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German Pages 422 Year 2018
Soziologische Schriften Band 85
Die institutionelle Bestimmtheit sozialer Systeme Niklas Luhmanns Systemtheorie und die Soziologie der „Leipziger Schule“
Von
Andreas Höntsch
Duncker & Humblot · Berlin
ANDREAS HÖNTSCH
Die institutionelle Bestimmtheit sozialer Systeme
Soziologische Schriften
Band 85
Die institutionelle Bestimmtheit sozialer Systeme Niklas Luhmanns Systemtheorie und die Soziologie der „Leipziger Schule“
Von
Andreas Höntsch
Duncker & Humblot · Berlin
Die Philosophische Fakultät der Technischen Universität Dresden hat diese Arbeit im Jahre 2015 als Dissertation angenommen.
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© 2018 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany
ISSN 0584-6064 ISBN 978-3-428-15111-0 (Print) ISBN 978-3-428-55111-8 (E-Book) ISBN 978-3-428-85111-9 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Vorwort und Dank Vorwort und Dank
Die vorliegende Studie ist eine überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift, die im September 2014 eingereicht und im November 2015 von der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Dresden angenommen wurde. Das Vorhaben, mich nicht nur mit der Systemtheorie Niklas Luhmanns, sondern auch mit der von vielen Beobachtern totgesagten Leipziger Schule auseinanderzusetzen, geht auf die beim Studium der Schriften Niklas Luhmanns aufgetauchte Frage zurück, warum Luhmann regelmäßig die geheimnisvoll anmutenden Titel der Werke Gotthard Günthers zitiert. Die daran anschließende Frage, worin die Verbindung zwischen der Reflexionstheorie Günthers und der Soziologie bestehe, führte mich zum Denken der Leipziger Schule um Hans Freyer, Arnold Gehlen und Helmut Schelsky. Der Rückweg zu Luhmann erwies sich erwartungsgemäß als schwierig, aber gangbar. Weil die sachliche Relevanz des Problems der Reflexion nach wie vor gegeben ist, habe ich die Darstellung nicht chronologisch, sondern gegenläufig zur Abfolge der Theorieentwicklung aufgebaut. Es war daher mit einer Problematisierung der Systemtheorie anhand der von Elena Esposito mit Güntherschen Begriffen beschriebenen Reflexionsprobleme der Exklusion, des Risikos und der Ökologie zu beginnen. Dafür, daß ich diesen Grenzbereich von Soziologie und Philosophie beleuchten konnte, habe ich an erster Stelle Herrn Prof. Dr. Jost Halfmann (Technische Universität Dresden) zu danken, der meine Dissertation betreut und begutachtet hat. Die Freiräume, die er mir an seinem Lehrstuhl bot, haben die Arbeit in dieser Form erst ermöglicht. Herrn Prof. Dr. Andreas Göbel (Julius-Maximilians-Universität Würzburg) schulde ich Dank für sein spontanes Interesse am Thema und für die Übernahme des Zweitgutachtens. Seinen Einschätzungen, Nachfragen und Einwänden verdanke ich in entscheidenden Punkten die Klärung meiner eigenen Position. Herr Prof. Dr. Karl-Siegbert Rehberg (Technische Universität Dresden), der den Vorsitz in der Promotionskommission innehatte, hat mein Projekt von Anfang an wohlwollend und unterstützend begleitet. Für seine Anregungen und die daraus resultierende Motivation danke ich ihm herzlich. Ein herzlicher Dank für eine Reihe klärender Gespräche und die Lektüre des zweiten Kapitels der vorliegenden Arbeit geht auch an Herrn Prof. Dr. Reinhard Hiltscher (Technische Universität Dresden), dessen Seminare und Vorlesungen mir einen Zugang zur Transzendentalphilosophie eröffneten. Gedankt sei auch meinen Kollegen vom Dresdner Institut für Soziologie. Dr. Stephan Hein hat Teile des Manuskripts gelesen und machte mich auf manche Parallele der Gehlenschen Anthropologie zum Denken von Claude Lévi Strauss aufmerksam. Die konstruktiven inhaltlichen und stilistischen Hinweise von Dr. Patrick Wöhrle haben zur Verbesserung des Gehlen-Kapitels beigetragen. Für sein Interesse und die Kommentierung des
Vorwort und Dank
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letzten Teils der Arbeit danke ich Dr. Roland Braun (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf). Mario Migliore möchte ich für vergangene Treffen im Geviert und für Lektüre und Diskussion der (bedeutend umfangreicheren) Abgabefassung danken. Für unseren jahrelangen Gedankenaustausch, ungezählte Gespräche und neue Einsichten, vor allem aber für seine Freundschaft geht mein Dank schließlich an Tino Werner, dessen klarer Blick für das große Ganze mich vor mancher Verstrickung in Detailfragen bewahrt hat. Dresden, im Januar 2018
Andreas Höntsch
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Leipziger Schule und Systemtheorie: Zur Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Aufbau der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 A.
Zur Systemtheorie Niklas Luhmanns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 I.
Grenzprobleme der Gesellschaft und der Systemtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
II.
1. Exklusion .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 a) Inklusion als politisches Programm und als soziologischer Begriff . 31 b) Exklusion als „Restproblem“ des Wohlfahrtsstaates . . . . . . . . . . . . . . . 38 2. Risiko .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 a) Sicherheit, Risiko und Gefahr im Wohlfahrtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 b) Katastrophenrisiken und Gefahren zweiter Ordnung .. . . . . . . . . . . . . . 62 3. Ökologie .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 a) Die Aspekte des ökologischen Problems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 b) Technik als ökologischer Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 c) Hochtechnologien .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 d) Computertechnik .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Das Problem der Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
1. Der systemtheoretische Begriff der Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Reflexion als Beobachtung dritter Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Problem der Einheit sozialer Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Systemtheorie und Transzendentaltheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Reflexion und Bestimmtheit in der Transzendentaltheorie .. . . . . . . . . . . a) Das transzendentaltheoretische Problem der Reflexion . . . . . . . . . . . . b) Reflexion in konstitutiver und in regulativer Hinsicht . . . . . . . . . . . . . 3. Konstitution und Regulation in der Systemtheorie .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kommunikation und soziale Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
89 91 94 96 97 99 104 112 121
1. Die Konstitution sozialer Systeme: Grenzbildung durch doppelte Kontingenz .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 2. Der Schematismus sozialer Systeme: die Adressierung von Handlung 133 3. Die Situation der doppelten Kontingenz und die Warnung vor Katastrophen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 B.
Zur Soziologie der Leipziger Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 IV. Vom „okzidentalen Rationalismus“ zur „Selbstbegegnung des Abendlandes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
Inhaltsverzeichnis
8
V.
Reflexion und Wille: Zu den frühen Schriften von Gotthard Günther, Arnold Gehlen und Helmut Schelsky . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
1. Zur Theorie des Denkens .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 2. Das logische Problem des Du .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 3. Zur Lehre vom Willen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 4. Handeln als rationale Wahl und als freie Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . 193 5. Das Du als Problem der Handlung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 VI. Eine reflexionstheoretische Relektüre von Arnold Gehlens Anthropologie 208 1. Vorüberlegungen zur theoretischen Verortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 a) Zwischen Idealismus und Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 b) Gehlens Selbstrevisionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 2. Das Problem der Handlungskonstitution in elementarer Anthropologie und Institutionenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 3. Stabilisierung und Vereinzelung als Effekt von Institutionen . . . . . . . . . 237 4. Empirische Kreisprozesse der Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 5. ‚Das Tier‘ als Ideal vollständiger institutioneller Bestimmung .. . . . . . . 252 VII. Soziologie und Politik: Zur Soziologie Hans Freyers .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 1. Die Leipziger Schule im differenzierungstheoretischen Diskurs der Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 2. Die Kultursysteme und der Verfassungsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 3. Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 C.
Die institutionelle Bestimmtheit sozialer Systeme .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 VIII. Das politische System in Luhmanns Handlungssystemtheorie . . . . . . . . . . . . 312 IX. Die geschichtliche Bestimmtheit sekundärer Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 X.
Systemtheoretische Transformationen handlungstheoretischer Begriffe .. 359
1. Wille und System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sinn und Handlung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Generalisierte Medien der Problemlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI. System und Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
360 365 368 370
Schlußbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Sachwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416
Einleitung Leipziger Schule und Systemtheorie: Zur Fragestellung Die von Niklas Luhmann ausgearbeitete Systemtheorie stellt den theoretisch ambitioniertesten Versuch dar, die Realität der modernen Gesellschaft soziologisch zu begreifen. Bekanntlich erhebt die Systemtheorie mit dem Begriff des sozialen Systems den wissenschaftlichen Anspruch auf Universalität der Gegenstandserfassung des Sozialen.1 Gleichwohl gibt es gesellschaftliche Probleme, die in der Architektonik der Systemtheorie keinen begrifflichen Ort haben und somit das systemtheoretische Postulat universeller und nicht nur ausschnitthafter Erfassung ihres Gegenstandsbereiches in Frage stellen. Diese Probleme werden hier unter den Stichworten Exklusion, Risiko und Ökologie zusammengefaßt und als Grenzprobleme sowohl des Sozialen als auch der Systemtheorie behandelt. Die Form der Sozialität, in welcher die genannten Probleme adäquat berücksichtigt werden können, ja deren Kern sie bilden, ist die Form des Institutionellen. Die im folgenden zu entfaltende These lautet daher: Der Begriff des sozialen Systems setzt den Begriff der Institution voraus. Dies erfordert eine erneute Beschäftigung mit der Handlungs- und Institutionenlehre der Leipziger Schule. Schon Luhmann ging keineswegs davon aus, daß sich die genannten Grenzprobleme dem Begriffsapparat der Systemtheorie ohne weiteres fügen, weshalb er bestimmte systemtheoretische Grundbegriffe wiederholt in Frage stellte. Dies sei zur Veranschaulichung kurz angedeutet. Exklusion als Restproblem entwickelter Wohlfahrtsstaaten stellt nicht nur deren in Alltag und Öffentlichkeit gern als „Integration“ bezeichnete Idee einer immer weiter zunehmenden und umfassenden Inklusion aller Menschen in Frage. Wohlfahrtsstaaten rufen aufgrund der von ihnen betriebenen „totalitären Inklusionslogik“2 zunehmend selbst Probleme hervor, die vom Funktionssystem der Politik mit seiner Leitunterscheidung Regierung und Opposition kaum noch bearbeitet werden können. Man denke zum Beispiel an das Phänomen der „Papierlosen“3, die weder einen Zugang zu Sozialleistungen noch zum Arbeitsmarkt, aber auch nicht zum Gesundheits- oder zum Bildungssystem bekommen können oder wollen. Sie sind für das politische System, für den Wohlfahrtsstaat und seine Organisationen, für das Rechts- und Wirtschaftssystem gewissermaßen unsichtbar. Soziologisch interessant wird dies, wenn im Blindbereich der funktio1 Vgl.
Luhmann, Soziale Systeme, S. 9. Luhmann, Gesellschaft, S. 626. 3 Vogel, Kurzdossier, S. 4. 2
Einleitung
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nalen Differenzierung und ihrer Organisationen „längerfristige, strikte Integrationen, Gemeinschaftsbildungen, Korporationen entstehen […], die so mächtig werden, daß sie nicht mehr als Ressource der funktionalen Differenzierung nutzbar sind“ und somit letztlich auch „die moderne soziale Individualität der Person […] unterlaufen“4. Das Risiko der Zulassung und Betreibung von Hochtechnologien wie Atomtechnik, Gentechnik oder Nanotechnik stellt die Grundlagen der Funktionssysteme des Rechts und der Wissenschaft in Frage. Der Versuch, Schadenseintrittswahrscheinlichkeiten zu berechnen oder eventuelle Folgeschäden solcher Techniken aufgrund bisheriger Erfahrungen vorauszusagen, scheitert hier – und damit die systemtheoretisch zentrale Form des kognitiven Erwartens. Ähnliches gilt für das Recht. Die Zukunftsorientierung des Risikos läuft der Form der Normativität zuwider. Versucht man, Risiken rechtlich zu bearbeiten, gefährdet man den Bestand des Rechts. Auch das Problem der Ökologie hängt eng mit der Frage der Technik zusammen. Die Umwelt der modernen Gesellschaft ist nicht mehr natürlich, sondern in zunehmend irreversibler Weise technisch. Am Beispiel der Computertechnik zeigt sich, daß in der sich verbreitenden Kopplung des Bewußtseins an Computer die kommunikationstheoretisch zentrale Unterscheidung von Information und Mitteilung aufgelöst wird und damit der Systembegriff zur Disposition steht. Luhmann fragt deshalb, „ob wir mit Kommunikation auch dann noch rechnen […], wenn man Computerinformationssysteme hat, aus denen man sich fallweise etwas heraussucht, das man selbst dann neu kombiniert […]. Wer kommuniziert jetzt mit wem? Eignet sich unser Begriff überhaupt noch dafür? Oder sind wir schon an einer Schwelle, wo man sieht, dass wichtige Informationsverarbeitungsverfahren unserer Gesellschaft schon nicht mehr als Kommunikation klassifiziert werden? Oder müssen wir den Begriff neu bilden, aber wie?“5
Die an Luhmann anschließenden Diskussionen etwa der Risikosoziologie oder der Soziologie der Inklusion und Exklusion haben hingegen versucht, diese Theorieprobleme weitgehend zu normalisieren und möglichst bruchlos in das bestehende Begriffsgebäude der Systemtheorie einzugliedern. Es wird zu zeigen sein, daß dies ohne handlungs- und institutionentheoretische Zusatzüberlegungen nicht möglich ist. Allerdings kann es nun nicht darum gehen, Handlungs- und Institutionenlehre gegen die Systemtheorie auszuspielen. Vor allem sollte das von letzterer erreichte theoretische Niveau nicht unterschritten werden. Das Ziel der vorliegenden Untersuchung ist daher die systematische Verknüpfung der Kommunikations- und Systemtheorie Niklas Luhmanns mit der Handlungs- und Institutionenlehre der Soziologie der Leipziger Schule. Die These lautet: Begreift man Exklusion, Risiko und Ökologie als gesellschaftliche Grenzprobleme, welche Rückwirkungen auf die Bestimmtheit sozialer Systeme haben und so-
4 5
Lehmann, Restprobleme, S. 174. Luhmann, Einführung in die Systemtheorie, S. 314.
Leipziger Schule und Systemtheorie: Zur Fragestellung
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mit als Reflexionsprobleme6 auftreten, ergibt sich über den Begriff der Reflexion die Möglichkeit, die Handlungs- und Institutionenlehre der Leipziger Schule systematisch auf die Kommunikations- und Differenzierungstheorie Luhmanns zu beziehen und die Restprobleme der Unbestimmtheit der allgemeinen Theorie sozialer Systeme zu beheben, indem die institutionelle Einbettung sozialer Systeme ins soziologische Bewußtsein gehoben wird. Die Aufgabe besteht also vordringlich darin, die institutionelle Bestimmtheit sozialer Systeme schon in den Grundbegriffen der allgemeinen Systemtheorie nachzuweisen. Vor dem Hintergrund der Probleme Exklusion, Risiko und Ökologie wird sich dann, bildlich gesprochen, die moderne Gesellschaft in ihrer geschichtlichen Situiertheit und institutionellen Bedingtheit abzeichnen. Aufgrund des Rückgriffs auf die Überlegungen der Leipziger Schule hat diese Fragestellung auch soziologiegeschichtliche Implikationen, denen hier aber nicht das Hauptaugenmerk gilt. Die soziologiegeschichtliche Linie von der Leipziger Schule zur Systemtheorie ist bekanntlich zuerst von Horst Baier behauptet worden, der von der „Geburt der Systeme aus dem Geist der Institutionen“7 sprach: „Das letzte Wort der Leipziger Schule war das Verschwinden der Menschen in den Strukturen, das erste Niklas Luhmanns die Selbstbewegung und Selbsterzeugung der Strukturen – ohne Menschen. Das nenne ich die Geburt der sozialen Systeme aus dem Geist der Institutionen.“8
Freilich ist umstritten, ob es überhaupt sinnvoll ist, von einer Leipziger Schule der Soziologie zu sprechen. Legt man sehr strenge Kriterien der Schulbildung an, gab es eine solche „Schule“ gar nicht.9 Karl-Siegbert Rehberg nennt ein geschlossenes Forschungsparadigma, eigene Lehrbücher und eine Hauszeitschrift als Kriterien der Schulbildung, die er etwa bei der Frankfurter Schule erfüllt sieht, bei den Leipzigern hingegen nicht.10 Es sei daher vorzuziehen, mit Simmel von lose verbundenen, sich teilweise überschneidenden, aber auch abstoßenden sozialen Kreisen von Wissenschaftlern in Leipzig zu sprechen. Allerdings hat sich die Bezeichnung „Leipziger Schule“ in der soziologiegeschichtlichen Diskussion doch mehr oder weniger eingebürgert,11 wenn auch häufig in ablehnender Verwendung. Gegen diese Distanzierung wiederum spricht, daß es zwar nicht mehrere, aber mit Hans Freyers Einleitung in die Soziologie12 doch immerhin eine Einführung in die Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft gibt. Die Zeitschrift „Blätter für Deut6
Im Sinne von Esposito, Reflexionsprobleme. Siehe dazu unten. Baier, Die Geburt der Systeme. 8 Baier, Die Geburt der Systeme, S. 74. 9 Vgl. Linde, Soziologie in Leipzig 1925 – 1945, Rehberg, Protokoll, Rehberg, Hans Freyer – Arnold Gehlen – Helmut Schelsky, S. 72 f., Brock, Gesellschaftskritische Theorieansätze, S. 182. 10 Vgl. Rehberg, Hans Freyer – Arnold Gehlen – Helmut Schelsky, S. 72 f. 11 Vgl. Albrecht, Bundesrepublik, S. 87, Wöhrle/Rehberg, Die „Leipziger Schule“. 12 Freyer, Einleitung. 7
Einleitung
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sche Philosophie“ war zwar keine unmittelbare Institutszeitschrift wie etwa die Frankfurter „Zeitschrift für Sozialforschung“, bildete jedoch gleichwohl, woran Elfriede Üner erinnert, seit den 20er Jahren „das wichtigste Publikationsorgan für Schüler und Mitarbeiter des Instituts für Soziologie“13. Von einem geschlossenen Forschungsparadigma läßt sich zwar nicht sprechen, dafür sind die internen Differenzen, besonders zwischen Freyer und Gehlen, zu groß, aber es gibt, wie gezeigt wird, eine gemeinsame thematische und methodologische Ausrichtung, die sich aus der Herkunft aus dem deutschen Idealismus und dessen handlungs- und institutionentheoretischer Neuinterpretation in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts speist.14 Es scheint insofern gerechtfertigt, trotz aller verständlichen Einwände zusammenfassend von einer Leipziger Schule zu sprechen. Die folgende Darstellung konzentriert sich auf Hans Freyer, Arnold Gehlen und Helmut Schelsky sowie auf den von Luhmann intensiv rezipierten Gotthard Günther. Von den bisher vorhandenen Studien15 über die Verbindung der genannten Gruppierung Leipziger Wirklichkeitswissenschaftler mit der von Peter Fuchs gelegentlich so genannten Bielefelder Schule der Systemtheorie unterscheidet sich die vorliegende Untersuchung dadurch, daß der Zusammenhang nicht in erster Linie in einer soziologiegeschichtlichen Nachfolge, sondern anhand eines Problembezugs rekonstruiert wird, der erst in den späten Arbeiten der Systemtheorie sichtbar wird. Die These einer soziologiegeschichtlichen Nachfolge wird damit freilich keineswegs bestritten, sondern bestätigt. Baiers These läßt sich erweitern, indem die Linie von der Leipziger Schule zu Luhmann in die von Alois Hahn und Hartmann Tyrell aufgewiesene sinnorientierte Linie der soziologischen Differenzierungstheorie von Dilthey zu Luhmann16 eingeordnet wird, deren Anfang freilich bereits bei Hegel zu suchen ist.17 Allerdings ist den bisher vorliegenden Studien darin zu widersprechen, daß Luhmanns Systemtheorie einen adäquaten Ersatz für die handlungs- und institutionentheoretischen Überlegungen der Leipziger Schule biete. Ebensowenig nimmt die Systemtheorie die handlungs- und institutionentheoretischen Überlegungen in einem vermeintlich erweiterten theoretischen Rahmen in sich auf. Sondern es ist Luhmanns Verzicht auf bestimmte handlungs- und institutionentheoretische Grundfragen, der zu jenen Theorieproblemen führt, die hier den Ausgangspunkt bilden. Daher ist am Leitfaden der gesellschaftlichen Probleme der Exklusion, des Risikos und der Ökologie mit einer Problematisierung der Systemtheorie in ihrer „späten Phase“, das heißt vorwiegend auf der Grundlage der Arbeiten seit den späten 80er und 90er Jahren, zu beginnen.
13
Üner, Soziologie als „geistige Bewegung“, S. 15. Üner, Soziologie als „geistige Bewegung“, S. 16. 15 Vgl. insbes. Halfmann, Technik als Medium, Göbel, Institution, Hahn, Der Mensch u. Wöhrle, Metamorphosen, S. 299 ff. 16 Siehe Hahn, Diltheys Systemtheorie u. Tyrell, Diversität. 17 Siehe dazu unten Kap. VII.1. 14 Vgl.
Leipziger Schule und Systemtheorie: Zur Fragestellung
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Bei Exklusion, Risiko und Ökologie handelt es sich um Folgeprobleme der Ausdifferenzierung sozialer Systeme, insbesondere der gesellschaftlichen Funktionssysteme, welche zu Rückwirkungen auf die Bedingungen der Möglichkeit dieser Ausdifferenzierung führen. Luhmann definiert dies am Fall der ökologischen Selbstgefährdung der Gesellschaft als „Rückwirkungen ihrer Auswirkungen auf die Umwelt auf sich selbst“18. Diese – unter Umständen katastrophenträchtigen – Rückwirkungen der Auswirkungen sozialer Systeme auf diese selbst werden hier kurz als Grenzprobleme bezeichnet. An ihnen konkretisiert sich, was Luhmann als Maßstab eines soziologischen Begriffs von Rationalität ansetzt. Einem sozialen System ist dann Rationalität zuzuschreiben, wenn es in der Lage ist, nicht nur operativ Selbst- und Fremdreferenz zu unterscheiden, sondern explizit auf die Einheit der Differenz von System und Umwelt zu reflektieren und sein Verhältnis von System und Umwelt daran auszurichten.19 Wie Elena Esposito mit Gotthard Günther gezeigt hat, sind die drei Grenzprobleme genau dann „Reflexionsprobleme“20, wenn das System an ihnen „seine Einwirkungen auf die Umwelt an den Rückwirkungen auf es selbst kontrollieren“21 kann. Sie sind damit nach Esposito auf der Ebene der Beobachtung dritter Ordnung anzusiedeln.22 Die Verschränkung der empirischen Tatsächlichkeit mit den Konstitutionsbedingungen sozialer Systeme und deren Reflexion im System hat einen recht komplizierten theoretischen Status dieser Probleme zur Folge. Die Rückwirkungen der Auswirkungen sozialer Systeme auf ihre Konstitutionsbedingungen sind nicht einfach kausal destruktiv, sondern sie gefährden die Bestimmtheit sozialer Systeme, das heißt die Aufrechterhaltung der Grenze von System und Umwelt.23 Wie im 18 Luhmann, Ökologische Kommunikation, S. 247. Vgl. auch Luhmann, Wohlfahrtsstaat zwischen Evolution und Rationalität, S. 117 u. Luhmann, Politik, S. 425. 19 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 640. 20 Esposito, Reflexionsprobleme. 21 Luhmann, Soziale Systeme, S. 642. 22 Vgl. Esposito, Reflexionsprobleme, S. 384, 388 f., 390 f. Weil die sozialen Systeme der modernen Gesellschaft, insbesondere Funktionssysteme, sich jeweils über das rekursive Beobachten von Beobachtungen, also auf dem Niveau der Beobachtung zweiter Ordnung schließen, ist für die Reflexion auf die Schließungsbedingungen eine Beobachtung dritter (und damit letzter) Ordnung erforderlich. 23 Vgl. auch Opitz, Grenze des Rechts, für den Fall des Rechtssystems. Anders aber gelegentlich Luhmann, nach dem „gilt, daß ein System, das seine Umwelt verändert, auflöst, zerstört, auch sich selbst verändert, auflöst, zerstört“ (Luhmann, Wohlfahrtsstaat zwischen Evolution und Rationalität, S. 117). Im Zusammenhang mit evolutionstheoretischen Überlegungen ist die Vermutung geäußert worden, daß die Folgeprobleme funktionaler Differenzierung, insbesondere „die Ökologieproblematik und die Exklusionsproblematik“ möglicherweise sogar „zur Sprengung eben dieser Differenzierungsform führen könnten“ (Kuchler, Das Problem des Übergangs, S. 42 f.). Barbara Kuchler bezieht dies einerseits auf die Möglichkeit, daß aufgrund von „zu viel Resonanz“ (Luhmann, Ökologische Kommunikation, S. 218 ff.) der ökologischen Kommunikation in den Funktionssystemen und insbesondere in der Politik diese „gewissermaßen überreagieren […] könnte, etwa in Form
14
Einleitung
ersten Teil gezeigt wird, sind diese Unbestimmtheiten mit den Begriffen der allgemeinen Theorie sozialer Systeme nicht zu erfassen. Die Möglichkeit einer systematischen Verknüpfung von Systemtheorie und Leipziger Schule ergibt sich aus dem Status der Grenz- und Restprobleme als Reflexionsprobleme. Reflexion wird von den Grenzproblemen Exklusion, Risiko und Ökologie in der Gesellschaft erzwungen. Als Reflexion sind aber auch die Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung sowie die soziologische Explikation der konstitutiven Bedingungen der Möglichkeit sozialer Systeme zu kennzeichnen. Insbesondere letztere Hinsicht ist für die hier verfolgte Fragestellung relevant. In der Leipziger Schule ist das Verhältnis von Reflexion und Handlung in der Einheit konkreter Situationen eines der systematischen Bezugsprobleme. Gelingt der Rückbezug des Handlungsbegriffs (und damit des Begriffs der Institution) auf den Begriff der Reflexion, läßt sich eine systematische Verknüpfung der Leipziger Schule mit der Systemtheorie erreichen. Dann könnte es aber sein, daß die gesellschaftlich unlösbaren Grenz- und Reflexionsprobleme nicht nur für die Forderung nach einer Radikalisierung der Selbstbeobachtungsverhältnisse der modernen Gesellschaft stehen,24 sondern auch auf eine institutionell bestimmte Handlungsposition verweisen. Trifft dies zu, muß der Handlungsbegriff in der Systemtheorie einen neuen Stellenwert erhalten. Damit ist das für die Grenzprobleme zentrale Problem der Adressabilität angesprochen. Handlung kann nicht mehr nur als Zurechnungspunkt im Rahmen sozialer Systeme behandelt werden, sondern muß auch als ein der Kommunikation sozialer Systeme ebenbürtiger, aber institutionell bestimmter und daher quer zu den sozialen Systemen stehender Operationsmodus von Sozialität berücksichtigt werden. Luhmann beerbt die Leipziger Schule also nicht in dem Sinne, daß sich deren Überlegungen erübrigten, sondern beide haben komplementäre Themenbereiche. Zur Bestimmung des Verhältnisses von Institution und System bietet sich Max Webers, später von Carl Schmitt und Arnold Gehlen aufgegriffene Unterscheidung von Alltäglichkeit und Außeralltäglichkeit an:25 Während Sozialität im Modus sozialer Systeme den alltäglichen Normalfall darstellt, sind Institutionen an existenziellen Ausnahmesituationen ausgerichtet. Das alltägliche Operieren sozialer Systeme setzt eine Normalität voraus, die nur institutionell gewährleistet werden kann.
einer Ökodiktatur, in der die Politik die Kontrolle über andere Funktionssysteme, insbesondere die Wirtschaft und das Recht, an sich zieht und es zu einer Entdifferenzierung kommt“ (Kuchler, Das Problem des Übergangs, S. 42). Kuchler meint andererseits die von Luhmann, Inklusion und Exklusion angesprochene Möglichkeit der Metacodierung funktionaler Differenzierung durch die Differenz von Inklusion und Exklusion (vgl. Kuchler, Das Problem des Übergangs, S. 42 f.). 24 So die Schlußfolgerung von Elena Esposito, Reflexionsprobleme. 25 Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 140 f., Schmitt, Politische Theologie, S. 13 ff. u. Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, S. 180, 197, 250 f., 319.
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Aufbau der Untersuchung Das erste Kapitel beginnt unter dem Stichwort der Grenzprobleme mit der Problematisierung der Systemtheorie. Es wird gezeigt, daß der Systemtheorie eine begriffliche Dimension eingelagert ist, die eng mit der Etablierung des Wohlfahrtsstaates der Nachkriegszeit verbunden ist und die im Gegensatz zu Luhmanns Begriff der gesellschaftlichen Evolution, die nur innerhalb des Wohlfahrtsstaates stattfindet, geschichtlich-politisch zu nennen ist. Der Wohlfahrtsstaat ist nicht nur eine Kennzeichnung des politischen Systems der funktional differenzierten Gesellschaft, sondern er gehört zugleich zu den institutionellen Bedingungen der Möglichkeit für die selbstreferentielle Schließung sozialer Systeme. Diese institutionellen Bedingungen der Möglichkeit bleiben in der systemtheoretischen Thematisierung der modernen Gesellschaft latent, führen aber zu den genannten Grenzproblemen, die deshalb sowohl gesellschaftliche Probleme als auch Theorieprobleme sind. Ausgehend von der These, daß Grenzprobleme Reflexionsprobleme sind, befaßt sich das zweite Kapitel mit dem Begriff der Reflexion im Rahmen von Luhmanns Beobachtungstheorie und im Kontext der Transzendentaltheorie. Luhmanns Begriff der Selbstreferenz und damit auch sein Begriff der Reflexion haben in der Transzendentalphilosophie Kants und in der Reflexionswissenschaft des deutschen Idealismus ihre Vorläufer.26 Ebenso hat Luhmann die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit27, den Begriff der Konstitution 28 und den Begriff des Schematismus29 aus der Transzendentaltheorie in die Soziologie überführt. Die Analyse der transzendentaltheoretischen Begriffe dient jedoch nicht der Erörterung philosophischer Probleme, sondern der Sondierung der genannten Grundbegriffe mit Blick auf die Frage, was unter Konstitution zu verstehen ist. Es fällt auf, daß selten gefragt wird, wovon der Begriff der Konstitution eigentlich zu unterscheiden ist. Transzendentaltheoretisch ist der Begriff der Konstitution nicht nur – wie bei Luhmann – von dem des Schematismus, sondern auch vom Begriff der Regulation zu unterscheiden, wobei sich das Konstitutionsproblem auf die Etablierung von Bestimmtheit (von Gegenständlichkeit überhaupt) bezieht, während die Regulation für den Prozeß der empirischen Bestimmung (einzelner Gegenstände) in ihrem Zusammenhang zuständig ist. Der Schematismus fungiert als Scharnier von Bestimmtheit überhaupt und empirischer Bestimmung, er leistet die Vereinzelung der Bestimmtheit überhaupt mit Blick auf die je einzelnen zur Bestimmung stehenden empirischen Gegenstände. Bei Konstitution, Schematismus und Regulation han26 Vgl.
Luhmann, Soziale Systeme, S. 599 ff. bes. Luhmann, Wissenschaft, S. 330. Vgl. auch ebd., S. 127, Luhmann, Soziale Ordnung u. Luhmann, Soziale Systeme, S. 44, 122, 149, 165, 606. 28 Vgl. Luhmann, Sinn als Grundbegriff, S. 30, Luhmann, Funktion der Religion, S. 75, Luhmann, Soziale Systeme, S. 25, 51, 63, 149, 162, 226, 241 u. ö., Luhmann, Gesellschaft, S. 50 u. 150. 29 Vgl. Luhmann, Schematismen u. Luhmann, Soziale Systeme, S. 123 ff. 27 Vgl.
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delt es sich somit um drei unterschiedliche bestimmungstheoretische Funktionsbereiche. Es wird zu zeigen sein, daß diese auch für Luhmanns Theoriearchitektur von entscheidender Bedeutung sind. Sie lassen sich in bestimmungstheoretischer Hinsicht auf die Verhältnisse der Kommunikation und des Handelns übertragen, ohne damit zugleich die erkenntnistheoretische Perspektive der Konstitution von objektiver Gegenständlichkeit übernehmen zu müssen. Vielmehr kann die bestimmungstheoretische Disposition auf die Verhältnisse des Handelns und der Kommunikation übertragen werden. Die Anleitung dazu gibt Luhmann selbst, der in der „Verbindung von Konstitutionsanalyse und Systemtheorie […] eine Möglichkeit“ sieht, „über eine erkenntnistheoretische Fassung des Problems der Konstitution […] hinauszugelangen“30. Vor dem Hintergrund der im zweiten Kapitel dargelegten bestimmungstheoretischen Erwägungen ist der systemtheoretische Begriff der Reflexion somit nicht nur auf Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung, sondern auch auf die Konstitution sozialer Systeme zu beziehen. Entsprechend wird im dritten Kapitel das Problem der Konstitution sozialer Systeme als Hauptthema der allgemeinen Theorie sozialer Systeme expliziert. Luhmanns allgemeine Theorie sozialer Systeme31 stellt sich als soziologische Bestimmungstheorie heraus, in deren Zentrum das Verhältnis von sozialer Bestimmtheit und sozialer Unbestimmtheit steht.32 Den Kern der Konstitutionstheorie des Sozialen bildet die Theorie der doppelten Kontingenz als Theorie der Etablierung der Unterscheidung von System und Umwelt. Die Unterscheidung von System und Umwelt wird etabliert, wenn aufgrund einer Situation doppelter Kontingenz eine systemeigene Unbestimmtheit auftritt, die sich als sozial bestimmte Unbestimmtheit von ihrer Umwelt unterscheidet. Die Leitunterscheidungen der Funktionssysteme hingegen – insbesondere in Gestalt ihrer Codes und Kontingenzformeln – sind als gesellschaftliche Regulative anzusprechen. Im Sinne der allgemeinen Theorie sozialer Systeme sind aber auch die differenzlosen Begriffe des Sinns und der Welt dem Bereich der Regulation zuzuordnen. Zwischen beiden Bereichen vermittelt der Schematismus sozialer Systeme, der die kommunikative Bestimmtheit überhaupt in zurechenbare Handlungen vereinzelt und sie der empirischen Beobachtbarkeit und Ordnung durch symbolisch generalisierbare Kommunikationsmedien zugänglich macht. Am Ende des dritten Kapitels wird das Thema der konstitutionstheoretisch relevanten Grenz- bzw. Reflexionsprobleme aufgenommen und auf den Begriff der Katastrophe zugespitzt, nun aber bereits mit Blick auf den im zweiten Teil zu behandelnden Komplex von Reflexion und Wille, Handeln und Institution. Anhand von Gotthard Günthers Unterscheidung von Akzeption und Rejektion wird gezeigt, daß der Begriffsapparat der Systemtheorie bestimmte soziale Erscheinungen nicht zu erfassen vermag, die sich insbesondere in Ausnahmesituationen zeigen. Im Fall der Warnung etwa vor Naturkatastrophen oder terroristischen 30
Luhmann, Funktion der Religion, S. 75, Anm. 6. Luhmann, Soziale Systeme. 32 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, bes. S. 60, 80, 123, 149, 151, 156, 167, 172, 182, 184, 230. 31 Vgl.
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Attentaten kann es im Bereich sozialer Systeme zu einer Reflexion auf die Situation der doppelten Kontingenz kommen, welche dazu genutzt werden kann, diese Situation als solche in der Schwebe zu halten. Das heißt, es kann eine Unbestimmtheit darüber herbeigeführt werden, ob überhaupt eine Situation doppelter Kontingenz vorliegt. Diese Unbestimmtheit stellt also aus systemtheoretischer Perspektive eine unbestimmte Unbestimmtheit, ja eine Unbestimmbarkeit dar. Diese unbestimmte Unbestimmtheit ist von der qua doppelter Kontingenz bestimmten Unbestimmtheit sozialer Systeme zu unterscheiden, weil sie auf einen grundlegenden Dissens über den institutionellen Status des Warners und des Gewarnten zurückgeht.33 Dieser Dissens ist weder ein kommunikationsinterner Dissens noch entspricht er der Unterscheidung von Annahme und Ablehnung einer Kommunikation,34 denn beides setzt eine bereits vorliegende Kommunikation voraus. Vielmehr bezeichnet dieser Dissens das reflexive Problem, was es für den Warner bedeutet, wenn es unbestimmt bleibt, ob er sich mit dem Gewarnten überhaupt in einer kommunikativen Situation befindet. Die Annahme und Ablehnung einer Kommunikation kann nach Luhmann normalerweise durch die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien spezifiziert und durch die Codes der Funktionssysteme reguliert werden – wenn Kommunikation vorausgesetzt werden kann, die angenommen oder abgelehnt werden kann. Die hier verfolgte Argumentation bewegt sich also exakt im Zwischenbereich einer elementaren Kommunikation und ihrem Anschlußereignis. Indem die Möglichkeit der Akzeption oder Rejektion der Situation doppelter Kontingenz in diese Situation selbst hineingespiegelt wird, entsteht ein gegenüber der Konstitution einer Kommunikation (Etablierung der Unterscheidung von System und Umwelt qua doppelter Kontingenz) auf der einen Seite und ihrer möglichen Annahme oder Ablehnung, die durch codierte Medien reguliert werden kann, auf der anderen Seite, eine dritte Art von Problem, das in der Systemtheorie keinen Platz hat. Es ist bestimmungstheoretisch gesehen im Bereich des Schematismus angesiedelt, der sowohl konstitutive wie regulative Relevanz hat. Dies verweist auf die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien, welche – analog zur Theorie der Erkenntnis, in der der Schematismus die „Gelenkfunktion“35 zwischen Konstitution und Regulation erfüllt – die „zentrale Gelenkstelle zwischen allgemeiner Kommunikationstheorie und Gesellschafts- qua Differenzierungstheorie“36 bilden. Die Reflexion auf die Situativität doppelter Kontingenz aus einer konkreten Lage heraus und die aus ihr folgende Möglichkeit der „Zurückweisung“ oder „Verweigerung“37 einer kommunikativen Positionsbestimmung überhaupt, das heißt der Sabotage des sozialen Adreßbildungsmechanismus, hat in der Systemtheorie keinen Ort, sondern mit ihr tritt eine ganz andere Dimension des Sozialen in die Betrachtung ein. 33 Vgl.
Clausen/Dombrowsky, Warnpraxis. Luhmann, Soziale Systeme, S. 203 ff. 35 Hiltscher, Wahrheit und Reflexion, S. 37. 36 Göbel, Société perdu?, S. 62. Vgl. auch Göbel, Theoriegenese, S. 242. 37 Clausen/Dombrowsky, Warnpraxis, S. 302. 34 Vgl.
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Um diese Dimension auszumessen, wird am Anfang des zweiten Teils, im vierten Kapitel, in den geschichtlich-situativen Problemkontext der Leipziger Schule eingeführt. Die These ist, daß der Theoriebildung der Leipziger Schule mit dem Ersten Weltkrieg eine reale Katastrophenerfahrung größten Ausmaßes zugrunde liegt. Mit Reinhart Koselleck ist in begriffsgeschichtlicher Hinsicht mit einem überaus starken „Einfluß der beiden Weltkriege auf das soziale Bewußtsein“38, mithin auch auf die soziologische Theoriebildung zu rechnen. Dies zeigt sich daran, daß die Katastrophe des Weltkrieges und ihre bürgerkriegsähnliche Fortdauer während der Zeit der Weimarer Republik im Vergleich zur klassischen Gestalt der Soziologie bei Max Weber zu einer tiefgreifenden Umbildung der wirklichkeitswissenschaftlichen Problemwahrnehmung geführt hat. Im Unterschied zur eurozentrischen Perspektive Webers, der davon ausging, daß sich im Prozeß der Rationalisierung europäische Prinzipien universalisieren würden, sind die Überlegungen der Leipziger Schule einer unvorhergesehenen Wendung in der Globalisierung der Politik ausgesetzt, in deren Zuge sich außereuropäische Weltmächte gegen Europa wenden. Diese Selbstgefährdung führt dazu, die bei Weber nur implizit bleibende Dimension der Geschichtlichkeit und Institutionalität sozialer Strukturen zum ausdrücklichen Thema der Sozialwissenschaft zu machen. Die Leipziger Schule fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit des Handelns, weil sie es nicht wie Weber unproblematisch als empirisch gegeben voraussetzen kann.39 Der von der Leipziger Schule im Hinblick auf die operative Dimension der Gesellschaft zentral verwendete Begriff des Willens ist das Thema des fünften Kapitels. Die merkwürdig verschränkten Verhältnisse von situativer Einmaligkeit und begrifflicher Allgemeinheit, von vertrauter Selbstbezüglichkeit und neuartiger, diese Vertrautheit in Frage stellender Fremdheit in der Weltkriegssituation führen dazu, daß die Reflexion auf neue Weise mit dem Thema des Handelns konfrontiert wird. Diese geschichtlichen Umstände bilden den Hintergrund für die Aktualisierung und Neugewinnung der Reflexionstheorie des deutschen Idealismus im Hinblick auf das Problem des Willens. Das Verhältnis von Reflexion und Wille ist als Fragehorizont der allgemeine theoretische Ausgangspunkt der Überlegungen der Leipziger Schule. Deren Gemeinsamkeit besteht folglich nicht in den zum Teil sehr unterschiedlich ausfallenden Antworten und Konzepten, sondern in einer gemeinsamen Fragestellung. Sie wird anhand der frühen Schriften Gotthard Günthers, Arnold Gehlens und Helmut Schelskys als Theorie der doppelten Reflexion in ihrem Verhältnis zum Willen und zur Handlung entfaltet. Vor allem Günther und Gehlen zeigen, wie sich in der doppelten Reflexion eine Unbestimmtheit freilegen läßt, die für Günther den Startpunkt für die Entwicklung einer „operationsfähigen Dialektik“40 bildet, während Gehlen von dort aus das Problem des Handelns ins Vi38
Koselleck, Erinnerungsschleusen. Vgl. auch Koselleck, Erfahrungswandel, S. 67 ff. Rehberg, Rationales Handeln, zur Unterscheidung von Rekonstruktions- und Konstitutionstheorien des Handelns. 40 So die Formulierung im Titel von Günthers dreibändiger Aufsatzsammlung „Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik“ (vgl. z. B. Günther, Grundzüge). 39 Vgl.
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sier nimmt. Gehlens idealistische Handlungstheorie in der Theorie der Willensfreiheit41 ist die Quelle der von Günther und Luhmann übernommenen Unterscheidung von Akzeption und Rejektion, die in Gehlens Theorie der Willensfreiheit die Verwerfung des Zusammenhangs der einfachen Reflexion und des Handelns als rationaler Wahl ermöglicht. Die daraufhin entstehende existenzielle Unbestimmtheit ist die Grundlage für die Bejahung der je konkreten Handlungssituation. Gehlen nimmt die Unterscheidung von Verwerfung und Bejahung in seiner anthropologischen Handlungs- und Institutionenlehre wieder auf. Dies ist das Thema des sechsten Kapitels. Es wird von relativ umfangreichen Vorüberlegungen eingeleitet, weil Gehlens Handlungstheorie hier nicht als Anthropologie, das heißt nicht mit Bezug auf die Biologie, präsentiert wird. Aufgrund der These, daß das Verhältnis von Reflexion und Wille den gemeinsamen Fragehorizont der Leipziger Schule bildet, werden Gehlens elementare Handlungslehre in Der Mensch und die Institutionenlehre in Urmensch und Spätkultur reflexionstheoretisch gelesen.42 Dieses Vorgehen befindet sich nicht im Einklang mit Gehlens eigener Selbstauffassung und zieht sich voraussichtlich auch den Widerspruch der meisten seiner Rezipienten zu. Es hat jedoch mehrere Vorteile: erstens behält der Begriff der Situation, so wie dies in den frühen Schriften der Fall war, seinen Status als Grundbegriff. Zweitens wird der Begriff der doppelten Reflexion nicht ohne Not über Bord gegeben. Gehlens Hilflosigkeit in seinem Spätwerk gegenüber der institutionenzersetzenden Wirkung der Reflexion rühren aus der anthropobiologischen Verkürzung seines Reflexionsbegriffs von der doppelten zur einfachen Reflexion her.43 Schließlich liegt in diesem Vorgehen der Schlüssel zur Verknüpfung von Handlungs- und Institutionenlehre und den Reflexionsproblemen der Systemtheorie. Dem Vorhaben einer reflexionstheoretischen Relektüre der Handlungsund Institutionenlehre dient Gehlens eigene Unterscheidung von Verwerfung und Bejahung. Jede Handlung vollzieht eine Verwerfung der Reflexion und bejaht bzw. hält gewisse Handlungsorientierungen fest und läßt andere fallen. Legt man auch hier die bestimmungstheoretische Unterscheidung von Konstitution, Regulation und Schematismus an, erweist sich ‚das Tier‘ nicht, wie Gehlen stets behauptet, als konstitutiver, sondern als regulativer Begriff. Das Tier ist die Idee des vollständig institutionell bestimmten Handelnden, der keinerlei Ablenkungen durch die störende Reflexion mehr kennt. Die Konstitution von Handlungsfähigkeit überhaupt geschieht in der gemeinschaftlichen Bewältigung einer existenziell bedrohlichen Ausnahmesituation. Der Begriff der Institution kann bestimmungslogisch als Schematismus und als solcher als Instanz der Vereinzelung der Handlungsbestimmtheit überhaupt aufgefaßt werden. Institutionen und die durch sie verteilte Handlungsfähigkeit stellen im Kern nichts anderes als die Bejahung existenzieller Herausforderungen und ihre Umsetzung in soziale Strukturen dar. 41 Vgl.
Gehlen, Willensfreiheit. Gehlen, Mensch u. Gehlen, Urmensch. 43 Vgl. Günther, Metaphysik der Institution, S. 28. 42 Vgl.
