliederung. Aus ihr leiten sich nicht nur die Arbeit und Sprache her, sondern auch die Denkkategorien und der Inhalt des geistigen Schaffens.“ (Gulian 1971 S. 136, Hervorhebung im Original)

4.1 E INLEITUNG Die Verwendung der Handlung als Grundbegriff soziologischer Theorie mündet, auf der Grundlage des vorangegangenen Kapitels betrachtet, in zwei Aporien: (a) Das „Prozessieren“ gesellschaftlicher Leistungen (Ökonomie, Politik, Recht, Wissenschaft usw.) fällt entweder aus dem Rahmen dessen, was durch die Handlungstheorie eingeholt werden kann oder es erscheint als instrumentell verkürzte Form menschlichen Handelns. (b) Die Typisierung praktisch allen menschlichen Verhaltens – bzw. allen praktischen oder praxisbezogenen Verhaltens – als Handeln und des Aufbaus sozialer Ordnung aus solchen Handlungen kontrastiert mit der Beobachtung, dass das Handeln nur in Kontexten sozialer Ordnung relevant wird und nur solche „Leistungen“ als Handlungen reflektiert werden, die eine jeweils spezifische Relevanz beanspruchen können – also solche, die im weitesten Sinne in kommunikativen Kontexten und der gesellschaftlichen Integration verhandelt werden.1 Diese aber überhöhen die Handlung zur geschicht1

Schütz und Luckmann verweisen en passant auf diesen Sachverhalt: Ihnen geht es in erster Linie um die Zuschreibung von Verantwortung im Sinne

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lichen Tat der „geordneten“ Öffnung der Zukunft und befassen sich primär weder mit dem alltäglichen Tun noch mit den in Funktionskontexten anfallenden „programmierten“ Tätigkeiten.2 Beide Aporien verschmelzen darin, Handlungen zu „Bausteinen“ von und Handlungszusammenhänge zur „letzten“ Reproduktionsebene sozialer Wirklichkeit, gleichsam als Emanation aus unzähligen Einzelwillen, zu erklären. Gesellschaft als geschichtliche Entwicklung erscheint so zuerst als „vorsprachliches Handlungsgefüge“ (vgl. Koselleck 1989, S. 300), obwohl gerade diese Vorsprachlichkeit kaum Anhaltspunkte in den Konzeptionen, die im dritten Kapitel verhandelt wurden, findet. Kommunikation bzw. sprachlicher Austausch, zweifellos Bedingung der Ermöglichung arbeitsteiligen Wirkens und gemeinsamer Orientierungen, wird dem Handlungszusammenhang aufgesattelt und so selbst als zum Beispiel kommunikatives Handeln gefasst. Die nur eingeschränkte Gestaltungskompetenz, anders gewendet die Selbsterzeugung sozialer Ordnung, die dennoch Ordnung ist, kann so weiterhin erklärlich bleiben, etwa als Folge einer „unsichtbaren Hand“3 von Selbstverwirklichungsinteressen, sie erscheint als Folge eines übergreifendes Planes, den handelnde Individuen ausgehandelt haben, sie erscheint als gewollt-worden-seiend in der Retrospektive und deliberativ entwerfbar in der Prospektive oder sie erscheint quasi

von Kausalität. In diesem proto-normativen Sinne: dass jemand etwas machen kann und dass man ihn (oder sich) hernach oder antizipierend dafür „in die Pflicht nehmen“ kann, steht außer Frage (vgl. Schütz/Luckmann 1994a, S. 16f.). Nur: Handelt es sich dabei nicht bereits um sozial generierte Konventionen und zwar solche, die aus dem Kommunikationsbereich, nicht aus dem „Handlungsbereich“ stammen, im Sinne von etwas anders gemeint oder gewollt haben? 2

Taylor beschreibt diese „soziale Ordnungsvorstellung“ als Produkt der Neuzeit (Taylor 2009, S. 275ff.). Im Folgenden wird nicht zuletzt verhandelt, ob diese Wende substraktionslogisch als Freilegung gesellschaftlicher Grundlagen oder erfindungslogisch als Entwicklung oder Evolution sozialen Wissens gedeutet werden muss (ebd.).

3

Für die Smith’sche Metapher der „unsichtbaren Hand“ gilt ja selbst: Sie ist an Bedingungen gebunden, die Smith ausführt. Darunter fällt nicht nur die Verhinderung von Absprachen, Zunft- und wie man heute sagen würde Kartellbildung. Darunter fallen auch Regelungen für die internationale Arbeitsteilung etc., insgesamt also ein geordnetes Staatswesen (Smith 2003).

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als „Betriebsunfall“, als unbeabsichtigte Nebenfolge individuell geplanten Handelns. Jene sozialen Regulationsinstanzen, die evidenter maßen in das alltägliche Leben eingreifen und es disziplinieren sinken zu bloßen Mitteln oder gar (notwendigen) Fiktionen – im Sinne des Thomas-Theorems – herab. In dieser Überhöhung der willentlichen Handlung auf der einen Seite und der Abblendung der sozialen Bestimmtheit durch das Handeln andererseits besteht zumindest ein Teil jenes Theorieproblems der Fundierung sozialer Selbsterzeugung im Handeln, das Luhmann als „Aufklärer“ abzuräumen bemüht ist. Handlungsverständnisse zu kritisieren ist jedoch weder neu noch innovativ. Die verschiedenen Traditionslinien der Handlungskritik, die vor allem die Entfremdung des Akteurs durch „seine“ Handlungsbedingungen fokussieren, konvergieren, folgt man Luhmanns Lesart, auf ein vergangenes Bild von Gesellschaft als Form der Geselligkeit oder der (politischen) Gemeinschaft und gewinnen von dort her ihre kritische Perspektive. Wenn die Handlung jedoch nicht als anthropologische Konstante, sondern als gesellschaftliche Variable anzusehen ist, verschieben sich die Parameter der Kritik. Und es verschieben sich die theoretischen Begründungszusammenhänge des historischen Verhältnisses von sozialer und individueller Wirklichkeit. Zwar disponieren Sinnsysteme, auch psychische Systeme, über Handlungszuschreibungen. Die primäre „Wirklichkeitsebene“ ist dabei allerdings ein Sinngeschehen und sind nicht die im Rahmen des Sinngeschehens typisierten Handlungen. Zu klären ist dann das Zustandekommen des Sinngeschehens. Wenn die Handlung innerhalb des Sinngeschehens erscheint, kann sie nicht ohne weiteres nochmals eingesetzt werden zur Erklärung ihres Erscheinens im Sinngeschehen. Einfacher ausgedrückt: Erfahrung und Erwartung sozial relevanter Selbstwirksamkeit (Handlungen) sind, das hat Goffman gelehrt, zuerst Interaktionsprodukte und werden erst über diesen Umweg zu Prämissen weiterer Interaktionen (siehe Goffman 1986, S. 8ff., S. 125ff.). Für Luhmann konstituiert sich die Handlung daher erst im Zuge der Etablierung und Auflösung von „doppelter Kontingenz“. „Doppelte Kontingenz“ setzt die Illusion in die Welt, soziale Ordnung sei zurückzuführen auf intentionale Bewusstseinsleistungen, auf ein subjektiv-sinnkonstituierendes Handeln des Deutens (Erlebens) und Entscheidens (Handelns). In „Wirklichkeit“ bildet sich Kommunikation – und Gesellschaft – deshalb nicht in den Bewusstseinsleistungen eines/jeden einzelnen Menschen. Sie bildet sich alleine in dem,

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was zwischen „Menschen“ und jenseits von Bewussteinen geschieht. Gesellschaft als ein empirisches Phänomen der selbsttätigen Strukturbildung zur Weiterführung von Kommunikation differenziert in zunehmenden Maße „Techniken“ des Umgangs mit dem selbst erzeugten Problem der doppelten Kontingenz aus und bildet daran Systemformen.4 Das heißt, dass es das „Andere“ (Bewusstsein, Leben) auch weiterhin „gibt“ und es kommunikativ „erreicht“ werden kann – sonst würde es weder Sinn machen, von Autopoiesis und Emergenz zu sprechen noch von einer Ko-Evolution des Sozialen und des Bewusstseins. Die so gefasste Theorieentscheidung wirft jedoch Fragen nach den mitlaufenden Bedingungen der gesellschaftlichen Reproduktion als eines autopoietischen Prozesses auf, die in der Handlungstheorie formuliert werden und die nun von den Konzepten der Autopoiesis sowie der diese verbindenden strukturellen Kopplungen her einsichtig gemacht werden müssen. Pointiert formuliert: Wir müssen Luhmanns Systemtheorie so rekonstruieren, dass das „vorsprachliche Handlungsgefüge“5 tatsächlich nicht der Gesellschaft zugehörig erscheint und das „vorsprachliche Handlungsgefüge“ muss folglich so rekonstruiert werden, dass er nicht als Handlungsgefüge erscheint (denn die Handlung ist ja in der Sicht der Systemtheorie ein Artefakt der Kommunikation). Luhmann meint, dass es hierfür selektive Mechanismen: Kopplungen geben muss, die die gleichzeitig operierenden sinnbasierten Systemreproduktionsweisen von sozialen und psychischen Systemen in einer nicht-beliebigen Art miteinander verbinden, ohne das die Systeme ineinander übergehen nach dem Motto: die Gesellschaft besteht aus individuellen Handlungen. Die Kopplung muss also zunächst operativ,6 nicht reflexiv oder gar intentional konzipiert werden. Sodann muss die Logik struktureller Kopplung aufgezeigt werden, die für die Möglich-

4

Jeder hat seine Intersubjektivität, meint Luhmann. Deshalb klärt das Konzept der Intersubjektivität darüber auf, dass soziale Ordnung nötig ist.

5

Dieses „vorsprachliche Handlungsgefüge“ wird uns auch im fünften Kapitel noch beschäftigen im Sinne der Frage nach den „lebensweltlichen Verkehrsformen“ der Sozialität (Luhmann) bzw. nach der „primären Sozialität […] der Interaktion unserer Körper“ (Joas 1996, S. 269).

6

Sinnprozesse referieren deshalb auf dasselbe Geschehen. Kopplung benötigt daher keine Gleichzeitigkeit. Gleichzeitigkeit entsteht erst durch Differenzierung der Sinnprozesse als Formel, die in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliches, also nicht Gleichzeitigkeit fasst.

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IN DER

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keit steht, die scharfe Grenze zwischen psychischer und sozialer Sinnbildung in den durch sie ermöglichten Eigenoperationen der Systeme zu bearbeiten und für den Aufbau sozialer Ordnung zu nutzen. Die Bewegung der Deontologisierung der Handlung, ihre kommunikativen Rekonstruktion, der Aufbau einer ohne das verbindende Handlungssubstrat auskommenden Sozialtheorie und deren Grenzen sind Gegenstand des folgenden Abschnittes. Dabei wird sich zeigen, dass Luhmann mehrfach zur Revision seiner Theorieanlage gezwungen ist, denn er erreicht – gerade mit dem Modell der doppelten Kontingenz, das selbst einen Schritt in seiner Theorieentwicklung markiert – nicht jene Konstitutionsebenen sinnhafter Wirklichkeit, an denen er interessiert ist. Eine „stimmige“ Lesart dieser Entwicklung zu gewinnen, ist Gegenstand der folgenden Ausführungen, die aufgrund des zentralen Stellenwerts der operativen und der strukturellen Kopplung psychischer und sozialer Selbstorganisation bis in Luhmanns Auseinandersetzung mit der Sprache reichen müssen.

4.2 L UHMANN

ALS

A UFKLÄRER

Im zweifelsohne paradigmatischen Aufsatz „soziologische Aufklärung“ verortet Luhmann die Aufgaben der Soziologie in der Abgrenzung zur „klassischen“ Aufklärung als Fortführung derselben mit gesellschaftstheoretischen, neuzeitlich-wissenschaftlichen Mitteln (Luhmann 2005b; vgl. Luhmann 2008, S. 80ff. und Luhmann 1980).7 Nicht das Vernunft-apriori des transzendentalen Subjekts, sondern die empirische Entwicklung der Gesellschaft und ihrer „Wissensproduktion“ bilden das Fundament bzw. die Bedingung der Möglichkeit der Aufklärung. Der Rückgriff auf Vernunft oder auf ein transzendentales Bewusstsein erscheint so als ein empirisches Datum in der gesellschaftlichen Reflexion, nicht aber als ein Fundament des Sozialen oder der sozialen Ordnung. Im Anschluss an die Tradition der Aufklärung soll die „Entzauberung der Welt“ vorangetrieben werden, indem gera-

7

Zu einer frühen Kritik an dieser Absicht siehe Schelsky (Schelsky 1977, S. 349ff.). Schelsky kritisiert die „Entlastung“ von Personen in modernen Gesellschaften, die er in Luhmanns Ansatz zu entdecken meint und dabei insbesondere den implizierten Handlungsbegriff der Auflösung der Selbstbindungsfunktion der Person im Handeln (siehe auch Kapitel zwei).

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de diese Vorstellung hinterfragt wird: die Genese sozialer Ordnung aus dem Handeln (Willen) und der Erkenntnisfähigkeit (Vernunft) des Einzelnen (Luhmann 1980, S. 111). Soziologische Aufklärung heißt für Luhmann, zu analysieren, wie Ordnung als eine sinnhafte nicht von „außen“, sondern von „innen“ zusammen gehalten wird, unabhängig davon, welche materialen (physischen, chemischen, zellularen etc.) Bedingungen für ihren Fortbestand erfüllt sein müssen. Die Rede von der Handlung sagt aber – aus dieser Warte betrachtet – etwas anderes: Sie behauptet, dass es das Soziale nur „in den Köpfen“ (etwa dem Willen), „in den Sachen“ (den Häusern, Autos, Fabriken) und, sinnhaft gewendet, vor allem in den Handlungen selbst gebe. Dieser Vorstellung gilt der Vorwurf der Ontologisierung eines historischen Artefakts. 4.2.1 Kritik am instrumentellen Handlungsbegriff Die „De-Ontologisierung des Handlungsbegriffs“ (Esser/Luhmann 1996, S. 134) setzt natürlich eine ontologische oder ontologisierende Vorstellung des Handelns voraus. Handeln bildet demnach gewissermaßen die letzte gesellschaftliche Wirklichkeit, ihre Seins-Basis und zugleich spezifisch menschliches Tätig-sein. Ein solch ontologisierendes Verständnis könnte etwa in der Aussage: „Erleben und Handeln sind in jedem Falle menschliches Verhalten“, wie Luhmann 1978 (Luhmann 2005j, S. 78) schreibt, auf den Punkt gebracht werden.8 Ein solches Handlungskonzept hat vor allem Parsons vorgelegt: In die „letzte Wirklichkeit“ des Handelns fließen, analytisch zerlegbar, das Sozialsystem, das Rollenträger integriert, das Persönlichkeitssystem (Psyche), welches Zielerreichung integriert, der Organismus, der Anpassung integriert und Kultur als Erhaltung der Formen (regierend und kontrollierend) ein (hier: Parsons 1986, S. 14, S. 17). „Letztlich“ han-

8

Hinzugefügt werden sollte, dass Luhmann sich im selben Aufsatz kurz darauf direkt widerspricht und postuliert, es handele sich nicht um Verhaltensweisen, sondern um Zurechnungen. Diese Form der Doppelbezeichnung ist wie gezeigt nicht weiter aufregend und nicht neu. Sie macht aber klar, in welche Richtung sich die „Deontologisierung“ zu bewegen hat: in Richtung einer begrifflichen Differenzierung zwischen Erleben und Wahrnehmen auf der einen und zwischen Handeln und Kommunikation auf der anderen Seite.

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deln nur Individuen, indem sie sich verhalten, aber darein fließen das Verhalten ermöglichend interdependente Systemelemente der Kultur, der organischen Bedürfnisse, der sozialen Gemeinschaft. In diesem Sinne ist Soziologie diejenige Wissenschaft, die „menschliches Handeln zum Gegenstand“ hat, wie Luhmann 1969 schreibt (Luhmann 2008, S. 25).9 Wo Gesellschaft ist, existiert sie als normativ und voluntaristisch integrierter Handlungszusammenhang und nicht nur als antagonistisches Spiel von Interessen. Das Einzelindividuum greift als Aktor in die Welt ein, als Beweger. Der Beweger wird aber selbst „geistig“ bewegt und die sich anschließende Frage nach der Geltung und Dauer sozialer Ordnung richtet sich nunmehr auf die Sozialisation der Kompetenz, die sich in der Weltgestaltung manifestiert. Verhalten erscheint als evident und empirisch beobachtbar. Der einzelne Mensch wird als „Verhaltensorganismus“ gefasst, dessen physische Bewegung der (Selbst-)Beobachtung zugänglich ist. Wie kommt man nun aber vom Verhalten zum Handeln? Durch eine „metatheoretische“ Vorentscheidung: „Nur wenn ‚Sinnǥ als soziologischer Grundbegriff zugelassen wird, können wir Handeln (action) von Verhalten (behavior) unterscheiden.“ (Habermas 1995a, S. 13)

Durch die Einführung des Sinnbegriffes, verliert die Handlung den Status „objektive Kategorie der natürlichen Welt“ (Schütz/Luckmann 1994, S. 17) zu sein. Als „sprachliche Hypostasierung“ im Sinne einer spezifischen Zuwendung zu Erlebnissen (Schütz 2004, S. 128), als begriffliche „Aufordnung der umgebenden Welt“ (Haferkamp 1976, S. 12) wird die Handlung so verstanden, dass das Verhalten nicht mehr alleine aus einer physikalischen Bewegung heraus erklärt (gerade das nicht!) werden kann, sondern erst durch dessen sozial vermittelte Sinnhaftigkeit (Habermas 1995, S. 144f.). Einfach ausgedrückt: die Handlung ist – im Unterschied zum Verhalten – eine durch und durch künstliche Angelegenheit. Der erste und überraschende Befund ist demnach der, dass es weder in der „sinnfreien“ behavioristischen noch in der sinn- oder bedeu-

9

Handlung wird definiert als „jedes sinnhaft orientierte, außenwirksame menschliche Verhalten“ (Luhmann 1973, S. 7). Und eben dieser Schluss: Soziologie als Handlungswissenschaft, wird von Luhmann wieder kassiert.

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tungsfundierten Handlungstheorie ein ontologisches Handlungsverständnis gibt, das erst de-ontologisiert werden müsste.10 Sinn „konstituiert“ Handlung als Episode einer Geschichte von Handlungen – oder wir können nicht sinnvoll von Handlungen sprechen. Problematisch wird das Handlungsverständnis demnach nicht durch den Rekurs auf Verhalten, sondern durch den Rekurs auf den Gedanken der Realisierung oder Wirklichmachung vorher nur gedachter oder geplanter Absichten und Ziele. Auf der Suche nach dem Sinn der Handlung stößt man ja zunächst und zumeist eher auf Kultur und Sprache bzw. auf Regeln und Normen (Habermas 1995a, S. 15). Regeln, Sprachformen, Normen oder Kulturelemente gelten jedoch nicht als das Wirkliche, sondern ihre Umsetzung und damit auch der Agent der Umsetzung: das Subjekt: „Tatsächlich ist aber die sprachliche Verständigung nur der Mechanismus der Handlungskoordinierung, der die Handlungspläne und die Zwecktätigkeiten der Beteiligten zur Interaktion zusammenfügt.“ (Habermas 1995, S. 143)

Subjektive Handlungspläne und Zwecktätigkeiten sind demnach die „realen“ und insofern „ontologischen“ Grundlagen des sozialen Geschehens, das Sprachgeschehen „nur“ ein Instrument, um die Handlungspläne und Zwecktätigkeiten miteinander in Beziehung zu setzen. Wenn aber so die Individualität (quasi der Besitz) des Handlungsaktes bzw. das Ergreifen der Handlungsmöglichkeit durch ein Subjekt in den Mittelpunkt gestellt wird, wird die Radikalität der Sinnthese nicht auf Sprache und Kultur, sondern auf Subjektität bezogen. Durch die subjektive Orientierung, durch die subjektive Sinnverarbeitung und den dabei eingenommenen Attitüden, seien sie moralisch, instrumentell, verständigungsorientiert erscheint das Handeln als die formbildende Kraft des Sozialen. Handeln wird so vor die Sinnklammer der sprachlichen Verständigung gezogen und als die „eigentliche“ Ebene der Realisierung und Geschichtlichkeit der sozialen Wirklichkeit ausgewiesen. „Hinter“ dem Handeln steht das „sprach- und erkenntnisfähige

10 Wenzel spricht vom Suchen und Auffinden eines „nicht-substantialistischen“ Handlungsbegriffes, insbesondere in den Werken Meads und Parsons’ (Wenzel 1985, S. 27). Dieser bezeichnet das Grundelement einer emergenten Ordnung der Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt bzw. die Vermittlung von Aktor und Situation.

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Subjekt“, dessen Sprach- und Erkenntnisfähigkeit Ausdruck der reflexiven, sich-um-sich-sorgenden Weise und Notwendigkeit des Gattungswesens Mensch ist (ebd.).11 Sprachliche Koordination ist in diesem auf die Handlung das Primat legenden Verständnis nicht nur selektiv in dem Sinne, dass Geschichte „mehr“ ist als deren begriffliche Erfassung (ebd.), sie ist dann auch dem geschichtlichen Geschehen gegenüber äußerlich. Die individuelle (im Sinne von: einzelne) Handlung, das Gesellschaftsfundament, unterliegt zwar der Konditionierung durch gesellschaftliche Wirklichkeitskonstruktionen, eingebettet in den kollektiv getragenen sprachlichen Sinn. Individuelles (!) Handeln greift also auf den sozialen Sinnschatz notwendig zurück. Sprache und Kommunikation versorgen das Handeln in der Interaktion oder im intersubjektiven Austausch quasi mit Informationen und unterwerfen es, so wie die „Welt“ auch, bestimmten Restriktionen, die aus der Struktur des Verständigungsmediums Sprache resultieren. Aber das Geschehen ist und bleibt das, was die Akteure tun. Nur ihr Handeln „schafft“ (soziale) Welt, alles andere erscheint lediglich als „Konstruktion“. So gesehen ist das das Handeln zugleich weniger und mehr als das, was gesellschaftlich geordnet vorliegt – mehr im Sinne von unzähligen nicht ergriffenen und sozial prämierten Möglichkeiten und weniger im Sinne einer nur selektiven Auswahl aus diesem Möglichkeitsüberhang. Diese Figur dient nun als Grundlage der Kritik nicht nur Luhmanns, sondern auch weiter Teile der soziologischen Tradition am Handeln: Die Idee, ein „ontologisierendes“ Handlungsverständnis zu kritisieren, verweist einerseits zurück auf wissenschaftstheoretische Fragen, wie denn Wille, Geist, Sinn oder Kommunikation in der Lage sein können, überhaupt Materie zu „bewegen“ oder umzugestalten, die jeweils eigenen Körperbewegungen eingeschlossen (so bereits Hume 2007, S. 89ff.). Sie folgt der „Entanimierung“ und Mechanisierung der Naturvorstellung auf dem Fuße und verweist in die Bahnen der Disziplinierung individueller, natürlicher Affekte durch künstliche Tugen-

11 In der Terminologie der Wissenschaftstheorie Popper’scher Prägung fließen so in der Handlung drei „Welten“, die kognitive, die sprachliche (bzw. begriffliche) und die gegenständliche Welt zusammen (siehe zum Beispiel Popper 1995, S. 40ff.; Bezüge darauf finden sich etwa in Habermas 1995; Latour 2008).

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den.12 Sie kann – gesellschaftstheoretisch gewendet – andererseits in der Form der Ideologiekritik auf eine lange Tradition zurück blicken, die zunächst das „repräsentative Handeln der Herrschaftsstände, als das praktische Fundament aller Gesellschaftsentwicklung“ (Honneth 1980, S. 188) in Zweifel zieht und die in der Kritik an der „praktischen Vernunft“ (Sahlins 1994) eine semiotische und in der Kritik am „atomistischen Akteur“ ihre ihrerseits handlungstheoretische, produktive Wendung bei Parsons erfahren hat. Nicht nur Habermas versteht in diesem Sinne die Reduktion des Handlungsverständnisses auf dessen instrumentelle Dimension (Zweckrationalität jedes Handelns) als eine unstattliche Ontologisierung nur eines Aspekts menschlichen Handelns: der systemisch durchherrschten, instrumentalen Handlungsattitüde. Die Hypostasierung dieser Vereinseitigung habe, so Habermas, noch die Kritik so stark bestimmt, dass sie, also die Frankfurter Schule, in die Entfremdungssackgasse geführt worden sei. Instrumentelles Handeln erscheint demzufolge als modernisierungstheoretisches Artefakt der „Kolonisierung der Lebenswelt“, das die (rationalisierend-emanzipativen) Potenziale im kommunikativen Handeln unausgeschöpft lässt.13 Sprache soll es ermöglichen, der gesellschaftlichen Entwicklungsdynamik gleichsam ein desubjektiviertes (oder dezentriertes) Korrektiv zur Seite zu stellen, um so doch noch das Versprechen der Aufklärung einzuholen (Habermas 1988, S. 415ff.). Das Problem dabei ist natürlich, dass der Vorordnung des Sinnes die Nachordnung des Subjekts folgt, sodass die Handlung zwischen diesen beiden Polen – Sprache und Vernunft – gleichsam verschwindet und das instrumentelle Handeln in seinem SoSein als entfremdeter Seinsmodus, gesellschaftlich bedingt, bestätigt wird. Im Unterschied zu den im zweiten und dritten Kapitel angedeuteten Ansätzen und Überlegungen, im teleologischen bzw. instrumentellen Handlungsmodus eine „Befreiung“ entweder aus der Willkür der

12 Sie bricht daher gegen alle Denkgewohnheit zunächst nicht mit einem Realismus, sondern mit der „Allmacht der Gedanken“ (so spätestens bei: Freud 2005, S. 127ff.). 13 Vgl. zur Diagnose, Habermas versuche, die kritische Theorie mithilfe von kommunikationstheoretischen Mitteln weiter zu führen auch Joas (1980, S. 8ff.). Kritisch wird diese Sprachorientierung betrachtet von: Latour (2008) und aus der Sicht des Pragmatismus: Bernstein (1975).

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Herrschaft, der Leidenschaften oder gar der Gewalt oder aber eine Entbindung aus allzu einschnürenden sozialen Verpflichtungen zu sehen, wendet sich die Kritik also genau gegen diese (systemische) Instrumentalisierung der Handlung. Sie erscheint als eine Einschnürung des menschlichen Handlungs- und nicht zuletzt Verständigungspotenzials. Kritik an der Handlung ist Kritik an den als Sachzwängen ausgegebenen gesellschaftlichen Strukturen, die das Denken und Tun des Einzelnen in das Gehäuse des zweckrationalen Handelns zwingen. Von instrumenteller Handlung kann demnach nur gesprochen werden, wenn sie die Form „objektiver Chancen“ auf die Realisierung individueller Handlungsziele beinhaltet, weil und solange diese sich also an sozialen (sinnhaften) Erwartungsstrukturen orientieren (Weber 1988, S. 568ff.; Parsons 1986a u.v.m.). So formuliert, erscheint es nur konsequent, dem individuellen Handlungsvollzug einen konstitutiven und das soziale Selbst stabilisierenden Beitrag zum sozialen Zusammenleben abzusprechen, weil in der instrumentellen Dimension sowohl Handlungssinn als auch Handlungssituation sozial determiniert sind und nur dann vom sinnhaften Handeln gesprochen werden kann, wenn dieses der sozialen Vorgabe (oder der vorgeprägten Abweichung) entspricht. 14 Habermas, und mit ihm weitere Versuche der Verknüpfung von Handlung, Sprache und Sinn, suchen daher die Eigenständigkeit des kommunikativ-lebensweltlichen Zusammenhangs gegenüber dem des instrumentellen Zu- und Durchgriffs durch systemische Imperative auf, um Grundlagen für die Entfaltung einer sozialen Logik zu finden, die nicht deformierend auf die Subjekte wirkt. Über ihre systemische Einbettung hinaus „stehen“ die Subjekte demnach immer auch in intersubjektiven Beziehungen des kommunikativen Handelns und der sprachlichen Weltbeziehung (vgl. Mühl 1997; Honneth/Joas 1980, S.

14 So argumentiert denn auch Luhmann: Der Voluntarismus von Parsons sei eine Antwort auf den Behaviorismus und daher der Theoriekonzeption äußerlich, die – wie schon bei Weber – abweichendes Verhalten im Grunde nicht mehr als Handeln, sondern nurmehr als Residualkategorie (irrationales Verhalten) führen könne. Die Handlungssemantik erscheint dann als unter spezifischen Bedingungen wirklichkeitsprägende Ideologie und in diesem Sinne auch als wichtiges Element fungierender Selbstbeschreibung in sozialen Systemen. Gerade darin wird aber auch die Beschränktheit der Beschreibung, ihre Immanenz sichtbar.

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145ff.; Habermas 1992, S. 24ff). Allerdings zeigen sich auch hier Grenzen der Versöhnung von individueller Autonomie, sozialer Modernisierung und diskursiver Vernunft. Dass die „Lebenswelt“, verstanden als historisch konkretisierte Form des sprachlichen Verständigungsvermögens, nicht schon per se ein „harmloser Ort“ ist, sieht Habermas auch (ebd.; vgl. Srubar 1997, S. 55ff.). Lebensweltliche und alltägliche Sprachformen und Rollenmuster sind strukturell nicht eben weniger „auferlegt“, als es die positionalen Strukturen der sozialen Systeme sind. In beiden Fällen kann kaum ex ante von einem Mehr oder einem Weniger an „authentischem“ Handlungspotenzial ausgegangen werden. Die dort aufgefundenen Verständigungschancen liegen aber Habermas zufolge nicht etwa in den normativ-selektiven und exklusiven Strukturen lebensweltlicher Sozialformen, sie liegen in den Strukturen der Sprache selbst begründet und sind qua Aufklärung aufzeig- und der Gattung Mensch als deren Telos vermittelbar (Habermas 1973, S. 240ff.). Das Subjekt ist hier in der Form seiner Formbarkeit zur Einsicht hin nötig. Ansatzpunkt des kommunikativen Handelns ist entsprechend, dass es erfahrbare Orte gibt, an denen dieses Einsichtsvermögen, wenn auch (noch für das Bewusstseins) verschüttet, faktisch (das heißt wissenschaftlich erfassbar und daraufhin darstellbar) funktioniert. Aus der „Gegenperspektive“ der anthropologischen Weltverankerung des Handelns im Sinne eines Werkzeugcharakters wird nicht in erster Linie ein instrumentelles Handlungsverständnis kritisiert, wohl aber die Entstofflichung sozialer Beziehungen. Unter anderem leitet sich daraus die moderne Weltverlustannahme der Handlungskompetenz, im Sinne der Enttäuschung der Moderne, ab: Nach Gehlen führen die „Superstrukturen“ der Wirtschaft, der Naturwissenschaften und der Technik dazu, dass für den Einzelnen die Begriffe seines Tuns und die Begriffe, die das beschreiben, was ihm widerfährt, ihren Zusammenhang verlieren (Gehlen 1975, S. 42). Die Kritik am „technischen Zeitalter“ fokussiert also den Verlust persönlichkeitsbildender externer Abstützmechanismen. Anthropologisierung des Handelns heißt in diesem Verständnis, „[…] den Menschen als handelndes Wesen aufzufassen. Dieser Ansatz ist sachaufschließender als jeder andere, denn im Begriff der Handlung ist die denkende, erkennende, wollende Seite des Menschen ebenso enthalten wie seine physische, aber so, daß beide uno actu als gegenseitig sich voraussetzend,

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als ineinander enthalten gedacht werden.“ (Gehlen 1956, S. 8; Hervorhebung im Original; vgl. Gehlen 1975, S. 17f.)

Die primordial dem Handlungsbedarf zugeschriebene Sinngenesis wird begründet im her- und darzustellenden Verhältnis zwischen Welt und Mensch, das vom Menschen ausgeht und dessen Zugang zur Welt über das Denken und die körperliche Situiertheit in ihr begründet wird. Wenn von Handlung die Rede ist, dann von Bewusstseinsleistungen mit leibvermittelten Weltbezug. „Gesellschaftlich“ wird dieses Verständnis (und die damit verbundene Sinngenesis) insoweit, als sozial hervorgebrachte, externe Abstützungsformen notwendig sind, um den Menschen „in der Welt“ zu halten. Bei Gehlen wird so auch die Sprache zum Werkzeug der Öffnung des menschlichen Daseins zur Welt (vgl. Anacker 1974, S. 29ff.). Gehlens Kritik richtet sich auf eine Subjektivität, die formelhaft im Außen nur noch an Diskussionen orientiert ist, der es am materialen Widerstand gleichsam fehlt (Natur wird nicht mehr direkt erfahren), die in anonyme Verkehrsregeln eingebunden ist, in „einer vom Handeln abgefilterten Kultur“ lebt (Gehlen 1975, S. 58). Der Verlust sinnlicher Erfahrung führt zum Verlust der persönlichen Urteilskraft. Auf die eine oder andere Weise gefährdet sich moderne Gesellschaft durch den Verlust individueller Handlungsfähigkeit und dem daraus resultierenden drohenden Weltverlust. Der Mensch wird quasi zum seichten Geschöpf, er verfällt der „Priesterherrschaft“ (Schelsky) neuer Deutungseliten oder einer „gefühligen“ Konsumoder Meinungsdemokratie, kurz: er verliert seine Urteilskraft, weil es auf sein entschlossenes, gleichsam materiales Handeln nicht mehr ankommt. Bateson (1992, S. 556ff.) schließlich verfolgt die Absicht, das Denken in Handlungskategorien als verkürztes menschliches Alltagsdenken darzustellen, wie es dem Einzelnen durch die alltäglich erfahrene Umwelt aufgenötigt wird. Die Struktur des Handelns entspricht demzufolge nicht dem menschlichen Weltzugang als solchem, sondern der begrenzten Verarbeitungskapazität bei der Erfassung seiner systemischen Einbettung in die Umwelt. Nur sozial generierte Erkenntnis, nur Distanzierung, vermag ihn von vielfältigen Rückkoppelungseffekten zwischen Organismen und Umwelten zu unterrichten. Die menschliche, je individuelle Vernunft ist in diesem Sinne gerade qua Alltag begrenzt, und in dieser Hinsicht ist der Mensch von der conditio humana entfremdet. Solange sich der Mensch handelnd versteht, repro-

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duziert er diese Entfremdung durch Eingriffslogiken, die zwingend Folgen zeitigen, die zu neuen Eingriffslogiken führen, die neue Folgen zeitigen usw. Die Kritiken Duxens und Elias’ argumentieren in vergleichbarer Weise, wenn auch mit anderen Akzenten (Dux 2000, S. 473ff.; Elias 1988). Gemeinsam ist ihnen, den Ansatz der Versöhnung von Mensch und sozialer und biologischer Umwelt in Formen sozialer Selbstaufklärung zu suchen, die gleichsam andere Handlungsverständnisse zur Verfügung stellen. Die nicht erst von Luhmann vorgenommene „Dekonstruktion“ des instrumentellen Handlungsverständnisses weist also in drei Richtungen: in Richtung von Sprache und Lebenswelt, in Richtung von Leiblichkeit und Interaktion sowie in Richtung von Denkstrukturen und Verhalten. Statt nun diese Aufspreizung durch eine Differenzierung des Handlungsbegriffes einzuholen oder in eine plane Zivilisationskritik münden zu lassen, findet sich in Luhmanns Theorie einerseits der Rückgriff auf eine gesellschaftstheoretische, Differenzierung und Wissensentwicklung in Anspruch nehmende Verortung des Handelns als eines historischen Artefakts und – parallel dazu, das Bemühen, die theoretischen Prämissen der Systemtheorie diesen Erkenntnissen ad Handlung anzupassen (also die Handlung zu „deontologisieren“). Wenn das vorsprachliche Handlungsgefüge eben vorsprachlich zu verstehen ist, dann handelt es sich nicht um Kommunikation. Wenn aber die Handlung grundsätzlich gesellschaftlich mitbestimmt ist, ist sie „Teil“ gesellschaftlicher Sinnproduktion und also Element von Kommunikation. Wenn beides gilt, ist die Konsequenz, die Verbindung von sozialer Ordnung und individuellem Beitrag genau an der Handlungsnaht aufzutrennen. Ich beginne mit dem zweiten Punkt. 4.2.2 Kritik des interaktionsbezogenen Handlungsverständnisses Luhmann identifiziert die societas civilis als jenes Verständnis sozialer Ordnung, das der Kritik am instrumentellen Handeln zugrunde liegt. Ihr Momentum ist die Ausschließung der systemischen Komponente vor allem staatlicher und interstaatlicher Herrschaft und die Konzentration auf Moral (vgl. hierzu Koselleck 1973, S. 49ff.). Von diesem Verständnis her entfaltet sich die einschlägige Kritik am instrumentellen Handlungsbegriff (aber auch das Gros der weiteren Handlungskritiken). Die instrumentelle Handlung ist der „Kolonialisierung“ durch

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Zweck-Mittel-Relation, durch das wissenschaftlich-technische Handlungsverständnis (Kritik: instrumentelle Vernunft als Vernunft), durch seine Amoralisierung und Rationalisierung als der Herauslösung aus jedweder ethischen Bestimmung anheim gefallen (vgl. Schelsky 1977, S. 84ff.; Dux 2004, S. 154ff.; Bauman 2008 u.v.m.).15 Das sittliche, inszenierte oder kommunikative Handeln soll den Menschen demgegenüber zurück in die „Gesellschaft seiner Gefährten“ (Luhmann 2005x, S. 9) retten, wie Luhmann kommentiert. Schon hieran zeigt sich: Das der Kritik zugrunde liegende Handlungsverständnis ist auf Interaktion bezogen. Im Einklang mit Horkheimer und Adorno (2003, S. 50ff., S. 67ff.) lehnt Luhmann nun die Vorstellung ab, die modernen Gesellschaftsstrukturen könnten im gemeinsamen Handeln widerständiger „Gefährten“, also durch den (interaktiven oder „diskursiven“) Zusammenschluss handlungsmächtiger und einsichtiger Bürger, gebändigt werden. Die Kulturerscheinung des „atomistischen Akteurs“ (Horkheimer/Adorno 2003, S. 69), bei Luhmann: von Exklusionsindividualität, wird bei Horkheimer und Adorno als Folge des Heraustretens aus der „geschlossenen Hauswirtschaft“ zunächst im Gelegenheitstausch und dann im (See-)Handel gefasst und als Ausdruck der Auflösung der Ständeordnung verstanden. Mit Blick auf das 15.-16. Jahrhundert ist dies auch der Bereich, in dem die modernen wirtschaftlichen Vorstellungen von Risiko, Absicherung und Kalkül in die Handlungsform gebracht werden. Das instrumentelle Handeln bildet sich also mit der Freigabe der Handlungen, mit der Auflösung einer oberschichtskontrollierten, auf nahräumlicher Kommunikation aufsetzenden Hierarchisierung der gesellschaftlichen Struktur. Die Handlung löst sich aus der Interaktion der feinen Gesellschaft und dehnt den Geltungsbereich von Personalität über alle Schichten und Lagen hinweg aus. Dem liegt in systemtheoretischer Optik ein Strukturbruch in der Primärform gesellschaftlicher Differenzierung zugrunde, der es unmöglich macht, in theoretischer und kritischer Absicht zurück zu einem interaktionistischen Handlungsbegriff zu gehen.

15 Wobei man, wie etwa Heidbrink das tut, auch umgekehrt formulieren kann, dass die Anonymisierung und „Technisierung“ der sozialen Welt mit einer Inflation von Verantwortungsansprüchen an das Individuum korreliert, also Handlungszuschreibungen ohne Verantwortungsmöglichkeiten ansteigen lässt (Heidbrink 2007, S. 73ff.).

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Luhmanns diesbezügliche Argumentation lässt sich folgendermaßen grob skizzieren: Nur in der stratifizierten Gesellschaft repräsentiert sich Gesellschaft „zutreffend“, wenn auch selektiv, in Einheit mit der Rede und Interaktion der „bestimmten Gemeinschaft“ der Oberschicht16, da deren Kommunikation tatsächlich strukturbildend wirkt (und sich entsprechend symbolisch repräsentiert): Die Oberschicht (und nur die Oberschicht) differenziert sich auf diesem Wege aus und gewinnt so systemisch „Handlungsfähigkeit“ durch Machtmittelkonzentration, Binnenintegration und Legitimation der Ordnung.17 Andere Kommunikationsformen wirken nicht im selben Maße strukturbildend, weil sie keinen eigenen „schichtspezifischen“ politischen Schließungsmechanismus kennen: Die Ständeordnung wird einseitig „von oben nach unten“ diktiert. Mit Blick auf Oberschichten der stratifizierten Gesellschaften fällt auf, dass die expressive und evaluative Dimension der Kommunikation im Vordergrund steht, also die Anzeige der Abschließung sowie die interne Verständigungsorientierung (siehe auch Luhmann 2005v, S. 112). Daraus zieht Luhmann mit Elias, der den Schließungsprozess insbesondere der französischen Adelselite untersucht hat, den Schluss, dass die Formen von Takt und Tugend und deren Verfeinerung sich auf die Selbsterhaltung der Oberschichtsintegration beziehen und diesen Bezug mithilfe einer entsprechenden Handlungssemantik ausweisen. Mit dem Aufkommen neuer kommunikativer Differenzierungslinien verliert jedoch gerade diese Form des Kommunikation-als-

16 Entsprechend ist es für Luhmann wichtig, die Existenz einer jeweiligen Oberschicht als universelles Moment stratifikatorisch differenzierter Gesellschaften hervorzuheben (vgl. Luhmann 1998, S. 678f.). Sie ist das bestimmende Element der Bezeichnung Stratifikation, weniger der Gesamtzusammenhang der Schichten zueinander – auch deshalb, weil sie alle gesellschaftlichen Funktionsbestimmungen bündelt. 17 Diese Annahme korrespondiert mit der historischen Sicht, nach der die Lebensformen und Erfahrungsräume der vormodernen Gesellschaft wesentlich heterogener und zugleich ‚durchmischterǥ waren als sie es mit dem Anbruch der Moderne geworden sind. Das große gesellschaftliche ReformProjekt der Säkularisierung besteht nach Taylor eben in jener Vereinheitlichung der Erfahrungsräume des Alltags durch die gesellschaftlichen Eliten aus einem originär religiösen Wandel heraus, die in zunehmenden Maße zu einem sich selbst verstärkenden Prozess wurde (Taylor 2009, S. 160ff.).

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Handelns die prägende Bedeutung für die gesellschaftliche Reproduktion (siehe dazu Luhmann 1987, 1993, 1993b).18 Dieses Geltungsfundament der „vernünftigen“ Rede bricht nach Luhmann mit der Umstellung auf funktionale Differenzierung weg – und deshalb ist der auf Kommunikation bezogene, die Kommunikation der Gesellschaftsrepräsentanten und -repräsentationen bezeichnende und im Zuge der Kritik an der Instrumentalität wieder hervorgeholte Handlungsbegriff ungeeignet für die soziologische Gesellschaftstheorie. Es ist demnach auch nicht (mehr) die „gesellschaftliche Gemeinschaft“, der die Funktion der Integration der Gesellschaft zufällt – Parsons’ Prämisse der Handlung als letzter über Werte gesicherte Wirklichkeit verliert somit ihre Plausibilität. Die soziologische Aufklärung besteht demnach in der Zurückweisung der Vorstellung der Fremdkonstitution der Gesellschaft durch Gruppen, interessierte Eliten oder „den Menschen“. Diese Aufklärung erscheint als letzter großer Schritt nach der „Entanimierung“ von Gott und Welt (Luhmann 1980, S. 111; siehe auch Plessner 2003, S. 274ff.). Der spätere Handlungsbegriff des vermeintlichen Sinnverlusts reflektiert „nur“ die verschwindende Grundlage des Handelns in der Oberschichtsinteraktion eben in der Form des zweckrationalen Handelns als Leiden an der Gesellschaft. Mit seinem Auftauchen „verkümmert“ die Integrationsbedeutung der gesellschaftlichen Gemeinschaft in der Form einer herrschaftssichernden Fiktion der jeweiligen Eliten, als Teil fürs Ganze gelten zu können. Fassen wir den Gedankengang zusammen: 1. Das interaktionistische Handlungsverständnis, das sich auf die Kritik der instrumentellen Handlungslogik stützt, bezieht sich originär auf Oberschichtskommunikation. Selbstverständlich gibt es weitere und komplexe Interaktions- und Kommunikationsformen, die jedoch für das Verständnis (und Gedächtnis) der Gesellschaft irrelevant sind. Handeln kennzeichnet also spezifische Kommunikationen in doppelter Weise: als Teile des Ganzen und als Repräsentan-

18 Luhmann bezieht sich insbesondere auf Elias’ Studie zur „höfischen Gesellschaft (vgl. Elias 1983), aber auch auf die Untersuchung zum Prozess der Zivilisation. Die am absolutistischen Hofe bis ins kleinste Detail durchstrukturierte Etikette reguliert nach Elias die Stellung der Adelshäuser und ihrer Vertreter zur Krone und integriert so zentralistische Regierung und Adelsklasse.

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ten des Ganzen und als solche als „strukturerzeugende“ Kommunikationen. Aufgrund der stratifkatorischen Differenzierungsform ist es möglich, anhand des Handelns die Zugehörigkeit des Handlungsträgers zur Elite anzuzeigen. 2. In dieser Beschreibungsform wird die ideologische Funktion des Handelns deutlich, die erstens in der Hervorhebung der relevanten Kommunikation, zweitens in der Bestimmung der Zielsetzung sowie drittens in der Konditionierung der Kommunikationsteilnehmerbeiträge (Motive) und der Konditionierung qua Positionierung in der Gesellschaft liegt. 3. Mit der Umstellung auf funktionale Differenzierung ist die Erosion der Grundlage einer auf Integration gerichteten, handlungsbasierten Gesellschaftstheorie Luhmann zufolge einsichtig. Ablesbar ist nach Luhmann diese Entwicklung an der Emergenz eines neuen Handlungsverständnisses auf der Basis des Zerfalls der aristotelischen „Naturteleologie“, des Glückes-in-sicher-selber-findens. Das Handlungsverständnis des 18. Jahrhunderts19 basiert auf dessen „Internalisierung“ und „Privatisierung“ sowie der „Herstellung und Überbrückung der Differenz von Zukunft und Vergangenheit“ (Luhmann 2005i, S. 71) und tritt nunmehr als individualisiertes Glücksstreben auf. Die semantische Verschiebung von Schließung zu Öffnung ist nicht Ursache, sondern Folge gesellschaftlicher Differenzierung. Glückstreben bedeutet auch Freigabe von Präferenzen. Diese Freigabe verunmöglicht die Vorstellung, durch Moral, Vernunft oder auch nur durch Eigeninteresse im Sinne des Gemeinwohls zu handeln. Soziale Strukturen erklären sich nicht mehr aus dem Handeln einer spezifischen Schicht, sondern aus den funktionalen Zusammenhängen. Verschärft wird allerdings das Anschlussproblem sozialer Ordnung für Individuen, weil so die moderne Gesellschaft für das (reflexive) Bewusstsein nun in der Form der Komplexität und nicht mehr: in der Funktion der Komplexitätsreduktion bzw. der „kognitiven Entlastung“ erscheint (vgl. Luhmann 2005z, S. 131; Luhmann 1998, S. 201f.).20

19 Wobei man die Datierung des Umbruchs im Denken auch ganz anders setzen kann, zum Beispiel, wie Honnefelder, im 13. Jahrhundert. 20 Luhmann verabschiedet sich vom Grundkonzept der Funktion der Reduktion von Komplexität und lehnt so – zumindest vordergründig – sowohl

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Der Hinweis auf Handlungsvermögen sowie die Aufforderung zur Selbstverwirklichung ohne Angabe, wie das zu geschehen habe, mögen dafür hervorragende Beispiele sein.21 In der Figur des individuellen Handlungsvermögens löst sich also die Standesbezogenheit der je selbstverständlich gegebenen Welt auf. Sie gibt zugleich den Blick dafür frei, dass die überlegte Handlung nur dann auftritt, wenn situativ eine „Regulierung“ notwendig wird (zum Beispiel Luhmann 2008, S. 25ff.). Ganz offensichtlich wächst dieser Regulierungsbedarf: einerseits durch „Individualisierung“, andererseits durch den Wegfall vorausgesetzter geteilter Prämissen. Das war auch das wichtigste Ergebnis des dritten Kapitels. Die vorangestellte Argumentation lässt sich also wie folgt ergänzen: 4. Die Prämissen gleichsinniger Beobachtung schmelzen im Konkreten ab und müssen abstrakt reformuliert werden. Die Handlungsmöglichkeiten müssen vervielfacht und im Prinzip jederzeit als offen dargestellt, deshalb aber auch modalisiert (konditionierbar) werden. Einerseits wird Wahlfreiheit gewährt, die andererseits über (standardisierte) Mechanismen der Selektion und Motivation dirigiert wird.

den Funktionalismus im Sinne etwa Malinowskis als auch eine anthropologische Fundierung der Entstehung von Institutionen im Sinne Gehlens ab (siehe auch Honneth/Joas 1980, S. 60ff.; Gehlen 1956, S. 37ff.). Zunächst scheint Luhmanns Abwendung jedoch nur auf die moderne Gesellschaft bezogen zu sein Aber: Entweder gilt das immer (strukturell: Autopoiesis des Bewusstseins) oder nur unter Bedingungen (kulturell im Verhältnis von funktionaler und sozialstruktureller Differenzierung und Individualitätssemantiken sowie von kognitiven Strukturen). Die Sache betreffend finden wir allernorts einschlägige Feststellungen: „Der hervorragende Grundzug des menschlichen Lebens in der modernen Welt ist die Überzeugung, dass die Lebenswelt als ganze von ihm weder vollständig verstanden noch irgendeinem Mitmenschen völlig verstehbar ist.“ (Schütz 1972, S. 85) 21 Sie führen auf eine neue existentielle Problemdefinition, wie Schulze es für die „Erlebnisgesellschaft“ bezeichnet – und dies vollkommen unabhängig vom Stand der gesellschaftlichen Entwicklung in makroökonomischen Termini wie Wohlstand, Bruttoszialprodukt etc. (vgl. Schulze 2005, S. 67ff.).

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5. Die Entwicklung macht deutlich, warum moderne Handlung in der Regel als humanspezifisches Handlungsvermögen ausgewiesen wird. Denn nur in dieser Form, als prinzipiell allen zugestandene Kapazität kann die Handlungsbeschreibung weiterhin plausibel zirkulieren, das heißt als eine, die jeden Träger in gleicher Weise als Person qualifiziert. Faktisch weiß man ja, dass nicht alle in gleicher Weise handeln können. Daher erklärt sich, wie Durkheim erkannt hat, der Abstraktionsgrad integrativer Begriffe, wie etwa der des Menschen (Durkheim 1984, S. 44), insgesamt der Ideenhimmel von „Individualität und Person, Wille und Freiheit, Kontingenz und Geschichte“ moderner Gesellschaft (Honnefelder 2008, S. 308f.).22 Erst in kommunikationsbasierten Systemkontexten spielt also moderne Handlung gesellschaftlich eine Rolle, erst beim Auseinandertreten von Struktur und Semantik, von Sozialem und seiner reflexiven „Regulierung“, erst im Kontext von Interpunktionsnotwendigkeiten. Dabei handelt es sich um eine Illusion bzgl. der Entscheidungsfreiheit von an sich „voll determinierten“ Systemen. Mithilfe der Kategorie der Person wird nämlich gerade nicht Freiheit, sondern die Determiniertheit des psychischen Systems selektiv eingeschlossen (Handeln als Bürger, Herstellen als Handwerker etc., soziale Motivsemantiken etc.). Die Reaktionsweise der Person als sozialem Strukturelement zählt gerade aufgrund dieser Determiniertheit – weil sie in ihrer Reaktionsweise nicht frei ist, sondern durch die eigene Geschichte (biografische Situation) erwartbar gebunden wird und dann trotzdem noch erreicht werden kann. Deshalb zeichnet sich auf diesem Wege eine Aufwertung der Handlungssemantik ab, liefert sie doch das sprachliche Gerüst für die Freigabe und Konditionierbarkeit menschlicher Teilnahme an Kommunikation in der Form doppelter Kontingenz. Für die gesellschaftliche Selbstbeschreibung auf der Grundlage einer soziologischen Theorie (also ohne Vereinnahmungsabsicht) taugt die Handlung daher umso weniger.

22 Das gilt auch für die Handlung: „Wenn sie [die gesellschaftlich Ausgeschlossenen; M.K.] im eigentlichen Wortsinne keine Handelnden mehr sind, da sie nichts gesellschaftlich Nützliches mehr machen, wie können sie da gesellschaftlich überhaupt existieren?“ (Castel 2000, S. 19)

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Auch die instrumentelle Handlung ist demnach gar keine Handlung im strengen, material-sinn-kognitionsverbindenden Sinne, sondern Aspekt von Kommunikation. Sie erscheint als Handlung, weil in der Kommunikation zwischen Handlung und Handlungsträger, also der Person, unterschieden wird. Aus der Kritik am Kommunikation-alsHandlung-von-Subjekten-Verständnis entwickelt sich eine spezifische Kritik an der Theorie Parsons’, Genauer: am dortigen Kulturbegriff und dem Denken von normativen Strukturen und voluntaristischer Ausführung der das Handeln tragenden Verhaltensweisen her. Denn: Nicht nur Normen und Werte, auch die „technischen“ Interaktionsmedien leisten ganz offensichtlich eine Anschlusssicherung im Sinne der Funktionsweise von Normen und – um in die Interaktionstheorie zu wechseln: im Sinne von „Interaktionsregulativen“ (vgl. Srubar 1994, S. 103ff.). Sie werden aber gerade nicht normativ aufgeladen, sondern zunehmend segmentiert durchgeführt (etwa Wahrheitssuche), das heißt sozial spezialisiert (zum Beispiel im Wissenschaftssystem).23 Handlung wird also in ihrem exklusiven Bezug auf Interaktionssysteme sichtbar, und dieser Bezug ist von hoher Relevanz, erklärt aber gerade nicht die Formmöglichkeiten moderner Sozialsysteme (zum Beispiel Organisationen). Die Selbstbeschreibung über Freiheit und Segmentierung des Handelns wird umgekehrt über Personalität de facto selektiv eingeschränkt (zum Beispiel: Ausschluss Besitzloser vom Wahlakt, Mitgliedschaftsregulierung, Blutsverwandtschaft etc.). Folglich gilt: 6. Instrumentelles Handeln ist gekoppelt an personalisierte Teilnahmerollen. Die Akzeptanz der Rolle verpflichtet, wenn man so will, normativ auf Instrumentalität, das heißt auf Vollzug. Die personale Varianz, Vermögen, Besitz oder Talent wird in eine erwartungsstabile Form überführt. 7. Die ursächlich verstandene Handlung führt (modern betrachtet) die Handlung auf eine Entscheidung und damit auf Wertpräferenzen zurück. Diese Frage kann zwar über Interessen (und deren politische Repräsentation) kommensurabel gemacht werden – aber nur bis an die Grenze des selbstbezüglichen Individuums (Taylor 1992, S. 12ff.). Zwecksetzungen sind unterschiedlichen Präferenzen freigegeben eben im Sinne biografischer Selbstentwicklung und Ent-

23 Es ist dieser Stand in Luhmanns Theorieentwicklung, der zur Rückbindung an interaktionistische Theorien einlädt (so zum Beispiel: Schneider 2003, S. 48ff.).

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faltung, also in einer zeitlichen Selbstmodulierung der Miniaturgeschichte (Lebenslauf) von Individuen (Luhmann 1997, S. 237ff.). Gerade darin wird aber der soziale Sinn offenbar: Im systemischen Kontext besteht die Möglichkeit sich für Handeln mit Motiven zu versorgen – und nicht umgekehrt. 8. Die Handlungsbedeutung liegt innerhalb der Kontinuisierung von Kommunikation: einerseits in „technischen“ Zusammenhängen, etwa Zahlungen, andererseits in Interaktionssystemen, die (auch) die moderne Gesellschaft realisieren. Die Analyse des Handlungsbezuges innerhalb von Interaktionssystemen fördert aber keinen Beitrag zur Grundlage gesellschaftlicher Differenzierung, denn ihr Gegenstand ist selbst abhängige Variable gesellschaftlicher Evolution. Die auf diesen Sachverhalt aufbauende Handlungstheorie der Soziologie versucht demnach, die gesellschaftliche Entwicklung der Handlungssemantik in Richtung ihrer Zweckrationalisierung rückgängig zu machen und verliert so den Blick für die technische Kommunikationsabwicklung qua Kodierung und den ihr zugeordneten Handlungssemantiken (vgl. Kapitel fünf). Eine über die Kritik an der instrumentellen Handlung hinausgehende „Aufklärung“ verlangt also, dass Gesellschaftstheorie in der Lage ist, diese Bedeutungsverschiebung zu erfassen, ohne durch ihn ihre Grundbegriffe auswechseln zu müssen (etwa: vorher war Handeln möglich, jetzt ist Handeln nicht mehr möglich). Die anhand der über die Schriften Luhmanns verstreuten Auseinandersetzungen mit der Handlungssemantik gewonnene Verortung letzterer in einer spezifischen gesellschaftlichen Differenzierungsform münden deshalb nicht in die Annahme einer zunehmenden Ohnmacht des Einzelnen. Diese – eher aus der Perspektive der Handlungstheorie Max Webers formulierbare – Entwicklungsthese ist durch die Anlage der Systemtheorie, dem Handeln jenen grundbegrifflichen Charakter abzusprechen, ausgeschlossen. Dieser Ausschluss ist selbst Produkt der Semantikanalyse. Ihr geht es um die kommunikative Bedeutung des Handelns. Sie besagt, dass eine gesellschaftliche Selbstbeschreibung und -selbsteinwirkung durch die Stilisierung von Handlungsträgerschaft an systemrelevanten Stellen nicht mehr schlüssig sei (etwa: durch kollektive Zukunftskontrolle, durch individuelle Selbstverfügung, durch Kohäsion qua sozialem Wertekonsens). Freilich ist gerade die moderne Gesellschaft nur zu haben, wenn sie den Einzelnen personalisiert und das

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heißt: handeln lässt. Daraus lässt sich aber keine Gesellschaftstheorie ableiten, denn diese muss klären, warum es erst unter spezifischen Bedingungen zu dieser Personalisierung und Handlungsuniversalisierung kommt. Kommunikation muss deshalb in Luhmanns Sicht, anstatt als intentionale Akte gemeinschaftsorientierter Akteure, also als kommunikatives Handeln, gefasst zu werden, aus der verständigungsorientierten Akkordierung divergenter Perspektiven von Handelnden, gleichsam aus der Selbstmystifikation der Eliten, herausgelöst und auf die Grundlagen der Herstellung und Wiederherstellbarkeit von Interaktionssystemen und der funktionsbezogenen Kommunikationssysteme im Rahmen gesellschaftlicher Differenzierungsformen gestellt werden. Die Verständigungsorientierung als Mechanismus der Stabilisierung sozialer Ordnung ist an stratifizierte Gesellschaftsformationen gebunden, in denen vor allem die Oberschichten systemisch und lebensweltlich integriert sind und sich dadurch Handlungsfähigkeit sichern und zuschreiben und dann mit welchen Mitteln immer auch „nach außen“ zu verteidigen vermögen.24 Wie Giddens, so zieht auch Luhmann die „Konsequenzen der Moderne“: Luhmann gesteht natürlich auch heute schichtspezifische Variationen von Inklusionschancen zu, aber Inklusionschancen werden durch die ein- und entbettenden Sozialsysteme und deren komplexitäts- und unwahrscheinlichkeitsüberwindungssteigernde Leistungen determiniert und „integrieren“ in Leistungsbezüge, nicht in Menschengruppen (siehe Giddens 1996, S. 141ff.). Anders ausgedrückt: Die Handlung involviert auf grundbegrifflicher Ebene zuviel individuelle Autonomie („Direktzugriff“ in Taylors Worten; Taylor 2009, S. 361ff.) in die Prozesse des Sozialen, während Autonomie in diesem Sinne grundsätzliches Kennzeichen von sozialen und psychischen Systemen ist, also keine historische Differenzierung nach mehr oder weniger erlaubt. Nicht die Ohnmacht des individuellen Akteurs, sondern die Situativität auf der einen und die interaktive Bestätigungsform auf der anderen Seite sind deshalb die Ergebnisse der Rekonstruktion der Luhmann’schen Analyse der Handlungssemantik. Er bewegt sich damit keineswegs weit außerhalb des soziologischen Diagnosespektrums.

24 Wie im dritten Kapitel angesprochen basiert das Modell kommunikativen Handelns und diskursiver Verständigung in erheblichem Maße auf der Rekonstruktion der bürgerlichen Öffentlichkeit.

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Um dieser Einsicht aber auch theoretisch gerecht zu werden, bedarf es einer grundsätzlichen Verschiebung des Handlungsverständnisses in das soziale Sinngeschehen während die oben genannten weiteren Punkte, nämlich Körperlichkeit, Denken und deren Beitrag zu sozialer Ordnung (und zur sozialen Systembildung) nun in anderer Weise mit Kommunikation verbunden werden müssen. Diese Notwendigkeit bildet meines Erachtens einen neuralgischen Punkt, der zur kontinuierlichen Umarbeitung der Systemtheorie Anlass gibt.

4.3 L UHMANNS SYSTEMTHEORETISCHE A UFLÖSUNG DER H ANDLUNG „Deontologisiert“ werden muss, wie wir gesehen haben, die von Max Weber vorgebrachte, von Parsons ausgebaute und von Habermas noch geteilte Ansicht, Gesellschaft „bestehe“ aus den Letztelementen des sinnhaften, weil gerichteten (wertorientierten) menschlichen Verhaltens, vor dessen Hintergrund nur das zweckorientierte Handeln als ein systemisch programmiertes erscheint. Handeln auf der einen und sinnhaftes Verhalten auf der anderen Seite bezeichnen demnach unterschiedliches, die Ontologie des Handelns besteht nicht im Verhalten und auch nicht in der aktorhaften Bewegung des Schwungrads der Geschichte. Luhmanns Deontologisierung (im Sinne der Auflösung und Rekonstruktion der Bedeutung des Handelns in der Theorie) der Handlung vollzieht sich in Luhmanns Werk in mehreren Etappen. Auf der Grundlage einer näheren Lektüre ist es möglich, drei Phasen zu unterscheiden: Bedeutet Kommunikation zunächst „nur“ ein zusätzliches quasi den individuellen Handlungsvollzug übergreifendes Moment der Sinngenese, umgreift und internalisiert es hernach das Handeln (im Sinne von: Verhalten) als Teil der Kommunikation und trennt es so von seiner alleinigen Grundierung von Sozialität ab (indem es zu einem von mehreren Elementen wird, die durch Systembildung erst ermöglicht werden). Im Zentrum der Überlegung in dieser zweiten Phase steht die Einbeziehung der Konzepte von Autopoiesis und von „Letztelementen“ – den Handlungen als Ereignissen mit Zeitstelle im Rahmen doppelter Kontingenz. Diese Verortung ist es unter anderem, die in einer dritten Phase aufgelöst wird zugunsten einer (im Sinnmedium) angenommenen Gleichzeitigkeit, die das wechselseitig äußerliche Ver-

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hältnis von Bewusstsein und Kommunikation in den Vordergrund stellt. Diese dritte Phase orientiert sich deutlich auf Medien, Kommunikation und Sprache. Wenn man so will, handelt es sich also um den systemtheoriespezifischen linguistic turn.25 Dabei sieht sich Luhmann gezwungen, einen selektiven Kommunikationsbegriff und damit ein selektives Verständnis sozialer Systeme zu entwickeln, in welchem materiale Aspekte, die ja auch im Handeln angezeigt sind, sowohl aus dem Bewusstsein als auch aus der Kommunikation herausfallen, nunmehr aber als Brücke zwischen beiden Sinnverarbeitungsmodi dienen. Sie werden so in die Theorie zurückgeholt. Der die Phasen überspannende Gedanke besteht in der Ausarbeitung der Annahme, die sprachliche (kommunikative) Eigendynamik sei mehr als einen Mechanismus der Handlungskoordinierung. Dieser Mechanismus wird „positiviert“ und als das Gesellschaftliche schlechthin verstanden. In der Konsequenz muss die gesellschaftliche Sinnverarbeitung ausschließlich über Kommunikation modelliert werden und sich dabei auch des Mittels der Handlung bedienen. Und dann muss gezeigt werden, wie gesellschaftliche und individuelle Sinnproduktion aufeinander abgestimmt sein können. Die Transformation von Verhalten in Handeln muss dabei auf der sozialen Seite – als Folge der kommunikativen Autopoiesis – angesiedelt werden, sonst würden die vorstehenden Überlegungen gleichsam in eine willentliche Perspektive zurückschnappen. Ich rekonstruiere die Bemühungen um die Auflösung des Handlungsproblems in den skizzierten drei Schritten: über Sinn (4.3.1), doppelte Kontingenz (4.3.2) und dem Verhältnis von Autopoiesis und Kopplung (4.3.3). 4.3.1 Soziale Systeme als Sinnhorizont des Handelns Die Kritik Luhmanns an den handlungstheoretischen Vorläufern richtet sich zunächst und vor allem auf eine Unterlassung: die Unterlas-

25 Der Wandel in der Theoriebildung tritt natürlich nicht plötzlich und unvorbereitet auf. Medialität – und Semantik! – waren natürlich schon lange ein Thema in der Systemtheorie. Eine intensive Auseinandersetzung würde eine Systemtheorieexegese auf einem Niveau erfordern, das hier weder einholbar noch notwendig ist.

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sung der Explikation des Sinnbegriffes bei Weber und bei Parsons.26 Luhmann definiert soziale Systeme, in seiner frühen Schaffenszeit, als „Sinnzusammenhang“ sozialer Handlungen: „Unter sozialen Systemen soll hier ein Sinnzusammenhang von sozialen Handlungen verstanden werden, die aufeinander verweisen und sich von einer Umwelt nicht dazugehöriger Handlungen abgrenzen lassen.“ (Luhmann 1971, S. 346)

Diesen zweifellos von Husserl herkommenden und auch – siehe oben – bei Habermas vertretenen Gedanken wendet Luhmann aber auch auf die „Nachfolger“ der sinnbasierten Handlungs- und Sozialtheorien an: Er diagnostiziert die fehlende Erfassung des „Weltbezuges“ von Sinn und legt in diesem Sinne den Grundstein für ein asubjektives Sinnkonzept. Bei Schütz heißt es zum Beispiel: „Die Welt als Ganze ist prinzipiell undurchsichtig und deshalb als Ganze auch unverstanden und unverstehbar.“ (Schütz 2003d, S. 340)

Es gibt demzufolge Unbekanntes, aber Wissbares und als unwissbar Bekanntes, wobei letzteres in alternativen Realitätsbereichen (Religion, Wissenschaften etc.) „verarbeitet“, durch Symbole auf Lebenswelt bezogen und in ihr gedeutet wird (ebd.). Das Handlungswissen bildet dagegen Teil des lebensweltlichen Wissens, das über den besagten Hiatus hinweg gleiten lässt (also Negation in der Welt ermöglicht) und gerade hierin Ansatzpunkt für Begrenzung liefert. Genau die „haltlose“ Komplexität der Welt wird aber, so Luhmann erst kommunikativ als solche einsichtig und in die Form eines dann kontingenten Selektionshorizonts gebracht. Die Frage ist demnach die, wie nicht „nur“ subjektive Orientierungen generiert werden können, sondern wie der vorgängige Sinnhorizont des Handelns als ein welthafter Selektionshorizont entsteht – gewissermaßen, woraus und „wogegen“ sich zum Beispiel das

26 Luhmann versucht zunächst System und Sinn – Parsons und Husserl – zusammen zu bringen, ohne auf Kommunikation zu rekurrieren (vgl. Luhmann 1979 S. 37). Luhmann setzt somit an dem Ausgangsproblem an, den auch Schütz an Webers Konzeption der Soziologie identifiziert hatte (Schütz 2004, S. 96ff.).

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Schütz’sche subjektiv-intersubjektive „Kosmion“ zu generieren vermag (vgl. Luhmann 1972, S. 31ff.). Luhmanns frühe Antwort lautet: Soziale Systeme sind als Sinnselektoren für jeweils alltägliches menschliches Erleben und Handeln zu verstehen, indem sie mit Blick auf das jeweilige Sozialsystem angeben, was „Grenzen und Möglichkeiten der Zurechnung von Handlungen“ sind (Luhmann 1971, S. 348, S. 357). Soziale Systeme überziehen gewissermaßen das individuelle Erleben und Handeln mit einer Optionenvielfalt, mit Negationsmöglichkeiten und zugleich mit Orientierungskoordinaten (Selektionsangeboten). Die Steuerungsleistung des sozialen Systems basiert auf der Funktion der Reduktion und Rekonstruktion von Komplexität: „Alles Handeln, das sich zur Erfassung und Reduktion von Komplexität an Systemen orientiert, wird durch die Systemgeschichte „programmiert“. Programmierung durch die Geschichte gibt nicht nur einen Bestand erinnerter Informationen und bewährter Verhaltensregeln, also nicht nur Wissen, sondern darüber hinaus die sehr viel wichtigere Schließung des Horizonts der Möglichkeiten, die Sicherheit, „daß nichts weiter los ist“ und daß man deshalb sein Handeln ohne Bedenken aus einem begrenzten Repertoire von Möglichkeiten auswählen kann.“ (Luhmann 2005b, S. 107)

Luhmanns frühe Analysen setzen also beim Menschen bzw. beim Bewusstsein an und der phänomenologischen Analyse seiner Welteinbettung qua Zeit, Sozialität und Reflexivität (vgl. Luhmann 1989, S. 5f.; 17ff.). Soziale Systeme ermöglichen, indem sie den Welt auf ein Format bringen, zugleich „Transintentionalität“ als das Erleben anderer ‚Aktivitätszentrenǥ in derselben Welt. Insgesamt sieht man, dass Luhmann das Problem sozialer Ordnung wie Parsons auch als Evidenz fasst, die auf ihre Stabilitäts- und Entstehungsgrundlagen hin zu befragen ist (Habermas/Luhmann 1971, S. 362f.).27 So betont Luhmann den ermöglichenden Charakter sozialer Systeme für menschliches Erleben und Handeln, also für die Möglichkeit individueller Sinnselektion. Luhmann vertritt dabei durchgängig durch sein Werk als

27 Luhmann spricht hier noch vom „Urproblem der Sozialordnung, der Existenz eines freien alter ego.“ (Luhmann 1989, S. 71) Sowohl der Weg in Richtung „doppelter Kontingenz“ ist damit vorgezeichnet als auch die Ablehnung der Fremdwahrnehmung des Anderen als Leistung des transzendentalen Ego.

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„[…] Grundbedingungen menschlichen Daseins in der Welt […] ein sehr eng begrenztes Potential für aktuell-bewußte Wahrnehmung und Informationsverarbeitung.“ (Luhmann 2008, S. 28)

Die Annahme der Begrenzung der Leistungsfähigkeit subjektiver (bzw. psychischer oder psychophysischer) Einzelwesen bildet ihrerseits den Ausgangspunkt für die Entfaltung der Theorie sozialer Systeme. Soziale Systeme erscheinen vor diesem Hintergrund also als Formen der sinnhaften Informationsverarbeitung für den Menschen, indem „seine“ Welt der äußersten, unbestimmten Komplexität sinnhaft erfasst und reduziert wird zu einem konkreteren Umweltentwurf (Erleben ermöglichend) und zu Mitteln der Selbsterhaltung und -identifikation (Handeln ermöglichend). Soziale Systeme strukturieren demnach über den Sinn-Mechanismus der Erfassung und Reduktion von Komplexität das nur begrenzt steigerbare Erleben (Wissen, Vernunft) und Handeln (Praxis, Wille) der Menschen auf der einen Seite und über Struktur- und Gedächtnisbildung ihre eigene Komplexität und ermöglichen so wiederum eine stärkere Selektivität individuellen Erlebens und Handelns im Strukturzusammenhang menschlicher Handlungsverkettung im Rahmen von Funktionssystemen, Zweckorganisationen etc.28 Der hierzu „passende“, das heißt im Verhältnis zur späteren Fassung noch Handlungszusammenhänge ergänzende Kommunikationsbegriff29 fasst diese als Information auf, die über systemrelative und -relevante Selektionen von Bewussteinen Auskunft gibt (Luhmann 2005g, S. 214). Empirische soziale Systeme rücken also in den Platz der transzendentalen Vernunft ein. Handlungsrationalität (nicht: das Handeln selbst) wird folglich von der Sozialsystemebene, nicht von der subjektiven Ebene her verstanden. Dass damit ein Steigerungszusammenhang, das heißt eine bessere Konzertierung individuellen Verhaltens und Lebens qua Gesellschaft und dann qua soziologischer Aufklärung ganz im Sinne der traditionellen Aufklärung mitgemeint ist, liegt auf der Hand. Wenn es um das Verlassen von

28 Vgl. dazu natürlich die Institutionenlehre Gehlens (zum Beispiel Gehlen 1961, S. 69ff.). 29 So auch, neben anderen: Göbel (Göbel 2000, S. 201) Göbel betont, dass zu Zeiten der „Handlungssystemtheorie“ Luhmanns Begriff der Kommunikation zwar vorkommt, jedoch keinen grundbegrifflichen Status innehat.

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„Platons Höhle“ gehe, komme es, so Luhmann, für den Menschen darauf an „[...] in Prozessen intersubjektiver Kommunikation Systeme zu stabilisieren, die mehr Komplexität der Welt erfassen und reduzieren können, und sein Vertrauen auf das Funktionieren dieser Systeme zu setzen. Nur so ist der transzendentale Prozeß der Konstitution von Welt und Sinn auf einer Stufe höherer Komplexität zu realisieren.“ (Luhmann 1989, S. 22; Hervorhebung im Original)

Das soziologische Erkenntnisinteresse orientiert sich auf die Funktionsweise systemischer Zusammenhänge, die als „intersubjektive Kommunikation“ quasi oberhalb der Handlungs-als-Ereignis-Ketten angesiedelt sind – und weniger auf die individuelle Lebensführung unter Bedingungen des „stahlharten Gehäuses“ von Weber (vgl. auch: Willke 1978). Sinn (Kommunikation und Semantik) und Sozialstruktur (Handlungssysteme) als deren temporale Realisate sind noch zwei Ebenen des Geschehens, und verschiedentlich schlägt sich das auch in Gegenstandsbeschreibungen nieder, etwa wenn Luhmann meint, in Organisationen werde entschieden – und an den positionalen „Enden“ der Organisation schließlich gehandelt (vgl. Luhmann 1973, S. 258ff.).30 Der Begriff der Kommunikation spielt in dieser frühen Phase der Theorieentwicklung „nur“ eine begleitende Rolle als spezifische Formen der Handlung,31 stattdessen ist zum Beispiel von „Sinnverbundenheit faktischen Handelns“ (Luhmann 1983, S. VII) oder von einem „sinnvollen Erwartungszusammenhang“ oder kürzer „Orientierungsrahmen des Handelns“ (Luhmann 2005d, S. 226) die Rede. Handlung und Bewusstsein nehmen eine zentrale Stellung ein im Sinne der Wahl

30 Gewissermaßen stehen die beiden Ebenen für Sozial- und Systemintegration und damit einerseits für die Frage nach den Strukturen der Verkettung individuellen Handelns und andererseits nach den Formen gesellschaftlich hervorgebrachten Wissens. An diesem Punkte setzen insbesondere wissenssoziologische Untersuchungen bzgl. der Möglichkeit, über Ideenvariation Strukturmodifikation zu erreichen, an (siehe Luhmann 1993, 1993a, 1994). 31 Genauer: Kommunikation erscheint als Ausschnitt der Handlungszusammenhänge, als Form der Verständigung (Luhmann 2008, S. 25ff.).

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von Alternativen und der grundsätzlichen Möglichkeit, die Dinge auch anders zu tun. Allerdings ist diese Alternative eingeordnet in den Prozess der sinnhaften Weltgenese schlechthin: ein „außerhalb“ der sozialen Sinnvorgaben gibt es demnach nicht, sondern das „Außerhalb“ wird „innerhalb“ der Sinnvorgaben mitindiziert. Die Erwartungen, die selektiv Mögliches stabilisieren ohne anderes abzuschneiden, sind nicht in den sinnhaften Orientierungen des Einzelnen, sondern in den Strukturen der Handlungssysteme zu suchen, quasi im Angebot „objektiver Chancen“, wie Weber sagen würde (vgl. auch Behrmann 1978, S. 40f.). Erst das eröffnet im Übrigen die Chance für differenzierte soziologische Untersuchungen unterschiedlicher Formen sozialer Beziehungen. Von diesen unterschiedlichen Formen her lassen sich wiederum empirisch-vergleichend weitere Typiken des Umgangs mit dem Problem der Erwartbarkeit formulieren (funktionale Äquivalente). Die symbolisch generalisierten Kodes der Kommunikation kommen genau so zustande (vgl. Schneider 2003, S. 46).32 Nicht der tatsächliche vollzogene Tausch von Medien (wie dem Geld), wie das Parsons vorschwebte, sondern Selektionsofferten in Situationen, also Erwartungen, bilden deren Grundlage (siehe Kapitel fünf). Kommunikation wird so zum eigentlichen Ansatzpunkt der Untersuchung sozialer Ordnung, und die individuelle Handlungsselektion trennt sich von der sozialen Handlungsselektion: „Der Sinnzusammenhang, der Handlungen zum System der Gesellschaft verbindet, ist ein anderer als der sinnhaft gesteuerte, aber organisch fundierte Zusammenhang der wirklichen und möglichen Handlungen des Menschen. Die Identität der Handlungen, aus denen beide Systeme sich konstituieren, erlaubt keinen Rückschluß auf die Identität der Systeme selbst, die ihre Einheit als verschiedenartige Selektion aus Möglichkeiten haben.“ (Luhmann 1972, S. 134)

Handlungen erscheinen letztlich als Sachaussagen bzw. als Tat-Fragen (ebd., S. 113). Dass Handlungen dabei nur im Rahmen anderer Handlungen erscheinen können, ist schließlich gleichbedeutend mit dem Verstehensvollzug, dass heißt mit ihrer mehr oder minder adäquaten Einordnung in einen Rahmen. So gesehen bestätigt sich zunächst die

32 Nämlich als Ego-Alter-Synthesen, also als „vorpräparierte“ immanente Dualität.

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Vermutung, es handele sich bei Kommunikation um ein die Einzelhandlungen übergreifendes operatives System, dass jede Handlung in eine Sequenz von drei Aspekten zerlegt, Informationswert, Identifikation/Identität und situativer Rahmen. Aber, so ist zu fragen: Können die Probleme der Handlungskoordination (bzw. grundsätzlicher: des Handlungsvermögens) und des Fremdverstehens phänomenologisch und theoriesystematisch betrachtet überhaupt Ausgangspunkte für die Emergenz von Gesellschaft sein? 4.3.2 Doppelte Kontingenz als Konstituens sozialer Ordnung Gründet Luhmann das „Eigenbehavior“ der psychischen Systeme in den beiden Hobbes’schen Annahmen des „vertragstheoretischen Atomismus“ und der „zweckrationale[n] Verfolgung egoistischer Interessen“? So fragt Hesse in einer Auseinandersetzung mit Luhmanns Systemtheorie vor dem Hintergrund der aristotelischen Handlungslehre (vgl. Hesse 1999, S. 262). Ihre Antwort fällt positiv aus. Gemeinsam mit Parsons gehe Luhmann auf das Hobbes’sche Problem sozialer Ordnung zurück und begründe von daher den Ausgangspunkt sozialer Systembildung in der doppelten Kontingenz: Als Handlungsproblem zwischen autonomen selbstinteressierten, egoistischen Akteuren. Hinweise für diese Diagnose finden sich natürlich zuhauf. Das Bezugsproblem sozialer Ordnung findet Luhmann etwa in jener Komplexitätssteigerung, die durch andere Menschen erzeugt wird, durch deren „Freiheit des Handelns“ (Luhmann 1989, S. 40). Er entnimmt dem Hobbes’schen Werk die Idee, soziale Ordnung sei Ausdruck der Entfaltung nicht des Naturrechts oder des Naturzustandes, sondern der Paradoxie, die eben jenem Zustand innewohnt (Luhmann 1993b, S. 25f.).33 In diesem Sinne ist auch die Aussage interpretierbar, das positive Recht bilde die „Supersemantik“ des Handelns (Luhmann 1999). Schneider beharrt demgegenüber, wie andere Autoren auch, darauf, dass der rational interessierte Akteur aus der Systemtheorie als Erklärungsfaktor ausscheide (Schneider 1994, S. 150, S. 154; zu Luhmanns

33 Sachlich begründet und ausformuliert findet sich dieser Gedanke in Kosellecks Studie zur dialektischen Entwicklung des Absolutismus und der Aufklärung und ihren Konsequenzen für das bürgerliche Weltverständnis (Koselleck 1973, S. 19ff), auf die sich Luhmann wiederholt bezieht.

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Position dazu: Luhmann 1987, S. 160). Richtig ist auch, dass sich Interessen34 auf Beziehungen beziehen und nicht auf alter ego.35 Das Interesse entspricht einem Informationswert, der im historischen Verlauf Unkontrollierbarkeit in Kontrollierbarkeit überführt. Gewissermaßen haben also beide Positionen „recht“: Der rationale Akteur als Sinnfigur löst das Problem der doppelten Kontingenz, indem „er“ es zugleich sicht- und bearbeitbar macht, ohne es ein für allemal aufzuheben. Angesichts der Begrenztheit des Verarbeitungsmechanismus Bewusstsein und der Sozialität der Wissensbildung handelt es demnach um eine Form sozialer Selektivität, die zur Grundlage der Fremd- und Selbstbeobachtung im Zuge der Entfaltung des Zirkels der doppelten Kontingenz gerinnt. Die Freiheit des Handelns ist das Komplementärkonstrukt zur rechtlichen Schaffung der freien Person (und deshalb das Recht Supersemantik des Handelns). Was bedeutet dies für das Verhältnis von Kommunikation und Handlung? Das Problem der doppelten Kontingenz besagt: Menschen, besser: psychische Systeme stellen füreinander „black boxes“ dar (Luhmann

34 Im Sinne einer Handlungszusatzsemantik: Zur Rekonstruktion des Interesse-Begriffes als Sicherung zukünftiger Handlungschancen, der sich historisch im Rahmen vor allem der Rechts- und dann der gesellschaftstheoretischen Entwicklung entfaltet vgl. Neuendorff (1973). Siehe auch Kapitel drei. 35 Schneiders Rekonstruktion setzt auf der „Innenseite“ eines sinnhaften Welthorizontes an, in dem sich Bewusstsein und Kommunikation (nicht aber: Bewusstsein und Bewusstsein) finden. Dadurch gelingt eine Rekonstruktion des Handelns als eines interaktionellen Prozesses der Synthetisierung von Fremd- und Selbstzuschreibungen (Schneider 1994, S. 109). Das Problem ist damit auf den Terminus Interaktion verlagert, der ja selbst wieder ein Handeln impliziert. Genau an dieser Stelle setzt jedoch Luhmanns Gesellschaftsbegriff an. Niemand würde behaupten wollen, dass sich eine Interaktionssituation eine eigene Verkehrsprache erst schaffen würde. Die Sprache liegt vielmehr als ein gesellschaftlich hervorgebrachtes Medium bereits vor. Und in diesem Sinne differenzieren sich Interaktionssysteme aus dem System Gesellschaft aus. Die Bedingung ihrer Emergenz ist, dass kommuniziert wurde und nachher kommuniziert werden wird. Anders als in Greshoffs Einschätzung wird hier also davon ausgegangen, dass der Gesellschaftsbegriff in Luhmanns Systemtheorie eine tragende Rolle spielt (vgl. Greshoff 2003, S. 98ff.).

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1987, S. 156). Sie können nicht in die andere black box hineinsehen, wissen wechselseitig um dieses Nicht-Hinein-Sehen-Können und wissen deshalb nur, dass, aber nicht wie der Andere das eigene projektierte Verhalten zur Grundlage seines Verhaltens machen wird. Luhmanns Vorschlag der Lösung dieses Zirkelproblems läuft zunächst darauf hinaus, von dort zu fragen, wie so etwas wie Verhaltenskoordination (oder Akkordierung) entstehen kann – als Korrelat unmöglichen Verstehens aufgrund der Geschlossenheit und notwendigen operativen Selbstbezüglichkeit der psychischen Systeme. Seine Antwort lautet: durch Kommunikation, und, statt des Verstehens der Akteure: durch Bildung (Konstitution) sozialer Systeme. Die „Akkordierung“ von Verhalten läuft demzufolge nicht über intentionale Handlungen, sondern rekursiv über die Verfestigung „erfolgreicher“ Interaktionen zu Erwartungsmustern durch die die Kondensierung und Konfirmierung von Sinn. Luhmann geht mit Mead davon aus, dass „[…] das Wesen des Sinnes in der Struktur der gesellschaftlichen Handlung impliziert ist, in den Beziehungen zwischen von den drei grundlegenden Komponenten: nämlich in der dreiseitigen Beziehung zwischen der Geste eines Individuums, einer Reaktion auf diese Geste durch ein zweites Individuum und der Vollendung der jeweiligen gesellschaftlichen Handlung, die durch die Geste des ersten Individuums eingeleitet wurde.“ (Mead 1998, S. 121; Hervorhe36

bung M.K.)

In diesem „objekt-schaffenden“ Vorgang emergiert die Sinneinheit Handlung als Substratgegenstand, und erst dann und darauf aufbauend ist ein symbolischer Austausch möglich und erwartbar. Luhmann geht davon aus, dass sich aller sachliche Sinn in dieser Weise kommunikativ bildet und nicht nur soziale Objekte wie Märkte, Regierungen etc. so gebildet werden, wie das – in Luhmanns Augen – bei Mead der Fall ist. Und aus diesem Grund spricht Luhmann von der „multiplen Konstitution“ sozialer Ordnung aus dem Problem der doppelten Kontingenz heraus (Luhmann 1987, S. 65ff.).

36 Nach Mühl und nach Joas müsste der Ausdruck „Geste“ im Zitat jeweils durch den Ausdruck der „Gebärde“ ersetzt werden, weil hier kein „symbolvermittelter Sinn“, sondern eine „unbewusste Bedeutung“ angesprochen wird (vgl. Mühl 1997, S. 187). Das stärkt das vorgetragene Argument ebenso wie der Bezug zu Luhmann deutlicher zum Vorschein kommt.

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Erwartungen werden fürderhin durch das Sozialsystem spezifiziert: eingeordnet und bewertet vor dem Hintergrund eines Bewertungsschemas, etwa dem Recht oder der Wirtschaft. Die Handlung ist dabei jene Sinneinheit der Generalisierung und Respezifikation, deren „Bewertbarkeit“ quasi die Identität spezifischer sozialer Systeme ausmacht. Generalisierung ermöglicht einen Überschuss an Möglichkeiten, Spezifizierung programmatische Reduktion der selbstzerzeugten Überschüsse bzw. zusammen eine „Auswahl aus sinnhaft erzeugten Handlungsmöglichkeiten“ (Luhmann 1988, S. 136). Die Handlung meint demnach einen sozial konstruierten „fact out there“ als ein künstlich geschaffenes, aber deshalb auch eigenständiges, irreversibel gesetztes Objekt, das seinen Sinn in der Kommunikation erhält. Die Zuschreibung von Handeln führt dann dazu, • dass Einzelhandlungen Personen zugerechnet werden können als Entscheidungen derselben für eine und gegen andere Handlungen (Unterscheidung), • dass Einzelhandlungen im Rahmen von Subsystemen der Gesellschaft platziert werden können – etwa als Zahlung – mit den entsprechenden Bedeutungs- und Erwartungsstrukturen (zum Beispiel diese zu akzeptieren) und aus diesen heraus erklärt werden können und müssen (Bezeichnung), • dass Personen verantwortlich gemacht werden können durch spezifische Verfahren, die den Grad der Zustimmung oder Abweichung prüfen, wobei diese Prüfung und im Zweifelsfalle Sanktionen nach sich ziehen kann, insbesondere rechtlicher oder moralischer Natur (Beurteilung; vgl. Luhmann 1993b, S. 88). Soziale Systeme bilden sich also als selektive „Akkordierungen“ des Zusammenwirkens psychischer Systeme. Die Struktur sozialer Systeme hat die Funktion, „das permanente Changieren und Wiederfinden solcher Akkordierungen wahrscheinlicher zu machen.“ (Luhmann 1987, S. 192) Und sie tut dies über die Bildung von Erwartungsstrukturen, deren Bezugspunkt (oder Steuerungsgegenstand) das „reale“ Verhalten von Menschen ist. Das reale Verhalten kann aber nicht direkt erreicht, sondern nur über die Setzung durch das Subjekt und also über die Strukturierung der Erwartungen des Subjekts „konditioniert“ werden – also durch die Übersetzbarkeit psychischer und sozialer Erwartungen. Für diese Verschränkung verwendet Luhmann zunächst den Parsons’schen Begriff der Interpenetration (Luhmann, 1993a, S.

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278ff.). Interpenetration fasst Luhmann so, dass „im jeweiligen Bezugssystem die Einheit und Komplexität (im Unterschied zu: spezifischen Zuständen und Operationen) des jeweils anderen eine Funktion erhält.“ (Luhmann 2005y, S. 51) Als Element der Interpenetration schlägt Luhmann die Handlung vor: „Dies „etwas“ [das Gemeinsame sozialer und psychischer Systeme; M.K.] dürften im Falle personaler und sozialer Systeme einzelne Handlungen sein. Eine Person interpenetriert mit einzelnen ihrer Handlungen in dies oder jenes soziale System. Und umgekehrt kommt diejenige Handlungsmenge, die ein soziales System konstituiert, nur dadurch zustande, daß eine Mehrheit von Personen sich mit Handlungen zur Verfügung stellt.“ (Luhmann 1993a, S. 278, Hervorhebung im Original)

Die Annahme, soziale Ordnung verweise quasi automatisch auf gemeinsam geteilte Werte und diese würden in Form von Normen und in Form der „freiwilligen“ Motivation als „nicht-rationale Handlungsgrundlagen“ die Teilnahme am sozialen System sicherstellen, wird so modifiziert (Luhmann 2008, S. 100). Die „multiple Konstitution“ sozialer Ordnung (Luhmann 1987, S. 65ff.) geschieht vielmehr durch jegliche sozial mögliche, das heißt faktisch existente, in eine Form gebrachte Akkordierung als „Entzirkelung“ doppelter Kontingenz via Handlung (siehe dazu Luhmann 2008, S. 24ff.). Ungenügend erscheint die normative Lösung also nur dahingehend, dass sie als Lösung des Problems der „doppelten Kontingenz“ alle möglichen funktionalen Äquivalente im Verhältnis zur normativ-voluntaristischen Integration ausblendet. Das Parsons’sche Komplementaritätsproblem besteht darin, dass sich die Partner verstehen. Die Luhmann’sche Lösung besteht darin, dass sie sich nicht verstehen, das wissen und sich deshalb am „Sichtbaren“, am Handeln orientieren, welches folglich ein Beobachtungsresultat als einem gemeinsam zugänglichen Ereignis bezeichnet. Die Handlung ist jene geniale Erfindung, die an die Stelle von Selbstbezüglichkeit (und Selbstdetermination) des Einzelbewusstseins Freiheit setzt und diese Freiheit qua Willen konditioniert. Allerdings, meint Luhmann, müssen auch in dieser Lösungsvariante Prämissen im Spiel sein, die eine Aktualisierung des Möglichkeitsraumes doppelter Kontingenz anbieten und darauf hin Sozialsystementwicklung anschieben:

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„Vielmehr hat man davon auszugehen, daß in aller sozialen Kommunikation, und, deutlicher fixiert, in aller sprachlichen Kommunikation mit der Unterstellung eines Wertkonsenses operiert wird, dessen Annahme überhaupt erst die Selektion spezifischer Themen ermöglicht. Die Realität dieser Voraussetzung ist nicht die eines empirischen Konsenses, sondern die einer laufend in Anspruch genommenen Prämisse.“ (Luhmann 2005n, S. 348)

Diese in Anspruch genommenen Prämissen (Werte) können gleichsam nach Konkretionsebenen unterschieden werden. An ihrem Grund liegen diejenigen Annahmen, die in handlungstheoretischer Tradition als „Idealisierungen“ bezeichnet werden. (Reziprozität der Perspektiven usw.), die Luhmann vorweg als nicht-konkretisierbaren „Bereich des gesellschaftlich Selbstverständlichen“ bezeichnet. Darunter fallen demnach jene basalen Annahmen, die ein konkretes historisches Apriori zum Ausdruck bringen. Sie umfassen sowohl die Person als auch das Handeln und das Erleben als menschliche Verhaltensformen (ebd., S. 347). Darunter fallen dann aber auch weiter spezifizierte Formen der Lösung doppelter Kontingenz. Denn die Lösung, alle möglichen funktionalen Kodierungen im Auswahlbereich als Prämisse behandelter Übereinstimmungsunterstellungen gleichwertig zu setzen (Geld, Macht, Liebe, Konsens etc.) funktioniert gewissermaßen nur, wenn Erwartungen bereits auf die Bewusstseine „verteilt“ sind und die selbstverständlich gegebene Welt weiterläuft. Dann, nur dann ist das Problem des selektiven Akkordierens als eines gemeinsam-geteilten, gleichzeitig synchronen zeichenvermittelnden Aufrufens derselben oder spiegelbildlicher Selektionen gelöst. Mit anderen Worten ist es nur gelöst, wenn zuvor das Problem der Intersubjektivität gelöst ist. Gelöst ist das Problem, wenn es die Form der doppelten Kontingenz angenommen hat, denn diese muss in Luhmanns Theorielogik als die allgemeinste Formel der unterstellten und kommunikativ in Anspruch genommenen gemeinsam geteilten Prämisse betrachtet werden. Die gemeinsam geteilte Prämisse muss also im Schema der doppelten Kontingenz bestehen. Die Erfassung des Schemas ist das Verstehen und damit der Vollzug und der Anschluss in dieser notwendig allgemeinen Form (zum Beispiel: Annahme oder eben Ablehnung), in einer performativen Figur: Verstehen heißt hier, dass sich die Akteure an diese eine Regel halten. Kommunikation wird damit gleichsam vollinklusiv, übergreift das manifeste Verhalten durch die Konditionie-

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rung der teilnehmenden psychischen Systeme in der Form der allgemeinsten Erwartung: Frei handeln zu können und sich unter anderen frei Handelnden zu bewegen. So versteht Luhmann Handlung als das Gemeinsame von personalen und sozialen Systemen, deren Interpenetrationszone. Die Handlung (und das Erleben) erscheint grundsätzlich als menschliches Verhalten, das in unterschiedlichen Systemprozessen (Kommunikation, Bewusstsein) „erkannt“, aber in beiden Systemen unterschiedlich kontextuiert wird (Luhmann 1993b, S. 278ff.; Luhmann 1989, S. 3). Handlungen dienen dann der Ineinanderschachtelung der Systeme (ebd.).37 Dieses Verständnis führt zu einem enormen Anwachsen des Geltungsbereichs sozialer Systeme, weil Kommunikation gewissermaßen direkt das Verhalten der Beteiligten inkludiert. Die materialen Akte der Zeichensetzung durch Individuen sind und bleiben diesem Modell zufolge Bestandteil der Gesellschaft (und hierin liegt, wie zu zeigen sein wird, die Schwäche des Modells). Das allumfassende Sozialsystem, der Gedanke der Interpenetration qua Handlung und die Entstehung sozialer Ordnung aus der Unmöglichkeit des Verstehenkönnens dokumentieren sich in der folgenden Passage: „Morphogenese sozialer Ordnung auf Grund von Verstehensdefiziten ist nicht etwas, was vorkommen oder auch ausbleiben kann und gelingen oder auch mißlingen kann. [...] Es ist ein zwangsläufiger Prozeß, der sich selbst autokatalysiert, sobald doppelte Kontingenz erfahren wird. Dies ist eine sehr allgemeine, aber keineswegs triviale Einsicht. Sie bedeutet vor allem, daß alle Aktivität der Teilnehmer in die selbstreferentielle Reproduktion dieses sozialen Systems einbezogen wird.“ (Luhmann 2004a, S. 84f., Hervorhebung MK)

Doppelte Kontingenz setzt den Unterschied zwischen dem Seh-/ Hörbaren und dem nicht Seh-/Hörbaren, zwischen Verhalten und Intention oder was immer im „Kopf“ des Gegenüber abläuft als funktionalen Problembezug und als gewusstes Wissen voraus. Dieser Ansatz

37 Diese Theoriefassung fasziniert nach wie vor viele Beobachter der Luhmann’schen Systemtheorie. Das dabei problematische Verhältnis von Element und Ereignis wird einerseits Gegenstand der Kritik, andererseits im Sinne des symbolischen Interaktionismus rückinterpretiert als paralleles Prozessieren von Handlung in psychischen und in sozialen Systemen (Schneider 1994 und 2003; Schulz-Schaeffer 2007, S. 86ff.).

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muss jedoch an seiner Historizität scheitern. Sein Problem ist, einfach ausgedrückt, in dem Versuch zu sehen, soziale Ordnung spezifisch interaktionstheoretisch zu fundieren, über diese einen Anfang zu finden (parallele Kritik könnte man an der Lesart von Goffmans Theorie üben, in alltäglichen Interaktionen lägen kaum Vorstrukturierungen der Situationsdefinition vor, sodass wir hier einen Nukleus des Sozialen identifizieren könnten)38 Diese Situation ist mit anderen Worten selbst voraussetzungsvoll. Erst auf einer fortgeschrittenen ontogenetischen Entwicklungsstufe kann überhaupt gesehen werden, dass „die Außenseite“ des Gegenüber nicht mehr genügend Hinweise bzgl. dessen zu geben vermag, was auf der Innenseite geschieht. Aussagen werden aber erst dann sozial mehrdeutig, wenn diese Zusatzinformation zu gehörten Sprachzeichen hinzutritt (siehe Helmer 1971, S. 70ff.).39 Das Problem der doppelten Kontingenz kann insofern keine konstitutive Grundlage der Bildung (oder Emergenz) sozialer Systeme unabhängig von Zeit und Kultur sein. Die vorgetragenen Überlegungen lassen nur den Schluss zu, dass es sich bei den in sozialen Situationen gegenüberstehenden Teilnehmern erst dann um „black boxes“ handeln kann, wenn die psychischen Systeme als bereits sozialisierte betrachtet werden. Das heißt, dass die Konstitution sozialer Systeme nicht nur als eine mutualistische Konstitution auf der Grundlage doppelter Kontingenz verstanden werden kann. Andererseits kann das Problem der „doppelten Kontingenz“ nur auf der Basis der faktisch unterstellten Freiheit des Handelns entstehen (sprich: als Wahl zwischen Handlungsentwürfen, denn das sind ja Handlungen: Verhaltenserwartungen). Diese Unterstellung ersetzt quasi die Unmöglichkeit der Erreichbarkeit des „Inneren“ psychischer Systeme und ermöglicht eine Art kalkulierten oder Anreize setzenden Umgang mit dem Undurchsichtigen – also eine soziale Lösung ohne Rückgriff auf konkrete psychische Sinnverarbeitung – in Form von Erwartungsbildungen. Und sie impliziert, dass die Individuen darauf-

38 Die Schwächen dieser Grundlegung hat etwa, allerdings als Kritik an der funktionalistischen Dorfgemeinschaftsforschung, Goody aufgezeigt (Goody 1981, S. 12ff.). 39 Mit dem Eintritt ins Teenageralter wachsen, so Helmer, Interpretationsschwierigkeiten – sie wachsen, je kompetenter Sprecher werden. Luhmanns Sprachkonzept basiert auch auf dieser Tatsache (vgl. Luhmann 1987b, S. 468).

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hin tatsächlich mit „ihren“ Handlungen an sozialen Systemen partizipieren. Wir können jetzt soweit gehen, anzunehmen, dass doppelte Kontingenz erweiterte Möglichkeiten einer funktions-spezifischen Kodierung auf der Grundlage der Universalisierung der Handlung sowie der Möglichkeit von „exklusionsindividueller“ Freiheit hervorbringt und in diesem Sinne europäisch-zentriertes Gedankengut im Zuge gesellschaftlicher Strukturveränderungen darstellt. Diese Einsicht ist natürlich seit Weber bekannt; sie ist refomulierbar als spezifische Form der Wissensverteilung (Schütz/Luckmann 1994, S. 371ff., S. 387ff.). Es kommt nicht darauf an, was die einzelnen wollen, sondern dass sie zur gegebenen Zeit das richtige tun bzw. den richtigen Referenzrahmen verwenden, und dazu kann dann wiederum gehören, dass Richtige gewollt zu haben. Hier spielt die Selektivität der sozialen Struktur die entscheidende Bedeutung. Sie nimmt nur auf, was in den Referenzrahmen passt, an den die Individuen schon angepasst sind (sei es konfirmierend sei es abweichend). Teilnehmer mögen, um diesen „Zustand“ zu erreichen, qua Versuch und Irrtum testen, was angemessen ist und sich darüber selber sozialisieren. Das mag umfangreiche, sozial gesteuerte Lernprozesse involvieren, die eine situationsunspezifische Individuierung verfügbar machen und darauf hin das alltägliche Funktionieren der Akkordierung von Verhalten in heterogenen Interaktionssituationen ermöglichen. Die Handlungssemantik dient also der Generalisierung und Respezifikation und das im Sinne der Interaktionstheorie, die am Endpunkt sozialer Regulierung angesiedelt werden muss. Sie bildet nicht einen Konstitutionsmechanismus, sondern die Chance des Aus- und Aufbaus kommunikativer Komplexität ohne – das ist das Moderne daran – doppelte Kontingenz zu „vernichten“. Das weiß auch Luhmann, wenn er feststellt, dass in der Moderne „[...] das Individuum nicht mehr als bekannt, sondern als unbekannt (als spontan, inkonstant, black box usw.) eingeschätzt“ und also eine Umstellung der Bildung sozialer Beziehungen vorgenommen wird (Luhmann 1993b, S. 158f.; Hervorhebung im Original). Ist dies (black box!) eine semantische Erfindung, so wird völlig unklar, wie es gleichzeitig als Ausgangsproblem aller sozialen Ordnung formuliert werden kann.40 Doppelte Kontingenz ist mithin nicht

40 In den Vorlesungen zur Einführung in die Systemtheorie will Luhmann doppelte Kontingenz denn auch lediglich als eine Art heuristisches Schema

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deshalb ungeeignet, die Emergenz von Kommunikation zu erklären, weil es „nur“ ein analytisches Konzept darstellt, sondern weil es eine historisch verortbare Grundlage hat. Sie ist aber umgekehrt geeignet, zu erklären, a) welche „Funktion“ der Rückgriff auf Handlung in der kommunikativen Selbstbeschreibung einnimmt und b) warum die Systemtheorie Luhmanns hier eine Theoriemodifikation vornehmen muss. Das Problem der doppelten Kontingenz bzw. seine Form als gesellschaftlich bereit gestelltes konstitutives Element der sich selbst erneuernden sozialen Systeme, also gewissermaßen als Semantik, setzt nicht nur den Europäischen Erwachsenen voraus und stellt ein sozialsystemimmanentes Problem dar. Doppelte Kontingenz ist darüber hinaus als es ein historisch-spezifisches und nicht als ein universelles Konzept zu verstehen. Unter Bedingungen doppelter Kontingenz ohne vorgängige wie immer rudimentäre Erwartungen und Unterstellungen würden soziale Systeme gar nicht in Gang kommen. Das Fehlen situativer Erwartungen, nach Weber das Fehlen einer „objektiven“ Chance, würde gar nicht erst dazu verführen, es mit einer Handlung zu versuchen (eine objektive Chance in eine subjektive Relevanz zu überführen): „Erst durch Einbau eines Handlungsverständnisses in das kommunikative Geschehen wird die Kommunikation asymmetrisiert, erst dadurch erhält sie eine Richtung vom Mitteilenden auf den Mitteilungsempfänger, die nur dadurch umgekehrt werden kann, daß der Mitteilungsempfänger seinerseits etwas mitzuteilen, also zu handeln beginnt.“ (Luhmann 1987, S. 227; Hervorhebung im Original)

Und doppelte Kontingenz ist eine moderne Form des Problems: Erst sie garantiert, was Luhmann praktisch als freie „Partnerwahl“ versteht – Anonymisierung, Inklusion etc. Sie ist, schließlich, Bedingung der Möglichkeit der Bildung von Organisationen, weil durch sie die Handlung beinahe beliebig geformt werden kann, dabei (als Voraussetzung) Willensfreiheit unterstellt wird und „hergegeben“ werden kann. Luhmann fragt deshalb selbst:

verstanden wissen, das dabei hilft, Durkheims Annahme der nichtvertraglichen Grundlagen des Vertrages zeitlich zu entdramatisieren: Jemand muss beginnen, der Rest pendelt sich ein (Luhmann 2006, S. 316ff.).

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„[...] wie kommt man überhaupt dazu, den anderen als anderen zu erkennen und von einfacher Kontingenz (im Sinne von Umweltabhängigkeit) zu doppelter Kontingenz überzugehen?“ (Luhmann 1997, S. 25)

Deshalb ist schon innerhalb des Werkes „soziale Systeme“ klar, dass eine solche Lösung der Ausarbeitung der Spezifik der Kommunikation und der Ausarbeitung der Form der Beteiligung von Bewusstsein an Kommunikation benötigt – oder anders gesagt, einen neuerlichen Rückgriff auf die Phänomenologie einerseits und eine intensivere Auseinandersetzung mit der Möglichkeit des Zusammenspiels von Bewusstsein und Kommunikation andererseits: Das Modell der doppelten Kontingenz würde, wenn als Hin-und-Herspringen zwischen Gedanken und Kommunikation, ansonsten das Konzept der Autopoiesis sprengen und setzt dabei auch voraus, dass doppelte Kontingenz als solche erfahren werden kann. Das würde nichts anderes heißen als: bereits institutionalisierte Intersubjektivität. Um diesen Aporien zu entrinnen, wechselt Luhmann die Bezugsproblematik. Sie – und mit ihr die Bedeutung der Handlung – wechselt dabei von der Perspektivenakkordierung von Einzelbewusstseinen auf die Ausdifferenzierung sozialer Systeme, also von der Annahme, doppelte Kontingenz lasse soziale Systeme aus der Begegnung von Bewusstseinen „entstehen“, zu der Annahme, diese Entstehung sei nur durch eine nochmalige Differenzierung von körperlich vermittelten Bewusstsein-zu-Bewusstsein-Begegnungen sowie der Evolution von Gesellschaft zu erfassen. Zugleich zwingt diese Überlegung Luhmann zur Radikalisierung des Verhältnisses von Autopoiesis und Interprenetration (gewissermaßen: von Intersubjektivität): Der strukturelle Kopplungsbegriff, der den der Interpenetration ersetzt (genauer: reformuliert und mit dem Begriff der Irritation verbindet) ist es, der von der Selbigkeit des Elements in zwei Systemen auf die Äußerlichkeit (mit Blick auf die gekoppelten Systeme) des Kopplungselements41

41 Wir erinnern uns daran, dass wir es ausschließlich mit zeitbezogen operierenden Systemen zu tun haben, in denen ein Element notwendig Ereignischarakter hat. Durch die Äußerlichkeit wird nun die Möglichkeit zumindest ins Spiel gebracht, dass ein in dem Sinne nicht zerfallendes Element gemeint sein könnte. Daher verwundert es nicht, dass Luhmann von der Sprache als der Form des primären Kopplungsmechanismus Stabilität erwartet und ihr gleichzeitig keinen Systemcharakter zubilligen will (Luh-

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umstellt: Es taucht nicht in beiden, sondern in keinem der SinnSysteme als Element auf: „Kopplung bezeichnet in dieser Theorie die Tatsache, daß die damit bezeichnete Umweltbeziehung nicht in die Selbstreferenz einbezogen wird. Das Bewußtsein findet und entwickelt seine Strukturen nicht dadurch, daß es Gehirnbenutzung oder Sprachbenutzung reflektiert.“ (Luhmann 2005dd, S. 104)

Das körperliche Verhalten wird nun zum Substrat, also zum intentionalen Gegenstand des Bewusstseins. Und das Aussprechen ist nur als Sprechverhalten die Bedingung der Möglichkeit für eine Verkettung von Information, Mitteilung und Verstehen. In der Fassung zur Zeit des Erscheinens des Werkes „Soziale Systeme“ ist dagegen noch davon die Rede, dass psychische und soziale Systeme qua Interpenetration „dieselben Elemente benutzen“, diese aber unterschiedlich in die Eigenstrukturen integrieren (Luhmann 1987, S. 293).42

mann 1998, S. 110f.) Zur Kritik an den sich widersprechenden Anforderungen siehe Srubar (2005). Srubar kritisiert unter anderem, dass Luhmann der klar geschnittenen Sprache Systemcharakter abspricht, dagegen aber den unklaren Funktionssemantiken und -strukturen (Sub-)Systemcharakter zuspricht. Luhmann hat jedoch früh auf gerade diese Notwendigkeit hingewiesen in der Auseinandersetzung mit Habermas. Gesellschaft würde sonst mit Sprache zusammenfallen, meint Luhmann (Habermas/Luhmann 1971, S. 17, S. 39ff.). 42 Konsequent heißt es dort: „So fallen die Grenzen sozialer Systeme in das Bewußtsein psychischer Systeme. Das Bewußtsein unterläuft und trägt damit die Möglichkeit, Sozialsystemgrenzen zu ziehen, und dies gerade deshalb, weil sie nicht zugleich Grenzen des Bewußtseins sind. Das Gleiche gilt im umgekehrten Fall: Die Grenzen psychischer Systeme fallen in den Kommunikationsbereich sozialer Systeme. Kommunikation ist geradezu gezwungen, sich laufend daran zu orientieren, was psychische Systeme in ihr Bewußtsein bereits aufgenommen haben und was nicht.“ (Luhmann 1987, S. 295) Dies ist mit den Begriffen der operativen und strukturellen Kopplung gar nicht mehr vorstellbar und entsprechend heißt es: „[…] als strukturelle Kopplungen müssen Grenzen unbeobachtbar sein, weil weder das wahrnehmende Bewußtsein noch die Kommunikation ihre operative Schließung sprengen und aus dem eigenen System heraus auf Umwelt zugreifen kann.“ (Luhmann 1997 S. 80)

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Daran wird noch einmal ersichtlich, dass das bisherige von Luhmann verwendete Konzept der Mitteilung das materiale Verhalten direkt mitumfasste. In Analogie zu „praxeologischen“ Ansätzen wird so jeglicher menschliche Zug zur Kommunikation, genauer: zur Mitteilung. Etwas zugespitzt formuliert, lief der Theorievorschlag ad „doppelte Kontingenz“ darauf hinaus, dass Information mit Kognition, Mitteilung mit Handlung und Verstehen mit Sozialität (Semiosis) gleichgesetzt werden müsste. So anschlussfähig diese Sichtweise an handlungstheoretisches Gedankengut wäre, der analytische „Mehrwert“ wäre bescheiden. Sowohl die Differenz zwischen bewusstem und sozialem Sinn als auch die Differenz zwischen Struktur und Semantik – zentrale Bausteine der Luhmann’schen Systemtheorie – würden ihre Grundlage verlieren. Zugleich ist diese Sichtweise – aus der Entwicklung der Systemtheorie heraus – merkwürdig inkonsequent. Denn sie unterstellt die Identität der individuellen und sozialen Handlung als Sinnform desselben intentionalen Verhaltens. Dieser Typ der Handlungsorientierung muss jedoch als „Akrasie“ beschrieben werden (Luhmann2004b, S. 100) – und würde dann für alles Handeln gelten.43 Gleichwohl ergibt sich diese Figur aus der Luhmann’schen Argumentation, einerseits das Handeln als Interpenetrationszone psychischer und sozialer Sinnverarbeitung zu erfassen und es andererseits mit der Funktion der Irreversibilisierung, also der prozessreproduzierenden Ereignisselektion auszustatten. Dies ist in der einschlägigen Diskussion nicht unberücksichtigt geblieben: Die strukturelle und die semantische Verwendung des Handlungsbegriffs stellen das Differenzierungstheorem infrage und ebenso das wissenssoziologische Programm Luhmanns. Und auch die frühe Kritik an Luhmanns Medientheorie fokussiert diesen Punkt (Künzler 1987, S. 320ff.). Demgegenüber hatte Martens eine Lesart der Emergenz sozialer Systeme durch das synthetisierende Zusammenziehen bewusster, physischer und semiotischer Prozesse vorgestellt (Martens 1991, S, 631ff.). Gegen die synthetisierende Vorstellung betont Luhmann nun, dass Kommunikation und soziale System in keiner Weise psychische oder materiale Komponenten enthalten.