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Im siebenten Kapitel wird nach einer soziologiegeschichtlichen Skizze der Linie Hegel-Dilthey-Freyer-Luhmann Freyers geschichtlich-politisch geprägter Begriff des Staates behandelt. In ihm treffen die beiden Herausforderungen der Globalisierung der Machtpolitik zusammen: Nach außen hat der Staat das oberste Problem, sich überhaupt als Adresse im Bereich der globalen Politik zu halten. Nach innen ordnet Freyer dem Staat die Aufgabe zu, Schutzinstanz der Ausdifferenzierung der Kultursysteme (wie etwa Recht, Kunst, Religion oder Wissenschaft) gegenüber ihrem drohenden Zerfall im Bürgerkrieg streitender gesellschaftlicher Parteien zu sein. Freyers Begriff des Staates reagiert auf die unter dem Druck des (Welt-)Bürgerkrieges diagnostizierte Gefahr des Zerfalls der differenzierten Kultursysteme. Zum Schutz ihrer Autonomie wird von Freyer die Möglichkeit ihrer Politisierung untersucht. Indem dies im einzelnen aufgeschlüsselt wird, lassen sich Parallelen zu Luhmanns früher Systemtheorie, insbesondere zu ihrer Fassung in Grundrechte als Institution, aufweisen, welche die Gefahr der Entdifferenzierung der funktional differenzierten Gesellschaft ebenfalls, wenn auch in anderer Richtung, kennt.44 In Freyers Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft,45 deren Darstellung den Abschluß des siebenten Kapitels bildet, wird der Soziologie aus reflexions- bzw. wissenschaftstheoretischen Gründen eine geschichtliche Grundlage gegeben, indem Webers Begriff des soziologischen Idealtypus zu einer Theorie der geschichtlich rückgebundenen gesellschaftlichen Strukturformen weiterentwickelt wird. Freyer geht damit einer Möglichkeit soziologischer Reflexion nach, die Luhmann, ausdrücklich mit Verweis auf Freyer, ebenfalls gesehen, aber selbst nicht verfolgt hat.46 Der dritte Teil der Arbeit führt die bisherigen Argumentationslinien zusammen. Im achten Kapitel wird vor dem Hintergrund der politischen Situation der Nachkriegszeit das politische System aus der Perspektive von Luhmanns früher Handlungssystemtheorie dargestellt. Die These ist, daß Luhmanns Systemtheorie der Gesellschaft als Erbe des politischen Denkens der 20er und 30er Jahre gelesen werden kann, mit dem Unterschied, daß unter den Bedingungen einer aus deutscher bzw. europäischer Sicht grundlegenden Entpolitisierung und „Unterbrechung der Geschichte“47 das zunächst multidisziplinär reflektierte Problem des Politischen durch Luhmanns Systemtheorie gesellschaftstheoretisch als Differenz von Gesellschaft und Politik als Funktionssystem der Gesellschaft reformuliert wird. Aufgrund der Unterscheidung einer politisierten entdifferenzierten und einer entpolitisierten differenzierten Gesellschaft geht Luhmann in den 60er Jahren davon aus, daß es bestimmter Institutionen bedarf, damit die Gesellschaft für Differenzierung offen bleibt und Kommunikation stattfinden kann, insbesondere die Institution der Grundrechte und die Zivilisierung der Erwartungen. So reagiert nach Luhmann die verfassungsrechtliche Positivierung der institutionell gegebenen Grundrechte auf die „Gefahr der Entdifferenzierung, der Politisierung 44 Vgl.
Luhmann, Grundrechte. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft. 46 Vgl. Luhmann, Reflexive Mechanismen, S. 128 u. ebd., S. 140, Anm. 28. 47 Foucault, Geburt der Biopolitik, S. 126. 45
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des gesamten Kommunikationswesens“48. Der politische Schutz der Grundrechte ermöglicht die Reduktion des Politischen zu einem gesellschaftlichen Teilsystem. Zur Explikation der Zivilisierung von Erwartungen als Voraussetzung der Generalisierbarkeit kommunikativer Beziehungen ohne Behinderung durch geschichtliche Bindungen beruft sich Luhmann unter anderem auf Hans Freyers Theorie sekundärer Systeme, sodaß von hier aus eine geschichtliche Situierung systemtheoretischer Begriffe möglich wird. Sowohl sekundäre Systeme im Sinne Freyers als auch soziale Systeme im Sinne Luhmanns sind „schwebende Formen“49 bzw. bilden „eine freischwebend konsolidierte Realität“50. Dies schlägt sich unter anderem in Luhmanns Theorie politischer Legitimation durch Verfahren nieder, die die geschichtlich-politisch bzw. volitiv bestimmte Anerkennung politischer Entscheidungen zu einer kognitiv gedachten Frage der „Pauschalakzeptierung“51 fremder Entscheidungen zum permanenten „Einbau neuer Erwartungsstrukturen“52 der Gesellschaft uminterpretiert. Die Inbezugsetzung von sekundären und sozialen Systemen wird im neunten Kapitel vorgenommen. Bei dem Begriff des sekundären Systems handelt es sich um einen Begriff aus einer der frühesten Schriften Freyers.53 Freyers Absicht war es ursprünglich, die Möglichkeit der Ablösung sekundärer Systeme aus ihrer konkreten geschichtlichen Situiertheit als Reflexionsbegriff des Handelns anzusetzen, um dazu beizutragen, diese Ablösung aufzuhalten. Dieser kritischen Funktion und Eindämmung von Utopien der Machbarkeit diente Freyers Theorie politischer Planung. Die Pointe von Freyers Begriff der sekundären Systeme liegt darum nicht schlicht in der Beschreibung verselbständigter sozialer Strukturen, sondern in dem Aufweis des Mechanismus der Herauslösung der sekundären Systeme aus ihrer geschichtlichen Rückbindung. Auch Freyer arbeitet hierbei mit der Unterscheidung von Akzeption und Rejektion. Der „Entschluß zur Voraussetzungslosigkeit“54 ist eine Möglichkeit des Handelns, die den Zukunftshorizont des Handelns unrealistisch ausdehnt, während dessen geschichtliche Rückbindung minimalisiert wird. Dies ermöglicht es, die Theorie der Gesellschaft des frühen Luhmann ihrerseits geschichtlich zu verorten und die Konsequenzen seiner „Geschichtssicht“55, die von einem langfristigen Trend zur Minderung existenzieller Belastungen des Handelns und in diesem Sinn von einem Trend zu mehr Sicherheit ausging, für seine Konzeption des politischen Systems der Gesellschaft sowie für die systemtheoretische Transformation der Grundbegriffe der Leipziger Schule herauszuarbeiten. 48
Luhmann, Grundrechte, S. 24. Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 180. 50 Luhmann, Soziale Systeme, S. 173. 51 Tyrell, Gewalt, S. 89. 52 Luhmann, Legitimation, S. 33. 53 Vgl. Freyer, Prometheus, S. 55. 54 Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 181. 55 Luhmann, Grundrechte, S. 199. 49
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Letzteres geschieht im zehnten Kapitel. Die Systemtheorie „[e]rsetzt […] den Willensbegriff durch den Systembegriff“56, nimmt anhand des phänomenologischen Sinnbegriffs eine Reinterpretation des Handlungsbegriffs unter der Führung des Erlebens vor und ersetzt die Reflexion auf die geschichtliche Situiertheit des Handelns durch generalisierte Medien der Problemlösung. Alle drei Umstellungen, die in den drei Unterkapiteln des elften Kapitels behandelt werden, haben eine Kognitivierung der volitiv bestimmten wirklichkeitswissenschaftlichen Perspektive und eine Blindheit gegenüber dem existenziell-geschichtlichen Problem des Handelns zur Folge. Das abschließende elfte Kapitel markiert schließlich mit Blick auf Niklas Luhmanns Systemtheorie die Einsatzstelle der Handlungs- und Institutionenlehre der Leipziger Schule. Diese liegt in der handlungs- und institutionentheoretischen Relektüre der Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien. Der vom Begriff der doppelten Reflexion her rekonstruierte Handlungsbegriff ermöglicht zum einen den Kontexturwechsel zwischen gesellschaftlichen Teilsystemen, andererseits konturiert sich eine institutionell bestimmte Handlungsposition, die das Sich-Einlassen auf doppelte Kontingenz im Sinne Luhmanns zum Thema einer konkreten Entscheidung zu machen vermag.
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Luhmann, Legitimation, S. 142 f.
A. Zur Systemtheorie Niklas Luhmanns „Akzeptiert man diese Vorstellung der doppelten Kontingenz als autokatalytisch wirkendes Problem, hat das tiefgreifende Konsequenzen für das auf diesen Grundlagen aufgeführte Theoriegebäude. Die Theorie behandelt eine freischwebend konsolidierte Realität, ein sich selbst gründendes Unternehmen, und das gibt ihr als Theorie einen eigentümlichen Stimmungsgehalt, ein besonderes Kolorit.“1
I. Grenzprobleme der Gesellschaft und der Systemtheorie Es gibt gesellschaftliche Grenzprobleme, die mit rein systemtheoretischen Mitteln nicht erfaßt werden können. Um diese These einsichtig zu machen, müssen in einem ersten Schritt der Argumentation diese Grenzprobleme auf systemtheoretischer Grundlage rekonstruiert werden. Als Ausgangspunkt dient die von Elena Esposito beobachtete Dreiheit von „unlösbaren Reflexionsproblemen“2, nämlich Exklusion, Risiko und Ökologie. Sie bilden insofern eine Einheit, als sie sich (in der genannten Reihenfolge) den drei systemtheoretischen Sinndimensionen der Sozial-, der Zeit- und der Sachdimension zuordnen lassen. In empirischer Hinsicht kann man sagen, daß die drei Problemkomplexe keinem einzelnen Funktionssystem zugehören, sondern daß sie in allen Funktionssystemen auftreten. Ihre Spezifik als Reflexionsprobleme liegt darin, daß sie als Auswirkungen sozialer Systeme auf ihre Umwelt Rückwirkungen auf das System selbst haben.3 Reflexi1
Luhmann, Soziale Systeme, S. 159 u. 173. Esposito, Reflexionsprobleme. 3 „Was haben die drei Themenkomplexe Risiko, Ökologie und Exklusion gemeinsam? Vor allem konvergiert der Problemtyp, der durch sie bezeichnet wird, darin, daß es um dieselbe Beobachtungsstruktur geht. Es handelt sich in allen drei Fällen um Reflexionsprobleme, die entstehen, wenn ein System (das insofern existiert, als es mit seinen Operationen ständig eine Grenze zur Umwelt zieht) sich an der Umwelt unter dem Gesichtspunkt orientiert, daß es Wirkungen auf sie ausübt, die Konsequenzen für es selbst haben. Das gilt für den Fall des Risikos – das von der Gefahr gerade deshalb unterschieden wird, weil die möglichen künftigen Folgen nicht einfach der Umwelt, sondern dem Verhalten des Systems selbst zugeschrieben werden; im Fall der Ökologie – ein Problem, das entsteht, wenn die Umwelt nicht mehr als Natur, sondern als das Außen gegenüber dem Innen des Systems gesehen wird; und auch im Fall der Exklusion – die der Gesellschaft und nicht unabhängigen anthropologischen Daten zugeschrieben wird. Gerade weil man den Eindruck hat, daß diese Schwierigkeiten – da sie von den systemeigenen Operationen abhängig sind – durch eine Veränderung des Verhaltens des Systems verändert werden könnten, handelt es sich um Probleme. Sie sind Probleme, weil sie anders sein könnten – also weil sie mit der Erfahrung der Kontingenz verbunden sind“ (Esposito, Reflexionsprobleme, S. 380). Vgl. auch Luhmann, Soziale Systeme, S. 642 u. Luhmann, Ökologische Kommunikation, S. 247. 2
A. Zur Systemtheorie Niklas Luhmanns
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onsprobleme betreffen also, obwohl sie zunächst als empirische gesellschaftliche Phänomene erscheinen, die Grenze von System und Umwelt, das heißt aber die nicht ohne weiteres als empirisch anzusetzenden Bedingungen der Möglichkeit sozialer Systeme. Die systemtheoretische Thematisierung dieser drei Probleme Exklusion, Risiko und Ökologie ist in einen breiten Strom von soziologischen, aber auch alltagsweltlich und massenmedial geführten Diskussionen eingebettet. Sie entspringen nicht einer genuin wissenschaftlichen Problemkonstruktion, sondern sind aus der politischen Öffentlichkeit in die Wissenschaft eingedrungen. So ist von Exklusion nicht zuerst in der Soziologie, sondern im Kontext der Sozialpolitik die Rede gewesen.4 Ebenso ist die Soziologie des Risikos ein Resonanzeffekt auf die Thematisierung der Selbstgefährdungspotentiale moderner Technik durch die neuen sozialen Bewegungen.5 Das gleiche gilt offensichtlich für das Problem der Ökologie. Sind solche Themen aber einmal zu wissenschaftlichen Gegenständen geworden, müsse sich, so Luhmann, „der Standpunkt des Beobachters auf eine Ebene zweiter, wenn nicht dritter Ordnung“ und damit von einem alltäglichen Verständnis zu einem wissenschaftlichen „Begriffsspiel, das an sich selber Halt sucht“6, hin verschieben. Demgegenüber läßt sich aber auch vermuten, daß bereits die alltagsweltliche Wahrnehmung dieser Probleme7 das Reflexionsniveau einer Beobachtung dritter Ordnung aufweisen könnte, weil durch sie Gefährdungen thematisiert werden, die in existenzieller Weise die Bedingungen der Möglichkeit sozialer Systeme betreffen. Sie berührten dann eine Dimension, welche in der Grundlegung der allgemeinen Theorie sozialer Systeme aus dem Bereich ihrer Begriffe, nicht aber als Realität ausgeschlossen wird: „Mit dieser These universeller, selbstreferentieller Formbindung allen sinnhaften Prozessierens ist natürlich nicht gesagt, daß es außer Sinn nichts gibt. Das würde den systemtheoretischen Rahmenbedingungen der Analyse der Funktion von Sinn widersprechen, und das widerspräche auch direkt zugänglichen Erfahrungsgehalten, die in literarischen und philosophischen Traditionen mit Titeln wie Genuß, Faktizität, Existenz benannt worden sind. Nicht zuletzt wäre an die religiöse Erfahrung der Transzendenz zu erinnern.“8
4 Vgl.
dazu Stichweh, Inklusion/Exklusion, funktionale Differenzierung u. Kronauer, Exklusion, S. 29 ff. 5 Vgl. das Vorwort zu Clausen, Krasser sozialer Wandel. Vgl. auch Bonß, Vom Risiko, S. 7 ff. 6 Luhmann, Gesellschaft, S. 1094. 7 Die folgenden Ausführungen fühlen sich insofern Helmut Schelsky, Rückblicke, S. 90, verbunden, der betonte, „daß man als Erkennender der sozialen Wirklichkeit – wie es ein Soziologe zu sein beansprucht – die Erfahrung der ‚die Möglichkeiten des Erkennens‘ überschreitenden ‚Notwendigkeiten des Handelns‘ als das eigentliche Apriori der Sozialwissenschaften anzunehmen hat“. 8 Luhmann, Soziale Systeme, S. 97.
I. Grenzprobleme der Gesellschaft und der Systemtheorie
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Methodisch wird im ersten Kapitel die systemtheoretische Aufforderung, Beobachter zu beobachten, befolgt. Einen Ansatzpunkt, wie dies genau zu geschehen hat, liefert eine Bemerkung Luhmanns zur Semantik der ‚Restprobleme‘, zu denen er den Begriff des Restrisikos zählt: „Die semantische Karriere von ‚Rest‘begriffen (z. B. Restrisiko) in der jüngsten Zeit wäre eine besondere Untersuchung wert. Sie verdankt sich einer mangelnden Reflexion der Differenz, in bezug auf die der Rest ein Rest ist.“9
Dies läßt sich als methodische Anweisung verstehen, auf die jeweiligen beobachtungsleitenden Differenzen des ‚Restes‘ zu achten, das heißt zu fragen, mit Bezug auf welche Unterscheidung ein Phänomen ein Restproblem ist. Maren Lehmann faßt Luhmanns Hinweis „als Forschungsproblem einer sich universalistisch verstehenden Theorie“10 auf und hat dieses Verfahren am Beispiel der Exklusion als Restproblem des Wohlfahrtsstaates vorgeführt. Wie Lehmann zeigt, verwendet Luhmann den Begriff der Restprobleme doppeldeutig. Zum einen spricht er von Exklusion als Restproblem des Wohlfahrtsstaates in bezug auf die Differenz von Inklusion und Exklusion: „Inklusion ohne Exklusion, Inklusion ‚des‘ Menschen in ‚die‘ Gesellschaft […] erfordert […] eine totalitäre Logik, die […] verlangt, daß ihr Gegenteil ausgemerzt wird. Sie fordert Herstellung von Einheitlichkeit. Jetzt erst müssen alle Menschen zu Menschen gemacht, mit Menschenrechten versehen und mit Chancen versorgt werden. Solch eine totalitäre Logik scheint auf eine Zeitlogik hinauszulaufen. […] Innerhalb der totalitären Inklusionslogik machen sich Exklusionen als ‚Rest‘probleme bemerkbar, die so kategorisiert sind, daß sie die totalitäre Logik nicht in Frage stellen.“11
Die vom Wohlfahrtsstaat betriebene totalitäre Inklusionslogik, an deren Endpunkt alle Menschen zu Individuen gemacht, mit Menschenrechten und Chancen ausgestattet, kurzum: in den Wohlfahrtsstaat „integriert“ sein werden, ergibt sich aus der Annahme, daß Inklusion ohne Exklusion zu haben sei. Genau dieser Vorstellung widerspricht aber Luhmanns „Formbegriff der Inklusion“: „‚Inklusion‘ bezeichnet dann die innere Seite der Form, deren äußere Seite ‚Exklusion‘ ist. Von Inklusion kann man also sinnvoll nur sprechen, wenn es Exklusion gibt.“12 Aufgrund dieser Begriffsbestimmung stellt sich die Frage, was Luhmann mit seiner Bemerkung zu den Restproblemen der Exklusion meint, deren Untersuchung er zugleich vorschlägt. Lehmann unterstellt, daß es sich bei Luhmanns Bemerkungen zu den Restproblemen der Exklusion im Wohlfahrtsstaat „um eine Ironisierung der modernen inklusiven Alltagsmoral, aber zugleich auch um eine Ironisierung der systemtheoretischen These des Inklusionsimperativs der Moderne“ handelt: „Um eine Ironisierung in dem Sinne des Nichternstnehmens des Ernstzunehmenden,
9 Luhmann,
Gesellschaft, S. 626, Anm. 50. Lehmann, Restprobleme, S. 164. 11 Luhmann, Gesellschaft, S. 625 f. 12 Luhmann, Inklusion und Exklusion, S. 229. 10
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also in dem strengen Sinne eines Hinweises auf ein Problem“13. Wenn dies zutrifft, verweist der Begriff des Restproblems nicht nur auf ein gesellschaftliches Problem, sondern zugleich auf ein Problem der Systemtheorie. Achtet man, Luhmanns Anweisung folgend, auf die Differenz, ‚in bezug auf die der Rest ein Rest ist‘, kommen nach Lehmann14 zwei Unterscheidungen in Frage15: Zum einen läßt sich Exklusion als Restproblem im Sinne der ‚totalitären Inklusionslogik‘ des Wohlfahrtsstaates und der ihm entsprechenden ‚inklusiven Alltagsmoral‘ auf die Differenz von Inklusion und Exklusion selbst beziehen. Inklusion und Exklusion erscheinen dann als ein Kontinuum von Inklusion und Exklusion, innerhalb dessen einer Zunahme der Inklusion eine Abnahme der Exklusion (und umgekehrt) entspricht, so daß es bei vollständiger Inklusion keine Exklusion mehr gäbe. Vor dem Hintergrund des systemtheoretischen Begriffs der Inklusion, der nicht ohne Exklusion zu denken 13
Lehmann, Restprobleme, S. 163 u. ebd., Anm. 1. Lehmann, Restprobleme, S. 167 heißt es: „Exklusion kann demnach, so die These, ebenso wie Inklusion als theoretisches Problem operationalisiert werden […]: Es handelt sich […] um eine Differenz in gesellschaftlicher Systemreferenz. Gerade deshalb muß, wer Exklusion erforscht, das Problem des durch den Primat funktionaler Differenzierung gesetzten Primats der Inklusion durch die Funktionssysteme in Hinblick auf die Inklusion der dadurch aus- und wiedereingeschlossenen Dritten beobachten. Er muß diese Dritten als Beobachter beobachten, die anders als die Funktionssysteme inkludieren, die aber deren Inklusion und damit deren Exklusion voraussetzen, das heißt: die von deren Inklusion/ Exklusion-Differenz profitieren. Wenn also Exklusion ein Rest(-problem) ist, dann ist sie dies in soziologischer Perspektive in bezug auf den Primat funktionaler Differenzierung. Damit aber ist Exklusion immer das Restproblem eines angebbaren inkludierenden Beobachters; sie ist sein Restproblem, weil er nicht gleichzeitig sich selbst und seine Beobachter beobachten kann. Somit ist seine Differenz (und nicht Inklusion/Exklusion) die ‚Differenz in bezug auf die der Rest ein Rest ist‘ […]. Die Differenz Inklusion/Exklusion selbst erzeugt keinen Rest, keine Übriggebliebenen oder Überflüssigen […], gerade weil die Systemreferenz dieser Differenz die Gesellschaft selbst ist […]“. 15 In der nicht-systemtheoretischen Exklusionsforschung wird diese Unterscheidung zweier Differenzen in ähnlicher Weise getroffen. Neu am Problem der Exklusion sei, so Martin Kronauer, vor allem ihr wohlfahrtsstaatlicher Hintergrund (vgl. Kronauer, Exklusion, S. 29 ff.; der Bezug auf die Transformation des Wohlfahrtsstaates findet sich z. B. auch bei Wacquant, Urban Outcasts). Kronauer unterscheidet außerdem ganz im hier vertretenen Sinn zwei Aspekte des Exklusionsbegriffs: einerseits sei er „eng mit der Wiederkehr von Arbeitslosigkeit und Armut als sozialen Problemen, nach fast zwei Jahrzehnten relativer Vollbeschäftigung und abnehmender Armut, verknüpft“ (Kronauer, Exklusion, S. 12). Dies entspricht in unserem Jargon dem prozessualen Verständnis von Inklusion als abnehmender Exklusion. Den zweiten Aspekt formuliert Kronauer wie folgt: „Der Exklusionsbegriff eignet sich offenbar aber auch zur Benennung und Sortierung der wachsenden Probleme, mit denen die sozialstaatlichen Bürokratien konfrontiert und durch die sie zunehmend überfordert sind“ (ebd.). Kronauer interpretiert aber in der Folge das graduelle und das dichotome Verständnis des Exklusionsbegriffs als einander ausschließende Optionen und votiert für das graduelle, dem Wohlfahrtsstaat verpflichtete und deshalb letztlich ungleichheitstheoretische Verständnis (vgl. ebd., S. 21 ff. u. ebd., S. 141 für seinen Begriff der „Ausgrenzung als abgestuften Prozess mit unterschiedlichen Graden der Gefährdung“). Kronauer verliert so die eigentlich wichtige Frage nach dem Verhältnis der beiden Aspekte aus dem Blick. 14 Bei
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ist, wäre dies allerdings die besagte mangelnde Reflexion der Differenz, in bezug auf die der Rest ein Rest ist. Diese Differenz kann nach Lehmann immer nur die Differenz „eines angebbaren inkludierenden Beobachters“ – also gerade nicht die Differenz Inklusion/Exklusion selbst –, sein, die diesem zum Problem wird, „weil er nicht gleichzeitig sich selbst und seine Beobachter beobachten kann“16. Hierfür kommt für das Restproblem der Exklusion die Leitdifferenz des politischen Systems unter den Bedingungen des Wohlfahrtsstaates, Regierung/Opposition, in Frage.17 Nur für letztere Unterscheidung bildet Exklusion ein ernstzunehmendes Restproblem auch für die Systemtheorie. Diese Vorgehensweise läßt sich auf die Probleme des Risikos und der Ökologie übertragen. Risiko kann zum einen innerhalb der Unterscheidung von Sicherheit und Risiko beobachtet werden. Die Semantik des „Restrisikos“ gehört als Rest unsicherheit der Unterscheidung von Risiko und Sicherheit an. Zum andern ist die Beobachtung von Risiko ein Restproblem der Unterscheidung von kognitiven und normativen Erwartungen sozialer Systeme. Die ökologische Frage erscheint zunächst als Alternative von Destruktion und Überleben, sei es der Natur, sei es der Menschheit. Zugleich liegt die ökologische Frage quer zur systemtheoretischen Unterscheidung von System und Umwelt, deren Restproblem sie bildet.18 In diesem Sinne werden also im folgenden Exklusion, Risiko und Ökologie als sowohl gesellschaftliche wie auch als systemtheoretische Rest- resp. Reflexionsprobleme behandelt. Die Untersuchungen des ersten Kapitels zielen auf eine Erweiterung der systemtheoretischen Perspektive um einen im ersten (und auch im zweiten) Kapitel noch weitgehend unerläutert bleibenden institutionentheoretischen Aspekt. Denn nicht nur das Ziel fortschreitender Inklusion, sondern auch fortschreitender Sicherheit können als institutionelle Leitideen des westlichen Wohlfahrtsstaates namhaft gemacht werden. ‚Wohlstand und Sicherheit‘ ist das Leitbild, unter dem man glaubte, Risiko und Exklusion unter der Voraussetzung unerschöpflicher ökologischer Ressourcen zunehmend zum Verschwinden bringen zu können. Daß Risiken, Exklusionen und ökologische Probleme in diese sozialen Systeme auch in einem anderen als kausal-destruktiven Sinne zurückkehren können, soll das Thema des ersten Kapitels sein. 1. Exklusion Mit der Unterscheidung von Inklusion und Exklusion19 wird nach Luhmann die Form thematisiert, mit der die Relevanz und Irrelevanz von Menschen als Personen 16
Lehmann, Restprobleme, S. 167. Lehmann, Restprobleme, S. 176. 18 Siehe zur genaueren Erläuterung unten die entsprechenden Kap. I.2. und I.3. 19 Der Begriff hat eine sehr junge Begriffsgeschichte, deren Ursprünge in Frankreich und den Vereinigten Staaten liegen (vgl. Stichweh, Inklusion/Exklusion, funktionale Diffe17 Vgl.
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bzw. Adressen für soziale Systeme bezeichnet wird.20 Inklusion bezieht sich „auf die Art und Weise […], in der im Kommunikationszusammenhang Menschen bezeichnet, also für relevant gehalten werden“21. Da Inklusion eine Zweiseitenform ist, kommt Inklusion ohne die Möglichkeit der Exklusion nicht zustande: „Es gibt unterscheidungszwangsläufig Inklusionen und Exklusionen, weil die Form der Inklusion nicht möglich wäre, wenn es nicht auch Exklusion gäbe und umgekehrt.“22 Die Unterscheidung von Inklusion und Exklusion läßt sich sowohl auf Funktionssysteme als auch auf Organisationen anwenden. Inklusion in Organisationen vollzieht sich über Mitgliedschaft.23 Inklusion in die Funktionssysteme der Gesellschaft vollzieht sich über aktuelle Operationen im jeweiligen symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium. So werden etwa im Moment einer Zahlung im Medium des Geldes die beteiligten Personen oder Organisationen in die Wirtschaft inkludiert; politische Inklusion vollzieht sich durch demokratische Wahlen. An den Beispielen der Wirtschaft und der Politik sieht man zudem, daß mit Blick auf die Inklusion in die Funktionssysteme nicht nur Menschen bzw. Individuen, sondern auch Organisationen, zum Beispiel Unternehmen (Wirtschaft) oder Staaten (Politik) als Adressen für Inklusion in Frage kommen.24 Die Funktionssysteme sind nach Luhmann dadurch gekennzeichnet, daß niemand abgewiesen werden kann. Daß die Möglichkeit der Inklusion in die Funktionssysteme prinzipiell niemandem verwehrt ist, wird systemtheoretisch mit dem Begriff des „Inklusionspostulats“25 festgehalten. Jeder Erwachsene muß wählen, an der Wirtschaft teilnehmen oder seinem religiösen Glauben nachgehen können.26 Historisch-politisch trat dieses funktionale Postulat in den Forderungen der französischen Revolution nach Freiheit und Gleichheit auf, die zunächst eine polemische „Stoßrichtung […] gegen die alten Differenzierungen“27 hatten. renzierung u. Kronauer, Exklusion, S. 29 ff.). Nach Kronauer, Exklusion, ist das durch den Begriff der Exklusion thematisierte Problem an Erosionserscheinungen des Wohlfahrtsstaates gebunden. Für ihn ist deshalb die Unklarheit, ob es sich primär um einen wissenschaftlichen oder einen sozialpolitischen Begriff handelt, geradezu charakteristisch (vgl. dazu Nassehi, Exklusion als soziologischer oder sozialpolitischer Begriff). 20 Vgl. Luhmann, Gesellschaft, S. 620 ff. Zum Begriff der Adressabilität vgl. Fuchs, Adressabilität. 21 Luhmann, Inklusion und Exklusion, S. 229. 22 Luhmann, Organisation und Entscheidung, S. 392. 23 Vgl. Luhmann, Organisation und Entscheidung, S. 390 ff. Vgl. dazu auch Bommes, Organisation, Bommes/Tacke Arbeit. 24 Vgl. für die Politik Stichweh, Nation und Weltgesellschaft u. Eberl, Zivilisierung, für Politik und Wirtschaft vgl. Werner/Höntsch, Exklusion und Orientierung. 25 Luhmann, Funktion der Religion, S. 53 u. 234. 26 Vgl. Luhmann, Funktion der Religion, S. 234 ff. u. Luhmann, Gesellschaft, S. 630. 27 Luhmann, Gesellschaft, S. 628. Vgl. auch Luhmann, Funktion der Religion, S. 235 u. Opitz, Grenze des Rechts, S. 96 f. Obwohl die Menschenrechte zunächst als Bürgerrechte formuliert worden sind, meint Luhmann, daß historisch gesehen „Exklusion, die andere Seite der Form, unbeleuchtet mitgeführt“ (Luhmann, Gesellschaft, S. 628) wird. Dies wird
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Das Inklusionspostulat ist zunächst nicht als positives Gebot der Verwirklichung zu verstehen, sondern als Verbot der Abweisung.28 Eine positive Verwirklichung ist an den Wohlfahrtsstaat gebunden: „Im Kielwasser durchgesetzter Inklusionspostulate, die der Verwirklichung funktionaler Differenzierung gedient hatten, tauchen dann politisch-bürokratische Programme des Wohlfahrtsstaates auf, die auf gleichzeitig-allseitiges Wachstum ausgerichtet sind.“29
Bis Ende der 1980er Jahre ging auch Luhmann selbst von einer zunehmenden Verwirklichung von Inklusion in dem Sinne aus, daß im Gegenzug Exklusion tendenziell verschwindet.30 Exklusion erschien (nicht nur) in der Systemtheorie lediglich als verblassende Erinnerung an die Anfänge der Modernisierung,31 als die Armut in den wachsenden Industriestädten ein sichtbares Zeichen für die massenhafte Exklusion der Bevölkerung aus ihren ständischen Bindungen war, der ‚noch‘ keine entsprechende Inklusion in die (bürgerliche) Gesellschaft bzw., etwas später, in den nicht zuletzt deshalb entstehenden Sozial- und Wohlfahrtsstaat entsprach. Mitte der 1990er Jahre stellt Luhmann jedoch fest, „daß es doch Exklusionen gibt, und zwar massenhaft und in einer Art von Elend, das sich der Beschreibung entzieht“.32 Kontrovers aufgenommen wurde Luhmanns Behauptung, daß die Feststellung der „Tatsachen der Exklusion“33 keiner empirischen Forschung bedürfe, weil die soziologische Ungleichheitsforschung sich immer schon im Rahmen des Inklusionspostulats der modernen Gesellschaft bewege. Denn in die Perspektive der soziologischen Ungleichheitsforschung gebracht, erscheint die Forderung der Inklusion als Maßstab der Gleichheit (alle erhalten Zugang in dem Sinne, daß niemand abgewiesen werden kann), Ungleichheit folglich als Abweichung von dieser gedachten Gleichheit; die Abweichung wird deshalb in der Ungleichheitsforschung nicht kategorisch als Exklusion, sondern als graduelles Mehr-oder-weniger34 – etwa an Gütern oder Lebenschancen – thematisiert, deren (ungleiche) Verteilung zweifelhaft, wenn man berücksichtigt, daß die Bürgerrechte dem Nationalstaat zugeordnet sind, der mit dem Begriff der Nation „ein Exklusionsprinzip“ (Nassehi, Zeit der Gesellschaft, S. 320) geltend macht. Dessen Rolle im Prozeß der funktionalen Differenzierung bleibt bei Luhmann jedoch unterbelichtet (vgl. Hahn, Identität und Nation). 28 Vgl. Lehmann, Restprobleme, S. 165. 29 Luhmann, Funktion der Religion, S. 235. 30 Vgl. Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, S. 25. 31 Vgl. Wacquant, Urban Outcasts, S. 16 f. 32 Luhmann, Jenseits von Barbarei, S. 147. Das inzwischen berühmt-berüchtigte Zitat lautet weiter: „Jeder, der einen Besuch in den Favelas südamerikanischer Großstädte wagt und lebend wieder herauskommt, kann davon berichten. Aber schon ein Besuch in den Siedlungen, die die Stillegung des Kohlenbergbaus in Wales hinterlassen hat, kann davon überzeugen. Es bedarf dazu keiner empirischen Untersuchungen. Wer seinen Augen traut, kann es sehen, und zwar in einer Eindrücklichkeit, an der die verfügbaren Erklärungen scheitern.“ (Luhmann, Jenseits von Barbarei, S. 147). 33 Luhmann, Inklusion und Exklusion, S. 243. 34 So auch Opitz, Grenze des Rechts, S. 23.
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Inklusion prinzipiell bereits voraussetzt.35 Aus Sicht der Armuts- oder der Migrationsforschung schien Luhmanns ‚Entdeckung‘ der Exklusion gleichwohl lediglich eine systemtheoretische Erschließung ansonsten längst bekannter Probleme zu bedeuten.36 In der systemtheoretischen Diskussion wiederum wurde vor allem Luhmanns Behauptung der Existenz eines „Exklusionsbereich[s]“37 und des dort stattfindenden Zusammenbruchs kommunikativer Erwartungsstrukturen – des Zurückgeworfenwerdens der Beteiligten auf die Unmittelbarkeit der Situation, auf bloße Körperlichkeit und die daraus resultierende Nähe zu Sexualität und Gewalt38 – mit Skepsis aufgenommen.39 Sie habe der Systemtheorie – aufgrund der scheinbaren (Wieder-)Entdeckung ‚der Menschen‘ – „nicht nur spöttisches Lob“ eingebracht, sondern auch „eine angemessene Beschreibung sozialer Ungleichheit im Kontext der T[heorie] f[unktionaler] D[ifferenzierung] behindert“40. Ungeachtet der Kritik seitens der Ungleichheitsforschung und der systemtheoretischen Kommentatoren an Luhmann handelt es sich bei seinen Thesen jedoch nicht um vereinzelte Aussagen, die man besser ignoriert, sondern um eine Problemformulierung. Die Exklusionsprobleme werden zunächst mit Bezug auf die Unterscheidung (fortschreitender) Inklusion und (abnehmender) Exklusion analysiert und dann auf die Unterscheidung von Regierung und Opposition bezogen. Die eher gesellschaftstheoretisch orientierte Untersuchung der Exklusionsprobleme wird schließlich darauf führen, daß Exklusion auch ein Problem für die allgemeine Theorie sozialer Systeme ist.
35 Vgl. z. B. Hradil, Ungleichheit, S. 29: „In der soziologischen Terminologie wird immer dann von ‚sozialer Ungleichheit‘ gesprochen, wenn als ‚wertvoll‘ geltende ‚Güter‘ nicht absolut gleich verteilt sind.“ Das heißt, Inklusion muß bereits irgendwie stattfinden, sollen Verteilungsprobleme thematisiert werden können. 36 Vgl. z. B. Kronauer, „Exklusion“ in der Armutsforschung u. Esser, Inklusion. 37 Luhmann, Jenseits von Barbarei, S. 148. 38 Vgl. Luhmann, Inklusion und Exklusion, S. 245 f. u. Luhmann, Gesellschaft, S. 632 f. 39 Für einen Überblick über die systemtheoretische Diskussion über Inklusion und Exklusion siehe Luhmann, Funktion der Religion, S. 234 ff., Luhmann, Jenseits von Barbarei, Luhmann, Soziologie des Wissens, Luhmann, Gesellschaft, S. 618 – 634, Stichweh, Inklusion in Funktionssysteme, Stichweh, Inklusion/Exklusion, funktionale Differenzierung, Stichweh, Theorie der politischen Inklusion, Stichweh, Differenzierungstheorie und Ungleichheitsforschung, Fuchs, Adressabilität, Fuchs, Weder Herd noch Heimstatt, Nassehi, Inklusion, Exklusion – Integration, Desintegration, Nassehi, Exklusion als soziologischer oder sozialpolitischer Begriff, Nassehi, Inklusion, Nassehi, Inklusion, Exklusion, Ungleichheit, Halfmann, Inklusionsuniversalismus, Halfmann, Nationalstaat als Lösung und Problem, Halfmann/Bommes, Staatsbürgerschaft, Göbel/Schmidt, Inklusion/Exklusion, Tacke, Netzwerk und Adresse, Lehmann, Inklusion, Lehmann, Restprobleme, Opitz, Materialität der Exklusion, Opitz, Grenze des Rechts, Farzin, Inklusion/Exklusion. 40 Nassehi, Inklusion, Exklusion, Ungleichheit, S. 13. Vgl. auch Lehmann, Restprobleme, S. 174.
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a) Inklusion als politisches Programm und als soziologischer Begriff Wird die Exklusion als ‚Rest‘ auf die Unterscheidung von Inklusion und Exklusion selbst bezogen, versteht man Inklusion als ‚noch nicht‘ vollständig verwirklicht.41 In diesem Sinne liegt die Differenz von Inklusion und Exklusion jener bereits angesprochenen wohlfahrtsstaatlichen Semantik fortschreitender Inklusion zugrunde, die an die Möglichkeit des völligen Verschwindens der Exklusion glaubt. Diese politische Semantik stellt aber zugleich auch die Leitunterscheidung für die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Wohlfahrtsstaat bereit. Denn den zumeist international vergleichend verfahrenden politikwissenschaftlichen und soziologischen Forschungen zum Wohlfahrtsstaat42 liegt Franz-Xaver Kaufmann zufolge ein politisch präformierter Begriff des Wohlfahrtsstaates zugrunde, was aber weitgehend unreflektiert bleibe.43 Nach Kaufmann geht das politische Vorverständnis der meisten Forschungen über die Entwicklung der Sozialpolitik auf den Zweiten Weltkrieg zurück, der damit auch für die Entwicklung der wissenschaftlichen Begriffe eine bedeutende, allerdings kaum beachtete Zäsur darstellt.44 Kaufmann vertritt die These, daß es in der Entwicklung der Sozialpolitik und ihrer wissenschaftlichen Reflexion zwei verschiedene semantische Traditionen gibt: „Allein in Deutschland hat sich unter dem Namen ‚Sozialpolitik‘ schon damals [seit Mitte des 19. Jahrhunderts, AH] ein Konzept entwickelt, welches die Staatstätigkeit zugunsten der benachteiligten Klassen im Sinne eines politischen Leitbegriffs faßte. Auf internationaler Ebene entwickelte sich die konzeptionelle Vereinheitlichung erst im Anschluß an den Zweiten Weltkrieg […] Erst die alliierte Sorge um die Kriegsziele des Zweiten Weltkrieges veranlaßte 1941 den amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt und den britischen Premierminister Winston Churchill anläßlich eines Treffens ‚auf hoher See‘, wie die Presseerklärung vom 14. August vermerkte, die Leitideen einer Nachkriegsordnung zu formulieren.“45
41 Vgl.
Lehmann, Restprobleme, S. 163. Vgl. zum Überblick Lessenich, Soziologische Erklärungsansätze. 43 Vgl. Kaufmann, Entstehung sozialer Grundrechte, S. 8 f. Kaufmann schreibt weiter: „In internationalen Arenen werden die nationalen Eigenarten nicht durch forschende Wissenschaftler, sondern durch die beteiligten Politiker und ihre Experten diskursiv verallgemeinert und auf zum Teil neue Begriffe gebracht. Das internationale Vorverständnis von Wohlfahrtsstaatlichkeit wurde in diesen diskursiven internationalen Prozessen entwickelt, welche von der international vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung bisher kaum beachtet worden sind.“ (Ebd., S. 9). 44 „Das Gewicht dieser Zäsur in der sozialpolitischen Entwicklung wurde in Deutschland […] kaum berücksichtigt […], weil die Atlantik-Charta das Programm des Kriegsgegners war und die sozialpolitische Entwicklung in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands nach der Niederlage in einem restaurativen Sinne verlief“ (Kaufmann, Sozialpolitik, S. 268 f.; vgl. auch Kaufmann, Entstehung sozialer Grundrechte. 45 Kaufmann, Entstehung sozialer Grundrechte, S. 10. 42
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Der Unterschied der beiden Semantiken liegt darin, daß das auf das staatstheoretische Denken Hegels und Lorenz von Steins zurückgehende deutsche Konzept des Sozialstaates einen nationalstaatlichen Rahmen voraussetzt.46 Der Begriff des Wohlfahrtsstaates, der sich mit dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzt hat, ist demgegenüber von vornherein international orientiert.47 In der Folge stand die Sozialpolitik von vornherein auch bei „weiterhin nationalen Entwicklungen der Nachkriegszeit […] im legitimatorischen Sinne […] bereits unter internationalen Vorzeichen“48. Die von Kaufmann für zentral erachtete legitimierende Semantik 46 Vgl. dazu Streeck, Wohlfahrtsstaat und Markt, S. 152. Die Besonderheit der deutschen Leitidee besteht in der auf Hegel zurückgehenden Unterscheidung von Staat und Gesellschaft sowie in dem ebenfalls von Hegel auf den Begriff gebrachten Gedanken der Selbstverwaltung. Beide wurzeln in einem spezifisch pietistischen Gemeinschaftsbegriff (vgl. z. B. Pankoke, Sociale Bewegung, Pankoke, Geschichtliche Grundlagen, Lepsius, Die pietistische Ethik). Zentrale Bezugsgrößen der früh beginnenden Theorie- und Leitbildentwicklung sind Hegels Rechtsphilosophie und Lorenz von Steins Studien über die sozialen Bewegungen in Frankreich und seine staats- und verwaltungswissenschaftlichen Arbeiten (vgl. speziell zu Lorenz von Stein Pankoke, Lorenz von Steins staats- und gesellschaftswissenschaftliche Orientierungen. Vgl. auch Manow, The Good, the Bad, and the Ugly. 47 Diese Rückbindung des westlichen „welfare state“ an den „warfare state“ zu berücksichtigen, fordert auch Wolfgang Streeck, Wohlfahrtsstaat und Markt, S. 152. Manfred G. Schmidt, Sozialpolitik, S. 11, Anm. 2, macht darauf aufmerksam, daß „‚Wohlfahrtsstaat‘ […] die Übersetzung des englischen Begriffs welfare state [ist], der als Gegenbegriff zur nationalsozialistischen ‚Volksgemeinschaft‘ entworfen wurde […]“. Nach Claus Offe, Zu einigen Widersprüchen, S. 323, hat der „Sozialstaat […] im Zeitraum seit dem 2. Weltkrieg als wichtigste Friedensformel fortgeschrittener Demokratien gedient“. 48 Kaufmann, Sozialpolitik, S. 268 (i. O. mit Hervorh.). Befragt man vergleichende Untersuchungen auf indirekte Belege für Kaufmanns These, mag etwa die Phaseneinteilung in Jens Albers „bahnbrechende[r] Studie über die Sozialversicherungen in Westeuropa“ (Schmidt, Sozialpolitik, S. 184) herangezogen werden. Nach Alber lassen sich hinsichtlich der Ausdehnung sozialstaatlicher Programme „drei klar getrennte Etappen unterscheiden: die Vorkriegszeit als Phase der Sozialpolitik ‚von oben‘, die Zwischenkriegszeit als Abschnitt der Sozialpolitik ‚von unten‘ und die Nachkriegszeit als eine relativ entpolitisierte Phase der internationalen Diffusion oder Konvergenz“ (Alber, Armenhaus, S. 158). Alber findet, daß die Etablierung des Sozialstaates durch den „Pionier Deutschland“ (ebd., S. 138) und dessen unmittelbare Nachfolger deren konservativen Regierungen zuzuschreiben ist, der Ausbau in der Zwischenkriegszeit hingegen auf sozialistische und sozialdemokratische Reforminitiativen zurückgeht (vgl. ebd., S. 132 ff.). Die Expansion nach dem Zweiten Weltkrieg wird dagegen von „überproportionalen Anstrengungen der ehemaligen Nachzügler“ (ebd., S. 157) getragen. Schmidt, Sozialpolitik, S. 187 – 189, erwähnt in diesem Zusammenhang als „Nachzügler“ namentlich Großbritannien und die USA, als weitere „Pioniere“ neben dem Deutschen Reich werden die ebenfalls „autoritär regierten“ Österreich, Dänemark, Schweden und Italien genannt. Der Zweite Weltkrieg spielt in dieser Phaseneinteilung insoweit eine Rolle, als er nach Alber „die Voraussetzungen für eine allgemeiner geteilte Leitidee der Sozialpolitik als Ausdruck nationaler Solidarität [schuf]. Erst die anhaltende Prosperität der Nachkriegsjahre drängt ideologische Auseinandersetzungen wirksam in den Hintergrund und machte die Sozialpolitik zu einem von Grundsatzdebatten losgelösten, ‚politisch billigen‘ Nebenprodukt des Wirtschaftswachstums“
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ist die der Sicherheit.49 Sie wurzelt in der Formel der Social Security im US-amerikanischen New Deal,50 und „erlebte bis ca. 1950 eine beispiellose begriffliche Karriere im angloamerikanischen Raum, an die sich eine deutsche Sekundärkonjunktur zwischen 1950 und 1965 anschloss“51; die deutsche Sekundärkonjunktur geht auf die bereits erwähnten „gesellschaftspolitischen Planungen der Alliierten für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg“52 zurück. Im Plan für ein „einheitlich administriertes staatliches System der sozialen Sicherung gegen die wichtigsten Lebensrisiken für die gesamte Bevölkerung“ (und nicht nur für spezifische Gruppen) sieht Kaufmann die „spezifische institutionelle Differenz“53 zwischen dem angelsächsischen Begriff des Wohlfahrtsstaates und dem vorher geltenden Begriff des Sozialstaates. Dieser Austausch der Leitideen kann gesellschaftsgeschichtlich (Alber, Armenhaus, S. 164). Alle diese Einschätzungen, vor allem die Phaseneinteilung, suggerieren grundsätzliche Kontinuität, obwohl nach Kaufmann eigentlich ein qualitativer Bruch zu berücksichtigen wäre. Auch die Formulierung von einer „allgemeiner geteilten“ Leitidee bezieht sich auf eine jeweils „innenpolitische“ Perspektive und berücksichtigt gerade nicht den Leitbildwechsel, der dem vermeintlich sukzessive gewachsenen Nachkriegskonsens vorangegangenen ist. Dieser Leitbildwechsel hat aber auf „internationaler“ Ebene stattgefunden. Man kann sich fragen, ob die Methode des „internationalen Vergleichs“ nicht dazu geeignet ist, solche Verschiebungen systematisch auszublenden, ist doch die internationale politische Ordnung selbst ein veränderlicher Rahmen, was einem Vergleich innerhalb dieses Rahmens begrifflich unerreichbar bleibt. Nimmt man die These zweier Leitbilder ernst, muß man umgekehrt argumentieren: die Etablierung einer genuin der Nachkriegszeit zuzuordnenden neuen Leitidee (Ächtung von Krieg und Gewalt, Freihandel und Wohlfahrt) führt europaweit zu einer („innenpolitisch“ so scheinenden) „Entpolitisierung“ (Alber, Armenhaus, S. 157) der Sozialpolitik und damit zur „Konvergenz“ der westlichen Wohlfahrtsstaaten. Ganz in diesem Sinn schreibt Kronauer unter Berufung auf De Swaans, Der sorgende Staat, S. 241 ff., These der wohlfahrtsstaatlichen „Kollektivierung“ im 20. Jahrhundert, daß seit dem Zweiten Weltkrieg „alle hochentwickelten Gesellschaften Europas – und in einem gewissen Maße auch die USA“ (Kronauer, Exklusion, S. 37) von einer Überformung ihrer überkommenen Leitideen betroffen seien; so bezieht „die französische republikanische Idee von Einheit der Nation und ihrer solidarischen Grundlage […], wenn überhaupt, ihre alltägliche Überzeugungskraft vor allem aus den sozialstaatlichen Institutionen“ und auch die „moderne englische Vorstellung von Citizenship ist eng mit dem Wohlfahrtsstaat verbunden“ (ebd., S. 38). Die Bundesrepublik kann aber insofern als ein Zentrum dieser neuen Lage angesehen werden, als dort als dem einzigen westlichen Staat die Sozialstaatlichkeit in der Verfassung resp. im Grundgesetz verankert wurde (vgl. Schulte, Das deutsche System, S. 17). 49 Vgl. Kaufmann, Sicherheit als soziologischer und sozialpolitischer Begriff u. Kaufmann, Entstehung sozialer Grundrechte. Vgl. auch Lessenich, Dynamischer Immobilismus, S. 211, zur Leitidee der Sicherheit u. ebd., S. 43 ff. zum Begriff der Leitidee im Kontext der Wohlfahrtsstaatsforschung. Vgl. auch von Trotha, Die präventive Sicherheitsordnung, S. 31. 50 Vgl. auch De Swaan, Der sorgende Staat, S. 225 ff. 51 Kaufmann, Leitbild beherrschbarer Komplexität, S. 79. Vgl. auch Kaufmann, Varianten des Wohlfahrtsstaats, S. 98 ff. 52 Kaufmann, Leitbild beherrschbarer Komplexität, S. 84. 53 Kaufmann, Leitbild beherrschbarer Komplexität, S. 83 (Hervorh. hinzugefügt).