43 Eine gute Rekonstruktion dieser Perspektive inklusive der dann anfallenden Kritik und zugleich Übernahme des Problems der doppelten Referenz von Handlung als objektivem „Gegenstand“ und als gedeutetem Sinngeschehen findet sich bei Renn (Renn, S. 2006, S. 225ff.).

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Stattdessen wird gleichsam das phänomenologische Moment in der Systemtheorie gestärkt: Die spezifische Transzendenzerfahrung der Beseeltheit des Anderen (die unmittelbare Apperzeption) löst Luhmann auf in die beiden Konzepte der Differenz sowie der Selbstreferentialität des als different Erfahrenen. Aus dieser Sicht sind sowohl Andere als auch Kommunikation schlechthin als selbstreferentiell erfahrbar bzw. werden so erfahren. (Luhmann 2004a). Dass die Mitteilung eine Handlung, eine subjektive Intention, zu sein hat, kann dann als Folge eines historisch entstandenen Selbstbeschreibung im Sinne einer selektiven Erfassung dessen, was zu sozialen Systemen gehört und was nicht, verstanden werden. Das bedeutet, dass das reale Verhalten nicht in den kommunikativen Zusammenhang eingebettet sein kann, weil das Handeln immer nur eine Referenz eines Sinnsystems bezeichnet, nicht aber diese Referenz „ist“. Von hier wird die sprachorientierte Weiterführung notwendig. Sie führt dazu, dass Luhmann von nun an zugleich die phänomenologische Differenzlinie zwischen wesentlich-aktuellen Perzeptionen und ihrer reflexiven Formung in Sinn traktiert. Entlang dieser kommt der Semiosis als Bedeutungsgenerierung eine entscheidende Rolle zu: als Sinngenese auf der Grundlage struktureller Kopplung in unterschiedlichen Systemtypen mit wechselseitigen Ermöglichungs- und Steigerungsbedingungen. Mit anderen Worten: Strukturelle Kopplung bezeichnet jenen Sachverhalt, den in anderen Theorien die Intentionalität des Handelns einnimmt: die Ermöglichung (und der Zwang) zum permanenten Orientierungschangieren als Motor sozialer Systembildung und individueller Sorge im Rahmen operativ verkoppelter Sinnverarbeitung. 4.3.3 Autopoiesis sozialer Systeme im Rahmen von Medien, Kommunikation und Sprache Die dritte identifizierbare Phase der Luhmann’schen Theorie sozialer Systeme im Hinblick auf die Auseinandersetzung um die Handlung orientiert sich im geschilderten Kontext auf Medien, Kommunikation und Sprache und lässt damit die interaktionstheoretische Fundierung der Handlung in der doppelten Kontingenz und doppelte Kontingenz als Erklärungsansatz für die Genese sozialer Ordnung endgültig hinter sich. Die Grenzen der Meadschen interaktionstheoretischen Fundierung sieht Luhmann nicht zuletzt in ihrer binnenperspektivischen Doppelung von „I“ und „Me“ im Sinne einer dialogischen Struktur,

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die Sozialität in das Bewusstsein kopiert (vgl. auch Bergmann/ Hoffmann 1985,S. 96). Wie noch zu zeigen sein wird, ist demgegenüber für Luhmann der phänomenologische Gedanke einer Selbsthabe des einsamen Ich (gewissermaßen als Erfahrung der „Befindlichkeit“44) vor aller „Sozialisation“, aber in der Folge der körperlichen Verankerung in der „Welt“ wesentlich. Damit bekommt Kommunikation – und soziale Systembildung – ihre alleinige Fundierung in den soziale Systeme konstituierenden Ordnungsebenen und -mitteln der Gesellschaft (Medienevolution und gesellschaftliche Differenzierung).45 Damit rückt auch die Luhmann’sche Sprachkonzeption in den Mittelpunkt der konstitutionstheoretischen Auseinandersetzung um die Selbsterzeugung sozialer Systeme. Die ordnenden Sinnstrukturen des Sozialen sind in erster Linie sprachlicher „Natur“. Grundlage hierfür bildet die Radikalisierung des Autopoiesis-Gedankens und dessen Ergänzung durch das Konzept der strukturellen Kopplung zu einem hochgradig selektiven Kommunikations- und Sozialsystemverständnis, also zu einem, dass deren Sinnstrukturen alleine aus selbstexplikativen Kommunikationen hervorgehen und als Zeichen- und Symbolformung und deren Verkettung entstehen lässt – ohne auf die Gedanken der Sprecher zu rekurrieren (Problem der Gleichzeitig des Sinnprozessierens) und ebenso ohne auf den handelnden Akt des Sprechens als kreativer Leistung seitens des Sprechers zu rekurrieren (Problem der Differenz zwischen Sinn und Kausalität). Beides jedoch sind zugleich Voraussetzungen, Begleiterscheinungen und Folgen sprachlicher Kommunikation, die ihr Gepräge gesellschaftlich erhält. Vorweg jedoch eine Bemerkung: In einer mundanphänomenologischen Analyse hält Schütz fest, dass die Situation, die Gedanken, das Papier, die Tinte etc., in der er diesen Gedanken formuliert, für die spätere Textfassung irrelevant sind und auch nicht dort „erscheinen“ werden (Schütz 1971, S. 27ff.; bei Luhmann: Luhmann 1993a, S.

44 Nach Heidegger ist die Befindlichkeit […] eine der existenzialen Strukturen, in denen sich das Sein das „Da“ hält.“ (Heidegger 2006, S. 142; Hervorhebung im Original) Die zweite ist das Verstehen als ein Sinnprozessieren im Modus potentialis. 45 Das Konzept der Autopoiesis wurde natürlich früher in das Theoriegebäude integriert, es wird aber, wie ich meine, erst in der dritten Phase durchreflektiert.

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278ff.).46 Diese Tatsache ist für die nachstehende Rekonstruktion des Luhmann’schen Verständnisses der Verschränkung von Bewusstsein, Verhalten und Kommunikation von außerordentlicher Wichtigkeit. Sie ist evident und doch sind die Implikationen nur schwer einzusehen – denn diese Vorstellung widerspricht der Handlungsbrille, nach der der Prozess der „Realisierung“ des intendierten Sinnes zum Beispiel in Form des aktuellen Schreibens einer Notiz selbst prinzipiell informativ sei.47 Luhmann behauptet, dass im Kommunikationsprozess selbst diese Aspekte keine Spuren hinterlassen. In seiner radikalisierten Form muss Luhmann nämlich beide in den vorangegangenen Kapiteln gezeigten Positionen im Sinne dieses Grundgedankens modifizieren. Denn, so schreibt Luhmann in „Gesellschaft der Gesellschaft“, noch vor allen konkret kommunizierten Beiträgen (Semantik) und deren manifesten Verkettung (Struktur und Systembildung) „[…] besteht die Gesellschaft aus dem Zusammenhang derjenigen Operationen, die insofern keinen Unterschied machen, als sie einen Unterschied machen.“ (Luhmann 1998, S. 91)

An die Stelle der Parsons’schen integrativen Sozialtheorie, die Psychisches, Physiologisches und Soziales gleichsam vor dem geistigen Auge des Handelnden zusammenzieht, tritt die Annahme sich „gegenein-

46 Dieser Sachverhalt liegt in generalisierter Weise dem Diktum zugrunde, in den Texten anderer Autoren würde Luhmann weder deren Blut noch deren Gedanken oder sonst etwas von ihnen finden, wenn er sie lese (Luhmann 2006, S. 260f.). 47 Als Elemente ritueller oder anwesenheitsbezogener Kommunikation können sie natürlich informativ sein. Sie können als Zeugnisse und als Erzeugnisse Informationswert besitzen. Sie haben Informationswert aber nur im Rahmen von Wahrnehmung und dann von dort her kommend für Kommunikation. Dies wirft meines Erachtens die spannende Frage auf, ob nach Luhmanns Kommunikationstheorie zum Beispiel das durch Pausen, Essen, Lesen, Schlafen etc. unterbrochene Verfassen eines Textes als Kommunikation gefasst werden müsste. Luhmann lehnt ja die Vorstellung der „inneren Rede“ ab. Aber im Falle der Textproduktion partizipiert ja ein gealtertes, das heißt im strengen Sinne anderes Bewusstsein, am Text, sobald es das Schreiben wieder aufnimmt, Abschnitte noch einmal liest, möglicherweise modifiziert (ablehnt) oder so lässt wie sie waren.

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ander“ differenzierender autopoietischer Systeme als Grundlage der Konzipierung jenes integrativen Mechanismus. Dieser Schritt erscheint auf den ersten Blick kontraintuitiv. Luhmann kehrt vermeintlich zurück zu einem Konzept der Gesellschaft als dem Universum der Rede: als bestehend aus einem System sinntragender und -generierender Kommunikationen, die in dem Maße selbstbezüglich funktionieren, als sie zu Erwartungsstrukturen für weitere Kommunikation kondensieren und auf deren Basis tatsächlich auch operativ weiter geführt werden.48 Damit wird das soziale Sinngeschehen vermeintlich teleologisch und subjektivisch aufgeladen (wie auch einige Formulierungen nahe legen, in denen die Rede davon ist, soziale Systeme würden Mechanismen einrichten, um bestimmte Funktionen zu erfüllen). Diese Rückwendung zur Naturteleologie muss Luhmann natürlich vermeiden. Kommunikation ist vielmehr zu verstehen als „eine stets faktisch stattfindende, empirisch beobachtbare Operation“ und nicht als willentliche Rede (Luhmann 1992, S. 14). Die Operation Kommunikation weist vielmehr Ähnlichkeiten auf mit dem Konzept der Arbeit als Grundlage und Letztelement „sozial organisierte(r) Produktion“ (vgl. Honneth 1980, S. 188ff.). Die Grundoperation des Gesellschaftlichen, die Kommunikation bleibt ihrer Struktur nach immer dieselbe.49 Deshalb spricht Luhmann von Autopoiesis als eines Mechanismus der Reproduktion dieser Grundoperation. Informativ wird dieses Konzept erst in Kombination mit dem Begriff der strukturellen Kopplung, der auf das Moment der Differenz zwischen Bewusstsein und Kommunikation zugeschnitten ist. Alles, was kommunikativ passiert, passiert immer auch als operative und strukturelle Kopplung zu Bewusstsein,

48 Evidenz für diese Annahme liefert Luhmann selbst – und dies am Übergang zwischen der oben beschriebenen zweiten und dritten Phase seiner Befassung mit der Handlung Ende der 1980er Jahre. Hier experimentiert Luhmann mit dem Ausdruck der „akratischen Handlung“, befasst sich mit der artifiziellen Trennung von Handlungs- und Wissenssoziologie. „Möglicherweise kehren wir damit über Aristoteles (Nik. Eth. VII, 1-11) zu Sokrates (Erklärung durch Unwissenheit) zurück“, meint Luhmann (Luhmann 2004b, S. 100). In den Reden und Aufsätzen dieser Schaffensperiode finden sich zahlreiche weitere Hinweise. 49 Daher bezeichnet Srubar Luhmanns Ansatz als „systemischen Materialismus“ (Srubar 2006, S. 8).

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und Erwartungen, Sinnstrukturen und Wissen kondensieren an dieser Stelle. Nicht Teleologie, sondern Evolution bestimmt das Geschehen. Autopoiesis greift die oben angeführte Einsicht auf, doppelte Kontingenz sei ausschließlich kommunikationsintern, korrekt: gesellschaftsintern konstituiert. Als gesellschaftlich hervorgebrachte Form ermöglicht doppelte Kontingenz die Bildung von Interaktionssystemen, die in der Lage sind, höherstufige Ordnungsebenen sozialer Wirklichkeit (Staaten, Wirtschaftssysteme, Organisationen, Familien etc.) und das einzelne Individuum gleichsam thematisch und sequentiell zu koppeln. Gesellschaft „ist“ demgegenüber der Zusammenhang gesellschaftlich erzeugter und erzeugbarer Kommunikationen.50 Die Variation, Selektion und Restabilisierung der basalen Prämissen dessen, was Kommunikation ist, hat Luhmann in seinem Konzept der Differenzierung von Information, Mitteilung und Verstehen festgestellt. Luhmann meint, dass Kommunikation nur so genügend Distinktheit gewinnen kann und zwar mit Blick auf die Selbstbezüglichkeit der Individuen. Denn nur diese Unterscheidungskette konstituiert Irreversibilität – in anderen Fällen könnte man bestreiten, kommuniziert zu haben: „Wo diese Unterscheidung nicht gemacht wird, liegt nur ein wechselseitiges Wahrnehmen vor, nicht aber Kommunikation im Sinne unseres Begriffs;“ (Luhmann 1992, S. 38)

Gesellschaftliche Kommunikation schiebt sich also metaphorisch gesprochen über die psychischen Systeme und koppelt deren Wahrnehmung an das Kommunikationsgeschehen und orientiert es dabei systematisch „weg“ von der Verhaltensebene der direkten und wechselseitigen Wahrnehmung des oder der Anderen. Lebenswelttheoretisch betrachtet wird damit Kommunikation als selbstreferentielles Geschehen im Alltag erfahren und reproduziert sich somit über die Symbolisierung dieser Differenz – auf der Grundlage einer spezifischen Attitüde der Bewusstseine: eben der Unterscheidung von Kommunikation und Wahrnehmung (Luhmann 2004a, S. 69). Arbeitszusammenhänge,

50 Mit den bekannten und beabsichtigten Konsequenzen: Soziales wird aus Sozialem erklärt, indem eine Grenze zwischen Sozialem und NichtSozialem gezogen und der Mensch und dessen nicht-soziale Umwelt jenseits dieser Grenze verortet wird (vgl. Kneer 1996, S. 320f.).

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Tätigkeitsverkettungen im Sinne zum Beispiel des Häuserbaus oder des Fußballspiels, des modernen Tanzes etc. sind einerseits zunächst Beobachtungsformen und -resultate und was tatsächlich getan wird daher nicht Kommunikation, wenn auch Voraussetzung und Folge derselben. Der Geschlechtsakt ist andererseits zwar eine Form der Sozialität, aber keine (oder nicht notwendig eine) Kommunikation.51 Die wechselseitige Begegnung zweier Menschen führt nicht schon an und für sich zu doppelter Kontingenz. Wie immer naturgeschichtlich bedingt: Nur wenn Sprache zur Verfügung steht, und das meint gesprochene und verständliche Sprache, besteht die Chance, dass zusätzlich zur Begegnung auch Kommunikation geschieht, die, wenn sie geschieht, faktisch als eigenständige erfahren wird. Umgekehrt wird das nur geschehen, wenn die beteiligten Individuen hinreichend sozialisiert sind (oder zumindest eines), das heißt im Wesentlichen: schon einmal an Kommunikation teilgenommen haben. Gesellschaft ist demnach jene Voraussetzung, die es ermöglicht, die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation in die Form der doppelten Kontingenz zu bringen, also den Startpunkt für die Bildung beliebiger Sozialsysteme (unter modernen, also unter gesellschaftlichen Bedingungen) bereit zu stellen. Das Symbol der Gesellschaft schlechthin ist demzufolge die Sprache.52 Luhmann geht davon aus, dass „[…] die Selbstreferenz sozialer Systeme eine immanente Dualität zur Voraussetzung hat, damit ein Zirkel entstehen kann, dessen Unterbrechung dann Strukturen entstehen läßt. […] Für soziale Systeme ist es evident, daß sie eine selbstkonstituierte Zweiheit brauchen, um strukturdeterminierte Systeme sein zu können; und daß dies nicht eine von außen (qua Mensch) importierte, substantiell vorgegebene Zweiheit sein kann.“ (Luhmann 1998, S. 333; Hervorhebung im Original)

51 Die Trennungslinie, die Luhmann zieht, deckt sich meines Erachtens mit derjenigen, die nach Plessner zwischen den gemeinsam geteilten tierischen und menschlichen auf der einen und den alleine menschlichen Sozialitätsformen auf der anderen Seiten verläuft (vgl. etwa Plessner 2003a, S. 316ff. und S. 404ff.) 52 Und in diesem Sinne fungieren alle möglichen Erzeugnisse grundsätzlich als Symbole und verweisen auf Gesellschaft.

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Von „mutualistischer Konstitution“ ist nun keine Spur mehr zu finden, sondern von einer selbstkonstituierten Zweiheit. Folge ist, dass Luhmann erst recht von lebenden, psychologischen und greifbaren Individuen in der Umwelt der ebenso realen Eigendynamik der Kommunikation ausgeht und auszugehen hat (und dies aufgrund des Horizontes der Gesellschaft und der Existenz von semantisch und pragmatisch geformter Sprache auch kann). Doppelte Kontingenz sowie Handeln und Erleben beziehen sich auf Kommunikation, und nur nebenbei ordnen sie (qua Sprache als medialem Substrat und in Form gebracht als Sinnselektionen mit Evidenzcharakter) Bewusstsein und in einer für Kommunikation nicht einholbaren Weise die Koordination realer Individuen in der realen Welt: jedoch nicht durch die soziale Organisation des Bewusstseins, sondern durch die sprachliche Strukturierung der Bewusstseinsautopoiesis, also strukturell, nicht intentional. Die Bildung von Kommunikation wird durch die spezifisch menschliche ‚Mit-Daseins-Weiseǥ als Gattungswesen ebenso wie Bewusstsein – und quasi gleichursprünglich – ermöglicht und muss auf dieser Grundlage erklärt werden. Die entscheidende Einsicht, Kommunikation nicht als Sender-Empfänger-Relation von Subjekten zu fassen, sondern als Realität sui generis, ist denn auch bereits in der Heidegger’schen Daseinsanalyse der Sprache und der Rede zu finden: „Mitteilung ist nie so etwas wie ein Transport von Erlebnissen, zum Beispiel Meinungen und Wünschen aus dem Inneren des einen Subjekts in das Innere des anderen. Mitdasein ist wesenhaft schon offenbar in der Mitbefindlichkeit und im Mitverstehen. Das Mitsein wird in der Rede „ausdrücklich“ geteilt, das heißt es ist schon, nur ungeteilt als nicht ergriffenes und zugeeignetes.“ (Heidegger 2006, S. 162; Hervorhebung im Original)

Eine Analyse der Selbsterzeugung (empirischer) sozialer Systeme muss also zwei Fragen klären: wie soziale Sinnverarbeitung funktioniert und was sie mit psychischer Sinnverarbeitung verbindet. Die erste Frage richtet sich auf Strukturdetermination und Asymmetrisierung qua Medien und Formen, die zweite auf die Funktionsweise der Kopplungsmedien. Denn dies sind nun in Luhmanns Konzeption die beiden Momente des Zusammenspiels von Gesellschaft und Bewusstsein: „Offenbar realisiert sich das Gesellschaftssystem mit Hilfe der Differenz von autopoietischen Funktionssystemen und strukturellen Kopplungen und grenzt

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sich dadurch von seiner Umwelt ab, in bezug auf die ganz andere strukturelle Kopplungen (nämlich die mit Bewußtseinssystemen) realisiert werden.“ (Luhmann 1995, S. 494)

Es ist dabei zentral, zu sehen, dass Kommunikation die Welt nicht verändert oder „verletzt“. Sie wird zu einem komplett eigenständigen, abgeschlossenen Sinnprozess mit eigenständigem Horizont. Die Erkenntnisvorgabe der Systemtheorie mit Blick auf Sinnsysteme ist ja: Radikalisierung der Komplexität des (wie immer) beobachteten Objekts als einem „Subjekt“, das heißt als einem selbstreferentiellen System (Luhmann 1983, S. 43; Luhmann 1987).53 Wie schon bei Schütz, so gilt auch bei Luhmann, dass Peter und Paul nicht so funktionieren, wie sich zum Beispiel die Ökonomie ökonomische Akteure vorstellt. Genau hier verläuft die Trennungslinie zwischen Psychischem und Sozialem, auch wenn sie mit denselben Mitteln prozessieren und so qua ontologischem Glauben an das Gegenüber kooperieren. Es handelt sich grundsätzlich um zu trennende Sinnbezirke. Selbst wenn Handlung als (sinnvermittelte) Interpenetration gefasst wird, ist klar, dass damit ausschließlich die Kontinuisierung von sozialen (und psychischen) Systemen gemeint ist. In der Welt an sich kommt die Handlung nicht vor und die Handlung ist ein durch und durch gesellschaftliches Phänomen – ob als Struktur koprorativer Akteure (Coleman), als „große Handlung“ der Geschäftsreisenden bzw. des Bürgertums (Gall), als roter Faden einer Erzählung (Strauss, Ricoeur) oder als soziologisches Erklärungsmodell in Form einer „Badewanne“, deren Erklärung ja auch nicht auf die modelltheoretisch invariant gesetzten (!) Spezifika des Individuums, sondern auf Brückenhypothesen gestützt ist (Esser).54

53 Ob in der Terminologie des Systems oder nicht: Spätestens seit Schützens Einlassungen zur soziologischen Theorie als einer Konstruktion zweiter Ordnung, die auf den selbsttätigen Konstruktionen der „Lebenswelt“ aufsetzt, dürfte dieser Gedanke, zumindest im Bereich von auf Sinn rekurrierenden Theorien, eine Selbstverständlichkeit sein (so auch: Srubar 2008a, S. 41ff.). 54 Was die Einheit einer Handlung für den Einzelnen ausmacht, weiß nur der Einzelne selbst, und der weiß es nur mit Blick nach vorne, nicht mit Blick auf die „Kausalität“ seiner Handlung, zeigt Schütz (Schütz 2004, S. 195ff.).

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Das Tätigsein selbst hat wahrnehmungsbezogene (psychische) Relevanz und bezieht sich damit auf das direkte Verhältnis von Bewusstseinen zueinander. Was in diesem Verhältnis „real“ geschieht, determiniert die Kommunikation nicht. Es „trägt“ aber die Kommunikation insofern, als die Selbstreferenz sozialer Systeme nicht über Wahrnehmung disponieren kann. Nur psychische Systeme können Kommunikation in der Gestalt von Sprechern und Gesprochenem wahrnehmen (Luhmann 1997, S. 27f.). Denn nur durch Wahrnehmung bzw. durch beobachtend gesteuerte Wahrnehmung können psychische Systeme an Kommunikation teilnehmen und kann umgekehrt Kommunikation als „reales Geschehen“ Relevanz für Bewusstseine erheischen. Die Trennung zwischen Tun und Handeln (Kapitel drei) müsste vorläufig ausgedrückt zwischen Kommunikation und Nicht-Kommunikation in der Kommunikation diskriminieren und erst von dort auf die Organisation des Bewusstseinslebens übergreifen (also den Charakter eines Skripts annehmen) – und in dieser Differenz an die Erlebnisverarbeitungsweise menschlicher Lebensform angeschlossen sein. Anders formuliert, ihr Substrat ist in dem Verhältnis operativer und struktureller Kopplung angelegt: Die internen Beschreibungen der externen Bedingungen haben und brauchen kein externes Korrelat, weil die Operationen der verschiedenen Sinn- und „Lebens“-Systeme nicht über externe, „echte“ Korrelate, sondern bereits im faktischen Geschehen, das heißt operativ gekoppelt sind und darüber die „Passfähigkeit“ durch die jeweiligen „Produktionsweisen“ der beteiligten Systeme gesichert ist (oder nicht stattfindet). An die Stelle eines externen Korrelats tritt folgerichtig die Symbolisierung der Kopplung in einem Medium, das für beide Seiten zugänglich sein muss und das strukturelle Kopplung ermöglichen muss. Die jeweilige konkrete Ausgestaltung von Gesellschaftssystemen als Verhältnis von (kommunikativ festgelegter, differenzierter) Struktur und Semantik (den Inhalten der Kommunikation) wird auch bei Luhmann nur mit Bezug auf deren kontinuierliche „Begleitung“ durch Bewusstsein und im Rahmen einer Welt materialer „Substrate“ (Energiekontinuum etc.) erfassbar.55 Gerade die Betonung der Temporalität

55 Noch recht lapidar formuliert in Luhmann 1987: „Für soziale Systeme sind Menschen und Dinge wichtig, die Umwelt der Kognitionen und Motive und die Umwelt der Ressourcen.“ (Luhmann 1987, S. 344) Nur: Menschen und Dinge sind gesellschaftsintern erzeugte Bezeichnungen im Medium

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der Kommunikation weist jedem kommunikativen Akt eine konkrete Zeitstelle zu (Ereignishaftigkeit von Kommunikation, die mit dem Auftauchen auch wieder verschwindet), und diese muss operativ an die Autopoiesis psychischer Systeme gekoppelt sein. Nun müssen das Zustandekommen von Kommunikation und sein Fortlaufen, wenn nicht zuerst auf der „Sinn-Seite“, sondern nun strukturell im Zusammenhang mit Individuum bzw. psychischen System und „Materie“ als Kommunikation tragende Ebenen der Nicht-Kommunikation verortet werden – und dies umso mehr, als die Eigenwirklichkeit der Gesellschaft gerade keine Anhaltspunkte dafür liefern kann, wie dies operativ möglich ist (bzw. nur: über den Umweg des Wissenschaftssystems und der Theorie und praktisch über Kultur und Semantik; siehe Kapitel fünf). Dies wird an einer älteren, in dieser Hinsicht terminologisch klareren Reihung, nämlich der von Verhalten, Denken und Kommunikation deutlich (vgl. Luhmann 2005y, S. 38). Verhalten ist dabei nicht: Verhalten eines psychischen Systems, sondern wahrnehmungsseitig errechnete Materialität der Körperlichkeit und „Vitalität“ des empirischen Individuums.56 Das materiale Verhalten ist demzufolge nicht „Teil“ von Bewusstsein, sondern diesem grundsätzlich äußerlich. Die Koppelung wird also durch Sprache und Lautererzeugung, vermittelt durch Wahrnehmung, vorgenommen, und das heißt, sie ist eingebettet in ein Austauschverhältnis von „Energie“ und Information. Mit den begrifflichen Entwicklungen der Autpoiesis sowie der strukturellen Kopplung wird damit die Reihe des Verständnisses sozialer Ordnung zunächst als eines Handeln und Erleben integrierenden Sinnhorizontes, sodann als einer qua doppelter Kontingenz konstituierten Sozialsystemordnung von Handlungen und Personen abgeschlossen und mit einem selektiven, schmalen Kommunikationsverständnis verbunden.57 Dieses steht nun an der Spitze einer Kontrollhierarchie von Leistungsbezügen zwischen Verhalten, Aufmerksamkeits- und Verhaltensteuerung sowie Orientierungs- und Konditionierungsweisen der kommunikativen Prägung der Sprache, das heißt durch Gesellschaft. Dem ganzen Verfahren liegt gewissermaßen eine Vorstellung von Mikrokausalität zugrun-

der Sprache auf der Basis von Kommunikation. Damit man diese verkürzte Aussage Luhmanns verstehen kann, muss man schon Parsons dazu denken. 56 Siehe dazu in derselben Weise: Schütz (Schütz 2004, S. 148ff.) 57 Eine sehr knappe, aber zugleich instruktive Beschreibung dieses Sachverhalts liefert für den Bereich der Kunst: Gärtner (2005).

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de. Die Gleichzeitigkeit psychischer und sozialer Operationen ist „in Wirklichkeit“ eine minimale Sukzession, jedoch im Rahmen von Eigenzeitlichkeiten der beteiligten Systeme auf der Grundlage derselben Verhaltensereignisse und Sinnesdaten, die als Substrate fungieren, aber völlig unterschiedlich prozessiert werden. Dass Luhmann auf den Ausdruck der Kausalität verzichtet, hat einen sachlichen und einen systematischen Grund: Sachlich betrachtet könnte jeder Teilnehmer an Kommunikation selbige „verweigern“. Interaktionszwang kann umgangen werden und wird teils umgangen. Systematisch ist damit gemeint, was Hume unter Kausalität versteht (Hume 2007, S. 103): Eine beobachtbare immer wieder auftretende Aufeinanderfolge von Ereignissen, die wir als eine kausale erfassen. Beide Aspekte legen es nahe, einen alternativen Begriff zu suchen, den Luhmann im Begriff der strukturellen Kopplung findet.

4.4 D IE K OPPLUNG VON K OMMUNIKATION , B EWUSSTSEIN UND V ERHALTEN Wie wir gesehen haben, zwingen Theorieentwicklungen Luhmann in ein ausgesprochen selektives Verständnis sozialer Systeme. Darunter will er nur (noch) explizite Kommunikation, das heißt selbstexplikative Sprachpragmatik, verstanden wissen. Dies hat einschneidende Konsequenzen für die weitere Argumentation: Luhmanns Erklärungsziel verschiebt sich damit zunächst auf die Frage, auf welche Weise soziale Systeme sich selbst Zug um Zug fortsetzen und wie sie dabei durch generative Grundlagen gleichsam abgestützt werden, ohne jedoch aus diesen zu bestehen. In dieser Optik wird nicht untersucht, wie soziale Ordnung möglich ist (und welche Rolle Kommunikation und soziale Systeme dabei einnehmen), sondern ausschließlich, wie die operative Reproduktion sozialer Systeme möglich ist (gleichsam in einem naturalistischen Sinne). Die erste Frage wird erst über Formgebung und -bewahrung qua kommunikativer Semiosis wieder eingeführt (gemäß der Annahme einer Energie-Information-Umwandlung oder des Verhältnisses von Real- und Idealfaktoren). Die Vorstellung der Kopplung von Kommunikation, Bewusstsein und Verhalten ist demnach die Antwort auf die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Autopoiesis sozialer Systeme und deren semiotisierende, und selektierende Wirkweise wird zur Grundlage der

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sinnförmigen „Integration“ des Gesamtzusammenhanges als Aufbau historischer Gesellschaftsformation als einem übergreifenden Horizont aktueller und möglicher Weiterführung von Kommunikation mit Folgewirkungen auf deren ökologische Umwelten. Gesellschaft „besteht“ demzufolge aus allen faktischen und möglichen Formen der Bildung selbstexplikativer Kommunikation, das heißt der Bildung sozialer Systeme. Soziale Systeme bestehen ausschließlich aus Kommunikation – und die Autopoiesis der Kommunikation ist ohne Sprache unmöglich. Sprachloser sozialer Verkehr ist in den meisten Fällen nicht (sozial) sinnkonstituierend, im eigentlichen Sinne also auch keine Kommunikation und so nicht Form und Reproduktion von Gesellschaft, wenn auch durch diese ermöglicht. Die wichtige (und weit reichende) Ausnahme bilden ornamentale, im weitesten Sinne der Kunst zuordbare Formen der Aufmerksamkeitssteuerung, die im Sinne der Evolution von Kommunikation schon früh (wenn nicht früher) entstanden sind (Luhmann 1998, S. 208f.). Der Unterschied letzterer zu ersteren besteht in dem Grade der Kontingenzsetzung des Mitteilungscharakters von Zeichen. Ritualisierte, auf Sprache weitgehend verzichtende Kommunikation blendet das bezeichnende Element der Zeichen ab und konzentriert sich auf das Bezeichnete – und unterbindet so Negation (Luhmann 2002, S. 189ff.). Sie hat mit anderen Worten keinen individualisierenden Charakter. Damit wird ein riesiges Feld im weitesten Sinne sozialer Verkehrsformen der gesellschaftlichen Sozialordnung aus dem „akuten“ Operationsbereich sozialer Systeme herausgerechnet. Die Wichtigkeit dieses Felds besteht in seiner Funktion als (Proto-)Medium der kommunikativen Systembildung, ist also gesellschaftlich mitbestimmt, nicht aber aktuell verfügbar. Hier haben wir also den zentralen Akt der Verschiebung in Luhmanns Theoriearchitektur vor uns. Denn schon die Möglichkeit der Bildung von Sprache liegt darin begründet, dass operativ geschlossene psychische Systeme untereinander nur „okkasionell“ gekoppelt sind, nur lose Beziehungen eingehen und deshalb auch nicht in der Kommunikation aufgehen: „Die operativ notwendige Trennung [der Einzelbewusstseine; M.K.] bei möglicher Kongruenz, vor allem des Wahrnehmens, bietet die Möglichkeit, Spra-

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che als Medium zu konstituieren und in diesem Medium dann selbstgenerierte 58

Formen, nämlich Sätze, zu bilden.“ (Luhmann 1992, S. 54)

Die Unmöglichkeit der Identität und die Gemeinsamkeit in der Operationsweise des Bewusstseins bilden somit – und oft gezeigt – die erste Bedingung der Bildung sozialer Systeme. In dieser Hinsicht ist Luhmann geradezu gezwungen, sich von der Interaktionstheorie Meads zu distanzieren. Denn die Meadschen Identitätsannahmen, Zeichen und Symbole würden dieselben Haltungen hervorrufen und in diesem Sinne qua Hereinnahme der Reaktionsweise des Anderen in das Selbst Kommunikation konstituieren, sind damit nicht verträglich. Die vorsprachlichen Formen sozialer Orientierung (wechselseitige Wahrnehmung und Wahrgenommenwerden) gelten so nicht als der Kommunikation „zugehörig“. Soziale Kommunikation schließt sich „gegenüber dem Lebensvollzug“ ab und zwar gerade dadurch, dass Interaktionssysteme gebildet und die Aufmerksamkeit der Beteiligten auf diese gelenkt werden (Luhmann 1998, S. 207). Nur die Explizitheit (Sprachpragmatik) der Kommunikation ermöglicht also, auf irgendein Sozialsystem angewendet, die empirische „Feststellung“ einer Sinngrenze der sozialen Selbstorganisation gegenüber den beteiligten psychischen Operationen, an der sich soziale Systeme selbstbeobachtend stabilisieren können. Die ermöglichende Struktur sozialer Systeme ist nun, verfolgt man die Argumentation weiter, Gesellschaft selbst, der Nukleus des Sozialen nicht die Interaktion, sondern Tradierung kommunikativer Sinnformen in Kommunikationsmedien, das heißt die Tradierung der kommunikativen Ordnung der Sprache (und in diesem Sinne: Autopoiesis plus Struktur und Semantik). Sprache bildet das basale Kopplungsmedium zwischen Kommunikation und Bewusstsein, Sie unterscheidet sich demzufolge in ihrer Bedeutung für Sozialität fundamental von solchen Medien, die „nur“ auf Kommunikation bezogen sind (etwa: symbolisch generalisierte Kodes). Sie alleine vermag Kopplung zwischen Gesellschaft und Individuum zu bewerkstelligen, nicht zuletzt, weil durch sie nicht nur Va-

58 Zu klären wäre hier, was man sich unter Kongruenz vorzustellen hat – und wer diese feststellt. In der Schütz’schen Tradition meint Kongruenz (der Perspektiven) ja gerade eine notwendige Idealisierung, die aus der unmittelbaren Wir-Beziehung hervorgeht und durch Symbol- bzw. Sprachgebrauch generalisiert wird. Siehe dazu: Kapitel fünf.

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riationsbreiten eingeschränkt, sondern auch und zuerst ausgebaut werden. Dies kann nur auf der Basis der unter wechselseitiger Wahrnehmung „stehenden“ Bewusstseine (und damit notwendig auch: „ihrer“ Körper) geschehen. Das bedeutet, dass der „flow“ des Sprach-/Hör-, Schreibe-/Leseverhaltens und des Seh-/Gesehenwerdenverhaltens als Formensubstrat des Sprachmediums zugleich das gesamte „praktische“ Geschehen der Kommunikation grundiert und die empirische Kopplung zu denjenigen Episoden des Bewusstseins bestimmt, die auf Kommunikation hin orientiert sind. In diesem Sinne ist Luhmanns Gleichzeitigkeitsannahme von Bewusstseins- und Kommunikationsprozessen – vermittelt über wahrgenommene Verhaltensakkordierungen59 – zu verstehen. „Es liegt auf der Hand, daß Kommunikation in einer routinemäßig sich reproduzierenden Weise nur stattfinden kann, wenn Bewußtsein kooperiert; und zwar nicht als eine notwendige Ursache vorher zu wirken beginnt, sondern gleichzeitig kooperiert.“ (Luhmann 2005aa, S. 158; Hervorhebung im Original)

Damit wird hier die These vertreten, dass spezifische Verhaltensformen und deren technischen „Verlängerungen“ jenes wahrnehmungsvermittelte „materiale“ Substrat die strukturellen Kopplung zwischen Bewusstsein und Kommunikation ermöglichen, indem sie operativ stattfinden. Das Verhalten erhält somit eine quasi „eigenständige Qualität“, die über die wechselseitigen Wahrnehmungsprozesse selektiert und referentialisiert werden muss. Diese Selektions- und Referenzbildungsleistung bildet wiederum das Fundament der Autopoiesis der Kommunikation und zugleich der operativen Kopplung von Kommunikation und Bewusstsein qua Sprachzeichensetzung (und -deutung), ohne mit der Kommunikation zusammenzufallen. Das konstitutionstheoretische Argument „für“ die Handlung geht also nicht verloren – sondern es wird, so meine These, im Rahmen der Konzepte der Autopoiesis und der operativen und strukturellen Kopplung reformuliert und dabei auf mehrere Pole verteilt. Verhalten wird erzeugt, wahrgenommen und Anlass für Kommunikation. Daraus ergibt sich eine spezifische Funktionsweise des „Zusammenwirkens“ von Bewusstsein und Kommunikation bei der Genese von Sinn (und der sinnimmanen-

59 Verhaltensakkordierung wird damit nicht mehr funktional, sondern symbolisch der Kommunikation zugewiesen.

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ten Differenzierung von Psychischem und sozialen Sinnes) im Rahmen ihrer jeweiligen, kommunikativ „total“ und bewusstseinsseitig selektiv gekoppelten Autopoiesen sowie der Rolle der Kopplungsmedien und -substrate, die im Folgenden erläutert wird. Der Relevanz entsprechend beginne ich mit der Funktion der Sprache als Kopplungsmedium. 4.4.1 Die Sprache Die Kopplung von Bewusstsein und Kommunikation als den Operationsweisen von Mensch und Gesellschaft bedarf eines gemeinsamen Mediums und das ist in erster Linie die Sprache. Auf basaler Ebene funktioniert Sprache, wenn sie wahrgenommen und gesprochen wird. Dass sie gesprochen wird, sichert ihre Gleichzeitigkeit bezüglich subjektiver und objektiver Sinnoperationen. Dies ist meines Erachtens die grundsätzliche Idee der operativen Kopplung mit ihrem Substrat des Verhaltens und der Lautproduktion. Die Leistung der Sprache geht darüber jedoch weit hinaus: Mit ihrer Hilfe gelingt es, die originäre Signalfunktion von Lautäußerungen in ein Medium zu überführen, das sozusagen des gesamten Verhaltensrahmen von Signaläußerungen (Situation, Teilnehmer, Intentionen etc.) in sich aufnimmt, gestaltbar macht und zur eigenständigen Realität formiert, die, im Unterschied zur sprachlosen „Wirklichkeit“, auch in einer negativen Variante real zu existieren vermag. Dies und die daraus resultierende soziale und psychische Disponierbarkeit des Sprachresultats für den systemischen Strukturaufbau scheint mir die Idee der strukturellen Kopplung zu sein, die im wesentlichen Leistung der Bildung und Semiosis empirischer sozialer Systeme ist (während operative Kopplungen stärker auf Verhalten und Bewusstsein verweisen). Luhmanns Sprachverständnis setzt nicht an der Typik im Sinne der „Formatierung“ des (individuellen) Denkens durch die Sprache sowie der damit verbundenen „Verständigungsfunktion“, sondern, sicher auch im Kontext der Auseinandersetzung mit Habermas, bei der in jeder sprachlichen Äußerung ermöglichten Negationsmöglichkeit an. Luhmann weist jegliche Systemik und jede Annahme über eine eigenständige Funktionsweise der Sprache (insbesondere natürlich: ihres

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Telos auf Verständigung) zurück60 und setzt – zunächst – auf ihre Signalfunktion im Rahmen des Wahrnehmungsapparates des Bewusstseins (der Kopplung an Augen und Ohren). Aus dieser aufdringlichen und unabweisbaren Signalqualität, nimmt Luhmann an, entwickelt sich die Sprache im Kontext prä-kommunikativer Sozialitätsformen, indem der Akt der Setzung in das Signal mit einbezogen wird. In dieser Qualität öffnet Sprache auch den Zugang zur sprachlichen Transformation des Denkens im Sinne einer „Theoriefähigkeit“ des Bewusstseins (Luhmann 2004, S. 163). Kern des Luhmann’schen Gedankens ist es also, dass Sprache die Annahmewahrscheinlichkeit von Kommunikation ins Unwahrscheinliche dadurch steigert, dass sie in ihrer Künstlichkeit aus dem Wahrnehmungskontinuum heraus sticht. Explizite Kommunikation wird erst so als eigenständige Realitätsform sichtbar. Wahrnehmung selbst ist im Moment des Geschehens immer „wahr“ und bietet insofern keine Negationsmöglichkeiten. Das heißt, Luhmann wendet sein originär darstellungstechnisches Argument der Unwahrscheinlichkeit, das wir weiter oben in der Form doppelter Kontingenz gefunden hatten, in ein evolutionäres Argument. Die Entstehung spezifisch menschlicher Kommunikation (oder anders: von Gesellschaft) setzt eine veränderte Form der Zeichenverwendung voraus, setzt mit der Sprache ein. Nach Luhmann macht die Sprache die Übertragung von „Selektionsofferten“ nicht etwa erst möglich, sondern grundlegend unwahrscheinlich(er) – sie erhöht also die „Unwahrscheinlichkeit“ der Geltung sozialer Ordnung und damit der Existenz sozialer Ordnung schlechthin (Luhmann 1987b, S. 468). Die individuelle (und sozial orientierte) Verhaltensintegration wird so disponibel. Luhmann interessiert sich hier also nicht so sehr für die Typik, die allem Sinn eigen ist, sondern für die Artifizialität eines Angebotes, das sich automatisch selbst als artifizielles und daher negierbares anbieten muss. Intentionalität wird damit quasi im Medium Sprache verankert (oder, was dasselbe besagt: als Folge der Sprachanwendung ausgewiesen) – und damit Selbstexplikationsnotwendigkeiten und Kontingenzen, die nur durch die und in der Kommunikation stattfinden können. Noch stärker formuliert ist es der Sprachgebrauch, der, wenn existent, die Momente der natürlichen Künstlichkeit sowie

60 „Es gibt keine sprachliche Operation, die nicht Kommunikation oder nicht sprachliches Denken wäre.“ (Luhmann 2006, S. 279)

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der exzentrischen Positionalität zum Ausdruck bringt (und reflexiv gewendet symbolisiert). Das Zeichen trägt in Luhmanns Verständnis über die Struktur von Bezeichnendem und Bezeichnetem die Unterscheidung von Mitteilung und Information in sich und kann schon deshalb nur als Produkt sozialer Evolution betrachtet werden. Dass diese Evolution nur vonstatten gehen kann, wenn Bewusstsein in der Lage ist, diese Differenz zu verarbeiten, liegt auf der Hand und ebenso, dass das Bewusstsein nur in sprachlichen Umwelt dazu in der Lage ist. Die Semiosis der sprachlichen Kommunikation transformiert Annahmeunwahrscheinlichkeiten qua Negationsmöglichkeit, macht letztere dabei sichtbar und reproduzierbar und gewinnt darüber Form. Damit jene Unwahrscheinlichkeit in Wahrscheinlichkeit (oder sogar: Zwang) transformiert wird, bedarf es der sozialen Organisation. Genauer, es bedarf der Strukturierung möglicher Sinngehalte – eine Distanz zur Faktizität. Denn die Seite der Gesetztheit ist zwar Teil des Zeichens, aber nur im Sinne einer Referenz, nicht im Sinne der „Ablagerung“ einer faktischen Intention (Luhmann 2006, S. 262).61 Rekursion und dann systemische Schließung im Sprachmedium sind jene Vorgänge, die das originäre Fehlen bemerken und ausgleichen: durch die Bildung von Semantiken und Strukturen in der sprachlichen Kommunikation. Hierfür muss angenommen werden, dass die korporealen Koordinationsprobleme, die dem Sprachgebrauch zugrunde liegen, durch die Kommunikation im eigentlichen Sinne erst geschaffen werden, das heißt gleichsam in der Sprachanwendung produziert und dann psychisch genutzt werden können. Diese Übersetzung ins Individuelle muss und kann im Kern eine Leistung von Individuen sein (die alleine wahrnehmen und Sprachzeichen produzieren können). Hier setzt die Bifurkation der Sprachbedeutung an, die subjektiv und objektiv divergieren muss. Was immer Individuen zum Ausdruck bringen wollen, wird nicht das sein, was kommunikativ prozessiert wird, in Analogie zu Schützens Unterscheidung von Handeln und Handlung. Das Handeln hat jedoch in diesem Verständnis „nur“ die Funktion der identischen Referenz – Kontaktgewissheit – selbst jedoch keine sinndeterminierende „Kraft“, es sei denn in destruktiver Hinsicht. Denn Irritierbarkeit (oder Iterativität) findet im Medium des Sinnes statt,

61 Wenn ich den Ansatz der Ethnomethodologie richtig verstehe, dann arbeitet er genau diesen Sachverhalt heraus.

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also innerhalb von Erwartungsstrukturen und also im Zuge der Kommunikation. Die Identität wird dagegen über den faktischen Kopplungsvollzug (Sprechen/Hören) erreicht und kann auch nur ex post factum festgestellt werden. Der „Drift“ der Sprachbedeutungsproduktion ist damit Sache der Kommunikation, nicht der beteiligten Individuen. In jeder Zeichenstruktur sind daher nicht spezifische Intentionen, sondern ist die Medialität des Bewusstseins mit angezeigt, nämlich als Verweisung zwischen dem Bezeichnenden und dem Bezeichneten, unterstellt also eine Trias, die keine empirisch-konkrete, sondern eine typische sein muss (etwa die basale Subjekt-Verb-Objekt-Struktur der Sprache). Die Referenz ist keine einer Sache, sondern eine zur-Sachehin – wie schon bei einem Signal oder einer Geste. Nur richtet die Kommunikation (die Zeichenhaftigkeit) das Augenmerk nicht auf die Sache, sondern auf das Zur-Sache-Hin und setzt so Konditionierung an. Das unterscheidet Sprache von Signalen und darin liegt die Anomalie der Sprache, daraus ergibt sich ihr Negationspotenzial (ihre JaNein-Kodierung) bei faktischer Sequentialisierung (operativ) mit Chancen der Synchronisation (strukturell) und der Tradierung der sich entwickelnden Typiken und Semantiken. Die Sprache erlaubt also, ihr eine unendliche Mannigfaltigkeit struktureller Kopplungen einzuschreiben, durch die Verfestigung von Semantiken und Strukturen sozialer Systeme und innerhalb derselben (auf Gesellschaftsebene) qua Leerstellen und Selbstbeschränkungen (also Typiken), etwa in der Form des Rechtsinstituts „subjektiver Rechte“ (Luhmann 1995, S. 486ff.). Damit hat Luhmann mithilfe des Konzepts der strukturellen Kopplung die beiden Momente der Irritation (Gleichzeitigkeit) und der Interpenetration (Synchronisation) aufgearbeitet, wobei, wie gezeigt, ersteres in der Medialität der Sprache (Aufmerksamkeitsdisposition), letzteres in der Formgebung qua Kommunikation, die zugleich psychisch verstanden und disponiert werden kann, seine Grundlage findet. Der Filter der Sprache ist nach allem nicht in der Eigenständigkeit der Sprache als eines Systems, sondern in der Anschlussfähigkeit sprachlicher Ausdrucksformen auf Substrat-, Medien- und Formebene angesiedelt. Zusammenfassend ergibt sich folgendes Bild der Sprachbedeutung im Rahmen von Kommunikation, Verhalten und Bewusstsein:

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Kommunikation: kommunikativ geprägte Strukturen (Erwartungen, Relevanzen) und Semantiken (Skripts, Schemata, Typiken; vgl. etwa Luhmann 2004, S. 194ff.) Verhalten und Wahrnehmung: individuell-verhaltensgesteuerte Wahrnehmung und Produktion von Sprachzeichen im Rahmen sozialen Verkehrs (Sprache, Signalfunktionen; vgl. etwa Luhmann 2006a, S. 120) Denken: Strukturierung nach der Logik der kommunikativ geformten, durch Kopplung vermittelten Sprachformen (Organisation von Erfahrung im Kontrast zur Wahrnehmung, Ausbildung des Denkens als Wahrnehmungsunterbrechung)

Kopplung findet operativ betrachtet in der zweiten Dimension statt, wenn sie stattfindet. Findet sie statt, dann ermöglicht sie die Verschränkung der ersten und der dritten Ebene im Sinne der Synchronisation von Erwartungen, die anhand der Semantiken und Schemata (Skripts) gebildet wurden (anhand also von Typik und Relevanz, wie zu zeigen sein wird.). Aus der eingangs postulierten Frage nach dem Verhältnis von sozialen Systemen und sozialer Ordnung wird deutlich, dass letztere weiter gespannt und „empirische“ Voraussetzung jeglicher (das heißt: geschichtlicher) sozialer Systembildung darstellt. Denn strukturelle Kopplung bezieht sich, was die Kopplung von Bewusstsein betrifft, auf deren Verhältnis zu Gesellschaft als dem Möglichkeitshorizont strukturierter Kommunikation unter Bewusstseinsbeteiligung. Soziale Systeme können sich nur bilden, wenn Gesellschaft, soziale Ordnung und sozialisierte Individuen gegeben sind. In diesem Kontext ist auch ersichtlich, dass der Zusammenhang ein Umwandlungssystem psychischer endemischer Dynamik und sozialer Kontrollfunktion beinhaltet bzw. weiterhin beinhaltet, wie er in der ersten Phase der Handlungsthematisierung bei Luhmann kennen gelernt hatten. Diesen werden wir weiter unten behandeln (4.4.4). Die Luhmann’sche Sprachtheorie (die er selbst kaum ausgearbeitet hat), produziert jedoch ernstliche Bedenken. Diese Bedenken betreffen nicht zuletzt eine Lücke in der Frage, wie denn psychische Systeme in der Lage sein sollen, Sprachzeichen zu verstehen und in zweiter Linie betreffen sie die Annahme, wie Sprache kommunikativ weitergeführt und geprägt wird, wenn das Hauptgeschehen letztlich in einer Verschachtelung von Aussagen besteht, also operativ Leistung von Indivi-

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duen zu sein scheint. Damit entsteht nämlich die Frage, wie dann die Sprachverwendung als Evolution auf Seiten der Kommunikation zu verstehen ist. Srubar hat zu Recht eine Präzisierung der Sprachtheorie in Luhmanns Ansatz gefordert. Denn bei Lichte betrachtet ist nun scheinbar für die Eigenständigkeit des Sozialen in der Sprachzeichenverwendung kein Platz mehr vorgesehen (vgl. Srubar 2005). Wir müssen uns nun dieser Problematik zuwenden. Zunächst betrachten wir die individuelle Situation (4.4.2), um uns dann der kommunikativen Eigendynamik zu widmen. Letztere liegt, wie gezeigt werden wird, nicht in der Metaphysik eines kommunikativen Materialismus, sondern in der Formselektion, -variation und -stabilisierung (4.4.3). 4.4.2 Verhalten, Wahrnehmung und Bewusstsein Sehr einfach ausgedrückt rekurriert die oben vorgetragene Kritik auf den Umstand, dass Kommunikation nur über das Gesagte oder Geschriebene wahrgenommen werden kann. Das ist zugleich der eigentliche Kern der Luhmann’schen Aussage, Kommunikation sei nicht direkt, sondern nur über ihre Positivität (und doch zugleich: über kommunikativ gebildete Formen ihrer Beschreibung) erfassbar. Ihre Eigendynamik ist daher nur analytisch (oder besser: phänomenologisch) zu erreichen, wenngleich die Grundlage der Argumentation morphologisch einleuchtet: Geäußertes besteht nicht aus Gedanken, das „ich“ der Sprache ist nicht mit dem Sprecher zu verwechseln, Sprachzeichen sind keine individuelle Erfindungen usw. Bevor wir uns dem systemtheoretischen Versuch nähern, diesen empirischen Sachverhalt theoretisch aufzuarbeiten, ist es nötig, die Positivität, den subjektiv-individuellen Teil des Arguments zu verstehen, also den Bereich, der evidentermaßen durch das Verhalten von Individuen ermöglicht (wenn auch nach Luhmann nicht sinnbestimmt) wird. Luhmann betont, ein Verhalten im Sinne „körperbedingte[r] und dadurch sequentialisierte[r] Vorgänge“ (Luhmann 2005j, S. 78) begleite Kommunikation, egal ob nun Handeln oder Erleben als Selektionsform zugeschrieben werde. Begrifflich leuchtet diese Zuordnung unmittelbar ein, sie folgt dem durchaus üblichen Sprachgebrauch, das Verhalten als etwas Externes ohne vorgängige Externalisierung zu verstehen, das also keinen intentionalen Vorgängen unterworfen, sondern direkt in Kausalitäten eingebettet ist. Aber ganz so einfach ist es natürlich nicht. Denn zugleich gilt das Verhalten als „spontane Aktivität“,

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also als direkt apperzipierter Ausdruck des (eigenen oder fremden) Lebens. Verhalten ist kein „Ding“, sondern Ereignis mit besonderer Qualität und hat insofern eine gewisse Zwitterstellung zwischen Materialität und Bewusstsein. Verhalten ist nur mithilfe von Bewusstsein wahrnehmbar. Verhalten stellt für Luhmann zwar eine ereignishafte Relation dar, die nicht „Teil“ psychischer Systeme oder des Organismus ist (Luhmann 1998, S. 333f.).62 Aber das Eigenverhalten ist dem Bewusstsein gewissermaßen als „fremdes Eigenes“ präsent und dies in einem wesentlich aktuellen Sinne – also vorprädikativ (Luhmann 2004a, S. 51, S. 62, S. 69). Die Wahrnehmung von Verhalten als Verhalten – auch ohne Rekurs auf Intentionalität – ist also bereits ein differenzierender Vorgang mit Blick auf die Wahrnehmung eigenen und fremden Verhaltens. Verhalten bedingt Selbstbeweglichkeit (und sei es als Folge von Reizen). Es weist gewisse Affinitäten zur Konzeption der Einschränkung der „universalen Projektion“ des Leibes als eines Körpers mit innerlichem Geschehen auf, wie sie von Luckmann in kritischer Auseinandersetzung mit Husserl entwickelt wurde (s. Luckmann 1980, S. 56ff.). In Luckmanns Terminologie handelt es sich um eine „automatische apperzeptive Sinnübertragung“, die allerdings durch „kommunikative Vorgänge in ein objektives soziales Klassifikationssystem“ transformiert wird (Luckmann 1980, S. 76). Andernfalls entstünde das Problem, allen körperlichen (im Raum ausgedehnten) Objekten eine sub-

62 „[…] die uns geläufigere Vorstellung, Bewußtsein könne körperliches Verhalten […] bewirken, bleibt […] mysteriös. Die Annahme, daß dies geschieht, ist wohl nichts anderes als eine Kausalattribution durch einen Beobachter; und wenn man sie klären will, muß man folglich beim Beobachter ansetzen.“ (Luhmann 2005y, S. 38) Dabei handelt es sich um eine Überlegung, die man bereits der Hume’schen Abhandlung über den menschlichen Verstand entnehmen kann. Hume untersucht das Zustandekommen des Eindrucks, es gebe einen „Einfluß des Wollens auf die Glieder unseres Leibes“ (Hume 2007, S. 89). Er kommt zu dem Schluss, dass dieser Eindruck allein aus der Erfahrung gewonnen sei und fährt fort: „Die Bewegung des Körpers folgt dem Befehl unseres Willens. Dessen sind wir uns jederzeit bewußt. Aber die Mittel, durch die dies bewirkt wird, die Energie, vermöge deren der Wille eine so außerordentliche Wirksamkeit entfaltet, sind uns so wenig unmittelbar bewußt, daß sie sich vielmehr für immer unserem eifrigsten Forschen entziehen.“ (Ebd., S. 89f.)