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als Teil von Schüben einer in west-östlicher Richtung expandierenden „Atlantischen Revolution“ betrachtet werden, „die in Gestalt von Mentalitäten, Verfassungen, Begriffen, politischen Chiffren […] die kontinentalen Zivilisationen durchdrangen“ und zur „Übernahme atlantischer Verfassungs- und Verkehrsformen“54 führten. Der Wohlfahrtsstaat fungiert seit dem Zweiten Weltkrieg unter dem legitimatorischen Vorzeichen der Sicherheit als doppelter Bezugspunkt für Inklusion: er ist einerseits das Bezugssystem für die Inklusion von Individuen in das politische System durch Einrichtung von Parteien, demokratischen Wahlen und wohlfahrtsstaatlichen Programmen.55 Andererseits ist er selbst Adresse für die Inklusion in das politische System der Weltgesellschaft, in dem die „Nationalstaaten als konstitutive Bürger fungieren. Inklusion in das politische System der Welt nimmt damit die Form an, daß eine egalitäre Basisstruktur nationaler Souveränität entsteht, die im Prinzip alle Staaten einander gleichstellt“56. Als positives Völkerrecht formuliert wird dieser „Grundsatz souveräner Gleichheit“57 in der Charta der Vereinten Nationen. Kaufmann betont, daß „im Zuge dieser Entwicklung der alte Wertbegriff ‚Friede‘ […] zunehmend durch den der Sicherheit verdrängt worden ist“58. Denn das vormalige, politische Souveränität begründende „freie Recht zum Kriege wird mit der UN-Charta endgültig aufgehoben“59. Kriege sind völkerrechtlich nur noch zur Selbstverteidigung zugelassen, sodaß zunehmend keine Kriege, sondern nur noch bewaffnete Konflikte ausgetragen werden, über die „nicht mehr nach dem Belieben der Konfliktparteien durch den Einsatz militärischer Macht“ entschieden werden kann, sondern die „in die Zuständigkeit des Systems der kollektiven Sicherheit […], das mit der Charta errichtet wurde“60, fallen. Aus dem Grundsatz der Gleichheit der Mitgliedsstaaten ergibt sich ein wechselseitiges Interventionsverbot. Nach innen läßt sich eine „Verpflichtung auf wohlfahrtsstaatliches Handeln“61 beobachten. Beide Dimensionen, das heißt sowohl die innerstaatliche als auch die internationale, stehen in der Nachkriegsära unter der Leitidee zunehmender Inklusivität und abnehmender Exklusivität. Eine bedeutende Mittlerfigur für die Übernahme politischer Ideen als Grundlage sozialwissenschaftlicher Forschung ist der Soziologe und Kommissar der bri54 Diner, Jahrhundert, S. 56. Diner nennt die Jahre 1918, 1945 und 1989 als sichtbare Zäsuren. 55 Vgl. Luhmann, Politik, S. 97, 137 u. 423. 56 Stichweh, Nation und Weltgesellschaft, S. 59. Vgl. auch Meyer, The World Polity, S. 50 u. Meyer u. a., World Society. 57 Vgl. Eberl, Zivilisierung, S. 359. 58 Kaufmann, Leitbild beherrschbarer Komplexität, S. 78. Vgl. auch Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, S. 36. 59 Eberl, Zivilisierung, S. 360. 60 Eberl, Zivilisierung, S. 360. 61 Stichweh, Nation und Weltgesellschaft, S. 58 (Hervorh. getilgt).
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tischen Militärregierung62 Thomas H. Marshall, auf dessen Vortrag aus dem Jahr 1949 die wesentlichen Begriffe der Forschungen zum Wohlfahrtsstaat zurückgehen.63 Marshall vertrat die sozialpolitisch und soziologisch leitende „Vorstellung eines idealen Staatsbürgerstatus“, die den Weg „zu einem volleren Maß an Gleichheit, zu einer Bereicherung der dem Status Inhalt gebenden Substanz und zu einer Zunahme der Zahl jener, denen der Status gewährt wird“64 vorzeichnen sollte. Bei Marshall wird die politische Leitidee der Sicherheit soziologisch verallgemeinert, wenn er feststellt, „daß die Ausdehnung sozialer Einrichtungen […] die generelle Verminderung der Risiken und Unsicherheiten […] zwischen den Individuen einer Bevölkerung“ zur Absicht hat, der auf der Seite der Bevölkerung der „unausgesprochene[] Glaube[], daß die Gesellschaft […] die wesentlichen Bestandteile eines angenehmen und sicheren Lebens garantieren sollte und will“65, entspricht. Diese 62 Marshall war „vom Sommer 1949 bis zum Sommer 1950 […] der für das Bildungswesen zuständige Kommissar in der britischen Kontrollkommission für Deutschland“ (Rieger, T. H. Marshall, S. 17), wo er nach eigener Aussage „die Entstehung einer buchstäblich neuen Gesellschaft beobachten [konnte]“ (zit. nach ebd.). Seine Theorie der „sukzessiven Entfaltung des Bürgerstatus“ läßt sich nach Kaufmann auf die genannten Kriegspläne der Alliierten zurückführen, denn diese Theorie „bezog sich hinsichtlich der sozialen Rechte im wesentlichen auf die dem Beveridge-Plan folgenden Reformen der unmittelbaren Nachkriegszeit. In der Tat kann der Beveridge-Plan als weitreichender Entwurf einer wohlfahrtsstaatlichen Politik und damit als Konkretisierung der Versprechungen der Atlantik-Charta für Großbritannien interpretiert werden […]. Beveridge berief sich ausdrücklich auf die Atlantik-Charta bei der Begründung seines Plans.“ (Kaufmann, Entstehung sozialer Grundrechte, S. 41). 63 Die wegweisende Bedeutung Marshalls gilt sogar noch für die einflußreichen Untersuchungen Esping-Andersens, dessen Begriff des Wohlfahrtsstaates unmittelbar an Marshall anschließt: „Few can disagree with T. H. Marshall’s (1950) proposition that social citizenship constitutes the core idea of a welfare state. But the concept must be fleshed out. Above all, it must involve the granting of social rights.“ (Esping-Andersen, Three Worlds, S. 21). 64 Marshall, Staatsbürgerrechte, S. 53. Im Zusammenhang heißt es: „Staatsbürgerrechte verleihen einen Status, mit dem all jene ausgestattet sind, die volle Mitglieder einer Gemeinschaft sind. Alle, die diesen Status innehaben, sind hinsichtlich der Rechte und Pflichten, mit denen der Status verknüpft ist, gleich. Es gibt kein allgemeines Prinzip, das bestimmt, was dies für Rechte und Pflichten sein werden. Die Gesellschaften aber, in denen sich die Institutionen der Staatsbürgerrechte zu entfalten beginnen, erzeugen die Vorstellung eines idealen Staatsbürgerstatus, an der die Fortschritte gemessen und auf die die Anstrengungen gerichtet werden können. Der Drang, auf dem damit vorgezeichneten Pfad vorwärtszukommen, ist ein Drang zu einem volleren Maß an Gleichheit, zu einer Bereicherung der dem Status Inhalt gebenden Substanz und zu einer Zunahme der Zahl jener, denen der Status gewährt wird.“ (ebd., S. 53). 65 Marshall, Staatsbürgerrechte, S. 73 u. S. 92. Nach Marshall ist die Etablierung des Wohlfahrtsstaates unter dem Leitbild der Sicherheit mit spezifischen Pflichten wie etwa zur Zahlung von Steuern oder Versicherungsbeiträgen, Schul- und Wehrpflicht verbunden. Neben bzw. über diesen bestimmten Pflichten, mit denen „keine Willenserklärung […] und kein ausgeprägtes Gefühl der Loyalität [verbunden]“ (ebd., S. 88) ist, gibt es aber eine „elementare Pflicht“ (ebd., S. 90), die sich als „Pflicht zu arbeiten“ konkretisieren soll, um „die
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Entwicklungen sind mit einem damals immer noch wachsenden Planungsoptimismus verbunden. Auch Luhmanns früher Begriff wohlfahrtsstaatlicher Inklusion stützt sich auf Marshall: „Wir bilden deshalb – in Anlehnung vor allem an T. H. Marshall – einen anderen Begriff des Wohlfahrtsstaates, und zwar mit Hilfe des soziologischen Prinzips der Inklusion. Der Begriff der Inklusion meint die Einbeziehung der Gesamtbevölkerung in die Leistungen der einzelnen gesellschaftlichen Funktionssysteme. Er betrifft einerseits Zugang zu diesen Leistungen, andererseits Abhängigkeit der individuellen Lebensführung von ihnen. In dem Maße, als Inklusion verwirklicht wird, verschwinden Gruppen, die am gesellschaftlichen Leben nicht oder nur marginal teilhaben.“66
„Exklusion“ kommt zu diesem Zeitpunkt der Theoriebildung nicht als theoretisch notwendiger Gegenbegriff zu Inklusion, sondern unter dem Gesichtspunkt politischer Planung zur Sprache, wenn Luhmann feststellt, daß unter Exklusion die „bewußte entwicklungspolitische Beibehaltung solcher Marginalität, die Ausschließung ganzer Bevölkerungsgruppen aus der Partizipation an gesellschaftlichen Leistungen“67 zu verstehen sei. Die aus entwicklungspolitischen Gründen erfolgende absichtliche Ausschließung von Bevölkerungsgruppen erfolgt in diesem Sinne nicht als Selbstzweck – wie etwa in Südafrika unter der Apartheid68 –, sondern um die Ausschließung auf längere Sicht in kontrollierter Weise reduzieren zu können.69 Eben das zeigt an, daß Luhmann hier theoretisch nicht von Inklusion Wohlfahrt der Gemeinschaft zu fördern“ (ebd., S. 89). Vgl. auch Wacquant, Vermählung, der den Gedanken der Arbeitspflicht als neue Erscheinung mißdeutet. 66 Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, S. 25. 67 Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, S. 25, Anm. 12. Die Einführung des mit Blick auf Parsons modifizierten Inklusionsbegriffs (vgl. Luhmann, Funktion der Religion, S. 234 ff.) kommt ganz ohne einen Bezug auf Exklusion aus. 68 Vgl. dazu auch Luhmann, Gesellschaft, S. 629. 69 Ganz ähnlich dachte im nationalen Rahmen Marshall. Daraus, daß im „demokratisch-sozialistischen Staat“ das Versprechen auf Sicherheit vor Risiken zur legitimen Erwartung geworden ist, „folgt, daß individuelle Rechte nationalen Plänen unterworfen werden müssen. […] Die Verpflichtung des Staates besteht gegenüber der Gesellschaft als ganzes […]. Sie besteht nicht gegenüber dem einzelnen Bürger […]“ (Marshall, Staatsbürgerrechte, S. 75). Beispielsweise „Stadtplanung ist in diesem Sinne eine derartige umfassende Planung. Sie nimmt nicht nur die Gemeinschaft als ganzes, sondern beeinflußt und stellt alle sozialen Aktivitäten in Rechnung, alle Bräuche und Interessen. Sie zielt auf die Schaffung neuer physischer Umwelten, die aktiv das Wachsen neuer, humaner Gesellschaften fördern sollen“ (ebd., S. 77). In diesem Sinn wird es im Falle der Stadtplanung und des Wohnungsbaus Bevölkerungsteile geben, die erst später als andere in den Genuß der umgestalteten Städte kommen und insofern vom Fortschritt zunächst ausgeschlossen bleiben müssen. Dies ist aber nur ein Nebeneffekt der Planung, die nicht alles gleichzeitig erledigen kann: „Mit dem Abschluß des Wohnungsbauprogramms sollten derartige Ungleichheiten verschwinden.“ (ebd., S. 76) So auch im Erziehungswesen: „Konkurrenz um knappe Plätze soll durch Selektion und Verteilung auf ausreichende Plätze ersetzt werden“, wobei „das Angebot an Volksschulen solange als nicht angemessen betrachtet wird, bis sie ‚für alle Schüler
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und Exklusion als einer begrifflichen Differenz, sondern in Übereinstimmung mit der Semantik politischer Planung von einem graduellen Kontinuum und insofern von der Reduzierbarkeit von Exklusion ausgeht. Die mangelnde Reflexion des politischen Rahmens sozialwissenschaftlicher Überlegungen betrifft also augenscheinlich auch Luhmanns Analysen des Wohlfahrtsstaates der 80er Jahre. Rufen wir uns deshalb kurz Luhmanns damalige Diagnose des westdeutschen Wohlfahrtsstaates ins Gedächtnis. Seine Analyse beruhte auf der Unterscheidung von Funktion und Leistung. Es wurde eine Gefährdung der Funktionserfüllung des politischen Systems durch eine Überforderung des Staates mit Leistungsansprüchen konstatiert.70 Die Funktion der „Bereitstellung von Durchsetzungsfähigkeit […] für bindende Entscheidungen“71, also die Bedingung der Möglichkeit für die Ausdifferenzierung und Schließung des politischen Systems, werde zunehmend zugunsten der Leistung, das heißt der Beziehung zu anderen Funktionssystemen, vernachlässigt. Was im Prozeß der Expansion des Wohlfahrtsstaates in der Dimension der Leistung sowohl in der Theorie wie auch im politischen System selbst verloren zu gehen drohe, sei ein Bewußtsein für die in aller Politik vorauszusetzende Durchsetzungsfähigkeit, ein Problem, das nicht über Versprechungen auf Wohlfahrt, sondern letztlich über die Monopolisierung physischer Gewalt zu lösen sei.72 In diesem Sinne erhoffte sich Luhmann von seiner Analyse des Wohlfahrtsstaates den Effekt einer stärkeren Beachtung soziologischer „Theorie des politischen Systems im politischen System“73, die dazu beitragen sollte, das „expansive Politikverständnis“ durch ein „restriktive[s]“74, sich auf das Durchsetzungsproblem politischer Entscheidungen besinnendes Politikverständnis zu ersetzen. Luhmanns Analyse des Wohlfahrtsstaates in den frühen 80er Jahren erfolgte anhand eines Verständnisses Inklusion als Prinzip75, das selbst politisch präformiert war. Erst später entwickelte er einen Begriff der Inklusion als Differenz von Inklusion und Exklusion, in deren Form Exklusion dauernde Voraussetzung für Inklusion und kein irgendwann verschwindender Zustand ist.
Bildungsmöglichkeiten bereitstellen […]‘“ (ebd., S. 78), einschließlich der Anpassung der „Bildungsplanung an die berufliche Nachfrage“ (ebd., S. 79). 70 Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, S. 81 ff. Vgl. auch Kuchler, Bourdieu und Luhmann, S. 12. 71 Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, S. 82 f. 72 Vgl. Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, S. 49 u. S. 82. 73 Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, S. 142. 74 Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, S. 155. 75 Der Gegenbegriff des Prinzips Inklusion ist Solidarität, nicht Exklusion. Vgl. Luhmann, Gesellschaftliche Struktur, S. 30: „Das Prinzip der Inklusion ersetzt jenes der Solidarität, die darauf beruhte, daß man einer Gruppe angehörte.“
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b) Exklusion als „Restproblem“ des Wohlfahrtsstaates Die systemtheoretische Migrationssoziologie hat darauf aufmerksam gemacht, daß für die kollektiv bindenden Entscheidungen der Politik nicht nur die auf dem staatlichen Gewaltmonopol beruhende Durchsetzungsfähigkeit, sondern auch die „Abnahmebereitschaft“76 solcher Entscheidungen seitens des Publikums nicht beliebig voraussetzbar ist. Diese unterliegt Bedingungen, die Luhmann in seiner Analyse des Wohlfahrtsstaates stillschweigend als gegeben anzunehmen scheint. Der Gewaltbezug des politischen Systems erfordert die Bindung des Staates an ein Territorium und eine Nation. Politische Inklusion heißt deshalb immer Inklusion in einen bestimmten Staat und Exklusion aus allen anderen. Wie Jost Halfmann betont, beruht die Abnahmebereitschaft kollektiv bindender Entscheidungen des Staates in hohem Maße auf dieser „Inklusionsexklusivität“77 seiner Staatsbürger78: „Die Bindewirkung politischen Entscheidens im modernen Nationalstaat hängt von funktionierender Abnahmebereitschaft für politische Entscheidungen ab und dies wiederum von der Erwartung, dass staatliche Organisationen tatsächlich effektiv territoriale Autorität besitzen […]“79.
Mit Blick auf diese Abnahmebereitschaft ist jedes politische Kollektiv, mag es sozialstrukturell noch so differenziert sein, letztlich homogen. Zugleich hat „der moderne Staat einen doppelten Bezug auf Inklusion: Inklusion in das politische System und Vermittlung von Inklusion in alle anderen Funktionssysteme“80, worin sich zugleich die Unterscheidung zwischen Funktion und Leistung der Politik spiegelt. Wohlfahrtsstaatliche Leistungserbringung wird erst unter der Voraussetzung des Zustandekommens solcher funktionalen Homogenität eines Nationalstaates möglich. Die Inklusionsexklusivität hinsichtlich der Funktion des politischen Systems erstreckt auf die Leistung in Form der „Privilegierung von Staatsbürgern bei der Inklusionsvermittlung in die nichtpolitischen Funktionssysteme“81. Insgesamt beruht die Abnahmebereitschaft politischer Entscheidung auf einem komplexen Zusammenspiel des Aspektes der politischen Inklusion und der Inklusionsvermittlung, das sich zudem in „den semantischen, seine kulturelle und politische Einzigartigkeit betonenden Angeboten des Staates“82 ausdrückt.
76 Halfmann, Nationalstaat als Lösung und Problem, S. 273. Vgl. auch Bommes, Migration, S. 137. 77 Halfmann, Nationalstaat als Lösung und Problem, S. 270. 78 Vgl. Halfmann, Nationalstaat als Lösung und Problem, S. 268. 79 Halfmann Nationalstaat als Lösung und Problem, S. 281. 80 Halfmann, Nationalstaat als Lösung und Problem, S. 265. 81 Halfmann, Nationalstaat als Lösung und Problem, S. 270. 82 Halfmann, Nationalstaat als Lösung und Problem, S. 273.
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Die exklusive und permanente Zuordnung der Individuen zu einem Nationalstaat und damit die Voraussetzung für die Abnahmebereitschaft politischer Entscheidungen kann erodieren, was sich exemplarisch am Phänomen massenhafter Einwanderung belegen läßt: „Die entscheidende Ursache für die Erosion von nationaler Inklusionsexklusivität ist nicht Migration als solche, sondern Migration mit (staatlicherseits) ungewollten dauerhaften Niederlassungsfolgen. Die Inklusionsexklusivität von Staatsbürgern wurde besonders in den Staaten durch Migration unterminiert, die in der Vergangenheit expansive Wohlfahrtsstaatsprogramme aufgebaut hatten, aber Immigration aus den verschiedensten Gründen förderten oder nicht abweisen konnten.“83
Wenn die wohlfahrtsstaatlichen Leistungen der Inklusionsvermittlung, die ursprünglich nur Staatsbürgern vorbehalten waren, in zunehmendem Maße auch Einwanderern zugutekommen, etabliert der Staat eine Leistungsbeziehung, die sich aufseiten der „Ausländer“ zu menschenrechtlich legitimierten Ansprüchen verdichten kann, „ohne von ihnen die gleiche Abnahmebereitschaft gegenüber staatlichen Entscheidungen wie der als Nation politisch inkludierten Bevölkerung erwarten zu können“84. Luhmanns Vorschlag einer möglichen Begrenzung des den Wohlfahrtsstaat überfordernden Leistungsaspekts durch verstärkte Besinnung auf die Funktion des politischen Systems setzte offensichtlich eine im geschilderten Sinn homogene und stabile Zugehörigkeit der Individuen zum territorial verfaßten Nationalstaat voraus. Doch problematisch für den Wohlfahrtsstaat ist nicht allein das Steigerungsverhältnis von staatlichen Leistungsversprechen und individuellen Ansprüchen, sondern auch die Minderung der Abnahmebereitschaft für politische Entscheidungen, das heißt die Gefährdung der Funktionserfüllung des politischen Systems. Wenn Jost Halfmann und Michael Bommes feststellen, daß „Wohlfahrtsstaaten […] ihr reflexiver Bezug auf die Form Inklusion/Exklusion der modernen Gesellschaft gemeinsam [ist]“85, so muß diese Diagnose dahingehend ergänzt werden, daß dies sowohl für den Nachkriegswohlfahrtsstaat als auch für die Nachkriegswohlfahrtsstaatstheorie nur eingeschränkt gilt. Denn während der Sozialstaat des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts als „nach außen militärisch abgegrenzte und nach innen polizeilich vereinheitlichte staatszentrierte Nationalgesellschaft“86 fähig war, die Differenz von Inklusion und Exklusion reflexiv, das heißt, Exklusion als Reflexionswert für Inklusion zu handhaben und damit Inklusionsexklusivität zu gewährleisten, muß über den „weltgesellschaftlich“ verankerten Wohlfahrtsstaat der Nachkriegsepoche konstatiert werden, daß er nur noch ein einseitiges Verständnis von zunehmender Inklusion und abnehmender Exklusion gepflegt hat. 83
Halfmann, Nationalstaat als Lösung und Problem, S. 272. Halfmann, Nationalstaat als Lösung und Problem, S. 273. Vgl. im Anschluß daran empirisch abwägend Mau, Mitgliedschaftsräume. Vgl. auch Bommes, Migration, S. 137. 85 Halfmann/Bommes, Staatsbürgerschaft, S. 87. Vgl. dagegen Luhmann, Politik, S. 215. 86 Streeck, Wohlfahrtsstaat und Markt, S. 152. 84
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Die Fähigkeit der Reflexion auf Exklusion bzw. auf die Einheit der Unterscheidung von Inklusion und Exklusion muß also verloren gegangen sein. Für die systemtheoretische Soziologie kann man sagen, daß sie die Einsicht in diese Zusammenhänge offenkundig erst seit den 90er Jahren wiedergewann. Dieser Reflexionsverlust resultiert aus der Struktur der wohlfahrtsstaatlichen Unterscheidung von Regierung und Opposition.87 Diese ergänzte und überlagerte nach Luhmann die primäre Unterscheidung von Regierung und Regierten bzw. Regierung und Volk, sodaß der Begriff der Regierung „im Angelpunkt zweier Unterscheidungen“ steht: diese Doppelbelegung der Regierung hatte zwischenzeitlich, so resümiert Luhmann im Jahr 1989, „das alte Problem der Souveränität […] unsichtbar“88 werden lassen. Weil die Unterscheidung von Regierung und Opposition die Unterscheidung von Regierung und Volk besetzt hält, kann jene von dieser her als Einheit beobachtet und kontingent gesetzt werden. Es ist somit denkbar, den „Rejektionswert in bezug auf die Unterscheidung von Regierung und Opposition“89 anzuwenden. Luhmann sieht darin aber nicht eine Möglichkeit, ein reflexives Verhältnis zur komplexen Problematik der Verknüpfung zweier Inklusionsverhältnisse (politische Inklusion und Inklusionsvermittlung in die anderen Funktionssysteme) zu gewinnen, sondern ihm gilt der Übergang von der Unterscheidung von Regierung und Opposition zur Unterscheidung von Regierung und Volk schlicht als „undemokratisch“90. Es müsse daher pauschale Akzeption des politischen Zweitcodes eingefordert werden, um „vermutlich eine Regression auf die einfache Unterscheidung von Regierung und Regierten“91 zu verhindern: „Offenbar erzwingt eine Codierung wie die von Regierung und Opposition einen Verzicht.“92 Dieser Verzicht auf die Möglichkeit zur Rejektion, das heißt zur Reflexion der parteienstaatlichen Unterscheidung von Regierung und Opposition, führt zu einer Unbestimmtheit darüber, ob die Regierung von den Regierten oder von der Opposition unterschieden ist93, was den Ansatzpunkt für die eben skizzierten Restprobleme der verwirklichten wohlfahrtsstaatlichen Inklusion bietet. Diese verweisen auf den Code wohlfahrtsstaatlicher Politik als Differenz desjenigen Beobachters, der den Versuch fortschreitender Inklusion begonnen hat.94 Der ‚Rest‘ der Unterscheidung von Regierung und Opposition kann dann zweierlei bezeichnen: zum einen die Einheit der in Frage stehenden Differenz selbst, also die Politik als Funktionssystem; andererseits können mit dem Rest „die durch 87 Vgl. Stäheli, Sinnzusammenbrüche, S. 249 ff., zur dekonstruktiven Reformulierung von Luhmanns Analyse. 88 Luhmann, Theorie der politischen Opposition, S. 17. 89 Luhmann, Theorie der politischen Opposition, S. 18. 90 Luhmann, Theorie der politischen Opposition, S. 18. 91 Luhmann, Theorie der politischen Opposition, S. 19. 92 Luhmann, Theorie der politischen Opposition, S. 23. 93 Vgl. Stäheli, Sinnzusammenbrüche, S. 257. 94 Vgl. Luhmann, Theorie der politischen Opposition.
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seine Schließung ausgeschlossenen anderen Beobachter“95 gemeint sein. In dieser Hinsicht enthält die Rest-Metapher also einen exakten beobachtungstheoretischen Kern.96 Zu Restproblemen können jene Beobachter werden, wenn sie „das Individuum so kompakt in Anspruch nehmen, daß die Funktionssystemcodes es nicht wieder lockern können, was den Einzelnen nicht nur die polykontexturalen Funktionssysteme verschwinden läßt, sondern ihn generell als Problem unsichtbar macht. […] Diese Gleichzeitigkeit bildet zugleich das ‚Restproblem‘ der Inklusionstheorie: die unerklärlichen Kumulationen, Koinzidenzen und Kopplungen von Exklusionen.“97
Anders als Luhmann, der den „Exklusionsbereich“ nur negativ – als negativ integriert bzw. entdifferenziert – beschreibt, wirft Lehmann die Frage nach „Sozialformen“ auf, die bezüglich der Funktionssysteme „gleichzeitig und ggf. anders inkludieren“98. Hier kämen zunächst Organisationen in Frage, die komplementär zu den Funktionssystemen inkludieren99: während Funktionssysteme niemanden abweisen können, beruht Mitgliedschaft in Organisationen auf dem Ausschluß (beinahe) aller jener Gesellschaftsteilnehmer, die nicht Mitglieder der Organisation sind. Für Organisationen ist also Exklusion notwendigerweise der Normalfall.100 Luhmann sieht in der Komplementarität von Funktionssystemen und Organisationen ein schlüssiges „Gesamtarrangement“, in dem die „paradoxe Einheit dieser Differenz […] so aufgelöst [wird], dass die Gesellschaft in ihren Funktionssystemen für Inklusion aller optiert, die Organisationen dagegen für Exklusion aller“101. Charakteristischerweise spricht Luhmann mit Blick auf das Verhältnis von Organisation und Funktionssystem von einem „Umkehrverhältnis von Inklusion und Exklusion“102. Allerdings ist dies eine suggestive Formulierung, weil die Unterscheidung von Inklusion und Exklusion hierbei eigentlich zweifach im Einsatz ist. Gesamtgesellschaftlich gesehen, kann sich das Verhältnis von Funktionssystem und Organisationen nicht zu einem „Gesamtarrangement“, dessen beide Seiten sich als Umkehrverhältnis ein und derselben Unterscheidung begreifen ließen, runden. Vielmehr ist zu fragen, „ob auf der dritten Seite der modernen Polykontexturalität neben den zur eigenen Funktion in Anspruch genommenen Organisationen längerfristige, strikte Integrationen, Gemeinschaftsbildungen, Korporationen entstehen können, die so mächtig werden, daß sie 95
Lehmann, Restprobleme, S. 165. reformuliert, betrifft die Rest-Metapher also Differenzen als beobachtungsleitende Unterscheidungen […]. Der nicht-metaphorische Theoriebegriff an dieser Stelle ist der Begriff der Form.“ (Lehmann, Restprobleme, S. 165 und Anm. 3). 97 Lehmann, Restprobleme, S. 175. 98 Lehmann, Restprobleme, S. 164 und 168. 99 Vgl. Schimank, Durchorganisierung, Lieckweg/Wehrsig, Zur komplementären Ausdifferenzierung, Kneer, Organisation. 100 Vgl. Luhmann, Organisation und Entscheidung, S. 390 ff. 101 Luhmann, Organisation und Entscheidung, S. 392. 102 Luhmann, Organisation und Entscheidung, S. 392. 96 „Beobachtungstheoretisch
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nicht mehr als Ressource der funktionalen Differenzierung nutzbar sind (so wie zum Beispiel die individualisierte Gesellschaft die Familie als Ressource zur Simulation von Komplettinklusion, aber ebenso auch als politisch-wohlfahrtsstaatliche Ressource nutzt). Solche Systeme unterlaufen, wäre zu vermuten, nicht nur die Ebene der interdependenten Funktionssysteme, sondern auch die Ebene der interdependenzunterbrechenden Organisationen.“103
Die von Lehmann angedeuteten Sozialformen, die gleichzeitig mit den Funktions- und Organisationssystemen inkludieren, bleiben für Funktionssysteme und Organisationen unsichtbar. Wenn der von Lehmann angesprochene Kompletteinschluß der Einzelnen in diese Sozialformen gelingt, weil „auf der Seite der Exklusion ein Desinteresse an Inklusion“104 herrscht, verschwindet der Einzelne für die Beobachtung (= Inklusion) durch die Funktionssysteme, er kann also aus Sicht der funktionalen Differenzierung nicht Person werden, was aus der Perspektive wohlfahrtsstaatlich organisierter Politik womöglich als sinkende Abnahmebereitschaft für kollektiv bindendes Entscheiden beobachtbar wird – als Restprobleme des Wohlfahrtsstaates. In diesem Sinne rechnet Luhmann in der posthum herausgegebenen Politik der Gesellschaft mit Restproblemen der Exklusion, wenn er für die Zukunft eine Zunahme von Konflikten in Aussicht stellt, die sich nicht in der Leistungsdimension als „triviale Konflikte“, als „Interessenkonflikte“ durch den Wohlfahrtsstaat werden verrechnen lassen können, sondern die als „Konflikte ganz anderer Art“ „vorwiegend auf religiösem bzw. auf ethnischem Gebiet“105 liegen. Die „auf der dritten Seite“ (Lehmann) des Codes des politischen Systems auftauchenden, aber gesellschaftlich und systemtheoretisch unbestimmbaren Gemeinschaftsbildungen (Netzwerke, Clan- und Familienstrukturen, tribale Sozialformen u. ä.) können dazu tendieren, den Nationalstaat, dessen Gewaltmonopol und Rechtsstaatlichkeit herauszufordern und somit „nur noch in der Form von bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen lösbar“106 zu sein. Bürgerkrieg aber ist der einzige von Luhmann in Erwägung gezogene Fall, der ernsthaft geeignet ist, „für das weltpolitische System ein Problem“107 aufzuwerfen, weil er die Adressabilität des betroffenen Staates zerstört und somit den Inklusionsmechanismus des weltpolitischen Systems in Frage stellt.108 Bürgerkriege untergraben die Unterscheidung zwischen der Inklusion in die nationalstaatliche Organisation und der Inklusion dieser nationalstaatlichen Organisation in das internationale Staatensystem. Der Versuch, diese Tendenzen zu qualitativ andersartigen Konflikten politisch aufzugreifen und jenseits der Parteien des politischen Systems „eigenständige Politikziele zu entwickeln“109, würde 103
Lehmann, Restprobleme, S. 174. Stichweh, Inklusion/Exklusion, funktionale Differenzierung, S. 124, Anm. 2. 105 Luhmann, Politik, S. 218 f. 106 Luhmann, Politik, S. 218 f. 107 Luhmann, Politik, S. 226. 108 Vgl. Luhmann, Politik, S. 226. 109 Vgl. Luhmann, Politik, S. 219. 104
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aber die Rejektion des Zweitcodes Regierung/Opposition zugunsten der primären Differenz Regierung/Regierung verlangen. Als Restproblem stellt Exklusion auch ein Problem für die Systemtheorie dar. Wiederholt spekuliert Luhmann, „daß die Variable Inklusion/Exklusion in manchen Regionen des Erdballs drauf und dran ist, in die Rolle einer Meta-Differenz einzurücken und die Codes der Funktionssysteme zu mediatisieren“110, womit sie die „Leitdifferenz des nächsten Jahrhunderts sein könnte“111. Mit der Unterscheidung von Inklusion und Exklusion wird der Raum nicht nur im großen Maßstab (‚manche Regionen des Erdballs‘), sondern auch für die Individuen in neuer Form bedeutsam. Denn aus der Perspektive des systemtheoretischen Integrationsbegriffs112 führt das Geschehen im „Exklusionsbereich“113 zu einer „negativen Integration der Gesellschaft […]. Denn die faktische Ausschließung aus einem Funktionssystem – keine Arbeit, kein Geldeinkommen, kein Ausweis, keine stabilen Intimbeziehungen, kein Zugang zu Verträgen und zu gerichtlichem Rechtsschutz, keine Möglichkeit, politische Wahlkampagnen von Karnevalsveranstaltungen zu unterscheiden, Analphabetentum und medizinische wie auch ernährungsmäßige Unterversorgung – beschränkt das, was in anderen Systemen erreichbar ist und definiert mehr oder weniger große Teile der Bevölkerung, die häufig dann auch wohnmäßig separiert und damit unsichtbar gemacht werden.“114
Es lassen sich mit Luhmann zwei Formen der Verortung der Exklusion unterscheiden:115 zum einen kann man – seit den 1980er Jahren in exponentiell zunehmendem Maße – in wenig modernisierten Regionen der Weltgesellschaft die räumliche Konzentration von Armut bei weitgehend fehlender staatlicher Infrastruktur in Slums beobachten.116 Zum anderen ist an die Bildung innerstädtischer Ghettos in entwickelten Wohlfahrtsstaaten zu denken.117 Der Raum gewinnt an Gewicht, weil „funktionale Differenzierung ihren Exklusionsbereich nicht ordnen kann“, das heißt für das politische System, weil in den betreffenden „Gebieten Frieden (= Gewaltfreiheit) nicht mehr gesichert werden kann“118. Politik droht da110
Luhmann, Gesellschaft, S. 632. Vgl. Luhmann, Inklusion und Exklusion, S. 243. Luhmann, Jenseits von Barbarei, S. 147. 112 Allgemein versteht Luhmann „unter Integration die Einschränkung von Freiheitsgraden der Systeme“ bzw. genauer: „die Reduktion der Freiheitsgrade von Teilsystemen, die diese den Außengrenzen des Gesellschaftssystems und der damit abgegrenzten internen Umwelt dieses Systems verdanken“ (Luhmann, Gesellschaft, S. 314 und 603). 113 Luhmann, Gesellschaft, S. 632. 114 Luhmann, Gesellschaft, S. 630 f. Vgl. auch Häußermann/Kronauer, Räumliche Segregation. 115 Vgl. Luhmann, Inklusion und Exklusion, S. 243 f. Vgl. auch Nassehi, Inklusion, Exklusion – Integration, Desintegration, S. 122 ff. 116 Vgl. zur Soziologie der Slums z. B. Berner, Alltagsleben u. Davis, Planet. 117 Vgl. Luhmann, Inklusion und Exklusion, S. 243, Wacquant, Urban Outcasts, Häußermann/Kronauer, Räumliche Segregation. 118 Luhmann, Inklusion und Exklusion, S. 243. 111
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mit „zum ‚gesamtgesellschaftlichen Ausfallrisiko‘ zu werden“119. Zugleich damit sinkt die Durchsetzungsfähigkeit des Rechts. Darum fragt Luhmann, was es heißt, „wenn der Exklusionsbereich und dann auch die Polizei als Verbindungsorganisation zwischen Inklusion und Exklusion und schließlich auch die Politik selbst nicht mehr rechtsstaatlich gebunden wird, sondern ebenso gut und ebenso erfolgreich rechtmäßig wie rechtswidrig handeln kann“120. Diese Phänomene stellen allgemeine begriffliche Prämissen der Systemtheorie insofern in Frage, als hier „die Differenzierung von Inklusion und Exklusion ein räumliches Substrat erfordert, also auch räumliche Grenzen, an denen man die Bewegung von Körpern kontrollieren kann“121. Dies widerspricht der Konstitution sozialer Systeme, die unter normalen Bedingungen „keine raumgebundene Existenz“122 haben. Im Gegensatz zu sozialen Systemen unter Normalbedingungen geht Luhmann mit Blick auf Exklusion von der Möglichkeit der Reduktion der kommunikativen Adresse bzw. der Person auf den Körper der Exkludierten aus: „Man findet eine in der Selbst- und Fremdwahrnehmung aufs Körperliche reduzierte Existenz, die den nächsten Tag zu erreichen sucht.“123 Wie Sven Opitz zeigt, hat die Rede von der bloßen Körperlichkeit systemtheoretisch aber gar keinen begrifflichen Sinn.124 Zwar bleiben die Funktionssysteme und ihre symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien dank der Vermittlung durch symbiotische Mechanismen auf die menschlichen Körper bezogen, indem die Körperlichkeit durch Symbole Eingang in die Funktionssysteme findet, etwa in der Symbolisierung der Fähigkeit zu überlegener körperlicher Gewalt im Bereich der Politik, zur Bedürfnisbefriedigung in der Wirtschaft oder der Wahrnehmung in der Wissenschaft.125 Exklusion aber bedeutet gerade, daß mit einem solchen symbolisch geordneten Einbezug des Körpers in die sozialen Systeme nicht mehr gerechnet werden kann. Der bloße Körper nun bleibt jedoch aus Sicht der Systemtheorie bzw. für die Kommunikation in operativer Hinsicht126
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Halfmann, Nationalstaat als Lösung und Problem, S. 282. Luhmann, Inklusion und Exklusion, S. 243. Vgl. für eine polemische Zuspitzung dieser Fragerichtung Wacquant, Vermählung, sowie z. B. zum Zusammenhang von Exklusion und ‚Sicherheit‘ die Sammelbände Groenemeyer, Wege der Sicherheitsgesellschaft und Dollinger/Schmidt-Semisch, Gerechte Ausgrenzung. Zur damit verbundenen verwaltungstheoretischen Problematik siehe unten Kap. I.2. 121 Luhmann, Inklusion und Exklusion, S. 243. 122 Luhmann, Soziale Systeme, S. 200. Vgl. Opitz, Grenze des Rechts, S. 129 ff. 123 Luhmann, Jenseits von Barbarei, S. 147. 124 Vgl. Opitz, Materialität der Exklusion. 125 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 337 ff. u. Luhmann, Symbiotische Mechanismen. 126 Den Bezug auf die operative Bestimmtheit der Kommunikation wird deswegen betont, weil die symbiotischen Mechanismen eigentlich in der Differenzierungs- bzw. Gesellschaftstheorie angesiedelt sind. Dementsprechend bieten Luhmanns Untersuchungen zur „allgemeinen Theorie sozialer Systeme […] keine Gesellschaftstheorie“ (Luhmann, Soziale Systeme, S. 18, vgl. ebd., S. 127, 222, 261, 345). Das von Opitz aufgezeigte Problem bewegt sich mithin im Bereich zwischen Kommunikations- und Gesellschaftstheorie. 120
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„sozial abwesend, in seiner materiellen Dichte ebenso a-sozial wie ein Stein oder eine Pflanze“127. Alois Hahn macht nun darauf aufmerksam, daß das Dilemma der Systemtheorie, angesichts von Exklusionsphänomenen in eine begrifflich nicht mehr gedeckte Rhetorik der Körperlichkeit abzugleiten, eine Folge von Luhmanns strikter, gleichsam neo-cartesianischer Unterscheidung von Sinnsystemen, das heißt psychischen und sozialen Systemen auf der einen Seite, und nicht-sinnverwendenden technischen, chemischen und lebenden Systemen auf der anderen Seite ist.128 Doch offensichtlich meint Luhmann in seinen Augenzeugenberichten über Exklusion weder nur den Körper der Ausgeschlossenen noch nur die Abwesenheit der kommunikativen Adresse. Er versucht etwas – das Elend im Wortsinn – zu thematisieren, was aufgrund bestimmter grundbegrifflicher Dispositionen nicht mehr thematisiert werden kann und infolgedessen abwesend bleiben muß, was sich aber zugleich aufdrängt und nicht abweisen läßt, denn: „Wer seinen Augen traut, kann es sehen, und zwar in einer Eindrücklichkeit, an der die verfügbaren Erklärungen scheitern.“129 Nach Hahn begegnet in dieser Anwesenheit, die die Form der Abwesenheit hat130, ein „Wiedergänger des Menschen“131, der letztlich auf die anthropologische Handlungslehre Arnold Gehlens verweist. Dieser Bezug des Exklusionsproblems auf die anthropologische Handlungslehre Gehlens wird begreiflich, wenn man sieht, daß dessen Handlungsbegriff Luhmanns quasi-cartesianischen Dualismus von Sinn und Nicht-Sinn unterläuft. Gehlen verfügt – dies zu erreichen war einer der Anlässe für seine Theorieanstrengungen – über einen trans-klassischen Begriff des Körpers,132 der nicht in der Unterscheidung zur Psyche oder zum Bewußtsein steht, sondern, quer dazu, über die existenzielle Notwendigkeit zu handeln bestimmt ist. Zwar kann der Körper vom Bewußtsein reflektiert werden – aber nicht im Moment des Handelns. Gehlen spricht zwar vom „Menschen“ und dessen „Organismus“, er meint damit aber im Kern eine existenzielle Unbestimmtheit, welche sich als Notwendigkeit zu handeln vorfindet. Im Handeln sind Körper, Seele und Sozialität miteinander verschränkt.133 Wenn aber die Handlung, als Grenze sowohl von Gesellschaft und Körper als auch von Körper und Psyche, quer zur Unterscheidung von System und Umwelt steht, dann befindet sich die Handlung in der Umwelt des sozialen Systems und ist doch reflexiv auf es bezogen. Mit anderen Worten: Hahn zeigt, daß die Exklusionslage 127
Opitz, Materialität der Exklusion, S. 237. Hahn, Der Mensch, S. 287, mit Verweis auf Luhmann, Soziale Systeme, S. 67 f. Vgl. auch Kastl, Transzendenz der Autopoiesis, S. 407. 129 Luhmann, Jenseits von Barbarei, S. 147. 130 Vgl. Opitz, Materialität der Exklusion. 131 Hahn, Der Mensch, S. 289. 132 Gotthard Günther betont mit Blick auf Der Mensch, „dass man mit den heute zur Verfügung stehenden philosophischen Mitteln die von Gehlen erarbeiteten Resultate nicht erreichen kann“ (Günther, Amerikanische Apokalypse, Mappe 245D, S. 135). 133 Vgl. dazu ausführlich unten Kap. VI. 128 Vgl.