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jektiv-intentionale „Innenseite“ zuschreiben zu müssen (also Selbstreferentialität). Luhmanns Vorstellung ist gleichsam bescheidener. Die innerer Befindlichkeit und die äußerliche Wahrnehmbarkeit der eigenen körperlichen Verhaltensweisen erzeugen eine Bewusstheit der Begrenztheit und also eine Innen-Außen-Grenze, die sichtbar ist und auch qua Verhalten Anderer wahrgenommen werden kann – und dann immer zu der Wahrnehmung des Anderen als Anderen führen muss (Luhmann 1997, S. 25f.). Nur das Bewusstsein ist in der Lage „wahrzunehmen“, also auch: Verhalten wahrzunehmen und durch das Verhalten kommt die Qualität der Transformation von Wahrgenommenem in Wahrnehmbares hinzu – im Sinne der Kopplung von Verhalten und Wahrnehmung (Luhmann 2006a, S. 120). Verhalten bildet somit einerseits eine zentrale Grundlage der Manipulation der (eigenen) Wahrnehmung. Die Wahrnehmung ist zwar als passive Synthesis auf der Grundlage nervensystemischer Informationen zu verstehen. Es ist deshalb aber auch ein „aktives“, durch Bewegung und Veränderung individuell zu steuerndes Wahrnehmen. Im Kern sind nämlich Wahrnehmungen, wie sie sind: Die Sonne geht unter – auch wenn man weiß, dass es nicht so ist. Wissen kann die Wahrnehmung und damit auch die Notwendigkeit ihrer Manipulation, etwa durch Körperbewegung, nicht ersetzen. Die Negationsmöglichkeit der eigenen Wahrnehmung hat also kein Umweltkorrelat (was ich sehe existiert nicht) und ebenso die für jegliches Tun notwendige Vorstellung bzw. imaginative Anschauung (was noch nicht ist kann werden). Luhmanns Ausgangspunkt der Frage der Teilnahme an Kommunikation ist also – zumindest in der Spätversion der Theorie – nicht das Fremdverstehen eines Alter Ego (die dyadische Struktur der doppelten Kontingenz ersetzt dieses Problem, wie wir gesehen haben und unterbaut es mit Wahrnehmungsverschränkung),63

63 Wir sahen bereits oben, dass diese Struktur ein Erfordernis der Kommunikation darstellt bzw. eine „Erfindung“ der Kommunikation, die diese laufend erneuert. Das zeigt sich im Grund schon in älteren Aufsätzen, wenn etwa davon die Rede ist, zwei Möglichkeiten der „Wahrnehmungsversorgung“ stünden dem Bewusstsein gegenüber anderen Bewusstseinen offen: Beobachtung und Teilnahme an Kommunikation. (Luhmann 2005y, S. 58f.). Die Differenzierung beider Beobachtungsformen setzt entsprechende Schematisierungen (oder Schematismen) ja bereits voraus – etwa die Un-

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sondern das monadologische Problem des Welt- und des Selbsthalts bzw. der Bedarf eines Weltverhältnisses des sinnhaft funktionierenden individuellen Bewusstseins. Andererseits bildet Verhalten das Substrat sozialer Beziehungen und zwar dann, wenn Bewusstseine in der Lage sind, in einer spezifischen Weise Verhalten zu beobachten, nämlich als Ausdrucksbewegungen, die eine nicht sichtbare Innenseite appräsentieren und zugleich nicht sich selbst zum Gegenstand haben – sondern das Augenmerk auf die Resultate des Verhaltens (etwa Lautzeichen) lenken (in dieser Aufmerksamkeitsverschiebung vom Sagen zum Gesagten findet sich unten die positive Bestimmung der Eigenständigkeit der Kommunikation). Dass dies möglich ist, verweist zwar fundamental auf die Funktionsweise der Wahrnehmung, aber ist zugleich nicht nur aus der individuellen Intentionalität (und sei es: in Form des pragmatischen Motivs) erklärbar, sondern nur aus der Teilnahme an Kommunikation. Das Geäußerte ist nach allem die „materiale“ Grundlage der Kommunikation selbst. Dies können wir als die operative Seite der Kopplung an Kommunikation qua Sprache aus der individuellen Perspektive bezeichnen. Die wechselbezüglichen körperlichen und Verhaltensaspekte bilden insofern jenes Feld, aus dem sich – situativ – Kommunikation ausdifferenzieren kann. Dieses Feld ist im Raum situiert und damit verfestigt im Sinnmedium der Wahrnehmung (Luhmann 2005bb, S. 188). Dies verweist auf die strukturelle Seite der Kopplung: Sprache tritt nach Luhmann in ihrer wahrgenommenen Form in den „Gesichtskreis“ des Bewusstseins: Sie wird gehört (bzw. bei Schrift: gesehen). Sie muss, der Logik der Wahrnehmung folgend, als Außenwelt mitberechnet werden. Luhmann entwirft das Gehörte daher gerade nicht zuerst von der Zeichenstruktur der Sprache, sondern von der Distinktheit und Zeitlichkeit der Sprachlaute her: „Entscheidend dafür ist nicht der oft behauptete Zeichencharakter dieser Errungenschaften [Sprache, Schrift, Buchdruck; M.K.], sondern die Ausdifferenzierung besonderer Wahrnehmungsgegenstände, die auffallen oder faszinieren, weil sie keinerlei Ähnlichkeit mit sonst Wahrnehmbarem haben und ständig in Bewegung sind […]. Sprache und Schrift faszinieren und präokkupieren das

terscheidung zwischen Subjekt und Objekt und die Klärung der Frage, mit wem (oder was) man kommunizieren kann.

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Bewußtsein und stellen dadurch sicher, daß es mitzieht, obwohl die Eigendynamik des Bewußtseins dies keineswegs notwendig macht und stets Ablenkungen bereithält.“ (Luhmann 2005y, S. 42)

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Sprache wird also zunächst über „gestochen scharf geformte[n] Worte“ (ebd.) erfasst. Zunächst und vor allem „leistet“ somit das Bewusstsein die Erfassung eines innerhalb der sonstigen Außenweltwahrnehmung besonders qualifizierten Bereichs von Erscheinungen mit der Qualität künstlicher Bewegtheit. Aus der Sicht des Bewusstseins erscheint demnach Kommunikation gegenständlich, als ausdifferenzierter, mit besonderer Aufmerksamkeit bedachter Wahrnehmungsausschnitt, der sich durch seine Zerfallsgeschwindigkeit und Beweglichkeit im Wahrnehmungsfeld des Bewusstseins besonders auszeichnet, der also unwahrscheinlich und auffällig ist, wie Gehlen sagen würde (Gehlen 1956, S. 152). Auch hier gilt Luhmanns Annahme einer strukturellen Beeinflussung der Sinnverarbeitung qua Kopplung, in diesem Falle der Transformation der Wahrnehmungskapazität psychischer Systeme. Wenn ein Wort als ein solches wahrgenommen wird, dann verweist es nicht auf eine Sache oder ein Ding, sondern auf die Vorstellung von einer Sache. Wie oben angedeutet entscheidet sich Luhmann für ein phäno-

64 Hervorhebenswert ist die scheinbare „Passivität“ der Wahrnehmung, die sich ihrer eigenen Konstruktionslogik äußerer Sinneseindrücke nicht entziehen kann. Dagegen würden andere Theoretiker, gerade mit Blick auf Schriftzeichen, die „Leseaktivität“ hervorheben, die „Metamorphose des Textes durch das wandernde Auge“ (De Certeau 1988, S. 26). De Certeau geht es um das Hervorheben der Unmöglichkeit des Eigenen für den Leser (der das Objekt nur erwerben kann), der dann aber im „Anderen“ seine konsumatorische, für sich bleibende, Produktion ansetzt, wie in zweiter Reihe. Im Ergebnis erscheint also eine Theoriefigur mit deutlichen Parallelen zu der Luhmanns: die Entstehung von Welt. Auch in den „Strukturen der Lebenswelt“ wird als Spezifikum der Sprache deren zeitliche Erlebensform (Objektivität und Vergänglichkeit) hervorgehoben (Schütz/Luckmann 1994a, S. 203). Sie bildet erst die Grundlage als Zeichen erfasst werden zu können. Nach Schütz sind Zeichen grundsätzlich „Gegenstände, Gegebenheiten oder Geschehnisse in der Außenwelt“ (Schütz 2003b, S. 156) mit der besonderen Einschränkung, dass man ihnen ihre Gesetztheit ansieht. Schütz meint, dies entstehe durch den Bezug auf Leiblichkeit.

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menologisches und gegen ein interaktionistisches Bewusstseinskonzept, dass die Genese des Selbst letztlich in der unteilbaren und immer präsenten Befindlichkeit verankert, das aber erst durch Teilnahme an Kommunikation, also über die Objektität des Selbst, mit Struktur angereichert werden muss, um von Bewusstheit zu Bewusstsein hinüber gleiten zu können. Aus dieser Konstellation heraus wird die sinn- weil den unmittelbaren Gesichtskreis transzendierende Qualität des Wortes, die zugleich subjektivierende Wirkung entfaltet, einsichtig. Sprache fungiert im Kontext psychischer Systeme als Fixierung der Anschauung (vorgestellte Wahrnehmung), das heißt Sprache wird im Bewusstsein nicht zur Mitteilung von Information (etwa zwischen Ich und mir), sondern zur „Stimulation von Anschauung“, zur Sortierung von Gedanken etc. benutzt (Luhmann 1997, S. 187). Das Bewusstsein kann sich anhand des Wortes eine Vorstellung von der angesprochenen Sache bilden, ohne die Sache mit dem Wort oder das Wort mit der Vorstellung zu verwechseln. Das Wort ersetzt also die Sache in der Welt der Wahrnehmung nicht, sondern bereichert diese Welt. Was Kommunikation also leisten muss, ist, Ding, Wort und Vorstellung zu synthetisieren. Die Erscheinungsweisen der Kommunikation sind so zwar a) komplett eingefasst in die Welt der Wahrnehmung, b) transzendieren diese aber grundsätzlich und unterscheiden sich c) dabei systematisch von dem, was im Bewusstsein stattfindet.65 Wir müssen Sprache (als Form) also mit Blick auf Bewusstsein in zweifacher Hinsicht qualifizieren: einmal als ein Medium, das in der Lage ist, die Qualität der Wahrnehmungsprozesse zu verändern, einmal als ein Objekt, das als Teil der Außenwelt wahrgenommen wird und durch Verhalten dahin verbracht wird (durch Setzung). Der Kommunikation geht also auch in der Systemtheorie die körperliche Notwendigkeit voraus, das materiale Zeichensubstrat herzustellen und ebenso das Bewusstsein über die Bedeutung dieses Herstellungsprozesses. Die Einsicht in die Subjektität der Bewusstseinsperspektiven

65 Wenden wir unseren Blick zu Parsons, so befinden wir uns bei expressiven Symbolen, die sich vor allem auf „cathectic interests“ beziehen und Anziehung und Abwehrreaktionen hervorrufen, Geschmack, aber auch Schuld (Parsons/Shils 1965, S. 8). Bezugspunkte der Kathexis sind bekanntlich „viscoenergetic needs“ wie Schlafen, Essen, Atmen (ebd., S. 9) und die Differenzierung zwischen beiden drückt die Plastizität der Gegenstandsorientierung im Verhältnis zur Spezifität der Bedürfnisse aus.

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ist jedoch nicht das Resultat der Setzung, sondern der Teilnahme an Kommunikation. Als Ort dieser Einsicht ist natürlich zunächst an Sprechen und an Hören zu denken. Während das originäre Sprechen (der Reiz, wenn man will) in den Bereich der Welt und des Verhaltens fällt und dort nicht von allen in gleicher Weise gesehen und „gefühlt“ werden kann, fällt die Zuordnung in den Bereich der Kommunikation, an der alle beteiligt sind – auf der Grundlage dasselbe gehört zu haben. So ist auch zu verstehen, dass das Sprechen nicht anschlussfähig ist, sondern erst im Gesprochen-haben als Sinnform Anschlussfähigkeiten, Zurechnungen nach diesem oder jenem Sprecher etc. ermöglicht, auch wenn auch dieser Schritt voraussetzt, dass das Hören das Sprechen zum Gesprochenen macht und zwar in der Form der Prämisse (Kongruenz der Wahrnehmung), dasselbe gehört zu haben.66 4.4.3 Formselektion: Kommunikation Kommunikation operiert parallel zu Verhalten, ist aber nicht mit dem Verhalten gleichzusetzen. Im strengen Sinne etabliert sich kommunikative Systembildung als System von aneinander gereihten Aussagen, also als Relation. Soziale Systeme sind die Welt der Worte und der Sätze, der Bilderwelten und Kunstwerke etc. (Luhmann 1987, S. 159; Luhmann 1998, S. 219f.). Die Ingangsetzung der Kommunikation wird, zumindest in meiner Lesart, durch verhaltensgesteuerte Anwendung und Wahrnehmung von Sprache ermöglicht – also durch individuelle Zeichensetzung als einem wahrnehmbaren und deshalb wiederum deutbaren und zu deutenden Geschehen (Luhmann 1998, S. 101). Dafür muss sich jedoch die Wahrnehmung wegbewegen vom körperlichen Verhalten des Kommunizierenden, etwa den Lippenbewegungen

66 Hier wird im übrigen das Primat der Zeitstruktur in Sinnsystemen verankert: Sinn bezieht sich auf „wohlumgrenzte“ Erlebnisse, also entwordene Erlebnisse, also auf eine minimale Zeitverschiebung zwischen Sagen und Hören – Gleichzeitigkeit wird, wie gesagt, über das Gehörthaben konstituiert, nicht über Sprechen und Hören (das „gemeinsame Altern“ bei Schütz bekommt erst so eine eigenständige Basis gegenüber der Du-Orientierung). Wir sehen: Bereits auf der basalen Ebene der Verhaltenssubstrate der Kommunikation ist eine Differenz zwischen operativer Gleichzeitigkeit und struktureller Synchronisation von Ungleichzeitigkeiten eingebaut.

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und also den Akten der Zeichensetzung. Jenseits derselben beginnt gewissermaßen das Reich der Kommunikation. Das Sprechen als Verhalten ist also von seinem Produkt: den Lautfolgen (und darauf aufbauend: der Aussage) zu trennen. Diese Trennung ist vor allem von Mead fruchtbar gemacht worden (vgl. Mead. 1998, S. 109).67 Bewusstsein „spricht“ nicht, sondern rechnet sich das Sprechen als Eigen-Verhalten zu.68 Das Einzelbewusstsein hat demnach keinen privilegierten Zugang zu seinen „eigenen“ Äußerungen als Erzeugnissen. Ergänzt man diese Einsicht um das oben umrissene phänomenologisches Gedankengut, so zeigt sich, dass auch das eigene Verhalten vom Standpunkt des Bewusstseins aus als subjektivtranszendentales Erlebnis verstanden werden muss (Schütz 2004, S. 222f.). Die Objektität des (eigenen) Verhaltens wiederum ist Produkt der Wahrnehmung, Wahrnehmung verstanden als „jenes anschauliche Vermeinen, in dem wir ein Ding oder einen Vorgang als einen selbst gegenwärtigen erfassen.“ (ebd.; Hervorh. im Original). Das Sprechen ist so gesehen selbst nicht entworfen, sondern die Vermittlung der Gedanken (des subjektiven Sinnes) bildet das Entworfene, während das Verhalten (Ausdrucksbewegungen) sowie die Kommunikation (Aussagen) Zeugnis- und Erzeugnischarakter haben. Das Bewusstsein hat deshalb, anders als es in der Theorie Meads denkbar ist, privilegierten und alleinigen unmittelbaren Zugang zum Vorgang des Erzeugthabenwollens, zumindest zur unmittelbar gehabten Befindlichkeit dabei. In dieser Sichtweise besteht eine deutlich(er)e Trennlinie zwischen Gesten und Sprachzeichen, zugleich ist das eine nicht ohne das andere zu haben. Das Sprechen selbst nebst weiterer spontaner Ausdrücke (wesentlich aktueller Erlebnisse) sind nur für den (wahrnehmenden) Interpreten „integrale Bestandteile der Interpretation des Gemütszu-

67 „Die Bedeutung des vokalen Reizes gründet also in der Tatsache, daß der Einzelne das von ihm Gesagte hören kann und in diesem Prozeß dazu neigt, ebenso wie die andere Person zu reagieren.“ (Mead 1998, S. 109) Dieser „Kreisprozess“ konstituiert nach Plessner wiederum die Medialität der Sprache (Plessner 2003a, S. 224). 68 Es kann dies auf der Basis der Differenz von Bewusstsein und Körper, der daraufhin notwendig wahrnehmbaren Differenz zwischen Kontrolle und Kontrollverlust und der daraufhin entstehenden Identifikation mit dem eigenen Leib im Sinne reflexiver Selbstsorge – und das nach Luhmann ohne notwendigen Rekurs auf Personalität.

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standes des Anderen“ (Schütz 2003, S. 196). Einen gradueller Übergang zwischen beiden (von Verhalten zu Sprache) ist somit ausgeschlossen: (Sprech-)Verhalten, Denken und Kommunikation sind eben getrennt, operieren parallel und strukturell gekoppelt. Wortwahlplanung (Sprachverwendung zur Gedankenstrukturierung), Sprechen und die dabei erzeugten Signale sind strikt zu unterscheiden – wie anhand der Wahrnehmung des Scheiterns entweder der Lautproduktion (man hat einen „Frosch im Hals“) oder der Verständigung (bei der man ja merkt, dass man etwas anders gemeint hat, als es in der Kommunikation bewertet wird) erfahrbar wird. Denken, Kommunizieren und Verhalten können demzufolge erst in der Kommunikation symbolisch synthetisiert werden und nicht schon im wahrnehmenden und denkenden Bewusstsein. Das Bewusstsein erfasst das Resultat, nicht den generischen Prozess dieser Synthetisierung. Die Diskriminierung von Lautbedeutungen ist Leistung von Kommunikation. Mit Lauten meint Luhmann eine Bandbreite (noch) wahrnehmbarer, zeitlich vergänglicher akustischer Signale.69 Signale werden aber erst durch eine Einbettung in eine Symbolstruktur zu Zeichen. Jede Kommunikation innerhalb des oben geschilderten Zusammenhanges von Negation und Symbolisierung ist explizit und deshalb der Verkettung, Stabilisierung und Differenzierung zugänglich und geht aus dieser hervor. Dies muss sich jedoch immer kommunikativ – und nur kommunikativ vollziehen. Die Leistung der Kommunikation besteht in der Formvariation, -selektion und -stabilisierung, die dieses ermöglicht. Zwar kann Sprache als Medium nur in Form einer Form (Wort) gesehen oder gehört werden, dann aber immer schon entlang der Unterscheidung von Laut und Sinn oder: Mitteilung und Information. Nur das wiederum kann Sprache zu einem Medium der Wahrnehmung bestimmen – im Sinne einer Abtastoperation zeitlich gebundener Ereignisse, die als Worte wahrgenommen werden können (die Beobachtung einer strukturell notwendig eigenen Vorstellung als fremder Erwartung). Kommunikation erzwingt die Konstruktion eines Beobachters. Ein Beobachter muss in seinem Wahrnehmungsbereich (!) unterscheiden können zwischen Information und Mitteilung und so die

69 Und nichts anderes. Das betont Luhmann in der Auseinandersetzung mit Martens (vgl. Luhmann 2006, S. 260ff.; vgl. auch den Bezugstext Luhmanns: Martens 1991).

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Mitteilung unterscheiden lernen von Verhalten, das die Mitteilung hervorgebracht hat. Natürlich geht auch Luhmann davon aus, dass dies erst erlernt werden muss. Gerade deswegen schließt sich das psychische System als ein Sich-Selbst-Bewusstes erst über die Teilnahme an Kommunikation. Nicht Sprechen erscheint deshalb als Paradefall für Handeln, sondern es ist die Implikation des Gesprochenen, einen Handlungseffekt erzeugt zu haben. Die von Srubar in Anlehnung an Luhmann formulierten Bedingungen der Möglichkeit, Sprache sozusagen als das Allgemeinmedium der Kopplung von Bewusstsein und Kommunikation zu bilden, besteht somit gleichsam im Bedeutungsfluss, der selber nur durch die laufende immanente Readjustierung der Bedeutung von Moment zu Moment stattfindet und der in der Form des Resultats des Gesprochen-Habens in rekursiver Verbindung zu seiner Planung (Vermittlung von Gedanken) von den Individuen erfasst werden kann. Es liegt auf der Hand, dass damit, gesellschaftstheoretisch betrachtet, Medienproduktion und -variation eher in den Mittelpunkt rückt als das Wirken (das Verhalten) des Einzelnen und sein Erfolg (die dem Verhalten zugrunde liegende Absicht): Denn die verschiedenen Trägermedien von Kommunikation (Lautfolgen, Buchstabenfolgen, Buchdruck etc.) bilden gleichsam neue emergente Ordnungen von Medium und Form mit veränderten Reichweiten und Notwendigkeiten ihrer rekursiven und reflexiven Bezugnahme bis hin zu Spezialsprachen und formalen Kalkülen. In diesem Sinne ist mit Luhmann davon auszugehen, dass sowohl die Genese und Stabilisierung der als Sinnträger infrage kommenden Sprachsignale als auch deren Bedeutungen nicht durch den Menschen hervorgebracht werden, sondern sich evolutionär mit ihm entwickeln, um Plessner zu paraphrasieren (Plessner 2003a, S. 224). Deshalb ist es auch unerlässlich, in Betracht zu ziehen, dass soziale Systembildung auf die engere Kopplung in diesem erweiterten Medienspektrum hinwirkt, indem sie soziale Beziehungsformen institutionalisiert, also nicht nur Inhalte, sondern auch die Mitteilungspositionen formt. In Luhmanns Verständnis ist die „kleinste Einheit“ gesellschaftlicher Sozialität weniger das Handeln und auch nicht die frei flottierende Interaktion, sondern immer schon ein rekursiv geschlossenes (semantisch und pragmatisch vorgefasstes) Interaktionssystem, das sich durch Ausdifferenzierung aus anderen gesellschaftlichen Kommunikationskontexten zu bilden vermag, nämlich anhand von Skripts,

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Schemata, Semantiken: der Selektion typischer Sprecherpositionen und der Produktion von Ausdrucksmöglichkeiten. Sie ermöglichen jene Mikrodiversität, die uns alltäglich vertraut ist, auch wenn wir gerade diese gegen die Vorstellung der Systemhaftigkeit von Handlungssituationen in Stellung bringen. Zugleich setzen ja gerade hier die Kritiken an der sprachwissenschaftlichen Verklärung historisch-kultureller Standardsprachen zu idealen Sprachsystemen an: An der situativen sozialen Organisation des Sprechens (vgl. etwa Bourdieu 2005, S. 60ff.). Wenn Wahrnehmung die Form ist, in der Bewusstsein sich an Kommunikation beteiligen kann, so ist also Kommunikation die Form (Wir-Beziehung), in der Sprache dem Bewusstsein oktroyiert wird und dies aufgrund der pragmatischen Sprachstruktur, die aus Zeichen besteht, die jeweils Bezeichnendes und Bezeichnetes umfassen und nur kommunikativ existieren, das heißt in deren Zirkulation. Die Dreiwertigkeit von Zeichen als immanenter Differenz von Bezeichnendem und Bezeichnetem sowie des Beobachters, der beide diskriminiert, also das Zeichen als Zeichen erkennt, bindet es in weitere Zeichenverwendung: in kommunikative Semiosis (Differenzierung von sachlichem, zeitlichem und sozialem Sinn) ein. Der kommunikative Anschluss entscheidet autonom über die vollzogene Referenzwahl, wenn diese expliziert wird. Dabei verschwindet der systemische Zusammenhang der Kommunikation aus dem Wahrnehmungskreis. Aber: geschieht die Fortführung, dann geschieht sie nach den Gesetzen der Kommunikation, also durch Sprachformen, die evidentermaßen sowohl die Bezeichnung der Beteiligten als auch des Themas beinhalten und insofern „pragmatisch“ formatiert ist. Oben wurde auf den Verhaltensunterbau verwiesen, der notwendig soziale Systembildung begleitet und in diesem Sinne nicht anders als Zeichensetzung verstanden werden kann und auf den entsprechend reagiert wird (mit Zeichensetzung). Gerade deshalb: Die Setzung und Deutung der Zeichen sind nicht identisch mit der symbolischen Transformation der Zeichenbedeutung in der Kommunikation. Erst über die Zeichenhaftigkeit des kommunikativ bestätigten Gegenstandes entsteht die Evidenz der Gesetztheit, also zum Beispiel des Symbols der Handlung. Das gilt auch für das Selbst im Sinne der Teilnahme an (oder: Integration in) eine soziale Welt: Der eigene kommunikative Beitrag am sozialen Geschehen erscheint als Fremdreferenz der Kommunika-

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tion und wird dem Beitragenden von dort aufgenötigt – in Unterscheidung zum eigenen, privaten Gedanken. Auf den einfachsten Nenner gebracht: Während Mead unter gesellschaftlicher Handlung einen materialen Kooperationsprozess versteht, der es dem Einzelnen ermöglicht, sein eigenes Verhalten als Handeln zu deuten durch die Hereinnahme der Perspektiven anderer (durch Binnendifferenzierung), versteht Luhmann denselben Sachverhalt als einen, der dem Individuum äußerlich abläuft und den sich die Individuen nur deshalb zunutze machen können, weil er äußerlich abläuft. Insofern argumentiert Luhmann näher an Goffman. Mit ihm geht er von der sozialen Strukturierung der Verhältnisse aus und verteilt diese auf die Kommunikation einerseits und auf die Bewusstseinsleistungen andererseits. Dabei weist uns Luhmann darauf hin, dass gerade die Schemata der Erfassung alltäglicher Interaktionsordnungen maßgeblich Produkt von Kommunikation sind und dass in alltäglichen Interaktionen zu unterscheiden ist zwischen jenen Skripts und Beobachtungsweisen der beteiligten Individuen und der kommunikativen Systemdynamik im Austausch derselben. Das Individuum kann sehen und hören, wie „sein“ Selbst in der Kommunikation be- und verhandelt wird. Der Zeichencharakter der Handlung wird so von Luhmann durchaus eingeräumt, mit der Einschränkung, dass dies für alle möglichen anderen Kopplungsbezeichnungen genauso gilt. 4.4.4 Hierarchie, Energie und Plastizität Das Schwungrad individueller Aufmerksamkeitssteuerung vermutet Luhmann in jeweiligen Gesamtzuständen des Bewusstseins (Habermas/Luhmann 1971, S. 96; Luhmann 1993b, S. 237), also auch der Befindlichkeit.70 Diese steuert den autopoietischen Aufbau des Bewusstseins im Sinne seines (biologischen) Antriebspotenzials im Rahmen einer selbsterrechneten, durch die Evolution des Gehirns ermöglichten Raum-Zeit-Extension, die auf die Funktionsweise des Gehirns zurückzuführen ist und in jene „dumpfe Bewusstheit“ mündet. Primäre Erkenntnisquelle und primäres Erkenntnismittel ist, für das Bewusstsein, der „eigene“ Körper. Anders formuliert: Bewusstsein oder zumindest Bewusstheit „funktioniert“ auch ohne Personalität, das heißt auch ohne Teilnahme an Kommunikation. Gemäß der autopoieti-

70 Andernorts: „Glück“ und „Not“ (Luhmann 1987, S. 299f.).

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schen Vorgabe ist dies zwingend. Die „Vermittlung“ der Grundlagen des Selbst erfolgt zunächst über Bewegung, man kann auch sagen über Verhalten und Körperlichkeit. Der Körper begründet auch bei Luhmann die Annahme der Leibbezogenheit als „Einfallstor“ von Sinn und Umwelt. Dabei handelt es sich in Luhmanns Sichtweise um eine Verschaltung von Kopplungen und kontinuierlichen Reizquellen, die organisch sowie über die Funktionsweise des Gehirns den Bewusstseinsaufbau sowohl provozieren als auch mit Irritationen versorgen. Das Bewusstsein ist, wie erwähnt, diejenige Instanz, die anhand der Beobachtung (Selbst- und Fremdreferenz des Bewusstseins) von Körperzuständen eine Außenwelt und damit auch Sinn dem körperlichen Geschehen hinzufügt. Wie ebenfalls gezeigt zerschneidet Luhmann nun den Außenweltkontakt entlang der körperlichen (Verhalten) und der kommunikationsorientierten Wahrnehmung. Die „Erfassung und Reduktion von Weltkomplexität“ erfolgt für psychische Systeme in erster Linie im Medium der sozialen Systembildung, das heißt der Zirkulation von zu Sinnkomplexen geordneten Sprachzeichen. Auf der Basis von in Bewegung gesetzter, angewandter Sprache bildet sie die Ordnung des Sinnes. Dem liegt Luhmanns Vermutung zugrunde, dass „die Besonderheit des menschlichen Bewusstseins […] in der Wahrnehmung liege, und zwar im Unterschied zum Tier in der stark sprachabhängigen, durch Sprache gleichsam dirigierten und differenzierten Wahrnehmung.“ (Luhmann 2006a, S. 377) Erst über sprachliche Wahrnehmung geformte Kognition erlaubt diskontinuierliche Synchronisation ansonsten als gleichzeitig wahrgenommener körperlicher und sprachlicher Geschehnisse verschiedener Bewusstseine. Erst Diskontinuität erlaubt Bildung eines Selbst unter Selbsten – in historischer Variabilität, das heißt in einem eigenständigen Medium (dem der Sprache). Das Selbst ist demnach Objekt, nicht Gesprächspartner des Bewusstseins. Das Bewusstsein ist also zu verstehen als Träger eines kompakten Gesamtzustandes, als aktualisierender Vorgang der Selbst- und der Fremdreferenz, sein Selbst auf der Seite der Fremdreferentialität aufzufinden. Die Sorge um das Selbst ist also immer eine Sorge um ein Objekt unter anderen Objekten, ist Maske (Person), ist strukturelle Kopplung qua Wahrnehmungsmedium Sprache in der Form der Personalität. Bewusster Sinn ist demnach, obwohl auch über Teilnahme an Kommunikation gebildet, gleichsam weltförmig organisiert. Wir ler-

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nen unterschiedliche Verbindlichkeitsgrade: was ich denke ist subjektiv, was ich sage wird „objektiv“ – im Grunde unabhängig davon, ob es gehört, unterschieden und angenommen oder abgelehnt wird. Und objektiv ist auch die Welt selbst. Das Subjekt erreicht sich nur als Objekt. Es lernt, sich auf sich selbst festzulegen und folglich auch so festgelegt werden zu können und anhand dieser Unterscheidung entsteht Potenzial für Irritierbarkeit in der Form von Erwartung: „Bezogen auf psychische Systeme verstehen wir unter Erwartung eine Orientierungsform, mit der das System die Kontingenz seiner Umwelt in Beziehung auf sich selbst abtastet und als eigene Ungewißheit in den Prozeß autopoietischer Reproduktion übernimmt.“ (Luhmann 1987, S. 362).

Sprachinversion beim Bewusstsein verändert also die konstitutiven Akte der Sinnverwendung des Bewusstseins nicht. Aber die Teilnahme an Kommunikation öffnet dem Bewusstsein Chancen internen Strukturaufbaus (als take-off für ein eigenes Gedächtnis; Habermas/ Luhmann 1971, S. 96). Auf der Basis der Annahme, die Fremdreferenzen würden zur Realität umgerechnet (also als Selbstreferentialität des Wahrgenommenen verstanden), entsteht eine der Parsons’schen Vorgabe verwandte „Kontrollhierarchie“, in der „von unten“ die Physiologie des Gehirns bzw. die Wahrnehmung des Bewusstseins die Stabilität von Kommunikation als Realität „produziert“, während die Kommunikation die „Bewusstseinsinhalte“ als objektivierte Realisate dem Bewusstsein zurückgibt, soweit sich dessen subjektive Intentionen – über den Umweg der Selbstauslegung natürlich – bestätigen (zur Rezeption der Vorgabe Parsons’: Luhmann 2005o, S. 172ff.). Die unterschiedliche Zeitlichkeit der Operationsweisen (operativen Kopplung) von Bewusstsein, Verhalten und Kommunikation wird durch strukturelle Kopplung sinnförmig zusammengezogen auf Gleichzeitigkeit, das heißt auf die Identität relevanter Ereignisse. Luhmann betont also die Trennung bzw. Aufhebung der engen Kopplung zwischen Bewusstsein und „seiner“ Umwelt durch Sprache. Diese wird auch in anderen Theorieangeboten durchaus anerkannt – jedoch als eine Inversion des Verhältnisses von Handeln und Sprechen im Zuge der ontogenetischen Entwicklung des Gattungsmitglieds ergänzt (in der Traditionslinie Piagets: vgl. Dux 2000, S. 286ff., Srubar 2003, S. 95ff.). Wenn ich es recht sehe, beruht Luhmanns Argument just auf der Tatsache, dass sich in der Ontogenese des Subjekts der

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Prozess der sprachlichen Inversion abspielt. Was Luhmann jedoch nicht tut, ist, diesen phylogenetisch umzudeuten. Denn das hieße, die Evolution der Sprache aus der Logik des menschlichen Handlungsfeldes (inklusive der diese voraussetzenden biologischen und gehirnmäßigen Evolution) heraus entstehen zu lassen, während Luhmann, wie gezeigt, dieses Feld als ein sowohl gegenständlich (verhaltensbezogen) als auch kommunikativ durchzogenes konzipiert, das sich entlang dieser Differenz konstituiert. Wir können zum Abschluss der Auseinandersetzung mit Luhmanns Sprachkonzept hervorheben: Luhmann betont, dass die Sprache als Medium selbst einen beinahe unbegrenzten Raum von Möglichkeiten schafft, der erst durch weitere, hinzukommende semiotische, kommunikative Mechanismen reduziert, das heißt situativ geformt werden muss. Dies geschieht in der Autopoiesis der Kommunikation. Kommunikation hat Verhaltensimplikationen, über die die Autopoiesis psychischer Systeme an das Sprachgeschehen „ihrer“ Organe angeschlossen bleibt. Das zweite Moment, das es gilt zu betonen, ist also die Verhaltensbezogenheit der Sprache. Sprechen ist Lautproduktion und in diesem Sinne Verhalten-in-Situationen, das aber von den Bewusstseinsleistungen systematisch ebenso zu unterscheiden ist wie vom Vollzug der Kommunikation als der Anreicherung von Lauten/Signalen zu Zeichen und Symbolen. Damit wird die eigenständige „Realitätsbasis“ der Sprache einsichtig und kompatibel mit der Annahme, nur über Wahrnehmung würde die Welt als solche in Kommunikation einwirken – soweit Verhalten „Teil“ der Welt ist. Dieses Konzept impliziert also ein die Kommunikation begleitendes Geschehen der Verhaltensintegration und -kontrolle, das auf den Wahrnehmungs- und Vorstellungsleistungen des Bewusstseins bzw. der beteiligten Bewusstseine gegründet ist. Der Filter der Sprache besteht in dieser Richtung einerseits im Sprechen (und Hören) und andererseits in der Wahrnehmung der Resultate als der kognitiven Sinnverarbeitung, sozusagen der Referenzialisierung, des Gehörten und Gesprochenen. Dabei bleiben die Prozesse des Bewusstseins selbstdeterminiert. Von diesem vermag sich Kommunikation als eigenständiger Zusammenhang der Sinnverarbeitung abzuheben – indem er sich gesellschaftlich vorgefasster Medien (Sprache) in der eben geschilderten Filterungsfunktion der eigenständigen Symboltransformation bedient. Weil sprachliche Formen anders als hervorgegangen aus und festgehalten in Kommunikation gar nicht vorgestellt werden können,

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ist für Luhmann entscheidend, das Strukturierungsmoment der Sprachpraxis vor die Systematik „natürlicher“ Sprachen zu stellen. Verhaltensintegration (also: auch Bewusstseinszustände) qua Wahrnehmung ist/sind quasi die Substratseite des Mediums und dieser Sachverhalt wird qua Sprache symbolisiert. Durch die Symbolisierung wird neben der notwendigen operativen auch eine strukturelle Kopplung ermöglicht, und zwar in Form der Konditionierung und „Reflexivierung“ inter-psychischer wechselseitiger ‚Aufmerksamkeitssteuerungǥ. Sie hält prinzipiell eine Alternative zur qua zivilisierender Sprachinversion geleisteten Orientierung auf Kommunikation bereit und kanalisiert deren Unterlassen seitens psychischer Systeme als mitlaufende Möglichkeit in der Kommunikation mit (bringt sie also positiv zum Ausdruck). Die enorme Selektivität des Kommunikationsgeschehens beinhaltet dabei alleine kommunikative (symbolische) Sinnverarbeitung, das heißt Formfestlegung, durch die rekursive Verkettung von Beiträgen, in der eine Identifikation und Zurechnung der Bedeutung des Gesagten vorgenommen wird (und eine entsprechende psychische „Attrahierung“ unterstellt werden kann). Deren Voraussetzungen in der Form der Verhaltensintegration sowie spezifischer, „selbst-formbarer“ Gesamtzustände und Attitüden des Bewusstseins müssen medial, das heißt lose gekoppelt vorliegen – und selber dabei einen Verhaltensbezug bereits aufweisen. Das selektive, schmale Kommunikationsverständnis lässt sich deshalb nur auf der Basis dieser Prämisse stabilisieren, nämlich der Prämisse einer spezifischen „Bewusstseinslage der Umwelt des Gesellschaftssystems“ (Luhmann 1992, S. 46; Hervorhebung im Original). Diese Bewusstseinslage ist Bedingung der Möglichkeit und Gegenstand der Kommunikation, nicht aber Teil derselben. Der Grund für die Begründung des sozialen Ursprungs der Symbolisierung dieses Sachverhalts in der Mitteilung oder Kundgabe liegt nicht zuletzt in seiner extremen Raffung: Bekanntlich sind soziale und subjektive Handlung (oder Fremd- und Selbstdeutung) nie identisch, nie zur Deckung zu bringen, sie sind vom Zeitpunkt der Deutung und vom gegebenen Wissen abhängig, und die Deutung orientiert sich an Kriterien, die im Prinzip bis in unendliche Horizonte ausgeweitet werden könnten (Schütz 2004, S. 166, S. 178, S. 258). Die Mitteilung bzw. der Handlungsform ist in diesem Sinne ein Systemerfordernis der Selbstbeschreibung, das die Notwendigkeit des Vor- und Rückgriffes

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der Autopoiesis sozialer Systeme über Bewusstseinswahrnehmung in deren Eigenzeitlichkeit (unter anderem über Vorstellungen und also Imaginationen) thematisch werden lässt. Es ließe sich vor diesem Hintergrund vermuten, dass das Handeln (und der daran anschließende Vorrat an Handlungssemantiken) primär von der Sprechsituation (als der pragmatischen Situation unter sozialen Bedingungen par excellence) abgeleitet ist und nicht umgekehrt Sprechen nur eine Sonderform der Handlung darstellt.

4.5 Z USAMMENFASSUNG Zweifelsohne konstruiert Luhmann das eingangs angesprochene „vorsprachliche“ Handlungsgefüge der sozialen Wirklichkeit als kommunikationsexternes Geschehen, ohne ihm notwendig die Qualität der Sozialität abzusprechen. Luhmanns zentrales Argument der Autopoiesis der Kommunikation lässt sich meines Erachtens mit der Formel der Selbstexplikation zum Ausdruck bringen. Die Selbstexplikation sozialer Systeme geschieht darüber, dass Kommunikation eindeutig als Kommunikation erscheinen muss (Semiosis) und sich daraufhin und nur daraufhin schließen kann. Dieser Schließungsvorgang vollzieht sich über die „Pragmatik“ der Sprache, also den diskontinuierlichen Sprachfluss, der quasi en passant die Teilnehmer an Kommunikation in sich selbst einschließt.71 Deshalb entsteht Kommunikation nur, weil es schon Gesellschaft „gibt“ und auf der Basis, dass es unzählige Bewusstseine gibt, die faktisch zwischen sich und ihren Beiträgen zur Kommunikation ebenso zu unterscheiden vermögen wie zwischen dem, was gemeint war und dem was gesagt wurde. Zugleich konstruiert Luhmann das „vorsprachliche Handlungsgefüge“ nicht als ein Handlungsgeschehen in dem Sinne, dass Menschen einsam handeln und gemeinsam kommunizieren. Wenn Individuen „in der Welt“ (in ihrer Welt) Erledigungen machen, „zur Arbeit“ gehen, gemeinsam oder einsam herumsitzen, dann ist das Bewusstsein jene sinnvermittelnde Instanz, die die Geschehnisse und (intentional hervogebrachten) Widerfahrnisse reflexiv ordnet und in die weiteren Tätigkeiten einfließen lässt. Die Beheimatung des Bewusstseins im oder

71 Zu voller Geltung kommt und erfahrbar wird dieser Zusammenhang bei der Produktion schriftlich fixierter Texte (vgl. Giesecke 2007, S. 116f.).

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beim Körper bindet das Bewusstsein an die Verhaltensebene zurück. Dabei sind Schemata, Skripts usw. praktisch immer im Spiel, die sozial vermittelt sind, das heißt sprachlich symbolisiert (typisiert) vorliegen. Aber es handelt sich nicht um ein der Gesellschaft zugehöriges Handlungsgefüge – es ist gewissermaßen wesentlich dynamischer und facettenreicher als es das Modell eines normativ oder sonst wie geordneten Handlungssystems suggerieren würde. Das soziale Leben der Individuen ist quasi durchzogen von kommunikativen Episoden, aber nicht selbst Kommunikation, wenn auch durch diese in der existierenden Sozialitätsform ermöglicht. Es definiert sich gewissermaßen selbst als außerhalb liegend, sei es im Sinne von Verhalten, sei es im Sinne psychischer Intentionalität. Im systemtheoretischen Verständnis ergibt sich daraus, dass die Wahrnehmung die Form ist, in der die individuelle Teilnahme an Kommunikation funktioniert – und nicht das Handeln. Sie stilisiert die Kommunikation zu einem eigenständigen Geschehen. Wahrnehmung ist jener Beobachtungsbereich, in dem sich Bewusstsein durch Selbstund Fremdbezüge ordnet, einschließlich von Leiblichkeit, der eigenen Beweglichkeit und den dadurch gegebenen „Reizquellen“ für Bewusstsein (vgl. Luhmann 2005bb, S. 183). Wahrnehmung bedeutet letztlich einen permanenten Zwang zur Re-Orientierung, der durch Kopplungen erzeugt und durch Teilnahme an Kommunikation mit zusätzlichen Irritationen und Materialien versorgt wird (und der auch zum reflexiven Tun aufruft). Luhmann rekonstruiert das kommunikationsexterne, jedoch unmittelbar kommunikationsrelevante, weil Kommunikation ermöglichende Geschehen also einerseits als ein Bewusstseinsgeschehen und andererseits, über Wahrnehmung „organisiert“, als Verhaltensintegration. Der „Explikationsschematismus“ der Bildung sozialer Systeme im Rahmen moderner Gesellschaft ist die Formel der doppelten Kontingenz. Mithilfe der Formel der doppelten Kontingenz werden einerseits spezifische Prämissen der Kommunikation für die Teilnahme an Kommunikation als vorausgesetzt behandelt, nämlich Perspektivendifferenz, Verständigungsmöglichkeit und Freiheit der Teilnahme und diese werden andererseits kommunikativ erneuert und mit Sinn und Festlegungen angereichert und damit auch mit mehr Chancen für Irritation ausgestattet, die mit der Verfügung über Sinn auf beiden Seiten der Kopplung steigen. Gekoppelt werden Strukturen über die „Kopplungsbasis“, zumindest der obigen Rekonstruktion zufolge, der Verhal-

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IN DER

SYSTEMTHEORIE

| 193

tensintegration: Sprechen, Schreiben usw. und Zuhören, Lesen usw. Luhmann hat dabei ein umfangreiches Feld latenter Leistungen im Auge, die das explizite Geschehen ermöglichen ohne es in seiner Explizitheit zu determinieren. Im Kontext dieser Konstellation erfährt die Handlung gleichsam eine Konkretionsfunktion der Öffnung von Möglichkeiten qua Kontingenz: Sie dient dem Absuggerieren von Alternativen, nämlich durch die Vorstellung intentionaler Schließung alternativer Verhaltensweisen und Deutungen (verstehbar an der Frage nach den Handlungen, die alle nicht gewählt werden). Dieses Absuggerieren wird durch die Aufwertung eines Tuns zum Handeln erreicht. Sie bestimmt die Form kommunikativer Teilnahme und ist dabei, weil sie mit der Plastizität des Bewusstseins rechnet, enorm gestaltbar (also semantisch variierbar). Sie ist quasi der Filter, der das Handlungspotenzial nicht etwa ermöglicht, sondern eben filtriert, indem ein Potenzial unterstellt wird, dass dann symbolisch prägbar ist. Gerade darin, nämlich im Scharnier des „Pragma“ sehe ich noch unausgelotete Verbindungslinien zu lebenswelttheoretisch und phänomenologisch inspirierten Handlungstheorien – mit diesen Verbindungslinien befasst sich das folgende Kapitel. Luhmann muss, im (vorgeblichen) Kontrast zu diesen Ansätzen davon ausgehen, dass individuelle Bewusstseinsakte oder Wirkhandlungen nicht in die kommunikativen Operationsweisen durchschlagen, da sonst deren selektiver Mechanismus sofort gesprengt würde. Die Kritik Luhmanns richtet sich folglich nicht in erster Linie gegen den Filter „Handlung“ selbst, sondern dagegen, aus dem den Filter präzisierenden Überhang an Zusatzsemantiken gesellschaftstheoretische Grundbegriffe abzuleiten oder in ihnen das Fundament des gesellschaftlichen Vollzugs im Spiegel menschlicher Bedürfnisse oder Perfektionierungsmöglichkeiten zu erblicken. Sie bürden dem „handelnden Menschen“ als einem sich selbst-bewusst reflektierenden Akteur (Taylor, S. 1992, S. 249f.) Verantwortungslasten und dem Sozialsystem Informationszumutungen auf, indem sie von Selbstbeschreibungen der Gesellschaft auf eine wechselseitige Durchdringung beider Sinnbereiche auf der konstitutionstheoretischen Ebene schließen. Die vorangegangene gleichsam „technische“ Beschreibung des Zusammenhanges zwischen Verhalten, Bewusstsein und Kommunikation wirft jedoch ihrerseits die Frag auf, wie die qua Kommunikation zirkulierenden Bedeutungsgehalte an die „Lebendigkeit“ des Bewusstseins angeschlossen werden können. Alles

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andere liefe auf einen unfruchtbaren Ideologieverdacht hinaus. Wie lässt sich, mit anderen Worten, das Verhältnis sozialer Ordnung mit Handlungsbezug zu sozialer Systembildung als dem Ort der Produktion von Handlungsbedeutungen bestimmen?

5.

Das Handeln der Systeme „[…] die Wir-Beziehung selbst transzendiert die Alltagsexistenz beider Partner in dieser Beziehung, obwohl sie der wechselseitigen Einbezogenheit des einen in die biographische Situation des Anderen entspringt. Sie gehört

nicht

dem

geschlossenen

Sinnbereich der Alltagswirklichkeit an und kann nur vermittels symbolischer

Prozesse

erfaßt

werden.“

(Schütz 2003a S, 153f.)

5.1 E INLEITUNG In der Systemtheorie werden „unwahrscheinliche“ Koordinationsleistungen sozialer Kommunikation analysiert: Wie kommt es, dass der „Stärkere“, wenn er sich im Recht fühlt, einen Richterspruch akzeptiert, der seine Forderungen zurückweist? Wie kommt es, dass Individuen verzweifelt um Arbeitsplätze konkurrieren, die Fremdsteuerung, „Triebaufschub“, Schweiß und Mühen mit sich bringen, obwohl zumindest in einem Teil der Welt niemand (mehr) dazu gezwungen wird und obwohl die Supermarktregale prall gefüllt sind? Warum kommen nur wenige auf die Idee, sich einfach zu nehmen, was da ist? Diese Phänomene werden wohl nicht alleine aus der überlegenen Einsicht der Gesellschaftsmitglieder in wirtschaftliche, rechtliche oder wissenschaftliche Zusammenhänge heraus ermöglicht. Der Einzelne hat ja unter modernen Bedingungen, wie Weber, Schütz, Luckmann und viele andere gezeigt haben, weniger bewusste Kontrolle und Kenntnisse über „seine Lebenswelt“, als Mitglieder „älterer“ Gesellschaftsformen,

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und das Wissen um dieses Nicht-Wissen ist Teil ihres Wissens (vgl. Weber 1988, S. 594; Schütz 1972, S. 85ff.; Gehlen 1975; Luckmann 1998, S. 21ff.; Giddens 1996, S. 187ff.; Bauman 2007, S. 145ff. usw.). Die Systemtheorie geht bezüglich dieser Beispiele davon aus, dass systemische Koordination durch „technische“1 Kommunikationsmedien und -kodes ebenso gut und vor allem schneller erreicht wird als durch das Sich-Verlassen auf intentionale, kommunikative Handlungen und Willensbildungsprozesse. Deutlicher formuliert: Angesichts der Komplexität moderner Gesellschaft wird deren Funktionieren nur auf diesem Wege überhaupt nachvollziehbar. In dieser Hinsicht „übergreift“ die Systemtheorie ihrem Anspruch nach die Handlungstheorie – ob die Handlungstheorie das will oder nicht.2 Aus systemtheoretischer Sicht vollzieht sich diese „Technisierung“ der Annahmewahrscheinlichkeit von Optionen qua Vorstrukturierung von Situationen mit der Umstellung gesellschaftlicher Strukturen auf funktionale Differenzierung, also mit der Bildung von nach „technischen“ Kodes operierenden Leistungsstrukturen. Diese Umstellung verändert die Bedeutung der Stellung des Einzelnen im Verhältnis zu Gesellschaft, wie sie in der Gesellschaft kommuniziert wird: Sie nimmt die Form der „Exklusionsindividualität“ an (vgl. Luhmann 1993b, S. 160ff.). Erst jetzt und in Übereinstimmung mit der Handlungstheorie wird „Handlung“ mit Blick auf Gesellschaft (potenziell) für alle Individuen relevant, nämlich als Frage der (auch) selbst- und fremdtätigen Regulierung der Inklusion ihres sozialen Selbst in soziale Leistungsstrukturen (siehe Dux 2004, S. 155ff., Dux 2008, S. 37ff.). Hier besteht also kein Dissens. Der Dissens bündelt sich in der von Luhmann vorgetragenen Testfrage: wie es für Milliarden gleichzeitig erlebender Individuen möglich

1

Unter dem Technischen versteht Luhmann eine „Entlastung“ von der Notwendigkeit der Explikation möglicher enthaltener Sinnbezüge (Luhmann 2003, S. 71). In diesem Sinne dürften Typizität bzw. Typisierung, also Sinnbildung oder deren Resultate, die Möglichkeit der Technisierung immer schon enthalten.

2

Ein entsprechendes „Friedensangebot“ hat Luhmann formuliert: die Einsichten der Handlungstheorie würden nicht verloren gehen, sondern von einer übergeordneten Beobachtungsperspektive aus refomuliert werden (vgl. Luhmann 1998, S. 335; siehe auch Schneider 2003). Sich dieses handlungstheoretischen Moments in der Systemtheorie bewusst, hat erstere schon früh „Entwarnung“ gegeben (so Berger 1987, S. 132).

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sei, „nach Maßgabe einer sozialen Ordnung zu leben“ (Luhmann 1992, S. 22), wenn das bedeutet soll, dass die systemischen Sozialstrukturen nur im „realen“ Handeln ihr Existenzrecht erheischen. Hier verfehlt, meint Luhmann, das Verständnis sozialer Ordnung als Aggregat (bewussten, geplanten, akkordierten) Handelns der Einzelnen gerade jene sich abschottende Dynamik von Kommunikationskreisläufen.3 Allerdings hat der Lösungsvorschlag der Systemtheorie seine Tücken: Das Konzept der doppelten Kontingenz hat wie wir gesehen haben nicht etwa nur heuristischen Wert, es hat – folgt man Luhmanns Analysen – historischen Charakter und ist deshalb eng mit der Handlung als Selbstbeschreibungsmodus moderner Gesellschaft verbunden. Doppelte Kontingenz fungiert als zu erneuernde Prämisse, sollen Funktionssysteme operieren bzw. soziale Systeme sich bilden und reproduzieren können (indem sie doppelte Kontingenz strukturieren). Außerdem setzt das Theoriegebäude Formen der bewusstseinskontrollierten Verhaltensintegration voraus, die als Latenzen strukturelle Kopplung (und deren Medium: die Sprache als Gesprochene sowie Sprechakte) mit dem Gesellschaftssystem ermöglichen, allerdings nur akkzidentiell in Sinnprozesse einwirken können.4 Dabei sind angesichts der Explizitheit sozialer Systeme spezifische Formen sozialen Zusammenlebens mitgemeint, also Formen wechselseitiger Wahrnehmung und Beobachtung von Bewusstseinen unter „leibbedingten“ pragmatischen Zwängen. Diese Postulate bilden eben jene latent vorausgesetzte Bedingung, auf die die Handlung als Filter aufgepfropft werden kann. An der Art ihrer Ausführung wird deutlich, dass Luhmann es keinesfalls zulassen kann, die Handlung als ein faktisch subjektives Geschehen zu konzipieren, das in sozialen Systemen eine sinnstiftende Rolle einzunehmen vermag. Denn dann würde tatsächlich gelten: Menschen handeln Handlungen, und der eingangs angesprochene „Geschwindigkeitsgewinn“ sozialer Systembildung qua selektiv

3

Zur Rekonstruktion der Debatte siehe zum Beispiel; Willke (1978); Stichweh (2004); Kneer (1996); aktuell und konträr: Gresshof (2008), Schneider (2008) und Srubar (2008).

4

Etwa durch akustisches Nicht-Verstehen, etwa durch Bedeutungsverschiebung aufgrund von Mehrdeutigkeit und, dann in massiver Hinsicht: durch „Erfindung“ andersartiger Verbreitungsmedien, also Schrift, Druck, Telefon, Radio, Fernsehen, Internet.

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gekoppelter Parallelisierung psychischer und sozialer Sinnreprodukktion wäre dahin. Die handlungstheoretische Auseinandersetzung mit Luhmann hakt jedoch genau an diesem Punkte ein: Das Ziehen der Sinngrenze zwischen Sozialem und Psychischem (und nicht: zwischen Subjekten), das Konzept der strukturellen Kopplung als „Ersatz“ für bewusstseinsprägende Einwirkung auf Kommunikation (einschließlich der Annahme der autopoietischen Sinnproduktion sozialer Systeme) sowie die „Handlungsillusion“ in der Kommunikation als Verschiebung eben dieses Beitrags in die soziale Sinngenese gelten als konstitutionstheoretische Probleme der Systemtheorie, gerade dann, wenn sie wie ausgeführt selbst Prämissen mitführt, die andernorts mit dem Terminus der „Intersubjektivität“ umschrieben werden (vgl. Srubar 2008, S. 486f.). Die Differenzierung von Kommunikation, Bewusstsein und Leben und ihr Zusammenwirken als Sprechen, Denken und Verhalten müssen also auch im Kontext sozialer Ordnung und lebensweltlicher Orientierung der beteiligten Bewusstseine bestehen können, also im Rahmen der von Luhmann zur Prämisse gemachten lebensweltlichen Orientierung der Individuen in einsamer und „interpsychischer“ Weise. Auch für Luhmann gilt: Menschen sind von sozialer Ordnung abhängig – diese bewährt sich gleichsam in der Konnektivität sozialer und psychischer Sinnverarbeitung. Ihre Bewährung findet also nicht alleine in der Kommunikation statt. Umfasst die Autogenese sozialer Ordnung also doch die Akte des Bewusstseins oder das Handeln der Individuen in ihrer Wirkform? Im Rahmen der Betrachtung dieses Problemkreises gilt es, zu unterscheiden zwischen der Konstitution sozialer Systeme und ihrer Reproduktion auf der einen und dem „Gesamtverhältnis“ menschlichen Lebens und gesellschaftlicher Entwicklung, wie sie in sozialen Ordnungsvorstellungen mitgeführt werden, auf der anderen Seite. Aber Kommunikation ist Filter und Produktionsmaschine des Wandels und der Änderung sozialer Ordnung und dort ist für Luhmann die Handlung angesiedelt – mit der eigentümlichen Konsequenz, dass die Handlung auch in der Systemtheorie nicht substituierbar ist. Das stärkste Argument gegen Luhmanns Theorieversion scheint in diesem Kontext in der Betonung der pragmatischen Genese von Sinnstrukturen zu bestehen. Denn die Betonung des Pragma bezieht Sinn als solchen auf lebensweltliche, leiblich-physische Probleme der Daseinsbewältigung. Diese Bezugnahme erlaubt es, die

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Handlung als Resultat der reflexiven Wendung eben jener existenziellen Situation zu deuten. Diese kann sich nur auf den Einzelnen beziehen, der alleine unter der Bedingung des Daseins stehen kann. Die Verankerung der Handlung im Daseinsbezug bedeutet letztlich, dass soziale Ordnung – und mit und in ihr Kommunikation – verstehbar nur über eben diesen Handlungsbezug wird. Es wird zu klären sein, ob in der Systemtheorie eine Möglichkeit geboten wird, diesen Gedankengang zu erfassen. Lässt sich insbesondere im Rahmen der Systemtheorie die Verankerung der Handlung/der überlegten Teilnahme an Kommunikation in ihrer lebensweltlichen Genese betrachten bzw. noch wichtiger: die Genese der Lebenswelt als alltagskultureller Realitätserzeugung (als Hintergrundprämisse) verfolgen und auf das Leben der Individuen beziehen? Lässt jener Sachverhalt eine „Synthese“ mit anderen Ansätzen zu, oder besteht hier eine unüberbrückbare Diskrepanz zwischen den Ansätzen? Schließen sich die Konzepte der Autogenese und der Autopoiesis aus? Die hinter der Alternative zwischen Autopoiesis und Autogenese stehende Frage ist ja die, ob das, was Akteure tun, „nur“ beiläufig gesellschaftlich geordnet wird oder ob das, was als Handeln gesellschaftlich geordnet ist letztlich das ist, was Akteure tun.

5.2 D IE „ OKTOPODESKE “ G ESELLSCHAFTSTHEORIE 5.2.1 Luhmanns Kritik an der Handlungslogik mit Blick auf Gesellschaftstheorie Das Wissen jedes Einzelnen ist nur zu einem verschwindend geringen Teil originäres, neues, individuelles Wissen – und bestimmbar sind die originär „individuellen“ Anteile wohl nicht. Zugleich ist es einmalig in dem Sinne, dass es biografisch nur in einem einzigen „Fall“ so erworben wird, wie es von diesem einzelnen Individuum erworben wird. Sicher weiß jedes Schulkind – dank Bildungssystemen, Eltern, Umfeldern und der Medien – heute „mehr“ als der Durchschnittsmensch früherer Epochen. Der Eindruck des handlungsmächtigen und handlungsohnmächtigen „homo clausus“ ist zweifelsohne ein modernes Phänomen (vgl. Elias 1988, S. 266ff.). Die Ausdifferenzierung der „Sitten“ und Wahl- und Verhaltensregister ist Zivilisationsfolge – wäre der Mensch biologisch durch seine „Triebe“ oder Bedürfnisse auf Verhal-

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tensprogramme festgelegt, das Verhaltensrepertoire wäre begrenzt. Im Kern stellt sich also eine wichtige Frage bereits hier: Ob überhaupt ein pragmatisches Motiv des individuellen Akteurs entstehen kann, das nicht auf Instinktprogramme reduziert ist und doch Wirklichkeit als auferlegten und darin wesentlichen Handlungsraum konstituiert ohne auf Sozialität zu verweisen. Wir kennen keinen „gesellschaftsfreien“ Zustand. Das einzelindividuelle Erkenntnisvermögen ist, soweit es darauf angewiesen ist, sich durch Erfahrung, Reifung und durch sprachliche Einbindung zu bilden, auf die „Tatsache“ Gesellschaft als ein ihr Äußerliches angewiesen. Sich als menschliches Selbst zu reflektieren, bedarf der Vorstellung des menschlichen Leib-Selbst im Sinne der Einschränkung der universalen Projektion von der Beseeltheit aller Körper (Luckmann 1980, S. 76ff.). Auch Arbeit und Arbeitsteilung lassen sich nicht, wie etwa noch bei Adam Smith, aus einer spezifischen menschlichen Neigung heraus erklären (Smith 2003, S. 16ff.; siehe oben, Kapitel 3). Sie lassen sich schlechterdings auch nicht aus ihrer Notwendigkeit erklären (bzw.: das wäre keine Erklärung). Bedürfnisse und deren Befriedigung, auch: die Notwendigkeit der biologischen Reproduktion, erklären nicht, sondern setzen Gesellschaft voraus (Plessner 2003a, S. 367ff.). Gesellschaft ist also nicht reduzierbar auf ein Verständigungsverhältnis, da Gesellschaft auch dann vorausgesetzt werden muss, wenn eine solche „Einsichtigkeit“ nicht vorliegt. Gesellschaft ist – folgt man Luhmann – naturhaft „immateriell“, aber prozessual real (wie Bewusstsein). Wir bezeichnen demgegenüber ihre Realisate als Kultur bzw. als Artefakte, unterscheiden diese also von der Gesellschaft, etwa in Form von „Wissenskulturen“, deren vornehmste Eigenschaft es ist, „weder gesehen noch thematisiert“ zu werden (Sandkühler 2009, S. 170). Nur wo kommuniziert und gedacht wird, entsteht Sinn. Wir verstehen den Sinn von Artefakten nicht, die nicht mehr im kommunikativen Gebrauch sind (bilden damit aber Sinn: den des Nichtverstehens und können uns daran mithilfe technischer Mittel, etwa der Hermeneutik, kommunikativ abarbeiten). Das Medium beider, der Sinn konstituiert sich in Schemata des Vertrauten und des Unvertrauten, des Jetzt und des Dann, des Stabilen und Varianten und des Hier und des Dort usw. Diese sozialen Schemata beziehen sich jedoch nicht nur oder in erster Linie auf Kommunikation, sondern eben auch auf das Ego agens. Der Bildungsprozess des Bewussteins unter der Bedingung von ins sinnhafte transformierten

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Zwängen (Pragma) sowie der leiblichen Perspektivik (Hiatus zwischen innen und außen, Zugang zu Welt) betrifft scheinbar zuerst die Selbstreferenz des Individuums bzw. eben das Eigene, nicht das „Mitwirken“ an Kommunikation. Wären nun soziale Systeme im Sinne einer intentionalen Passung darauf angewiesen, von überlegenden Menschen intersubjektiv „gehandelt“ zu werden, das heißt wäre der Vollzug von Kommunikation nur durch die explizite Übersetzung dessen, was der andere jeweils meint, geprägt, die meisten Kommunikationen würden unter dieser Last zusammen brechen. Die Erfassung des subjektiven Sinnes ist denn auch, folgen wir Schütz, unmöglich. Bezieht man die von Schütz im Sinne der Verursachung von Handlung eingeführten „echten“ WeilMotive des Handelns mit ein, so ist die Erfassung des Sinnes auch für den Handelnden nur partiell möglich. Denn es müsste in jeder Situation geklärt werden, warum wer was wie gerade jetzt macht, sagt oder denkt. Gesellschaft bekäme in Luhmanns Metapher oktopodeske Züge: „Man müßte an einen riesigen Oktopus denken, der nicht nur aus acht, sondern aus fünf bis sechs Milliarden Organen besteht, die mit riesigen Reizflächen sich in der Welt bewegen, gleichzeitig, aber nur lokal stimuliert und nur durch geringe Interdependenzen kontrolliert. Es wäre nicht ganz abwegig, sich ein solches Ungetüm vorzustellen, weil damit zumindest deutlich würde, daß Reizschutz zu den wichtigsten Vorbedingungen des Aufbaus von Komplexität gehört.“ (Luhmann 2005x, S. 9)

Das heißt aber zugleich: Wenn kommunikativ vorausgesetzte (oder aktualisierte) Erwartungen, die soziale Situation betreffend, erst innerhalb der (jeder) Kommunikation aufgebaut, das heißt expliziert und diskutiert werden müssten, dann würde Kommunikation ebenfalls kollabieren. Luhmanns selektives Verständnis sozialer Systeme setzt also die Betäubung jener „Reizflächen“ voraus – aber eben in der Umwelt des Sozialen, getrennt von der sozialen Autopoiesis, das heißt strukturell mit ihr verkoppelt und in dieser Kopplung in der Kommunikation symbolisiert. Die Autokatalyse sozialer Systeme sowie der Neuigkeitswert bzw. die Genesis neuer Erwartungsmuster (oder Erwartungserwartungsmuster) verweisen daher in erster Linie auf stabile gesellschaftliche, bewusstseinsmäßige und verhaltensintegrierte Umwelten oder wie Luhmann mit Grathoff annimmt: auf Milieus und die Geltung bestehender

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sozialer Ordnung der Regelung der Mikrodiversität vielfältig ablaufender sozialer Interaktionsbeziehungen. Dass dabei Medien, Körper und Bewusstseine involviert sind, versteht sich von selbst, wird aber nicht im Sinne wechselseitiger „Verletzung“ verstanden. Wie noch zeigen ist, verweisen genau diese Annahmen einer sich selbst tragenden stabilen und zugleich plastischen Umgebung der Kommunikation in Richtung der Lebensweltanalysen Schütz’scher Prägung. Luhmann gewinnt daraus den systematischen Stellenwert, den Gesellschaft als ermöglichender „Speicher“ von Sinn für kommunikative Episodenbildung hat.5 Die Idee des „Reizschutzes“ als Regulativ des Handelns und das heißt als soziale Ordnung ist somit nicht die der positiven Orientierung (kognitiven Programmierung), sondern die der Schließung im Prozess ausschließlich kommunikativer Semiosis (Struktur- und Semantikbildung). Demzufolge tragen Menschen nicht etwa Gesellschaft, indem sie „friedfertig, gutwillig und normkonform“ handeln (Luhmann 2008, S. 83). Sie tragen nach Luhmann ihre „Lebendigkeit“ bei, ihre Plastizität also (ebd.), sodass sie in dem eben genannten Sinne in der Kommunikation vorausgesetzt werden können – und diese Voraussetzung wird in der Regel kommunikativ bestätigt, sei es als Abweichung, sei es als Konformität. Diese ihrerseits kommunikativ vollzogene Evaluierung sagt nichts über die „tatsächlichen“ Gedanken aus. Zum Glück nicht, denn nur deshalb ist die Gesellschaft nach Luhmann, „in der Welt“ halt- und in ihrer Struktur steigerbar. In diesem Sinne versteht Luhmann gesellschaftliche Evolution als eine Steigerung des phänomenalen Feldes und der Selektivität dessen, worauf es in der Kommunikation ankommt: „Wenn diese Überlegungen zu einem ursprünglichen Primat des Externen zutreffen, muß alle weitere Evolution als zunehmende Internalisierung begriffen werden, und auch hier kann man an eine Co-Evolution denken von kommunikativen Selbstreferenzen im Gesellschaftssystem und Einsichtszumutungen an psychische Systeme.“ (Luhmann 2002, S. 188)

5

Luhmanns Ansatz den Gesellschaftsbegriff zu entziehen, wie Gresshof vorschlägt, hieße, den gesamten Ansatz unbrauchbar zu machen (vgl. Gresshof 2003, S. 109).

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Man kann dabei an die Verfeinerung von Tischsitten ebenso denken wie an die Bildung von Organisationen, an die Psychologie, an die Pädagogik oder das Recht, kurz an die Zurichtung dessen, was sozial hervorgebracht und sozial vorausgesetzt wird, um weiter in der Kommunikation reüssieren zu können. 5.2.2 Handlungstheoretische Positionen zu Luhmanns Kritik Das von Luhmann bemühte Bild einer oktopodesken Figur der Gesellschaft aus Handlungsbausteinen – anders gesagt: der Vorwurf einer „versteckten“ und unrealistischen gesellschaftstheoretischen Annahme in der Handlungstheorie, die zumindest in der Wissenschaft nicht akzeptabel erscheint – berührt ein klassisches Thema der Handlungstheorie: das der nicht-intendierten Folgen rationalen Handelns. Die Gegenkritik läuft auf die Unterscheidung des intendierten Sinnes und der „realen“ Ergebnisse von Handlungen hinaus. Sie gesteht zunächst einmal zu, dass soziale Strukturaufbaueffekte in der Folge des individuellen Handelns nicht aus den Intentionen Einzelner erklärt werden können. Sie argumentiert etwa, erstens, dass Makroakteure die Zahl relevant Handelnder (also ordnungsgenerierender Akteure) restringieren, die aber selbst Produkt des Handelns sind. Zweitens ist sie der Ansicht, dass die Strukturen, die im Handeln entstehen, den Handelnden nicht (notwendig) klar sind. Sie nimmt dabei, drittens, die folgende Zusatzannahme in Anspruch: „Träger von Sinn sind Akteure. Sie erzeugen ihn, oder sie haben ihn im Bewußtsein und wenden ihn an. Außerhalb von Akteuren gibt es keinen Sinn.“ (Haferkamp 1987, S. 66)

Alle drei Annahmen sind miteinander verknüpft: Nur Bewusstsein ermöglicht sinnhaftes Handeln, aber kooperatives Handeln erzeugt neue Akteure, die als Makroakteure das sinnhafte Handeln der Einzelnen zu steuern vermögen (durch Selektion von Alternativen, durch Konflikt, Konsens usw.). Die Antwort macht offensichtlich nur „Sinn“, wenn Makroakteure tatsächlich nur metaphorisch als Akteure zu verstehen sind. „In Wirklichkeit“ zerfällt der Makroakteur, etwa eine Verwaltung in unzählige menschliche Handlungen, die durch Sinn geleitet werden, den die Akteure zum Beispiel aus den Stellenbeschreibungen ziehen

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(den Erwartungsstrukturen), die ihnen sagen, was zu tun ist. Und die Antwort macht nur dann Sinn, wenn wir über die Aussage hinwegsehen, Menschen hätten den Sinn, sie verstünden ihn nur nicht. Handlungstheoretische Überlegungen konzentrieren sich vor dem Hintergrund dieser Schwierigkeit einerseits auf die Kritik des Differenzierungstheorems als Explanans und andererseits auf konstitutionstheoretische Fundierung sozialer Strukturen nicht in den Intentionen der Einzelnen, sondern in deren Handlungen und Handlungsfolgen: „‚Aus dem Handelnǥ erklären bedeutet deshalb nichts anderes, als den Versuch zu machen, alle ungeplante Systematizität in einer durchschaubaren Weise auf die Handlungen von Akteuren zu beziehen.“ (Joas 1996, S. 338)

Wenn letztlich Handlungen die „Ursache“ sozialer Entwicklung sind, so das Argument, dann lassen sie sich – wenn auch auf Irrwegen entstehend – einsichtig machen und so auch zum Gegenstand weiteren, insbesondere kollektiven Handelns (das heißt bewusster Einsicht und der Kontrolle durch Kommunikation).6 Macht und politische Vermittlung, Politik im weitesten Sinne einer reflexiven Selbsteinwirkung in allen Gesellschaftsbereichen bilden das Kernargument der Modifikation sozialer Strukturen, die mehr oder minder spontan aus Handlungsaggregationen hervorgehen (ebd.).7 So wird ausgeschlossen, dass die Geltungsgründe sozialer Ordnung jenseits der Prozesse ihrer (Re-) Produktion aufgehängt sind. In praktisch jeder Form der Handlungstheorie wird so ein selektiver Mechanismus eingebaut, der den Volun-

6

Zur ausführlicheren Darstellung siehe Kapitel drei. Eine aktuelle Zusammenstellung verschiedener Theoriepositionen in synthetisierender Absicht hat Schulz-Schaeffer (2007, S. 45ff.) vorgelegt.

7

Das gilt interessanterweise auch für rational-choice-Theorien. Insbesondere spieltheoretische Modellierungen gehen ja davon aus, dass durch vermittelte Einsicht bessere kollektive Handlungsergebnisse erzielt werden können bzw. dass sowohl Kosten als auch Nutzen kollektiv beeinflusst werden können (vgl. zum Beispiel Hechter 1987; Esser 1999, S. 144ff.). Dass dem Geschilderten ein kausales Schema unterliegt, in welchem „Gesellschaft“ die Wirkung der Ursache Handlung ist, ist deutlich. Dies würde eine Systemtheorie nicht notwendig ablehnen, mit dem Unterschied, dass die Ursache Verhalten, die Wirkung Emergenz der Kommunikation wäre, die jedoch nicht bestimmt, wie Kommunikation sich selbst reguliert.

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tarismus des Handelns mit Blick auf gesellschaftliche Effekte in eigentümlicher Weise einschränkt: Strukturen als Folge von Handlungen auszuweisen, sagt ja nichts anderes, als dass sie nicht oder zumindest nicht ausschließlich aus Handlungen bestehen. Zunächst gilt es also, festzuhalten, dass es in der handlungstheoretischen Tradition in den meisten wenn nicht allen Ansätzen ebenfalls einen „Reizschutz“, der zwischen soziale Struktur und das intentionale Handeln „geschaltet“ wird, und dieser Reizschutz erscheint stets in kommunikativer Gestalt. Dessen Funktionsweise und Morphologie wird unterschiedlich ausgearbeitet. Neben der im weitesten Sinne idealistischen Tradition einer kommunikativen Einhegung und damit (kollektiv-)willentlichen Beeinflussbarkeit der Folgen des individuellen Handelns wird die Begrenzung der Handlungsmächtigkeit durch Zwang, Symbolisierung und Kanalisierung analysiert. Mit Plessner wird dieser Zwang zum Teil „wesensimmanent“, also als anthropologische Bedingung der Möglichkeit geführt (Plessner 2003, insbesondere S. 188ff., Srubar 1999, S. 32f.). Der wesensnotwendige Mechanismus wird, als Entfaltung dieser Annahme, in den verschiedenen ontogenetischen Entwicklungsstufen des Gattungsmitglieds als Erlernen von Wahrnehmung im strengen Sinne (etwas für wahr halten) verankert: Bewusstseinsaufbau als Folge der Interaktion von Organismus und Umwelt, daraus resultierend eine Handlungslogik, die im Spracherwerb überformt wird und umgekehrt in das Sprechverhalten und damit den Sprachaufbau eingeht (Sprachinversion; Dux 2000, S. 286ff.; Srubar 2003, S. 95ff.). Betrachtet man die Argumentation mit Blick auf Teilnahme an Gesellschaft, kann also von einem mehrstufigen „Reizschutz“ gesprochen werden: • Primäre Begrenzung des Möglichen in der sozial vermittelten Ontogenese (Variation), • sekundäre Machtüberformung und symbolische Deutungskämpfe (Selektion) • und schließlich asemiotischer Zwang und Voluntarismus (Stabilisierung). Infrage steht damit, ob die Geltung sozialer Ordnung an ihre positive Verstehbarkeit seitens der Gesellschaftssubjekte gekoppelt ist, also daran, dass die Sinnstruktur sozialer Ordnung handlungslogisch verfasst ist. Denn die soeben vorgeführte Begründung führt sonst zurück zum Ausgangsproblem der eigenständigen Geltung sozialer Ordnung

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jenseits subjektiver Intentionen und Perspektiven. Beharrt man auf der Elementbestimmung: Handlung, dann meint man diesen letzten Aspekt: dass es die Individuen sind, die Erwartungen internalisieren und „in die Tat“ umsetzen (externalisieren), dass dies auf dem biografisch aufgeschichteten Wissensvorrat geschieht, die Identität des Handelnden involviert und dass dabei eben jene nicht-intendierten Effekte und praktischen Sinnverschiebungen stattfinden, die zu Modifikationen von Strukturen führen. Exemplarisch sind damit verbundene Probleme der Sozialität von Handlungsregulativen (Normen) und der Individualität des Handelns schon im Gedankenaustausch von Parsons und Schütz, die ja beide am Handeln festgehalten haben, aufgetaucht. Einerseits, so Schütz, gestehe Parsons zu, dass man von Normen nur mit Blick auf das Bewusstsein des Handelnden sprechen könne (Schütz/Parsons 1977, S. 30ff.). Das Bewusstsein übernehme die Umsetzung von Normen in die und durch die Handlung. Andererseits unterstelle Parsons damit den einzelnen Akteuren, sie würden sich in ihren Urteilsbildungen an der Wahrheit oder Korrektheit der Urteile orientieren. Dem Handelnden gehe es aber nur darum, „seine privaten Erfolgschancen zu kontrollieren.“ (Schütz/Parsons 1977, S. 45) Um aber zu verstehen, wie Bewusstseine situativ ihre Pläne in Handlungen umsetzen und wie diese Umsetzung sozial vermittelt ist, müsse man die sinnhaften Genesebedingungen subjektiver Motivstrukturen und Relevanzsysteme untersuchen, die eine Vermittlung von beidem überhaupt erst ermöglichen. Parsons habe zwar das Problem erkannt, es aber durch eine objektive Beobachtersprache (die auch den Unterschied zwischen Autonomie und Heteronomie verwische) kurzgeschlossen (ebd). Die Frage müsse demnach lauten, ob Normen als „auferlegt“ erfahrene Attitüden des Handelns zu werten seien oder ob sie erst in „wesentliche“ Attitüden des Einzelnen überführt werden müssten, soll eine Handlung vollzogen und verstanden werden können (so Srubars Rekonstruktion des Schütz’schen Standpunktes: 1988, S. 201ff.). Parsons fehlt es, mit anderen Worten, an einer Theorie des Handelns, die zu beschreiben vermag, wie Intersubjektivität sich so bildet, dass Werte nicht einfach gegeben und gewählt werden, sondern als Produkt und Regulativ eben jener intersubjektiven Verschränkung von Perspektiven entstehen und deshalb von mehreren Einzelnen hinreichend deckungsgleich (oder aufeinander abgestimmt) adaptiert werden können und dabei in Übereinstimmung mit der pragmatischen

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Verankerung des Einzelnen in „seiner“ je perspektivischen Lebenswelt bleiben. Parsons entgegnet, Schütz vermenge Situationsbedingungen mit Normen. Normen könnten demnach gar nicht „außerhalb“ des Individuums angesetzt sein, müssten aber analytisch als eigenständige Qualität des Sozialen berücksichtigt werden. Parsons verteilt gewissermaßen Schützens kritische Einwände auf die beiden Bereiche der Situationsdefinition (und der Zwecke und Interessen) sowie der normativen Integration der eigenen Motive qua sozialer Rolle und Position (Werte usw.; Schütz/Parsons 1977, S. 94ff.). Insbesondere beharrt Parsons auf der Notwendigkeit der relativen Stabilität von (institutionalisierten) Handlungsfeldern und der relativen Stabilität der Integration des Subjekts mit Blick auf seine Identität, während er zugleich auf die Historizität der Gesamtstruktur der Vermittlung zwischen Akteuren, Situationen und normativen Mustern hinweist (ebd.; ausführlich: Parsons 1986a). Entsprechend niedrig schätzt er die von Schütz hervorgehobene Bedeutung des Alltags für die soziologische Theorie ein. Das Desiderat in der Theorie Parsons’ besteht wie oben angemerkt darin, den intersubjektiv „wirklichkeitskonstituierenden Charakter“ des interaktiven Handelns selbst nicht ernst zu nehmen, sondern die Handlung gewissermaßen nur aus Output einer vorgängigen Integration ohne eigenständigen Informationswert zu betrachten (Srubar 1988, S. 205; als „letzte“ Wirklichkeit: Hahn 2004, S. 44). Wie weit Parsons auch immer später auf diese Position einschwenkt und einschwenken muss:8 In dem hier verfolgten Zusammenhang ist interessant, zu sehen, worauf Parsons mit einer an der Gültigkeit des Wissens abzielenden, kalkulierenden Handlung hinaus will. Er wählt als Beispiel das Interesse Präsident Roosevelts, „[…] einen entscheidenden Sieg Deutschlands zu verhindern. Für seine Entscheidung darüber, was getan und was nicht getan werden soll, ist es doch von äußerster Bedeutung, die Wahrheit einiger Fakten zu kennen, z.B. die relative Schlagkraft der deutschen und britischen Luftstreitkräfte und die damit zusammenhängende wahrscheinliche Möglichkeit der Deutschen, den britischen Widerstand zu brechen, bevor eine ins Gewicht fallende Unterstützung Amerikas wirksam werden kann. […] Das gleiche gilt m.E. für jedes Handeln, das überhaupt in einen rationalen Zweck-Mittel-Kontext gebracht werden kann. Ich

8

Mithilfe des Konzepts der doppelten Kontingenz.

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kann einfach nicht sehen, wie man Chancen und Risiken gegeneinander abwägen kann jenseits der Frage nach der Verifizierbarkeit des Wissens.“ (Schütz/Parsons 1977, S. 91f.)

Parsons hat also weder die subjektive Integration des Handelnden noch die alltägliche Handlung im Auge, sondern eine originär sozial gebildete Handlungsstruktur. Diese wirft Wahlfragen auf, nicht aber Verstehensfragen. Sozial relevantes Handeln liegt, wenn man so sagen darf, bereits als Teil der Typisierung einer Gesamtsituation vor, dazu gehört in diesem Falle die Informationspflicht, das Abwägen, die soziale Position des Aktors etc. Der Aktor wägt ab, entscheidet. Nach Münchs Interpretation besteht der Verschränkungsmechanismus (bzw. der Reizschutzmechanismus) bei Parsons darin, dass die Systemebene in den Handlungsmustern selbst verankert ist. Weder seien Handlungsmuster „freischwebend“ wählbar noch systemisch aufgezwungen, vielmehr müsse man von einer prinzipiell freiwilligen Selbstverpflichtung auf Handlungsmuster ausgehen und gleichzeitig annehmen, dass deren Wählbarkeit durch ihren jeweiligen Gültigkeitsgrad in kultureller, sozialer und kognitiver Hinsicht – letztlich bis zur Eindeutigkeit – eingeschränkt wird (Münch 1988, S. 191). Im Alltag werde die Vermittlung vor allem durch Statuspositionen und Berufsethiken getragen. Mit anderen Worten kann Parsons die Schütz’sche Position nicht recht nachvollziehen, weil ihm der Zugang zur Perspektivität der Sozialität des Einzelnen fehlt, die konstituiert sein muss, damit eine Wahl in sozialen Beziehungen so eingeschränkt werden kann, dass eine verständliche Handlung als ein Wirklichkeitsereignis entstehen und von Anderen identisch mitvollzogen werden kann. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass auch Schützens Hinwendung zur Ontologie der Lebenswelt als dem Konstituens jener biografisch bestimmten Situation für sich genommen das von ihm selbst zu Recht aufgeworfene Problem nicht notwendig klar gelöst hat. Denn das Verhältnis von auferlegten zu wesentlichen Relevanzen bleibt in einer spezifischen Hinsicht einem Verdacht ausgesetzt: Der systematische Ort der „Herstellung“ des „Reizschutzes“ wird bei Schütz in der „Zone des Wirkens“ verankert, jener herausgehobenen Wirklichkeit, die durch gesellschaftliches Wissen geleitet ein „Nadelöhr“ der Realisierung gesellschaftlicher Wirklichkeit darstellt und deshalb den Einzelnen mit Haut und Haar auf sich verpflichtet. Hierin stimmen Parsons und Schütz überein, und das ist das Problem. Das leibliche Handeln

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(und sein Pragma) wirke in sozialen Sinn hinein und nicht nur das, es bilde gewissermaßen die Grundform des Sinnes und auch der kommunikativen Strukturen überhaupt und sichere so ihre Verstehbarkeit und Anschlussfähigkeit (Giddens 1995, S. 365; Srubar 2005, S. 616ff.). Das Verhältnis von Lebenswelt und Wirken, das in der Theorie Luhmanns vorgeblich keinen Platz hat (so etwa Grathoff 1989, S. 418f.; Ortmann 2003, S. 254ff.)9, hebe, so Nassehi, „[…] die bürgerliche Form der Selbstadaption an gesellschaftliche Verhältnisse und vor allem die individuelle Quelle sozialer Motivlagen von einer historischen Konstellation – von der Weber noch zu wissen schien – in den Rang eines protosoziologisch-ontologischen Grundcharakteristikums des Sozialen schlechthin.“ (Nassehi 2008, S 168; Hervorhebung im Original)

Schütz fasst dem Vorwurf zufolge die pragmatische, lebensweltliche paramount reality handlungstheoretisch mit der Konsequenz der Hypostasierung einer spezifischen historisch-kulturellen Lebensform zur allgemeinen Struktur menschlichen Weltzuganges. Genau das ist jene Schnittstelle zwischen System- und Handlungstheorie, die im Weiteren untersucht wird. Denn Nassehis Kritik, die sich letztlich auf das Pragma richtet, schießt meines Erachtens weit über das Ziel hinaus. Auch für die Systemtheorie ist eine Anbindung der kommunikativen Semiosis an das leibliche Tun und an soziale Verkehrsformen unterhalb der expliziten Kommunikation unerlässlich. Auch Luhmann sieht, dass alle weiteren Systemdifferenzierungen das „geräuschlose“ Funktionieren der alltäglichen Koordinationen voraussetzen, und dies muss gleichsam psychisch vorbereitet werden. Entschärft werden kann die Diskrepanz der Ansichten, wenn geklärt wird, inwieweit die als allgemein bestimmten Strukturen der Theorie des Pragma und der Lebenswelt tatsächlich des Handlungsbegriffes bedürfen und umgekehrt: inwieweit das pragmatische Motiv vom Pragma als einem alleine leib- und kognitionsbezogenes Phänomen (ohne soziale Formung) abgeleitet werden kann: als Handlungs-

9

Diese Kritik korrespondiert mit derjenigen, die der Systemtheorie den Verlust der Aufklärungsorientierung und der sozialtechnologischen Färbung attestiert (so Habermas 1988; Joas 1996, S. 335ff.). In gewisser Hinsicht kann insbesondere Bergers Kritik an Luhmanns „Überphänomenologisierung“ im Sinne der erstgenannten Kritik verstanden werden (Berger 1987).

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form. Die Lebenswelt als Anker der Handlung bedarf also einer ReLektüre. Schütz versucht, die Grundstrukturen jener sinnhaften Ordnung sozialer Welt in einer Zone der Wirkwelt zu verankern – ohne ihr, wie das der Pragmatismus mehrheitlich zu tun pflegt, die alleinige Prägekraft der Attitüde der menschlichen Erkenntnis zuzuordnen. Gesellschaft muss, nach Schütz, ebenso wie Natur zwar weltzugewandt als „field of domination“ und in dieser Form gegenständlich erfahren werden (siehe zum Beispiel Schütz 2003b, S. 167f.). Schütz bettet die ausgezeichnete Wirklichkeit des Auferlegtseins ein in ihre Erfassung durch explizite Zeichen- und Symbolsysteme und in eine Mannigfaltikgeit von Wirklichkeiten. Wie Symbolstrukturen, Handeln und „echtes Pragma“ zusammen hängen, mag Aufklärung darüber geben, ob die Ansätze der systemtheoretischen und der lebenswelttheoretischen Sinngenese soweit auseinander liegen, wie eingangs postuliert.

5.3 S YSTEM - UND LEBENSWELTTHEORETISCHE K ONSTITUTION VON S OZIALITÄT Schützens Ansatz lässt sich für den hier verfolgten Zweck knapp skizzieren: Gesellschaft bzw. soziale Wirklichkeit bildet sich aus dem Wirken einzelner Individuen, seien es Wirkhandlungen einsamer (wer Holz aus dem eigenen Wäldchen schlägt wirkt indirekt auf Angebot und Nachfrage auf den Markt für Brennholz ein), interaktiver (Arbeitsteilung) oder kommunikativer (Holzverkaufsgespräch) Natur. Wirkhandlungen verweisen zurück auf intentionales Geschehen, das heißt auf die sinngenerierende Ordnung des Selbsterlebens durch Relevanzsetzungen und dafür notwendige Typikbenutzung. Relevanzsetzungen und Typiken bilden sich in erster Linie im Wirkensgeschehen, sind aber nicht „eins zu eins“ darauf rückführbar. Denn hinzu kommt die reflexive Verarbeitungspotenz des Bewusstseins entlang „seiner“ Leiblichkeit einerseits und die im weitesten Sinne sprachliche und symbolische Ordnung der Typiken und (Motivations-, Auslegungs- und Themen-)Relevanzen andererseits, die über die Sozialität des Wirkens und der Kommunikation Eingang in das Bewusstsein halten. Die beiden letzteren Faktoren gründen in Erfahrungen, die das aktuelle Jetzt und So der Wirkwelt in vielerlei Hinsicht transzendieren. Die „Strukturen der Lebenswelt“, in die ein jedes Bewusstsein (ein jeder Mensch) hineingestellt ist und die für den „sinnhaften Aufbau der sozialen

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Welt“ verantwortlich zeichnen, bilden sich als zeitliche, räumliche und soziale Situiertheit über diese Transzendenzerfahrungen des Einzelmenschen im pragmatisch notwendigen Umgang mit diesen. Sie enthalten unterschiedliche „harte“ Grenzen, und Relevanzen und Typiken bilden sich an diesen Grenzen und im Umgang mit ihnen. Erst im Umgang mit diesen Grenzen kann sich folglich so etwas wie eine Welt „taken for granted“, eine alltägliche Wirkwelt (neben anderen Sinnprovinzen) bilden, in der der „ganze Mensch“ in seinen Akten dahinzuleben vermag und aus denen er nur durch einen „Sprung“ entfliehen kann (wohl wissend, wieder zurück kehren zu müssen). Die Ontologie der Lebenswelt und die Phänomenologie der Alltagswelt verschränken sich, indem Ersteres anhand von Letzterem aufgewiesen werden kann und zugleich die Begrenztheit (und Strukturierung) der Letzteren als Produkt symbolisch-sozialer Selektionsprozesse sichtbar wird, deren Verstehbarkeit auf Ersteres verweist.10 Die Theorie Schützens speist sich daher mindestens aus vier Quellen: aus der lebensweltlichen Situiertheit, der Plastizität des Bewusstseins (seiner Zeitlichkeit und Reflexivität), aus interaktiven Wirkensbeziehungen, also echten „Wir-Beziehungen“ und aus der Eingebundenheit in soziale Ordnung über symbolische und sprachliche Prozesse. Mit Blick auf unser Thema ist es wichtig zu untersuchen, ob das Schütz’sche Konzept tatsächlich im Kern handlungstheoretisch argumentiert oder ob eine Differenzierung der Handlungsverständnisse sich im Werk selbst abzeichnet. Der Handlungsbegriff stellt zwar die von Nassehi kritisierte historisch-spezifische Synthese des Schütz’schen Ansatzes her, wird aber – so meine Annahme – durch die beiden Aspekte des Pragma (und der Lebensweltontologie) auf der einen und die Kommunikation (und die Transzendenz des Alltags) auf der anderen Seite selbst situiert und damit notwendig relativiert. 5.3.1 Pragma, Wirkwelt, Bewusstseinsspannung Alfred Schütz’ soziologisches Werk wird insbesondere von Srubar im Sinne einer „pragmatischen Lebenswelttheorie“ interpretiert (zusammenfassend: Srubar 1988, S. 251ff.). Der Nukleus der sozialen Wirklichkeit wird nicht in „freischwebenden“ Bewusstseinsleistungen und

10 Die Skizze beruht hauptsächlich auf: Schütz (1971; 2003; 2003b 2004); Schütz/Luckmann (1994) Srubar (1988).

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auch nicht nur in der pragmatischen Einbindung in die „Welt“ identifiziert, sondern quasi in einer Synthese von subjektiver Sinngenese, dem Wirken in der Welt und den diese transzendierenden sozialen Symbolisierungsprozessen. Zwar übernimmt Schütz von Max Weber die Fundierung des Sozialen im Handeln der Individuen (Schütz 2004, S. 85ff.). Was aber gerade die pragmatische Einbettung in die „ausgezeichnete Wirklichkeit“ betrifft, spricht Schütz „[…] nicht vom „Handeln“, welcher Terminus auch innerliche Einstellung einbegreift, sondern ausdrücklich vom „Wirken“, also vom Vollzug des Pragma in der Leibbewegung selbst, vom Eingreifen des Ich in den Weltraum und in die Weltzeit durch Lageveränderungen des Leibes oder seiner Teile.“ (Schütz 2003e, S. 132)

Schütz hat, im Sinne der genannten Synthese, vor allem das „bewusste Pragma“ im Auge, während er das „bloße Tun“ als „unbewusstes Pragma“ fasst, dem Vorsatz und Entwurf fehlen. Trotz der sonstigen Ablehnung gegenüber behavioristischen Ausdrücken, geht Schütz mit Max Weber von einem bloßen Verhalten aus, dass zum Beispiel reflexhaft erfolgt. Der Überbegriff aller Formen des Pragma ist der der „Ausdrucksformen des spontanen Lebens des Menschen“ (Schütz 2003, S. 183ff.). Sie sind also von dem, was das Bewusstsein tut, zu unterscheiden. Sehen wir nun, wie das bewusste Pragma bei Schütz bestimmt wird, das den Grund für die Differenzierung von Wirken und Handeln abgibt. Es handelt sich dabei um die „Intentionalität auf den volitiven Akt des „Fiat“, um die „in aller Willentlichkeit enthaltene Komponente der auf Realisierung des Gewollten gerichtete[n] Tendenz“, um einen „Vorsatz“ (Schütz 2003e, S. 133). Das Wählen zwischen Alternativen (das Voluntative im Unterschied zum Volitiven) ist demnach nicht notwendig Teil des bewussten Pragma. Bewusstsein ist quasi nicht zuerst bei sich, sondern bildet sich gewissermaßen von außen her. Es nimmt die Dinge, wie sie geschehen für wahr. Es lebt wirkend in seinen und mithilfe seiner Akte(n). Die Schütz’sche Schwierigkeit besteht darin, einerseits eine Art Unmittelbarkeit des Leibwirkens anzunehmen und andererseits eine dazugehörige lebensbezogene Attitüde der „höchsten Tensionsstufe“, die die Wirkwelt als „Realitätskern“ erst hervorbringt, indem eben jene Unmittelbarkeit ermöglicht wird (Schütz 2003e, S. 135ff.). Das ist in-

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sofern erstaunlich, als Schütz ja mithilfe der Theorie des Pragma zunächst anhebt, um die nicht-sinnhafte Seite des Wirkens in den Blick zu bekommen. Er will, wie er schreibt, über seine eigene Untersuchung zum „sinnhaften Aufbau der sozialen Welt“ hinausgehen. De facto gibt er dem nur den Namen des Pragma, das tatsächlich nur dann zur Bildung des Ich als bewusstem über spontane somatische Erfahrungen hinaus integrierten Ich führen kann, wenn das eigene Pragma Bezugspunkt sowohl der zeitlichen Verspannung des ego agens mit sich selbst qua Weil- und Um-zu-Motivationen (vorher/nachher, ich vordem, ich fortan) als auch der Raum-Perspektivität qua leiblicher Welteinbettung wird (unmittelbar, mittelbar). Das Pragma, also das Tun (oder: in-der-Welt-sein), ist, wenn man so sagen darf, jene strukturelle Kopplung, die nicht Teil des Bewusstseins und doch fungierende Grundlage des Bewusstseins ist, und die auf den zunächst „asubjektiven“ Charakter des „Erscheinungsfeldes“ (Srubar 1995, S. 129ff.) verweist und erst durch Bewegung gleichsam Tiefenschärfe sowie eine zeitliche Ausdehnung und damit eine Struktur bekommt. Das „pragmatische Motiv“ ist damit sowohl Grund als auch Folge der Selbstauslegungstätigkeit des Bewusstseins als Auslegung des eigenen Pragma. Nur so kann die Welt als Realität konstituiert und das Ich als Aktivitätszentrum installiert werden, nur vermittels der „Wirklichkeit der Außenwelt“ (nämlich als einer zweipoligen: als einer beständigen und einer modifizierbaren). Das Aktivitätszentrum wird zum Teil der „ausgezeichneten Wirklichkeit“ (Schütz 2003b, S. 159), in der es lebt. Es unterscheidet sich damit vom Bewusstsein im Bewusstsein oder ist nur ein „Teil“ davon. So betrachtet besteht eine Differenz zwischen dem Pragma selbst und dem pragmatischem Motiv. Darauf werden wir zurückkommen müssen. Die „paramount reality“ konstituiert sich demzufolge als eine sinnhafte über die Selbstbezüglichkeit des Bewusstseins im Medium seines Leibes (bzw. seines Körperschemas), die somit, und zwingend nicht primär die „Haut“ ist, sondern eine Sinngrenze, in welche die „Sensoren“ oder Kopplungsstellen selbst nicht aktiv „einwirken“ (sie werden quasi nicht mitgesehen, mitgeschmeckt etc. bzw. dieses nur in einem gesonderten Akt der Hinwendung). Das pragmatische Bewusstsein differenziert sich quasi aus dem Erlebensstrom aus oder bildet sich in ihn „hinein“. An die Stelle des faktischen Außenkontakts treten die Akte der Auslegung des eigenen Erlebens, und darin besteht die Sinn-

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stiftung des Bewusstseins, die für Schütz auch nach seiner pragmatischen Wende bestimmend bleibt: „Die Sinngebung oder Symbolsetzung ist die königliche Gebärde, mit der das Bewußtsein von den Erlebnissen Besitz ergreift.“ (Schütz 1981, S. 141)

Die Parallele zu Luhmanns Ansatz liegt auf der Hand: Da Wahrnehmen im Sinne von Beobachtung funktioniert, funktioniert sie eingreifend, indem sie körpervermittelt vonstatten geht. Der Körper „ist“ quasi primärer Beobachter (vgl. Luhmann 1997, S. 68f.; siehe Kapitel vier).11 Die Folge ist, dass das fungierende Pragma per se als bewusstseinskonstitutiv angenommen werden muss. Bewusstseine sind zu jedem Zeitpunkt an ihre Wahrnehmungen gebunden – und gerade dieser Sachverhalt entzieht dem Bewusstsein, auch bei Schütz, die Möglichkeit der kognitiven Durchdringung der Welt als nur möglich, ja, die Alltagshaltung baut gerade auf der relativen Zurückdrängung der Reflexion im Hier und Jetzt auf. So entsteht jene Bewusstseinsspannung des Hellwachseins, die ihrerseits der Wirkwelt den Charakter der paramount reality verleiht. Die Bewusstseinsspannung oder die Attitüde des Hellwachseins beruht also auf der Verhaltenssteuerung zur Generierung veränderter Wahrnehmungen durch Bewegung im Raume und bildet daran die Möglichkeit, zwischen vordem, jetzt und nachher zu unterscheiden und so quasi Objektsinn zu erzeugen. Die erfahrene Widerständigkeit der „Welt“ geht so nicht auf die Welt, sondern auf die Selbstbeobachtung qua Leib zurück. „Denn eben mein Wirken (aktuelles und vormaliges) in dieser Welt ist es, welches ihr Relevanzzentrum schafft und die Relevanzisohypsen, nach denen sie sich ausgliedert.“ (Schütz 2003e, S. 142)

Wie bei Luhmann so setzt Schütz die Akte des Noematischen unter die notwendige Vorstellung externer Bestimmungsbedingungen und zugleich in den unabänderlich innerlichen Konstitutionszusammen-

11 In diesem Kontext gilt dann: „Nicht die Beharrlichkeit der Dinge beweist einem davon affizierten Bewußtsein ihr Dasein außerhalb des Bewußtseins, sondern die Ereignishaftigkeit der Operationsweise des autopoietischen Systems selber.“ (Luhmann 1987a, S. 314)

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hang des Einzelbewusstseins. Nur dessen „Schließung“ in Akten der Sinnverarbeitung im Zuge der Einbindung der Umwelt (inklusive des Pragma!) als Wirkwelt konstituiert Sinn und im Sinn die Vorstellung des ontologischen Charakters der Welt und des aktiven Selbst. Deren Unabänderlichkeit dokumentiert sich in der Begrenztheit der leiblichen Welt- und Selbstintegration aufgrund des Modus seiner „Produktionsweise“: Nach der Aufklärung und der wissenschaftlichen Revolution weiß man, dass die Welt gerade nicht ist, wie sie erscheint. Die Erde ist keine Scheibe und die Sonne dreht sich nicht um die Erde. Allein: Dem „common sense“ muss sie im Alltag auch weiterhin so erscheinen. Die Wahrnehmungswelt des psychischen Systems hat, trotz seiner Kenntnis davon, dass es „eigentlich“ anders ist, für die Bewusstseine zwingenden, raum-zeitlichen Charakter: Sie funktioniert gerade wider besseres (soziales) Wissen. Bewusstseine können zwar zu der imaginativen Anschauung kommen, dass die Erde kugelförmig ist (s. unten) – sie müssen sie dazu aber mit einem „Sprung“ in eine andere Sinnsphäre verlassen und so auch die wirkweltliche Attitüde aufgeben. Sie nehmen sie, wenn sie die Augen wieder aufschlagen, doch als „ebenerdig“ wahr, sie wissen dass sich die Erde um die Sonne dreht und sehen doch die Sonne auf- und untergehen. Bewusstseine sind in einer „anschaulichen Welt“ beheimat, die nicht als „nur möglich“ erscheinen darf.12 Selbst Halluziniertes nimmt die Form des Außenweltgeschehens an, wie Schütz konstatiert, und Luhmann bezeichnet das als das Vermögen, sich subjektiv in aller Gewissheit zu täuschen. Die konstitutiven Akte, die das Bewusstsein formen, verhindern effektiv die Eliminierung der „unmittelbar gegebene[n] Welt“ (Luhmann 1997, S. 93). Die „ontologische Bedingung unseres Im-Raum-Seins und der Raumerfahrung“ (Schütz 1971, S. 217) qua Leib bedeutet, quasi als Reizfläche für Einwirkungen von außen offen zu sein – ohne dass Kommunikation „dazwischen geschaltet“ werden müsste. Gerade dieser Sachverhalt verweist auf eine Form der Sinnverarbeitung, die sich fundamental von sozialer Sinnverarbeitung unterscheidet, eben weil

12 Anders herum heißt das, dass man immer Objekte als Objekte sieht und eben nicht nur als „visuelle Attrappen“ (Boehm 2007, S. 46). Ausgeführt hat Schütz diesen Gedanken in der Studie zu „Don Quixote and the Problem of Reality“ und natürlich im Beispiel des in der Zimmerecke liegenden aufgerollten Etwas, das ein Seil oder eine Schlange sein könnte (Schütz 1964b; Schütz 1971, S. 49ff.).

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sie an die Vorstellung der Ontologie gekoppelt ist und damit, in der Schütz’schen Terminologie, das System der Weil-Motivationen begründet (Schütz 1971, S. 83) „Ich kann immer wieder“ und „und so weiter“ als Generalthesen der Lebenswelt des Alltags, wie sie von Schütz herausgearbeitet wurden (Schütz/Luckmann 1994, S. 30ff, S. 64ff), beziehen sich auf basale Transzendenzen in der relativ-natürlichen Einstellung. Sie sind aber begründet durch die Kapazität der Bewusstseine und der notwendigen Herstellung einer spezifischer attention à la vie, die als die eigentliche Leistung für die Teilnahme an Kommunikation (und damit für Kommunikation überhaupt) vorgestellt werden muss und zugleich die Kommunikation begleitet, aber nicht in sie eingreift. Nur so ist zu erklären, dass sich das psychische System zur Herstellung seiner Wahrnehmung sozial prozessierter Beschreibungen (Unterscheidungen) bedienen kann, nicht aber in der Lage ist, diesen bis in die Sphären des Wissenschaftlichen zu folgen, weil das Bewusstsein, solange und immer wenn es der „Außenwelt“ zugewandt ist unter pragmatischen Imperativen „arbeitet“: „Die Wahrnehmungsdichte der Orientierung in alltäglichen Situationen läßt für Wissenschaft keinen Platz, allenfalls für die nur auf Grund von Wissenschaft möglichen technischen Artefakte, Geräte, Medizinen, Materialien. Man sieht Menschen, nicht strukturelle Kopplungen autopoietischer Systeme.“ (Luhmann 1992, S. 654; vgl. Luhmann 2005u, S. 18f.)

Der Punkt ist, dass man Menschen sieht, nicht Atome, Moleküle, Blutkreisäufe oder eben Kopplungen. Es handelt sich beim Sehen von Menschen gleichwohl um eine sowohl bewusstseinsmäßige Projektion als auch um eine soziale Typisierung (ein Thema), die historisch und situativ höchst variabel ist (und bleibt).13 Wenn also das Pragma einerseits und eine Bewusstseinshaltung andererseits der Kern der Genese von Selbst und In-der-Weltsein sind, dann kann das Handeln nur eine diesen Elementen nachgeordnete Sinnform darstellen. Und so fasst Schütz das Handeln ja auch: als eine

13 Luhmanns Hinweis, nie habe man den Menschen gesehen, bekommt seine Bestätigung gerade durch die Phänomenologie – und will wohl auch so verstanden werden: das empirische Ich ist, wenn gebildet, kein „Mensch“, sondern stärker: für sich „absoluter Ursprung“ (Merleau-Ponty 1974, S. 5).

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spezifische Form der Hinwendung zu eigenen Erlebnissen. Die Universalisierung der Handlung geschieht gewissermaßen durch einen „Trick“: Die Interpretation als Handlung, als Deutungsakt und damit als permanente Betätigung des unmittelbaren Erfassens des Anderen und anderer Gegenstände und des Selbst sowie als Akte des nach innen gewandten Denkens zu fassen und ihm damit die Funktion der Episodenbildung zuzuweisen. Vom bloßen Phantasieren unterscheidet sich der Handlungsentwurf dadurch, dass er auf einen verfügbaren Wissensvorrat bezogen wird. Entwerfen meint, dass ein motiviertes Phantasieren vorliegt und dass die antizipierte Absicht, den Plan auszuführen hinzukommt. Der Plan: das entworfene Produkt des Handelns, die Handlung muss/soll ausführbar sein und bewegt sich daher im Rahmen des Wissens über die Wirklichkeit, in der der Plan vollzogen werden soll (Wirklichkeit als auferlegter Rahmen) – als Denken im “Potentialis” (Möglichkeit, den Plan auszuführen). Das heißt, nur solche Mittel und Zwecke werden berücksichtigt, die aktuell oder potenziell in Reichweite liegen (zumindest vermeintlich): Das Handeln wäre dem Typ nach ausführbar, Mittel und Zwecke sind ihrem Typ nach verfügbar (unter den genannten Bedingungen: und so weiter, ich kann immer wieder; Schütz 2003c, S. 261f.). Der Gegenbegriff zum Handeln wäre demzufolge nicht das Erleben, sondern das, was auf den Leib „von außen“ einwirkt oder sich ihm im Denken entgegen setzt: die „Widerfahrnis“, in einer zeitlichen – dann auch bekannten – Bezeichnung: die (Selbst-)Sorge.14 Wir können also die These wagen: Nicht die Handlung, sondern die Weltzugewandtheit vermittels des Leibes in der Form einer Bewusstseinsspannung (und des sie begleitenden Gesamtzustandes der Aufmerksamkeit, der Sorge, der Zustimmung oder Ablehnung usw.) ermöglicht Kommunikation und begrenzt sie und den Bewusstseinsbeitrag dabei gleichermaßen. Zumindest in der Spannung des Hellwachseins ist die Welt dem Bewusstsein als solche auferlegt und mit ihr alles was darinnen ist.

14 Wobei sich, was bekannt ist, Schütz auf Heideggers Untersuchung des Daseins als „Sein zum Tode“ stützt (vgl. Srubar 1997; Srubar 2007a; Heidegger 2006, S. 180ff.).