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den Einzelnen auf seine existenziell-operative Bestimmung als Handelnden zurückwirft, die als Problem unabhängig von sozialen Systemen beschreibbar ist, aber unter dem Gesichtspunkt der Exklusion doch in irgendeiner Weise auf diese bezogen sein muß,134 denn sonst wüßte man nichts von Exklusion. Nun hat Luhmann zwar einige zentrale Begriffe Gehlens rezipiert, aber deren handlungstheoretische Grundlage von Anfang an verlassen.135 Die begriffliche Unbestimmtheit der Exklusion als Restproblem ist mithin, so können wir Alois Hahn paraphrasieren, der Preis, den Luhmann für die „Recartesianisierung“136 seiner Theorie bezahlt. Diese Überlegungen legen die Vermutung nahe, daß das wissenschaftliche Problembewußtsein, das soeben am Restproblem der Exklusion angedeutet wurde, möglicherweise für Gehlen (und andere Autoren der Leipziger Schule) bereits seit den 20er Jahren wissenschaftlich leitend war, in der Systemtheorie hingegen erst seit den 90er Jahren wieder geweckt wurde. 2. Risiko Luhmann bestimmt den Risikobegriff ausgehend von der Unterscheidung von Risiko und Gefahr.137 Vom einzelnen Handelnden her gesehen, ist Risiko die bewußte Inkaufnahme eines möglichen zukünftigen Schadens durch die eigene Entscheidung um der Erlangung von Handlungsresultaten willen, die andernfalls unerreichbar blieben, während bei Gefahren der mögliche Schaden seine Ursache in den äußeren Umständen hat; Gefahren ist man also ausgesetzt, wozu nicht nur Erdbeben oder ähnliche Naturereignisse, sondern auch das Betroffensein von riskanten Entscheidungen anderer gehört. Die Spezifik der systemtheoretischen Perspektive besteht darin, von der unmittelbaren Handlungsebene Abstand zu nehmen, und die Unterscheidung von Risiko und Gefahr als einen Zurechnungsmodus sozialer Systeme zu betrachten.138 Die Möglichkeit eines künftigen Schadens, der sowohl Risiken als auch Gefahren kennzeichnet, wird also als Risiko als Entscheidung dem System, im Falle von Gefahren der Umwelt zugerechnet.139 Weil in der Umwelt von Systemen immer auch andere Systeme vorkommen, können die ris134 Vgl. Werner/Höntsch, Exklusion und Orientierung, zu dem Vorschlag, Exklusion als strategisch einsetzbaren Reflexionswert auf die Kontingenz der Inklusion in die Funktionssysteme zu interpretieren. Exklusion steht dann, etwa aus der Perspektive eines Wirtschaftsunternehmens, für die Reflexion auf das Risiko der eigenen Ersetzbarkeit durch Konkurrenten. Die Bezugnahme zwischen Exklusion und Inklusion erfolgt durch reflexive Inklusionsstrategien wie etwa Forschung und Entwicklung oder Kooperationen mit anderen Unternehmen, welche Inklusion wahrscheinlicher machen sollen. 135 Vgl. Rehberg, Institutionen als symbolische Ordnungen, S. 52 ff., Göbel, Institution, Wöhrle, Metamorphosen, S. 299 ff. 136 Wöhrle, Metamorphosen, S. 318 mit Bezug auf Hahn, Der Mensch, S. 287 f. Vgl. auch Kastl, Transzendenz der Autopoiesis, S. 407. 137 Vgl. Luhmann, Risiko und Gefahr und Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 30 ff. 138 Vgl. Luhmann, Risiko und Gefahr, S. 131 u. S. 140. 139 Vgl. Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 30.
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kanten Entscheidungen der einen die Gefahren der anderen sein. Es ist also unter modernen Bedingungen zusätzlich zwischen riskant Entscheidenden und den von solchen Entscheidungen Betroffenen zu unterscheiden.140 Damit ist die Unterscheidung von Risiko und Gefahr grundsätzlich auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung anzusiedeln. Wer systemtheoretische Risikosoziologie betreiben will, muß Beobachter beobachten. Mit seinem Konzept weist Luhmann die Unterscheidung von Sicherheit und Risiko als soziologisch ungeeignet zurück.141 Der Begriff der Sicherheit „als allgemein geschätzte[r] Wert“ gehöre vielmehr in den Bereich der „politischen Rhetorik“142. Genauer gesagt handelt es sich bei Sicherheit als Wertbegriff nach Franz-Xaver Kaufmann143 um die institutionelle Leitidee des westlichen Wohlfahrtsstaates.144 In Luhmanns allgemeiner Theorie sozialer Systeme wird der Begriff der Sicherheit zudem als Nebenprodukt der Strukturbildung sozialer Systeme reformuliert.145 In diesem Sinn bleibt auch im „Schema Risiko und Gefahr […] das Interesse an Sicherheit (oder Risikoaversion, oder Gefahrvermeidung) vorausgesetzt, aber es wird nicht ‚markiert‘, weil es sich von selbst versteht“146. Das Interesse an Sicherheit kann im Rahmen sozialer Systeme unmarkiert bleiben, weil das Problem von (Erwartungs-)Sicherheit und (Erwartungs-)Unsicherheit seine basale Bestimmung in der Situation doppelter Kontingenz erfährt; sobald doppelte Kontingenz vorausgesetzt werden kann, ist jede Unsicherheit systemeigene Unsicherheit. Eine durchaus unbestimmte, völlig offene Zukunft kann es unter den Bedingungen sozialer Systeme nicht geben. Im folgenden interessiert der Zusammenhang der beiden Unterscheidungen Risiko/Gefahr und Risiko/Sicherheit. a) Sicherheit, Risiko und Gefahr im Wohlfahrtsstaat Das „Begriffspaar ‚Security‘ – ‚Insecurity‘“ hatte „als zeitdiagnostische Kategorie“ in der „Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg […] seinen Höhepunkt“147. Die Unterscheidung von Sicherheit und Unsicherheit zielt konkret auf den Grad der Vermeidbarkeit von Unsicherheiten bzw. Schäden. Die Unterscheidung von Sicherheit und Risiko (Unsicherheit) dient so im Rahmen des rationalistischen Handlungsverständnisses auf der Grundlage von Beobachtungen erster Ordnung der wahrscheinlichkeitstheoretischen Kalkulation von Risiken.148 140 Vgl. Luhmann, Risiko und Gefahr, S. 143, Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 111 ff. 141 Vgl.
Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 28 ff. Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 28. 143 Vgl. Kaufmann, Leitbild beherrschbarer Komplexität. 144 Vgl. oben Kap. I.1. 145 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 418. 146 Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 33. 147 Kaufmann, Leitbild beherrschbarer Komplexität, S. 73. 148 Vgl. Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 22 f. 142
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Entsprechend der Höhe des Produkts aus Schadenseintrittswahrscheinlichkeit und der voraussichtlichen Schadenshöhe kann man sich entweder zu riskantem Handeln entschließen oder dieses unterlassen. Obwohl also das Risiko als Problem thematisch wird, ist nach Luhmann ein expliziter Risikobegriff hier noch nicht erforderlich.149 Allerdings ist nach Luhmann die unterstellte Sicherheit im Falle des Unterlassens der riskanten Handlung trügerisch, denn sobald eine solche Risikokalkulation angestellt wird, wird auch das Unterlassen zu einer kontingenten und damit riskanten Möglichkeit.150 Deswegen ist im Rahmen des utilitaristischen Handlungsverständnisses das Risiko als Entscheidung, zur Erringung eines möglichen Vorteils durch eigenes Handeln einen möglichen Schaden in Kauf zu nehmen, kein Kostenfaktor neben anderen, sondern bezieht sich auf die Einheit der Handlung als solcher.151 Schon im Bereich rationalen Handelns, also im Bereich der Beobachtung erster Ordnung, hat das Phänomen des Risikos deshalb die Tendenz, sich zu universalisieren und Sicherheit faktisch zu verunmöglichen.152 Diese Universalisierung faßt Luhmann als Ausdruck eines veränderten Zukunftsbezuges der modernen Gesellschaft auf. Damit wechselt er zugleich von der rationalistisch-handlungstheoretischen Ebene der Beobachtung erster Ordnung auf die soziologische Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung. Die universale Unsicherheit resultiert letztlich aus der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft und den mit ihr einhergehenden Beobachtungsverhältnissen. Gesellschaftstheoretisch wird die Unmöglichkeit der Sicherheit von Luhmann mit der binären Codierung der Funktionssysteme in Zusammenhang gebracht. Funktionale Differenzierung als horizontales Nebeneinander mehrerer gesellschaftsweiter Funktionssysteme bringt zeitlich gesehen zweierlei mit sich: sie bedeutet zum einen das gleichzeitige Operieren mehrerer Systeme, die jeweils gesellschaftsweit, aber exklusiv bestimmte Funktionen bedienen.153 Damit wird nach Luhmann eine Tatsache bestimmend, die mit der „ebenso trivialen wie aufregenden These“ formuliert werden kann, „daß alles, was geschieht, gleichzeitig geschieht. Gleichzeitigkeit ist eine aller Zeitlichkeit vorgegebene Elemenartatsache“154. Dies führt, zum anderen, zur „Auflösung aller vorfindbaren Zeitsemantiken“155. Die im Mittelalter geltende Unterscheidung von Zeit und Ewigkeit wird in der gesellschaftlichen Selbstbeob149 Vgl.
Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 22. Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 29. 151 Vgl. Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 19. 152 Vgl. Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 29. 153 Etwa: Stabilisierung normativer Erwartungen im Recht, die Sicherung der Durchsetzungsfähigkeit kollektiv bindender Entscheidungen in der Politik, die Produktion neuen Wissens in der Wissenschaft. 154 Luhmann, Gleichzeitigkeit und Synchronisation, S. 94. Vgl. dazu Nassehi, Zeit der Gesellschaft. 155 Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 42. 150 Vgl.
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achtung von der Unterscheidung Vergangenheit/Zukunft verdrängt, Gott oder Götter entfallen als mögliche „Rahmensicherheiten“156: „Gegenwart ist jetzt nicht mehr die Anwesenheit der Ewigkeit in der Zeit; und auch nicht mehr nur die Situation, in der man sich seelenheilwirksam für oder gegen Sünde entscheiden kann. Sondern Gegenwart ist nichts anderes als die Differenz von Vergangenheit und Zukunft.“157
Im selben Zug wird die Gegenwart als Differenz von Vergangenheit und Zukunft problematisch; von nun an hängt es von je gegenwärtigen Entscheidungen ab, „wie Vergangenheit in Zukunft überführt werden kann“158. Weil dieser Übergang nicht mehr religiös vorab gesichert werden kann, führt die Steigerung des Entscheidungsbedarfs überhaupt dann auch zu einer Zunahme riskanten Entscheidens, sodaß unter dem Strich „[b]inäre Codierung […] unter all diesen Gesichtspunkten als eine immense Steigerung der Riskanz von Systemoperationen begriffen werden [kann]“159. Die Expansion riskanten Entscheidens stellt sich so als Korrelat der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft dar. Der Begriff des Risikos steht dafür, daß der in Entscheidungen je gegenwärtig vollzogene Übergang von Vergangenheit in Zukunft gerade nicht irgendwie, als blinde Dezision, sondern strukturiert geschieht.160 Das Risiko des Entscheidens steht für eine imaginative „Differenzprojektion“161, die sowohl ein vergangenheitsbezogenes Gedächtnis als auch eine auf die Zukunft bezogene Projektion möglicher Chancen und Schäden erfordert. Beobachtungstheoretisch reformuliert heißt das, daß die je gegenwärtige Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Zukunft nur mittels der Imagination ihrer Abfolge entfaltet werden kann.162 Dies sind nur andere Formulierungen für jene Verkopplung zweier Kontingenzen – der Kontingenz der Zukunft und der Kontingenz dieser kontingenten Zukunft qua Entscheidungsabhängigkeit der Zukunft –, die auch das Risikoproblem kennzeichnen. Diese phantasiegeleitete Strukturierung eines zeitlichen Übergangs, die Überbrückung des Hiatus von Vergangenheit und Zukunft, bezeichnet Luhmann mit Kant als Schema. Risiko ist eine Weise der Zeitbestimmung.163 156
Luhmann, Soziale Systeme, S. 132. Luhmann, Gesellschaft, S. 1004. 158 Luhmann, Einführung in die Theorie der Gesellschaft, S. 309. 159 Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 89. 160 Vgl. Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 51. 161 Luhmann, Organisation und Entscheidung, S. 140. 162 Vgl. Luhmann, Organisation und Entscheidung, S. 128. 163 „Einerseits kann es zu einem künftigen Schaden kommen – oder auch nicht. Von der Gegenwart aus gesehen ist die Zukunft unsicher, während jetzt schon feststeht, daß die künftigen Gegenwarten in erwünschter oder unerwünschter Hinsicht bestimmt sein werden. […] Andererseits, und zusätzlich, hängt das, was künftig geschehen kann, auch noch von der gegenwärtig zu treffenden Entscheidung ab. Denn von Risiko spricht man nur, wenn eine Entscheidung ausgemacht werden kann, ohne die es nicht zu dem Schaden kommen könnte. […] Für den Begriff, wie wir ihn hier vorschlagen, ist nur ausschlaggebend, daß der 157
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Für den innerhalb des Rahmens von Sicherheit/Risiko (= Sicherheit/Unsicherheit) operierenden utilitaristischen Beobachter erster Ordnung ist dieses Kontingenzschema die Unterscheidung von wahrscheinlich/unwahrscheinlich.164 In semantischer Hinsicht sind es nach Luhmann liberale Ordnungsformen, nämlich die bürgerlichen Institutionen des Eigentums und des Rechts, welche unter den Ideen der Freiheit und Gleichheit ein „verdecktes Programm für die Umstellung der Gesellschaft auf Risiken“165 bereitgestellt haben. Unter den strukturellen Voraussetzungen des Eigentums und des Rechts konnten bestimmte Zukunftserwartungen fixiert werden, die riskantes Handeln ermöglichten, zunächst ohne das Problem des Risikos als solches thematisieren zu müssen. Während es das Recht bzw. normatives Erwarten ermöglicht, Zeit dadurch zu binden, daß Erwartungen gegen ihr Enttäuschtwerden stabilisiert werden, indem der Enttäuschungsfall sanktioniert und an der Norm festgehalten wird,166 erfolgt die Zeitbindung durch Eigentum dadurch, daß Ego die für ihn aufgrund des Zugriffs Alters auf ein Gut entstehende Knappheit deswegen akzeptiert, weil die Form des Eigentums die zukünftige Übertragbarkeit des Guts im Medium des Geldes sicherstellt.167 Luhmann behauptet nun, daß der in der Form des Risikos hergestellte Zukunftsbezug „weder in Normierungen noch in Verteilungsordnungen untergebracht werden“168 könne. Solange man in Übereinstimmung mit dem Recht und unter Achtung des Eigentums anderer handelte, konnte allerdings in deren Schatten erfolgreich unterstellt werden, daß es „einen großen Bereich von Handlungsmöglichkeiten gebe, in dem man sich selber nützen könne, ohne irgendeinem anderen zu schaden“169. Die Zeitbindungsform des Risikos unterläuft die zentralen Einrichtungen des liberalen Rechtsstaats,170 sodaß die Folgeprobleme des riskanten Handelns durch die bürgerlichen Formen der Zeitbindung nicht bearbeitet werden können.171 In Luhmanns semantischer Skizze des scheiternden liberalen Rechtsstaates fehlt die Dimension des Sozialstaates. Der klassische Sozialstaat schuf auf der Grundlage des Rechtsstaates in Form der Sozialversicherung eine politisch bestimmte Verknüpfung von Recht, Eigentum und Risiko. Die gesetzliche Sozialversicherung kontingente Schaden selbst kontingent, also vermeidbar, verursacht wird. […] Der Begriff bezieht sich, mit anderen Worten, auf ein hochstufiges Kontingenzarrangement. In Anlehnung an den kantischen Begriff mit seinem Zeitbezug könnte man auch von Kontingenzschema sprechen.“ (Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 25). 164 Vgl. Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 57, 80 ff., 121, 207. 165 Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 80. 166 Vgl. Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 61 ff. 167 Vgl. Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 70 ff. 168 Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 79. 169 Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 74. 170 Vgl. Luhmann, Risiko und Gefahr, S. 153 u. Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 74 ff. u 158. 171 Vgl. Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 80.
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zeichnet sich typisch durch den Tripartismus von Arbeitgebern (Eigentum), Arbeitnehmern (Risiko) und rechtsstaatlich gebundener Verwaltung aus. Das Unwahrscheinliche an dieser Verknüpfung ist die Inbezugsetzung individuell-rationaler Entscheidungen mit ihren Effekten auf der Ebene eines politischen Kollektivs. Das Prinzip der Privatversicherung und das Denken in Wahrscheinlichkeiten, das die individuelle Übernahme wirtschaftlicher Risiken trug,172 wurde in der Form der gesetzlichen Sozialversicherung öffentlich-rechtlich anerkannt.173 Die Schaffung politisch etablierter Versicherungskollektive befördert zwar einerseits die Übernahme individueller Risiken; sie bildet aber gleichwohl eine gewisse Einschränkung der Risikoübernahme, weil individuelle Risiken den Bezugspunkt der Kalkulation bilden. In diesem Sinne ist die epochale Bedeutung von „Bismarcks […] Sozialgesetzgebung […] die politische Anerkennung des Individuums als alleinigen Trägers seiner existentiellen Risiken“174. Im Gedanken der Sozialversicherung und damit in den Wahrscheinlichkeitskalkülen der Versicherungsmathematik „[konvergieren] die Risikowahrnehmungen in der Gesellschaft“175 als „Arbeitsgesellschaft“176. Diese Phase der Gesellschaftsentwicklung kommt in Luhmanns Beschreibungen erstaunlicherweise nirgends vor. Es ist daher zu fragen, ob die von ihm behauptete verdeckte politische Förderung der Ausbreitung von Risiken tatsächlich dem Rechtsstaat – sei es als klassischer liberaler Staat oder als Sozialstaat des späten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zugehört. Schaut man genauer hin, kann man im Hinblick auf die Frage nach dem Modus der Verarbeitung von Risiken nicht nur den liberalen Rechtsstaat vom klassischen Sozialstaat, der in der Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik auf der Grundlage des Rechtsstaates operiert, unterscheiden, sondern zudem diesen Sozialstaat vom Wohlfahrtsstaat, welcher die bürgerlichen Grundrechte der sozialen Teilhabe unterordnet. Dies gilt sowohl für den auf der Beseitigung der bürgerlichen Grundrechte beruhenden nationalsozialistischen Staat der Daseinsvorsorge wie für das Konzept des westlichen Wohlfahrtsstaates als „demokratisch-sozialistischen Staat“, in dessen Rahmen „individuelle Rechte nationalen Plänen unterworfen werden müssen“177. Es spricht einiges dafür, daß erst die „erstaunliche Kompetenzerweiterung des Wohlfahrtsstaates […] auf eine riesige und unkontrollierbare Maschinerie der Steigerung von Risiken hinaus[läuft]“178. Luhmann macht diese Feststellung jedoch nicht zum Ausgangspunkt einer soziologischen Analyse. Es soll im folgenden versucht werden, dies in Umrissen nachzuholen. 172
So auch Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 80 f. Krohn/Krücken, Risiko als Konstruktion, S. 16 ff., Bonß, Vom Risiko, S. 191 ff. 174 Krohn/Krücken, Risiko als Konstruktion, S. 19. 175 Krohn/Krücken, Risiko als Konstruktion, S. 21, vgl. auch Lessenich, Dynamischer Immobilismus, S. 149. 176 Bonß, Vom Risiko, S. 214. 177 Marshall, Staatsbürgerrechte, S. 75. 178 Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 155. 173 Vgl.
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Luhmann gibt eigentlich nur zwei grundlegende politische Strukturmuster an. Der Staat der frühen Neuzeit fußt auf einer zweistelligen, hierarchischen „Differenz von Obrigkeit und Untertan“, welche die politische Kommunikation nach dem „Formtypus Befehl/Gehorsam“179 strukturiert. Die zweistellige Hierarchie hat ihren Rückhalt in der nach oben und unten stratifizierten Gesellschaftsstruktur, welche sie politisch wiederholt und verstärkt. Im Zuge der Durchsetzung funktionaler Differenzierung als primärer Gesellschaftsstruktur hingegen kommt es zu einem „Übergang von zweistelliger zu dreistelliger Differenzierung“180 des politischen Systems, das sich in der Folge hierarchisch nicht mehr zureichend begreifen läßt, sondern vielmehr als Kreislauf beschrieben werden muß. Die drei involvierten Stellen bzw. Typen von Adressaten des politischen Systems sind dann die „Politik“ im engeren Sinn, also vor allem die politischen Parteien und das Parlament, die Verwaltung und das Publikum. Diese lassen sich in zwei verschiedenen Richtungen in die Form eines rückgekoppelten Kreislaufs bringen, sodaß innerhalb des politischen Systems zwei Machtkreisläufe, ein legitimer bzw. „offizielle[r]“ und ein intransparenter bzw. „informaler […] Gegenkreislauf“181 unterschieden werden können. Im offiziellen Kreislauf bestimmt, kurz gesagt, das Publikum die Politik, indem es die Parteien und das Parlament wählt, welches Gesetze beschließt, die von der Verwaltung in Richtung Publikum durchgesetzt werden. Ebenso grob verkürzt läßt sich sagen, daß im Gegenkreislauf das Publikum in Gestalt von Interessenorganisationen, Lobbygruppen und sozialen Bewegungen Einfluß auf die Verwaltung nimmt, die daraufhin Gesetzesvorlagen für die Politik anfertigt, diese parlamentarischen Ausschüssen lanciert und so zur Gesetzgebung beiträgt, sodaß schließlich die Politik aufgrund der beschlossenen Gesetze mit Hilfe der Parteien und der Massenmedien „dem Publikum [suggeriert], was es wählen soll und warum“182. Der offizielle Machtkreislauf ist auch unter dem Titel des Rechts- und Verfassungsstaates bekannt, er „beruht auf rechtlich geregelter Kompetenz und kann sich daher im Konfliktfalle durchsetzen“183. Luhmann will zeigen, daß der Gegenkreislauf keineswegs illegitim sei, sondern ein notwendiges strukturelles Korrelat der Ausdifferenzierung des politischen Systems der funktional differenzierten Gesellschaft.184 Seine These ist, „daß die Induktion dieses Gegenkreislaufes mit den Bemühungen in Richtung auf Wohlfahrtsstaat zusammenhängt“185. In der Form des 179 Luhmann, Gesellschaftliche Struktur, S. 42 u. 43. Vgl. zu Luhmanns unzureichendem Verständnis dieser Relation Tyrell, Gewalt, S. 71 ff. 180 Luhmann, Gesellschaftliche Struktur, S. 42 f. 181 Luhmann, Gesellschaftliche Struktur, S. 47 u. 48. 182 Luhmann, Gesellschaftliche Struktur, S. 46. 183 Luhmann, Gesellschaftliche Struktur, S. 47. 184 Vgl. Luhmann, Wohlfahrtsstaat zwischen Evolution und Rationalität, S. 111. 185 Luhmann, Gesellschaftliche Struktur, S. 47. Meines Erachtens geht diese These nicht auf Luhmann, sondern auf Forsthoff zurück (siehe Forsthoff, Verfassungsprobleme des Sozialstaats, S. 154 ff.).
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wohlfahrtsstaatlichen Gegenkreislaufes reagiert das politische System auf die gewachsene gesellschaftliche Komplexität, indem es sich seine Themen zunehmend vom Rest der Gesellschaft vorgeben läßt. Geschichtlich gesehen erhält man von Luhmann die Auskunft, daß sich seit dem „Ende des 19. Jahrhunderts“186 das politische System in seiner Zuständigkeit strukturell für gesellschaftliche Probleme zu universalisieren beginne, was semantisch gesehen „in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Namen ‚Wohlfahrtsstaat‘“187 erhalte. Darüber hinaus erfährt man, daß die beiden Machtkreisläufe nicht von vornherein parallel operieren, sondern sich zueinander auch in einem sachlichen wie in einem zeitlichen Abhängigkeitsverhältnis befinden. Der Rechts- und Verfassungsstaat ist geschichtlich früher und „im wesentlichen durch politische Theorie induziert und entsprechend planmäßig realisiert worden“188. Er bildet die Bedingung der Möglichkeit des Wohlfahrtsstaates. Erst in der Form des Wohlfahrtsstaates, aber auf der „Grundlage (nicht: unter Überwindung!) des Verfassungsstaates […] geht das politische System von theoretisch fundierter Planung in Evolution über“189. Der Rechts- und Verfassungsstaat kann solange nicht zugunsten des Wohlfahrtsstaates überwunden werden, wie er sein Gewaltmonopol nicht preisgibt.190 Solange ist aber auch die von Luhmann proklamierte Überwindung der Hierarchie zugunsten des Kreislaufmodells nicht triftig. Mit anderen Worten, die Möglichkeit von theoretisch fundierter Planung im Bereich der Politik wird zwar unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung schwieriger, sie geht aber solange nicht verloren, wie der Sozialstaat primär Rechts- und Verfassungsstaat bleibt. In den von Luhmann unzureichend beschriebenen Verlauf der „Entwicklung des liberalen Verfassungsstaates zum heutigen Wohlfahrtsstaat“191 interveniert die Semantik von Staat und Gesellschaft, die ebenfalls ein Ergebnis der Reflexion ist. Mit ihrer Hilfe läßt sich der bei Luhmann ausgesparte Begriff des Sozialstaats genauer eingrenzen. Anhand der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft wird nach Luhmann erstmals der Übergang von der stratifizierten zur funktional differenzierten Gesellschaft beschrieben, prägnant beispielsweise bei Hegel.192 Darüber hinaus bildet sie die Planungsgrundlage für den Sozialstaat.193 Der Sozialstaat leistet seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die Umverteilung ganz bestimmter gesellschaftlicher Risiken, indem er im Bereich der Arbeit die Unterscheidung von Staat 186
Luhmann, Politik, S. 214. Luhmann, Politik, S. 215. Vgl. ebd., S. 364 f. u. 422 ff. 188 Luhmann, Wohlfahrtsstaat zwischen Evolution und Rationalität, S. 112. 189 Luhmann, Wohlfahrtsstaat zwischen Evolution und Rationalität, S. 112. 190 Vgl. von Trotha, Wandel des Gewaltmonopols. 191 Luhmann, Politik, S. 422 f. 192 Vgl. Luhmann, Staat und Gesellschaft, S. 70. 193 Vorgezeichnet etwa bei dem Staats- und Verwaltungsrechtslehrer Lorenz von Stein, der bereits weit vor der tatsächlichen Entstehung des Sozialstaats dessen gültige Theorie aufgestellt hat, die nachweislich, vermittelt über Schmoller, zu seiner politischen Realisierung beigetragen hat (vgl. Kaufmann, Leitbild beherrschbarer Komplexität). 187
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und Gesellschaft aufhebt. Die Gesellschaft wird in spezifischer Weise politisch überformt, wobei das prekäre Einheitsmoment der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft politisch ist.194 Das heißt, der Staat definiert sich nicht schlechthin darüber, Sozialstaat zu sein. „Sicherheit“ heißt in diesem Zusammenhang nicht soziale Sicherheit vor Risiken, sondern nach wie vor „Sicherheit vor Eingriffen rivalisierender Nationalstaaten“ unter dem „Primat der Außenpolitik“195 zur Erhaltung des politischen Kollektivs als solchem. Innerhalb dieses politisch geschützten Kollektivs und in begrenztem Ausmaß wird unter den Bedingungen rechtsstaatlich garantierter wirtschaftlicher Freiheit die Umverteilung gesellschaftlicher Risiken möglich. Unter den zur selben Zeit einsetzenden Bedingungen beschleunigter Industrialisierung tritt zur Sozialversicherung in zunehmendem Maße die staatliche Bereitstellung von Infrastrukturen (Wasser, Abwasser, Elektrizität, Verkehr) hinzu, die als Einrichtungen der „Daseinsvorsorge“196 die Sozialpolitik vervollständigen. Im Zuge dessen wandelt sich der Begriff der Verwaltung. Denn die Verwaltung ist rechtlich und staatstheoretisch gesehen der Ort, an dem sich das Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern verwirklicht und an dem das Problem der Risikoentscheidungen eine politische Form gewinnt.197 Der Wandel erfolgt von der klassischen Form der Gefahrenabwehr (mit dem Kern der Polizeiverwaltung) zum Paradigma der Prävention bzw. Vorsorge. Seiner kategorialen Radikalität wegen ist dieser Wandel des Verwaltungsrechts als dessen „Subjektivierung“ auch als „kopernikanische Wende im Verwaltungsrechtssystem“198 bezeichnet worden. Es handelt sich hierbei weniger um einen Wandel als um einen Bruch, denn „[z]wischen dem Staat, der, auf Erfahrungsgehalte gestützt, erkennbare Gefahren abwehrt, und dem, der im Bereich des Ungewissen Risiken vorbeugend mindert, besteht nicht nur ein gradueller Unterschied“199. Udo Di Fabio situiert den Beginn der Subjektivierung des Verwaltungsrechts vor 1945, insbesondere Forsthoffs Konzepte der Daseinsvorsorge und der Verwaltung als Leistungsträger fügen sich bereits dieser Tendenz ein.200 Anhand des Begriffs der Daseinsvorsorge lassen sich die hier interessierenden Differenzen hinsichtlich des Risikoproblems klären.201 Zur Strafverfolgung und Gefahrenabwehr ist die klassische Verwaltung durch polizeiliche Generalklauseln in zunächst unbestimmter Weise (als unbestimmter 194
Bei Lorenz von Stein steht hierfür der paradoxe Begriff des „sozialen Königtums“. Baier, Herrschaft im Sozialstaat, S. 134. 196 Forsthoff, Verwaltung als Leistungsträger, S. 1 ff., Forsthoff, Verfassungsprobleme des Sozialstaats. 197 Vgl. Hiller, Zeitkonflikt, Di Fabio, Risikoentscheidungen. 198 Zit. nach Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 16. 199 Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 3. 200 Vgl. Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 19, Anm. 33. 201 Siehe für eine soziologische Aktualisierung von Forsthoffs Begriffs der Daseinsvorsorge Vogel, Staatsbedürftigkeit. Vgl. auch Balke, Gouvernementalization. 195
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Rechtsbegriff 202) zu Eingriffen ermächtigt.203 Deren extreme Ausprägung stellt der absolutistische Polizeistaat dar, in dem zu den Kompetenzen der Polizei nicht nur die Gefahrenabwehr, sondern die positive Gestaltung der Sozialordnung (‚Wohlfahrt‘) gehörten.204 Die bürgerlichen Rechte dienen ihrer Idee nach grundsätzlich der Begrenzung der Eingriffsmöglichkeiten des Staates. Das im Zusammenhang mit dem liberalen Grundrechtsanspruch entwickelte Verwaltungsrecht bildet den normativen Rahmen, durch den der unbestimmte Ermessensspielraum des polizeilichen Eingriffs rechtsstaatlich eingegrenzt wird.205 Grundsätzlich können Eingriffe nur auf Grundlage eines Gesetzes erfolgen. Der Gesetzesvorbehalt folgt aber weder „ausschließlich einer höheren – aus allgemeinen Rechtsprinzipien oder Verfassungsebene entspringenden“ Logik noch „ausschließlich einer inneren Ordnungslogik“206, sondern einem erfahrungsbasierten System von „Verantwortungszurechnungen (Störerdogmatik)“ und dem Grundsatz der „Verhältnismäßigkeit“ des Eingriffs zwischen Gemeinwohl und Individualrecht.207 Dieses klassische Konzept des Verwaltungsrechts galt unter der Bedingung des Vorrangs des politischen Souveräns, das heißt die Eingriffsmöglichkeiten des politischen Souveräns in die Gesellschaft waren im Ernstfall durch Grundrechte nicht eingeschränkt. Das Problem der staatlichen Daseinsvorsorge radikalisiert die bereits im Sozialstaat in begrenztem Ausmaß gegebene Aufhebung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft. In der Folge greift die klassische Unterscheidung zwischen Eingriffsverwaltung (mit dem Kern der Polizei) und deren rechtsstaatlicher Begrenzung durch verfassungsrechtlichen Schutz eines mittels bürgerlicher Grundrechte vor dem Zugriff der Verwaltung ausgesparten Bereichs individueller Freiheit nicht mehr, denn „[n]eben die ‚Eingriffsverwaltung‘ alten Stils ist die leistende Verwaltung der modernen Daseinsvorsorge getreten“208. Der Einzelne kann nicht mehr nur – wie unter den bürgerlichen Bedingungen der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft – als einer begriffen werden, der vor dem Zugriff des Staates zu schützen sei, um ungestört seinen wirtschaftlichen Aktivitäten nachzugehen, sondern der Einzelne ist zunehmend an „Teilhabe“209 an den staatlichen Leistungen der Daseinsvorsorge interessiert bzw. auf diese angewiesen. Dies gilt, so schon 202 Vgl.
Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 33 f. nöthigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung sowie zur Abwendung der dem Publico oder dessen einzelnen Mitgliedern bevorstehenden Gefahren zu treffen, ist das Amt der Polizey“, bestimmt das Allgemeine Landrecht Preußens (vgl. Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 27 ff.). 204 Die prinzipielle, moderne Einschränkung der Polizei auf Gefahrenabwehr erfolgte erst im Jahre 1882. 205 Vgl. auch Hiller, Zeitkonflikt, S. 74 f., 112 ff. 206 Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 12. 207 Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 15. 208 Forsthoff, Begriff und Wesen, S. 172. 209 Forsthoff, Verwaltung als Leistungsträger, S. 15 ff. Vgl. auch Forsthoff, Verfassungsprobleme des Sozialstaats. 203 „Die
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Forsthoff, nicht nur für die Industriearbeiterschaft mit Blick auf die Sozialversicherungen, sondern hinsichtlich der Bereitstellung von Infrastrukturen auch für das bürgerliche Individuum, das auf diese Weise seine Selbständigkeit und Unabhängigkeit und damit seine klassische begriffliche Bestimmung verliert. Der Bereich der Daseinsvorsorge liegt jenseits der individuellen Freiheit, weil es um die „Vorsorge dafür, daß überhaupt gelebt werden kann“210, geht. In diesem Bereich vollzieht sich der Wandel vom begrenzten, noch unter der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft etablierten und diese nur teilweise aufhebenden Sozialstaat zum Wohlfahrtsstaat bereits in der Zwischenkriegszeit. Unter dem Begriff der Teilhabe formuliert Forsthoff das Prinzip der Inklusion, welches jenseits der klassischen Rechtsstaatlichkeit operiert: „Im modernen Staate behauptet sich der Mensch nicht durch eine ihm garantierte individuelle Freiheit, sondern durch die Teilhabe. Da die Ausdehnung der hoheitlichen Sphäre eine Behauptung außerhalb derselben nicht mehr zuläßt, wird die Behauptungsfrage zur Teilhabefrage, zur Frage nach der Behauptung innerhalb der reichgegliederten hoheitlichen Sphäre in der Form der Teilhabe.“211
Die liberale Variante des Staates der Daseinsvorsorge, der westliche Wohlfahrtsstaat, der die Umstellung auf soziale Teilhaberechte nicht als Ablösung212, sondern als Ergänzung der bürgerlichen und politischen Rechte auffaßt, wird ein Jahrzehnt später unter dem Druck des Zweiten Weltkrieges213 von Thomas Marshall sozio210
Forsthoff, Verwaltung als Leistungsträger, S. 8. Forsthoff, Verwaltung als Leistungsträger, S. 45. 212 Für Forsthoff hingegen war „klar, daß eine rechtlich gesicherte Teilhabe an der Daseinsvorsorge, funktionell betrachtet, eine Art von Ersatz für jene überholten Sicherungen bietet, welche die Grundrechte in sich beschlossen. Unter diesem Gesichtspunkt dürfte sich ein Anschluß der Daseinsvorsorge an die Dogmatik des Verwaltungsrechts finden lassen. Natürlich beileibe nicht so, daß das Recht auf Daseinsvorsorge sozusagen als ein Grundrecht an die Stelle der früheren Grundrechte soll.“ (Forsthoff, Verwaltung als Leistungsträger, S. 46). 213 Im Zweiten Weltkrieg hat „die englische Regierung und bis zu einem bestimmten Punkt die amerikanische Regierung“ ihre „Forderung nach Krieg […] kontinuierlich und sehr früh […] mit dem Angebot eines Sozial- und Sicherheitspaktes unterfüttert“ (Foucault, Geburt der Biopolitik, S. 301 f.). Foucault spricht in diesem Zusammenhang vom Wohlfahrtsstaat als Resultat von „Kriegspakten“ zwischen den kriegführenden Staaten und seinen Bevölkerungen. Den „Beveridge-Plan und alle die Projekte eines wirtschaftlichen und sozialen Interventionismus, die während des Krieges ausgearbeitet wurden […] [könnte] man Kriegspakte nennen […], Abkommen, bei deren Abschluß die Regierungen – im wesentlichen die englische Regierung und bis zu einem bestimmten Punkt die amerikanische Regierung – den Menschen […] sagten: Jetzt verlangen wir von euch, daß ihr euch töten laßt, aber wir versprechen, daß, wenn das vorbei ist, ihr eure Stellen bis ans Ende eurer Tage behalten werdet. […] [M]ir scheint, natürlich unter dem Vorbehalt des Irrtums, daß ganze Nationen zum ersten Mal auf der Grundlage eines Systems von Pakten Krieg geführt haben, die nicht bloß internationale Bündnispakte zwischen den Mächten waren, sondern [eine Art] sozialer Pakte, bei deren Abschluß sie – denjenigen also, von denen sie verlangten, den Krieg zu führen und sich töten zu lassen – einen bestimmten Typ von wirtschaftlicher 211
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logisch als Endpunkt einer allgemeinen Entwicklungstendenz formuliert.214 Zum einen kommt es schon bei Forsthoff mit der „Umstellung der Staatstätigkeit von der Zustandswahrung auf die Zukunftsplanung“ im Horizont der Daseinsvorsorge zur „Einführung der Kategorie des Risikos ins Verwaltungsrecht“215, was systematisch erst seit den 1980er Jahren wieder neue Brisanz gewinnt.216 Zum anderen steht bei Forsthoff der Staat der Daseinsvorsorge unter starken politischen Vorzeichen. Dessen Problem besteht zwar hinsichtlich der wirtschaftlichen Interessenlagen zunächst – wie schon bei Lorenz von Stein – darin, daß seine politische „Hoheit auch Hoheit bleibt“217; darüber hinaus ist jedoch die Daseinsvorsorge deswegen genuin politisch bestimmt, weil sie nicht nur auf die Existenzprobleme der einzelnen Individuen verweist, sondern zugleich und möglicherweise primär auch Ausdruck einer gewandelten weltpolitischen Lage ist, in der angesichts der Möglichkeit totaler Kriege die politische Existenz ganzer Völker prekär geworden war.218 Mit Blick auf das Konzept von Ernst Forsthoff aus den 30er Jahren läßt sich daher wohl tatsächlich die „These eines Herrschaftswandels vom Nationalstaat zum Sozialstaat“219 als Staat der Daseinsvorsorge vertreten. Andererseits bestand das langfristige Ziel der Umstellung von Rechts- und Sozialstaatlichkeit auf Daseinsvorsorge letztendlich im „Rückzug des Staates“ aus ihr mit dem Ziel ihrer „Übertragung“ an die konkreten sozialen „Kreise von Vorsorgebedürftigen“220, das heißt an die Kommunen und Gemeinden. Der Unterschied zur Nachkriegszeit liegt darin, daß nach 1945 von einer Entpolitisierung des Staates auszugehen ist, weil der „Staat […] zur Funktion der Gesellschaft“221 geworden ist. Dazu ist zu bedenken, daß sowohl die Wirtschaftsordnung (Währungsreform und Freigabe der Preise 1948) als auch der westdeutsche Staat „von außen, in einer bestimmten weltpolitischen Mächtekonstellation, und sozialer Organisation versprachen, bei dem Sicherheit (Sicherheit des Arbeitsplatzes, Sicherheit bei Krankheiten und verschiedenen Wagnissen, Sicherheit bezüglich der Rente) gewährleistet wäre. Sicherheitspakte im selben Augenblick, in dem die Forderung nach Krieg erhoben wurde. Die Forderung nach Krieg wurde seitens der Regierungen kontinuierlich und sehr früh – ab 1940 in England, es gibt Texte zu diesem Thema – von dem Angebot eines Sozial- und Sicherheitspaktes unterfüttert“ (ebd., S. 301 f.). 214 Vgl. Marshall, Staatsbürgerrechte. Vgl. oben Kap. I.1.a). 215 Meinel, Jurist, S. 166. 216 Vgl. dazu Di Fabio, Risikoentscheidungen. 217 Forsthoff, Verwaltung als Leistungsträger, S. 12. 218 Weil unter den Bedingungen der Weltkriege als totaler Kriege „die Daseinsvorsorge, der Kampf ganzer Völker (nicht um imperialistische Ziele, sondern) um die Lebensbehauptung des Volkes selbst sowohl wie jedes einzelnen Volksgenossen als solche zu dem eigentlichen Politikum geworden ist, während jedenfalls die außenpolitischen Kämpfe der früheren Jahrhunderte im wesentlichen auf der Basis einer gesicherten Existenzgrundlage ausgetragen wurden“ (Forsthoff, Verwaltung als Leistungsträger, S. 12). 219 Baier, Herrschaft im Sozialstaat, S. 136 (Hervorh. getilgt). 220 Forsthoff, Verwaltung als Leistungsträger, S. 49. 221 Forsthoff, Bundesrepublik, S. 4.
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durchgesetzt worden“222 sind. Eine ganz ähnliche Sicht der Dinge vertritt Michel Foucault,223 der die These eines Primats der Wirtschaft über den Staat dahingehend zuspitzt, daß sich in Westdeutschland die „Legitimität des Staats auf die garantierte Ausübung einer wirtschaftlichen Freiheit“224 gründet. Solange die Individuen die gewährte wirtschaftliche Freiheit ausüben, so Foucaults Gedanke, kommt dem Staat, der solches garantiert, außenpolitische Berechenbarkeit und damit Legitimität zu: „Die Wirtschaft erzeugt Legitimität für den Staat, der ihr Garant ist. Mit anderen Worten – und das ist ein äußerst interessantes Phänomen, das in der Geschichte zwar nicht völlig einzigartig ist, aber doch sehr erstaunlich, zumindest in unserer Zeit – die Wirtschaft schafft das öffentliche Recht.“225
Luhmann hat deshalb Unrecht, wenn er allein die „Überforderung des Staates […], die daraus resultiert, daß er die Unterscheidung [von Staat und Gesellschaft, AH] sich selbst als Gesetz gegeben hat“, dafür verantwortlich macht, daß die „kritische Diskussion der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft erst in unserem Jahrhundert, ja eigentlich erst nach 1945 in Gang gekommen“226 sei. Neben dem in Luhmanns Ausführungen ausgesparten Problem der Daseinsvorsorge, welche ja bereits explizit jenseits der klassischen Unterscheidung von Staat und Gesellschaft operiert, bilden die soeben angedeuteten konkreten geschichtlichen Bedingungen den Plausibilitätshintergrund für die Umstellung der Leitsemantik von der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft auf die Unterscheidung von System und Umwelt (bzw. auf den Begriff der funktional differenzierten Gesellschaft). Auch Luhmanns systemtheoretische Reformulierung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Unterscheidung von politischem System der Gesellschaft und Wirtschaftssystem der Gesellschaft nimmt diesen weltpolitischen Plausibilitätshintergrund in Anspruch.227 In dieser aus europäischer Sicht scheinbar entpolitisierten, global gesehen jedoch intensiv politischen Lage wird die bereits oben dargestellte universalisierte Semantik der sozialen Sicherheit zum neuen politischen und institutionellen Leitbild, das sich sowohl von der politischen Sicherheit vor Bürgerkrieg und äußeren Feinden als auch von der Vorstellung bürgerlicher Sicherheit als Rechtssicherheit unterscheidet:228 „Aus dem Anspruch auf Sicherheit vor Gewalt ist der wohlfahrts222 Conze, Staats- und Nationalpolitik, S. 438, zit. nach Albrecht, Bundesrepublik, S. 84. In dieser Hinsicht muß von „einer spiegelbildlichen Entwicklung in Ostdeutschland“ (Baier, Herrschaft im Sozialstaat, S. 135), d. h. in der DDR und in der Bundesrepublik, ausgegangen werden. 223 Vgl. Foucault, Geburt der Biopolitik, S. 112 ff., bes. S. 118 ff. Zum Vergleich Forsthoff-Foucault siehe Balke, Gouvernementalization. 224 Foucault, Geburt der Biopolitik, S. 123. 225 Foucault, Geburt der Biopolitik, S. 124. 226 Luhmann, Staat und Gesellschaft, S. 74. 227 Siehe dazu ausführlicher unten Kap. VIII. 228 Vgl. oben Kap. I.1.