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5.3.2 Wahrnehmung, Wir-Beziehung und Kommunikation Die Fortführung der Analyse basiert auf der Unterscheidung zwischen Kommunikation und echter, face-to-face-basierter Wir-Beziehung als originärer (oder ursprünglicher) Grundlage der Kommunikation einerseits und auf der Unterscheidung zwischen bewusster Wahrnehmung und Kommunikation andererseits. Die Theorie der echten WirBeziehung von Alfred Schütz bezieht den Leib des Anderen als Ausdrucksfeld und damit einen gemeinsam geteilten Raum der Interaktanten mit ein und begründet die originäre Qualität dieser Interaktionsform für die Bildung der Personalität einerseits und der Ermöglichung von Kommunikation im engeren Sinne andererseits. Ausgangspunkt ist ein originäres Mit-Dasein. Kommunikation und echte Wir-Beziehungen sind zu trennen (auch wenn sie gleichzeitig auftreten), denn das Ausdrucksfeld des Leibes bezeichnet ein völlig anderes Problem, das gerade nicht alleine über Kommunikation gelöst werden kann – und jegliche Interaktion müsste kollabieren, wenn die Bewusstseine nicht zwischen Leib als Ausdrucksfeld und dem Kommunikationsgeschehen bzw. dem Ausdruck selbst zu unterscheiden gelernt hätten (sie würden zum Beispiel dann nur registrieren, dass sich Lippen bewegen). Dieses differenzierende Moment spielt für das Verständnis der Autopoiesis der Kommunikation bei Luhmann eine zentrale Rolle – denn es ist diese Unterscheidung, die „gelernt“ werden muss (siehe Kapitel vier; bei Schütz allgemein gefasst: Schütz 1971, S. 76ff.). Eine Gleichsetzung von Kommunikation und „gemeinsamen Altern“ verkürzt daher nicht nur Schützens Ansatz, sondern sie verzerrt auch das, was aus systemtheoretischer Sicht als Kommunikation verstanden werden kann (und schließlich auch das, was als kommunikatives Handeln verstanden wird: die Verständigung über propostionale Aussagen und die Herstellung von Intersubjektivität im Sinne der Ermöglichung der Handlungskoordinierung). Schütz respektiert den Unterschied: Vom Wirken und seiner Fundierung in der Umarbeitung leiblicher Eindrücke her ist der Andere nur als durch das Mit-Dasein besonders qualifiziertes Ausdrucksfeld zugänglich – es sei denn: Kommunikation tritt hinzu. Indem Kommunikate in der lebendigen Außenwelt erscheinen, koordinieren sie die äußere und innere Zeit der beteiligten Bewusstseine. Dieses Vermögen der Koordination stellt

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jedoch zugleich ein Moment der Transzendenz der Bewusstseine und darin die Paradoxie der Kommunikation dar. Schütz betont zwar, dass die „objektive Welt“ jene ausgezeichnete Wirklichkeit sei, in der alleine Kommunikation stattfinden könne und von der alle möglichen anderen Formen der Wirklichkeit „abgeleitet“ sind (etwa: Traum, Phantasie, Wissenschaftliche Kontemplation etc.; Schütz 2003, S. 230).15 Zugleich weist Schütz darauf hin, dass die Kommunikation selbst ein Element beinhaltet, dass jene Wirklichkeit für beide Teilnehmer in Richtung allgemeiner Lebensweltstrukturen transzendiert. Von außerordentlicher Wichtigkeit scheint dabei zu sein, dass bei Schütz die Interaktionsteilnehmer (genauer: ihre Leiber) und die Akte der Kommunikation (genauer: ihre Ausdrucksbewegungen und deren substratförmigen Resultate) in der Wirkwelt verbleiben, aber gleichzeitig einen gemeinsamen (synchronisierten) Sprung in eine alternative Wirklichkeit machen (ebd., S. 237f.). Das ist, was mit Luhmann gesprochen grundsätzlich passiert, wenn sich Bewusstsein Kommunikation zuwendet. Die Akte der Kommunikation (und das „In-der-Weltsein“ der Leiber) vollziehen sich bzw. verbleiben in der Wirklichkeit des Alltags, nicht aber die Themen der Kommunikation (und die kommunikative Sinnproduktion, also deren Autopoiesis; siehe auch Schütz 1971, S. 34f.).16 Umgekehrt kann nur so Kommunikation, die Wirklichkeit und Leiblichkeit (Aufmerksamkeitshaltung) voraus-

15 Hierin ist diese Wirklichkeitsschicht vergleichbar mit Luhmanns Welt der Wahrnehmung (siehe oben, Kapitel vier). 16 Es sei darauf hingewiesen, dass Schütz, ebenso wie Luhmann, die Gleichzeitigkeit des „äußeren“ und „inneren Geschehens“ hervorhebt, etwa des Niederschreibens von Gedanken und des Denkens. Bekanntlich schließt Luhmann daraus, dass es keinen eindeutigen kausalen Zusammenhang zwischen beiden Vorgängen gibt, sondern eine – bzw. mehrere – strukturelle Kopplung(en) mit wechselseitigem Irritationspotenzial. Die Gedanken eilen voraus, der niedergeschriebene Satz verliert seinen Zusammenhang, die Hand kommt ins Stocken, das Bewusstsein muss zurück und verliert den Faden usw. Dieser Zusammenhang kann natürlich „trainiert“ werden, und Repetition und Möglichkeit der Korrektur sind wichtige Momente dabei, etwa beim Üben des Spielens von Musikinstrumenten: „Ein Üben, das auf Fehler an der Fingerspitze sogleich reagiert, steigert das Selbstvertrauen. […] Das Üben wird so zu einer Geschichte statt zu bloßer Wiederholung.“ (Sennett 2008, S. 215).

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setzend dual aufgebaut prozessieren. So betrachtet, zieht auch Schütz eine radikale Trennlinie zwischen dem kommunikativen und dem zwischenmenschlichen Geschehen, wie wir es bei Luhmann fanden. Und man kann folgern, dass das Bewusstsein grundsätzlich anderen Bedingungen unterworfen ist, als sie für Kommunikation gelten. Noch einmal anders ausgedrückt befindet sich die Außenseite der Kommunikation in der Welt der Wahrnehmung. Entscheidend für das In-der-Welt sein der Kommunikation ist der diskontinuierliche, der polythetische Aufbau des Kommunikationsgeschehens selbst, wie Schütz am Beispiel der Aufführung von Musikstücken zeigt (s. Schütz 1964a, S. 171ff.). Luhmann bezeichnet diesen Sachverhalt als Digitalisierung zweier analoger, „fließender“ Sinnprozesse (Gleichzeitigkeit und Synchronisation). Es ist dieser Prozess, der in der Wirkwelt der wahrnehmenden Bewusstseine „verbleibt“ und deren „tuning in“ ermöglicht. Das „tuning in“ bezeichnet Luhmann – von der „gegenständlichen“ Seite aus betrachtet – als gleichsinnige Beobachtung der beteiligten Bewusstseine. Sowohl Schütz als auch Luhmann rekonstruieren diesen Vorgang mit Rahmen ästhetischer Wahrnehmung bzw. im Rahmen von Kunst.17 Aber warum geht Schütz nun davon aus, dass dieser Prozess fundamentale Basis der Kommunikation ist, sich jedoch in der Kommunikation nicht niederschlägt (Schütz 1964a, S. 161)? Es kommt nicht zum Aufbau – oder zur Anwendung – explikativer Sinnschemata, die eine retrospektive Erfassung des Themas „auf einen Blick“ für eine weitere Sinnverwendung ermöglichen, sondern zu einer präreflexiven, fortgesetzt unmittelbaren re- und protentionalen Aktverkettung. Srubars Rekonstruktion der Schütz’schen Intention, zwar die kommunikative Struktur des Kunstwerks aufzuzeigen, aber dabei die kommunikative Absicht auszuklammern, mündet in die Annahme, dass nur auf diesem Wege ein unmittelbares „tuning in“ möglich ist, weil es nicht in erster Linie in der Semantik, sondern in der Wahrnehmungs- und damit Imaginationssteuerung fundiert ist (Srubar 2007b, S.84f.). Es ist dieser Gedanke, der Luhmanns Verständnis der Kunst als eines Kommunikationssystems bestimmt, das nicht semantisch, sondern „wahrnehmungstrimmend“ funktioniert, indem es (reflexiv gewendet) „Ordnungszwänge“ noch im Raum des nur Möglichen (und

17 Und nicht nur Schütz und Luhmann, sondern auch andere Ansätze, etwa der Pragmatismus (siehe zum Beispiel Bernstein 1975).

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damit auch: des Realen) anzeigt und variiert. Kunstwerke sind entsprechend für Luhmann Objekte, die die Welt in die Welt wieder einführen, die die Figur der „Transzendenz ins Diesseits“ repräsentieren (Gehlen 1956, S. 63ff.).18 Die Externalisierung der Kunst erscheint als Bewirken einer Wahrnehmung der Künstlichkeit als realer Möglichkeit selbst.19 Mit Schütz und Luhmann kann man diesen Vorgang als fundamental für die Möglichkeit von Kommunikation annehmen, wobei die Ausdifferenzierung des Kunstsystems dann nicht bedeutet, dass diese „Funktion“ aus dem Alltagsleben abgezogen, sondern darüber hinaus zusätzlich reflexiv „bearbeitet“ wird und so an der Herstellung und Transzendenz einer „latenten Alltagskultur“ moderner Gesellschaft in entscheidender Weise beteiligt ist (etwa durch Romane). Das für Schütz so wichtige „gemeinsame Altern“ in der echten Wir-Beziehung zeichnet sich durch dieselbe Grundstruktur aus und eine „echte“ Unmittelbarkeit ist demnach nur in diesem Rahmen möglich. Nur hier kann volle Subjektivität am Anderen erfahren werden, weil der Andere als Teil eines gemeinsamen Sektors der Alltagswelt zu voller Geltung gelangt. Der Leib des Anderen wird zum Ausdrucksfeld, man kann quasi unmittelbar in dessen äußeren Akten leben und daran die eigene Person errichten. Die Bildung von Personalität gewinnen wir mit Hilfe eines Seitenblickes auf die Analysen Eriksons zum Identitätsaufbau des Kindes. Über den Spracherwerb ist das Kind „[…] im Begriff, eine der wesentlichen Funktionen zu erwerben, die das Gefühl der individuellen Autonomie stützen, und zugleich eine der wesentlichen Techniken, die den Radius des Gebens-und-Nehmens erweitern.“ (Erikson 1973, S. 142)

Mit der Zurechnung von Willen zu Lautzeichen wird eine „Verpflichtung“ impliziert, die eigenen Wünsche selbst deutlich zu artikulieren. Es findet eine Identitätsunterstellung statt „als ein Wesen, auf das die Umwelt mit veränderter Ausdrucksweise und Aufmerksamkeit reagiert.“ (ebd.) Das Kind erfährt sich als Sprechendes und Angesproche-

18 Vgl. demgegenüber die Unterscheidung von Ding und Objekt, bzw. die Objektwerdung von Dingen durch ihre Thematisierung in der Kommunikation (Dewey 1995, S. 167ff.). 19 Vgl. Sennett (2008, S. 212ff.) für den Fall des Musizierens und Komponierens, gegen den Mythos vom „inneren Ohr“ gewandt.

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nes. Umgekehrt und dem zeitlich vorausgehend wird erwartet, vom Kind verstanden zu werden.20 Erikson bezeichnet das Sprechen bzw. das gesprochene Wort deshalb als einen „[…] Pakt: was man gesagt hat, wird von den anderen erinnert und erwirbt damit einen Aspekt des Unwiderruflichen […]“ (ebd., S. 143).

Identität und soziale Verpflichtung sind demnach nicht inhaltlich, sondern strukturell durch den Spracherwerb bestimmt (Gewissheit bildet sich an strukturellen Kopplungen).21 Es ist augenscheinlich, dass sich erst auf dieser Ebene der sprachlich-reflektierten Leiblichkeitsform sich so etwas wie ein Handlungsverständnis im engeren Sinne ausbilden kann (ebenso: Luhmann 1992, S. 18). Die echte Wir-Beziehung stellt also die Sprache (das Gesprochene) als etwas Objektives vor, trennt es vom Sprecher. Dieses stellt für Schütz das Problem der Paradoxie der Kommunikation dar. Kommunikation kann nur auf der Basis von Gegenständlichkeiten der AlltagsWirklichkeit geschehen, sie wird durch diese Gegenständlichkeiten vermittelt. Das Paradox ist das der Erzeugtheit im Stile des Unabhängigkeitsindex vom Setzungsgeschehen (analog zur Selbstgegebenheit der Welt; mit Luhmann: Selbstreferentialität des Objekts). Paradox

20 Die Sprache selbst (also nach Luhmann: Kommunikation) tritt dem nachwachsenden Gattungsmitglied zunächst als Teil des „sozio-historischen Apriori“ als „vorgegebenes Element der Wir-Beziehung“ entgegen (Schütz/Luckmann 1994, S. 298f.). Gegeben sind nur die Formen der Quasi-Reziprozität, die beim Kind eine Aufmerksamkeitshaltung gegenüber dem Anderen beinhalten (ebd., S. 295f.). 21 Deshalb ist Luhmann der Meinung, ein Bewusstsein sei für sich selbst keine „Person“ (und Schütz würde möglicherweise nicht widersprechen). „Person ist das psychische System nur für das soziale System (nach alter Auffassung sogar nur für das Rechtssystem), also nur für Zwecke der Kommunikation, nur als Adresse, an die man sich wenden kann, oder als Faktor, dem man Kausalität und Verantwortlichkeit für die Mitwirkung an der Kommunikation zurechnen kann.“ (Luhmann 2005bb, S.192). In einem strengen Sinne gibt es deshalb für Luhmann keine Fremdbestimmtheit im Verhältnis Kommunikation und Bewusstsein, sondern nur asemiotischen Zwang (Körpereinwirkung) – wie es im strengen Sinne ja auch keine „falschen“ Erlebnisse gibt. Dieses Thema müsste weiter ausgeführt werden.

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wird es durch das darin enthaltene Verhältnis der Gleichzeitigkeit zweier Beobachter: „Die fließenden, sich artikulierenden Bewußtseinsakte des Sprechenden sind mit der Erzeugung der Laute, einem Ereignis der Außenwelt, gleichzeitig. Ebenso ist die Wahrnehmung dieser Laute mit den Bewußtseinsakten, in denen der Zuhörer den Sinn des Satzes erfaßt, gleichzeitig. Die Rede ist daher einer der intersubjektiven Zeitvorgänge […].“ (Schütz 2003b, S. 161)

Was ist mit den „sich artikulierenden Bewusstseinsakten“ gemeint? Schütz würde wohl sagen: Sinnsetzungen (parallel zu den sinndeutenden Akten des Zuhörers). Aber der Akt des Sprechens ist selbst eine Selbstauslegung, er hat für den Sprecher einen objektiven Sinn in seiner Erfahrungswelt (nämlich die Auswahl von Sprachzeichen) und einen subjektiven Sinn (nämlich: das Erreichen des Anderen) – und umgekehrt. Beide leben in diesen Akten. Man sieht, dass jemand etwas sagt und hört, was gesagt wird. Wir haben es auch hier mit einem polythetischen Aufbau zu tun, und die Erfassung des „Sinn des Satzes“ ist demgegenüber schon eine (zumindest basale) monothetische (objektive) Angelegenheit, die dazu ein Schema voraussetzt – der Sinn des Satzes ist erst verständlich, wenn auf den Satz ein weiterer folgt oder zumindest, wenn er als Ganzer gehört wurde.22 Und er ist nur verständlich wenn das verwendete Sinnschema objektive Gültigkeit besitzt. So definiert kann es sich bei der über die Elemente des Sprechens (und seiner Interpretation) und des Zuhörens (und seiner Interpretation) hinausweisenden Sinnstrukturierung nur um einen transindividuellen Vorgang handeln mit der paradoxen Konsequenz der Asymmetrisierung und (tendenziellen) Individualisierung der Beiträge und der daran Beteiligten. Sie mag eingebettet sein in eine Doppelstruktur, wenn man es vom Bewusstsein aus betrachtet: in die Doppelstruktur von Beobachtung des Anderen und Teilnahme an Kommunikation und in die Unterscheidung von Information und Mitteilung (vgl. Luhmann

22 Das Verhältnis des Aufbaus in Akten und des einstrahligen Erfassens des Aufbaus weist Parallelen zu Luhmanns Konzept der Mehrfachkopplung von Gehirn, Bewusstsein(en) und Kommunikation als einer Umrechnung der Eigenzeiten autopoietischer Systeme in eine objektive Zeitstelle, in Gleichzeitigkeit in der Realität, auf.

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2005bb, S. 184; siehe auch Kapitel vier).23 In dieser Hinsicht ist die Wir-Beziehung in der „mundanen Sphäre der Lebenswelt“ verankert (Schütz 2005, S. 88). Weil sie das ist, erlaubt erst die Schematisierung im Sprachmedium eine über die Gleichzeitigkeit der Akte des Setzens (als Auslegens) und Auslegens (als Auslegens) hinausweisende Synchronisation des Geschehenden als einer intentionalen, sequenzierten Bezugnahme aufeinander, die um Unterschied zum Musizieren ein aktives Element der Gestaltung beinhaltet (siehe auch Luhmann2005v, S. 94ff.). Schütz hebt den synchronisierenden Effekt mit Blick auf die Wahl der für die Kommunikation gebrauchten Zeichen hervor: „Das bei der Kommunikation gebrauchte Zeichen wird vom Kommunizierenden immer im Sinne der zu erwartenden Deutung durch den Adressaten vorgedeutet. Um sich verständlich zu machen, muß der Kommunizierende das Apperzeptions-, Appräsentations- und Verweisungsschema ins Auge fassen, in das der Deutende die Mitteilung einsetzen wird, bevor er Zeichen hervorbringt. Der Kommunizierende muß daher sozusagen die zu erwartende Deutung durchprobieren. Er muß einen solchen Zusammenhang zwischen seinen Bewußtseinsakten und den kommunikativen Zeichen herstellen, daß der Deutende, geleitet vom Appräsentationsschema, das er bei der Deutung des Zeichens anwandte, die Bewußtseinsakte als Elemente des entsprechenden Verweisungsschemas erfassen wird.“ (Schütz 2003b, S. 159)

23 Giesecke unterscheidet in diesem Sinne zwischen Kommunikations- und Informationsmedien. Das gesamte leibliche Verhalten fällt unter Informationsmedien, während – kulturabhängig – insbesondere kodierte Formen des Sprechens und Schreibens usw. als explizite Kommunikationsmedien zu verstehen sind. Informationsmedien dienen einem Beobachter zur Informationsgewinnung (wenn der Beobachter unterstellt, dass beobachtete Mimiken usw. eben Informationsgehalt haben). Kommunikationsmedien setzen mehrere Beobachter voraus (vgl. Giesecke 2007, S. 237ff.). Giesecke geht wie Luhmann davon aus, dass in den „neuzeitlichen Industrienationen“ die Trennungslinie zwischen Informations- und Kommunikationsmedien entlang der Betrachtung von Handlungen, verstanden als intentionales Verhalten, verläuft (siehe für Luhmann: Luhmann 1998, S. 301f.). Luhmann fundiert diesen Gedanken durch die Explizitheit des Sprachvorganges und rekonstruiert so die Vorstellung des intentionalen Handelns als Fiktion der Kommunikation.

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Das heißt: Die „Zweckbewegungen“ der Mitteilung (die Wahl des Appräsentationsschemas) und des Wahrnehmens verbleiben in der Wirkwelt und konstituieren die für Schütz wichtige gemeinsame Zone der Relevanz in der Außenwelt, während das „Gesagte“ (im Unterschied zum Gemeinten) „in“ der Ordnung der Verweisungs- und der Deutungsschemata situiert ist, also „in“ der Kommunikation selbst. Schützens Analyse begründet nachgerade die Eigenständigkeit der kommunikativen Sinnkonstitution gegenüber den Formen lebensweltlicher Sozialität und den dort stattfindenden Formen der Bildung von Subjektität sowie der Medien und Kopplungsstellen (Sprache, Personalität). Die Betrachtung des eben genannten Schütz’schen Beispiels legt im Übrigen die Vermutung nahe, eher der Schriftsprache entnommen zu sein als dem rasch fluktuierenden mündlichen Sprachgeschehen, das ein solcherart beschriebenes Durchprobieren von Bedeutungen und Ausdrücken nur auf Kosten des situativen Aufmerksamkeitspotenzials ermöglichen würde. Die Beschreibung „passt“ in wunderbarer Weise auf das Verfassen eines Textes, und ließe sich deshalb ohne einen gemeinsam geteilten räumlichen Ausschnitt in der ausgezeichneten Wirklichkeit sogar besser realisieren. 5.3.3 Relevanzen und Typiken Musik hat Bedeutung, ist aber als solche nicht in einem Schema erfassbar. Musikalisch vermittelte Interaktionsformen sind nach Schütz „[…] founded upon communication, but not primarily upon a semantic system used by the communicator as a scheme of expression and by his partner as a scheme of interpretation.“ (Schütz 1964a, S. 159, Hervorhebung im Original)

Wir hatten mit Schütz und Srubar festgehalten, dass Kunstwerke dabei (und trotzdem) die Struktur der Kommunikation aufweisen, sich aber auf das Wahrnehmen des Möglichen im Faktischen beziehen bzw. dorthin verweisen und so die Welt in ihrem So-Sein bestätigen und änderbar machen, weil auch das Konstruierte als Objektives (in der Natur vorkommend), das Momente seiner Konstruktion zeitigt, erscheint. Das Musikstück hat, obwohl sie offensichtlich „gemacht“ ist, eine Struktur für sich. Die durch diese Struktur bewirkte komplementäre Wahrnehmung (und das dabei Wahrgenommenwerdens) bildet eine gemeinsame lebendige Gegenwart (vivid present), geht aber nicht

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in Kommunikation ein. Das „tuning-in“ bzw. die „Bewusstseinsharmonisierung“ (gleichsinnige Beobachtung) begründet eine reziprokkomplementäre Sozialitätsform, die von Kommunikation „aufgegriffen“ werden kann oder auf deren Grundlage Kommunikation sich, wie im Beispiel die Musik, als Wirklichkeit sui generis ausdifferenzieren kann. Das wiederum bedeutet, dass ein die Wirkwelt transzendierender Bereich als ebenfalls geordnet vorgestellt wird und dass diese Vorstellung keine private, sondern eine sozial geteilte ist. Es ist vor allem die Situation der echten Wir-Beziehung, in der das passive Moment der gleichsinnigen Beobachtung durch die Parallelität von Leiberscheinen und sprachlichen Äußerungen in ein aktives Moment der synchronisierenden Zurechnung von Autorschaft überführt werden kann. An dieser Zurechnung kondensiert Personalität (und das Zwangsmoment, als Person angesprochen zu werden). Der Unterschied zwischen Musikhören und echter Wir-Beziehung besteht jedoch nicht nur im aktiven Engagement, das wie Schütz zeigt beim gemeinsamen Musizieren hinzutritt, sondern in den Informationsnotwendigkeiten, die damit einhergehen (Schütz 1964a, S. 175ff.). Gemeinsames Musikhören transportiert (zumindest für sich) keine Koordinationszwänge, obwohl sie diese de facto schafft. Erst explizite Koordinationszwänge setzen die Verwendung und den Erwerb von symbolischen Generalisierungen voraus, also das Zusammenziehen polythetisch konstituierter Eindrücke zu einem kompakten Schema, also ein selektive Ordnung des Geschehens für das Wirken in der Wirkwelt. Sie setzen die Bildung und den Erwerb von Typiken und Relevanzen (Wissen) voraus – bzw. bei Luhmann: Selektion und Motivation. Wie Schütz und Luckmann programmatisch bemerken: „Wissenserwerb ist die Sedimentierung aktueller Erfahrungen nach Relevanz und Typik in Sinnstrukturen, die ihrerseits in die Bestimmung aktueller Situationen und Auslegung aktueller Erfahrungen eingehen.“ (Schütz/Luckmann 1994, S. 154)

Bei diesem Vorgang handelt es sich um einen in der „inneren Dauer“ und dort als einen der Aufmerksamkeitsorientierung auf der Basis von Erinnerung und Erwartung unter der Bedingung einer spezifischen Bewusstseinsspannung, nämlich der des Hellwachseins (ebd.). Da die Welt als solche in dieser Bewusstseinsspannung als auferlegte (objektive) erfahren wird und so auch die „sichtbare“ Seite der Kommunika-

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tion, müssen sowohl die Gegenstände der Wahrnehmung (Typiken) als auch die Hinblicke auf die Gegenstände der Wahrnehmung (Relevanz) selektiv geordnet werden. In der Theorie Schützens ist die Erfahrung, die Grundlage der Lernleistung ist, prinzipiell rekursiv angelegt und ergibt sich die Chance der habituellen Generalisierung und der Wiederaufnahme des Problems, also des Wissenserwerbs generell, aus dieser Rekursivität (Schütz 1971, S. 96). Das Bewusstsein kann und muss sich dafür durch Leibbewegung oder durch Teilnahme an Kommunikation „verschiedene Beobachtungsbedingungen schaffen“ (ebd., S. 79). Dies ist nach meinem Dafürhalten die allgemeinste Formulierung für das, was Schütz unter Handeln versteht. Die „Welt des Wirkens“ stellt sich für den Einzelnen grundsätzlich nicht zuerst oder typisch als Denksportaufgabe dar, sondern sie präsentiert sich als „field of domination“24 (Schütz 2003, S. 203). In diesem Sinne ist auch das Deuten ein Handeln, nur eben kein Wirken (s.o.). Die Wirkwelt ist in diesem Sinne Quelle von „Motivation“, Teil der „Natur“, Gegenstand der Sorge und deshalb problematisch. Faktizität der Welt und ihre Problembehaftetheit verbürgen die Art des Aufbaus von subjektivem Wissen (und theoretisch: die Dominanz der Zeitdimension). Ohne allzu tief in Schützens Untersuchungen der Strukturen der Wirkwelt des Alltags und der Aufschichtung der dort gebildeten Wissensstrukturen – etwa ihrer „topografischen“ Form – eingehen zu wollen, ist festzuhalten, dass die Muster von Typik und Relevanz (der Hinwendung zu thematischen Problemfeldern) auf der Basis der Gegebenheit und der Auferlegtheit sich nach den Dimensionen des Vertrauten und Unvertrauten sowie des Intimen und des Anonymen aufschichten. Alles, was der Bearbeitung thematisch aufgegeben sein kann, bekommt daher eine perspektivische Bedeutung in räumlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht. Das Verhältnis zum „Anderen“ (oder zur Kommunikation) wird dadurch ein grundsätzlich perspektivisches, weil man nicht dort, sondern immer hier steht (Schütz/Luckmann 1994; Giegel 1987; Merleau-Ponty 1974). Das Lernen, also die Prozesse der Einordnung von Erfahrungen in bereits bestehende Erfahrungen, läuft wie erwähnt selbstbezüglich ab. Schützens Analysen der Zeitstrukturen des Handelns, sein Hinweis, der Sinn einer Handlung verändere sich alleine durch den Vollzug des Handelns und der dabei verstrichenen Zeit (wobei fraglich ist, ob sich

24 In der Werksausgabe übersetzt als „zu beherrschendes Handlungsfeld“.

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der Sinn der Handlung oder seine Bedeutung für den Handelnden verändert) zeigen diese Selbstbezüglichkeit ebenso an, wie das Konzept der biografisch bestimmten Situation. Der wirkweltliche Aufbau von Mustern der Typik und der Relevanz beruht also auf drei Säulen: • Dem vor allem sprachlich vermittelten sozio-historischen Apriori (Wissen und Akzeptanz der Welt; Schütz 2004a, S. 262ff.),25 • der, wie Schütz sagt, biografisch bestimmten Situation (also der Selbstreferenz; ebd.) und • der Notwendigkeit von Planung, Entwurf und Umsetzung als Bewusstseinsspannung des Etwas-tun-müssens (im „field of domination“). Srubar leitet daraus die drei Modi menschlichen Weltzugangs ab: Sprechen, Denken und Handeln. Sie werden – als Formen des Weltzugangs – vor die Strukturen selbstexplikativer (autopoietischer) Kommunikation gesetzt: „Vielmehr wird klar, dass bereits durch die sinnkonstituierenden Akte des Bewusstseins, des Leibes und des Handelns Sinnstrukturen entstehen, die auf nichtsprachliche bzw. asemiotische Konstitutionsmechanismen zurückgehen. Man könnte hier gar von einer „asemiotischen“ Kommunikation sprechen, wenn man Phänomene unmittelbaren leiblichen Kontakts wie Gewalt, Pflege, Sexualität etc. bedenkt. Aus der Sicht der hier angebotenen pragmatischen Lebenswelttheorie wird also deutlich, dass es eine vorsprachliche, d. h. kognitive und pragmatische Sinn- und Wissenskonstitution seitens des Subjekts gibt, dass jedoch andererseits bereits diese sinnkonstitutiven Ebenen Voraussetzungen und Momente semiotischer Sinnkonstitution enthalten. Dazu gehören vor allen Dingen die appräsentativen Akte des Bewusstseins sowie die pragmatisch erzeugte Transzendenzerfahrung.“ (Srubar 2008a, S. 46)

25 Siehe etwa Luckmann: „Analytisch betrachtet […] wird eine Kultur durch Bedeutungsbestände konstituiert, die im gesellschaftlichen, vor allem kommunikativen Handeln entstanden sind und im kommunikativen Handeln vermittelt, aufrecht erhalten oder verändert werden. […] sie konstituieren, so kann man sagen, sein [des Menschen; M.K.] historisches (soziokulturelles) Apriori.“ (Luckmann 1998, S. 19; Hervorhebung im Original). Die Bedeutungsbestände, die den Sinn der Einzelnen mitprägen gehen wiederum aus Gesellschaftsstrukturen hervor, die die Reproduktion des Lebens gewährleisten (müssen).

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Diesen Sachverhalt hat auch Luhmann im Auge. Er trifft die grundlegende Annahme, dass diese Form der Sozialität Bedingung der Möglichkeit der Kommunikation und Grenze der Konditionierbarkeit durch Kommunikation darstellt. Beide Aspekte zusammenfassend schreibt Luhmann: „Es liegt nämlich schon ein Problem darin, sich überhaupt an Möglichkeiten zu orientieren, statt sich dem natural drift der Welt zu überlassen, wenn man doch weiß, daß die Welt so ist, wie sie ist, und nicht anders. Wiese sollte man mit Hilfe von Zwecksetzungen auf einen abweichenden Verlauf setzen? Wieso hat man diesen Mut? War nicht schon die Feuergabe des Prometheus als Verstoß apostrophiert worden, und erst recht die téchne der Griechen, die Schrankenlosigkeit des Strebens nach mehr Geld und schließlich die heutige Besessenheit durch technologische Innovationen? In der alten Welt mochte man noch glauben, dem mit einer Ethik der iustitia und der modestas und mit adeliger Distanz entgegenwirken zu können, und selbst das Risikobewußtsein der heutigen Gesellschaft läßt an ähnliche Abhilfen denken. Das kann jedoch, wenn Risiko einmal zum Thema geworden ist, kaum noch überzeugen.“ (Luhmann 1997, S. 239)

Bewusstsein hat, wenn man so will seinen eigenen Sinn, auch wenn dieser qua Sprache und bei Luhmann qua Sprachpragmatik überformt wird. Das Auftauchen von Sprachzeichen setzt Distanzierung in Gang: erzwingt eine Bifurkation zwischen Sozialem und Individuellen anhand der Selbstexplikation im Medium der Sprache.26 Synchronisation ist dann nur unter der Bedingung der „Taktung“, der Diskrepanz der Perspektiven sowie der Vermittlungsangebote möglich, die durch Typiken und Relevanzen getragen werden. Aus der Sicht des Bewusstseins ist und bleibt aber der „objektive“ Sinn des Sprachlichen notwendig im Bereich der Vorstellung (die Referenz einer sprachlichen Äußerung ist also stets eine idealtypische imaginative Anschauung): „So wird auch mitten in der ausgezeichneten Wirklichkeit […] die Erfahrung der Welttranszendenz gemacht, eine Erfahrung, die auf Bereiche verweist, die jenseits der ausgezeichneten Wirklichkeit der Alltagswelt liegen. Ihre Transzendenz wird durch die Schaffung von Systemen symbolischer Appräsentatio-

26 Bei Schütz: Diexodos (Schütz 1971, S. 114).

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nen überwunden; in diesen Systemen werden die transzendenten Bereiche interpretiert und so ins Kosmion einbezogen.“ (Srubar 1988, S. 278)

Um eines von Schützens Beispielen zu nennen: Freundschaft oder Partnerschaft – einschließlich entsprechender ritueller, gegenständlicher usw. Repertoires – sind solche Symbole bzw. „Systeme symbolischer Appräsentationen“ (s. Schütz 2003b, S. 194f.). Wir haben es also nicht nur mit den großen nur symbolisch appräsentierbaren Bereichen, etwa der Religion, der Kunst, der Wissenschaft zu tun. Vielmehr meint Transzendenz das über den aktuellen Vollzug hinaus weisende Moment der Stabilisierung eines kommunikativen Zusammenhanges (eines sozialen Systems) überhaupt – gewissermaßen aller sozial stabilisierter (und institutionalisierter) Sinn. Während der Andere in der ausgezeichneten Wirklichkeit und als Teil derselben erlebt wird, liegen „soziale Kollektive“ und „institutionalisierte Beziehungen“ grundsätzlich außerhalb dieser Welt (ebd.). Konsequenterweise fällt jede Form sozialer Beziehung, jede Wir-Beziehung in dieses Feld. Nun ist nach Schütz die „Welt des Anderen“ nur aufgrund von Idealisierungen qua Kommunikation erreichbar (Reziprozität der Standpunkte und Kongruenz der Perspektiven). Diese Idealisierungen (Prämissen) transzendieren zweifellos das Aktuelle Hier und Jetzt. Transzendent ist dann aber das kommunikative Sinn-Geschehen selbst. Die symbolischen Appräsentationen setzen grundsätzlich mit der sprachlichen Negationsmöglichkeit ein. Die Schütz’schen Postulate sind gewissermaßen Ausdruck der Negationskontrolle. Deshalb entsteht zugleich ein ganzes Arsenal an sozialen Einschränkungen von Negationsmöglichkeiten, zu dem auch die Handlungssemantik gehört (und alle weiteren Formen von Typik und Relevanz, die so primär in der Kommunikation gebildet werden und sekundär qua symbolischer Appräsentation Bewusstsein strukturieren. Kommunikation bildet sich im Zuge jener Transzendenzerfahrung, also bereits auf der basalen Ebene als Autopoiesis, die immer Öffnung und Schließung von Möglichkeiten mitführt, wenn Sprechen sinnvoll sein soll (siehe Kapitel vier). Unter dieser Bedingung sind sowohl Affirmation als auch Negation Fortführung kommunikativer Sinngehalte, wobei die Entwicklung von Verbreitungsmedien der Kommunikation die Wahrscheinlichkeit der Ablehnung steigert, und mit der Möglichkeit der Ablehnung und der Abweichung steigen die Chancen (und Notwendigkeiten), in der Kommunikation individualisierte Personalität auszubilden. Dass Herr

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Müller das sagt und nicht Herr Meier ist eine Unterscheidung, die selbst erst kommunikativ relevant werden muss. Luhmann vermutet, dass sie erst im Zuge der Schriftkultur entsteht, in der die Vorstellung des Selbst (als Vorstellungsobjekt) semantisch ausgebaut wird und die dazugehörige Erfahrung im Zuge des Wegfalls der unmittelbaren Konditionierung durch Wahrgenommen-werden im Falle des Lesens stimmig wird. Erst Schrift „[…] gibt dem Einzelnen Gelegenheit, seine Teilnahme an Kommunikation als eigenes Verhalten zu erfahren und Nebeneffekte für den Aufbau einer eigenen Persönlichkeit abzuzweigen.“ (Luhmann 2002, S. 259; vgl. Luhmann 1994, S. 16ff.)

Der Aufbau von Persönlichkeit ist dabei nicht zu verwechseln mit der Diskrepanz von Perspektiven oder der „Einzigartigkeit“ jedes potenziellen Teilnehmers an Kommunikation in einem strukturellen, (autopoiestisch) momenthaften Sinne. Auf der Sozialebene der unmittelbaren Wir-Beziehung geht es ja gar nicht um die Einzigartigkeit jedes Einzelnen, sondern um die Andersartigkeit des konkreten Anderen. Empirisch nämlich, darauf hat Giegel hingewiesen, reflektiert sich Bewusstsein, soweit es auf Schemata zugreifen kann, notwendig nicht nur als individuelles, sondern eben auch als typisches (als Mensch zum Beispiel; Giegel 1987,S. 221f.). Und weiter: Das Individuum „[…] bleibt auf seine selbstreferentiell vereinseitigte Sichtweise fixiert, gewinnt nicht eine überlegene Sicht der gesellschaftlichen Verhältnisse und bezieht nur aus seiner unmittelbaren Verfassung den Bezugspunkt für sein reflexives Urteil.“ (Giegel 1987, S. 226)

Objektive Perspektivität, könnte man sagen, kennzeichnet die individuelle Sichtweise.27 Die an das Selbst gebundene Relativität der eigenen Perspektivität, wird typisch nicht mit gesehen, sondern verschwindet hinter „objektiven“ positionalen Strukturen: denen des Hier und Dort, des Jetzt und Dann sowie des Wir und Sie (zeitliche, räumliche, soziale Dimension; vgl. Schütz/Luckmann 1994; Schütz 2005, S. 100f.). Es handelt sich also im strengen Sinne nicht um subjektive,

27 Das Erscheinen als Ich unter Ichen (vgl. Holenstein 1985, S. 59ff.).

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sondern um objektive Perspektivenunterschiede, die an Informationszwängen ankondensieren: „Fast unbemerkt, jedenfalls unvermeidlich kondensieren in diesem Prozeß der laufenden Informationskommunikation Strukturen, die der strukturellen Kopplung psychischer und sozialer Systeme dienen. Wir hatten von Schemata oder, wenn Handlungen involviert sind, von Skripts gesprochen. Das schließt die Bezeichnung von „etwas als etwas“ ebenso ein wie stark verkürzende Kausalattributionen und wie eine pointierende Zuschreibung auf Intentionen, die dazu verhelfen, Verhalten als Handlung zu beschreiben und gegebenenfalls als politisch oder moralisch zu bewerten. […] Es geht, könnte man im Anschluß an eine von Max Weber bis Alfred Schütz reichende soziologische Tradition sagen, um die Reproduktion von Typen (stereotypisierten Erwartungsmustern), die für das Verstehen von Handlungen bzw. Kommunikationen unabdingbar sind und nicht allein schon durch die richtige Anwendung von Worten oder grammatischen Regeln, also nicht schon durch die Sprache selbst, gewährleistet sind.“ (Luhmann 1998, S. 1106f.)

Man könnte demnach sagen, dass die basalen Lebensweltstrukturen, die Strukturen des „field of domination“ (des „Handlungsfeldes“) sich entlang der Diskrepanz der generalisierten Strukturen sozialer Semantiken und ihrer Anwendung, das heißt ihrer Konkretion in leibinvolvierten Interaktionssituationen ergeben. Die Bedingung der Möglichkeit gleichsinniger Beobachtung (über gleichartiges Wahrnehmen hinaus) ergibt sich also aus dem Vermögen der Herstellung gleichsinniger Selektion einhergehend mit der Verwendung eines relational-perspektivisch geteilten, also typische Perspektivendifferenzen zum Ausdruck bringenden Relevanzschemas – also qua Kommunikation. Zugleich bemerkt Luhmann, dass erst diese Selektionsschemata diejenige Komplexität und Kontingenz schaffen, die den Überschuss an Möglichkeiten erzeugen und strukturieren und in diesem Sinne auch die Situation so und nicht anders generieren und symbolisieren. Es herrscht also ein Verhältnis wechselseitiger Bedingung und dieses Wechselverhältnis ist Bedingung der Möglichkeit der Erfassung von Handlungsanforderungen (im Unterschied zu unmittelbaren Anforderungen etwa in Form von Objektwiderständigkeit; vgl. Hochstrasser 1981, S. 33). Schütz hebt dabei den Verbund von Kommunikation und Ähnlichkeit der Strukturen der thematischen und der Interpretationsrelevanzen

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hervor. Ein räumlicher Sektor der Lebenswelt gibt quasi ontologisch einige Elemente als thematisch gleich oder ähnlich relevant zur Deutung auf, und das Deuten erhält durch die Anwesenheit von Partnern ein erweitertes Feld zur gemeinsam geteilten Aufschließung von interpretationsmäßig Relevantem zur Bearbeitung der Vorgabe des thematisch Relevanten. Die Interaktionssituation erzeugt durch wechselseitiges Orientiert-sein einen Explikationszwang. Von der Kommunikation her kommend, abstrahiert Luhmann von diesem Sachverhalt – er gilt als gelöst, sobald Kommunikation irreversibel eine Systemgeschichte anfängt zu entwickeln (so bereits in: Luhmann 2005b, S. 97ff.). Kommunikation löst durch die Kombination von Selektion und Motivation (Zeichenstruktur) dieses Problem – wenn sich Bewusstseine darauf einlassen, und Bewusstseine lassen sich typisch darauf ein, weil sie unter pragmatischen Zwängen stehen und ihnen situativ Kommunikation als Gegebenheit aufgedrängt wird. Allein deshalb bezeichnen Autogenese und Autopoiesis Prozesse, die ineinander verschachtelt sind, sich aber nicht ausschließen. Die Handlung transzendiert das Wirken. Anstatt, wie Schütz, die ausgezeichnete Wirklichkeit zum Ausgangspunkt zu machen, kann man sie also ebenso auf ihre Genese und Einbettung (also ihre Variabilität) hin befragen. Schütz fasst diesen Sachverhalt in den Worten der subjektiven und der objektiven Chance und dort im Grade der Explizitheit und Typizität der Erwartungen. In beiden Fällen lässt sich folgern, dass Schützens Position von einer prinzipiellen Auferlegtheit von Gesellschaft ausgeht, und das mit dem Grade der Transformation ins Wesentliche der Grad von deren Objektivität (in der subjektiven Perspektive) nachgerade steigt – und im Falle des Engagements in Kommunikation (Bildung sozialer Systeme) ist das immer der Fall. Die Gleichzeitigkeit der Kopplung ersetzt eine inkommunikable Divergenz der Perspektiven, die im Kommunikationsprozess vorausgesetzt wird mithilfe von Kodes usw., die grundlegend Selektion und Motivation (Typik und Relevanz) transportieren und so Verständigung ermöglichen (s. auch: Grathoff 1989, S. 166, 365f.).28 Damit diese Situation funktionieren kann, braucht auch Luhmann den Beobachter „erster Ordnung“ in der Weise, in der er bei Schütz als

28 Der gesamte Apparat sozialwissenschaftlicher Typenbildung hängt bekanntlich davon ab, dass Verständigung nur objektiv, das heißt qua Typiken möglich ist und so auch stattfindet.

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engagierter Teilnehmer in relativ-natürlicher Einstellung erscheint. Dieser Teilnehmer bleibt, Schütz zufolge, auch im Denken zumindest partiell an seine natürliche Einstellung gebunden, denn das Leben in der Welt ist es, das alle Systeme von Typiken und Relevanzen letztlich integriert.29 Traum, Phantasie, Kontemplation sind als alternative Wirklichkeiten für das Bewusstsein zwar konstitutive Möglichkeiten und geschlossene Sinnprovinzen, das heißt solche, „in“ denen das Bewusstsein auch befangen sein kann. In der Reflexion jedoch (der Selbstauslegung), auch der Reflexion auf Träume, auf das Nachdenken, auf die wissenschaftliche Kontemplation, werden die „in“ den verschiedenen Sinnprovinzen gesammelten Erfahrungen als die jemeinigen sichtbar: „Folgerichtig enthüllen alle ausgeführten Handlungen, Gedanken und Gefühle, dass sie aus meinem vorherigen Handeln, aus meinem Denken und meinem Fühlen entspringen. Der gesamte Bewußtseinsstrom ist durch und durch der Strom meines persönlichen Lebens, und mein selbst ist in jedem meiner Erfahrungen gegenwärtig.“ (Schütz 2005, S. 90)

Dass dieser Gedanke Ähnlichkeiten zu Luhmanns Konzept der Autopoiesis hat, liegt auf der Hand und ebenso, dass sich generalisierbarer Sinn erst „oberhalb“ gelebter Selbstbezüglichkeit (in Fremdeinstellung) etabliert. Die Sachaussagen bei Schütz und Luhmann sind dahingehend identisch. Als Folge ihrer selbstbezüglichen Schließung sind Bewusstseine auf die Beobachtung festgelegt, selbst Beobachter anhand ihres Körpers zu sein. Luhmann notiert: „Die Autonomie seiner Individualität kann dem Individuum weder konzediert noch zugemutet werden. Sie ist die Form seiner Existenz. Umso mehr unterliegt die Wiedereinführung der sie konstituierenden Differenzen in diese Form gesellschaftlichen Bedingungen; denn sie muß Sinn, Sprache und Anschlußfähigkeit in Anspruch nehmen.“ (Luhmann 1993b, S. 230)

Ohne Selbstbezüglichkeit des Bewusstseins fände keine Kommunikation statt. Das Bewusstsein tut was es tut deshalb „eigenwillig“, was nichts anderes als: selbstdeterminiert heißt. Daher behauptet Luhmann:

29 Die Notwendigkeit zu Handeln verweist auf die große Transzendenz des Todes, wie Schütz mit Heideggers „Sein zum Tode“ annimmt.

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„Sie [die Diskrepanz der Perspektiven; M.K.] reproduziert sich, so vermuten wir, in einer Weise, die durch Kommunikation nie eingeholt werden kann, weil auch die am Kommunikationsgeschehen Beteiligten immer gleichzeitig handeln und beobachten – in Gegenwart eines Beobachters etwas sagen oder schweigen, wo sie etwas hätten sagen können, und mit all dem Informationen produzieren, die nur in ganz geringem Ausmaß wieder Gegenstand von Kom30

munikation werden können.“ (Luhmann 2003a, S. 77f.)

Kommunikation dient demzufolge weniger der Koordinierung von „Handlungen“, sondern die sprachliche Handlungszuschreibung der Koordinierung von Kommunikation (als aktiver Beitrag zur Kommunikation und Thema der Kommunikation über Beiträge und Beitragende). 5.3.4 Subjektiver und objektiver Sinn, Handeln Die Alltags-Wirkwelt ist symbolisch durchzogen. Das Individuum partizipiert episodal an Kommunikation und versorgt sich dabei anhand von Relevanzen und Typiken mit Informationen, die im Wirken „Kontaktgewissheit“ erzeugen (Luhmann 2005bb, S. 191) – bei Schütz: qua Wahrnehmen, Begreifen und Verstehen in unterschiedlichen Graden der Bewusstheit (Schütz 1971, S. 115ff.). Subjektiver und objektiver Sinn weisen so automatisch auseinander – dieses Auseinanderweisen wird nach Luhmann in der Formung der Medien der Kommunikation symbolisiert. Der Wirklichkeit ist quasi Produkt der Verklammerung der Differenz: Indem etwas zum Ausdruck gebracht wird, wird Wirklichkeit konfirmiert, dann jedoch auch durch die Ablehnung des Aus-

30 Etwas ausführlicher an anderer Stelle: „Das Bewußtsein ist immer schneller und vielseitiger als die Kommunikation, an der es sich beteiligt. Es umkreist die laufende Kommunikation in Gedanken und greift auf eine Weise, die nicht kommuniziert werden kann, vor und zurück auf anderes, was schon gesagt ist, nicht zu sagen ist, auf keinen Fall gesagt werden sollte. Das Bewußtsein beteiligt sich an der Rede redend und schweigend. Es kann planen, was es sagt, und verschweigen, was es nicht sagt. Es kann sich beim Reden beobachten und korrigieren. Es kann merken, daß das Gesagte nicht ganz trifft, was gemeint war. […] Und es kann, ja muß so gut wie zwangsläufig, dasselbe Spiel des Überschusses von Bewußtsein beim anderen vermuten.“ (Luhmann 2005bb, S. 189)

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drucks: es ist etwas anderes, aber nicht nichts: es ist real, das ist: objektiver Sinn und Realisat, das heißt: subjektiver Sinn. Realität ist demnach Sinnkonstrukt, das heißt Folge von „Konsistenzprüfungen“ im allgemeinsten, dem Sinnmedium (s. oben Rekursivität der Erfahrung) innerhalb dessen die Differenz von Subjektivität und Objektivität symbolisiert wird. Luhmanns Bestimmung von subjektiv und objektiv schließt sich an diese Überlegung des Wirklichkeitsakzents als eines Sinnproduktes im Alltag an: Objektiv sind die Dinge, die sich in der Kommunikation bewähren. Subjektiv sind die Dinge, die sich in Bewusstseinsprozessen bewähren. Im Bewusstsein erscheint dann als objektiv das, was sich in der Kommunikation bewährt, während die Kommunikation das als subjektiv bezeichnet, was nicht zustimmungsfähig – oder vielleicht besser: jenseits der objektivierten Typik liegt – ist (Luhmann 2002, S. 19). In der Folge dieser Zurechnungsoperationen wird so den Bewusstseinen (bzw. in der Kommunikation: den Personen) gleichsam jene Eigenbeweglichkeit zugestanden, die dann als doppelte Kontingenz Kommunikation als Anschlusskommunikation ermöglicht, ohne „real“ auf die Bewusstseinsseite wechseln zu müssen (und Bewusstseine umgekehrt zwingen, die Realität anderer Bewusstseine entlang der Unterscheidung Innen/Außen zu akzeptieren). Für Schütz verweist subjektiver Sinn auf eine Fremdeinstellung, das heißt auf das „Leben in Akten“: Nur in der Fremdeinstellung werden Erzeugnisse und Zeichen auch als Ausdruck eines subjektiven Sinnes erfahrbar. Gerade dieses differenziert, wie gezeigt, die Wirklichkeit kommunikativer Akte in der Fremdeinstellung gegenüber der Wirklichkeit, die es sonst noch gibt, aus. Objektiver Sinn besteht für Schütz in Erzeugnissen und Zeichen, die „für mich im Aufbau meiner Erfahrungswelt“ eine Rolle spielen, also interpretationsrelevant sind – unabhängig vom Geschehen der Sinnsetzung (Schütz 2004, S. 298). Aller objektive oder objektiv verfügbare Sinn ist Ausdruck dem vorausgegangener sozial vermittelter und bestätigter Typisierungsprozesse in ihrer Selbstgegebenheit. Der Unterschied zwischen subjektiv und objektiv reflektiert sich auf der Bewusstseinsseite entlang der Unterscheidung von Weil-Motivationen, die auf das bestehende gegründet sind und Um-zu-Motivationen, die auf die Zukunft (oder den Eingriff) gerichtet sind. Während Weil-Motivation, grob gesprochen, den Informationsbedarf bezeichnet, also die Frage betrifft, was der Fall ist, zielen die Um-zu-Motivationen auf Erwartungen darüber, was zu tun ist (ebd., S. 423ff.).

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Die Wirkwelt hat so selbst historischen Charakter. Kennzeichen der modernen Welt ist zum Beispiel, dass die wechselseitige Anonymität von Akteuren in sozialen Situationen zunimmt. Man wird in sozialen Situationen weniger durch die Beziehungen mit individuellen Partnern innerhalb unmittelbarer oder mittelbarer Reichweite bestimmt, sondern mehr durch höchst anonyme Typen. Damit nimmt auch die Möglichkeit ab, selbst zu bestimmen, was für Ego relevant ist und was nicht: politische, soziale, ökonomische auferlegte Relevanzen ebenso wie anonyme Typen (Verwaltung, Richter ...) liegen außerhalb seiner Kontrolle und müssen gerade deswegen so berücksichtigt werden, wie sie sind (Schütz 1972, S. 129). Ebenso häufig wie soziale Systeme entstehen dabei Formen der Wahrnehmungsverschränkung, die nicht zu expliziter Kommunikation führen. Art und Umfang, ja, vielleicht die Möglichkeit lebensweltimmanenter „kommunikationsfreier“ Begegnungen überhaupt, sind jedoch ebenfalls historisch variabel. Wann das eine in das andere übergeht, ist dann nicht nur eine Frage der Ethologie (nach dem Muster: unter Anwesenheit ist NichtKommunikation unmöglich; s. Watzlawick/Beavin 1972, S. 181ff.), sondern auch des sozio-historischen Apriori als in „echten“ WirBeziehungen erlernten Markierungen sozial relevanter Situationen als objektiver Weil-Motive, die eine subjektive Einstellung (eine Fremdeinstellung) erzwingen. Die Bildung sozialer Systeme hebt ja grundsätzlich das In-der-Welt-Sein der Beteiligten nicht auf. Schütz hat das Verhältnis zwischen objektiven und subjektiven Relevanzen und dabei insbesondere die Transformation auferlegter Relevanzen in wesentliche Relevanzen als Übergang aus dem objektiven in den subjektiven Bereich am Beispiel der symbolischen Appräsentation der „Gleichheit“ untersucht (Schütz 1964c). In der gebotenen Knappheit lässt sich sagen, dass dabei unter anderem jener Prozess der Bildung von „agency“ ins Auge gefasst wird, der etwa vom Neo-Institutionalismus beschrieben wird. Die Integration des Pragma bezieht sich auf die Bildung nicht nur der Welt, sondern vor allem des Aktivitätszentrums, das man selbst „ist“. Da es aber eingelassen ist in die „Teilhabe“ an Weltraum und Standardzeit, und da Weltraum und Standardzeit „Produkte“ der sozialen Wissensanhäufung und der materialen Umgestaltung der Lebens-Welt sind, bedeutet das, dass das Erleben des Auferlegten als wesentlicher Relevanz, im obigen Sinne des selbstverständlich Hingenommenen (oder Hinzunehmenden) geschieht: Objektivität wird durch die Umformung in Subjektivität als

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Moment der Bildung oder Deformation der Wirkenskapazität erlebt. Schütz unterscheidet mit Blick auf das Einzelindividuum zwischen auferlegten Relevanzstrukturen existentieller Gruppen, freiwilliger Gruppen und „Fremdgruppen“. Im ersten Falle kommt, wenn man so sagen darf, die Objektivität der Relevanzen am deutlichsten zum Ausdruck, der Grad der Selbstverständlichkeit ist am höchsten, ein Interpretationszwang in der Regel weder möglich noch nötig (Denken wie üblich). Der Grad der subjektiven Relevanz, das heißt der Auseinandersetzung mit dem Status des Auferlegtseins, steigt im Rahmen freiwilliger Vereinigungen und erreicht unter spezifischen Bedingungen ihr Maximum, wenn mehr oder minder die ganze individuelle Persönlichkeit betroffen ist: Mit Schütz gesprochen interpretieren sich Gruppen in symbolischen Appräsentationen, zu denen wiederum gruppenspezifische Deutungsroutinen gehören. Diese symbolischen Appräsentationen werden auch durch Fremdgruppen interpretiert. Da diese über andere Formen der Selektion und Motivation (über andere Relevanzstrukturen und Typiken) verfügen, werden sie zu abweichenden Interpretationen kommen. Sie interpretieren die qua Darstellungs- und Deutungsschemata entstandenen Symbole mithilfe ihrer Schemata. Verfügen Fremdgruppen über das Vermögen, deren Relevanzmuster auf die eigene Bezugsgruppe zu übertragen, ist das „ganze Individuum“ betroffen. Dies gilt in zweifacher Weise: Zum einen müssen diese – im „harmlosen“31 Falle eines selbsttätigen Integrationsversuchs „erlernt“ werden. Zum anderen kann damit eine objektive Klassifikation verbunden sein, die unter Absehung subjektivierender (personaler) Elemente den Betroffenen als Teil einer Gruppe trifft und ihn ausschließlich in der objektivierten Form als Gruppenmitglied zum Beispiel von Leistungen ausschließt. Schütz folgert aus seinen Untersuchungen: „Wenn man die Manipulation von Symbolen – zur Belehrung, Bekehrung oder Täuschung – verstehen soll, muß jedenfalls vorher die innere Struktur der Symbole untersucht werden.“ (Schütz 2003b, S. 197)

Die „innere Struktur“ solcher Symbole, etwa Liebe Recht, Freundschaft etc. sind in der Tat ihre Kodierweisen und Semantiken, kurz: sind in Form gebrachte Kommunikationsmedien zur Bildung sozialer

31 Harmlos meint hier lediglich: im Vergleich zum zweiten Fall der auf der Ausgrenzung.

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Systeme. Ihre Kodierweisen greifen nun in spezifischer Hinsicht auf das „Aktivitätszentrum“ zurück. In der Art des Rückgriffes konstituiert sich der Spielraum dieses Aktivitätszentrums.32 Dass dies auch für den Schütz’schen Ansatz zu gelten hat, zeigt Srubar anhand des Verlusts der „produzierten Zeit“ in Situationen, in denen die gesellschaftlicher Institutionen sozialer „Taktgebung“ (insbesondere der Ökonomie)33 soziale Kollektive nicht mehr erreichen. Anhand einer Re-Lektüre der Situationsbeschreibung der Arbeitslosen von Marienthal in der gleichnamigen Studie sowie anhand einer Untersuchung zu Gefängnisinsassen wird das aus dem Zeitverlust resultierte Unvermögen, den Alltag aufrecht zu erhalten bzw. zu gestalten gezeigt (Srubar 2007d, S. 137ff., siehe auch Srubar 2007c, S. 110). Srubar erwähnt, dass in der Studie zu den Arbeitslosen von Marienthal eine signifikante Differenz in der Destruktion des Zeiterlebens bei Männern und bei Frauen beobachtet wurde. Die Zeitstruktur der Frauen war nämlich weiterhin intakt, „[…] der Tag der Frauen [war; M.K.] von Handlungen, die sich an den Familienverpflichtungen orientierten, ausgefüllt. Für die Männer, die früher ihre Handlungen am meisten an der durch die produzierte Zeit gesetzten Tagesordnung orientierten, ergab sich nach ihrem Ausbleiben fast keine Möglichkeit, ihre Handlungen in der Zeit sinnvoll zu entwerfen.“ (Srubar 2007d, S. 138)

Offensichtlich „funktionierten“ die objektiven Skripts, also die Selbstbezüglichkeit institutionalisierter Handlungsmuster im Luhmann’schen Sinne im Feld der „Familienarbeit“ weiterhin. Selbstbezüglichkeit von Handlungen als soziale Skripts oder Wissensstrukturen meint, dass sie – unabhängig von der Bedeutung, die diese oder jene Handlung für

32 Dass Luhmann die gruppen-, regionen- oder kulturspezifische Relativität von Symbolen und ihren Systemen der Selektion und der Motivation kaum untersucht, heißt nicht, dass er sie nicht wahrnimmt (zum Beispiel Luhmann 1995, S. 568ff.). Richtig ist, dass er das primäre Problem in der Frage sieht, ob ein Funktionssystem überhaupt durchgesetzt und „praktiziert“ wird oder nur formal existiert, etwa im Falle von „failed states“. 33 Zur Veränderung der „objektiven“ Zeitstruktur im Übergang von der handlungszentrierten Zeit zum Zeitraum im Gefolge der Markt- und Produktionsentwicklung am Beispiel des Aufkommens der Turmuhren Dux (1992; S. 333ff.) und Adam (2005, S. 90ff.).

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einen Einzelnen haben mag – zunächst eine objektive Bedeutung haben: Einfach gesagt, heißt Handlungsplanung nichts anderes, als einem sozial vorgegebenen Pfad zu folgen, der zum Beispiel dazu führt, dass ein Baum gefällt wird. Der Handlungsplan Baum fällen besteht aus Schritten, die ihn ausführen – und die man in den allermeisten Fällen lernt (Autofahren, Geld zählen, einen Text schreiben, einen Brief lesen usw.). So betrachtet, ist der Handelnde nur Anhängsel der Handlung, nicht umgekehrt. Es bricht im obigen Beispiel nicht nur die Zeitordnung, sondern es brechen bei den Männern auch die Muster von „agency“ zusammen. Insofern könnte man den Vorgang auch so interpretieren, dass die sozial generierten Handlungsschemata ihre Realisierbarkeit verlieren und dadurch die Interpunktion des „inneren“ Zeitgeschehens ins Schlingern gerät. Die „latente Alltagskultur“ (s.u.) kann sozusagen nur noch negativ wirken und der Alltag selbst wird, abgekoppelt von Systembezügen, porös. Generalisiert man diesen Befund, so muss unterschieden werden zwischen allgemeinen Strukturen des Weltzugangs qua Denken, Verhalten und Sprechen unter, wenn der Ausdruck erlaubt ist: priomordialer Sozialität – und ihrer jeweiligen historischen Konkretion, das heißt ihrer Überformung mit objektivem Sinn – oder mit demjenigen symbolischem Sinn, der die Folge der Selbstinterpretation von Gesellschaften ist. Das im Großen und Ganzen relativ invariable Moment ist die Art und Weise, in der das Bewusstsein (bzw. der Mensch) „in der Welt“ beheimatet ist – wobei diese Beheimatung sowohl aus Alltäglichkeit als auch aus Transzendenz besteht. Die Frage lautet dann, wie eingangs angedeutet, inwieweit das Handeln diesseits oder jenseits der Demarkationslinie zwischen Universalität und historischer Spezifik anzusiedeln wäre. Dazu müssen wir uns nun der pragmatischen Rückversicherung der Handlung im Zusammenhang von Leiblichkeit und Selbstsorge zuwenden: Ist das pragmatische Motiv als Erlebnisebene der Wirklichkeit des Alltags ein generatives Moment oder ein konstruktives Element sozialer Sinnverarbeitung?

5.4

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UND PRAGMATISCHES M OTIV IN DER KOMMUNIKATIVEN S ITUATION

Betont man den Aspekt der Selbstintegration und die Integration des Selbst in die Wirkwelt qua Wirken, spricht man eine leibliche Reali-

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sierungsweise des Bewusstseinsdaseins an, die im Kontext der Systemtheorie die Kreuzung von Autopoieisis und Umweltkopplung qua Körper und Verhalten bezeichnet. Das „hinter“ der Welt sozialer Systeme Bewusstseinsleistungen stehen wird systemtheoretisch ebenso wenig bestritten wie die Leiblichkeit der subjektiven Erfahrungswelt und die Eigenständigkeit dieses Zugangs zur Welt und den sie begleitenden Bewusstseinsspannungen (s. Luhmann 2005bb, S. 182ff.). Im Gegenteil: Ohne eine bewusstseinsgesteuerte soziale Verhaltensintegration ist weder das Zustandekommen von sozialen Systemen noch deren autopoietische Sinnproduktion überhaupt denkbar. Bestritten wird nur, dass die Eigendynamik und Sinnproduktion des Sozialen aus Bewusstseinsleistungen bestehe – sie besteht in systemtheoretischer Perspektive ebenso wenig aus Bewusstseinsprozessen wie aus Prozessen der physikalischen Welt. Hierfür, sahen wir im vierten Kapitel, verwendet Luhmann die Vorstellung der Kopplung. Spricht man also vom Handeln als einem im weitesten Sinne distanzierenden Bewusstseinsakt zur Informationsgenerierung (s.o.), so wird eine historische Form des Handelns berührt, bzw. eine sozial konditionierbare Bezeichnung für einen Erkenntnisstil, der auch mit einer „wertenden Stellungnahme“ verbunden ist. Im Sinne der im dritten Kapitel vertretenen Annahme, dass „Handlung“ empirisch betrachtet im Alltag nicht „permanent“ thematisiert und aktualisiert wird, vertritt Luhmann die Ansicht, das eine „Festlegung“ auf Handlung (oder auf Erleben) nur dann zustande kommt, „[…] wenn sie gebraucht wird. Sie erfolgt in Verwendungszusammenhängen, also nur dann, wenn es für die Autopoiesis der Kommunikation darauf ankommt. So aktiviert also die Zuspitzung von Kommunikationsproblemen in Konstellationen, die für Medienbildung in Frage kommen, Unterschiede der Zurechnung als Erleben bzw. Handeln und der Markierung als Ego bzw. Alter, die andernfalls nicht vorkommen würden und auch nicht aus der „Natur der Sache“ begründet werden können.“ (Luhmann 1998, S. 335)

Demzufolge müssen „Bezugsprobleme“ und „Problemkonstellationen“ vorliegen, dass es zu einer Explizierung von Willkür und Welt in Form von Handeln und Erleben kommt, die wiederum Möglichkeiten der Einschränkung von Willkür und Wirklichkeitsannahmen beinhaltet. Paradigmatisch hierfür stehen die Sprache und ihre Anwendung. Wenn, wie Luhmann vorschlägt, die Handlung im engeren Sinne als

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Artefakt der Kommunikation zu verstehen ist, muss die Plausibilität und Verstehbarkeit der Handlung also hier gesucht werden. Damit wird jedoch die verbindende Bedeutung der Handlung zum pragmatischen Motiv fraglich – es sei denn, es ließe sich zeigen, dass eben dieses pragmatische Motiv als Folge der Kopplung von Bewusstsein und Kommunikation „bewusstseinsfähig“ wird und nicht alleine aus dem Pragma abgeleitet werden kann. Dann wäre Luhmanns Ansatz mit dem Schützens auch konstitutionstheoretisch kompatibel. Dabei muss bedacht werden, nicht hinter Schütz auf Weber zurück zu fallen, denn von der Kommunikationserfahrung her könnte Luhmanns Ansatz so gelesen werden, dass es eher die „Stellungnahme“ als das Wirken ist, die zur Konstitution (und Verstehbarkeit) der Handlung führt.34 Der Hinweis Srubars, die Wir-Beziehung sei eine Wirkensbeziehung, die Entstehung des Sinnhorizonts der sozialen Welt daher pragmatisch bedingt und zu erklären, verweist ja letztlich auf die Überwindung der Vorstellung, Handlung sei durch eine abstrakte Wertbeziehung zu charakterisieren. Vielmehr wird sie auf das Wirken und Tun selbst bezogen. Wie ist diese Verwicklung aufzulösen? 5.4.1 Pragma und Kopplung Wie können Kommunikationen verstanden werden, wenn sie nicht – wie bei Schütz – unzählige Wirkleistungen ideal appräsentieren, sondern ein Eigenleben haben, das von den subjektiven Perspektiven und deren lebensweltlicher Strukturierung verschieden aufgebaut ist? Eine Antwort muss die Frage modifizieren: dahingehend, dass das pragmatische Motiv als Bedingung der Möglichkeit des Verstehens selber an der Grenze zwischen bewusstseinsförmiger Erlebnisverarbeitung, korporealer sozialer Verkehrsformen und der kommunikativen Semiosis gebildet wird, also im Rahmen der Überschreitung des engen Korridors wesentlich-aktueller Perzeptionen des einzelnen Bewusstseins. Das pragmatische Motiv speist sich demzufolge nicht aus dem Pragma selbst (oder nicht alleine aus diesem). Die historische Form des prag-

34 Einhergehend mit der für die deutschen Sozialwissenschaften um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert „zeittypischen“ Aufladung des Handlungsbegriffes qua „imperialem Gestus, heroischem Verzicht und der Forderung nach einer asketischen Lebensmethodik“ (Kamphausen 2006, S. 267).

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matischen Motivs, die Handlungsorientierung, wäre demzufolge tatsächlich vor allem historisch (und gesellschaftlich) zu verstehen. Schützens Rückgang auf den Begriff der Lebenswelt – genauer, auf die darin als Nukleus enthaltene Wirkwelt – beinhaltet das Postulat, dass alles Wissen unter der Ägide der Weltzugewandtheit konstitutiv auf die biografische Situation hin und diese auf die Ängste und Wünsche der verstrickten Akteure hin aufgebaut ist. Aus ihr ergibt sich die Auslegung der Welt auf ihre Handlungspotenziale hin – als Wissensbezogenheit des Handelns und Handlungsbezogenheit des Wissens.35 Auch die Sprache folgt dieser Struktur folgt, als Folge der Genese der Sprache in „Wir-Beziehungen“, die als Wirkensbeziehungen zu verstehen sind. (Intentionales) Selbstverhältnis der Handlungskonstitution und intersubjektives Verhältnis der Wir-Beziehung bestimmen die Struktur der Sprache, weil beide Pole der Sprachkonstitution pragmatisch verankert und motiviert sind. Luhmann zieht dieses Argument auseinander in eine selbstreferentielle Zur-Sache-Hin-Orientierung des Bewusstseinsprozessierens und

35 Mit Blick auf die Strukturen der Sozialwelt ist interessant, dass Schütz zwischen verschiedenen Typen der Erfassung von Mit- und Nebenmenschen unterscheidet und dass diese Unterscheidung entlang der Differenz zwischen Person und Handlung verläuft. So versteht Schütz Typisierungen auf der Basis der mehr oder minder intimen Kenntnis der Person als personale Typen, während er anonyme Funktionsträger eher im Sinne von Handlungstypen rekonstruiert, über die die Akteure in relativ-natürlicher Einstellung ihre Umwelt und Mitwelt gliedern. Im zweiten Falle finden sich unterschiedliche Begriffe zur Beschreibung der Form der Typisierung. Sieht man sich die Beispiele näher an, dann sind immer Handlungstypen gemeint: der Briefträger, der Schaffner, deren Merkmal es ist, bestimmte Handlungen zu vollziehen, die objektiv eine Verlässlichkeit verbürgen – eben weil es sich um Funktionsträger handelt (und nicht um Personen im engeren Sinne des Wortes; vgl. Schütz 2004, S. 285ff.). Die radikale Differenz, die Schütz zwischen den Erlebnisweisen der Mit- und der Nebenmenschen zieht, wird jedoch in der Tradition der Schütz-Rezeption zugunsten eines Kontinuums umgedeutet (s. zum Beispiel Endreß 2006, S. 74). Hier lohnt es sich, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass die immer schon anonymisierte Typisierung nach Handlungen möglicherweise zurückwirkt in die Bildung personaler Typen im Rahmen „intimer“ Sozialbeziehungen – und nicht umgekehrt.

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die Transformation dieses Bewusstseins durch „Ansteckung“ mit Sprechereignissen, aus denen heraus ein Selbst auf der fremdreferentiellen Seite des Bewusstseinsprozessierens entsteht. Die fremdreferentielle Seite ist es, die sozusagen die Welt bestimmt, in der „ich“ vorkommt. Luhmann will also darauf hinaus, dass sich die Bewusstseinsakte nicht radikal wandeln können, sie bleiben immer subjektiv, werden aber durch Teilnahme an Kommunikation gewissermaßen pragmatisch, das heißt weltzugewandt. Operativ betrachtet sind sie nicht „intersubjektiv“ und werden nicht qua Sozialisation und Interaktion „intersubjektiv“. Vielmehr argumentiert Luhmann, dass die Sprache die im Prinzip gleich bleibende Bewusstseinsleistung anders ordnet (vgl. Kapitel vier): • Die ausgezeichnete Funktion der Sprache als Träger von Relevanz erfasst Luhmann, indem er sie als Wahrnehmungsmedium konzipiert. Der Vorgang der Inversion der Sprache ist hiermit bezeichnet. Er erklärt das individuelle Vermögen, Sprachzeichen zu „verstehen“ also an Kommunikation teilzunehmen – unter Ausbildung pragmatischer (das heißt eben auch: kontrollierter) Orientierung unter Zugzwang. Die Leistung der Individuen bestehen für Luhmann darin, Wahrgenommenes in Wahrnehmbares zu transformieren, also zu sprechen oder sonst irgendetwas zu tun, was seinerseits beobachtet werden kann. Kürzer formuliert: Nur Individuen sind in der Lage Zeichen zu setzen und gesetzte Zeichen auf ihrer Substratebene zu erfassen (nämlich als Gegenständlichkeit und als Zeichen: apperzeptiv und appräsentativ).Dies bedeutet, dass Sprache nicht als System, sondern als Gesprochenes, Erinnertes, in Schemata gebrachtes, also sozial konditioniertes (Geformtes) eine Rolle spielt. • Dieses Vermögen liegt in der Aneignung der Zeichenhaftigkeit der Sprache begründet, weil diese jene Eigenschaften symbolisiert und so bewusstseinfähig macht. • Von der Geltungsproblematik hergedacht dreht sich die Fundierungsfrage um: Wie kommt es zu einem individuellen SelbstErleben reflexiven Gehalts – also zu einem Selbstbewusstsein? Erstens über Leiblichkeit und Sorge und zweitens über Ausdruck und Sozialität, also über die Fremdreferenz des Bewusstseins. Es ist offensichtlich, dass beide Faktoren zusammengedacht werden müssen, aber Luhmann hier kein Binnenverhältnis „im“ Indivi-

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duum konzipiert, sondern ein Innen-Außen-Verhältnis zwischen individueller und sozialer Person. Die Schwierigkeit, Sprache auf Handeln rückzubeziehen, kann mit Luhmann über Verhalten angegangen werden. Damit wird strukturelle Kopplung explizierbar. Sie besteht aus einer doppelten Verschränkung. Gezeigt wurde, dass Luhmann soziales und psychisches Sinngeschehen asymmetrisch zusammenbringt: Als Verhältnis von Energie und Information im weitesten Sinne. Sprache ist so einerseits an ein Substrat gekoppelt und andererseits – als faktisches – ein Medium-Form-Verhältnis. Medium wird Sprache für Kommunikation durch die Bindung des Bewusstseins, in dessen Disposition über Verhalten, als der „Produktion“ des materialen Substrats der Sprache und der symbolischen Appräsentation dieser Gekoppeltheit in Semantiken (etwa der Person, des Individuums etc.). Dieser Zusammenhang erklärt die Zeichensetzung als Form für Kommunikation und zugleich als Anzeichen der (temporären), idealen Selbstbindung. Kopplungen ermöglichen: Prämissen für Kommunikation in Form der Akte der Selbstauslegung spezifischer Wahrnehmungen: die sinnhafte Selbstselektion der Bewusstseine. Diese umfassen unter anderem auch habituelle Dispositionen als strukturierten Körper- und Gedankenbewegungen, die nicht (immer) intentional, das heißt bewusstseinsmäßig kontrolliert werden können und müssen und dennoch Folgen von „Sozialisation“ im weitesten Sinne sind und in Wahrnehmungsprozesse einfließen.36 Soziale Verhaltensintegration qua Kopplung, einschließlich „asemiotischer Kommunikation“37: Asemiotisch sind Kommunikationsformen zu nennen, die a) die grundsätzliche, Semiosis in Gang setzende Negationsmöglichkeit sprachlicher Äußerungen umgeht

36 Als Beispiel: die instruktive Studie zur gescheiterten Inkorporation eines professionellen Habitus im Handlungsfeld der Sozialarbeit (Ackermann/Owczarski 2000). 37 Bei Luhmann findet man die unglückliche Bezeichnung „unbewusste Kommunikation“ (Luhmann 1992, S. 38). Unbewusste Kommunikation meint so etwas wie latente Verhaltensabstimmung über die Verschränkung von Wahrnehmungsprozessen. Den Ausdruck „asemiotische Kommunikation“ prägt Srubar (2006b; 2008).

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und daraus folgend b) nicht über Information, Verstehen und Mitteilung läuft und damit auch nicht über Selektion und Motivation. Die kommunikative Semiosis stützt sich ausschließlich auf die Verkettung von Kommunikation selbst, geschieht also durch eine Schließung, die eine reflexive Gestaltung erlaubt, in der die semantischen Formen angewandt und vorausgesetzt werden, in der also die faktischen Bewusstseinsleistungen durch sozial typisierte ersetzt werden. Hier können wir erkennen, dass Schützens Modell des Homunculus bei Luhmann benutzt wird als Beschreibung der Typisierungsvorgänge in Kommunikation und nicht: im Denken des einsamen Wissenschaftlers.

Wenn Autogenese besagen soll, dass das Soziale individuelle Handlungen ordnet, indem sie sie orientiert, dann wird man mit Luhmann entgegnen: Die soziale Autogenese als Teil der gesellschaftlichen Autopoiesis ordnet nur soziales, das heißt genauer: kommunikatives Geschehen, indem sie es mit Identität – qua Kodierung, Programmen, Rollen, Semantiken usw. – „versorgt“. Dies hat in dem Sinne zu gelten, in denen Schütz die objektiv geltenden Muster von Relevanz und Typik und ihrer symbolischen Struktur vorstellt. In der Schütz’schen Theorie werden diese appräsentierten Strukturen erlernt und ihre appräsentierende „Seite“ in der Wirkwelt besteht aus den unzähligen Interaktionen und Aktivitäten Einzelner. In der Wirkwelt werden sie mit Leben gefüllt (man geht in die Kirche, bleibt als Paar zusammen, zahlt seine Brötchen usw.). Man erlebt in dieser Welt Menschen als wirklich, dagegen soziale Sachverhalte nur als Objekte oder „ideale Beziehungen“ (Schütz 2003b, S. 193ff.). Im vierten Kapitel habe ich versucht zu zeigen, dass dies auch für Luhmanns Theorie zu gelten hat. Dabei die Sinngrenze zwischen subjektiver und sozialer Sinnverarbeitung zu akzeptieren heißt, zu unterscheiden zwischen zwischenmenschlichem Verkehr und Kommunikation. Die Problematik in der Schütz’schen Theorie besteht gerade in der Behauptung, man könne unmittelbar am sprachlich vermittelten Gedankenstrom des Anderen teilnehmen (in der „lebendigen Gegenwart“). Woran man jedoch teilnimmt, ist die sprachliche „Vermittlung“ bzw. das sprachlich organi-

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sierte Geschehen sowie die leibliche Interaktion (Srubar 2008, S. 484).38 Luhmann verschiebt die Bedeutung von Leiblichkeit und „Wirkweltorientierung“ in die Prämissen der Bildung sozialer Systeme und also in die Präexistenz einer historischen Kulturwelt, in der soziale Begegnungen die Form der Kommunikation annehmen können, aber nicht müssen. Diese Prämissen bestehen jedoch sowohl aus den Resultaten gesellschaftlicher Kommunikation als auch aus den selbsregulativen Formen und Resultaten des Denkens im Zuge der zwischenmenschlichen Begegnung. Soziale Systembildung ist jener Modus dazwischen, mithilfe dessen die Probleme der Erwartbarkeit und Wiederholbarkeit institutionalisiert, bestätigt und modifiziert werden. Srubars Schlussfolgerung mit Blick auf die alltägliche Erfahrung von Transzendenz als Motor der Konstruktion sozialer Wirklichkeit ist also auch bei Luhmann an zentraler Stelle verortet (s. Kapitel vier). Mit anderen Worten: Es ist die Transzendenz der Kommunikation, die dem pragmatischen Motiv zugrunde liegt. 5.4.2 Pragmatisches Motiv, Sprache und Kommunikation Die pragmatische Dimension holt Luhmann in der Unterscheidung von Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn der Wahrnehmung (Wahrnehmung und Anschauung bzw. imaginative Wahrnehmung; Luhmann 1997, S. 16ff.) ein. Die Welt als Gegebenheit und als Relevanzstruktur mit unterschiedlichen Aufmerksamkeitsschwerpunkten ist Bedingung der Möglichkeit, überhaupt pragmatisch orientiert zu sein. Erst die Anschauung fügt der Welt als solcher Zeit- und Raumhorizonte hinzu und macht sie bedeutsam. Dies gibt vor, die Welt zu durchsuchen und zu gestalten. Dieses Thema ist uns aus Schützens Relevanzstudien bestens vertraut. In der Systemtheorie wird die Möglichkeitsform über Kommunikation programmiert und damit umgekehrt auch aktuelle Wirklichkeit konfirmiert (oder negiert; ebd., S. 13ff.). In Luhmanns Worten:

38 Es ist ja bekannt, dass auch der Sprecher sich einen Reim auf das zu machen pflegt, was er selbst sagt und zwar während und nachdem er sagt, was er sagt (siehe auch, mit anderem Schwerpunkt Merleau-Ponty 1974, S. 210ff.).

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„Nur wenn Bewußtseinsvollzüge […] sozialisiert sind, kommen sie über eine dumpfe, nur durch das jeweilige Wahrnehmen bestimmte Bewußtheit hinaus; nur über Sprache und über vorstellbare Sequenzstrukturen, die an sozialen Modellen orientiert sind, können psychische Systeme eigene Komplexität aufbauen. Insofern ist die Gesellschaft, obwohl Umwelt psychischer Systeme, Mitbedingung ihrer Komplexität.“ (Luhmann 1993b, S. 163)

Kommunikation ordnet „der Sprache“ operativ – selektiv und sequentiell – Schematisierungen auf und psychische Systeme „partizipieren“ an diesen Schematisierungen, das heißt ordnen das Bewusstseinsgeschehen in Teilen nach den kommunikativ geordneten Sprachschemata und sie tun dies auf der Basis der Steuerung des Verhaltensorganismus qua Wahrnehmung, also qua Kopplung in der Sprachverwendung.39 In Luhmanns Verständnis ist demzufolge Kommunikationsteilnahme sozusagen ritualisiert und findet die Evolution der Kommunikation ihren Ausgang in eben jener prä-semiotischen, gleichwohl subjektiv sinnhaften Gesten- und Körperkommunikation im Raume, die nicht selbst „diskursiv“ wirkt.40 Wir wissen, dass die ritualisierten Formen des Handelns den pragmatischen vorangehen (so etwa: Swidler 2003, S. 131f.). Die Sprachpragmatik ist in diesem Sinne „ritualisiert“, nämlich form- und verstehensabhängig entlang der Verkettung von Sprachereignissen. Sie wirkt auf struktureller Ebene disziplinierend und erreicht ihre Synchronisationsleistung erst auf ihrer Innenseite, auf der Seite der Zeichen und Symbole und deren Sinn (als Symbolisierung der Kopplung des Getrennten) und auf ihrer Außenseite, also in dem, was Bewusstseine sehen und wie sie damit umgehen. Das pragmatische Motiv konstituiert sich so als ein Handhabbares erst im Prozess seiner Zurichtung qua Teilnahme am rituellen Moment der Kommunikation. Erst unter deren Bedingung kann so etwas wie ein voluntatives Fiat (es geschehe!) sich ausbilden. Wenn von einer

39 Deshalb ist es für Luhmanns Ansatz wichtig, Sprache nicht als System zu verstehen. Eine Kritik daran, Sprache nicht systemisch zu fassen übte zuerst Künzler (Künzler 1987) und jüngst Srubar (Srubar 2005, S. 620). Allerdings geht Srubar nicht von einem operativen, sondern von einem strukturalistischen Systembegriff aus und meint die in den Sprachstrukturen feststellbaren Strukturen der Syntax, der Grammatik, Syntax usw. 40 Vgl. dazu die Analyse des romantischen Konsums als Ritual bei Illouz (Illouz 2007, S. 158ff.).

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pragmatischen Konstitution sinnhafter sozialer Wirklichkeit ausgegangen wird, so muss, folgen wir Luhmann, zunächst geklärt werden, wie es zum Vorrang des pragmatischen Motivs kommen kann – in dem Sinne, dass man sich seinem Tun und Lassen überantworten kann. Auch die „Angst vor dem Tode“ (Welt) und die Notwendigkeit der Aktion (Selbst), im Sinne Heideggers und Schützens hat konstitutionelle Grundlagen, etwa der bewusstseinsimmanenten Differenzierung von Ich-vordem, Ich-im-Jetzt und Ich-Fortan, also in einer Zeitlichkeit, dass zwar jedes einzelne Bewusstsein selbst verfügbar machen muss, aber nicht ohne Kopplung mit verschiedenen Umweltsegmenten. Es ist deshalb nahe liegend, davon auszugehen, dass das pragmatische Motiv in seinem Vollsinne eine Funktion der kollektiven Organisation der Lebenspraxis strukturell individuierter Lebewesen darstellt, die „ihre“ exzentrische Positionalität zu erleben und zu gestalten erlernen: sie bringt letztlich ihre Stellung gegenüber der Kommunikation mithilfe von Mitteln, die strukturelle Kopplungen bezeichnen, zum Ausdruck. Auf dieser allgemeinsten Ebene ist das „positive“ (aktivische) physisch-habituelle Korrelat der Negation ganz offensichtlich das der Gewalt: die Vernichtung, die Auslöschung, die Liquidation des Lebens. Die Sinngenesis eröffnet demgegenüber nicht einen unbefragten Boden, sondern einen grundsätzlich fragwürdigen im Sinne des pragmatischen Motivs: Sie eröffnet Kontingenzen. Nicht Weltoffenheit, sondern Negation und Spracherwerb weisen soziale Ordnung als Folge der Verkopplung des sozialen Lebensvollzugs mit Kommunikation und qua Kommunikation aus. Alles andere wären eher Aggregatzustände von nur temporärer Dauer. Im vorangegangenen Abschnitt war es mein Anliegen, zu zeigen, dass die grundsätzliche Transzendenz der Kommunikation Teil der Lebensweltstrukturen bildet – woraufhin Luhmann die Eigenständigkeit der Kommunikation begründet sieht. Es ist nicht nur die Transzendenz des Anderen, sondern eben auch die Transzendenz der Kommunikation (Interaktion) selbst, die ein reflektiert-reflektierendes Verhalten in Kommunikationssituationen und dann auch darüber hinaus ermöglicht. Die Tragweite dieser Transzendenz bezieht sich meines Erachtens auf das pragmatische Motiv in Abhebung von der Theorie des Handelns. Deshalb bleibt Schützens Ansatz, als Handlungstheorie gelesen, einseitig. Die genannte Transzendenz hebt nämlich den bruchlosen Übergang von der Betonung des pragmatischen Motivs zu einer pragmatischen Theorie des Handelns geradezu notwendig auf. Denn es

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ist die Sprache in Aktion, die das Intersubjektivitätsproblem als Reproduktionsmechanismus der Kommunikation konstituiert. Ingesamt erhalten wir damit den Beleg, dass die pragmatische Dimension der Lebensweltlichkeit ihren Platz in Luhmanns Theorie findet, aber in einer anderen Weise, die weitere Analysemöglichkeiten sowie eine genauere Beschreibung der Funktion(en) von Handlungssemantiken – mit und über Luhmann hinaus – ermöglicht. Diesem Anliegen sind die folgenden Abschnitte gewidmet.

5.5 H ANDLUNGSSEMANTIK , SOZIALE S YSTEME UND ALLTÄGLICHE L EBENSFÜHRUNG Das Bewusstsein in seiner leiblichen Gekoppeltheit ist zwingend vorausgesetzt, weil es nicht „geordnet“ wird, sondern sich qua Kopplungen und Irritationen selbst ordnen muss – indem es leiblich wahrnehmend und agierend im Raume mit anderen steht und an Kommunikation teilnimmt. Die sich anschließende Frage lautet, wie Bewusstsein trotz der „Freiheitsgrade“, die ihm aufgrund seiner Randstellung zufallen, am Geschehen beteiligt bleibt, wenn es nicht „seine Handlungen“ sind, die konditioniert werden und es demzufolge durch noch so viel Zureden nicht verbal zur Kooperation gezwungen werden kann. Die Antwort lässt sich zuspitzen auf die Konstruktion eines Selektionsfilters, der aufgrund seines Realitätsgehalts (reale Konstruktion) zur Selbstselektion im Modus eines handlungsbezogenen Erkenntnisstils animiert. Das heißt: Die moderne Leistungsstrukturen ermöglichenden symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien können als elaborierte Handlungssemantiken beschrieben werden (5.5.1), die entweder auf einer „symbiotischen“ Vermittlung zum organischen Substrat aufruhen oder aber, wenn dies wie etwa im pädagogischen Feld nicht der Fall ist, auf der Einführung und Restringierung von Zukunft (5.5.2). In beiden Fällen zielen Handlungssemantiken auf Herstellung von „inviolate levels“, also auf eine negative Beitragssicherung im Rahmen kultureller Normalität und also: des Alltagslebens (5.5.3).

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5.5.1 Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien als Handlungssemantiken Die grundlegenden Mechanismen des Ineinandergreifens von Leben/Verhalten, Bewusstsein und Kommunikation vermitteln uns noch keine Einsicht über die Genesis und Geltung einer spezifischen sozialen Ordnung, die soziale Systembildung organisiert und zugleich bewusstseinsfähig ist. Hierfür haben wir bislang einen funktionalen Mechanismus der Transformation der Verhaltensgrundlagen der Gesellschaft kennen gelernt und festgestellt, inwieweit die genannten Ebenen miteinander verbunden sind, also hierarchisch abhängig sind (Kapitel vier). Wir haben weiter gesehen, dass jede soziale Systembildung (im Unterschied zur Bildung von Bewusstsein) mit einer klaren Selbstexplikation einherzugehen hat und dazu gehört auch die Form der semantischen Selbstordnung. Soziale Ordnung entsteht daher nach Luhmann entlang der Unterscheidung von Semantik und Struktur, die wiederum dann Chancen auf Ausdifferenzierung haben, wenn die Annahme von Kommunikation mithilfe symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien organisiert und auch psychisch anschlussfähig gemacht werden kann. Im Kontext der bisherigen Erörterung können diese Medien daher auch als Handlungssemantiken verstanden werden (aber nicht: als Interaktionsmedien im Parsons’schen Sinne, denn dann bekämen sie gleichsam genetischen Charakter) – und sie funktionieren in der Luhmann’schen Beschreibung auch so. Wie kommt mit anderen Worten Luhmann zu den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien und zur Strukturierung der Geistesgeschichte entlang funktionaler Problembezüge?41 Vor dem Hintergrund der Annahme eines Zusammenhanges von Evolution, Kommunikation und struktureller Festlegung geht Luhmann von einer Verfestigung funktionssystemischer Kopplungen von Code und Programmierung (von Selektion und Motivation) im Übergang zur Moderne aus. Sie sichern den, genauer: sind in ihrer Vernetzung der struktursichernde gesellschaftliche(n) Vollzug (nochmals also: sie sind nicht die Vollzugsbedingungen). In diesem Sinne übertragen Kodes nach

41 Das ist eine grundlegende Frage insofern, als ihre Beantwortung zugleich die erkenntnistheoretische (oder phänomenologische) Absicherung der Unterscheidung von Struktur und Semantik bzw. von Gesellschaft und Handeln beinhaltet (vgl. Srubar 2006).

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Luhmann keine Information, sondern eine Selektionsanweisung, etwas so und nicht anders zu sehen, wofür die soeben umrissene lebensweltliche Grundlage – sowohl von Seiten des Bewusstseins als auch in Form alltäglicher Kommunikation und Sprachverwendung – vorausgesetzt werden muss. Im Kern der Kode-Theorie steht daher die Selektivität von Pragma/Motivation und Selektion/Kognition als Wahl unter Möglichkeiten aus der „Totalität der Welt“, also das Problem von Typik und Relevanz (Schütz 1971; dies als Element von Sinn schlechthin ausweisend: Schulz-Schaeffer 2007, S. 33ff.). Wie bilden sie sich und wie sind sie in den Alltag integriert? In klassische Termini übersetzt können wir diese Frage auch als Frage der Transzendenz stellen: Soziale Strukturbildung transzendiert den Alltag, findet aber in ihm statt und baut auf seinen primären sozialen Mechanismen auf. „Bei allen symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien fällt demnach auf, daß sie aus trivialen, alltäglichen Situationen entstehen, also zunächst nur relativ anspruchslose Sonderleistungen ad hoc erbringen und so noch nicht eigentlich Medien sind. Diese Ausgangslage ist vor allem für evolutionstheoretische Überlegungen wichtig. Sie integriert die Medientheorie mit der Evolutionstheorie. Sie vermag nämlich zu erklären, daß die Möglichkeiten zu einer unwahrscheinlicheren Kombination von Selektion und Motivation in der allgemeinen Redundanz sinnhafter Kommunikation gleichsam brachliegen, aber benutzt werden können, sobald ein Bedarf auftritt, sobald die genannten Bezugsprobleme akut werden […]“ (Luhmann 1998, S. 358)

Die Transzendierbarkeit des Alltags muss also in den Grundstrukturen des Sozialen sowie in der Kopplung an psychische Systeme bereits angelegt sein. Dies meine ich in eben dem Sinne, in dem wir den „Einbruch“ der Sprache in die Wirkwelt sozialer Verkehrsformen herausgestellt haben – und zwar als Öffnung von Individualisierungschancen, von Negation und strukturellen Kopplungsformen. Im Sinne einer (positiv verstandenen) „Technisierung“ sieht, wie wir eingangs erwähnt haben, Luhmann die Ausdifferenzierung symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien zunächst als eine „Entlastung“ sowohl der psychischen Systeme als auch des lebensweltlichen Zusammenlebens der Menschen (Luhmann 2003, S. 71f.; Luhmann 2005q, S. 13ff. u.v.m.). Luhmann korrigiert Parsons so, dass die „Kontingenz individuellen Handelns“ innerhalb der Systemstrukturen als Freiheit zur Wahl (oder eben Freiheit des Handelns) erst institutionalisiert wird –

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dieses ist denn auch nicht das Ausgangsproblem sozialer Ordnung schlechthin, sondern lediglich ein Derivat des allgemeineren Problems des „Sinnvertrauens“ anstelle einer Rückversicherung zum Beispiel in Gewalt. Dazu greift Luhmann auf das Verständnis von Kodes und Kodierung als einer Disjunktion bzw. als einer „Duplikationsregel“ zurück (und gerade nicht: als Ansuggerierung einer Entscheidung). Paradigmatisch gilt die Ja-Nein-Unterscheidung der Sprache (Luhmann 2005g, S. 215; vgl. Habermas/Luhmann 1971; Luhmann 2005q). Das Sinnvertrauen ist ein soziales Problem, das sich aus dieser Umformulierung der Code-Funktionen ergibt.42 Das Luhmann’sche Kode (oder Code-)Verständnis bezeichnet eine binäre Unterscheidung zwischen einem Bezeichnungs- und einem Reflexionswert (anstatt vieler Textstellen: Luhmann 2002, S. 65ff.). Die Bezeichnungsseite ist die positive Operationsseite – die Seins-Seite. Das besondere am Kodeverständnis ist nun, dass mit der Codierung gesellschaftliche Koordination im Sinne einer Mikrodifferenzierung von Standpunkten erst entstehen kann, die durch die Differenzierung von (sozial vermittelten) Standpunkten zugleich einen gemeinsamen Bezug notwendig mitliefert. Denn jetzt gilt nicht mehr: Was ist, kann auch nicht sein, sondern: Dieses kann so oder anders sein. Die positive Seite des Operierens besteht „lediglich“ aus Klassifikationsschemata, Einteilungen, Bezeichnungen für Welt und Dinge, soziale Beziehungen usw. – aus einer Struktur von Typisierungen bzw. symbolischer Appräsentationen (Informationen). Sie ist quasi die „Substanz“ der Semantiken. Sie dient dem Zweck, die bereits erwähnte Gleichsinnigkeit von Beobachtungsoperationen überhaupt zu ermöglichen. Kodes als zweiseitige Angelegenheit „re-kontingentisieren“ also die positive Seite, indem sie die Möglichkeit der Negation, also auch eine Duplikation der positiven Seite mit umgekehrten Vorzeichen als positive Möglichkeit (und nicht als Negativität überhaupt) einführen. Erst über den Reflexionswert kann die Frage der Gleichsinnigkeit thematisiert werden, können Einzelunterscheidungen verkettet und geordnet werden (Mitteilung). Re-

42 Entsprechend ist Luhmanns Kritik am Positivismus zu verstehen: Vorrang des Positiven, der leugnet das es die Negation als ein Positivum geben muss, obwohl und weil er sie voraussetzen muss (die Dinge könnten eben auch anders sein, erst das qualifiziert das Positive als das Tatsächliche oder Konkrete; Luhmann 2002, S. 38).

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flexionswerte ermöglichen dann auch Beobachtung zweiter Ordnung, Kondensierung und Konfirmierung, Generalisierung und Spezifikation (Verstehen). Versteht man die einfache sprachliche Negation (zunächst) nicht als ein reflexives Urteil des Individuums, sondern als produktiven Mechanismus der Sprachpragmatik, wie Luhmann es tut, so folgt daraus, dass der Vorwurf, in Luhmanns Theorie komme keine alltägliche Ebene der Reflexion vor, so nicht haltbar ist. In gewissem Sinne macht erst der Reflexionswert, der Ausdruck gesellschaftlichökologischer Kopplung ist, die Bildung spezifischer sozialer Systeme wahrscheinlich und diesem Sinne auch eine pragmatische Kontrolle des Beitragsverhaltens seitens der Sprecher. An den Verstehensstellen bilden sich also Semantiken im Sinne von Schematismen: Gut-Böse, Recht-Unrecht etc. sind keine einfachen Unterscheidungen, sondern zwingen in zweierlei Hinsicht zu Zuordnungen: einerseits zu einem der Werte, andererseits zur Bewertung der Unterscheidung anhand des eigenen Schemas – gut ist gut, böse ist nicht gut. Es folgt, dass die Analyse der Kodierungen gewinnträchtig sein kann. Denn die Kodes bilden und binden Strukturen der Kommunikation – allerdings nur, wenn sie semantisch eingekleidet werden. Mit dieser eleganten Lösung gewinnt Luhmann einerseits eine Analyseebene für gesellschaftliche Strukturentwicklung und andererseits ein grundlegendes Argument gegen die Betrachtung alltäglicher Schematismen wie dem des Handelns und Erlebens als grundlegenden Mechanismen, auf die das Soziale nur reagiert. Dessen (relative) Universalität – die damit allerdings auch zugestanden werden muss – kann Strukturentwicklung nicht klären – sie wird erst im Rahmen der allgemeineren Kodierungsformen konstituiert: durch die selbstkonstituierte Zweiheit von Kommunikation sowie die Positivierung bestimmter Aspekte: nämlich des beobachtbaren Verhaltens und seiner Polysemie qua Duplikation (Luhmann 1998, S. 333). Diese Überlegung unterlegt Luhmann mit dem Hinweis, dass sich die uns heute geläufigen Zusatzsemantiken, die Handeln als „innerlich begründetes Verhalten“ (vgl. Faßler 1997, S. 218) fassen und dieses „innere Geschehen“ im Schema der Kausalität (Absicht als Bewirken einer Wirkung) unter der Freigabe von Wertpräferenzen ausdrücken, erst nach und nach bildet: „Seit dem zwölften Jahrhundert beginnt – zunächst in der Moralkasuistik, dann schlechthin – ein Handlungsverständnis sich durchzusetzen, das die soziale Relevanz des Handelns von Prozessen intentionaler Binnenrelationierung ab-

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hängig machen will – ein anspruchsvolles, zunächst sicher paradox anmutendes, nur im Schonraum der Moraltheologie und der Beichtpraxis ausgeführtes Prinzip.“ (Luhmann 2005i, S. 67; Hervorhebung im Original) 43

Damit wird gleichsam der subjektive Sinn des Handelns von der objektiven Erwartung her institutionalisiert.44 Dieses Handlungsverständnis bereitet jene semantische Entwicklung vor, die durch im InBeziehung-Setzen von Kausalität und Zurechnung besteht. Erfolg und Misserfolg werden auf die Absichten des Einzelnen rückbezogen (und so eine Zurechnungsdiffusion vermieden): „Erst damit wird neben der bereits mittelalterlichen Binnenreflexivität dasjenige Moment hinzugefügt, das Handeln im neuzeitlichen, funktional spezifizier45

baren und organisierbaren Sinne konstituiert.“ (ebd., Hervorhehbung M.K.)

Luhmann stützt sich dabei unter anderem auf die Einsicht Mills’, dass Motive nur in sprachbasierten Zusammenhängen konstituiert werden (Mills 1940, S. 909ff.). Des Weiteren begründet Luhmann so seinen Ansatz der Unterscheidung von Struktur und Semantik. Der Kode-Begriff ist also die Neuerung der Soziologie schlechthin – hierbei folgt Luhmann gleichsam Durkheims erster Regel der soziologischen Methode – um die von den so bezeichneten Gesellschaftsfeldern selbst verwendeten Beschreibungsformen (Semantiken) analysieren und ordnen zu können.46

43 Den von Hahn so genannten „Biographiegeneratoren“ (vgl. Hahn 1988, S. 99ff.). 44 Nichts anderes ist ja der Gegenstand der Schütz’schen Phänomenologie der Lebenswelt des Alltags. Wenn ich es recht sehe, verschiebt Schütz die Konstitution der Lebenswelt ja nicht in den Alltag per se, sondern in die Transzendenzerfahrung im Alltag, die umgekehrt den Alltag als solchen erst greifbar macht (vgl. die Rekonstruktion bei Srubar 1988, S. 237ff.). 45 Foucault zeigt diese Entwicklung im Rahmen der Straf- und Rechtspraxis (als politische Ökonomie des Körpers!) auf. Für Focault wird allerdings nicht das Handeln präzisiert, sondern von, dem was die Individuen „getan haben [...] auf das, was sie sind, sein werden, sein können“ geschlossen (Foucault 1994, S. 28). 46 Und die Wissenschaft entscheidet dann als eigenes System über die Angemessenheit der grundbegrifflichen Entwicklung und Zuordnung.

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Wie aber haben wir uns nun die Einheit von Designations- und Reflexionswert vorzustellen? Luhmann zieht sie (wieder) im Medienbegriff zusammen: sie bilden symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien, um, wie immer mit dem Medienbegriff angezeigt wird, auf die Formbildbarkeit hinzuweisen. Kode-Werte müssen die (Un-)Form von Medien annehmen, das heißt als „Möglichkeiten“ interpretiert werden, die konkret unterschiedlich geformt werden können (Luhmann 1995, S. 193). Dies steht in engem Zusammenhang mit Programmierung (und damit mit Semantik), weil jede Formfestlegung im Medium, zum Beispiel des Rechts (Recht und Unrecht), schon spezifiziert, was der Fall ist (konditional oder zweckorientiert: Es ist Recht, wenn…). Im Mediums-Verständnis fließen also Kode und Programm zusammen.47 Generalisierte Kommunikationsmedien werden in der Frühfassung der Theorie in „Transsubjektivität“ eingebettet und regeln die Übertragbarkeit ebenso wie die Simultaneität komplexer und differenzierter Selektionsprozesse zwischen Individuen in komplexen Gesellschaften, die so eine komplexere Welt „haben“ und verarbeiten können. „Durch Generalisierung solcher Medien werden Erwartungsstrukturen und Motivationsmuster gebildet, die es ermöglichen, daß die Selektion des einen für den nächsten relevant wird in dem Sinne, daß er sie nicht ignoriert und sie auch nicht als offene Frage behandelt, sondern sein eigenes selektives Verhalten mit einer Folgethematik anschließt.“ (Luhmann 1989, S. 51f.)

Einerseits binden Medien alternativlos, wenn sie denn binden. In diesem Zusammenhang brechen andererseits frühere „Welthalte“ weg, indem sie als kommunikativ hervorgebracht erkannt werden. Der deshalb notwendige Umschlag ins Systemvertrauen ist begleitet von einer wachsenden Ausdrücklichkeit der Prozesse der Vertrautheitsherstellung, von einer Peripherisierung des Einzelnen, einer Spezialisierung und vor allem von einer Verabschiedung der Natur. Leistungen erscheinen als „hergestellt“, Handlungen als entscheidungsbasiert, also als (vermeintlich) von Menschen gemacht. Diese Rekonstruktion eines (an Parsons erinnernden) Steigerungsverhältnisses legt es dann auch

47 Damit dürfte auch die These der „linearen Nachträglichkeit“ von Semantik ein Stück weit abgeschwächt werden können (vgl. Stäheli 2000, S. 196ff.).

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nahe, nicht ethische Maximen richtigen Handelns zu postulieren,48 sondern über systemtheoretische Untersuchungen die Rationalität von Handlungen zu präzisieren. „Als rational hätten dann alle Leistungen zu gelten, die dazu dienen, menschliches Handeln in einer äußerst komplexen Welt sinnvoller zu orientieren, also das menschliche Fassungsvermögen für Komplexität zu steigern.“ (ebd., S. 98)

Wenn wir nun in Betracht ziehen, dass Luhmanns Theorieumbau mit der Vorstellung der menschlichen Handlungsverursachung bricht, so sehen wir hier jene Verbindungsstelle zwischen Wirkwelt und expliziter Kommunikation. Es kann dann nicht darum gehen, „das menschliche Fassungsvermögen“ zu „steigern“. Es muss vielmehr darum gehen, wie Sozialsysteme und deren Anforderungen soweit bewusstseinsfähig bleiben, dass Lebenswelt funktionsfähig bleibt. Quasi die erste, alle weiteren Kodierungen basierende Unterscheidung ist entsprechend, nach Luhmanns Spätwerk, die der Vertrautheit/Unvertrautheit. „Die Lebensweltdifferenz von vertraut/unvertraut ist und bleibt die älteste, urtümlichste, primordiale Differenz, weil sie an jeder eingeführten Unterscheidung kondensiert.“ (Luhmann 1996a, S. 278)

An den Anfang der evolutionären Entwicklung (nach der semiotischen Umformung Komplexität in negationsfähige Kontingenz) setzt Luhmann also im Spätwerk die Lebenswelt als sich regenerierende Differenz zwischen Vertrautheit und Unvertrautheit, als der Form, in der Welt schlechthin erscheint (ebd.). Die Notwendigkeit selbsttätiger Unterscheidung wird hier zurück gebunden daran, dass die „Welt“ zwangsweise selbst keine Präferenz für Positivität an die Hand gibt. Entsprechend deutet Luhmann die doppelte Metaphorik Husserls, Lebenswelt sowohl als Horizont als auch als Boden zu bezeichnen, als richtige Einschätzung, die nur konsequent, empirisch – entfaltet werden müsse.

48 Moral als Kodierung von Handlungsformen verliert entsprechend Bindewirkung für anonyme, an Kodes ausgerichtete Erwartungen und Motivationen.

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Das Bewusstsein wird über Wahrnehmungsmedien, Orte, Plätze und Sprache, erreicht und qua daraus gezogener Orientierung (Leben in Akten!), also weniger denkend, „mitgenommen“. Wiederholungen schleifen das Vertraute ein und führen zugleich Unvertrautes (semantisch) mit. In diesem Sinne – und mit Durkheim und Luckmann – gilt Luhmann der (heute ausdifferenziert vorhandene) religiöse Kode als der erste und universelle Bereich der gleichsam intentional verfügbaren Kopplung von Sozialem und Psychischem mit einer sich abkoppelnden Eigendynamik kommunikativer Sinnproduktion.49 Die im Religiösen entwickelten Inhalte überspannen nicht nur die Organisation von rituellen Praktiken, sondern sortieren auch Weltverhältnisse und die soziale Organisation des Alltagslebens. Codierung dient nach Luhmann deshalb gleichzeitig der strukturellen Kopplung von Funktionssystemen und Bewusstsein – was ich als jeweilige Gesamtzustände betrachte, also als Attitüden im Schütz’schen Sinne (Luhmann 2002, S. 114).50 Das muss, wie wir gesehen haben so sein, nichts anderes besagt ja, dass Kommunikation in jedem Moment auf Bewusstsein angewiesen ist. Alle Kodierungen sind damit zugleich lebensweltlich normativ, da es um die Einschränkung von Möglichkeiten und der Bedingung sich auftuender Kontingenz geht – die jedoch durch ihr Zursprachebringen erst in Systemstrukturen entstehen und umgearbeitet werden können (ebd., S. 20). Beim Kode handelt es sich somit „um eine künstliche, wenn auch funktionale, Abstraktion, die der gesellschaftlichen Kommunikation nicht genügt.“ (Luhmann 2002, S. 102) Semantische Innovationen können sich in den „technisch“ umgelenkten Bahnen der Kode-Kommunikation entfalten. Bewertungen und Beschreibungen werden zu einem Geschehen, das auf bereits funktionierender Abstimmung daher kommt, aber eben nicht – hierin ist die Stärke von Luhmanns Ansatz zu finden – auf das Subjekt verweist,

49 Luckmann sieht in diesem Sinne das Fundament der Religion in der Transzendierung der biologischen Grundlagen der eigenen Existenz (Luckmann 1980, S. 176f.; 1991). 50 Wobei Luhmann diese Gesamtzustände weiter differenziert. Furcht, Angst, Aufmerksamkeitsbereitschaft, Abwehrhaltung, Lust etc. würden in diese – plastisch formbaren – Gesamtzustände fallen, während Schütz eher an Graden der Bewusstseinsspannungen interessiert ist. Ein genauerer Vergleich würde sich sicherlich lohnen.