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staatliche Anspruch geworden, Sicherheit vor allen nur denkbaren Lebensrisiken zu gewährleisten, die früher einmal Schicksalsschläge geheißen haben.“229 Unter den Vorzeichen dieser Universalisierung der Sicherheitssemantik findet in der Folge eine Abkehr vom klassischen Konzept der Gefahrenabwehr und eine Hinwendung zum Präventionsprinzip statt. Die Staatsidee seit Hobbes blieb auch unter der bereits erwähnten liberalen Trennung der beiden Momente des objektiven, staatlich gewährten Schutzes und der subjektiven, bürgerlichen Freiheiten in ihrem Begründungszusammenhang unverändert: Schutz ermöglicht Freiheit.230 Das heißt, auch unter den Bedingungen des liberalen Rechtsstaats war der subjektiven Freiheit ein Vorrang des Staates und insofern eine Gehorsamspflicht eingeschrieben.231 Die Subjektivierung dieses Zusammenhangs bedeutet nun, daß das Thema Sicherheit und Freiheit „insgesamt subjektiviert“232 wird, indem das Verhältnis von Verwaltung und Individuum zur Rechtsgleichheit tendiert.233 Diese Rechtsgleichheit widerspricht der klassischen Begründung der Möglichkeit subjektiver Freiheit durch objektiven Schutz. Mit der grundrechtszentrierten Rechtsprechung geht tendenziell eine Ersetzung der Eigenständigkeit des Verwaltungsrechts durch das Verfassungsrecht einher, und zwar dadurch, daß einerseits die Neuentwicklung verwaltungsrechtlicher Grundsätze aus den Grundrechten heraus erfolgt, andererseits aber bestehende Grundsätze auf Verfassungsebene gehoben werden.234 Es besteht daher die Möglichkeit einer „Unterspülung“235 des Verwaltungsrechts durch die grundrechtliche Subjektivierung.236 In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß zeitgleich mit der Schwächung der objektiven Grundlagen des Rechts „die staatliche Förderung und Steuerung von Technik“ begann, nämlich als „ein relativ junges Feld staatlichen Handelns, das erst in den 1930/40er Jahren entstand“ und seitdem zunehmend „die Wissenschaft […] im Großmaßstab für politische Zwecke mobilisiert, wobei die planmäßige Erzeugung einer technischen Innovation im Mittelpunkt stand“237. Aus diesem Grund muß dem Phänomen des Wohlfahrtsstaates in der Risikosoziologie stärker Rechnung getragen werden. Die wirtschaftliche Nutzung der Kernenergie etwa ist eine politische Entscheidung gewesen, die den Bezugspunkt des Risikos 229 von Trotha, Wandel des Gewaltmonopols, S. 219. Vgl. zur Unterscheidung der Unterscheidungen von Schutz/Gehorsam und Sicherheit/Risiko in begriffsgeschichtlicher Hinsicht auch Conze, Sicherheit, S. 831. 230 Vgl. Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 36 f. 231 Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 14. 232 Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 39 (Hervorh. hinzugefügt). 233 Vgl. Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 17. 234 Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 19 f. 235 Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 23. 236 Vgl. Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 20. 237 Weyer, Techniksoziologie, S. 267.
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vom Individuum weg auf das Kollektiv als Ganzes verschoben hat. Eine solche Intensivierung des Risikos war vorher nur im Kriegsfall denkbar.238 Nicht zuletzt diese Entwicklung, die ebenfalls im Namen von Sicherheits- und Wohlfahrtsversprechen erfolgte, ist als Hintergrund für den von Krohn und Krücken diagnostizierten qualitativen Wandel der Risiken hin zu evolutionären Risiken – Katastrophen- und Entwicklungsrisiken239 als Restrisiken der Unterscheidung von Gefahr und Risiko – seit dem Zweiten Weltkrieg zu berücksichtigen. Denn erst aus der Verbindung des zunehmenden staatlichen Einflusses bei der Produktion qualitativ neuer Risiken mit der Zunahme subjektiver Rechte und damit individueller Sicherheitsansprüche wird als gemeinsame Grundlage die Schwächung des objektiven staatlichen Schutzes als Grundlage dieses paradoxen Trends sichtbar und verständlich.240 Di Fabio schlägt diese Entwicklung nicht wie Luhmann der ‚Ägide von Freiheit und Gleichheit‘ zu, sondern der Umdefinition des objektiven staatlichen Schutzzusammenhangs in eine sich an subjektive bzw. Menschenrechte hängende Sicherheitsvision, deren objektive Verwirklichung nach wie vor Utopie geblieben ist. Der Endpunkt dieser Entwicklung ist der von Forsthoff verworfene Gedanke, daß staatliche Sicherheit ein Grundrecht sei.241 Hier liegt zugleich die Bruchstelle der Entwicklung. Denn wenn staatlich gewährte Sicherheit als Grund- oder Menschenrecht verstanden wird, werden aus den ursprünglich als Abwehrrechte gegen das Eingreifen des Staates konzipierten Grundrechten Ansprüche auf den Eingriff des Staates. Dieser Schlußpunkt der Subjektivierung des Verwaltungsrechts und die daraus erwachsende „neue plakative Frage [ist] gleichwohl objektiv formuliert: Wie kann der Staat mit den Mitteln des Rechts Sicherheit in der ‚Risikogesellschaft‘ leisten?“242 Diese Frage ist die Frage nach der „Komplettierung“243 des Subjektivierungstrends. Die Befürworter eines „Grundrechts auf Sicherheit“244 versuchen, dieses als Rückbesinnung auf den objektiven Staatszweck des Schutzes auszulegen. Die Frage ist, ob der Versuch der „Überschreitung des Subjektivitätsparadigmas“245 zugunsten eines Grundrechts auf Sicherheit zur klassischen Objektivität des Staates zurückführt, oder ob diese „neue“ Form der Objektivität nicht vielmehr zu einer ungekannten Ausweitung polizeilicher Kompetenzen ohne politische Qualität und damit eigentlich zu einer Entstaatlichung führt. Der Versuch, die Entwicklung übersubjektiver Sicherheitsansprüche auf die klassische Pflicht des Staates zum Schutz seiner Bürger (Hobbes) zurückzuführen, verkennt, daß das 238 Sowohl Reaktorunfälle als auch Kriege sind daher bis heute nicht versicherbar. Vgl. dazu Werber, Genealogie des Nicht-Kriegs. 239 Zu den Begriffen des Katastrophen- und des Entwicklungsrisikos siehe unten Kap. I.2.b). 240 Vgl. Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 38. 241 Vgl. auch Opitz, Grenze des Rechts, S. 240. 242 Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 40. 243 Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 48. 244 Di Fabio und Kaufmann nennen als staatsrechtlichen Vordenker Josef Isensee. 245 Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 49, vgl. ebd., S. 95 f.
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liberale Grundrechtsverständnis zu keinem Zeitpunkt die Inpflichtnahme des Staates von der Gesellschaft her beabsichtigte, sondern dessen Zurückdrängung. Das neue Verständnis hingegen hat zur Folge, daß menschen- bzw. grundrechtlich legitimierte Sicherheitsbedürfnisse den Staat zum Eingriff zwingen bzw. eine Semantik zur Verfügung stellen, die solche Eingriffe bei Bedarf legitimieren. Die Vervollständigung des Trends der Subjektivierung des Rechts kann deshalb nicht dadurch erfolgen, daß er konzeptuell auf den Staatsbegriff des europäischen Absolutismus zurückgeführt, sondern indem er in den Rahmen eines institutionellen Leitbildwechsels eingehängt wird.246 Es ist die ab extra eingeführte universalistische Leitidee der Sicherheit, die während des gesamten Prozesses der Subjektivierung von Beginn an jene Quasi-Objektivität bot, die man am Abschluß des Subjektivierungsprozesses vergeblich sucht. Deshalb läßt sich die konstatierte Auflösung des Verwaltungsrechts in das Verfassungsrecht247 auch in umgekehrter Richtung interpretieren: als Verwaltungsförmigkeit der Verfassungsebene. Petra Hiller zufolge liegt dieses Verständnis Luhmanns frühen Schriften zur Verwaltungstheorie zugrunde, die „ein ‚expansives‘, funktionales Verständnis von Verwaltung“248 vertritt. In letzter Zeit wird vor diesem Hintergrund die Entstehung einer „präventiven Sicherheitsordnung“ beobachtet, welche das „wohlfahrtsstaatliche […] Sicherheitsversprechen“249 und mit diesem „den Vorsorgegrundsatz des Wohlfahrtsstaates […] im Binnen- wie im Außenverhältnis des Gewaltmonopols […] radikalisiert“250. Auf der Binnenseite finden sich, etwa im Bereich der Terrorismusbekämpfung, Anzeichen für die Militarisierung der Polizei, auf der Außenseite sind Ansätze zur Verpolizeilichung des Militärs beobachtbar, das nun auch Brunnen und Schulen baut.251 Beide Bereiche tendieren dazu, die Staatsaufgaben 246 Auch Trutz von Trotha stellt fest, daß man es beim überwachenden Präventionsstaat mit einer „postbürgerlichen Variante des ‚harten Staates‘“ (von Trotha, Die präventive Sicherheitsordnung, S. 29) zu tun hat. Sein Kernbereich liegt aber nicht, wie von Trotha glaubt, im „okzidentalen“ (ebd., S. 32), sondern im angloamerikanischen Raum (vgl. Schivelbusch, „Perfides Albion“). 247 Vgl. Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 19 f. 248 Vgl. Hiller, Zeitkonflikt, S. 58 u. Luhmann, Theorie der Verwaltungswissenschaft, S. 67 ff. Verwaltung fällt bei Luhmann zwar gerade nicht mit Politik ineins, sondern bleibt – durch die politische Wahl von Parteien und des Parlaments – von ihr differenziert. Doch der von Luhmann bemerkte Bruch mit früheren Auffassungen (vgl. ebd., S. 74) erscheint in dem bereits dargestellten Modell eines doppelten, in sich gegenläufig strukturierten Machtkreislaufs, dessen inoffizieller, von Interessenorganisationen und der Verwaltung dominierter Gegenkreislauf eben die Bedingungen des Wohlfahrtsstaates anzeigt, der nach dem Zweiten Weltkrieg expandiert und die Führung übernimmt. 249 von Trotha, Die präventive Sicherheitsordnung, S. 31. 250 von Trotha, Wandel des Gewaltmonopols, S. 221. Vgl. von Trotha, Die präventive Sicherheitsordnung, S. 31. 251 Vgl. von Trotha, Wandel des Gewaltmonopols, S. 224. Weitere Erscheinungen sind die Kriminalisierung des Krieges und die Politisierung der Kriminalität, etwa als Feindstrafrecht (vgl. von Trotha, Wandel des Gewaltmonopols, S. 227 ff.).
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an Märkte (sog. Sicherheitsmärkte) zu delegieren, was, zu Ende gedacht, „den Kern moderner Staatlichkeit, das Gewaltmonopol, und mit ihm die Grundfesten der wohlfahrtsstaatlichen Ordnung selbst berührt“252. b) Katastrophenrisiken und Gefahren zweiter Ordnung Mit dem Zweiten Weltkrieg endet die politische Konvergenz zwischen den individuellen Risikokalkülen und den kollektiven Interessen. Symptomatisch dafür ist, daß „die moderne Risikoproblematik der Nachkriegszeit sich dem Versicherungskonzept zu einem großen Teil entzieht“253. Es müssen deshalb individuelle und einem Wahrscheinlichkeitskalkül entspringende „Normalrisiken“254 von „evolutionären Risiken“255 unterschieden werden, welche „die Bedingungen [beeinflussen], die sie möglich machen“256. Entsprechend hält Wolfgang Bonß Gefahren erster Ordnung und „Gefahren zweiter Ordnung“257 auseinander. Evolutionäre Risiken betreffen, anders als Normalrisiken, nicht einzelne nutzenorientierte Individuen, die sich mittels Wahrscheinlichkeitsberechnungen zu einem Versicherungskollektiv zusammenfassen lassen, sondern das Kollektiv als ganzes. Deshalb versagt hier das Versicherungsprinzip.258 Evolutionäre Risiken sind vor allem mit dem Einsatz von Hochtechnologien verbunden.259 Sie können einerseits als „Katastrophenrisiko“260 aus dem Nicht-Funktionieren oder als „Entwicklungsrisiko“261 aus dem Funktionieren von Hochtechnologien resultieren.
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von Trotha, Wandel des Gewaltmonopols, S. 220. Krohn/Krücken, Risiko als Konstruktion, S. 21. 254 Giegel, Kontextneutralisierung, S. 104 f. 255 Krohn/Krücken, Risiko als Konstruktion, S. 22. 256 Krohn/Krücken, Risiko als Konstruktion, S. 22. 257 Bonß, Vom Risiko, S. 83 f. 258 Vgl. Bonß, Vom Risiko, S. 218 ff., vgl. auch Hapke/Japp, Prävention. 259 Siehe dazu unten Kap. I.3.c). 260 Giegel, Kontextneutralisierung, S. 104 f. 261 Hapke/Japp, Prävention, S. 11 f. u. 26 f. Entwicklungsrisiken beziehen sich auf die Möglichkeit von Schäden, die sich aus dem behördlich genehmigten und dem Stand der wissenschaftlichen und technischen Kenntnis entsprechenden störungsfreien Normalbetrieb industrieller Anlagen oder aus dem Einsatz neuer zugelassener Materialien, Lebensoder Arzneimittel ergeben können (vgl. ebd., S. 11 f. u. 26 ff.), etwa in Form der schleichenden Freisetzung von Giften. Entwicklungsrisiken können nicht versichert werden, weil sie sich (wie auch die Katastrophenrisiken) sowohl der Erkennbarkeit als auch – aufgrund der Möglichkeit eines „flächendeckenden Kumuls“ – der (versicherungsmathematischen) Kalkulierbarkeit entziehen (ebd., S. 27). Sie entziehen sich aber auch der rechtlichen Erkennbarkeit, das heißt Zurechenbarkeit auf ein vorsätzliches oder fahrlässiges Verschulden. Hierauf reagiert die Rechtsform der Gefährdungshaftung, welche von der bis dato rechtlich konstitutiven kausalen Schuldzurechnung absieht. 253
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Unter dem Eindruck von evolutionären Risiken wird „die Unterscheidung von Risiko und Gefahr zu einer existenziellen Bedrohung verdichtet“262. Dies bleibt bei Luhmann unberücksichtigt. Gefahren zweiter Ordnung machen sichtbar, daß „Sicherheit […] die unerlässliche Kontextur der Unterscheidung von Risiko und Gefahr“263 bildet, weil sie diese in Frage stellen. Zugleich wird deutlich, daß die Unterscheidung von Risiko und Gefahr im Sinne Luhmanns vollständig innerhalb des durch die institutionelle Leitidee der Sicherheit bestimmten Rahmens bleibt, sodaß die Gefährdung dieser Kontextur selbst, das heißt der Einheit der Unterscheidung von Risiko und Gefahr als Grundlage für die Zurechnungsleistungen sozialer Systeme, systemtheoretisch nicht in Betracht gezogen werden kann. Die sich seit den 90er Jahren und verstärkt nach 2001 herausbildende präventive Sicherheitsordnung stellt nur die Radikalisierung des wohlfahrtsstaatlichen Versprechens auf Sicherheit dar.264 Katastrophen- und Entwicklungsrisiken sind auch unter der Semantik der Restrisiken bekannt. Restrisiko ist ursprünglich ein juristischer Begriff, der auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 1978 zum geplanten Bau des Kernkraftwerkes in Kalkar zurückgeht. Der in der Urteilsbegründung verwendete Ausdruck des Restrisikos besagt, daß Schadenseintrittswahrscheinlichkeiten, die so gering sind, daß sie sich dem alltäglichen Erkenntnisvermögen entziehen, als unentrinnbar hingenommen werden müssen.265 Restrisiken entziehen sich einer kausalen Konkretisierung, und auch die wahrscheinlichkeitstheoretische Kalkulation stößt hier an ihre Grenzen, weil tendenziell unendlich kleine Eintrittswahrscheinlichkeiten und tendenziell unendlich große Schadensmöglichkeiten zusammentreffen. Auch wenn die theoretisch noch denkbare Möglichkeit des Schadenseintritts mit katastrophalen Auswirkungen verbunden ist, kann dies gemäß dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts „auch unter Berücksichtigung des Ranges des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit keine staatlichen Schutzpflichten auslösen. Sie sind unter dem Begriff Restrisiko zu verbuchen und begründen zugleich keinen gesetzgeberischen Gestaltungsauftrag“266.
Zugleich wird den Betreibern von Risikosystemen die Pflicht zur Prävention solcher unerkennbaren Schadensmöglichkeiten auferlegt. Systemtheoretisch erscheinen Restrisiken als Resultat einer Beobachtung erster Ordnung. Sie sind letzte Unsicherheiten, die beim Versuch, Risiken zu berechnen, als nur noch theoretische Möglichkeit übrigbleiben, weil sie nicht mehr in eine konkrete Gefährdungslage überführt werden können. Die Semantik des Restrisi262
Opitz, Grenze des Rechts, S. 249. Opitz, Grenze des Rechts, S. 249 (Hervorh. getilgt). 264 Vgl. Opitz, Widerstreitende Temporalitäten, Opitz, Grenze des Rechts, Opitz/Tellmann, Katastrophale Szenarien u. von Trotha, Die präventive Sicherheitsordnung. 265 Vgl. z. B. Bonß, Vom Risiko, S. 241. 266 Schröder, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen, S. 246. 263
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kos unterstellt die Unterscheidung von Risiko und Sicherheit als ein Verhältnis der Summenkonstanz, in dem jeder Sicherheitsgewinn eine Minimierung des Risikos bedeutet. Die empirisch unerreichbare vollständige Sicherheit erscheint als pauschal zu akzeptierendes Restrisiko. Nach Luhmann geht von der oben beschriebenen Subjektivierung des Rechts eine Gefahr für die Möglichkeit des Rechts aus. Denn die Gefährdungshaftung267 im Wohlfahrtsstaat, die in begrenztem Maße bereits für die Etablierung der Sozialversicherung bestimmend war, ist ein Fall der rechtlichen „Übernahme und Verarbeitung von Risiken […], die die Form der Normativität sprengen. Die Umstellung auf Folgenorientierung mit ihrem problematischen Zwang zur Vergegenwärtigung der Zukunft trifft mehr oder weniger das gesamte Recht“268.
Damit erst ist der Bereich thematisiert, in dem sich die bereits in den 90er Jahren beobachtete Tendenz hin „zum Risikorecht, das ‚eigentlich‘ kein Recht mehr ist“269, zu verorten ist. Im Bereich der Verdichtung der Unterscheidung von Risiko und Gefahr zu existenziellen Gefahren zweiter Ordnung wird der Wahrscheinlichkeitskalkül, der Risikoentscheidungen und Gefahrenabwehr verbindet, außer Kraft gesetzt. Gefahrenabwehr wird dann durch die Forderung nach Prävention ersetzt. Die Katastrophen- und Entwicklungsrisiken bewegen sich somit in einem Bereich des Unbestimmten bzw. Unbestimmbaren, in dem die klassische Gefahrenabwehr, die aufgrund von Erfahrungen mit Blick auf zukünftige Schäden Kausalverläufe immerhin im Rahmen von Wahrscheinlichkeiten extrapolieren und zurechnen kann, versagt. Den Konsequenzen ist von soziologischer Seite an den Beispielen des Rechts (a) und der Wissenschaft (b) nachgegangen worden. 267 Die (in Deutschland 1991 eingeführte) Form der Gefährdungshaftung ermöglicht, daß „der Geschädigte kein Verschulden des Schädigers nachweisen muß“ (Hapke/Japp, Prävention, S. 1), um Schadensersatz einklagen zu können. Damit dies praktikabel und nicht ruinös ist, müssen die Haftungsrisiken der Unternehmen auf Versicherungen übertragen werden (ebd., S. 2). Dies gelingt aber nicht bzw. nur sehr eingeschränkt für die besagten Entwicklungsrisiken: „Für das Normalbetriebs- und Entwicklungsrisiko ist also von einem zumindest partiellen Versagen des Versicherungsmechanismus auszugehen“ (ebd., S. 5). In der Form der Gefährdungshaftung „drückt sich das gewandelte Verständnis über die Aufgaben des Haftungsrechts in wohlfahrtsstaatlich verfaßten Industriegesellschaften aus“ (ebd., S. 22). Nun könnte man einwenden, daß die Gefährdungshaftung in rechtlicher Hinsicht einer der springenden Punkte bereits des Bismarckschen Sozialstaates ist (vgl. Tennstedt, Peitsche und Zuckerbrot). Nur muß man bedenken, daß im Sozialstaat das Versicherungsprinzip greift. Das Prinzip der Schuldzurechnung wird zwar aus statistischen Gründen – das heißt, aufgrund der unter Bedingungen industrieller Arbeit durchschnittlich zu erwartenden regelmäßig hohen Zahl von Arbeitsunfällen – zur Gewährleistung des laufenden Betriebs zugunsten des Versicherungsprinzips suspendiert und widerspricht insofern dem Schuldprinzip (vgl. Ewald, Vorsorgestaat u. Opitz, Widerstreitende Temporalitäten, S. 62); es wäre aber eine Übertreibung, anzunehmen, damit wäre das Recht auch in seiner Möglichkeit aufgehoben. Der Sozialstaat ist und blieb in erster Linie Rechtsstaat (vgl. Forsthoff, Verfassungsprobleme des Sozialstaats u. Forsthoff, Begriff und Wesen. 268 Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 69 (Hervorh. hinzugefügt). 269 Hapke/Japp, Prävention, S. 18.
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Ad (a): Die Funktion des Rechts besteht nach Luhmann in der „Einrichtung und Stabilisierung normativer Erwartungen“270. Das Recht bearbeitet ein zeitliches Bezugsproblem. Es gewährleistet die Erwartung, daß eine gegenwärtige Norm schon jetzt auch künftige Erwartungen normieren können wird.271 Selbstverständlich ist auch dem Recht die Zukunft unbekannt.272 Aber normatives Erwarten beruht auf einer Indifferenz gegenüber jenen Veränderungen, die auf Entscheidungen bzw. Handlungen zurückgehen. Unter normativem Gesichtspunkt steht immer schon gegenwärtig fest, ob eine Entscheidung recht oder unrecht gewesen sein wird.273 Das Recht beruht auf der Indifferenz gegenüber jeglichen Handlungsfolgen; diese haben keinen Einfluß darauf, was zum Zeitpunkt der Handlung Recht oder Unrecht ist. Das Recht stellt also für gesellschaftliche Entscheidungen eine Kontinuität zwischen Zukunft und Gegenwart und damit in gewisser Weise auch mit der Vergangenheit bereit. Rechtsentscheidungen vollziehen sich nach Luhmann ausschließlich durch Konditionalprogramme.274 Mit Blick auf die Programmebene des Rechts kann man sagen, im Recht dominiere der Vergangenheitsbezug: „Mit der Konditionalprogrammierung wird die Rechtsnorm in eine Wenn/Dann-Beziehung gebracht, die Bedingungen fixiert, welche den Entscheidungsprozeß auslösen sollen. Die Wenn-Komponente bezeichnet einen normierten Tatbestand, der auf der Dann-Seite eine ebenfalls normativ vorgegebene Rechtsfolge nach sich zieht. Entscheidungsgegenstand ist also nicht wie bei der Zweckprogrammierung ein künftiges Ereignis, das mit der Entscheidung herbeigeführt werden soll. Die Entscheidung bezieht sich vielmehr auf einen abgeschlossenen Sachverhalt, der vor der Systemtätigkeit liegt. Konditionalprogrammierte Systeme sind damit in ihrer eigenen Zukunft durch den Vergangenheitshorizont dominiert.“275
Luhmann führt den Zwang zur Konditionalprogrammierung am Beispiel „einer zunehmend von Unwissen [d. h. von kognitivem Erwarten, AH] getragenen ökologisch orientierten Gesetzgebung“ mit einem argumentum ad absurdum vor, das man beispielsweise auf den Zweck von Maßnahmen zur Renaturierung eines Braunkohletagebaus beziehen mag. Es liefe auf ein „juristisches Desaster hinaus, wenn alle Maßnahmen als rechtswidrig angesehen werden müßten, falls sich herausstellen sollte, daß ihr Zweck auf die vorgesehene Weise nicht erreicht werden kann oder Mittelaufwand bei neu hinzukommender Sachkenntnis als ungerechtfertigt erscheint. Die eine Seite des Problems, nämlich die Frage, was künftige
270
Luhmann, Recht, S. 136. Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 67. 272 „Der Zeitbezug des Rechts […] liegt in der Funktion von Normen, nämlich darin, daß man versucht, sich wenigstens auf der Ebene der Erwartungen auf eine noch unbekannte, genuin unsichere Zukunft einzustellen“ (Luhmann, Recht, S. 130). 273 Zur Relevanz des Futur II siehe z. B. Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 25 u. 80 sowie Luhmann, Recht, S. 197. 274 Luhmann, Recht, S. 195 ff. 275 Hiller, Zeitkonflikt, S. 64 f. Vgl. Opitz, Grenze des Rechts, S. 268 ff. 271 Vgl.
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Gegenwarten bringen werden, wird vielmehr ausgeblendet. Der Richter darf (und muß) diese Seite der Zukunft ignorieren.“276
Dies ändert sich, wenn die Logik des Rechts unter den Eindruck der Möglichkeit selbst hervorgerufener Katastrophen kommt. Ungeachtet der Zurückweisung von Verantwortungszurechnungen von Katastrophenrisiken durch den Begriff des Restrisikos werden solche Zurechnungen von Betroffenen gleichwohl vorgenommen und dringen durch eine grundrechtszentrierte Rechtsprechung in das Recht ein. Die Antizipation der Zukunft als Katastrophe bezieht sich auf Entscheidungen, die im Rückblick ihre Ausgangsbedingungen verändern, ob im positiven oder negativen Sinn: „Je nach dem, ob ein Schaden eingetreten oder ob es gut gegangen ist, wird man das Risiko nachträglich anders einschätzen. Man versteht nachträglich nicht mehr, wieso man in einer vergangenen Gegenwart derart vorsichtig oder derart riskant entschieden hatte.“277
Luhmann geht davon aus, daß es Entscheidungen gibt, für die nicht nur die Zukunft anders sein wird, als sie ohne diese Entscheidung gewesen wäre, sondern für die auch die gegenwärtige Entscheidungslage schon gegenwärtig anders gewesen sein wird.278 Die Entscheidung führt hier zu Handlungsfolgen, die unter Umständen, so Luhmann, die „Zukunft als das ganz Andere“ herbeiführen, etwa „in der Form durchgreifender Katastrophen, die alles ‚danach‘ ins Unerkennbare versetzen“279. Unerkennbar ist hierbei die Handlung nach rechtlichen Kriterien. Katastrophenträchtige Entscheidungen implizieren mithin einen Riß zwischen Gegenwart und Zukunft. In diesem Sinn sprengt das Risikoproblem den Erwartungsrahmen des Rechts.280 Luhmann scheint diese radikale Sichtweise einer rückwirkenden Veränderung der Ausgangsbedingungen und damit den Riß zwischen Vergangenheit und Zukunft auf alle riskanten Entscheidungen auszudehnen. Der hier vertretene Einwand dagegen ist, daß bei Entscheidungen mit überschaubarem Schaden eine Kombination von Recht und Risiko wohl möglich ist, wie die Tatsache des Sozialstaates belegt, der im Vergleich zur wohlfahrtsstaatlichen Risikogesellschaft eine Einschränkung der Risikoexpansion darstellt.281 276
Luhmann, Recht, S. 200. Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 51. 278 Diese Aussage gilt für die Einschätzung der Riskanz der Entscheidung, nicht aber für die Entscheidung als Entscheidung. Gleichviel, was die Zukunft bringt, wird die Entscheidung eine Entscheidung gewesen sein (vgl. dazu Freyer, Wirklichkeitswissenschaft). 279 Luhmann, Recht, S. 142 f., vgl. Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 80 sowie Japp, Soziologie der Katastrophe. 280 Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 69. 281 Möglicherweise gilt dies sogar noch für Ernst Forsthoffs Konzept der Daseinsvorsorge. Denn Forsthoffs von Luhmann kritisiertes (vgl. Luhmann, Theorie der Verwaltungswissenschaft, S. 22, Anm. 20) Anliegen bestand darin, ein neues Verständnis der Verwaltung „unter dem Rechtsbegriff der Daseinsvorsorge“ (ebd., S. 165, Hervorh. hinzugefügt) zu gewinnen. Forsthoff wollte gegenüber der hergebrachten, unter der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft stehenden Verwaltungslehre eine jenseits dieser Unterscheidung operie277
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Ad (b): Risiko sabotiert nicht nur die Form des normativen, sondern auch des kognitiven Erwartens. Dieser Aspekt des Risikos ist anhand des Begriffs des Nichtwissens genauer analysiert worden.282 Klaus Peter Japp unterscheidet zwei Arten des Nichtwissens: spezifisches und unspezifisches Nichtwissen. Nichtwissen steht damit in zwei unterschiedlichen Unterscheidungen. Spezifisches Nichtwissen ist zum einen von gesichertem wissenschaftlichen Wissen unterschieden283: vom Blickpunkt des verfügbaren wissenschaftlichen Wissens aus kann man Nichtwissen in Form von Forschungsproblemen und neuen Fragestellungen spezifizieren: eine Frage weiß schon, was sie (noch) nicht weiß. Dies ist das (wissenschafts-) spezifische Nichtwissen, welches von jedem neuen Wissen mitproduziert wird: „Nichtwissen ist hier temporärer Natur und als solches Antriebsmoment der Normalproduktion von wissenschaftlicher Erkenntnis.“284 Hier geht es um die Regulation des empirischen wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses: die Unterscheidung Wissen/spezifisches Nichtwissen steht dafür, daß mit jeder neuen Erkenntnis der Bereich des Nichtwissens seinerseits wächst und die Forschung empirisch an keinem Punkt zum Abschluß kommen kann. Unspezifisches Nichtwissen hingegen ist nicht in die kognitive „Form zu lösender Probleme zu bringen“285. Seine andere Seite ist nicht (wissenschaftliches) Wissen, sondern „Risiko […], was in der Gesellschaft als (mögliche Katastrophe) kommuniziert wird“286. Deshalb müssen empirische Erkenntnis und Risiko unterschieden werden. Das damit einhergehende unspezifische Nichtwissen birgt nun zwei Möglichkeiten der Spezifikation. Die erste Möglichkeit ist, daß das unspezifische Nichtwissen unter Zuhilfenahme von Wahrscheinlichkeitskalkulationen im Hinblick auf riskantes Entscheiden bestimmt wird.287 Japp weist damit auf einen rende Verwaltungsrechtswissenschaft etablieren (vgl. Meinel, Jurist, S. 127). Das rechtswissenschaftliche Problem Forsthoffs ergab sich aus der „Einführung der Kategorie des Risikos ins Verwaltungsrecht“ (ebd., S. 166). Die von Luhmann angestrebte Verwaltungswissenschaft als „allgemeine Theorie der Verwaltung“ (Luhmann, Theorie der Verwaltungswissenschaft, S. 36) will hingegen gerade keine Verwaltungsrechtswissenschaft sein. Die von Forsthoff beobachtete Technikabhängigkeit der Individuen bezieht sich auf Infrastrukturtechniken, die – einer Begriffsbildung Luhmanns zufolge – als weniger riskante „Großtechnologie“ von katastrophenträchtigen „Hochtechnologien“ (vgl. Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 93, Anm. 2) zu unterscheiden sind. Luhmann interessiert sich nur für letztere, weil erstere „für die Risikothematik weniger interessant“ (ebd., S. 94, Anm. 2) sei. Dieses Desinteresse überdeckt die Komplexität der Unterscheidung von Sozialstaat, Staat der Daseinsvorsorge und Wohlfahrtsstaat in ihrer Relevanz für das Risikoproblem. 282 Vgl. Japp, Beobachtung von Nichtwissen, Japp, Soziologie der Katastrophe. 283 Vgl. Japp, Beobachtung von Nichtwissen, S. 295 f. 284 Japp, Beobachtung von Nichtwissen, S. 296. Vgl. auch ebd., S. 300, Anm. 30. 285 Japp, Beobachtung von Nichtwissen, S. 297. 286 Japp, Beobachtung von Nichtwissen, S. 292. 287 Ob dies zur Kognitivierung von Risikoentscheidungen beiträgt oder ob die Wahrscheinlichkeitsrechnung in der Wissenschaft immer schon auf Positionen riskanten Entscheidens und Handelns verweist, ist eine unentscheidbare Frage. Jedenfalls zeigt das Phä-
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wichtigen Punkt hin, der für Normalrisiken mit begrenzten Schäden im Bereich zweckrationalen Handelns gilt.288 Das mit diesen einhergehende unspezifische Nichtwissen wird durch Wahrscheinlichkeitsrechnungen eingeschränkt. Die zweite Möglichkeit besteht darin, daß das Nichtwissen als Wissen unspezifiziert bleibt und es zur Antizipation einer Katastrophe kommt. Katastrophen als Möglichkeit entgrenzter Schäden sind nach Japp von Entscheidungen abzukoppeln.289 Sie sind in diesem Sinne kein durch Entscheidungen hervorgerufenes Risiko, sondern lediglich Signal „einer alles entgrenzenden Katastrophenwahrnehmung“290 durch Betroffene, die sich durch eine „komplette[] Negation etablierter Wissensansprüche“291 auszeichnet. Die Betroffenen insistieren auf die Vermeidung der Gefahrenquelle durch Rekurs auf vermeintlich „sicheres Vermeidungswissen“292. Durch diese Bestimmung versucht Japp den Katastrophenbegriff vom Risikobegriff abzutrennen: „Die Beobachtung […] der Katastrophe wird ex negativo konstituiert. Was dann auf dem Spiel steht, ist die weitere Anschlussfähigkeit der Kommunikation. Dieser Fall kann selbst nicht kognitiv stabilisiert werden, denn sonst würde man das unspezifische Nichtwissen ja kennen! Er muss durch die Zurückweisung aller partiellen Wissensansprüche signalisiert werden. Für Kommunikation ist Anschlusslosigkeit aber katastrophal.“293
Allerdings ist Anschlußlosigkeit nach Japp keine reale Möglichkeit, weil Anschlußfähigkeit gerade durch die kommunikative Antizipation einer Katastrophe wieder hergestellt wird: „Katastrophenkommunikation rekrutiert Anschlüsse für das zunächst anschlusslos erscheinende unspezifische Nichtwissen. Sie überspringt die irgendwie (man könnte fast sagen: wie auch immer) zu beschaffende Spezifizierbarkeit des Nichtwissens und platziert eine Ruptur. […] Die Produktivität der Katastrophenkommunikation liegt demzufolge nicht in der Alarmierung […], sondern in der Durchsetzung von Vermeidungsansprüchen, die Wissen über Risiken anfordern, für die ohne die Abwehr partieller Wissensansprüche keine gesellschaftlich relevante Aufmerksamkeit verfügbar wäre. […] [I]n der Katastrophenkommunikation [liegt] ein […] zentraler Zugang zu kognitiven nomen des Expertendissenses an, daß Uneinigkeit darüber bestehen kann, ob ein Problem überhaupt wissenschaftlicher Behandlung fähig ist oder ob der betreffende Gegenstand nicht vielmehr Thema nichtwissenschaftlicher Entscheidungen bleiben muß. 288 „Risiko verweist auf begrenzte Schäden, Katastrophen auf entgrenzte Schäden“ (Japp, Soziologie der Katastrophe, S. 81, Anm. 5). Es wird also „der Risikobegriff auf wahrscheinlichkeitspragmatisch bewertete Schadensereignisse mit nur relativer Signifikanz, im Unterschied zur absoluten der Katastrophe“ (ebd.), beschränkt. 289 „Im Hinblick auf ein soziologisches Verständnis von Katastrophen muß man den Begriff des Nichtwissens von der Risikoperspektive ablösen, ihn dazu weiter auflösen“ (Japp, Soziologie der Katastrophe, S. 81). 290 Japp, Beobachtung von Nichtwissen, S. 293. 291 Japp, Beobachtung von Nichtwissen, S. 293. 292 Japp, Beobachtung von Nichtwissen, S. 295. 293 Japp, Soziologie der Katastrophe, S. 84 u. 85.
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Konstruktionen, deren ‚normalpragmatische Anschlusslosigkeit sonst nur Indifferenz nahe gelegt hätte.“294
Japps Argument ist also, daß Katastrophenkommunikation Wissen über Risiken zu deren Vermeidung anfordert und auf diese Weise die Anschlußfähigkeit der Kommunikation sicherstellt. Um den Begriff des kognitiven Erwartens zu retten, wird das auf der Konstitutionsebene der Gesellschaft angesiedelte Problem der möglichen Anschlußlosigkeit der Kommunikation auf die Ebene der Semantik individueller Ansprüche gegenüber dem Wohlfahrtsstaat verlagert, dessen Regulierungskapazität dabei offensichtlich vorausgesetzt wird. Hält man hingegen Katastrophenrisiken auf kollektiver Ebene für eine reale Möglichkeit,295 stellen sie ein Restproblem der „Differenz von normativen und kognitiven Erwartungen“296 dar. Katastrophenrisiken sind mit Blick auf diese Unterscheidung in einem „eigentümliche[n] Zwischenbereich“297 angesiedelt, weil sie aufgrund der Merkmale der Plötzlichkeit, Einmaligkeit und Unkalkulierbarkeit298 ihres Eintretens „weder zu normativen Sanktionen noch zu lernender Anpassung des Erwartens Anlaß geben“299 können. Dem von Japp beiseitegelassenen Problem der Alarmierung bzw. des Warnens gilt die Aufmerksamkeit Lars Clausens. Die Katastrophenwarnung ist nach Clausen weder als Prognose noch als Wahrscheinlichkeitsrechnung angemessen zu erfassen. Wäre der Warner nichts als ein Prognostiker, „so dürfte er seine Bevölkerung (und damit auch den präsumtiven Gegner) gar nicht warnen wollen; sondern er müßte […] seine Prognose festhalten und, das Prognoszierte ungestört ablaufen zu lassen, sein Bestes tun. Da er aber kein Naturwissenschaftler, sondern im Dienst ist, wird er warnen.“300
Die Katastrophenwarnung ist kein kognitives, sondern ein volitives Problem, denn der Warner will „handelnd das Vorhergesagte, die Gefahr, nicht eintreten lassen“301. Die Reflexion des Warnamtsleiters auf eine mögliche Katastrophe ist eine Handlung, die andere Handelnde zum Handeln beeinflussen soll. Erst wenn man die Antizipation von Katastrophen nicht als kognitives, sondern als Handlungsproblem betrachtet, läßt sich ihre Spezifik untersuchen.302 294
Japp, Soziologie der Katastrophe, S. 85. Clausen, Reale Gefahren, S. 51. 296 Luhmann, Soziale Systeme, S. 442. 297 Luhmann, Soziale Systeme, S. 442. 298 Vgl. Luhmann, Beobachtungen der Moderne, S. 150 und Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 211. Nach Clausen, Reale Gefahren, S. 51 f. sind die Kennzeichen von Katastrophen 1. Radikalität und Entdifferenzierung, 2. Plötzlichkeit und Rapidität sowie 3. Fatalität und Ritualisierung. 299 Luhmann, Soziale Systeme, S. 442. 300 Clausen, Krasser sozialer Wandel, S. 171 f. 301 Clausen/Dombrowsky, Warnpraxis, S. 298 (erste Hervorh. hinzugefügt). 302 Siehe dazu ausführlicher unten Kap. III.3. 295 Vgl.
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Die Inkompatibilität katastrophenträchtiger Risiken mit Recht und Wissen hat unter Umständen zur Konsequenz, daß beide Erwartungshaltungen radikalisiert werden können.303 Die in diesem Kontext zu beobachtende Herausbildung einer „präventive[n] Sicherheitsordnung radikalisiert“ das „wohlfahrtsstaatliche Sicherheitsversprechen“304 und zieht die Linien, die in der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg zu beobachten sind, konsequent aus.305 Sven Opitz zeigt die Herausbildung eines „Gegen-Rechts“ auf, das sich in die oben angedeutete Tendenz zur Herausbildung einer präventiven Sicherheitsordnung einfügt.306 Gegen-Recht ist dieses Recht sowohl bezüglich der Typik des „liberalen Tatstrafrechts“ als auch des rechtsstaatlich eingebetteten „wohlfahrtsstaatlichfürsorgliche[n] […] Resozialisierungsstrafrechts“307. Das Gegen-Recht der präventiven Sicherheitsordnung stellt eine Radikalisierung des wohlfahrtsstaatlichen Resozialisierungsstrafrechts dar, das bereits die Zurechnung von Schuld auf freies Handeln durch wissenschaftliche Expertisen zu erodieren begonnen hat. Doch erst die gegenrechtliche präventive Sicherheitsordnung, die auf einer Verschärfung des wohlfahrtsstaatlichen Sicherheitsversprechens beruht, „bricht radikal“ mit der Idee „des klassischen liberalen Rechtsstaates“308. Das soziologische Kriterium zur Beobachtung eines Gegen-Rechts ist die „Inversion der Eigenzeit des Rechts“309. Die eigenzeitliche Inversion des Rechts ergibt sich aus dem Versuch, innerhalb des Paradigmas der Sicherheit Ereignisse, die im Rahmen des Sicherheitsdenkens als Ausnahmen (wie etwa Katastrophen und Terroranschläge) erscheinen müssen, dennoch rechtlich zu integrieren. Der Bruch mit dem Rechtsstaat, den bereits die Idee der sozialen Rechte im Sinne Marshalls impliziert310, wird durch die Entgrenzung der Staatsbürger- auf Menschenrechte zu vollziehen versucht. Anders als Bürgerrechte, die sich auf eine vorausgesetzte individuelle Freiheit beziehen, beruht die Form der Menschenrechte auf einer „Sakralisierung des Opfers“311, die nicht einen individuellen Anspruch auf Schutz vor dem Staat, sondern umgekehrt einen Anspruch (des „Opfers“) auf den „helfenden“ Eingriff des Staates begründet.312 303 Vgl. Luhmann, Risiko und Gefahr, S. 153 ff. Ähnlich schon Beck, Risikogesellschaft, S. 105. 304 von Trotha, Die präventive Sicherheitsordnung, S. 31 (Hervorh. hinzugefügt). 305 Ulrich Beck, Risikogesellschaft, S. 106, faßt die kognitiven und normativen Probleme zusammen in der „Tendenz zu einem ‚legitimen‘ Totalitarismus der Gefahrenabwehr, der mit dem Recht, das eine Schlimmste zu verhindern, in nur allzubekannter Manier das andere Noch-Schlimmere schafft. Die politischen ‚Nebenwirkungen‘ der zivilisatorischen ‚Nebenwirkungen‘ bedrohen das politisch-demokratische System in seinem Bestand.“ 306 Vgl. Opitz, Widerstreitende Temporalitäten, Opitz, Grenze des Rechts, S. 229 ff. 307 von Trotha, Die präventive Sicherheitsordnung, S. 29. 308 von Trotha, Die präventive Sicherheitsordnung, S. 35. Vgl. auch ebd., S. 31. 309 Opitz, Widerstreitende Temporalitäten, S. 78. 310 So explizit Marshall, Staatsbürgerrechte, S. 75. 311 von Trotha, Die präventive Sicherheitsordnung, S. 33. 312 Vgl. auch Meyer, Weltkultur.
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Der Staat wird im Namen der Sicherheit zum „Dienstleistungsunternehmen“313 der Prävention.314 Scheinbar wiederholen sich hiermit Problemstellungen, die das politische, juristische und soziologische Denken der 20er und 30er Jahre intensiv beschäftigten. Doch das Problem von Katastrophenrisiken im Wohlfahrtsstaat unterscheidet sich, wie Opitz zurecht betont, von Carl Schmitts Konzept der Ausnahme. Schmitt hatte den Ausnahmefall bekanntlich an die politische Souveränität gebunden und diese als Entscheidung „über den Ausnahmezustand“315 bestimmt. Schmitt meinte damit Entscheidungen, welche die „Gefährdung der Existenz des Staates“316 und damit der Instanz der Einheit und Durchsetzbarkeit des Rechts betreffen. Dieser extreme Fall der existenziellen Gefährdung einer konkreten politischen Ordnung als solcher durch Kriege oder Bürgerkriege ist der „Ausnahmefall“: „Er steht außerhalb der normal geltenden Rechtsordnung und gehört doch zu ihr, denn er ist zuständig für die Entscheidung, ob die Verfassung in toto suspendiert werden kann.“317 Die Suspension der Verfassung dient in dieser Sichtweise dem Schutz der Verfassung: es berücksichtigt, daß jede Demokratie zwangsläufig das „Element Diktatur“318 in sich trägt. Denn das Problem des Politischen besteht darin, daß der Punkt, an dem die Existenz einer politischen Ordnung als solcher gefährdet ist, das heißt, ob der Ausnahmefall vorliegt oder nicht, weder normativ (vor-)formulierbar noch kognitiv beantwortbar ist. Weil sowohl kognitive als auch normative Erwartungen nur innerhalb und unter Voraussetzung der Existenz einer solchen Ordnung möglich sind, kann die strittige Frage, wann diese Ordnung als solche gefährdet ist, im Rahmen der ihr eigenen Erwartungsstrukturen nicht beantwortet werden. Daher läßt sich lediglich sagen, „daß die Souveränität, und damit der Staat selbst, darin besteht, diesen Streit zu entscheiden, also definitiv zu bestimmen, was öffentliche Ordnung und Sicherheit ist, wann sie gestört wird usw.“319. 313
von Trotha, Die präventive Sicherheitsordnung, S. 35. Die Kehrseite dieser Zuspitzung der Leitidee und der Umkehrung des Rechts ist der (noch nicht Realität gewordene, aber instruktive) Gedanke eines sog. „Feindstrafrechts“, das dazu dient, Bürger notfalls zu „Feinden“ erklären zu können. Siehe Jakobs, Bürgerstrafrecht, Jakobs, Feindstrafrecht. 315 Schmitt, Politische Theologie, S. 13. 316 Schmitt, Politische Theologie, S. 14. 317 Schmitt, Politische Theologie, S. 13 f. 318 Offe, Strukturprobleme, S. 154. 319 Schmitt, Politische Theologie, S. 16. Dasselbe gilt im Rahmen des klassischen europäischen Völkerrechts für externe Bedrohungen (vgl. Schmitt, Begriff des Politischen, S. 42 f.). Erst wenn man diese beiden Momente der Souveränität – Befriedung nach innen und Feindbestimmung „auf eigene Gefahr“ (ebd., S. 47) nach außen – voraussetzen kann, sind die Bedingungen erfüllt, die eine geregelte Verwaltung, Polizei sowie Rechtsstaatlichkeit ermöglichen. Nur eine „normale Situation“ gewährleistet, „daß Rechtsnormen überhaupt gelten können, weil jede Norm eine normale Situation voraussetzt und keine Norm für eine ihr gegenüber völlig abnorme Situation Geltung haben kann“ (ebd., S. 43). 314
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Demgegenüber kommt es im Wohlfahrtsstaat infolge fehlender politischer Übernahme existenzieller Risiken nicht zu deren Bestimmung, sondern unter den Bedingungen ihrer politischen Unbestimmbarkeit zu einer „Hypertrophie der Sicherheitserwägungen“320. Diese kann zur Herausbildung gegen-rechtlicher Strukturen dann führen, wenn das Prinzip der Prävention bzw. Vorsorge – das sich wie gezeigt vor allem im Umweltrecht entwickelt hat, aber nach Luhmann „mehr oder weniger das gesamte Recht“321 betrifft – in positiv-rechtliche Form zu bringen versucht wird. Die Ausnahme wird also hier nicht wie bei Schmitt reflexiv als außerhalb der Positivität des Rechts stehend, aber zugleich – als Reflexion auf die Einheit des Rechts – zu diesem gehörig behandelt, sondern schlicht als Gegenstand des positiven Rechts, das sich ebendeshalb zu einem Gegen-Recht transformiert. Denn im Rahmen der präventiven Sicherheitsordnung fehlt die Möglichkeit der Reflexion auf ihre Bedingungen der Möglichkeit. Im Unterschied zum klassischen Recht, das Taten, die bereits stattgefunden haben, auf ihre Rechtmäßigkeit hin beobachtet, versucht das präventive Gegen-Recht Ereignisse, die noch nicht stattgefunden haben, rechtlich zu ordnen, sodaß sich eine „temporale Verkehrung vollzieht“322. Weil diese übersteigerte Folgenorientierung aber nach Luhmann aufgrund der Konditionalprogrammierung des Rechts gar nicht möglich ist, muß das Recht andere als rechtliche Kriterien heranziehen, etwa wirtschaftliche, politische oder Risikoerwägungen.323 So ergänzen etwa im Zusammenhang der Sicherungsverwahrung324 wissenschaftliche und probabilistische Argumente eine rein rechtliche Begründung und führen für den Betreffenden zu einer rechtlichen „Exklusion aus dem Recht“325. Angesichts terroristischer Bedrohungen wird die Verbindung zur Wahrscheinlichkeitskalkulation gekappt. Das Problem allgegenwärtiger terroristischer Gefahren läßt sich nicht kognitiv formulieren, sondern nur als „performative Aussage“326, die eine unbestimmte Wachsamkeit zum Handeln hervorrufen soll und selbst bereits Handlungsqualität aufweist.327 Eine aus einer solchen un320
Opitz, Grenze des Rechts, S. 252. Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 69. 322 Opitz, Widerstreitende Temporalitäten, S. 66. 323 Vgl. Opitz, Grenze des Rechts, S. 270. 324 Im Fall der Sicherungsverwahrung wird durch ein rechtsexternes Expertenurteil (v. a. psychiatrisch) die Gefährlichkeit einer Person festgestellt und aufgrund noch nicht begangener, aber aufgrund der wissenschaftlichen Diagnose sehr wahrscheinlicher zukünftiger Straftaten eine Verwahrung ermöglicht. Der Grund der Verwahrung ist hier also nicht rechtliche Schuld, sondern der Verwahrte befindet sich jenseits von Recht und Unrecht bzw. Schuld und Unschuld (vgl. dazu Opitz, Widerstreitende Temporalitäten, S. 65 ff.). 325 Opitz, Widerstreitende Temporalitäten, S. 69. 326 Opitz, Widerstreitende Temporalitäten, S. 71. 327 Offensichtlich kennt die Politik die von Japp herausgearbeiteten Verhältnisse des Wissens und Nichtwissens, indem sie Known Knowns, Known Unknowns sowie Unknown Unknowns unterscheidet. Anders als Japp meint, wird das unspezifische Nichtwissen aber als Anlaß für politische Entscheidungen genommen: „Als paradigmatisch für diese Problematisierung kann sicherlich Donald Rumsfelds Rede von den Unknown Unknowns im Jahr 321
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bestimmten Wachsamkeit hervorgehende Handlung, etwa die präventive Tötung eines mutmaßlichen zukünftigen Attentäters, wird selbst einer möglichen Kommunikation zuvorkommen. Eine solche präventive Tötung als Versuch des Einschlusses der Ausnahme in die wohlfahrtsstaatliche Kontextur der Sicherheit nimmt dem Betroffenen die Zeit, die soziologisch gesehen notwendig ist, um Adresse sozialer Systeme, um Person werden zu können.328 3. Ökologie a) Die Aspekte des ökologischen Problems Unter der Ökologie des Gesellschaftssystems versteht Luhmann zunächst „die Naturumwelt und die Humanumwelt“329. Nach Luhmann sind als Humanumwelt in erster Linie die an der Kommunikation beteiligten psychischen Systeme relevant.330 Zur Naturumwelt zählt Luhmann die „physikalischen, chemischen und biologischen Bedingungen des Lebens“.331 Die Naturumwelt zieht sich unter modernen Bedingungen mehr und mehr auf Technik zusammen, zunächst deswegen, weil „Technik […] selbst […] ein ökologischer Sachverhalt“332 ist, aber auch darum, 2002 angesehen werden. Rumsfeld zufolge habe die Sicherheitspolitik lange Zeit zwischen sicherem Wissen (Known Knowns) und bekannten Wissenslücken (Known Unknowns) unterschieden. Demgegenüber müsse man sich auf ein Unwissen einstellen, von dem man nicht mal weiß, dass man es hat – auf Unknown Unknowns.“ (Opitz, Widerstreitende Temporalitäten, S. 70). 328 Vgl. Opitz, Grenze des Rechts, S. 304. 329 Luhmann, Gesellschaft, S. 186. 330 Vgl. Luhmann, Gesellschaft, S. 13. 331 Luhmann, Gesellschaft, S. 119. Weiter heißt es: „Hier kommt jedoch noch hinzu, daß die Umwelt sich ihrerseits stärker als je zuvor unter den Einwirkungen der Gesellschaft selbst ändert. Das gilt für die physikalischen, chemischen und biologischen Bedingungen des Lebens, also für den Komplex, der üblicherweise als ‚Ökologie‘ bezeichnet wird, das gilt aber auch, und erst recht, für die Deformation psychischer Systeme unter modernen Lebensbedingungen, etwa für all das, was man im Begriff des modernen Individualismus oder mit der Theorie steigender Anspruchshaltungen zum Ausdruck zu bringen sucht. Wie in einem ökologischen Hyperzyklus sind die strukturellen Kopplungen zwischen Gesellschaftssystem und Umwelt heute unter Variationsdruck gesetzt“ (ebd.). „Von ökologischen Veränderungen sind zunächst Menschen betroffen. Sie sterben schneller als unvermeidlich, oder auch in auffällig großen Zahlen im Zeitpunkt von Katastrophen. Oder sie werden chronisch krank. Sie leiden und sterben weniger an Infektions- und mehr an den sogenannten Zivilisationskrankheiten. Solche Sachverhalte binden die Aufmerksamkeit und führen dazu, daß zwischen Menschengattung und Gesellschaft nicht deutlich unterschieden wird. Die Thematisierung der Gesellschaft unter dem Gesichtspunkt selbstinduzierter ökologischer Probleme verdeckt mithin eine Differenz, die sich anderenfalls aufdrängen würde, nämlich die von Kommunikationssystemen auf der einen und organischen bzw. psychischen Systemen auf der anderen Seite.“ (Ebd., S. 1112). 332 Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 105.
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weil „sich im ökologischen Kontext Technik und Natur auf untrennbare und unprognostierbare Weise mischen […]. Technik wird wieder zur Natur, zur zweiten Natur.“333 Im folgenden wird das Ökologieproblem unter dem Aspekt der Technik betrachtet. Es wird zu zeigen sein, in welcher Weise sie mit der Humanumwelt zusammenhängt. Unter den ökologischen Bedingungen der Gesellschaft sind aber nicht einfach nur Tatsachen in der Umwelt zu verstehen, sondern Tatsachen in ihrem Bezug auf soziale Systeme, ohne den sie nicht Problem werden könnten. Dieser Bezug liegt im Fall der Technik darin, daß sie der „Strukturierung der Umwelt von Systemen“334 dient und daher als „eine Voraussetzung für die Schließung der Gesellschaft als eines sozialen Systems“335 angesetzt werden muß.336 In diesem Sinne des notwendigen Bezugs der Technik auf die Gesellschaft einerseits und ihres ökologischen Charakters andererseits kann man feststellen: „Die Technik hat keine Grenzen, sie ist eine Grenze.“337 Doch obwohl sie in gewisser Weise – ähnlich einem sozialen System – Grenze zwischen System und Umwelt ist, ist die Technik nicht selbst System und auch nicht deckungsgleich mit einem bestimmten System, etwa derart, daß sich von der Technik als einem Funktionssystem sprechen ließe. Sondern „Technik wirkt […] orthogonal zur operativen Schließung autopoietischer Systeme“, das heißt, sie findet in allen sozialen Systemen Verwendung, weil sie „Kopplungen zwischen dem Gesellschaftssystem und seiner Umwelt“338 ermöglicht. Empirisch läßt sich feststellen, daß sich die moderne Gesellschaft in einem extrem hohen und wahrscheinlich irreversiblen Maß von Technik abhängig gemacht hat, sodaß „Leben und Überleben der Menschheit überdeutlich von Technik abhängen (und dies im positiven wie im negativen, destruktiven Sinne)“339. Doch nicht nur das Leben und Überleben der Menschheit, sondern auch der Fortbestand der Gesellschaft hängt an der Technik, weil „ein Zusammenbruch der Technik (insbesondere der Energieerzeugung) auch zu einem Zusammenbruch der uns vertrauten Gesellschaft führen würde“340. Zusammenbruch der ‚uns vertrauten‘ Gesellschaft kann soziologisch nur bedeuten, daß die Gesellschaft ihre uns bekannte Struktur ändern würde. Dies führt zum systemtheoretischen Begriff der Katastrophe. 333
Luhmann, Gesellschaft, S. 522. Halfmann, Technik und Kausalität, S. 193. 335 Halfmann, Technik als Medium, S. 135. 336 Und zwar etwa in dem Sinne, den Luhmann formuliert: „Technik ermöglicht keine immer bessere Anpassung der Gesellschaft an ihre Umwelt, wie sie ist. Sie dient mit der Vermehrung von Optionsmöglichkeiten der Entfaltung der Eigendynamik des Gesellschaftssystems. Deshalb bleibt der Begriff völlig offen für die Frage, wie es weitergeht.“ (Luhmann, Gesellschaft, S. 535). 337 Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 105 (Hervorh. hinzugefügt). 338 Luhmann, Gesellschaft, S. 526. 339 Luhmann, Gesellschaft, S. 523. 340 Luhmann, Gesellschaft, S. 532. 334
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Die Systemtheorie kennt zwei Bestimmungen des Begriffs der Katastrophe. Zum einen hält es Luhmann ganz allgemein für sehr wahrscheinlich, daß die Gesellschaft „die Menschen als Lebewesen […] durch selbsterzeugte Katastrophen dezimieren oder auslöschen“341 wird. Will man dies auf eine Unterscheidung bringen, wäre die hier treffende Unterscheidung Leben/Überleben bzw. Destruktion/ Überleben. Zum anderen werden unter dem Begriff der Katastrophe fundamentale Brüche in der Primärstruktur der Gesellschaft verstanden, weshalb Luhmann das „Auswechseln der Form der Stabilität eines Systems auch Katastrophe [nennt]. […] Das Entstehen von Gesellschaften mit einem Primat von Zentrum/Peripherie-Differenzierung und/oder von Stratifikation ist eine solche Katastrophe […]“342.
So gesehen hat die Gesellschaft bereits einige Katastrophen hinter sich, und auch die Durchsetzung der funktionalen gegenüber der stratifikatorischen Differenzierung erscheint systemtheoretisch als „Katastrophe der Neuzeit“343. Will man diesen strukturellen Begriff der Katastrophe auf eine bestimmte Unterscheidung beziehen, ist ausgehend von Luhmanns Begriff der Systemrationalität344, welcher, „konsequent gehandhabt, genau auf die ökologische Problematik“345 zielt, an die Unterscheidung von System und Umwelt zu denken. In diesem Sinn schlägt Luhmann (teilweise unter Rückgriff auf die Terminologie Gotthard Günthers) angesichts der angstbasierten Protestkommunikation neuer sozialer Bewegungen, die sich an der Unterscheidung von Leben und Überleben orientiert, vor, „auf die Ebene ‚transjunktionaler‘ […] Operationen übergehen“346 und die Unterscheidung von Leben und Überleben durch die Unterscheidung von System und Umwelt zu ersetzen. Ein soziales System operiert dann rational, wenn es seine Differenz zur Umwelt nicht nur faktisch systemintern zur Orientierung verwendet, sondern wenn die Wiedereinführung der Differenz von System und Umwelt ihrerseits selbstreferentiell geschieht, „das heißt, wenn auf die Einheit der Differenz reflektiert wird“347. Dann kann das System unter einem kausalen Gesichtspunkt die hier als Grenz- oder Restprobleme bezeichneten systembedingten „Einwirkungen auf die Umwelt an den Rückwirkungen auf es selbst kontrollieren“348. Das Ökologieproblem stellt dabei offensichtlich die höchsten Ansprüche an die Systemrationalität,
341 Luhmann, Beobachtungen der Moderne, S. 149. Vgl. Luhmann, Gesellschaft, S. 1100 ff. 342 Luhmann, Gesellschaft, S. 616 u. 655. 343 Luhmann, Gesellschaft, S. 683. 344 Siehe dazu Luhmann, Soziale Systeme, S. 593 ff., bes. 638 ff. und Luhmann, Ökologische Kommunikation, S. 249 ff. 345 Luhmann, Ökologische Kommunikation, S. 247. 346 Luhmann, Beobachtungen der Moderne, S. 161. 347 Luhmann, Soziale Systeme, S. 640. Vgl. Luhmann, Ökologische Kommunikation, S. 256 f. 348 Luhmann, Soziale Systeme, S. 642.
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weil es verlangt, die auf die Gesellschaft zurückwirkenden Umweltprobleme in der Gesellschaft kommunikativ zu thematisieren.349 Das Problem ist nur, daß die Gesellschaft als funktional differenzierte keinen zentralen oder obersten Platz besitzt, von dem aus dieser selbstreferentielle Wiedereintritt der Unterscheidung von System (resp. Gesellschaft) und Umwelt in die Gesellschaft verbindlich vollzogen werden könnte.350 Rationalität ist auf gesamtgesellschaftlicher Ebene nur in einer abgeschwächten Form möglich. Luhmanns Vorschlag ist, die funktionale Methode als Suche nach äquivalenten Lösungsmöglichkeiten für ein konstruiertes Bezugsproblem zu generalisieren und nicht nur in der Wissenschaft bzw. der systemtheoretischen Soziologie zu benutzen, sondern als „Orientierungsform […] originär, in anderen Funktionssystemen zu praktizieren“351. Das jeweilige Funktionssystem könnte sich dann als ausdifferenziertes System in der Umwelt anderer Systeme begreifen. Das ökologische Problem bleibt auf diese Weise ungelöst, weil es unlösbar ist. Allerdings könnte versucht werden, die unlösbaren ökologischen Probleme als Reflexionsprobleme „durch Nichtlösung […] als Moment der Autopoiesis des Systems […] zu erhalten“352. Dieser Vorschlag erscheint nur dann sinnvoll, wenn die Konservierung der systemrational als unlösbar erkannten ökologischen Probleme zugleich zur Erhaltung der Gesellschaftsstruktur beiträgt. Denn deren Differenzierungs- und Komplexitätsniveau bedingt schließlich den Grad verfügbarer Rationalität, wenn auch in der paradoxen Weise, daß „[i]n dem Maße, als Systemrationalität realisierbar erscheint, […] sie zugleich […] weniger gesellschaftsrational [ist]“353. Denn mit zunehmender interner Differenzierung dominiert diese das Umweltverhältnis der Gesellschaft, sodaß die Unterscheidung von Gesellschaftssystem und Umwelt in ihrer Einheit immer mehr aus dem Blickfeld rückt. Demgegenüber soll hier gezeigt werden, daß es neben den beiden katastrophalen Möglichkeiten der Destruktion (der Menschen als Lebewesen bzw. der Menschheit) und des Komplettaustauschs der Gesellschaftsstruktur bei intaktem System/ Umwelt-Verhältnis eine dritte Möglichkeit gibt, die darin besteht, daß angesichts der Reflexion auf die Möglichkeit von Katastrophen die Grenze von System und Umwelt ihre Bestimmtheit verliert. Dies läßt sich am besten an avancierten Formen der Technik aufzeigen.
349 Vgl.
Luhmann, Soziale Systeme, S. 645. Luhmann, Ökologische Kommunikation, S. 251 f. 351 Luhmann, Ökologische Kommunikation, S. 255. 352 Luhmann, Beobachtungen der Moderne, S. 209. 353 Luhmann, Ökologische Kommunikation, S. 257. 350 Vgl.
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b) Technik als ökologischer Sachverhalt Die Systemtheorie versteht Technik als Form im Medium der Kausalität.354 Dabei „[sei] die Innenseite der Form, das, was als Technik bezeichnet wird, […] funktionierende Simplifikation im Medium der Kausalität“355. Technik funktioniert, wenn es gelingt, auf der Innenseite der Form feste kausale Kopplungen gegen die gleichwohl real bleibende Kausalität auf der Außenseite der Technik stabil zu isolieren. Kausalität als Form setzt die Selektion bestimmter Ursachen und Wirkungen unter Ausschluß aller übrigen voraus.356 Technik funktioniert, wenn die Isolation der selegierten festen kausalen Kopplung gegen die unendlichen äußeren Kausalitäten hält; überschreitet die ausgeschlossene Kausalität die Grenze der Technik, kollabiert die Form und die Installation wird sichtbar. Weil die ausgeschlossenen Kausalitäten gleichzeitig, das heißt im Moment des Technikeinsatzes unkontrollierbar fortbestehen, gehört das Risiko des Nichtfunktionierens der Technik zum Begriff der Technik. Das Kausalitätsschema dient der Konstruktion der Umwelt sozialer Systeme. Kommunikationstheoretisch gesehen, bindet die kausale technische Kopplung die Informationskomponente der Kommunikation und entkoppelt diese vom Mitteilungsaspekt: Technik dekontextualisiert den Sachbezug sozialer Systeme; gelingt die „kausal fixierte Information“, läßt sie ihrerseits die „Formung durch unterschiedlichste Mitteilungsoperationen“ zu, das heißt Technik wird selbst zum Medium für Kommunikation.357 In der Möglichkeit, daß Technik für soziale Systeme zum Medium wird, liegt ihr Risiko, da sie immer wieder rekontextualisiert werden muß.358 Luhmann unterscheidet drei Arten von Technik: Instrument, Großtechnik und Hochtechnologie.359 Einfache instrumentale Technik – vom Werkzeug bis zur Maschine – kann mit dem Schema von Zweck und Mittel beschrieben werden. Ihr Funktionieren ist in hohem Maße erwartbar und ‚sicher‘. Das Risiko ihres Nichtfunktionierens besteht darin, daß sie schlicht „stillsteht und die vorgesehenen Wirkungen nicht erbringt“360. Großtechnik bzw. große technische Systeme weisen netzwerkartige Strukturen auf und treten vor allem als Infrastrukturtechnik wie etwa Energie- und Wasserversorgung, Verkehrs- und Telekommunikationsnetze 354 Vgl. Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 93 ff., Luhmann, Risiko der Kausalität, Luhmann, Gesellschaft, S. 517 ff., Halfmann, Kausale Simplifikationen, Halfmann, Die gesellschaftliche „Natur“ der Technik, Halfmann, Technik als Medium, Halfmann, Technik und Kausalität. Vgl. ferner Rammert, Technisierung u. Japp, Technik der Gesellschaft. 355 Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 105. 356 Vgl. Halfmann, Technik und Kausalität, S. 192 f. Vgl. Luhmann, Risiko der Kausalität, S. 108 u. Luhmann, Grundrechte, S. 173. 357 Vgl. Halfmann, Die gesellschaftliche „Natur“ der Technik, S. 121. 358 Halfmann, Die gesellschaftliche „Natur“ der Technik, S. 145 und 131. 359 Vgl. Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 93 ff., bes. S. 93, Anm. 2 und z. B. S. 102. 360 Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 105.
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in Erscheinung.361 Die Funktion von Infrastruktursystemen besteht in der Ermöglichung von Gesellschaft, insbesondere von funktionssystemspezifischer Kommunikation.362 Das weitgehend problemlose, alltägliche Funktionieren kann als kennzeichnend für Infrastruktursysteme bzw. Großtechnik angesehen werden.363 Für Luhmann ist daher die Untersuchung von Großtechnik im Unterschied zur Hochtechnologie „für die Risikothematik weniger interessant“364. Paradigmatisch für das Risikoproblem der Moderne sind nach Luhmann demgegenüber Hochtechnologien, die typisch durch die „Kernkrafttechnologie“ und die „Computertechnologie“365 repräsentiert werden. An ihnen „kann man ablesen, daß und wie Risiko reflexiv wird“366. Katastrophenträchtige Hochtechnologien367 wie die Kernkrafttechnologie setzen wie alle Technik an der Informationskomponente der Kommunikation an, gefährden aber, wie zu zeigen ist, in einer bestimmten Weise die Unterscheidbarkeit von Information und Mitteilung und damit die Einheit der Kommunikation. Ähnliches trifft auf die Computertechnologie zu, der durch die neuartige Möglichkeit, Technik als Informationsgenerator zu benutzen, die Mitteilungskomponente und damit ebenfalls die Unterscheidbarkeit von Information und Mitteilung in Frage stellt.
361 Vgl. z. B. Mayntz, Entwicklung, Mayntz, Große technische Systeme, Joerges, Große technische Systeme, Braun, Technik ohne Grenzen, Weyer, Techniksoziologie, S. 12 ff. Renate Mayntz bezeichnet als Großtechniken die „weiträumig zur dauerhaften Erfüllung eines spezifischen Zwecks verbundenen Netzwerke heterogener technischer und sozialer Komponenten“, nicht aber „Großanlagen“ (Mayntz, Große technische Systeme, S. 98) wie etwa Kraftwerke oder Produktionsanlagen. 362 Vgl. Mayntz, Große technische Systeme, S. 100. 363 Vgl. Joerges/Braun, Große technische Systeme, S. 21 ff., die das Straßenverkehrssystem als prototypisch ansehen. 364 Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 94, Anm. 2. Dem ist zum einen entgegenzuhalten, daß auch aus dem scheinbar normalen Funktionieren von Technik Schäden in größten Dimensionen erwachsen können, denkt man etwa an das Problem des Klimawandels und die Abnahme des Sauerstoffgehalts in der Erdatmosphäre infolge der Kohlendioxidproduktion durch die Verbrennung fossiler Energieträger bei der Energieerzeugung und im Kraftverkehr. Ähnliches gilt für den Gebrauch neuer Materialien oder Medikamente. Solche langfristigen Risiken, die auch als Entwicklungsrisiken bezeichnet werden, sind häufig vorab auch wissenschaftlich nicht absehbar und stellen sich erst nach langjährigem Einsatz heraus (vgl. Japp, Risiko, S. 44). Zum anderen werden in letzter Zeit unter den Stichworten „kritische Infrastrukturen“ und „Verletzlichkeit“ bzw. „Vulnerabilität“ auch großtechnische Systeme mit Katastrophenrisiken in Verbindung gebracht (vgl. z. B. Lorenz, Kritische Infrastrukturen, S. 13). 365 Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 102. 366 Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 105. 367 Vgl. Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 93 ff.
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c) Hochtechnologien Wegweisend für die systemtheoretische Analyse katastrophenträchtiger Hochtechnologien sind die Untersuchungen Charles Perrows. Nach Perrow handelt es sich bei Hochtechnologien um komplexe Arrangements technischer Komponenten, die zugleich eng gekoppelt sind.368 Beispiele dafür sind Kernkraftwerke, Kernwaffen, Gentechnik und großchemische Anlagen. Die Komplexität eines technischen Systems führt Perrow erstens auf die Belegung technischer Komponenten mit Mehrfachfunktionen zurück, sodaß eine Komponente zugleich Bestandteil mehrerer Prozesse ist, zweitens auf die Möglichkeit von Rückkopplungen im System, die zu unerwarteten Ereignissen führen können sowie drittens auf die Steigerung der Komplexität durch Sicherheits- und Sekundärtechniken.369 Komplexität heißt kurz gesagt Gleichzeitigkeit und Undurchschaubarkeit. Enge Kopplung hingegen bedeutet, daß im technischen Ablauf keine Spielräume, Flexibilitäten und Redundanzen vorhanden sind. Aufgrund der Verbindung von Komplexität und enger Kopplung neigen Hochtechnologien zu „Systemunfällen“, das heißt zu unvorhersehbaren Wechselwirkungen, die den gleichzeitigen Ausfall mehrerer technischer Komponenten bedingen370 und in diesem Sinn zu unkontrollierbaren Kettenreaktionen führen können. Luhmann beschreibt die Verbindung von Komplexität und enger Kopplung als Versuch der „Anwendung von Technik auf Technik“371, vor allem durch Einbau von Kontroll- und Sicherheitstechnik in Technik. Hochtechnologie stellt den Versuch dar, „die Probleme der Technik mit technischen Mitteln zu lösen“372. Hochtechnologie symbolisiert die Erwartung, den Dekontextualisierungsertrag zu maximieren, während die Rekontextualisierungsrisiken minimiert werden sollen. Die Entwicklung von Hochtechnologien ist in hohem Maße an staatliche Initiativen gebunden.373 Nur der Staat bzw. politische Kollektive können Hochtechnologien wie die Kernkrafttechnologie finanzieren und für die mit ihnen verbundenen Risiken aufkommen.374 Offenkundig lassen sich Parallelen zur Entwicklung des 368 Vgl. Perrow, Normale Katastrophen, S. 107 ff., 131 ff., vgl. Weyer, Techniksoziologie, S. 225 ff. 369 Vgl. Weyer, Techniksoziologie, S. 227. 370 Vgl. Perrow, Normale Katastrophen, S. 105. 371 Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 105. 372 Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 100. 373 So stellt etwa Joachim Radkau, Technik in Deutschland, S. 354, fest: „Die Entstehung der Kerntechnik und die Beschleunigung des Entwicklungstempos gehen überall in der Welt auf staatliche Maßnahmen zurück […]“. Vgl. auch Weyer, Techniksoziologie, S. 267. 374 So schon Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, S. 454. Hochtechnologie setzt nach Schelsky zudem die Verwissenschaftlichung der Technik voraus. Die Konstruktion von Hochtechnologie funktioniert nicht mehr nach dem Schema von Zweck und Mittel, sondern analog zur Gewinnung wissenschaftlichen Wissens anhand der Unterscheidung von Analyse und Synthese (vgl. ebd., S. 445). Vgl. auch Luhmann, Wissenschaft,
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Wohlfahrtsstaates feststellen, der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg die Kerntechnik zur Grundlage des Versprechens „von Wohlfahrtsgewinnen durch technischen Fortschritt“375 machte. Gerade dieser Versuch jedoch steigert das Risiko des Eindringens auszuschließender Kausalitäten, ja macht das Kollabieren der technischen Grenzen aufgrund der Gleichzeitigkeit der verkoppelten Prozesse streng genommen bzw. auf lange Sicht sogar höchst wahrscheinlich, wobei die Intensität möglicher Schäden immens steigt376: „da das Gleichzeitige vom System aus nicht kontrolliert werden kann, ist es nur eine Frage der Zeit, bis es sich auswirkt. Das führt zu der paradoxen Frage, ob die Technik, auch wenn sie kausal funktioniert, technisch überhaupt möglich ist.“377
S. 184 f., 266 f. zur für wissenschaftliches Wissen konstitutiven Unterscheidung von Analyse und Rekombination. 375 Halfmann, Technik und soziale Organisation, S. 26. 376 Diese Schlußfolgerung der Unvermeidbarkeit (‚Normalität‘) akzidenteller Systemunfälle (bzw. von ‚Katastrophen‘), die sich an Perrow anlehnt, ist in Frage gestellt worden. Nach der von Weyer referierten Kritik von La Porte/Consolini, Working in Practice, handelt es sich bei der Unvermeidbarkeit um eine Schlußfolgerung „aus der Perspektive herkömmlicher Organisationstheorien“, die aus theoretischen Gründen nicht mit der Möglichkeit „perfekte[r] Organisationen“ rechnete; letztere „funktionierten aber in der Praxis recht gut“, wie etwa solche „high reliability organizations“ wie die Luftverkehrskontrolle, die Besatzung eines Flugzeugträgers oder Energieversorgungssysteme belegten; solche Organisationen könnten den Kritikern zufolge in drei verschiedenen Modi operieren: in einem bürokratisch-hierarchischen „Routine-Modus“, in einem „Hochleistungsmodus“ in Phasen von Belastungsspitzen, in denen die bürokratische Organisation von situativ spontan agierenden Experten-Teams abgelöst werde sowie in einem „Notfall-Modus“ im Fall einer bedrohlichen Situation, in der wiederum durch Training eingeübte „vorprogrammierte Szenarien“ greifen (alle Zitate Weyer, Techniksoziologie, S. 233 f.). Aufschlußreich sind zwei Punkte: nach Weyer operierten auch diese Art von hochverläßlichen Organisationen nur „nahezu fehlerfrei“, wodurch es „so gut wie nie zu Katastrophen kommt“ (ebd., S. 233, Hervorh. hinzugefügt). Es bleiben also gleichwohl Restrisiken. Perrows These bewegt sich aber genau in diesem Bereich der Restrisiken. Denn Unvermeidbarkeit von Unfällen bedeutet schließlich gerade nicht deren Häufigkeit (vgl. ebd., S. 235), sondern deren Außeralltäglichkeit; die Häufigkeit ist eine empirische Frage, die sich nach dem Verbreitungsgrad solcher Hochtechnologien richtet. Zum anderen bleibt die Frage, ob auf Notfälle ausgerechnet mit Training reagiert werden kann. Hier setzt Weyers Kritik an den Kritikern an: „Unbeantwortet bleibt beispielsweise die Frage, wie das Umschalten von einem Modus in den anderen vor sich geht und woher die Mitarbeiter wissen, in welchem Modus sie sich gerade befinden“ (ebd., S. 234). Die Unterscheidung idealtypischer Modi scheint hier das Entscheidungsproblem zu überdecken. 377 Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 100. Hans Freyers Antwort auf Luhmanns ‚paradoxe Frage‘, ob die Technik technisch möglich sei, wäre wohl nein gewesen. Denn mit Freyer läßt sich die technische Möglichkeit der Technik als eine utopische Idee kenntlich machen. Die Perfektion der Technik, ihre selbstbezügliche Schließung und unendliche Vollendung als Nur-noch-Medium findet nur in der Reflexion statt. In diesem Sinne spricht
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Wenn Technik „eine Voraussetzung für die Schließung der Gesellschaft als eines sozialen Systems“378 ist, müßte das soeben erörterte hochtechnologische Risiko des Nichtfunktionierens demnach auch ein Risiko für die Schließung der Gesellschaft bedeuten. Dies gilt zunächst in einem destruktiven Sinn der Schädigung der physischen Umwelt (zum Beispiel der menschlichen Körper und damit der für Kommunikation notwendigen psychischen Systeme): „die ökologische Situierung des Gesellschaftssystems […] [kann] schließlich sogar auf Selbstgefährdung hinauslaufen“379. Hochtechnologie kann aber auch als Restproblem beschrieben werden. Die Unterscheidung, in bezug auf die Hochtechnologie ein Rest ist, ist die Unterscheidung von Information und Mitteilung. Indem am Phänomen der Hochtechnologien Risiko als solches reflexiv wird, werden (mögliche) Schäden auf Entscheidungen zugerechnet. Zugleich damit entstehen Betroffene.380 Diese Unterscheidung aber ist nach Luhmann gar „nicht ausdifferenzierbar […] als soziales System“; sie „läßt keine Operationen auf der einen oder der anderen Seite zu“381. Betroffenheit entzieht sich jeglicher Gesellschaftlichkeit. Die „Betroffenen sind eine amorphe Masse, die sich nicht in Form bringen läßt“382, weil sie kommunikativ nicht adressabel sind. Betroffenheit verweist vielmehr auf eine existenzielle Position, die aber aus der Systemtheorie ausgeschlossen ist.383 Auch die Entscheider lassen sich nicht adressieren, es sei denn in Form der politischen Repräsentation der Betroffenen.384 Da letztere aber kommunikationstheoretisch unbestimmbar bleiben, ist der Ansatz einer politischen Beschreibung des Problems keine Möglichkeit für die Systemtheorie. Entscheider und Betroffene stehen zueinander nicht in einem Verhältnis doppelter Kontingenz, sodaß Luhmann folgerichtig fragt, „ob und wie man die Unbestimmbarkeit des Betroffenenstatus, der sich nur in der Differenz zum Entscheiden fassen läßt, Freyer in der Theorie des gegenwärtigen Zeitalters von der Technik als „Denkform“ (vgl. Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 166). 378 Halfmann, Technik als Medium, S. 135. 379 Luhmann, Ökologische Kommunikation, S. 36. Vgl. Luhmann, Beobachtungen der Moderne, S. 162. 380 Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 115. 381 Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 120 u. 131. 382 Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 120. 383 Luhmann, Soziale Systeme, S. 97. 384 Dies ist der risikosoziologische Hintergrund von Hans Freyers Begriff des politischen Volkes. Freyers Begriff des Volkes beruht auf einer existenziellen Reflexion des Risikos, das von einer vollständigen Verwirklichung der Industriegesellschaft ausgeht. Das Volk steht für die Bestimmungsmöglichkeit hochgetriebener Risiken, für die Rekontextualisierung der modernen Technik: „Die industrielle Gesellschaft […] schwebt frei. […] Sie ist […] also das schiere Risiko. […] Nachdem die Gesellschaft ganz Gesellschaft geworden ist, […] erscheint in ihr dasjenige, was nicht Gesellschaft, […] also nicht ausgleichbar […] ist: das Volk. […] Das Volk […] ist der lebendige Kern, um den sich die Mittel der industriellen Welt zum erstenmal zu einer Welt zusammenfügen werden […]“ (Freyer, Revolution von rechts, S. 20 f., 37 u. 52).
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überhaupt in Kommunikation zur Geltung bringen kann“385. Katastrophenträchtige Hochtechnologien führen auf lange Sicht gerade nicht zu einer Entlastung der Mitteilungskomponente und damit zur Freisetzung von Kommunikationsmöglichkeiten, sondern nehmen die Informationskomponente der Kommunikation in einer Weise in Anspruch, die die Zeitbindung, die durch Technik eigentlich geleistet werden soll, desavouiert. d) Computertechnik Wie jede andere Technik entkoppelt der Computer die Informationskomponente der Kommunikation von der Mitteilungskomponente, das heißt von ihrem Kontext. Im Unterschied zu den übrigen Techniken bindet der Rechner aber nicht nur zwei Ereignisse kausal, sondern kann er Informationen erzeugen.386 Einfache Techniken wirken zwar durch die Isolation kausaler Kopplungen verändernd: wenn die Technik funktioniert, folgt auf A immer B, das heißt der output ist etwas anderes als der input.387 Doch soll der output gerade nicht überraschend sein. Vielmehr wird (sozusagen normativ) erwartet, daß das Zimmer hell wird, wenn der Lichtschalter betätigt wird.388 Überraschend im Sinne einer Abweichung von der Erwartung wäre das Nichtfunktionieren. Der Computer soll hingegen, gerade wenn er funktioniert, (gezielt) überraschen: von Computern erwartet man „eine kontrollierte Unerwartbarkeit“389, das heißt eine sinnhaft interpretierbare Information.390 Der Computer bedeutet deshalb eine Zäsur in der Technikentwicklung: „Der Computer hat […] die Technik von Körpern und Dingen auf Zeichen verlagert, deren Sinn darin besteht, andere Zeichen zugänglich zu machen.“391 385
Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 121. zum Computer als Maschine bzw. Installation genauer Halfmann, Die gesellschaftliche „Natur“ der Technik, S. 133 – 139. Die ‚logische Maschine‘ des Computers operiert auf nicht-sinnhafter, physikalischer Ebene. Durch die Technik der Binarisierung von Zeichen können physikalische Zustände (an/aus) in Zeichenmaterial (0/1) überführt werden, „das in der Kommunikation als (neue) Information gebraucht werden kann“; die Rechenmaschine stellt also „nichts anderes her als (unzählige Kombinationsmöglichkeiten von) Zeichen, die in algorithmischer Form dargestellt werden können. […] Alle Maschinen können als symbolverarbeitende Maschinen beobachtet werden, deren Output in der Kommunikation als Information verwendet werden kann. Bei vielen Techniken […] finden diese Informationen aber selber keine besondere Aufmerksamkeit, da ihr Neuigkeitswert gering ist. Dies scheint beim Computer anders zu sein: er erscheint als ‚Informationsgenerator‘.“ (ebd., S. 137). 387 Vgl. Esposito, Computer, S. 339. 388 Vgl. zum hiermit angesprochenen Thema der Zeitbindung durch Technik Halfmann, Die gesellschaftliche „Natur“ der Technik, S. 165 f., Halfmann, Technik als Medium, S. 141, Halfmann, Technik und Kausalität, S. 196. 389 Esposito, Computer, S. 340, Anm. 9. 390 Vgl. Esposito, Soziales Vergessen, S. 293 f. 391 Luhmann, Gesellschaft, S. 530. 386 Vgl.
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Durch die Vernetzung von Rechnern in komplexen Datenbanken, ERP-Systemen oder dem Internet werden „die technischen Kopplungen komplex“, was zu einer „selbsterzeugten Ungewißheit“392 der Computertechnik führt. Angesichts dessen unterscheidet Luhmann Oberfläche und Tiefe des Computers: „Vor allem aber ändert der Computer, verglichen mit dem, was in der Tradition über Religion und über Kunst definiert war, das Verhältnis von (zugänglicher) Oberfläche und Tiefe. […] Die Oberfläche ist jetzt der Bildschirm mit extrem beschränkter Inanspruchnahme menschlicher Sinne, die Tiefe dagegen die unsichtbare Maschine, die heute in der Lage ist, sich selbst von Moment zu Moment umzukonstruieren, zum Beispiel in Reaktion auf Benutzung.“393
Diese Unterscheidung gilt zwar bereits für den einzelnen Rechner, scheint aber erst im Zuge der Verbreitung von Rechnernetzen zum Tragen zu kommen. Der Computer radikalisiert das Moment der Dekontextualisierung der Information. Die „durch Computer vermittelte Kommunikation […] ermöglicht es, die Eingabe von Daten in den Computer und das Abrufen von Informationen so weit zu trennen, daß keinerlei Identität mehr besteht. Im Zusammenhang mit Kommunikation heißt dies, daß die Einheit von Mitteilung und Verstehen aufgegeben wird. Wer etwas eingibt, weiß nicht (und wenn er es wüßte, brauchte er den Computer nicht), was auf der anderen Seite entnommen wird. Die Daten sind inzwischen ‚verarbeitet‘ worden. Und ebensowenig muß der Empfänger wissen, ob etwas und was ihm mitgeteilt werden sollte.“394
Luhmann sieht im Computer, weil dessen Rechenoperationen in der ‚Tiefe‘ der ‚unsichtbaren Maschine‘ einerseits intransparent bleiben, andererseits aber informativ sein können, eine „Alternative zur strukturellen Kopplung Bewußtsein/ Kommunikation, die sich gegenwärtig bereits andeutet, aber unabschätzbare Folgen haben würde“395. Denkbar sind beide Kombinationen: Bewußtsein/Rechner, Kommunikation/Rechner. Schematisch kann man sagen, daß die vorgestellten Kopplungen komplementär aufeinander verweisen: Bewußtsein kann Kommunikation nur an der Stelle der Mitteilung und des Verstehens irritieren, nicht aber als Bewußtsein an der Stelle der Information; dann würde es nicht als Bewußtsein relevant, sondern nur als Thema der Kommunikation. Der Computer hingegen kann nur an der Stelle der Information ansetzen, sofern man nicht so weit gehen will, dem Rechner selbst echte Selbstreferenz und Kontextkontrolle zuzuschreiben.396
392 Miebach, Computer und soziale Systeme, S. 106 mit Luhmann, Organisation und Entscheidung, S. 374. 393 Luhmann, Gesellschaft, S. 304. Vgl. dazu Esposito, Was man von den unsichtbaren Medien sehen kann. 394 Luhmann, Gesellschaft, S. 309. Dieses Zitat ist so oder ähnlich bereits 1989 in einem Manuskript Luhmanns mit dem Titel Theorie der Gesellschaft enthalten (vgl. das Zitat und die Literaturangabe bei Halfmann, Die gesellschaftliche „Natur“ der Technik, S. 141). 395 Luhmann, Gesellschaft, S. 117. 396 Diesen Schritt geht zum Beispiel Dirk Baecker, Toward Next Society.
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An dieser Stelle lohnt sich ein Blick in das in dieser Debatte wiederholt zitierte Buch Das Bewußtsein der Maschinen von Gotthard Günther.397 Günther geht ebenfalls von der prinzipiellen Intransparenz der Rechenmaschine aus, das heißt er arbeitet in gewisser Weise ebenfalls mit der Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe. Er formuliert diese Intransparenz mit einem funktional verstandenen Begriff der Transzendenz, wenn er mit Bezug auf die Informationsverarbeitung im kybernetischen Mechanismus sagt: „der Reflexionsprozeß, resp. die Information, verfügt über eine arteigene Transzendenz. Eine Transzendenz besitzen aber heißt einen unerreichbaren Grund zu haben“398. Günther sieht ebenfalls, daß sich damit ein Zurechnungsproblem stellt.399 Sein Punkt ist aber, die Spezifik des fraglichen „Bewußtseins der Maschinen“ sowohl von Ich- als auch von Du-Bewußtsein zu unterscheiden. Günther gelangt so zu einer nicht aufeinander rückführbaren Dreistelligkeit von Ich, Du und Rechner, wobei schon bei Günther der Witz darin besteht, daß die Aktivität des ‚transklassischen‘ Mechanismus nicht in der Kommunikation von Ich und Du aufgeht und als „unerledigter Reflexionsrest“400 als Informationsquelle für die Kommunikation von Ich und Du dienen kann. Es kommt nun der Schnittstelle zwischen Computer und sinnprozessierendem System, dem Interface, eine zentrale Bedeutung zu.401 Soziologisch gesehen können, weil sowohl der Computer als auch die psychischen Systeme black-boxPhänomene sind, die Oberflächen der Computer als „Quasi-Personen“402 behandelt werden.403 Es gibt allerdings keine Kommunikation mit Computern, wie es etwa 397 Günther, Bewußtsein der Maschinen. Vgl. z. B. Luhmann, Gesellschaft, S. 305, Esposito, Computer, S. 339 u. 348, Esposito, Soziales Vergessen, S. 295 u. 355. 398 Günther, Bewußtsein der Maschinen, S. 31. 399 Vgl. Günther, Bewußtsein der Maschinen, S. 46. 400 Günther, Bewußtsein der Maschinen, S. 61. 401 Esposito, Strukturelle Kopplung, S. 250 f., Esposito, Soziales Vergessen, S. 348. 402 Esposito, Strukturelle Kopplung, S. 248. 403 Hieran knüpft sich die Diskussion der auf Mensch und Technik ‚verteilten‘ Intelligenz bzw. Handlungsträgerschaften in ‚hybriden soziotechnischen Netzwerken‘. Vgl. z. B. Latour, Wir sind nie modern gewesen, Rammert/Schulz-Schaeffer, Technik und Handeln. Werner Rammert etwa führt dies aufseiten der Technik erstens auf eine technische „systemumweltbezogene Intelligenz“, also auf die Möglichkeit der Rückwirkung von Umweltbedingungen auf technische Abläufe (Rückkopplung), zweitens auf die Möglichkeit der Kooperation unterschiedlicher technischer Instanzen miteinander sowie drittens darauf zurück, daß „Softwareprogramme […] als Interface-Agenten Fähigkeiten zum Nachfragen, Schlussfolgern und Lernen in der Interaktivität mit dem menschlichen Akteur zeigen“ (Rammert, Zukunft der künstlichen Intelligenz, S. 174). Das von Rammert und Ingo Schulz- Schaeffer entwickelte Konzept des ‚gradualisierten‘ Handelns entspricht diesen drei Stufen der Handlungszuschreibung auf Technik. Ausgehend von den drei Ebenen des Handelns nach Giddens, Konstitution, S. 55 – 67, das heißt des handelnden Bewirkens einer Veränderung, der Kontingenz sowie schließlich der Reflexivität des Handelns (vgl. Rammert/ Schulz-Schaeffer, Technik und Handeln, S. 113), wird gezeigt, daß technische Abläufe als black box problemlos so beobachtet werden können, als ob sie (letztlich: intentional) handelten: „Das heißt wir plädieren dafür, das Augenmerk auf die empirisch beobachtbaren
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von Dirk Baecker behauptet wird.404 Denn der Computer – auch wenn es ein aus einer Vielzahl von Prozessoren zusammengeschalteter Hochleistungsrechner mit Billiarden von Rechenoperationen pro Sekunde ist – arbeitet auf der Grundlage seiner Operationen kausal. Seine Operationen sind niemals Ereignisse nach der Art der Elemente sinnverarbeitender Systeme. Baeckers Theorie des Rechnens, welche sich als Theorie der temporalisierten Formen versteht und sich mit der Frage beschäftigt, auf welche Weise die kybernetische Kenntnis von Rückkopplungsmegesellschaftlichen Praktiken der Verwendung intentionaler Begriffe bei der Steuerung und Interpretation menschlichen wie technischen Verhaltens zu richten.“ (ebd., S. 115) Die Autoren machen sich also den Zurechnungsmechanismus sozialer Systeme wissenschaftlich zu eigen, indem sie ihn aus dem ihn konstituierenden Zusammenhang des sozialen Systems herausziehen. Um noch einmal auf Gotthard Günthers Überlegungen zum Bewußtsein der Maschinen zu kommen, läßt sich bereits hier sagen, daß in Rammerts und Schulz-Schaeffers Vorgehen das dieser Problematik – auch nach Luhmann – zugrundeliegende Reflexionsproblem systematisch ausgeblendet wird. Der reflexionstheoretisch beschreibbare Unterschied zwischen Ich, Du und Rechner wird verwischt, weshalb Günther schon in den 50er Jahren die methodische Option der ‚Verteilung‘ der Handlungszuschreibung zurückwies, weil man sich die technische Informationsverarbeitung – die sich, wie auch Rammert und Schulz-Schaeffer sehen, „weder ganz auf reine Objektivität noch ganz auf reine Subjektivität reduzieren läßt“ – „auch dadurch nicht beikommen kann, daß man sie [gemeint ist die „metaphysische Komponente“ im Sinne der „dritten Transzendenz“, die Günther in der technischen Informationsverarbeitung aufweisen wollte, AH] aufspaltet und partiell auf Subjekt und Objekt verteilt“ (Günther, Bewußtsein der Maschinen, S. 25), weil diese Verteilung trotz aller anderslautenden Rhetorik dem Subjekt-Objekt-Schema verhaftet bleibt. Aus systemtheoretischer Sicht handelt es sich beim ‚gradualisierten‘ Handlungsbegriff um ein methodisches Konzept, das auf einer Beschneidung der theoretischen Grundlage beruht: es ermöglicht empirische Forschung, aber „ohne Ansehen der Einheit, die agiert“ (Rammert/ Schulz-Schaeffer, Technik und Handeln, S. 115), das heißt ohne eigentliche Gegenstandsbestimmung. Deshalb lehnen Rammert und Schulz-Schaeffer das als „rein“ verstandene Theorem doppelter Kontingenz ab (vgl. ebd., S. 95), während sie zugleich „nicht umhin [kommen], mit Luhmann für jegliches menschliches [sic, AH] Handeln zu konstatieren: ‚Handlungen werden durch Zurechnungsprozesse konstituiert‘“ (ebd., S. 117; vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 228). Deshalb ist den Autoren zuzustimmen, daß ihr Konzept gradualisierten Handelns nichts mit einer „Verwirrung von Begriffen“ zu tun habe oder gar bloß dem „Geltungsdrang technologischer Pioniere“ (Rammert/Schulz-Schaeffer, Technik und Handeln, S. 93) erliege. Allerdings handelt es sich um eine pragmatistische Überdehnung einer empirischen Methode zuungunsten der Theorie. Das Konzept gradualisierten Handelns ermöglicht die empirische Erforschung empirisch zugerechneter Handlungsinstanzen, erkauft sich dies aber mit einer theoretischen Indifferenz gegen die Beobachtung erster und zweiter Ordnung, denn „[o]bwohl man auf der Ebene der Beobachtung erster Ordnung ‚mit‘ dem Computer kommunizieren kann, weiß man auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung, daß es sich um eine Maschine handelt“ (Esposito, Strukturelle Kopplung, S. 248). Die Theorie gradualisierten Handelns bleibt so letztlich auf der Beobachtungsebene erster Ordnung verhaftet. 404 „With the machine, it is a two-way, an interactive communication […] complete with double contingency we have to deal with.“ (Baecker, Communication with Computers, S. 412).