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sondern aufgrund seiner inhärenten Eigenschaften auf die soziale Ordnung bereits vorfindlicher sozialer Prozesse, in der psychisches und soziales Wirken appräsentiert sind. Deren „Voran-Stellung“ muss jedoch gewährleistet sein, denn die Kodierungen/Technisierungen haben nach Luhmann keinen unmittelbaren konditionierenden Effekt, sondern lediglich einen referentiellen. Sie sichern die Fortführung der Kommunikation in ihren Bahnen nicht, sondern benötigen hierzu weitere, einschränkende soziale Systemtypen mit Chancen subjektiver Erreichbarkeit (im weitesten Sinne: individueller Verstehbarkeit). In deren Operationsweise sind weitere „Kontingenzformeln“ und Unterscheidungen vonnöten, etwa: Haben oder Nicht-Haben, die gleichsam pro- und retentional um die Akte der kodierten Kommunikation kreisen: Als sozial symbolisierte Standardmotive (Schematismen von Interaktionen), die Erwartbarkeit sichern und konstitutiv mit dem Handeln-Erleben-Dual verbunden sind: Semantiken, Programme, Rollen. Die Struktur, die der Kodierungsmöglichkeit zugrunde liegt, ist natürlich die des Sinnes als einer bewusstseinspräsenten Verkopplung von selektiver Aktualität und Möglichkeit (und der Reproduktion des Horizonts durch die Aktualisierung einer Auswahl). Sie ermöglicht Gleichsinnigkeit als getrennte Gemeinsamkeit und erzwingt Kontingenzerleben anhand von Symbolverwendung – und nötigt, im Bereich der Symbolverwendung gerade die Individualitätserfahrung des Individuums auf (siehe Kapitel vier).51 Kodierungen (Duplikationsregeln der Unterscheidung und Bezeichnung) asymmetrisieren tendenziell die beiden Seiten der Unterscheidung, man kann symbolisch generalisierte Medien kodieren, allerdings muss sich dann an die Kodierung eine Programmierung anschließen; die Medien sichern nur im Konzert mit Beschreibungen, dass unwahrscheinliche Selektionsvermittlung „motivfähig“ wird (Luhmann 2005q, S. 17). Semantiken und Programme verdichten zu diesem Zweck Erwartungen, Positionen und Institutionen. Den symbolischen Appräsentation Schützens gleich übernehmen sie Strukturfunktionen, die als „Sedimente der Dauerkommunikation“ über den konkreten Kommunikationsvollzug hinausweisen (Luhmann 1997, S. 87f.). Wie die Religion nach Luhmann durch die Benennung eines transzendenten Bereichs es erst ermöglicht, den alltäglichen Bereich zu schaffen, so konzipiert er die Möglichkeit der realen Welt ge-

51 Kontingenz verstanden als „Selektivitätsbewußtsein am Objekt“ (Luhmann 2005j, S. 81).

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nerell: nur durch die Einführung der „semiotischen Realität“, die sich von der „realen Realität“ unterscheidet (Luhmann 1998, S. 218f.). Infolgedessen fällt auch von der Steigerungsfähigkeit her betrachtet die Welt der Kommunikation in zwei Teilbereiche auseinander. Einerseits geht es um die Technisierung und Technisierbarkeit der Welt durch Kodierung. Andererseits geht es um die Reproduktion der positiven Welt als eines erfahrbaren (und kommunikablen) Sinnzusammenhanges, der nicht auf Wahrheit, sondern auf Relevanz hin ausgerichtet ist. Die symbolischen Kommunikationsmedien sind insofern nicht nur als ein Meer von kombinierbaren Möglichkeiten vorstellbar, sondern als eine Melange von Attitüden und semantischen Verhaltensmodellen (Skripts, Schemata), als Handlungssemantiken. Im Sinne von Handlungsanweisungen sichern sie das Verständnis von Anforderungen mit Blick auf „technische“ Vorgänge, nicht aber, die ebenso wichtige Frage der „Internalisierung“ der Anforderungen. Dass passiert, was passieren soll, muss deshalb auch anderweitig abgesichert werden. 5.5.2 Symbiotische Mechanismen und Trivialmaschinen Die unmittelbare Rolle des Körpers und der Leiblichkeit nimmt in Luhmanns Theorie vermeintlich eine Randstellung ein. Es ist jedoch so, dass er ihr eine wesentliche fundierende Qualität des Sozialen zuschreibt und zwar in dem Sinne, dass die Symbolisierung organischer Bedürfnisse als Antriebsmomente individueller Beteiligung nutzbar gemacht werden können. Ihre besondere Qualität liegt dabei, in Analogie zur „Lebendigkeit“ des Bewusstseins, in ihrer Plastizität: Sie sind, wie etwa Sahlins (1994, S. 289ff.) zeigt und worauf Elias seine Zivilisationstheorie (1977) aufgebaut hat, sozial gestaltbar, „[…] denn in der natürlichen Lebenswelt gibt es zunächst keine reine physische Gewalt, keine kontextfreie Wahrnehmung, keine libido an sich, die sich ihre Partner erst sucht. Es ist mithin erst eine Funktion des Medien-Codes, einen symbiotischen Mechanismus so freizusetzen, daß ein Nichtfixiertsein auf symbolischer Ebene, seine Unabhängigkeit von spezifischen Sinnstrukturen, genutzt werden kann.“ (Luhmann 2003, S. 63)

Sie begründen gewissermaßen ein brachliegendes Potenzial für „ideosynkratisch“-alltägliche und zugleich nichtbeliebige Formen des Verhaltens, können aber in und durch symbolisch generalisierte Medien

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umdirigiert und auf Funktionskontexte bezogen werden. Deren Modalisierung erlaubt erst die Bildung elementarer symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien, wie Geld, Macht, Recht, Wahrheit und Liebe (siehe Luhmann 2005m, S. 273ff.). Gelingt der Rückverweis auf ein symbolisch eingekleidetes elementares Bedürfnis, steigt die Wahrscheinlichkeit die Stabilisierung eines Kodes und eines Funktionssystems durch die lebensweltliche Evidenz dieses Rückverweises. Sehr einfach ausgedrückt plausibilisieren „symbiotische Symbole“ den individuellen Verzicht darauf, unmittelbar den eigenen Bedürfnisimpulsen nachzugehen, indem sie in der Sprache in ein Handlungsprogramm überführt werden. Ihre „Existenz“ im zwischenmenschlichen Verkehr: Sexualität, Gewalt, Nahrungsversorgung etc. wird zusätzlich in der Kommunikation über symbiotische Mechanismen symbolisiert: Sie werden sprachfähig und damit sogleich in „entfremdeter“ Weise dem Bewusstsein zugänglich. Da sie letztlich auf faktische „organische Prozesse“ zurück weisen, und diese Prozesse für die Aufmerksamkeitssteuerung psychischer Systeme von grundsätzlicher Relevanz sind, bedarf die Plausibilität ihrer Umlenkung oder Kanalisierung einer nicht „in der Kommunikation“ liegenden Grundlage, nämlich überhaupt das Potenzial des situativen Verzichts: „Ungeregelte Möglichkeiten der Betätigung hochgradig plastischer, kulturell formbarer organischer Prozesse würden die funktionale Spezifikation kommunikativer Interaktionen erschweren und höhere Ansprüche in dieser Hinsicht ausschließen. So setzt kapitalintensives Wirtschaften eine hinreichende Absättigung der Primärbedürfnisse in der Gesamtbevölkerung voraus und politische Ordnung eine „Kasernierung“ der physischen Gewalt.“ (Luhmann 1994, S. 149)

Es sind also die beiden Bedingungen des „taken for granted“ sowie des „field of domination“ (Typik und Relevanz), die gleichsam symbolisch mit Blick auf Leiblichkeit geformt werden müssen, um, statt tätig zu werden, an Kommunikation teilzunehmen und unter Absehung aktueller Bedarfslagen zu investieren, zu kalkulieren, sich auf das Recht zu verlassen, die Liebe zu suchen usw. Dass sie, sei es in Form von Konsummöglichkeiten oder in Form von Gewaltandrohung präsent gehalten werden, formiert die Beobachtungsebene erster Ordnung und versieht sie mit jederzeit möglichen alternativen Möglichkeiten – und so überhaupt erst mit Relevanz. Einsichtig ist dabei, dass das Moment der

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Objektivität sich einerseits in der Form der Naturalisierung (und trotzdem: Steigerbarkeit) zum Beispiel von Bedürfnissen und andererseits im Modus der Selbstbestimmtheit zum Ausdruck bringt. Die gesellschaftliche Dimension der Institutionalisierung symbiotischer Mechanismen liefert quasi Luhmanns Antwort auf die handlungstheoretisch formulierte Frage, „[…] inwiefern der durch solche Notwendigkeiten [gemeint sind als Handlungszwänge auftauchende Bedürfnisse wie etwa die Konsumtion von Produktionsmitteln, wenn man etwa seine Kinder arbeiten lassen muss; M.K.] bestimmte Zugang zur sozialen Realität dieses Handeln als ein solches zu betrachten erlaubt, das im Rahmen des Normalen abläuft, also der lebensweltlichen Realität schlechthin zugeschrieben werden kann.“ (Srubar 1978, S. 199)

Zusammenfassend zeigt sich, dass symbiotische Mechanismen bzw. Symbole in dem Sinne kommunikationsrelevant verwendet werden, als ihre Bezugspunkte quasi einerseits naturalisiert und andererseits als lösbar und wieder aktivierbar vorausgesetzt und symbolisiert werden können. In Feldern, in denen Problematiken nicht unmittelbar in der Kommunikation liegen, sondern in der „ökologischen Umwelt“ der Gesellschaft (Biosphäre, psychische Systeme, menschliches Verhalten), wo Kommunikation also auf Außengestaltung abzielt, greifen Kommunikationsmedien nicht und gibt es keine symbiotischen Mechanismen (Medizin, Erziehung, biologische Umwelt, Technologie usw.; Luhmann 1998, S. 407f.). Es gibt keine symbiotischen Mechanismen, also keine unmittelbaren Evidenzen und Drohpotenziale. Aber es gibt die Möglichkeit der „maschinellen Trivialisierung“. Dieser Mechanismus betrifft die als möglich gedachten Um-Zu-Motivstrukturen, die in organisierten und nahräumlichen Sozialsystemen anfallen (Luhmann 2005s, S. 202ff.). Maschinelle Trivialisierung heißt Aufforderung zur „[…] Mitwirkung des Selbst unter Verzicht auf eine Störung des Programms.“ (Luhmann 2005s, S. 204)

Das Adäquanz situativ zum Einsatz gebrachter Mittel ist gerade eines jener Felder, in denen das Handeln am breitesten diskutiert wird. Die Herstellung von Handlungsvermögen bezieht sich auf angemessenes

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Verhalten unter gegebenen Bedingungen durch das Ins-Spiel-Bringen von Zukunft. Ob wir nun pädagogische, ökonomische, soziologische oder psychologische Konzepte des Handelns ansehen: Sie beinhalten in mehr oder weniger deutlicher Ausprägung dieses Moment des zumindest idealtypisch realitätsgerechten Verhaltens als eines geplanten Handelns, als Vermittlung von Auferlegtsein und Wesentlichkeit, als Zu-handen-heit sowie der Regeneration von Möglichkeiten durch Aktualisierung, als These der Laborsituation in der Gesellschaft und der Notwendigkeit quasi-wissenschaftlichen Experimentierens, als konsumistischen Handeln der Post-Moderne, als Marktteilnahme zum Aufbau von Handlungskompetenz usw. Dabei scheint es sich nicht in erster Linie um eine wissenschafts-religiöse Aufladung zu handeln im Sinne von: im Alltag läuft das anders. Die „Trivialmaschinisierung“ scheint vielmehr jene Form der Typisierung zu sein, die in allen „Rollenkontexten“ zum Tragen kommt und die Schütz als Moment der Auferlegt in der modernen Sozialstruktur identifiziert hat. Wenn wir also von der Symbiosis her denken, dann werden mithilfe dieser Trivialmaschinensichtweise nicht das (Über-)Leben und die „Triebbefriedigung“ symbolisch kanalisiert, sondern Zukunft in Aussicht gestellt: „Die Gegenwart wird als Punkt der Umschaltung begriffen, in dem man durch Nichtstun etwas versäumt oder etwas tut, was man später bedauert. Die einzige Möglichkeit, frei zu handeln, hat man jedoch immer nur in der Gegenwart. In der Zukunft können wir nicht mehr handeln, in der Vergangenheit nicht mehr.“ (Luhmann 2006, S. 212f.)

Die immer mitlaufende Diskrepanz zwischen subjektiver und sozialer Bedeutungsproduktion führt so gleichsam zur Biographisierung von Personen: Die Gegenwart erscheint als Umschlagpunkt relevanter Entscheidungen mit sozialen Erinnerungseffekten. Weil das Handeln perspektivisch in Form gebracht ein Wirken im Jetzt darstellt, steht im die Möglichkeit der Betroffenheit und des Erleidens von Konsequenzen im Dann gegenüber (s. grundsätzlich: Sofsky 2005, S. 78ff.). Die Konsequenz ist natürlich ein Hang zum Intellektualismus und zur Diskursivierung individueller Erfahrung und Problemlösung, der jedoch nicht alleine kritisch (Vereindimensionalisierung), sondern auch funktional betrachtet werden kann: als Redundanzaufbau.

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5.5.3 „Inviolate levels“: Handeln, Kultur und Alltag Kodierungen und symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien – Handlungssemantiken – bewähren sich im Alltag, sie sind nicht der Alltag schlechthin. Die vorstehenden Ausführungen weisen darauf hin, dass Entscheidungssituationen, markiert als Handlungsnotwendigkeiten, nicht permanent ertragen werden können. Nicht zuletzt hier hakte die oben angeführte Kritik Nassehis an Schützens „bürgerlichem“ Handlungsverständnis ein: an einer Verschränkung alltäglichen Orientiertseins und der Handlungslogik. Überlegungen und Analysen zur „Daseinsform des Alltags“ zeigen hingegen, dass Alltäglichkeit gleichsam Kontingenz absorbiert und gerade nicht auf einem Modus ständiger Zuspitzungen von Erfahrungen zu notwendigen Entscheidungen (und Handlungen) basiert. In den „Grenzen der Gemeinschaft“ notiert Plessner zum Thema der Alltäglichkeit menschlichen Zusammenlebens in der Moderne: „Dieses Reich der Alltäglichkeit, der wertäquivalenten Situationen kennen wir alle: es ist die Gesellschaft im Sinne der Einheit des Verkehrs unbestimmt vieler einander unbekannter und durch Mangel an Gelegenheit, Zeit und gegenseitigem Interesse höchstens zur Bekanntschaft gelangender Menschen.“ (Plessner 2003, S. 80; Hervorhebung M.K.)

Weitere paradigmatische Auseinandersetzungen mit moderner Alltäglichkeit sind natürlich die Studien Simmels oder Benjamins zum Großstadtleben, zur Bürokratie von Weber und andere.52 Sie alle belegen die raumgreifende Indifferenz als Fundament des modernen Zusammenlebens, die weiter oben im zweiten Kapitel und soeben unter dem Stichwort symbiotischer Mechanismen erwähnt wurden und die als Freiheit von der physischen Bedrohung ebenso wie als Entbindung von universeller Verpflichtung gelesen werden kann. Die alltäglich wahrgenommenen (und angenommenen) Mitmenschen erscheinen nicht als Bedrohung, sondern als Hintergrundfiguren, die man auf der Straße oder in der U-Bahn nur registriert, nicht aber weiter zur Kenntnis nehmen muss. Dies ist möglich, obwohl ganz offensichtlich sehr

52 Sie setzen sich in spezifischer Hinsicht von der Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft ab.

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unterschiedliche Lebensstile und Kulturformen sichtbar (und gewusstermaßen) koexistieren und erwartet werden.53 Die kulturelle Durchformung der Alltagswelt leistet somit eine doppelte Grundierung funktionaler Systemdifferenzierung und ist dabei als irreduzibler „Seinsmodus des Daseins“ zu verstehen (Heidegger 2006, S. 50f.): Sie leistet Latenz und Ritualisierung. In beiden Zusammenhängen spielt Handlung eine – je unterschiedliche – Rolle. Latenz bezieht sich auf gesellschaftliche Integration und bezeichnet einerseits Zivilisationsmuster (Medien) und andererseits das Denken wie üblich (pragmatisches Motiv): diese sind die kommunikativ ermöglichten Grundlagen der Attitüde der Beherrschung des Handlungsraums, ohne dass ständig Kommunikation „benutzt“ werden müsste. Erst hier verbindet sich also das pragmatische Motiv mit einem alltäglichen Handlungsverständnis. Die Selbststabilisierung sozialer, gerade alltäglicher Ordnung findet statt anhand kommunikativ hervorgebrachter, sprachlich vermittelter und anerkannter Typisierungen, die in der Kommunikation zur Anwendung kommen und implizit auch bei den Kommunikationsteilnehmern unterstellt werden müssen. Das ist bei Luhmann ebenso zwingend wie es etwa in der Schütz’schen Theorie der Fall ist, der darauf die beiden Argumentationsketten der pragmatischen Verankerung (Mächtigkeit, Handlungsvermögen) einerseits und der symbolischen Durchformung (Intersubjektivität und Du-Evidenz) der Lebenswelt andererseits aufsetzt: also auf Bewusstsein und Kommunikation. Als Grundlagen dienen hier wie da materiale Substrate, der Körper und „deren“ Verhalten, Texte, Buchstaben etc. – kurz die „Welt“, die jedoch Bewusstsein und Kommunikation nur (auf unterschiedliche Weise) sinnförmig zugänglich ist und bleibt. Die Trennungslinie verläuft somit zwischen subjektivem und sozialem Sinn, an dessen Grenze das „ich kann“ vermittelt wird. Ritualisierung bezieht sich auf die Gestaltung von Übergängen zwischen indifferentem und relevantem zwischenmenschlichen Verkehr. Übergänge werden elementar und damit die Markierung von Personen und ihrer Einschätzung: Werte und Handlung. Srubar bezeichnet diesen Zusammenhang als generativen Interaktionsmechanismus und als „primären Rahmen“. Er umfasst den Interaktions-, den Kundgabe-

53 Siehe als ein empirisches Beispiel anhand der Unterscheidung viktorianischer Mittelschichts- und der permissiven Liebeskulturen der Arbeiterschicht: Illouz (Illouz 2007, S. 57ff.).

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sowie den Interpretationszwang (inklusive Ambivalenz; s. Srubar 1994, S. 102f.). Nach Srubars Lesart des theoretischen Programms alltäglicher Interaktionsordnungen von Goffman sind Selbst- und Fremdverortungen, Systembildung (Schließung eines sozialen Raumes), Informationskontrolle und Ritualisierung (einschließlich spezifischer Reparaturmechanismen; ebd., S. 103ff.) grundlegende Elemente jedweder Interaktionsprozesse. Srubar kommt zu folgendem Schluss: „Gerade deswegen, weil die subjektiven Sinnleistungen ein wesentlicher Bestandteil des Autogeneseprozesses sind, besteht der systematische Zwang, dazu, sie mittels sozialer Formen nicht nur zu gestalten, sondern auch sichtbar und erwartbar zu machen.“ (ebd., S. 115)

Man kann nach dem Vorstehenden anerkennen, dass die Begegnung von (erwachsenen, modernen) Individuen schon auf der Wahrnehmungsebene einen basalen Interaktionssog oder -zwang ausübt,54 der zwar mit einiger Wahrscheinlichkeit in Richtung Kommunikation verweist, aber Kommunikation erst dann und zusätzlich entsteht, wenn die Aufmerksamkeiten sich auf Kommunikation orientieren, also eine Du-Einstellung im Rahmen einer (vorgefassten) Wir-Beziehung entsteht. Geschieht dies – und in vielen alltäglichen Situationen auf der Straße oder im Bus wird es, trotz Interaktionssog, nicht dazu kommen – verläuft die Ordnung des kommunikativen Geschehens in einer eigenlogischen, das heißt systemischen Struktur durch eine Verknüpfung von selektiv-motivationalen Konditionierungen (Typik und Relevanz), die nicht in der Interaktion geschaffen, sondern die gleichsam aufgerufen werden. Genau deshalb sind die „subjektiven Sinnleistungen“ auch vollkommen unerlässlich für die Entstehung von Interaktionssystemen. Sie werden jedoch in ihrer Individualität unterdrückt, indem ihr Zusammenhang (Rahmen) als Prämisse vorausgesetzt wird. So geht „subjektiver Sinn“ nur in „objektiver“ Form in das Geschehen ein – und die Anzeige dieses Sachverhaltes muss von den Medien der Kopplung von Bewusstsein und Kommunikation geleistet werden. Dabei muss selbstverständlich die sprachliche Verhaltensintegration als Leistungen des menschlichen Organismus (und all der physikalischen und biologi-

54 Siehe nochmals die Rekonstruktion der Autogenese sozialer Ordnung anhand alltäglicher Interaktionssituationen: Srubar (Srubar 1994, S. 99ff.).

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schen Bedingungen, die dafür erfüllt sein müssen) mitlaufen.55 Das heißt, einfach gesagt, dass sich soziale Systembildung parallel zur Wechselseitigkeit des Wahrnehmens und Wahrgenommenwerdens bildet. Kommunikation ersetzt nicht und übergreift nicht die Verhaltensebene, sondern differenziert sich als Sinngeschehen gegenüber dieser aus. Trotz, ja, wegen, der mit der Teilnahme an Kommunikation einhergehenden Transformation der Aufmerksamkeit (gewissermaßen einem Sprung in einen anderen Realitätsbereich) bleibt die Chance und Faktizität der Unterscheidung zwischen Kommunikations-, Leib- und Weltorientierung bestehen. In diesem Sinne rekonstruiert Schneider die Garfinkel’schen Krisenexperimente56 als Beispiele für die besondere Robustheit von Kommunikation (wohlgeordnete Anschlüsse, kein Stammeln etc.). Geradezu hartnäckig bleiben die beteiligten Individuen bei der Sache. Kommunikation findet statt oder nicht: durch Entfernung aus der Situation, durch „Abschaltung“, durch Gewaltanwendung oder durch ein Blockieren der Irritationsmöglichkeiten, zum Beispiel durch Lärm oder Verstummen – alles andere wären kommunikative, also sprachlich-explizite Anschlüsse (vgl. Schneider 1994, S. 221ff.). Umgekehrt gilt, dass, solange Kommunikation in Gang bleibt, ein Handlungsbezug nötig wird, dessen Notwendigkeit in der Abhebung von basalen Formen der Verhaltenskoordination liegt. Nur unter der Bedingung expliziter kommunikativer Ansprüche „massiert“ sich der Bedarf klarer Zurechnungen und zwar aufgrund der Diskontinuität der Form der Autopoiesis von Kommunikation: der Sprachpragmatik. Somit werden wir noch einmal die von Luhmann postulierten Notwendigkeiten der Kommunikation, „sich“ nicht nur irgendwie, sondern wenn, dann als Handlung auszuflaggen einsichtig: In einem „Meer“ alltäglichen menschlichen Verkehrs nebeneinander bilden und vergehen Interaktionssysteme um die Abstimmung spezifischer Sachproblematiken herum, die wie Rezeptoren eine Mehrheit von Individuen andocken lassen. Sie sind die Energieaufnahmestationen für die Re-

55 Und zwar aus Sicht der Teilnehmer: durch einen grundlegenden Wandel der Orientierungen, durch einen Sprung. 56 Zu den Krisenexperimenten, bei denen Studierende aufgefordert wurden, in Alltagssituationen die mitlaufenden Verstehensprämissen dadurch zu Fall zu bringen, dass sie nach der genauen Bedeutung von Aussagen bzw. einzelner Wörter nachfragen sollten: Garfinkel (1973).

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produktion von Gesellschaft und zugleich Reizblockierer der Überflutung mit „subjektivem“ Sinn. Sie fungieren operativ qua Kopplung und Position, strukturell qua Kultur und Semantik, die die Beteiligten mit genügend Spielraum ausstatten, geistig eigenbeweglich an Kommunikation beteiligt zu sein, also nicht in ihr aufzugehen. Alternative Erklärungen müssen an diesem Punkte jenen Selbstwiderspruch in die Akteure verlagern, den wir weiter oben kennen gelernt hatten: Handlungen sind demnach immer intentional und interessiert, aber nur manche erreichen den kulturellen Reflexionsstandard während andere habitualisiert ablaufen und unbewusst Muster der Sozialstruktur aufgreifen, einsetzen und reproduzieren – also weder intentional, noch interessiert vollzogen werden (so zum Beispiel bei Illouz 2003, S. 229ff.; siehe oben die einführenden Bemerkungen zum Kapitel fünf). Im Grunde wiederholen sie das Weber’sche Handlungsparadigma eines Rationalitätskernes voller Verständlichkeit, von dem aus andere Handlungsformen als Derivate mit abnehmender Klarheit und Interpretierbarkeit erscheinen. Ein methodologisches Argument wird zu einem explanatorischen. Liest man diese Entwicklung in der hier vorgeschlagenen Weise, zeigt sich die Markierungsfunktion der Handlung. Sie legt die Position nahe, dass es sich bei Handlung zwar um eine Art Letztelement moderner sozialer (sinnhafter) Ordnung, nicht aber um ein konstitutives Element sozialer resp. psychischer Systemorganisation handeln kann. Latenzen und Übergangsritualisierungen zusammen produzieren offensichtlich „inviolate levels“, eine gewisse Desynchronisation von Kommunikation und damit Gesellschaft, dem individuellem Leben und Streben sowie weitgehend sprachfreier Formen zwischenmenschlichen Verkehrs. Diese synchronisierende Desynchronisation wird als Kultur bezeichnet und wissenschaftlich untersucht. Kultur ist in diesem Sinne jenes Scharnier zum Alltagsverhalten, das dort – anders als in der Forschung – nicht auf Explikation, sondern auf Unterstellung gegründet ist. Unter der Bedingung der Moderne, das heißt voll literalisierter Kultur sind weitgehend interaktionsfreie Beobachtungs- und Wahrnehmungsmöglichkeiten ebenso entstanden wie ein riesiges Repertoire an Semantiken und Schemata zugänglich geworden ist, sodass nur recht abstrakte Werte diese Scharnierfunktion erbringen können. In den Akten des Hinsehens entsteht der Alltag als Form des Tuns und Machens, in dem Realitätsgewissheit, die Wiederaufnahmemöglichkeit

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von Kommunikation gewährleistet wird.57 „Subjektiv“ ist dem die Attitüde der Lebenswelt des Alltags vorausgesetzt, „objektiv“ die schmale selbstselektive Struktur gesellschaftlicher Kommunikation, die hier zugleich ihren Reizschutz findet. Die im dritten Kapitel angeführten Semantiken fallen nach Luhmann nicht zuletzt hier an: am Punkte der Kulturbildung, die sich schließlich nach dem Verlust von Perfektionsund Machbarkeitssemantiken in Form von Werten der „Selbstbestätigung von Kultur“ äußert (Luhmann 1998, S. 411). So wird eine Erwartungssicherheit konfirmiert, die Absprachen in vielerlei Hinsichten überflüssig macht, „Verhaltensoffenheit“ ermöglicht und dabei auch eine „kommunikationslose Verständigung“ zwischen einander bekannten und vertrauten Personen (Luhmann 2008, S. 31f.). Mit Verhaltensoffenheit ist angezeigt, dass Vieles im Alltag anders laufen kann, das aber der Modus der Wahrnehmung und insbesondere der Strukturzwang der Kommunikation zuerst darauf ausgerichtet sind, Abweichungen schnell zu vergessen. Die These des drift von Wissen im alltäglichen Gebrauch ist insofern kein Desiderat in Luhmanns Ansatz, sondern einer ihrer Stärken. Variation ist nach Luhmanns Modell der Normalfall, aber sie kommt zumeist nicht öffentlich zur Sprache und Strukturreproduktion ist die Folge (nicht zuletzt über die Formulierung von negativen Werten, etwa der Bewertung abweichenden Verhaltens). Damit ist ein Übersetzungsmodus ins Auge gefasst, der sich zwischen auferlegte und wesentliche Relevanzen schiebt und auch schieben muss. In der „Produktion“ von „inviolate levels“ begegnet uns also Schützens Wirkwelt wieder als einer auf Idealisierungen basierenden Kulturwelt. Diese Reproduktionen von Erwartungen, die nicht funktionssystemisch „gedeckt“ sind, die aber, so Luhmann, „einen erwartungssicheren Unterbau“ dafür hergeben, die Beo-

57 Das gilt zum Beispiel auch für avancierte „symbolische Appräsentationen“, denen man kaum ihre Existenz oder Berechtigung abzusprechen gewillt sein dürfte – ein prominentes Beispiel dürfte das Verständnis des Individuums sein, dass gerade keine „subjektive“ Perspektive zum Ausdruck bringt und auch nicht den Zwang zur Explikation subjektiver Perspektiven in einer sozial vorgefundenen Form (Typizität, Sprachlichkeit), sondern ein ausschließlich kommunikatives Produkt ist„Der Anspruch Individuum zu sein […] ist der Anspruch auf Ansprüche, ist ein Ansprüche generierendes Prinzip, mit dem man Informationen gewinnen, die Welt testen und sich dabei zugleich selbst bestimmen kann.“ (Luhmann 2005z, S. 129)

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bachtungen zweiter Ordnung, die das Primat funktionaler Differenzierung im Gesellschaftsaufbau sichern, „auszuhalten“ (Luhmann 2008, S. 54f.; Luhmann 1995, S. 556). Alltagskommunikation erscheint so als weitgehend entkoppelt von Funktionssystemstrukturen und ist gleichwohl systemisch verfasst und ermöglicht: Kommunikation über Gott und die Welt, Zonen der Indifferenz, der Wissenskulturen (kurz: dessen was akut nicht geregelt ist oder wird und doch wirkt). Grundlage ist also nicht Verstehen und vor allem nicht Verständigung, sondern die Gewährleistung des reibungslosen Ablaufs der dinglichen (objektivierenden) Abstimmung, des Redens über Sachverhalte als Grundlage arbeitsteiliger Zusammenarbeit in der korporealen Welt. Sie ist Ort der Kultur und aber auch der gruppenspezifischen Adaption, die Luhmann in seinen Analysen vernachlässigt hat. In der Kommunikation (vor allem der Massenmedien) wird demzufolge eine „latente Alltagskultur“ im Sinne eines Gedächtnisses erzeugt, auf das kommunikativ Bezug genommen werden kann, dass aber eine Welt an sich voraussetzt und in den meisten encounters unthematisiert bleiben kann (Luhmann 2004, S. 121; Luhmann 1999, S. 178f.). Dies Alltagskultur erlaubt es, jene Grundlage zu generieren, auf der eine kode-spezifische Ausdifferenzierung von Funktionssystemen und die kulturelle Konkretisierung struktureller Kopplungsstellen ermöglicht und vielleicht wichtiger: ertragen wird. Kommunikativ erzeugte Alltagskultur, Bewusstseinsorientierung auf Normalität, kommunikationsfreie Abstimmungen bilden in der Systemtheorie jenen Unterbau systemischer Autopoiesen, der als soziale Ordnung ihr Resultat und die Bedingung des Weiterlaufens zugleich darstellt. Die „negative“ Fundierung sozialer Selbsterzeugung und -ordnung geschieht, so gesehen, im Felde der Produktion von „inviolate levels“, mit Blick auf Handlungen also in Form von Werten und Motiven, die eine kollektive Umorientierung der Aufmerksamkeiten (wiederum: qua Kommunikation) im Normalfall verhindern. Auf dem Umweg über diese Mechanismen finden wir so in der Systemtheorie Luhmanns das wertende Selbstverhältnis des Einzelnen gleichsam als funktionales Pendant zur Polykontexturalität gesellschaftlicher Selbstbeschreibung wieder, als normatives Moment alltäglicher Diskurse in der Moderne (und folglich ohne universellen Erklärungsanspruch). Das Letztwertbedürfnis „des Menschen“ erklärt sich so aus der Evolution der Gesellschaft und als Form der Reflexion in der Gesellschaft. Unter dem Aspekt der „inviolate levels“ wird deutlich, dass

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die im zweiten Kapitel angeführten Bedenken Luhmanns gegenüber einer intellektuellen Konzentration auf das Handeln und seiner Zusatzsemantiken in der Nichtberücksichtigung der notwendigen Selektivität und Punktualität des Handelns im Alltagsgeschehen besteht. Diese „inviolate levels“ werden sozusagen anspruchsvoller und schwieriger im praktischen Umgang miteinander. Die voran stehenden Überlegungen beinhalten eine spezifische Lesart von Luhmanns Theorie, die die Rolle von Kultur und von Semantik in der Theoriearchitektur betrifft. Ihr funktionale Nachträglichkeit – des Öfteren Ansatz für Kritik – gegenüber Struktur (im Sinne von: Kommunikationsstruktur) zuzuordnen übersieht ihre konstitutive Rolle bei der Aufrechterhaltung von Struktur als Prämissen derselben im Felde struktureller Kopplungen. Prämisse meint: Referenzraum mannigfaltiger Möglichkeiten, der mit Präferenzen versehen ist. Die Bedeutung von Kultur und Semantik kann deshalb gar nicht unterschätzt werden. Handlung ist demnach Kulturerscheinung. Wir schließen damit den Kreis der hier betrachteten Handlungsthematik durch die Rückführung der Handlung in ihren kulturellen Kontext, dessen Immanenz die Systemtheorie aufzuweisen bemüht ist.

5.6 F AZIT Die Ordnung des Handelns und Erlebens, wie wir sie von Luhmann kennen, bildet a- oder präsemiotische soziale Verkehrsformen gleichsam in sozialen Systemen nach und gibt ihnen damit ein Existenzrecht im Spiegel der wahrnehmenden Bewusstseine, das diesen einen veränderten Zugriff auf ihr Tun und das der Anderen ermöglicht.58 Diese Ordnung fungiert vermittels der Kommunikation auch als latente Unterstellung, die dann virulent wird, wenn gleichsam die alltäglichen Lebensweisen sich zu Interaktionssystemen verdichten und Entscheidungen und Kundgaben gefordert werden. Innerhalb sozialer Systembildung bildet die Handlung (und sie begleitende Semantiken) so ein

58 So verstehe ich auch den folgenden Hinweis Srubars: „Das Handeln erhält hier [gemeint ist die sinnhafte Selbstregelung sozialer Wirklichkeit; M.K.] eine Schlüsselstellung, weil sich sein Verlauf sowohl als Erleben (Bewusstsein) als auch als externes Wirken (Kommunikation, Interaktion) konzeptualisieren lässt.“ (Srubar 2008, S. 481)

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Inklusionspotenzial qua Stillstellen des Körperbezuges (symbiotische Mechanismen), qua Trivialisierung (Zukunftsorientierung) und qua kultureller Werte, die heute weniger in der „großen Tat“ als im Streben nach dem „schönen Leben“ sowie der Selbstperfektionierung sozial exklusiv wirken. Diese Wirkung kann als Adaption der Handlung aus dem Feld der Kommunikation in den Bereich der Verfügung des Bewusstseins über sich selbst erfasst werden. Auf der lebensweltlichen Ebene bricht sich denn auch, daraufhin verweisen etwas Schützens angewandte Studien, das erfahrungsgesättigte Wirk-Verständnis an objektiven Sinnstrukturen, sobald es an Mitteln fehlt, sie in wesentliche Relevanzen zu überführen. Während der zwischenmenschliche Austausch leiblich in der Wirkwelt stattfindet, transzendiert das sprachliche Sinngeschehen diese Beziehungsebene und bildet den semiotisierenden Nukleus sozialer Ordnung. Aus der Sicht beteiligter Bewusstseine sind sowohl „körperliche“ und situative Objekte als auch das sprachliche Geschehen „real“ auferlegt und so subjektiv relevant. Das pragmatische Motiv selber ist aber nicht alleine Folge „einsamer“ Ausgesetztheit der Welt gegenüber. Während es als weithin akzeptiert unterstellt werden kann, dass die „Welt der Dinge“ einschließlich des körperlichen Verhaltens eine Existenz eigener Art hat, legt uns Luhmann nahe, dasselbe auch für die Welt der Kommunikation in Anspruch zu nehmen: für Gesellschaft. Als historische Form des pragmatischen Motivs bildet das Handeln die Grenze zwischen den Sphären, gehört somit aber zum Felde der symbolischen Appräsentation, in der soziale Beziehungen als Beziehungen gefasst sind. Soziale Ordnung umfasst jene Sphären – in kultureller Form. Handeln bildet daher nicht die letzte Quelle, sondern ist Moment basaler Selbstbeschreibung im Verfügungsbereich der funktionssystemübergreifenden Systemintegration der Gesellschaft – nämlich an der Kopplungsstelle zu den beteiligten Individuen. Hier muss letztlich die Aufrechterhaltung von Intersubjektivität als alltäglicher Unterstellung gesichert werden. Diese Frage tritt nicht allgemein, sondern immer in besonderer, das heißt empirischer Form auf, kann und wird aber immer in einer typischen Form „aufgelöst“ (als einer Ordnung von Typik und Relevanz: von Selektion und Motivation). Das Sinnpartikel Handlung hat demnach eine subjektive und eine objektive Seite und nur letztere taucht in der Kommunikation auf. Erstere spielt für den Aufbau spezifischen bewusstseinsmäßiger Attitüden eine Rolle und

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ermöglicht auch eine Verhaltenskontrolle in – vom Standpunkt der Kommunikation aus – asemiotischen sozialen Verhaltensweisen. Dieser Befund deckt sich mit der These der Autogenese sozialer Ordnung. Die raschen geräuschlosen Abstimmungen des Ich-kannimmer-wieder und des und-so-weiter in einer Welt an normalisierenden Abläufen orientierten, weitgehend folgendlosen Alltagsverkehrs „tragen“ Gesellschaft. Luhmann postuliert lediglich, dass diese Formen als Formen der Seinstranszendenz nicht aus der conditio humana abgeleitet werden können. Sie sind nach Luhmann als Folge der Differenzierung von psychischer und sozialer Sinnverarbeitung anzusehen, die als Differenz des Allgemeinen und des Spezifischen in den Kopplungsmedien repräsentiert ist. Der Kerngehalt der Aussage der Seinstranszendenz wird damit nicht geleugnet, sondern nur ihre Bedeutung bei der Erklärung der Entstehung und Geltung sozialer Ordnung modifiziert. Die Prämissen sozialer Selbstexplikation und Steigerung sind im Handeln und Erleben bezeichnet – als Resultat von Kommunikation und somit als kulturelle Wissenselemente mit notwendig historischem Bezug. Die Konstruktion des Handelns entspricht also auch Luhmanns Vorgabe der Zuordnung zu struktureller Kopplung. Operative Kopplungen bezeichnen in meiner Sicht jene rasch wechselnden, relevanten Eindrücke, die eine Reaktion seitens der gekoppelten Sinnsysteme (eine Adaption) erzwingen, wobei die Reaktionen durch die Medialität struktureller Kopplung ermöglicht und mit Plastizität ausgestattet werden. Sowohl Autogenese als auch Autopoiesis verweisen auf die sinnermöglichende Funktion nicht des individuellen Willens, sondern der Sozialität des zwischenmenschlichen Verkehrs, die durch Bewusstseins- und durch Kommunikationsprozesse in leiblichen und diskursiven Begegnungsfeldern gestaltet wird.

6.

Resümee „Es ist gut und schön, handeln zu können.“ (Ricœur 2006, S. 191) „Die Selbstbehauptung des Soldaten und Eroberers wird zu der eines Konkurrenten in Industrie, Handel oder Politik, eines Reformers oder Verwalters, eines Arztes oder eines anderen gesellschaftlichen Funktionärs. […] Ihr emotionaler Inhalt mag weniger lebhaft und impulsiv sein, aber sie sind das einzige Mittel gegen den Krieg.“ (Mead 1987, S. 284)

Eingangs der vorliegenden Untersuchung wurde gefragt, inwieweit die Bildung sozialer Systeme auf das individuelle Handeln zurückgeführt werden kann und muss. Anlass zu dieser Frage war die These Luhmanns, soziale Systeme würden sich ausschließlich autopoietisch reproduzieren. Das Handeln müsse deshalb als Produkt sozialer Sinnverarbeitung betrachtet werden. Damit wird die These, Gesellschaft bestehe „letztlich“ aus individuellem, sinnhaftem Handeln zurückgewiesen. Man kann Luhmanns Position dahingehend zuspitzen, dass die kommunikative Funktion des Handelns in der situativen Engführung der individuellen Aufmerksamkeitsspanne auf das symbolische Geschehen besteht, ja, diese zur Voraussetzung hat. Der Handlung leistet damit eine Distanzierung zum leiblichen Erleben, nämlich im Sinne der Selektion, der Einschränkung, der Kopplung, der Sorge, der Ord-

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nung, die im sozialen Verkehr ermöglicht und notwendig wird. Wie vorgeführt wird im Rahmen der Systemtheorie ein wechselseitig asymmetrisches Konstitutionsverhältnis entworfen, bei dem Personalität und Handlung an Schnittstellen, das heißt als basale Kopplungsstellen oder -formen angesiedelt sind, die Gesellschaft und Bewusstsein in ein Verhältnis zueinander setzen. Diese Schnittstellen werden jedoch nicht ihrerseits als wirkliche körperliche Individuen und deren absichtsvolles Verhalten gefasst, sondern komplexer: als sprachliche „Leerstellen“ oder Typiken, die strukturelle und semantische Elemente der Kommunikation aufnehmen können, dadurch dem Denken eine Form geben und darüber schließlich koordiniertes Tun im zwischenmenschlichen Verkehr plastischer machen. Handlung und Person werden somit zu Produkten reflexiv geordneter Kommunikation auf der Grundlage nicht einer intentionalen, sondern einer strukturellen Kopplung zwischen Individuum und Gesellschaft. Nur in der Kommunikation sind sie unabdingbar, denn im zwischenmenschlichen Verkehr sind auf der materialen Ebene (der Wahrnehmungsverschränkung) auch andere Orientierungen möglich und nötig (Körper, Einwirkung, Gewalt etc.). Sieht man Kommunikation nicht als eine Art allumfassendes System, sondern als zwar omnipräsenten, aber doch „schmalen“ Ausschnitt der Selbsterzeugung von Sinn und Kultur in der Sprachpragmatik und auf der Basis der Kopplung an bewusstseinsvermittelte Verhaltensintegration, so erscheint die Handlung also als selektive Grenze, als „Reizschutz“ zwischen Bewusstseins-, Ko-Präsenz- und Kommunikationsprozessen. In diesem Sinne emanzipiert die Handlung den Menschen von der Unmittelbarkeit des Gegebenen und kann deshalb nur im Rahmen eines explizit und für jeden sichtbar eigendynamischen, selbsterzeugenden Geschehens der Kommunikation entstehen. Dieser Sachverhalt leitet sich nicht nur aus der vermeintlich verqueren Architektur der Systemtheorie ab (siehe Kapitel vier), sondern er wird auch in der handlungstheoretischen Tradition mitgeführt. Nach der Handlung zu fragen mündet nämlich einerseits in ein wissenssoziologisches und andererseits in ein konstitutionstheoretisches Problem: Aus der wissenssoziologischen Perspektive lässt sich die These formulieren, dass das Postulat des individuellen Handlungsvermögens ideologische Elemente beinhaltet. Handlungssemantiken bilden gewissermaßen eine Form des „Herrschaftswissens“: Handeln-Können und (technokratische) Herstellung von Handlungsfähigkeit sind zwei Sei-

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ten einer Medaille. Typisch werden instrumentelle Handlungsverständnisse diesem Felde zugeordnet und kritisiert, etwa das ZweckMittel-Schema und dessen Technizismus und Gestaltbarkeitsfanatismus (vgl. Hesse 1999, 272f.). Es gibt aber keinen guten Grund, diese Kritik nur gegen den instrumentellen Handlungsbegriff zu richten. Auch in Entwürfen etwa der praktischen Klugheit, der Inszenierung (Neckel 2008, S. 13) und selbst noch des kommunikativen Handelns wird individuelle Selbstverfügung über sozial relevante Ereignisproduktion begründet. An die Selbstverfügung bindet sich die Vorstellung der Verantwortlichkeit, die dann als „Individualethik“ (Münch) Restriktionen auf sozialer und auf individueller Seite nach sich zieht und in diesem Sinne als Kultur resp. als Semantik selektiv in einer Weise wirkmächtig wird, die aus systemtheoretischer Sicht sorgenvoll betrachtet wird (siehe Kapitel zwei). Dies stellt nach der hier vorgelegten Untersuchung eine semantische Überhöhung und Ergänzung der Funktionsweise symbiotischer Mechanismen dar. Dabei handelt es sich somit um ein „imposement of relevance structures“ mit Blick auf den Entwurfscharakter menschlichen Tuns im Schütz’schen Sinne – ohne den allerdings die Individuen untereinander bleiben würden und keine Möglichkeit hätten, Situationen zu transzendieren. Meines Erachtens fungiert die Handlung – aus der individuellen Sicht – also horizonterweiternd (und ist deshalb per se „entfremdend“ und kann ideologisch gewendet werden). Ob und inwieweit diese jedoch den Alltag durchdringt und durchdringen kann, wird auch von einigen Vertretern handlungstheoretischer Ansätze skeptisch betrachtet und wäre eine spannende empirische Untersuchungsfrage (siehe Kapitel drei). In der an konstitutiven Bedingungen der Sozialität orientierten Sichtweise scheint die Antithese zur wissenssoziologischen Diagnose auf: Tun und Handeln sind demnach Ausdruck des „Wesenswissens“ vom Menschen und seinem Weltzugang. Die sinnkonstitutiven Akte des Bewusstseins versorgen den Menschen mit einer „realen“ Außenwelt, die es ihm ermöglichen, sich manipulativ und intellektuell zu dieser Welt zu verhalten, sie also zu akzeptieren und darüber zu gestalten (siehe Kapitel fünf). Das Handeln dient gewissermaßen der Verankerung in der (sozialen) Welt und der reflektierenden Distanzierung zu ihr. „Ist die Fähigkeit zu handeln in ihrer Minimalgestalt als Fähigkeit zu überleben nicht gesichert, wird der Hunger entfesselt. Daraus folgt, daß der Schutz vor

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schädlichen Eingriffen anderer, den die Libertären bis zum äußersten treiben, nutzlos ist, wenn nicht zugleich spezifische Maßnahmen zur Sicherung einer minimalen Handlungsfähigkeit ergriffen werden. Und diese Fähigkeit, zu sein und zu handeln wiederum ist, wie sich erweist, von den Freiheiten nicht zu trennen, die von den politischen und juridischen Instanzen gewährleistet werden.“ (Ricœur 2006, S. 187f.; Hervorhebung im Original) „Ein bestimmtes Minimum an Freiraum für Entscheidungen – nicht nur für rationale oder tugendhafte Entscheidungen – muß gewährleistet sein, sonst könnte man das Handeln der Menschen nicht mehr sinnvoll als frei bezeichnen.“ (Berlin 2006, S. 54)

Die beiden – aus konträren philosophischen Positionen heraus formulierten – Zitate verdeutlichen, dass aus konstitutionstheoretischer Sicht Seins- und Handlungsvermögen (Welt und Leben), obwohl sozial vermittelt, untrennbar verbunden sind. Die Menschen können, mit Schütz, aber auch mit Luhmann gesprochen, nicht anders als sich selbst auslegen und das heißt, sich als tätig-seiend erleben in eben jener Selbstbezüglichkeit, die dem Tätigsein eigen ist und die „echte“ Fremdbestimmung auf gewalttätige Einwirkung reduziert. So betrachtet, wird die eigentümliche Stellung der Handlung sowohl als Semantik- als auch als Strukturelement im sinnhaften Aufbau sozialer Wirklichkeit sichtbar. Menschliches (Er-)Leben besteht aber nicht nur in der Teilnahme an Kommunikation. Nur beinahe alle Ausdrucksformen des (Selbst-) Erlebens werden qua Kommunikation gebildet. Zugleich besteht die „Welt“ aus mehr als dem, was man beobachten und (historisch) beschreiben kann. Verstehen wir soziale Ordnung als eine Art Momentaufnahme einer im großen und ganzen geregelten Welt des sozialen Verkehrs, als einer recht stabilen und enttäuschungsfesten Erwartungsstruktur, dann müssen wir die Orientierungen der Individuen als Subjekten und auch ihr Tun mit einbeziehen. Daran führt kein Weg vorbei, und dies würde auch nicht durch eine Luhmann’sche Theorie infrage gestellt werden. Dies ändert jedoch nichts an dem Befund der kommunikativen Selbstregulierung (Produktion und Tradierung) der Elemente dieser Ordnung. Bewusstsein und Leiblichkeit sind am Prozess der Bildung und Reproduktion sozialer Systeme und sozialer Ordnung beteiligt. Infrage steht nur, ob der Handlungsbegriff geeignet ist, diesen Sachverhalt in eindeutiger und schlüssiger Weise zum Ausdruck

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zu bringen: Er ist inadäquat nicht etwa deswegen, weil Bewusstsein (und Körper) für soziales Geschehen keine Bedeutung hätte(n), sondern weil er – und hierin scheint mir der Ertrag der Untersuchung zu liegen – nur den expliziten, kommunikativ geformten „Teil“ sozialer Systeme bezeichnet und so das Konstitutionsproblem sozialer Ordnung in seiner ganzen Breite eher verstellt als erhellt. Die Verwendung des Handlungsbegriffs führt zur Vorstellung der Inklusion eines Allgemeinen in die Sinnproduktion sozialer Wirklichkeit und verstellt so die Konstitutionsprozesse dieses Beitrages als eines immer konkreten Geschehens. Als eine der Quintessenzen des radikalen Konstruktivismus wird diese Annahme, die eine Entsprechung in jedem positiv verfügbaren Wissensvorrat hat, hie und da übersehen. Im „radikalen Konstruktivismus“ Luhmanns zumindest gewinnt die Konstruktion nicht durch Akte legitimatorischer Verständigung Geltung. Jeder Akt gilt. Die daraus resultierende Plastizität bzw. „Lebendigkeit“ des Bewusstseins einschließlich seiner Selbstbezüglichkeit ermöglicht es, dass sich überhaupt Kommunikation zwischen Bewusstseinen bilden kann. Die Kritik an der wechselseitigen Äußerlichkeit von Kommunikation und Bewusstsein scheint die Begründung dieses Gedankenganges in der Tradition zu übersehen. Im Vergleich von System- und pragmatischer Lebenswelttheorie zeigen sich denn auch Anschlussmöglichkeiten und Überschneidungen, die für eine Verständigung zwischen system- und handlungstheoretischen Positionen genutzt werden können. Es handelt sich in der Schütz’schen Sprache beim Handeln um eine symbolische Appräsentation, die sozusagen mit einem Bein in der Wirkwelt der Bewusstseine und mit einem Bein in der Welt der Kommunikation steht. Von „innen“ betrachtet symbolisiert die Handlung genau diesen Sachverhalt und kann deshalb von „außen“ als Zeichen betrachtet werden (als Verhältnis von Bezeichnendem und Bezeichnetem). Wir sehen, was Menschen tun, aber nur einiges davon symbolisiert ein „echtes“ Handeln und provoziert so Kommunikation – genauer: ist im Moment der Provokation bereits Kommunikation. Berger und Luckmann sprechen an dieser Schnittstelle von „Tätigkeiten“, die einen subjektiven Sinn zum Ausdruck bringen und durch die Gesellschaft „konstruiert“ wird (Berger/Luckmann 2003, S. 20). Dem widerspricht Luhmanns Theorie nicht – wenn wir es bei Tätigkeiten belassen und sehen, dass, werden die Tätigkeiten „Handlungen“, wir in den Modus der Kommunikation überwechseln.

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Es besteht also kein grundlegender Widerspruch zwischen der Annahme der Autogenese sozialer Ordnung und der Autopoiesis sozialer Systeme. Soziale Ordnung ist ein weiter gespanntes Konzept als das der Autopoiesis sozialer Systeme. Die Ansätze lassen sich integrieren unter der Bedingung der Zurückweisung der Vereinnahmung des individuellen Tuns und der sozialen Kommunikation durch das Handeln, sei es in Form der Aufführung, der Diskursteilnahme oder der strategischen Vorteilssuche. Zugleich lässt sich so die Funktionalität der Handlungssemantik präziser erfassen: Sie ist quasi der ultimative Inklusionsmodus im Selbstbeschreibungsvorgang des Sozialen und reproduziert dadurch immer auch Legitimation für Ausschlussprozesse (zum Beispiel: Nutze deine Talente). In reflexiven Selbstbeschreibungsformen übernimmt das Handeln eine Funktion der ein- und ausschließenden Selektion. Den letzten Gedanken aufgreifend, soll mit dem Hinweis auf soziologische Themenfelder geschlossen werden, in denen die Handlungsproblematik am Gegenstand ausgearbeitet und über den „Umweg“ der Gegenstandsbetrachtung zu weiteren Anschlussmöglichkeiten für system- und handlungstheoretische Analysen führen könnte. Es handelt sich um das Problem theoretischer Vorentscheidungen in der empirischen Forschung, um das Verhältnis von Kommunikation und Handlung sowie um Fragen der Systemintegration. Auch wenn man Luhmanns Interpretation der Handlung als einem geschichtlichen Artefakt nicht teilt, wird man einräumen, dass die universelle Zuschreibung von „agency“ nicht in jedem Falle und in gleichem Maße über alle Lebensbereiche hinweg ein Korrelat in den Lebensvollzügen konkreter Individuen hat. Eine Revision des Handlungsbegriffes verspricht hier Möglichkeiten für die empirische Forschung. Gerade sie kann davon profitieren, wenn das individuelle Handlungsvermögen nicht vor der Forschung als theoretisches Postulat schon festgelegt ist. Die „Verfertigung“ von Handlungsvermögen, Handlungskompetenz, Subjektivierung oder Willensfreiheit stellt sich häufig als empirische Interventionsform im zu untersuchenden Geschehen dar (so zum Beispiel bei: Maasen et al. 2008). Eine im weiteren Sinne gesellschafts- oder sozialtheoretische Aufarbeitung dieser Sachverhalte ist geboten, ist aber nur dann möglich, wenn diese Beobachtung nicht ihrerseits als Bestätigung handlungstheoretischer Prämissen gewendet wird (siehe aus der Sicht der kritischen Theorie den Vorschlag von Freytag 2008, S. 112ff.).

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Unter Berücksichtigung asemiotischer Kommunikation wird klar, was Luhmann in seinem Spätwerk zunehmend beunruhigt registriert hat: Kommunikation ist nicht nur riskant, sie ist auch rückversichert in der Bedrohung des für Luhmann so wichtigen empirischen Lebens und Überlebens. Das scheint mir der springende Punkt, seine kritische Emphase zu sein: der nicht-kommunikativen Verhältnissen im sozialen Zusammenleben, der menschlichen, körperlichen Existenz ein Eigenrecht in der Theorie zuzubilligen, die nicht von vorneherein durch die Logik der Handlung sozialsystemischen Imperativen und Perfektionierungssemantiken untergeordnet wird. Bei der Betonung verständigungsorientierten Handelns, bei der Betonung kreativer Potenziale des Handelns und bei der Betonung kollektiver Handlungsrationalität wird häufig deren „negative Seite“ mit Blick auf das Leben unterschlagen oder in den berühmten nicht-intentionalen Folgen jenen Handelns versteckt. Es scheint daher nicht auszureichen, die im Handeln eingeschlossene Vorstellung der gesellschaftlichen Selbststeuerung und Selbsteinwirkbarkeit unter das Verdikt des „Mythos der Moderne“ (Jameson 2007) zu stellen. Vielmehr wird im zunehmenden Maße (wieder) sichtbar, dass die „glorification of the man of action“ (Merton 1973, S. 256) selbst polemogene Züge entfaltet. Im Verbund mit systemisch erzeugten und sich verhärtenden Ungleichgewichten der Verteilung von Geld, Macht, Einfluss usw. offerieren Handlungszuschreibungen oftmals eindimensionale Schemata: Wir-Ihr-Schemata, GutSchlecht-Schemata, Richtig-Falsch-Schemata, Innen-Außen-Schemata usw. Systemische Leistungsstrukturen erscheinen dann nurmehr als artifiziell und verderblich (Wasserköpfe, Elfenbeintürme, Heuschrecken usw.). Die Konsequenzen des „von oben“ und „von unten“ betriebenen Abbaus der Legitimität und der Funktionsweise sozialer Großinstitutionen und die Bedeutung der Handlungssemantik in diesem Kontext verdienten Beachtung in der Forschung. Das „Diktat der Tat“ äußert sich Luhmanns Analysten zufolge „lebensweltlich“ in einer Abblendung von Nicht-Wissen durch „Ungeduld“ und in der Erzeugung chronischer Besorgnis (Luhmann 1992a, S. 202). In diesem Sinne versteht Bauman „Angst“ als zentrale Gefühlslage (und Semantik) am Beginn des 21. Jahrhunderts. Angst wird zum Produktionsfaktor, zum politischen Leitthema und zur alltäglichen Nemesis:

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„Unter all den Mechanismen, die darum wetteifern, dem Menschheitstraum eines Perpetuum mobile zu entsprechen, gebührt jenem sich selbst reproduzierenden Gewirr aus Angst und aus der Angst geborenen Handlungen ein Ehrenplatz.“ (Bauman 2008, S. 18)

Die so beschriebenen emotionalen Folgen einer Überdehnung der Handlungs- und Gestaltungssemantik sind auch dann mit Kommunikation verbunden, wenn damit originär das Problem des pragmatischen Motivs angesprochen ist. Wenn es richtig ist, dass dem Bewusstseinsgeschehen sein Leib sowie ein zu „beherrschendes“ Umfeld auferlegt sind, dann beziehen sich Gestaltungsfragen des Lebens des Einzelnen nicht nur auf die Motive und Attitüden der Einzelnen, sondern auch darauf, wie dieses Umfeld strukturell und semantisch im Rahmen sozialsystemischer Kommunikation in Anspruch genommen und präformiert wird und auf diesem Wege in die Attitüden der Beteiligten einsickert. Kommunikation, die alle Weltbeobachtung unter den Druck eines Handlungsmotivs stellt, produziert nicht nur eine spannungsreiche Inklusions- und Exklusionslogik, sondern damit auch eine Kultursituation, in der „inviolate levels“ nicht der Beruhigung, sondern der Beunruhigung dienen. Die Handlungslogik ist Teil dieser Kulturentwicklung. Eine Problematisierung der Funktionsweise von Handlungssemantiken eröffnet zusammengefasst Möglichkeiten des differenzierenden empirischen Zugriffs, wenn die Kompaktformulierung Handlung vom Datum zum Thema gemacht wird. In der Systemtheorie wird dieser Schritt vorgeschlagen und vollzogen. Theoretische, auch grundlagentheoretische Auseinandersetzungen in diesem Sinne auch gegenstandsbezogen zu führen, kann und muss nicht zur Auflösung der in meinen Augen produktiven „Paradigmenvielfalt“ führen. Der Vorschlag will auch nicht als Aufruf verstanden werden, theoretische Auseinandersetzungen nicht mehr theoretisch zu führen. Mit dem Vorschlag ist einzig das Anliegen verbunden, nicht ausschließlich Differenzen, sondern auch Berührungspunkte sichtbar und fruchtbar zu machen.

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Sozialtheorie Ulrich Bröckling, Robert Feustel (Hg.) Das Politische denken Zeitgenössische Positionen Januar 2010, 340 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1160-1

Anina Engelhardt, Laura Kajetzke (Hg.) Handbuch Wissensgesellschaft Theorien, Themen und Probleme Oktober 2010, 378 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1324-7

Markus Gamper, Linda Reschke (Hg.) Knoten und Kanten Soziale Netzwerkanalyse in Wirtschaftsund Migrationsforschung Oktober 2010, 428 Seiten, kart., zahlr. z.T. farbige Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1311-7

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Elisabeth Mixa Body & Soul Wellness: von heilsamer Lustbarkeit und Postsexualität Januar 2011, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1154-0

Stephan Moebius, Sophia Prinz (Hg.) Das Design der Gesellschaft Zur Kultursoziologie des Designs Oktober 2011, ca. 300 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1483-1

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Sozialtheorie Roswitha Breckner Sozialtheorie des Bildes Zur interpretativen Analyse von Bildern und Fotografien Dezember 2010, ca. 386 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1282-0

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Michael Busch, Jan Jeskow, Rüdiger Stutz (Hg.) Zwischen Prekarisierung und Protest Die Lebenslagen und Generationsbilder von Jugendlichen in Ost und West Januar 2010, 496 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1203-5

Pradeep Chakkarath, Doris Weidemann (Hg.) Kulturpsychologische Gegenwartsdiagnosen Bestandsaufnahmen zu Wissenschaft und Gesellschaft Dezember 2010, ca. 226 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1500-5

Karin Kaudelka, Gerhard Kilger (Hg.) Die Arbeitswelt von morgen Wie wollen wir leben und arbeiten? Oktober 2010, 230 Seiten, kart., zahlr. Abb., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1423-7

Carolin Kollewe, Elmar Schenkel (Hg.) Alter: unbekannt Über die Vielfalt des Älterwerdens. Internationale Perspektiven Januar 2011, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1506-7

Thomas Lenz Konsum und Modernisierung Die Debatte um das Warenhaus als Diskurs um die Moderne Dezember 2010, ca. 218 Seiten, kart., ca. 23,80 €, ISBN 978-3-8376-1382-7

Stephan Lorenz (Hg.) TafelGesellschaft Zum neuen Umgang mit Überfluss und Ausgrenzung August 2010, 240 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1504-3

Jürgen Howaldt, Michael Schwarz »Soziale Innovation« im Fokus Skizze eines gesellschaftstheoretisch inspirierten Forschungskonzepts August 2010, 152 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-8376-1535-7

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