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chanismen zur Kontrolle von Kommunikation beitragen könnte,405 scheitert bereits an der Temporalisierung der Elemente sozialer Systeme, der Baeckers Ausgangspunkt, der Begriff der Kreiskausalität, nicht gewachsen ist.406 Mit der Vernetzung der Rechner kommt es jedoch zu einem soziologisch relevanten Problem, das Elena Esposito mit dem Ausdruck der „virtuellen Kontingenz“407 bezeichnet hat. Zur Erläuterung stellt Esposito im Anschluß an Luhmanns Theorie der Verbreitungsmedien den Computer in eine Reihe mit Schrift und Buchdruck und betrachtet jeweils das Verhältnis von Information und Mitteilung.408 Schrift entkoppelt im Vergleich zur mündlichen Kommunikation die Mitteilung vom Verstehen: während im Verstehen mündlicher Kommunikation die Mitteilung immer an die unmittelbare Anwesenheit der Beteiligten und ihre wechselseitige Wahrnehmung gebunden ist, stellt schriftliche Kommunikation die Erreichbarkeit auch unter Abwesenheit sicher. Die Folge ist, daß der Kontext der Textproduktion keinen Einfluß mehr auf das Verstehen nehmen kann, was die Mitteilung zu stärkerer Explizitheit und Abstraktion zwingt.409 Verstärkt wird dieser Effekt durch den Buchdruck, der schließlich deswegen zur Erfindung der Autorschaft führt, weil sich an die Identität des Autors Rekontextualisierungsmöglichkeiten für das Verstehen knüpfen lassen:410 seine soziale Position und seine Fähigkeiten, unterstellte Motive und Interessen, Überredungs- und Täuschungsabsichten etc. geben Hinweise auf den Kontext der Mitteilung und liefern so ein Selektionskriterium für das Verstehen der mitgeteilten Information. Autorschaft steht für die Erwartung der Eindeutigkeit der mitgeteilten Information. Mit dem Computer fällt diese Selektionsstütze der Autorschaft und mit ihr die sachliche Identität der Information. Im kommunikativen Gebrauch des Computers schaltet sich eine virtuelle Kontingenz in die doppelte Kontingenz der Benutzer. Das Problem ist dann, daß die dem Computer entnommenen Informationen keiner Mitteilung(sabsicht) mehr zugerechnet werden können: „Das bedeutet jedoch, daß der Sinn der Kommunikation nicht mehr am Sinn der Mitteilung fixiert werden kann.“411 In dem Maße, wie sich virtuelle Kontingenz in die doppelte Kontingenz einschiebt, wird die Position der Mitteilung „immer unbestimmter […]. Man könnte sagen, daß die Information von der Mitteilung unterschieden wird, aber ohne
405 Vgl.
Baecker, Rechnen lernen, S. 278 f. Denn „Theorien, die einer solchen Zirkularität grundlegende Bedeutung zusprechen, zum Beispiel Theorien kybernetischer Regulierung, übersehen die zeitliche ‚Nichtigkeit‘ der Elemente. Ereignisse verschwinden, indem sie entstehen; sie stehen daher schon im nächsten Moment für eine Zurückwirkung nicht mehr zur Verfügung“ (Luhmann, Soziale Systeme, S. 608). 407 Vgl. Esposito, Computer, S. 350, Esposito, Soziales Vergessen, S. 303. 408 Vgl. Esposito, Computer. 409 Vgl. Esposito, Computer, S. 342. Vgl. dazu auch Giesecke, Sinnenwandel. 410 Vgl. Esposito, Computer, S. 343 f. 411 Esposito, Computer, S. 345. 406
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daß dies mit dem Bezug auf einen Mitteilenden zusammenhängt.“412 Sinkt die Mitteilungskomponente in die Unbestimmtheit, wird die Informativität tendenziell unendlich bzw. anders gesagt, verliert sie ihren Charakter der Information. Anders formuliert: wenn die Unterstellung einer Mitteilungshandlung nicht mehr informativ ist, stellt sich die Frage nach anderen Selektionskriterien für das Verstehen. Dies betrifft aber den Kommunikationsbegriff selbst, denn über die Unterstellung von Mitteilungshandlungen läuft bekanntlich die basale Selbstreferenz der Kommunikation, über Adressen aber die Bildung von Erwartungserwartungen.413 In seiner Einführung in die Systemtheorie stellt Luhmann deshalb seinen Kommunikationsbegriff zur Disposition: Er wisse „überhaupt keine Antwort“ auf die „ganz offene Frage […], ob wir mit Kommunikation auch dann noch rechnen, wenn auf Serialität verzichtet wird, wenn man Computerinformationssysteme hat, aus denen man sich fallweise etwas heraussucht, das man selbst dann neu kombiniert, und in denen nicht ein Satz auf den anderen folgt, sondern eine Information da ist und dann ein Spektrum von Verweisungen auf andere Informationen. […] Wer kommuniziert jetzt mit wem? Eignet sich unser Begriff überhaupt noch dafür? Oder sind wir an einer Schwelle, wo man sieht, dass wichtige Informationsverarbeitungsverfahren unserer Gesellschaft schon nicht mehr als Kommunikation klassifiziert werden? Oder müssen wir den Begriff neu bilden, aber wie?“414
Diese Erwägungen sind von Dirk Baecker aufgegriffen worden. Auch er sieht, „daß das Verbreitungsmedium Computer die Möglichkeit des Kommunikationsbegriffs im Kern berührt“415. Baecker vermutet, Luhmann habe mit der Möglichkeit struktureller Kopplungen mit datenverarbeitenden Maschinen eine in seine Gesellschaftstheorie eingebaute „Unbestimmtheitsstelle“416 markiert. Diese Unbestimmtheitsstelle gleiche einem „Test auf die Brauchbarkeit seiner Theorie“, an dem sie „scheitern kann“417. In der hier vertretenen Sichtweise bedeutet die Infragestellung der Kommunikation und des Kommunikationsbegriffs die potentielle Ersetzbarkeit der Kommunikation als Lösung des Problems der doppelten Kontingenz, die von der Kommunikation her als Gefährdung kommunikativer bzw. psychischer Selektionsfähigkeit und Anschlußfähigkeit beobachtbar ist.418 Virtuelle Kontingenz erweist sich als Reflexionsbegriff der doppelten Kontingenz. Entsprechend der oben herangezogenen Bestimmung Luhmanns419 kommt einem Reflexionsbegriff die Funktion zu, die Sachverhalte, welche unter seinen Gegenbegriff, das heißt hier: unter den Begriff 412
Esposito, Computer, S. 351. Luhmann, Soziale Systeme, S. 182 ff., 191 ff. u. 415. 414 Luhmann, Einführung in die Systemtheorie, S. 314. 415 Baecker, Niklas Luhmann in der Gesellschaft der Computer, S. 606. 416 Luhmann, Gesellschaft, S. 118. 417 Baecker, Niklas Luhmann in der Gesellschaft der Computer, S. 600 f. 418 Vgl. Esposito, Computer, S. 352. 419 Vgl. Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 32. 413
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der doppelten Kontingenz fallen, kontingent zu setzen. Virtuelle Kontingenz als Reflexionsbegriff setzt mithin Kommunikation kontingent. Daß Kommunikation in Frage gestellt werden könnte, ist jedoch kein Problem, das man im Rahmen der allgemeinen Theorie sozialer Systeme thematisieren könnte. Es zeigt sich erst angesichts der Möglichkeit einer Katastrophe der Gesellschaft unter den Bedingungen der Computertechnologie. Die Parallele zur katastrophenträchtigen Hochtechnologie liegt darin, daß Katastrophen, wie gezeigt, keinen Informationswert haben und damit auch nicht Inhalt einer Mitteilung sein können; ganz ähnlich sabotiert der Computer die Mitteilung und im selben Zuge die Information. Beide Versionen des ökologischen Problems stellen sowohl die Operation Kommunikation wie auch die Bildung von Systemen in Frage. Wie Luhmann für das Risiko einen „Übergang[] auf eine zweite oder dritte Ebene des Beobachtens“420 andeutet, betont Esposito, daß das von der Rechnertechnik aufgeworfene Problem mit der Beobachtung zweiter Ordnung nicht ausreichend beschreibbar ist, sondern auf eine (dann jedoch nicht weiter steigerbare) Beobachtung dritter Ordnung verweist.421 Exklusion, Risiko und Ökologie sind demnach Reflexionsbegriffe, die die Operation und Struktur der modernen Gesellschaft, das heißt Kommunikation und funktionale Differenzierung kontingent setzen. Sie weisen jeweils auf ‚Unbestimmtheitsstellen‘ der Gesellschaft und der Systemtheorie hin. Wir wenden uns deshalb im nächsten Kapitel dem systemtheoretischen Reflexionsbegriff zu.
420 421
Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 27. Esposito, Reflexionsprobleme, Esposito, Soziales Vergessen, S. 290 f., 327 ff.
II. Das Problem der Reflexion
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II. Das Problem der Reflexion Das erste Kapitel hat ergeben, daß die drei systemtheoretischen Grenzprobleme als Restprobleme nicht einfach destruktiv auf soziale Systeme wirken, sondern die Bestimmtheit der operativen Grundlage sozialer Systeme gefährden. Ausgehend von der Annahme, die gesellschaftlichen Grenzprobleme Exklusion, Risiko und Ökologie seien Reflexionsprobleme,1 gehen wir in diesem Kapitel dem systemtheoretischen Zusammenhang zwischen der Reflexion und den Konstitutionsbedingungen sozialer Systeme nach. Wir suchen also einen Weg von der Gesellschaftstheorie zur Sozialtheorie. 1. Der systemtheoretische Begriff der Reflexion Der systemtheoretische Begriff der Reflexion ist abhängig vom Begriff der Selbstreferenz als dem Grundbegriff der allgemeinen Theorie sozialer Systeme. Sozialität konstituiert sich selbstreferentiell: „Die Theorie selbstreferentieller Systeme behauptet, daß eine Ausdifferenzierung von Systemen nur durch Selbstreferenz zustandekommen kann, das heißt dadurch, daß die Systeme in der Konstitution ihrer Elemente und ihrer elementaren Operationen auf sich selbst (sei es auf Elemente desselben Systems, sei es auf Operationen desselben Systems, sei es auf die Einheit desselben Systems) Bezug nehmen.“2
Luhmann unterscheidet drei verschiedene Weisen des Selbstbezugs. Je nachdem, ob das Selbst, auf das referiert wird, als Element, Prozeß oder System unterschieden wird, kann man basale Selbstreferenz, Reflexivität und Reflexion auseinanderhalten.3 Wie Luhmann betont, sind alle im folgenden zu schildernden Formen von Selbstreferenz „immer nur mitlaufende Selbstreferenz“4. Selbstreferenz kommt nicht in reiner Form vor, sondern immer nur im Zusammenhang mit der Referenz auf anderes. Die Einheit sozialer Systeme konstituiert sich durch basale Selbstreferenz in der Form doppelter Kontingenz. Basale Selbstreferenz ist die Grundlage der rekursiven Verkettung elementarer Operationen, das heißt im Falle sozialer Systeme von Kommunikationen.5 Ihr liegt die Unterscheidung von Element und Relation zugrunde.6 Luhmann entfaltet sie anhand der Unterscheidung von Kommunikation und Handlung sowie anhand der Unterscheidung von Ereignis und Struktur.7 Die selbstreferentielle Konstitution der Einheit sozialer Systeme ist ihrer (Selbst-) 1 Vgl.
Esposito, Reflexionsprobleme. Luhmann, Soziale Systeme, S. 25. 3 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 25 f. u. 599 ff. 4 Luhmann, Soziale Systeme, S. 604. 5 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 600. 6 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 600. 7 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 148 ff. u. 191 ff. sowie S. 377 ff. 2
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Beobachtung und -beschreibung systematisch vorgeordnet. Deshalb unterscheidet Luhmann Referenz und Beobachtung. Der Begriff der Referenz rückt zwar „in die Nähe des Begriffs der Beobachtung“8, bleibt aber von diesem unterschieden. Nach Luhmann ist diese „terminologische Trennung wichtig“, weil Beobachten zusätzlich das Interesse an Informationsgewinnung erfordert: „Das Referieren wird zum Beobachten, wenn die Unterscheidung zur Gewinnung von Informationen über das Bezeichnete genutzt wird.“9 Reflexivität ist prozessuale Selbstreferenz, das heißt, sie benutzt die Unterscheidung von vorher und nachher, um sich selbst als Prozeß zu beobachten.10 Durch Kommunikation über Kommunikationsprozesse oder Beobachtung von Beobachtungen (Beobachtung zweiter Ordnung) werden mehrere Ereignisse zusammengefaßt. Wichtig ist hierbei, daß Reflexivität nicht nur ein ‚Sprechen über‘ meint, sondern ein Mechanismus ist, in dem die Prozeßtypik selbst reflexiv wird, also etwa als Lernen des Lernens oder als Machtanwendung auf den Machthaber.11 Im reflexiven Gebrauch wird jedoch nicht die System/Umwelt-Unterscheidung als solche eingeholt. Das versucht erst Reflexion. Reflexion thematisiert die Einheit des Systems als Identität.12 Reflexion bezeichnet anhand der Unterscheidung von System und Umwelt das System, es fallen also Selbstreferenz und Systemreferenz zusammen.13 Die Bezeichnung der Einheit des Systems als Identität ist nach Luhmann eine besondere Operation des Systems. Anders als bei der basalen Selbstreferenz handelt es sich bei Reflexion „ähnlich wie im Falle der Reflexivität […] nicht um eine allgemeine Eigenart aller sozialen Systeme, sondern um eine Sonderleistung, die nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich ist“14. Weil die Bezeichnung der Identität nur im Rahmen einer Unterscheidung stattfinden kann, ist sie notwendig eine Differenzsetzung und somit eine Simplifikation.15 Reflexion sozialer Systeme findet formal als Selbstbeobachtung oder Selbstbeschreibung statt. Reflexion im engeren Sinne setzt bestimmte Semantiken voraus, die das Verhältnis des Systems zur Umwelt repräsentieren können.16 Der Wieder8
Luhmann, Soziale Systeme, S. 596. Luhmann, Soziale Systeme, S. 596 f. 10 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 601. 11 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 610 ff. Vgl. auch Luhmann, Reflexive Mechanismen. 12 Vgl. zur Unterscheidung von Einheit und Identität Luhmann, Wissenschaft, S. 481 ff. mit Verweis auf die Unterscheidung von (basaler) Selbstreferenz und Reflexion bei Luhmann, Soziale Systeme, S. 599 ff. Vgl. auch Göbel, Theoriegenese, S. 12, 18, 216 f., Göbel, Konstruktivismus u. Göbel, Société perdu?. 13 Luhmann, Soziale Systeme, S. 601 f. 14 Luhmann, Soziale Systeme, S. 617. Vgl. auch Luhmann, Wissenschaft, S. 481. 15 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 624. 16 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 619. 9
II. Das Problem der Reflexion
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eintritt der System/Umwelt-Unterscheidung ins System kann zu rationalem Verhalten im Sinne der Systemtheorie führen, wenn die Einheit der Differenz von System und Umwelt im System zur Orientierung, das heißt zur Selbstbestimmung, Informationsgewinnung und Anschlußsuche benutzt wird.17 Wie Andreas Göbel herausgearbeitet hat, wird von Luhmann in den auf Soziale Systeme folgenden Arbeiten „der Begriff der Reflexion des Systems im System mit Hilfe des Beobachtungsbegriffs systematisiert“18, dem wir uns im folgenden zuwenden. a) Reflexion als Beobachtung dritter Ordnung Luhmanns Beobachtungstheorie beginnt mit der Entscheidung, den „Ausgangspunkt […] in der empirischen Faktizität des Beobachtens“19 anzusiedeln. Diese theoriestrategische Ausgangsentscheidung ist gegen transzendentale Theorien des Erkennens und Handelns gerichtet: „Im Gegensatz zum Transzendentalismus wird bestritten, daß es Unbedingtes überhaupt geben kann. Und an die Stelle, an welcher der Transzendentaltheoretiker im Reich der Freiheit nach unbedingt gewissen Grundlagen aller empirisch abhängigen Erkenntnis suchen würde, tritt in der Kybernetik der Beobachtungsverhältnisse die Anweisung: beobachte den Beobachter. Grundlage aller folgenden Überlegungen ist somit der Verzicht auf die Unterscheidung empirisch/transzendental und die Gegenbehauptung, daß alles Beobachten durch einen Beobachter, also als System durchgeführt werden muß und deshalb beobachtbar ist.“20
Luhmann wendet sich also gegen einen nicht näher analysierten transzendentaltheoretischen Anspruch auf Unbedingtheit, den er durch eine Logik rekursiver Beobachtungen ersetzt. An die Stelle der Unterscheidung von empirisch und transzendental tritt in der Systemtheorie die Unterscheidung von Operation und Be-
17 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 617, 638 ff., bes. 640, u. Luhmann, Wissenschaft, S. 482. 18 Göbel, Theoriegenese, S. 234. Dies reagiert nach Göbel auf das Problem, daß Luhmann mithilfe des Begriffs der Reflexionstheorie seine Behauptung nicht zureichend begründen kann, daß „Reflexionstheorien […] nicht nur Theorien [sind], die Selbstreferenz als Identität des Systems reflektieren“, sondern „selbst auch ein Moment selbstreferentieller Autopoiesis [sind]. Sie betreiben, was sie beschreiben, selbst.“ (Luhmann, Soziale Systeme, S. 647) Dazu reiche, so Göbel, der Hinweis nicht aus, daß sowohl die Autopoiesis als auch die Reflexion der Autopoiesis in Form von Kommunikation geschieht, sondern die Frage ist, wie eine bestimmte Reflexionstheorie, etwa des Wirtschaftssystems, mit dessen funktionssystemspezifisch bestimmten Operationen, im Fall des Beispiels Wirtschaft also Zahlungen, in Verbindung steht (vgl. Göbel, Theoriegenese, S. 234 ff.). Die Antwort auf diese Frage liefere, ausgehend von Luhmanns Beobachtungstheorie, der Begriff der Beobachtung dritter Ordnung. 19 Luhmann, Wissenschaft, S. 77. 20 Luhmann, Wissenschaft, S. 76.
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obachtung.21 Beobachtungen sind selbst empirische, ihrerseits beobachtbare Operationen. Ihre Funktion ist die „Gewinnung von Informationen“22. Beobachten ist genauer die empirische, in der Welt vorkommende „Operation des Unterscheidens und Bezeichnens“23. Unterscheidungen sind zweiseitige Formen. Die Unterscheidung, die operativ als Einheit fungiert, „ist der Grund der Beobachtung“24, weil nur innerhalb ihrer Form die eine und nicht die andere Seite bezeichnet werden kann. Realität kommt deshalb dem operativen Einsatz der Unterscheidung zu,25 während die Bezeichnung die Referenz der Beobachtung leistet.26 Der Beobachtungsbegriff impliziert also die Unterscheidung von Operation und Beobachtung.27 Auf der Ebene der Systembildung ersetzt die „Unterscheidung von Operation und Struktur“28 – als Variante der Unterscheidung von Operation und Beobachtung in Gestalt der Unterscheidung von Erkennen (Operation) und Wissen (Struktur) – zugleich die Unterscheidung von Subjekt und Objekt.29 An die Stelle des Begriffs des Subjekts tritt der allgemeinere, nicht nur auf Bewußtsein beschränkte Begriff der Systemreferenz.30 Der Beobachtungsbegriff impliziert weiterhin die Verknüpfung von Gleichzeitigkeit und Sequenz.31 Einerseits sind die beiden Seiten der Unterscheidung im Vollzug der Beobachtung gleichzeitig gegeben; andererseits sind die Seiten der Unterscheidung qua Bezeichnung nur sequentiell referierbar.32 Weil im Moment des Unterscheidens und Bezeichnens die Unterscheidung selbst nicht bezeichnet werden kann, hängt die Kontrolle der Unterscheidung von einer zweiten Beobachtung ab (die von demselben oder einem anderen Beobachter unternommen werden kann), welche die Unterscheidung des ersten Beobachters beobachtet.33 Eine solche Beobachtung zweiter Ordnung beobachtet nicht nur den Beobachter als bloße Operation oder als Ding (etwa als Mensch), sondern muß die vom beobachteten Beobachter verwendete Unterscheidung von anderen (möglichen) Unterscheidungen unterscheiden und bezeichnen können.34 Sie setzt also die Unterscheidung des Beobachters erster Ordnung (der sie selbst sein kann) kontingent. Daraus folgt, daß 21 Vgl.
Luhmann, Wissenschaft, S. 514. Luhmann, Soziale Systeme, S. 597. 23 Luhmann, Wissenschaft, S. 73. 24 Luhmann, Wissenschaft, S. 84. 25 Vgl. Luhmann, Wissenschaft, S. 78. 26 Vgl. Luhmann, Wissenschaft, S. 76, 78 u. 183. 27 Luhmann, Wissenschaft, S. 77 f., 114 ff. 28 Luhmann, Wissenschaft, S. 78. 29 Vgl. Luhmann, Wissenschaft, S. 78 f. 30 Vgl. Luhmann, Wissenschaft, S. 128. 31 Vgl. Luhmann, Wissenschaft, S. 80 f. 32 Vgl. Luhmann, Wissenschaft, S. 80. Vgl. auch ebd., S. 76, 78, 115 u. 117. 33 Vgl. Luhmann, Wissenschaft, S. 77, 87 f. 34 Vgl. Luhmann, Wissenschaft, S. 526. 22
II. Das Problem der Reflexion
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eine Beobachtung zweiter Ordnung beide Seiten einer beobachteten Unterscheidung bezeichnen können muß. Erst hier gibt es also Begriffe, wenn Begriffe mit Luhmann dadurch bestimmt sind, daß sie die andere Seite des durch sie Bezeichneten ebenfalls bezeichnen können (außer im Vollzug selbst). Zugleich verfährt auch die Beobachtung zweiter Ordnung „auf der operativen Ebene naiv […]. Auch ein Beobachten von Beobachtungen von Beobachtungen ist davon nicht befreit. Insofern gibt es keine Reflexivitätshierarchien, mit denen sich das Beobachten von seinem Gegenstand entfernt und sein Verhältnis zur Realität mediatisiert.“35
Auch die Beobachtung zweiter oder dritter Ordnung ist insofern Beobachtung erster Ordnung, als sie die von ihr operativ verwendete Unterscheidung nicht beobachten kann. Der Begriff des Beobachtens zweiter Ordnung verweist auf die Notwendigkeit der Systembildung, was in der modernen Gesellschaft insbesondere Bildung von Funktionssystemen heißt.36 Der Begriff der Reflexion wird beobachtungstheoretisch als Beobachtung dritter Ordnung ausbuchstabiert.37 Sie ist vor allem bedeutsam in Funktionssystemen, da funktionale Differenzierung mit einem gesteigerten „Reflexionsbedarf“38 für die Funktionssysteme einhergeht. Funktionssysteme differenzieren sich durch binäre Codierung aus.39 Die Strukturen der Funktionssysteme beruhen aufgrund ihrer binären Codierung durchweg auf Verhältnissen der Beobachtung zweiter Ordnung.40 Eine Reflexion der Identität des Systems ist als Beobachtung der Beobachtung zweiter Ordnung mithin eine Beobachtung dritter Ordnung: 35 Luhmann, Wissenschaft, S. 85. Luhmann denkt bei den angesprochenen Reflexionshierarchien vermutlich an Hegels Reflexion-in-sich der Reflexion-in-sich und -anderes, welche die unmittelbare Reflexion-in-anderes mittels der Reflexion auf die Reflexion in sich aufhebt und insofern mediatisiert. Vgl. zur dreifachen Stellung des Denkens zur Objektivität bei Hegel siehe Günther, Grundzüge u. Flach, Die dreifache Stellung. 36 „Der Realitätsbezug des Beobachtens liegt in dieser Einheit der Unterscheidung, und er liegt eben damit in der Rekursivität des Beobachtens von Beobachtungen, die allein gewährleisten kann, daß alle Unterscheidungen ihrerseits unterschieden werden können […]. Der Beobachter zweiter Ordnung muß an Beobachtungen erster Ordnung anschließen können. Insofern ist und bleibt er selbst […] Moment desselben Systems rekursiven Beobachtens von Beobachtungen. Wer immer beobachtet, nimmt daran teil – oder er beobachtet nicht. Es gibt keine exemten Positionen, so wenig wie es andererseits Beobachtungen gibt, die nichts unterscheiden, also auch nichts über den Beobachter erkennen lassen. Das Beobachten des Beobachtens ist ein rekursiv-geschlossenes System.“ (Luhmann, Wissenschaft, S. 92 f. u. 86). 37 Vgl. zum Reflexionsbegriff als Beobachtung dritter Ordnung v. a. Göbel, Theoriegenese, S. 234 ff. 38 Luhmann, Wissenschaft, S. 479. 39 Vgl. Luhmann, Distinctions directrices, S. 19. Beispiele für Codes sind die Unterscheidungen wahr/unwahr in der Wissenschaft oder recht/unrecht im Recht. 40 Die Orientierung an dem negativen Codewert erfordert laufende Beobachtung zweiter Ordnung. Vgl. Luhmann, Wissenschaft, S. 484.
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„Identitätsreflexionen […] sind ‚jenseits‘ der Differenz innerhalb der Differenz von positivem und negativem Wert. Sie thematisieren die Einheit der Differenz der beiden Codewerte von Designations- und Reflexionswert innerhalb des durch sie aufgespannten Rahmens. Sie reflektieren auf die Einheit der Differenz, zum Beispiel von wahr und unwahr für das Wissenschaftssystem, auf der Basis eben dieser Differenz.“41
Luhmann greift zur Erläuterung der Beobachtung dritter Ordnung auf eine Frageform zurück, die er der zuvor zurückgewiesenen Transzendentalphilosophie entlehnt, die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit: „Der Beobachter zweiter Ordnung beobachtet sich selbst und andere. Der Beobachter dritter Ordnung fragt, wie dies möglich ist.“42 Luhmann verabschiedet zwar die „Unterscheidung empirisch/transzendental“, nicht aber „die Form der Problemstellung, auf die sich diese Antwort [d. h. die Unterscheidung empirisch/transzendental, AH] bezieht. Sie liegt in der […] Technik, die Frage zu stellen: wie ist dies oder jenes möglich?; und zwar im Hinblick auf Sachverhalte, die unbezweifelbar möglich sind und tatsächlich vorkommen, zum Beispiel Erkenntnis.“43 Der Beobachter dritter Ordnung bezieht sich, indem er die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit stellt, auf „jene Einheit […], die eigenes und fremdes Erkennen zusammenschließt“44, das heißt auf die Einheit sozialer Systeme. b) Das Problem der Einheit sozialer Systeme An dieser Stelle ist zu fragen, was Luhmann unter dem Begriff der Einheit sozialer Systeme versteht. Er beantwortet die Frage nach der Einheit des Systems auf zwei Weisen. Die Einheit des Systems wird einerseits als operative Reproduktion der Einheit der Elemente, das heißt als Kommunikation bestimmt. Das bedeutet, „[d]aß die Einheit des Systems […] letztlich im Vollzug der autopoietischen Reproduktion besteht“45. Andererseits findet sich aber auch eine Bestimmung der Einheit des Systems anhand der Strukturform der Systemdifferenzierung: „In dem Maße, als die Differenzierung auf ein einheitliches Prinzip gebracht wird (zum Beispiel als Hierarchie), kann man deshalb die Einheit des Systems auch am Konstruktionsprinzip seiner Differenzierung ablesen. Das System gewinnt durch Differenzierung an Systematizität, es gewinnt neben seiner bloßen Identität (in Differenz zu anderem) eine Zweitfassung seiner Einheit (in Differenz zu sich selbst).“46
Die beiden Begriffsvarianten können als kommunikationstheoretische und als gesellschaftstheoretische Fassung der Einheit des Systems bezeichnet werden. Dieser Dopplung des Begriffs der Einheit des Systems entspricht die von Andreas Göbel aufgewiesene Aufspaltung des Begriffs der Gesellschaft, den Luhmann einer41
Göbel, Theoriegenese, S. 238. Luhmann, Wissenschaft, S. 499. 43 Luhmann, Wissenschaft, S. 499. 44 Luhmann, Wissenschaft, S. 499. 45 Luhmann, Soziale Systeme, S. 624. Vgl. auch ebd., S. 168 u. 506. 46 Luhmann, Soziale Systeme, S. 38. 42
II. Das Problem der Reflexion
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seits über die Form der gesellschaftlichen Differenzierung, andererseits über den Operationsmodus sozialer Systeme, das heißt über Kommunikation als „Einheit der Gesamtheit des Sozialen“47, bestimmt.48 Die im weiteren zu verfolgende These ist, daß mit dieser Dopplung auch zwei unterschiedliche Aspekte des Begriffs der Reflexion zu unterscheiden sind. Einen Hinweis auf die Triftigkeit der These zweier Aspekte des Reflexionsbegriffs gibt Luhmanns Unterscheidung zweier Hauptprobleme der Reflexion von Systemen. Dabei handelt es sich um „Begründungsprobleme“ und um „Vollständigkeitsprobleme“49. Die Unterscheidung von Begründungs- und Vollständigkeitsproblemen der Reflexion läßt sich auf die Unterscheidung der operativen Einheit der Elemente von der Einheit der Strukturform des Systems abbilden. Luhmann spricht deshalb auch vom „Zwillingsproblem der Zirkularität und der reduktiven Selbstbeschreibung“50. Der Versuch einer Begründungsreflexion der Einheit der Elemente des Systems führt dazu, daß die Reflexion bei der Suche nach einem Grund des Systems lediglich auf eine „fundamentale Zirkularität“51 stößt, weil selbstreferentiell konstituierte Systeme keinen Grund außerhalb ihrer selbst haben.52 Der Versuch der vollständigen Repräsentation des Systems im System muß scheitern, weil jede Reflexion eine besondere, empirische Systemoperation ist, die nicht ohne Erzeugung einer neuen Differenz im System zustandekommt, sodaß die Beschreibung das System „simplifizieren“53 und damit unvollständig bleiben muß. Letzterer Versuch ist die in Selbstbeschreibungen und Reflexionstheorien formulierte Identitätsreflexion, auf welche sich die bisherige Darstellung des systemtheoretischen Verständnisses der Reflexion beschränkt hat. Die Begründungsreflexion hingegen wurde bislang noch nicht angesprochen. Die Identitätsreflexion kann sich als Reflexion des Funktionssystemcodes nur auf die Einheit der Struktur des Systems, aber nicht auf die Einheit seiner Elemente beziehen. Allerdings ist diese Interpretation alles andere als eindeutig. Denn Luhmann behauptet zugleich, die Beobachtung dritter Ordnung ziele auf die „Erklärung der Autopoiesis eines Systems“54, sie suche eine Antwort auf die Frage, „wie sich auf Grund der Beobachtung von Beobachtungen Systeme bilden“55.
47
Luhmann, Soziale Systeme, S. 555. Göbel, Theoriegenese, S. 123 u. Göbel, Konstruktivismus. 49 Luhmann, Wissenschaft, S. 471. 50 Luhmann, Wissenschaft, S. 470. 51 Luhmann, Wissenschaft, S. 469. 52 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 173. 53 Luhmann, Wissenschaft, S. 471. 54 Luhmann, Wissenschaft, S. 515. 55 Luhmann, Wissenschaft, S. 499. 48 Vgl.
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c) Systemtheorie und Transzendentaltheorie Die Schwierigkeiten mit dem Begriff der Reflexion resultieren daraus, daß Luhmann nur den gesellschaftstheoretischen Aspekt der Identitätsreflexion deutlich genug als Form der Reflexion expliziert, während den Begründungsproblemen als Aspekt der Reflexion weniger Beachtung geschenkt wird. Zur genaueren Klärung des Begriffs der Reflexion beleuchten wir im folgenden die laut Luhmann neben der Systemtheorie „wichtigsten Theorieangebote[]“ im Problembereich der Selbstreferenz und Reflexion, „Transzendentaltheorie“ und „Dialektik“56 (bzw. Idealismus). Insbesondere die Transzendentaltheorie bietet für die Systemtheorie „ein gutes Modell für Selbstreferenztheorien“57, das sich nach Luhmann auf organische und soziale Systeme übertragen läßt. Deshalb überrascht es nicht, daß die Unterscheidung von Begründungsproblemen und Vollständigkeitsproblemen der Reflexion auch der Transzendentalphilosophie geläufig ist, wo sie der Unterscheidung von Konstitution (Begründung) und Regulation (Vollständigkeit) entspricht.58 56
Luhmann, Soziale Systeme, S. 607. Luhmann, Soziale Systeme, S. 607. 58 Diese beiden Probleme stammen aus der Tradition der ontotheologischen Metaphysik, die das notwendige Wesen (ens necessarium) und das vollkommene Wesen (omnitudo realitatis) unterscheidet. Dementsprechend werden in den Versuchen, das Dasein Gottes zu beweisen, um die Kluft zwischen Sein und Denken zu überbrücken, zwei unterschiedliche Gottesbegriffe gebildet: „Im ersten ontologischen Argument wird Gott als ein Wesen gedacht, über das hinaus man kein größeres zu Denken vermag. Größe bedeutet hier nicht Quantität der Ausdehnung, sondern der Essentia. In Gottes Wesen sind alle positiven Bestimmungen der Wirklichkeit und des Möglichen vereinigt.“ (Henrich, Gottesbeweis, S. 3) „Das zweite ontologische Argument geht davon aus, daß wir Gott im Unterschied zu allem Endlichen als ein Wesen vorstellen, das notwendig da ist. Notwendig ist, was in seinem Sein und seinem Wirken nur von sich selbst abhängt. Wäre es durch ein anderes geschaffen, so stünde es in dessen Gewalt, wäre es durch Zufall da, so wäre es seines Daseins nicht mächtig. Von diesem Gott wird deshalb auch gesagt, daß er causa sui ist.“ (ebd., S. 4) Kant hat die Zusammengehörigkeit dieser beiden Argumente in den verschiedenen Formen des ontologischen Gottesbeweises, den dieser in der Geschichte der ontotheologischen Metaphysik angenommen hat, aufgezeigt: „Kant hat ihre Entwicklung auf einer höheren Reflexionsstufe wiederholt, und er hat eine Theorie ihrer Entwicklung entworfen. Sie ist zugleich die Voraussetzung und der wesentlichste Inhalt seiner Kritik, nicht nur der des ontologischen Gottesbeweises, sondern der aller rationalen Gotteserkenntnis“ (ebd., S. 140): „Der ontologische Gottesbeweis ist eigentlich nichts anderes als eine Bestimmung des Begriffs des absolut Notwendigen seinem Inhalt nach.“ (ebd., S. 158) Kant zeigt, daß dies unmöglich ist. Er ist der erste Denker in dieser Tradition, der den Zusammenhang von Sein und Denken allein in der Autonomie der endlichen Vernunft, das heißt ohne einen rational konstruierten „Gott“ als Dritten als Stifter des Rationalitätskontinuums, begründen kann. „Gott“ hat hier nur sehr wenig mit dem Gott irgendeiner Religion zu tun, sondern ist ein funktionaler, bestimmungstheoretisch notwendiger Abschlußbegriff ontotheologischer Theorien (vgl. Röd, Der Gott der reinen Vernunft). Kant beendet die Tradition der Ontotheologie, indem er ihre Problembezüge auf der neuen Grundlage seiner transzendentalen Erkenntnistheorie reformuliert. Umgekehrt kann man dann nach Kant die Ontotheologie auch als „kryptognoseologischen Traktat“ (Hiltscher, Der ontologische Gottesbeweis), das heißt als Beitrag 57
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Luhmann bezeichnet Transzendentaltheorie und Dialektik im Verhältnis zur funktionalistischen Systemtheorie als „Theorie-Varianten“59, die im „Theorem der mitlaufenden Selbstreferenz“60 einen gemeinsamen Ausgangspunkt haben.61 Er nimmt aber von beiden Theorien als solchen Abstand, weil die Transzendentalphilosophie auf die „falsche Verabsolutierung nur einer Systemreferenz“62, nämlich des Bewußtseins, beschränkt ist; der dialektische Idealismus wiederum glaubt „Identität“ unterstellen zu können, „während die Übergänge und Anschlüsse in der Theorie doch immer von Differenz ausgehen müssen“63. Luhmann behauptet dagegen, daß Selbstreferenz nicht nur als Bewußtsein, Vernunft oder Geist vorkommt, sondern ein empirischer Sachverhalt ist, der auch an Organismen und sozialen Systemen beobachtet werden kann. Die dialektische Figur der Identität von Identität und NichtIdentität stellt Luhmann auf die systemintern gehandhabte Differenz von Identität und Differenz um.64 Vor diesem Hintergrund scheint es aussichtsreich, sich mit Blick auf das systemtheoretische Reflexionsproblem die von Transzendentaltheorie und Idealismus getroffenen Unterscheidungen einmal aus der Nähe anzusehen, um möglicherweise den soziologischen Begriffsapparat anzureichern. 2. Reflexion und Bestimmtheit in der Transzendentaltheorie Wir konsultieren dazu einen neueren Ansatz, der die transzendentale Erkenntnislehre um die reflexionstheoretischen Erträge des deutschen Idealismus erweitert und somit die beiden von Luhmann benannten Varianten der Theorie der Selbstreferenz von einem transzendentaltheoretischen Standpunkt aus miteinander verbindet.65 Die Transzendentaltheorie stellt sich in diesem Ansatz nicht in erster Linie zu einer allgemeinen Bestimmungstheorie verstehen. Hegel erneuert mit seiner absoluten Logik die Ontotheologie. Er reformuliert den Begriff des ens necessariums als Begriff des Begriffs, den der omnitudo realitatis als Sein (vgl. Henrich, Gottesbeweis, S. 212 ff.). In der Gleichsetzung von Sein und Denken in der absoluten Idee liegt aber ein neuer Seinsbegriff, der kognitiv nicht mehr zugänglich ist (vgl. Günther/Schelsky, Christliche Metaphysik). 59 Luhmann, Soziale Systeme, S. 606. 60 Luhmann, Soziale Systeme, S. 606. 61 Das Theorem der mitlaufenden Selbstreferenz könnte man auch als Theorem der indirekten Bestimmung formulieren. Vgl. z. B. aus Sicht der Transzendentalphilosophie die Feststellung Reinhard Hiltschers: „Eine der Grundthesen jeder Spielart des transzendentalen Idealismus besteht in der Einsicht, daß jede Bestimmung eines Gegenstandes uno actu zumindest auch eine indirekte Bestimmung des Bewußtseins selbst beinhaltet.“ (Hiltscher, Kants Lehre von Reflexion, Selbstbewußtsein und Subjektivität, S. 286). 62 Luhmann, Soziale Systeme, S. 607. 63 Luhmann, Soziale Systeme, S. 607. 64 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 26. 65 Der hier aufgegriffene Ansatz im Gefolge von Hans Wagner, Werner Flach und Reinhard Hiltscher führt seinem Selbstverständnis nach die Linie der Südwestdeutschen Schule des Neukantianismus fort und vertritt den Anspruch auf eine dezidiert wissenschaftliche Philosophie, die als Letztbegründungsphilosophie zugleich auch Wissenschaftslehre ist.
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als eine Theorie des Subjekts dar, sondern kann als eine funktionalistische Theorie der Bestimmung und der Reflexion66 rekonstruiert werden, die geeignet ist, das Problembewußtsein der Soziologie zu schärfen. Dies bietet nicht nur Berührungspunkte mit Luhmanns Systemtheorie, sondern, wie im zweiten Teil gezeigt wird, auch mit dem Denken der Leipziger Schule. An dieser Stelle ist es wichtig, einem Mißverständnis vorzubeugen. Mit der hier verfolgten parallelen Auslegung von Transzendentalphilosophie und Systemtheorie wird keine einheitliche erkenntnistheoretische Perspektive angestrebt. Während es der Transzendentaltheorie um die Konstitution von objektiver Gegenständlichkeit geht, hat es die Soziologie mit selbst bereits reflexiven Verhältnissen des Handelns und der Kommunikation zu tun. Gleichwohl ist es möglich, die formalen bestimmungstheoretischen Begriffe für die Soziologie fruchtbar zu machen und auf die Thematik des Handelns und der Kommunikation zu übertragen. Bei dieser Übertragung ist jedoch der damit vorgenommene Wechsel der Thematik zu beachten, der in prägnanter Weise etwa in der Marxschen Forderung zum Ausdruck kommt, den „Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit“ nicht „nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung“ zu fassen, sondern auch „als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis“67. Dieser spekulative Themenwechsel wird im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit mit Blick auf die Leipziger Schule ausführlich untersucht. Zunächst seien einige Vereinfachungen Luhmanns angesprochen. Kants Ausgangsunterscheidung ist eigentlich nicht, wie Luhmann stets behauptet, die Unterscheidung von empirisch und transzendental, sondern von apriorischer und empirischer Erkenntnis. Empirische Erkenntnis, das heißt Erfahrungserkenntnis, ist auf die Wahrnehmung sinnlicher Eindrücke bezogen, während apriorische Erkenntnis unabhängig von Sinnlichkeit ist.68 Nicht jede Erkenntnis a priori ist transzendental. Transzendental ist eine apriorische Erkenntnis dann, wenn sie sich auf die Bedingungen der Möglichkeit (der Erkenntnis) von Gegenständen bezieht.69 Insbesondere im Werk Reinhard Hiltschers, aber auch bei Werner Flach kommt dem Denken Gotthard Günthers eine Schlüsselposition zu, weshalb sich hier Querverbindungen zur Leipziger Schule ergeben. Ich orientiere vor allem an folgenden Arbeiten: Günther, Grundzüge, Flach, Fichte, Flach, Das Problem der transzendentalen Deduktion, Flach, Kategorienkonzept, Flach, Idee, Hiltscher, Kants Begründung der Adäquationstheorie, Hiltscher, Wahrheit und Reflexion, Hiltscher, Kants Lehre von Reflexion, Selbstbewußtsein und Subjektivität, Hiltscher, Der ontologische Gottesbeweis, Hiltscher, Gegenstandsbegriff und funktionale Reflexivität sowie Henrich, Beweisstruktur der transzendentalen Deduktion u. Cramer, Einleitung. 66 Vgl. bes. Hiltscher, Wahrheit und Reflexion u. Flach, Idee. Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. B 185, bezeichnet die „Einheit der Apperzeption […] als Funktion“ und versteht allgemein unter „Funktion die Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen. Begriffe gründen sich also auf der Spontaneität des Denkens […]“ (ebd., S. B 93). 67 Marx, Thesen, S. 5. 68 Vgl. Flach, Idee, S. 15 f. 69 Vgl. Dohrn, Art. „Transzendental“, S. 2313.
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Der transzendentalen Reflexion geht es um die Begründung und Entfaltung bestimmter Strukturen des Denkens, welche in jeder empirischen Bestimmung von Gegenständen vorausgesetzt sein müssen, weil sie Gegenständlichkeit überhaupt erst ermöglichen. Über die Unbedingtheit, die Luhmann der Transzendentaltheorie als zentrales Kennzeichen zuschreibt, und die er als einen der Gründe für ihre Ablehnung anführt, merkt Werner Flach an, daß Unbedingtheit transzendentaltheoretisch nicht ohne Bedingtheit vorkommt. Allerdings bringe Kant dies „nur in der Verbindung mit dem transzendentalen Charakteristikum der Freiheit zur Sprache. Aber es läßt sich doch auch seiner rein theoretischen Seite nach herauspräparieren. Man hält dann die Verhältnisbestimmung von Unbedingtheits- und Bedingtheitsbezug in der Erkenntniskonstitution und in der Erkenntnisregulation in Händen. Diese Verhältnisbestimmung macht die Selbstlegitimation des Wissens als Erkenntnis zu etwas, das sie von jeglicher Verabsolutierung scheidet. Letztbegründung möglichen gegenständlichen Sinnes ist nicht Verabsolutierung. Sie kennt nicht die Absolutsetzung eines Wissens.“70
Das Anliegen der hier aufgenommenen Linie der transzendentalen Gnoseologie ist die Explikation des Verhältnisses von Unbedingtheit und Bedingtheit in funktionaler Hinsicht. Die gegenständliche empirische Bestimmung ermöglichende Struktur des Denkens, seine selbstreferentielle Eigenbestimmtheit, wird ausgehend von den „zwei Stämme[n]“71 der Erkenntnis erläutert. Diese Unterscheidung Kants ist nicht substantiell oder anthropologisch zu verstehen, sondern als „die kognitive Relation“72: es handelt sich um die Unterscheidung von „Sinnlichkeit und Verstand, parallel dazu Anschauung und Begriff […]. Durch Sinnlichkeit wird der Gegenstand gegeben; durch den Verstand wird er gedacht“73. Der in der Anschauung gegebene Gegenstand ist unbestimmt, er soll durch den Verstand bestimmt werden. Dazu muß der Begriff den Gegenstand einerseits treffen, andererseits aber auch von ihm unterschieden bleiben. Das Denken muß deshalb die Verbindung und Trennung von Bestimmtheit und Unbestimmtheit gewährleisten. Transzendentales Denken ist also Bestimmungslehre. Sie richtet sich auf apriorische Erkenntnis, die erfahrungsbegründend ist. a) Das transzendentaltheoretische Problem der Reflexion Bei Kant steht der Begriff der transzendentalen Apperzeption für die ursprüngliche Bestimmtheit des Denkens und die Möglichkeit empirischer Bestimmung. Sie wird explizit gemacht im „Ich denke“: „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, 70
Flach, Idee, S. 31. Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. B 29. 72 Flach, Idee, S. 23. 73 Flach, Idee, S. 22 f. 71
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was gar nicht gedacht werden könnte […]“74. Daß das Ich denke nicht ständig alle Vorstellungen explizit begleitet, sondern alle Vorstellungen nur begleiten können muß, verweist auf die ursprüngliche Selbstreferenz des Denkens und Erkennens, welche auch unthematisch stets vorausgesetzt werden muß. Auf ihr beruht sowohl die Möglichkeit, empirische Wahrheitsansprüche zu erheben, als auch die Möglichkeit der Explizierbarkeit der ursprünglichen Bestimmtheit in der Reflexion. Das Problem der transzendentalen Reflexion besteht darin, daß im Versuch der Selbstreflexion auf dem Standpunkt des subjektiven Bewußtseins das Denken sich notwendigerweise als Objekt gegenübersetzt, sich zum Gegenstand verdinglicht und somit als etwas zu denken versucht, das es gerade nicht ist. Es ist „Gotthard Günthers ursprüngliche[] Einsicht“, schreibt Reinhard Hiltscher, daß „ein Denken, das seinen Gegenstand zwangsweise als ihm transzendent fassen muß, […] sich bei seiner Selbstthematisierung seinerseits zu einem transzendenten Raum- und Zeitding [wird]“75 und sich mithin thematisch verfehlt. Wie Günther feststellt, kann deswegen das Ich im „Ich denke“ nicht einfach ein empirisches Subjekt sein, weil dieses nolens volens als Gegenstand bestimmt werden müßte.76 Kant betont aus diesem Grund einerseits, daß der Gedanke des „Ich“ immer an objektive Bestimmungen gebunden bleiben muß, andernfalls aber „nach Kants eigenem Bekunden leer und nichtig“77, ein unbekanntes X ist. Andererseits hat Kant die Bewußtmachung der Apperzeption im „Ich denke“ an einen besonderen Akt eines konkreten Subjekts gebunden, welcher notwendig zur beschriebenen Objektivierung und 74
Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. B 131. Hiltscher, Wahrheit und Reflexion, S. 293. Bei Günther selbst heißt es dazu: „Damit aber taucht folgende Frage auf: wenn die transzendentale Einheit der synthetischen Apperzeption die Einheit des Subjektiven und des Objektiven ist, wie kann denn dann diese Einheit selbst begriffen werden, wenn alles Begreifen immer ‚objektiv‘ ist, denn diese Einheit ist als die Einheit des ‚Ich denke‘ doch ebenso subjektiv? Sie wird doch dann immer nur ‚einseitig‘ begriffen. Diese höchste Einheit, in welcher der Gegensatz zwischen ‚Subjekt‘ und ‚Objekt‘ aufgehoben ist, wird damit selber nur als Objekt begriffen. Mithin verfehlt das Denken, welches durch die traditionelle Logik definiert ist, hier unter allen Umständen sein Thema. Die Aporie, in die das Denken hier gerät, ist ungeheuer wichtig. Denn sie ist es gewesen, an der sich die Problematik der Hegelschen Logik (als reiner Logik) entzündet hat.“ (Günther, Grundzüge, S. 116) Die Folge dieser Fehlthematisierung ist, daß Kant nach Günther zwar die „interobjektive“ Allgemeingültigkeit des subjektiven Erkennens begründen kann, nicht aber die „intersubjektive“ Allgemeinheit der Vernunft für alle Subjekte. Das heißt, die Verbindlichkeit der Erkenntnis für mehrere Subjekte (Intersubjektivität) kann nur unter der Bedingung begründet werden, daß sich die Erkenntnis auf objektive Verhältnisse (Interobjektivität) richtet. Bei allem Dissens bzw. falschen Urteilen wird man sich einig sein, daß es um Objekte geht. Dasselbe gilt nicht, wenn es um das vernünftige Wesen der Subjekte selbst geht: „Die kantische Lösung läßt also die Frage, wie Allgemeinheit zwischen verschiedenen Subjekten möglich ist, noch offen. Sie überbrückt zwar die Kluft zwischen Denken und Sein, also zwischen Subjekt und Objekt, aber nicht die zwischen Subjekt und Subjekt.“ (Ebd., S. 117). 76 Vgl. Günther, Grundzüge, S. 117. 77 Hiltscher, Gegenstandsbegriff und funktionale Reflexivität, S. 42. 75
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Fehlthematisierung führt. Wenn man davon ausgeht, daß Denken immer das Denken eines konkreten Selbstbewußtseins wäre, ergibt sich der Zirkel, daß das Selbstbewußtsein (das Ich), welches sich zu denken sucht, sich immer schon voraussetzen müßte, um sich zu denken, was die Bestimmung des Selbstbewußtseins unmöglich machte.78 Hier ist der Einsatzpunkt der nachkantischen Idealisten. Gotthard Günther zufolge vollzieht Hegel eine „unglaublich kühne Wendung“: aus der zirkelhaften Unmöglichkeit des Versuchs, das Ich als Ich, das Subjekt als Subjekt denken zu können, folgert er, daß „wir eben auf den Begriff des Subjekts dabei verzichten [müssen]. Denn wenn wir das Subjekt als reine Allgemeinheit denken wollen, dann ist es eben nicht mehr Subjekt, sondern das Denken selbst. […] Weil auf dem Standpunkte Kants über diese Natur des Denkens keine Klarheit herrschte,79 stellte er das Selbstbewußtsein als Grund des Denkens dar, während in Wahrheit umgekehrt das Denken der Grund des Selbstbewußtseins ist.“80
Hegels Theorie der Reflexion auf die Reflexion verläßt die Ebene der ichhaften Verstandesreflexion, er entsubjektiviert das Denken. Dies entkräftet zunächst Luhmanns an die „klassische Reflexionsphilosophie“ gerichtete Kritik an der Subjektzentriertheit der Reflexion: „In der klassischen Reflexionsphilosophie war der Reflexionsbegriff prozessual an die intentionale ‚Bewegung‘ des Denkens und substantiell an die Vorstellung eines im Denken des Denkens sich selbst bestätigenden Subjekts gebunden gewesen. Die Kategorie der Reflexion wurde von diesem Träger-Begriff her definiert, also von Zurechnungsinteressen bestimmt. Die Frage, wer reflektiert, war im Reflexionsbegriff schon mitbeantwortet, nämlich das Subjekt. Das Subjekt ist zunächst das, was sich im Denken des Denkens als Identität durchhält, dasjenige, was das Denken des Denkens als Nichtwegdenkbares verbindet.“81
Auf Hegel trifft dies gerade nicht zu. Hier ist nicht das Subjekt der „Träger“ des Denkens, sondern die doppelte Reflexion ist der Grund (das „Wesen“) des Subjekts. Ausgehend von dieser Umkehrung kann man zu einem adäquaten Verständnis der erkenntnistheoretischen Problematik gelangen. Die im Bereich der absoluten, ichlosen Reflexion gewonnenen Reflexionsbestimmungen können wieder auf einen endlichen Standpunkt zurückbezogen und für die Transzendentaltheorie fruchtbar gemacht werden. 78
Vgl. dazu auch auf Güntherscher Grundlage Hiltscher, Wahrheit und Reflexion, S. 304. der neueren Kant-Forschung wird genau diese Entsubjektivierung des Denkens auf Kant angewendet und damit für die Erkenntnistheorie fruchtbar gemacht. Der so mit Hegel gelesene Kant ist der Ausgangspunkt der Bestimmungstheorie im Anschluß an Flach und Hiltscher. 80 Günther, Grundzüge, S. 129 f. Vgl. Hiltscher, Wahrheit und Reflexion, S. 284 ff. Diese Aufgabe des Bewußtseinsstandpunktes ist der Sinn der Phänomenologie des Geistes im Übergang zur Wissenschaft der Logik. Vgl. dazu Hiltscher, Wahrheit und Reflexion, S. 239 – 307. 81 Luhmann, Selbst-Thematisierung, S. 89. 79 In
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Diese „Introduktion von Hegels ‚Logik‘ in die kantisch-fichtesche Transzendentalphilosophie“82 ist das Anliegen der hier herangezogenen Erkenntnislehre. Denn Kants Begriffsapparat allein reicht nicht aus, um ausgehend von der transzendentalen Apperzeption als Ursprung der objektiven Bestimmtheit (angezeigt im „Ich denke“) „den Erfahrungsgegenstand einerseits und den Reflexionsgegenstand andererseits“83 zu unterscheiden. Reflexionsgegenstände heißen hier die Prinzipien der Eigenbestimmtheit des Denkens, die in jedweder theoretischen Bestimmung unthematisch geltend vorauszusetzen sind. Dies sind bei Kant die Kategorien.84 Sie müssen in der Gegenstandsbestimmung als unthematisch fungierende Prinzipien vorausgesetzt werden.85 Das heißt aber, daß sie in ihrer Thematisierung schon nicht mehr das sind, was sie funktional sein müssen. Die Frage ist also, welchen Status die Prinzipien in der Reflexion haben: sie können weder objektiv in Raum und Zeit noch als in der Reflexion thematisierte Prinzipien gedacht werden, denn auch dies wäre eine Verfehlung der Prinzipien als Reflexionsgegenstände, welche doch in der Bestimmung eines Gegenstandes unthematisch gelten. Das Problem der transzendentalen Reflexion ist also die explizite Thematisierung unthematischer Reflexivität, die in jeder unmittelbaren Gegenstandszuwendung vorausgesetzt werden muß. Es können somit drei Momente von Selbstbezüglichkeit als Voraussetzung jeder Gegenstandsbestimmung unterschieden werden: die „funktionale[] Selbstbezüglichkeit“ der unthematisch geltenden Prinzipien, die akthafte Reflexion als „Selbstbewußtsein“ sowie das „Konfungieren“86 beider Momente in dem, was Kant Apperzeption nennt. Man fühlt sich an Luhmanns dreifache Unterscheidung von Selbstreferenz in basale Selbstreferenz, Reflexivität und Reflexion erinnert, jedoch scheint eine vollständige Abbildbarkeit aufeinander nicht gegeben zu sein. Allerdings läßt sich Luhmanns Begriff der Identitätsreflexion dem transzendentaltheoretischen Begriff des Selbstbewußtseins zuordnen. Beide sind an konkrete Akte eines Subjekts bzw. Systems gebunden und richten sich auf sich in empirischer Hinsicht. Der Begriff der funktionalen Selbstbezüglichkeit, deren Leistung es ist, daß sich das Denken als solches immer wieder von seinen konkreten, inhaltlich bestimmten Gedanken unterscheiden kann, kommt dem Begriff der basalen Selbstreferenz nahe, welche die Verknüpfung konkreter Kommunikationsereignisse, den Übergang von Kommunikation zu Kommunikation bestimmt. Für den systemtheoretischen Begriff der Reflexivität findet sich keine Entsprechung; er ist offensichtlich Luhmanns Entdeckung. 82
Hiltscher, Wahrheit und Reflexion, S. 307 ff. Hiltscher, Gegenstandsbegriff und funktionale Reflexivität, S. 43. 84 Kant leitet die Kategorien aus den Funktionen des Urteils ab. Die von ihm aufgestellte Kategorientafel umfaßt die Kategorien der Quantität, der Qualität, der Relation und der Modalität. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. B 106. 85 In der Hinsicht auf das Denken als Funktionalität sind die Prinzipien sozusagen das latente Medium des Bestimmens. 86 Alle Zitate Hiltscher, Gegenstandsbegriff und funktionale Reflexivität, S. 49. 83
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Zur Erschließung der transzendentalen Apperzeption als des Zusammenhangs von funktionaler Selbstbezüglichkeit und Selbstbewußtseinsreflexion bietet sich Reinhard Hiltscher zufolge Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung an.87 Er entspricht Luhmanns Begriff der mitlaufenden Selbstreferenz. In einer intellektuellen Anschauung wird in jeder Bestimmung eines Gegenstandes das ursprüngliche selbstbezügliche Moment der Bestimmung unmittelbar miterfaßt. Hierbei wird anläßlich der Bestimmung von Gegenständen die ursprüngliche Reflexivität des Denkens noch nicht explizit thematisiert, sondern bei der intellektuellen Anschauung handelt es sich um ein unentfaltetes, noch ununterschiedenes Gewahrwerden des reflexiven Moments in jeder empirischen Bestimmung. Das heißt, die intellektuelle Anschauung meint die in jedem empirischen – wahren oder falschen – Urteil mitgegebene oder mitlaufende Selbstbezüglichkeit. Zugleich weist sie als präthematische auf Explizierbarkeit hin: „Im Grunde heißt dies, daß sich die fundamentalste Letztbegründungsreflexivität schon im elementarsten Urteil des empirischen Subjektes vollzieht.“88 Die Explikation verläuft in zwei Richtungen: sie kann entweder in Richtung der funktionalen Reflexivität als Reflexion auf die konstitutive Bestimmtheit von Gegenständlichkeit überhaupt oder in Richtung auf die Regulation des Prozesses empirischer Bestimmungen als Reflexion des Denkens als Selbstbewußtsein, in der sich das Denken als konkretes Subjekt der Erkenntnis bestimmt,89 entfaltet werden. Eine angemessene Auslegung des Begriffs der transzendentalen Apperzeption muß nicht nur das empirische Selbstbewußtsein mit dem Denken als Funktionalität bzw. Prinzip zusammenschließen, sondern es müssen auch beide Aspekte voneinander unterscheidbar bleiben. Andernfalls entfiele entweder der endliche Standpunkt zugunsten einer idealistischen Metaphysik oder es erfolgte eine Reduktion auf ein bloß empirisches Modell, das den Reflexionsproblemen nicht gewachsen ist. Über die weitere Entwicklung der Auslegung der transzendentalen Apperzeption und des Problems der Reflexion seit Hegel bemerkt Reinhard Hiltscher: „Ziemlich genau mit Beginn der Hegelʼschen Kantkritik verschwand das Wissen darum, dass die beiden Aspekte der Apperzeption – nämlich Identität des Selbstbewusstseins des konkreten Subjekts, das als das erkennende Subjekt fungiert, einerseits und funktionale Reflexivität andererseits – nicht nur notwendig zusammengehören, sondern auch unterschieden bleiben müssen. Dies hat dazu geführt, dass die meisten Kantinterpreten den Apperzeptionsterminus immer nur von jeweils einem seiner beiden konstitutiven Momente aus deuteten und das andere Moment schlicht darauf reduzierten.“90 87 Die „intellektuelle Anschauung“ ist „die blosse Anschauung der inneren absoluten Spontaneität, mit Abstraction von der Bestimmtheit derselben“ (Fichte zit. nach Hiltscher, Gegenstandsbegriff und funktionale Reflexivität, S. 51). 88 Hiltscher, Kants Lehre von Reflexion, Selbstbewußtsein und Subjektivität, S. 296, Anm. 39. 89 Dies wäre in den Worten Luhmanns der Ausweis einer „Systemreferenz“ (Luhmann, Soziale Systeme, S. 607) der Erkenntnis. 90 Hiltscher, Gegenstandsbegriff und funktionale Reflexivität, S. 52.
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So kommt es zu den Unzulänglichkeiten etwa der analytischen Philosophie, die das Apperzeptionsproblem auf empirisches Selbstbewußtsein reduziert, aber auch zur reflexionslogischen Übertreibung Hegels, der das Moment der Reflexion-insich zu einer Theorie der absoluten Reflexion ausbaut und von dort aus die Ansichbestimmtheit der empirischen Gegenstände nur noch als Moment der Reflexion, als nicht mehr denkunabhängig, sondern als von der absoluten Reflexion erzeugt denken kann. b) Reflexion in konstitutiver und in regulativer Hinsicht Es lassen sich folglich zwei Reflexionsbegriffe unterscheiden. Ausgehend von der in jeder Gegenstandsbestimmung mitgegebenen ursprünglichen Selbstbezüglichkeit des Denkens kann die Reflexion einerseits als „Letztbegründungsfrage“, andererseits als „Fundamentalmethodologie“91 durchgeführt werden. Während sich die Frage der Letztbegründung auf die Konstitution der Möglichkeit von Bestimmtheit überhaupt richtet, beschäftigt sich die Reflexion in fundamentalmethodologischer Hinsicht mit der Regulation des Prozesses der empirischen Bestimmung.92 Letztbegründung muß eine Antwort geben auf die „Frage nach derjenigen funktionalen Eigenbestimmtheit des Denkens an ihm selbst (vor aller konkreten, empirischen Erkenntnis), die dessen beide Möglichkeiten von wahr und falsch allererst konstituiert. Denken als Prinzip wird hier als eine unendliche Funktionalität begriffen, deren Eigenbestimmtheit die Werte wahr-falsch als Möglichkeiten der Funktionalität begründet.“93
Das heißt, eine Geltungsletztbegründungsreflexion hat die funktionale Eigenbestimmtheit seiner selbst auszuweisen und in ihren Momenten zu entfalten, auf welche die Bestimmtheit von Gegenständlichkeit überhaupt zurückgeht, und die sowohl der Geltungsdifferenz von wahr und falsch als auch der Differenz von Subjekt und Objekt vorgelagert ist. Es wird nicht die Gegebenheit eines Objekts für ein Subjekt vorausgesetzt, sondern die Letztbegründungsreflexion auf die funktionalen Prinzipien des Denkens erklärt, warum sich das Denken aufgrund seiner reflexiven Eigenbestimmtheit unter Bedingungen der Endlichkeit einen Gegenstand
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Hiltscher, Wahrheit und Reflexion, S. 36 f. transzendentale Erkenntnislehre unterscheidet die Konstitution der Möglichkeit von Bestimmtheit überhaupt von der Regulation der empirischen Bestimmung. Der transzendentale Schematismus fungiert als Verknüpfungsmechanismus der Bestimmtheit überhaupt mit der empirischen Bestimmung einzelner Gegenstände. In Kants Kritik der reinen Vernunft behandelt die transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe die Konstitution (vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. B 166 ff.), die transzendentalen Grundsätze (vgl. ebd., S. B 187 ff.) repräsentieren die Fundamentalmethodologie. Die Verbindung beider Aspekte wird im Abschnitt über den Schematismus der reinen Verstandesbegriffe dargestellt (vgl. ebd., S. B 176 ff.). 93 Hiltscher, Wahrheit und Reflexion, S. 37. 92 Die
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geben lassen muß.94 Das Denken kommt von sich aus dazu, immer anderes als sich selbst denken zu müssen. Die Unterscheidung von Subjekt und Objekt ist eine sekundäre und abgeleitete. Die konstitutive Bestimmtheit von Gegenständlichkeit ist auch der Differenz von wahr und falsch vorgeordnet, weil auch in einem falschen Urteil ein Gegenstand vorausgesetzt werden muß. Auch eine falsche Erkenntnis ist eine Erkenntnis. Die kognitive Relation von Bestimmtheit und Unbestimmtheit wird formuliert im Urteil. Sie kann näher in die „unbestimmte Bestimmtheit“ des Begriffs und die „bestimmte Unbestimmtheit“95 der Anschauung unterschieden werden. Es gilt also, dreierlei zu begründen: (a) die Einheit des Urteils mit den Momenten (b) der unbestimmten, das heißt bestimmbaren Bestimmtheit des gedachten Gegenstandes im Begriff und (c) der bestimmten Unbestimmtheit, das heißt bestimmten Bestimmbarkeit des in der Anschauung gegebenen Gegenstandes, wobei allen drei Momenten synthetische Einheit zukommt.96 Die Bestimmtheit und das Zusammenspiel der drei Synthesen ist zurückzuführen auf die transzendentale Apperzeption, welche den drei Momenten ihre synthetische Einheit gibt. Dies betrifft das Moment der Verbindung von Begriff und Gegenstand. Die Unabhängigkeit des Gegenstands vom Denken ergibt sich aus der elementaren Zuweisung eines dem Denken noch ganz Fremden, Unbekannten, zu einer Raum-Zeit-Stelle. Der denkunabhängige Gegenstand wird als unbestimmte Fremdheit gesetzt. Indem er raumzeitlich verortet wird, kann er für das Denken zur (raumzeitlich) bestimmten Unbestimmtheit werden: „Man mache sich dies an einer ganz elementaren Gegenstandsreferenz klar. Intendiert das Denken nämlich ein Etwas in Raum und Zeit, über das es keinerlei konkrete, empirische ‚Information‘ besitzt, so bedeutet schon die räumlich-zeitliche ‚Verortung‘ dieses Etwas durch das Denken die Bestimmung der Unbestimmtheit zur bestimmten Unbestimmtheit – zur bestimmten Bestimmbarkeit. Allein schon durch diese Zuweisung einer Raum- und Zeitstelle für das ‚Etwas‘ weist sich das Denken als Letztgrund dafür aus, daß die Anschauung schon immer einen bestimmbaren Gegenstand geben kann.“97
So läßt sich die Geltungsdifferenz von wahr und falsch fundieren, denn die transzendentale Apperzeption ermöglicht und erzwingt es, auch den falsch bestimmten 94
Hiltscher, Wahrheit und Reflexion, S. 122. Hiltscher, Wahrheit und Reflexion, S. 25 – 41 und passim. 96 Denn Kant „lehrt, das reine Denken müsse gleicherweise ‚Gegenstand‘ und ‚Urteil‘ begründen, soll Geltungsdifferenz möglich sein […]. Das reine Denken muß die logische Begriffssynthesis, den Sinn des gedachten Gegenstandes (= bestimmbare Bestimmtheit) und den Sinn des anschauungsgegebenen Gegenstandes (= bestimmte Bestimmbarkeit) begründen. Alle drei Momente erweisen sich als Fundierungselemente des geltungsdifferenten (empirischen) Urteils und ihre Begründung ist im Rahmen einer Urteilslehre zu leisten. Das Urteil ist genauerhin als das Zusammenspiel dieser drei Momente zu definieren.“ (Hiltscher, Wahrheit und Reflexion, S. 33). 97 Hiltscher, Wahrheit und Reflexion, S. 32. Vgl. Hiltscher, Kants Begründung der Adäquationstheorie, S. 443. 95 Vgl.
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Gegenstand, auch jedes Phantasiegebilde unter der Bestimmtheit von Gegenständlichkeit überhaupt zu denken. Der Gegenstand muß sowohl als unabhängig von der Erkenntnis begründet werden können, es muß aber zugleich gezeigt werden können, wie es einer empirischen Bestimmung möglich ist, den Gegenstand zu erreichen, das heißt so zu bestimmen, wie er unabhängig von der Erkenntnis ist. In jeder Bestimmung muß qua Urteil implizit behauptet werden, daß sich die Bestimmung auf einen denkunabhängigen Gegenstand bezieht. Obwohl es sich bei allen aufgezeigten Relationen um erkenntnisinterne Bestimmungen handelt, beansprucht damit das Denken auf der Ebene der Konstitution die Adäquation von Erkenntnis und Gegenstand.98 Die Reflexion als Fundamentalmethodologie bedarf komplementär zum Verhältnis von Bestimmtheit und Unbestimmtheit in der Konstitution von Gegenständlichkeit überhaupt einer Analyse des Verhältnisses der Bestimmtheit und Unbestimmtheit der einzelnen, empirischen Gegenstände.99 Die empirische Bestimmung setzt die funktionalen Möglichkeiten des Erkennens, wahr oder falsch zu sein, voraus.100 98 Und zwar deshalb, weil „jedes Urteil implizit beanspruchen muß, einen unabhängigen Gegenstand (hier im weitesten Sinne zu verstehen) gemäß seiner Ansichbestimmtheit zu bestimmen. Dieser Anspruch gilt trotz der angesprochenen Tatsache, daß es keine von der Erkenntnis unabhängige Relation zum Ansich des Gegenstandes geben kann, somit der Gegenstand nur als Inbegriff der Vorstellung von ihm gegeben ist. Auf der Konstitutionsebene ist sehr wohl die Adäquationstheorie der Wahrheit als ‚Selbstverständnis des Urteils‘ anzusetzen.“ (Hiltscher, Wahrheit und Reflexion, S. 40) Vgl. auch Hiltscher, Kants Begründung der Adäquationstheorie. Um die Adäquationstheorie der Wahrheit auch für die Reflexion zu halten, muß das Denken sich selbst in seiner bestimmten Unbestimmtheit als Ansichbestimmtheit des Denkens selbst denken können (vgl. Hiltscher, Wahrheit und Reflexion, S. 129 f.). Hier liegt einerseits die Bedeutsamkeit des bereits erläuterten Fichteschen Begriffs der intellektuellen Anschauung sowie mit der Einführung der zweiten Negation der entscheidend wichtige Beitrag Hegels zur Reflexionstheorie. Die zweite Negation erlaubt es, reine Selbstbezüglichkeit, das heißt reine Negativität zu denken und auf diese Weise die funktionale Reflexivität in ihrer Eigenbestimmtheit zu entfalten und zu explizieren: „Die Konstruktion der selbstbezüglichen Negativität erlaubt es, Negativität qua Vermittlung sich auf sich als Anderes beziehend denken zu können. Indem reine Negativität sich auf sich als Anderes bezieht, referiert reine Vermittlung (qua Bestimmungsfunktion des Denkens) auf sich gerade als Unmittelbarkeit. Das Als in dieser Selbstreferenz ermöglicht es jetzt, Vermittlung und Unmittelbarkeit zu Beginn der Wesenslogik als die differenten aber nunmehr bestimmten Sinnmodi der Bestimmungsfunktion des Denkens zu entfalten. Die reine Bestimmungsfunktion des Denkens qua reine Negativität entfaltet ihre eigene interne Bestimmtheit und ihre sämtlichen Momente damit autonom selbst. In strukturell ähnlicher Weise, in der die funktionale Reflexivität kantischer Prägung es ermöglichen muss, die Prinzipien der Funktionalität rein und ‚ungebunden an ihre Instantiierungen‘ denken zu können, entfaltet die Wesenslogik, indem sie mit der selbstbezüglichen Negation operiert, die genuinen Momente der Eigenbestimmtheit des reinen Denkens (qua Bestimmungsfunktion des Denkens) selbst.“ (Hiltscher, Gegenstandsbegriff und funktionale Reflexivität, S. 54). 99 Vgl. Flach, Idee, S. 176. 100 Vgl. Hiltscher, Wahrheit und Reflexion, S. 38, Flach, Idee, S. 175.
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Bestimmungstheoretisch gesehen, erfolgen Bestimmungen in Form von Urteilen.101 Im Urteil wird der im Subjektsbegriff repräsentierte Gegenstand durch ein Prädikat durch das Denken bestimmt, das heißt diesem untergeordnet.102 Dabei wird der Gegenstand mit dem Prädikat einerseits identifiziert, andererseits unterschieden103, denn hinsichtlich der Repräsentation des Gegenstandes ist der gedachte Gegenstand vom anschauungsgegebenen Gegenstand zu unterscheiden. Der repräsentierte Gegenstand wird mit einer Bestimmung identifiziert, zugleich aber von dieser unterschieden, denn der anschauungsgegebene Gegenstand geht in dieser einen Bestimmung nicht auf, sondern ihm kommen noch unzählige weitere Bestimmungen zu. Dabei muß „der Prädikatsbegriff “ als „der bestimmende Begriff des Urteils […] formal als durchgängig bestimmt gedacht werden. Der Subjektsterm des Urteils kann den Gegenstand deshalb als Nochunbestimmtheit fassen, weil das Prinzipienmoment der Unbestimmtheit nach Kant von einem denkexternen Prinzip ‚Anschauung‘ garantiert wird.“104
Der im Subjektsbegriff des Urteils gedachte Gegenstand wird als bestimmbare Bestimmtheit105 bezeichnet, weil er grundsätzlich als Gegenstand bestimmt, aber immer weiter bestimmbar ist. Der im Subjektsbegriff des Urteils repräsentierte anschauungsgegebene Gegenstand muß vom Denken als ‚an sich‘ bestimmt, das heißt als dem Denken fremder gesetzt werden. Dadurch wird er aber zugleich für das Denken als zwar unbestimmter, aber bestimmbarer bestimmt: der Anschauungsgegenstand ist also eine bestimmte Unbestimmtheit, das heißt bestimmte Bestimmbarkeit. Das bedeutet, daß der empirisch bestimmte Gegenstand zugleich immer bestimmt und unbestimmt ist. In Hinsicht auf die Regulation des empirischen Bestimmungsprozesses ist „Unbestimmtheit […] also Inbegriff derjenigen Bestimmungen, die das Erkennen dem Gegenstand noch nicht erteilt hat, jedoch prinzipiell erteilen kann bzw. erteilen wird. […] Dieser Gedanke ist jedoch nur unter der Annahme zu begreifen, daß die Unbestimmtheit des Gegenstandes für das Denken zugleich die Bestimmtheit des ‚Dinges‘ selbst ist. Die Unbestimmtheit ist Unbestimmtheit für das Denken, weil sie der Inbegriff derjenigen Bestimmungen des Gegenstandes selbst ist, die das Denken noch nicht für sich vollzogen hat, jedoch prinzipiell vollziehen kann.“106 101
Sprachlich etwa in der Form: „Subjekt ist Prädikat“. zum folgenden Hiltscher, Wahrheit und Reflexion, S. 29 – 34 u. Hiltscher, Der ontologische Gottesbeweis, S. 194 ff. u. 279 ff. 103 Die philosophische Tradition spricht hier vom dihairetischen Logos. 104 Hiltscher, Wahrheit und Reflexion, S. 288. Kants formale Bestimmung des transzendentalen Ideals lautet: „Ein jedes Ding aber, seiner Möglichkeit nach, steht noch unter dem Grundsatze der durchgängigen Bestimmung, nach welchem ihm von allen möglichen Prädikaten der Dinge, so fern sie mit ihren Gegenteilen verglichen werden, eines zukommen muß“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. B 599). 105 Oder synonym in der hier verwendeten Terminologie: als unbestimmte Bestimmtheit. 106 Hiltscher, Der ontologische Gottesbeweis, S. 205. 102 Vgl.
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Weil die vollständige Bestimmung des denkunabhängigen Gegenstandes dessen Unbestimmtheit für das Denken ist, stellt die Reflexion zur Regulation des empirischen Bestimmungsprozesses das Ideal durchgängiger bzw. vollständiger Bestimmung auf.107 Das transzendentale Ideal ist der Reflexionsbegriff für die Differenz der im Prozeß der empirischen Erkenntnis bereits vollzogenen und der noch nicht erreichten Bestimmungen, das heißt für eine in empirischer Hinsicht unaufhebbare Differenz, da der Erkenntnisprozeß unter endlichen Bedingungen niemals abgeschlossen sein kann.108 Gerade deswegen kann und muß er sich am Regulativ vollständiger Bestimmung orientieren. Die aufgrund des transzendentalen Ideals in der Reflexion verfügbare Differenz der erteilten und der noch nicht erteilten Bestimmungen ermöglicht letztlich Theorien und Methoden empirischer Wissenschaften. Im Gegensatz zur Konstitution der Bestimmtheit, für welche die Adäquationstheorie der Wahrheit gilt, kann die Regulation der empirischen Erkenntnis nur eine Kohärenztheorie der Wahrheit in Anspruch nehmen.109 Die durch das Ideal der vollständigen Bestimmung regulierte empirische Erkenntnis verfolgt die Kohärenz des Zusammenhangs der einzelnen empirischen Bestimmungen. Sie sucht die Wahrheit nicht wie die Adäquationstheorie in der Übereinstimmung der Erkenntnis mit dem Gegenstand, sondern in der Übereinstimmung einer Aussage mit anderen Aussagen. Sie steht daher unter einem grundsätzlichen hypothetischen Vorbehalt, weil es immer auch widersprechende andere, ebenso kohärente Aussagenzusammenhänge geben kann. Im Gegensatz zu der hier vertretenen transzendentaltheoretischen Auffassung, welche von einem endlichen Standpunkt nicht nur die Zusammengehörigkeit, sondern auch die Unterschiedenheit von Konstitution und Regulation im Auge behält, verläßt die dielektische Logik Hegels den endlichen Standpunkt des Urteils. Hegel versucht den regulativen Sinn der Ansichbestimmtheit des Anschauungsgegenstandes, das heißt auf dem endlichen Standpunkt: die Unbestimmtheit für das Denken, im Denken bestimmt zu entfalten. Deshalb kann es
107 Im Unterschied zur vorausgesetzten Konstitution gegenständlicher Bestimmtheit überhaupt, denn um die vollständige Bestimmung der Gegenstände als Ideal zu fordern, müssen dem Verstand Gegenstände gegeben werden können (vgl. Henrich, Gottesbeweis, S. 141 – 165). 108 „Für das Denken ist jeder Gegenstand insofern durchgängig bestimmt, als ihm aus dem Universum aller möglichen Prädikate prinzipiell immer eines von zwei widersprechenden Prädikaten zukommen muß. Damit erzeugt sich das gnoseologisch notwendige Bestimmungsgefälle. Das jeweilige Urteil kann sich implizit als defizitäre (weil nicht vollständige) Bestimmung des an sich selbst durchgängig bestimmt gedachten konkreten Gegenstandes verstehen und sich den konkreten Gegenstand somit als nie abschließbare Bestimmungsaufgabe vornehmen. Die Idee vollständiger Bestimmung [= transzendentales Ideal] reguliert also den Erkenntnisprozeß. Überhaupt ist die Funktion der Ideen im Sinne regulativer Bestimmungsdirektiven zu verstehen.“ (Hiltscher, Der ontologische Gottesbeweis, S. 206). 109 Vgl. Hiltscher, Wahrheit und Reflexion, S. 15 ff.
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„[a]uf dem Status der absoluten Logik Hegels […] keine Nochunbestimmtheit des Gegenstandes mehr geben, sondern der Selbstgegenstand der großen Logik – der Grund (das Denken/die Idee) – ist völlig bei sich und deshalb auch völlig bestimmt. Als Analogon zur kantischen Nochunbestimmtheit kann nur die Selbstentfaltung der Momente dieser völligen Bestimmtheit genannt werden. Aufgrund dieser Problemsicht ähnelt die große Logik deshalb am ehesten einer ‚absoluten Prädikatenlehre der Bestimmung‘.“110
Die Anschauungsformen Zeit und Raum sind nicht mehr vom Denken unterschieden, sondern nur noch Momente des Denkens selbst.111 Damit entfällt die „Doppelaspektigkeit des Gegenstandssinnes als bestimmte Bestimmbarkeit und als bestimmbare Bestimmtheit“ in Hegels absoluter Prädikatenlehre: „Subjekt und Prädikat sollen auf einen identischen Begriffssinn zurückgeführt werden, jedoch so, daß dieser identische Begriffssinn prädikativ zu begreifen ist. Das Moment des Subjektsbegriffes muß sich als ein letztlich doch prädikatives Moment fassen lassen. Damit ist der Sinn, den das Denken hier artikuliert, als bestimmte Bestimmtheit, als (darstellbare) bestimmte Bestimmtheit, als darstellbare selbstbestimmte Bestimmtheit und bestimmte Selbstbestimmtheit zu fassen.“112
Damit wird die Differenz zwischen den in Urteilen bereits erteilten und den noch zu erteilenden Bestimmungen, die durch das regulative Ideal durchgängiger Bestimmung reflexiv thematisiert wird, aufgehoben.113 Nach Gotthard Günther kehrt sich in Hegels absoluter Reflexion das Verhältnis von Konstitution und Regulation um.114 Hegel verabsolutiert die Seite der Regulation und ordnet ihr die Konstitution unter. Die Differenz zwischen Konstitution und Regulation wird somit letztlich beseitigt.115 Aus diesem Grund kann Hegels metaphysische Logik des Absoluten nur einen Wahrheitsanspruch auf absolute Kohä110
Hiltscher, Wahrheit und Reflexion, S. 288. Hiltscher, Wahrheit und Reflexion, S. 302 f. 112 Hiltscher, Wahrheit und Reflexion, S. 289. 113 Genauer gesagt, wird sie als schlechte (sprich: schlichte) Unendlichkeit des Bestimmungsprozesses für unwahr erklärt. 114 „Wir deuteten bereits an, daß sich bei Hegel das Verhältnis konstitutiver (und damit auch regulativer) Prinzipien des Denkens gegenüber dem, was Kant darunter versteht, genau umgekehrt habe.“ (Günther, Grundzüge, S. 196). 115 Weil das Denken in der absoluten Idee die Anschauungsformen Zeit und Raum in den Begriff absorbiert hat, ist die „Realisation“ (Hegel, Logik II, S. 572) der Idee zur Wirklichkeit nach Hegels metaphysischer Auffassung „kein Übergang“ (ebd., S. 573). Sondern indem „die Idee sich selbst frei entläßt“, ist „die Form ihrer Bestimmtheit […] die absolut für sich selbst seiende Äußerlichkeit des Raums und der Zeit“ (ebd., S. 573). Das heißt, nicht nur die Dinge in Raum und Zeit, sondern Raum und Zeit selbst sind die Unmittelbarkeit der absoluten Idee. Diese metaphysische Identität von Denken und Sein ist von Gotthard Günther als logisch unbestimmt bleibende, das heißt letztlich willkürliche Behauptung bestritten worden (vgl. Günther, Grundzüge, S. 215 – 219). Aus diesem Grund müsse man, so Günther, von der metaphysisch-ontotheologischen Konzeption Hegels selbst Abstand nehmen, aber seine Methode der Reflexion der Reflexion fortführen (vgl. Günther, Grundzüge, S. 219 ff. und im Anschluß daran Hiltscher, Wahrheit und Reflexion, S. 271 f., 287, 295, 302). Mit der 111 Vgl.
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renz erheben – ein Anspruch, der im Hypothetischen verbleiben muß.116 Daß dem Hegelschen Absoluten Bestimmtheit zukommt, läßt sich nur dann behaupten, wenn man die ihr zugrundeliegende ontotheologische Metaphysik akzeptiert. Dann aber ist man gezwungen, sich „dem metaphysischen Idealismus mit Haut und Haaren zu verschreiben“117. Will man aber gegenüber seinen eigenen Theoriekonstruktionen souverän bleiben, empfiehlt es sich, an der Unterscheidung von Konstitution und Regulation festzuhalten. Zwischen der Konstitution von Bestimmtheit überhaupt und der Regulation der Bestimmung einzelner Gegenstände vermittelt der transzendentale Schematismus. Er bildet „die Gelenkfunktion zwischen beiden Aspekten der kompletten Letztbegründungsreflexion und transformiert die konstitutionstheoretische Betrachtung in die fundamentalmethodologische“118. Die Funktion des Schematismus besteht Werner Flach zufolge in der Konkretion und Vereinzelung der kategorialen (konstitutiven) Bestimmtheit.119 Auch sie ist in jeder empirischen Erkenntnis vorauszusetzen. Die Frage, wie die Bestimmtheit überhaupt konkret werden kann, läuft auf die Frage hinaus, wie die kategoriale Bestimmtheit mit Zeitlichkeit in Verbindung kommt.120 Das Problem des Schematismus besteht nicht in der Ableitung der besonderen empirischen Gegenstände aus der Kategorialität, sondern im Gegenteil darin, wie die kontingente Erfahrung als kontingente mit der Kategorialität in Zusammenhang steht.121 Dieser Zusammenhang wird nicht durch eine klassenlogische Subsumtion von empirischen Einzelfällen zu abstrakten Klassen hergestellt,122 sondern die Umstellung Hegels von Identität auf Differenz ist ein weiterer Grund für Luhmanns Distanzierung von der Denktradition Kants und des deutschen Idealismus hinfällig. 116 Vgl. Hiltscher, Wahrheit und Reflexion, S. 275 ff. 117 Günther, Grundzüge, S. 219. 118 Hiltscher, Wahrheit und Reflexion, S. 37. 119 Vgl. Flach, Kants Lehre, S. 467 f. 120 Vgl. auch Flach, Idee, S. 153 ff. 121 Vgl. Flach, Idee, S. 155. 122 Dies kann hier freilich nur sehr ungenügend angedeutet werden. Flach schreibt im Zusammenhang, „daß auf Sinnlichkeit notwendig bezogen zu sein für den reinen Verstandesbegriff bedeutet, nicht nur überhaupt auf Sinnlichkeit bezogen zu sein, sondern in eben diesem Bezug Bestimmung konkretisierend bezogen zu sein. Seine Bestimmtheit vereinzelt sich. Die kategoriale Bestimmtheit ist nicht nur als generelle Bestimmtheit zu betrachten, sie ist auch, und zwar aus sich heraus, als zur Vereinzelung (der Bestimmtheit) führende Bestimmtheit zu begreifen. Es gibt zu ihr den Fall, die Fälle. Sie macht das möglich. Sie bestimmt sich den Fall, die Fälle. Wie dieser Sachverhalt zu denken sei, ist der Fragepunkt. […] Die für den Schematismus charakteristische Subsumtion differiert von der alle anderen Wissenschaften charakterisierenden (formal)logischen Subsumtion dadurch, daß sie alles andere als Klasseninklusionen spiegelt. Ihr ist eigentümlich, daß sie Heterogenes in ein Verhältnis bringt. Die Begründung der vereinzelten, bedingten Gegenstandsbestimmtheit durch die generelle, unbedingte Gegenstandsbestimmtheit bezieht Heterogenes aufeinander, vermittelt es miteinander, wie Kant sagt. Es werden vermittelt – in der Begrifflichkeit Kants – die reine Intellektualität der Kategorie und die anschauliche Mannigfaltigkeit des
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Vermittlung des Verstandes mit der Sinnlichkeit geschieht durch „ein Drittes“, „was einerseits mit der Kategorie, andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muß“123. Hierbei geht es um eine „Funktion, die Heterogenes in ein Begründungsverhältnis bringt“124. Dieses die Heterogenität von Anschauung und Begriff vermittelnde Dritte ist eine „Vorstellung […] von einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen“125. Die Heterogeneität der Mannigfaltigkeit zeitgebundener Anschauung und der zeitlosen kategorialen Einheit werden durch ein Konstruktionsverfahren, das eine „transzendentale[] Zeitbestimmung“126 leistet, aufeinander bezogen. So wird beispielsweise die Kategorie der Kausalität durch die Zeitbestimmung des Schematismus in eine Vorhernachher-Beziehung gebracht: immer wenn Ursache X, dann notwendigerweise Folge Y. Als bildgebender Mechanismus ermöglicht der Schematismus die empirische Erfahrung einzelner, kontingenter Gegenstände. Das Schema ist somit die „Bedingung dafür, daß die sinnliche Vorstellung bestimmte Vorstellung sein kann“127. Die transzendentaltheoretische Unterscheidung von Konstitution, Regulation und Schematismus sollte damit in Umrissen deutlich geworden sein. Die Konsti(inneren) Sinnes. Sie werden vermittelt in einer bestimmten Vorstellung. Diese Vorstellung ist eben deshalb, d. h. qua solche Vermittlung, prämissen- und regeltauglich, und zwar beides zugleich. Und sie ist hierbei alles andere als empirisch, sondern sie ist rein, d. h. sie ist begrifflich apriorische, doch nicht kategoriale Vorstellung, sondern ein ‚Drittes‘. Als solches Drittes steht sie, Kant legt darauf den größten Wert, ‚einerseits mit der Kategorie, andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit‘ und macht ‚die Anwendung der ersteren auf die letztere möglich‘ (KrV [= Kant, Kritik der reinen Vernunft]: B 177). […] Weitere Bestimmungen des Sachverhaltes schließen sich an diese Charakteristik an. Sie sind alle zur Kenntnis zu nehmen, soll er in seiner vollen Bestimmtheit gefaßt werden. Zuerst läßt Kant es sich in diesen weiteren Bestimmungen angelegen sein hervorzuheben, daß die fragliche Vermittlung der Synthesis zuzurechnen ist. Es ist die Synthesis qua Synthesis der Einbildungskraft, die die Vermittlung herbeiführt. Sie verbindet die auf der Einheit der Apperzeption beruhende Einheit der Synthesis mit der einzelnen Anschauung und stellt so ‚Einheit in der Bestimmung der Sinnlichkeit‘ (KrV [= Kant, Kritik der reinen Vernunft]: B 179, vgl. auch B 151 ff.) her. Diese Einheit ist nichts anderes als die identische Gegenstandsreferenz der Sinneswahrnehmungen. Und diese ergibt nach Kant die eine (= zusammenhängende) Wahrnehmung in und bei der Vielfalt der Sinneseindrücke. Qua eine Wahrnehmung aber sind die Wahrnehmungen der Vielfalt der Sinneseindrücke ungeachtet begrifflich vereinnahmt. Sie erweisen sich m.a.W. als das, in dem nach ‚einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft einem Begriff sein Bild‘ (KrV [= Kant, Kritik der reinen Vernunft]: B 179 f.) verschafft wird. Dieses dem Begriff sein Bild verschaffende Verfahren, das bezüglich des reinen Verstandesbegriffes vielmehr ein Verfahren der Herstellung eines Bestimmungsschemas ist, ist Kant das, wohinein die Deduktion der reinen Verstandesbegriffe ausläuft“ (Flach, Kants Lehre, S. 467 f.). 123 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. B 177. 124 Flach, Idee, S. 162. 125 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. B 179 f. 126 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. B 178. 127 Flach, Idee, S. 164.
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tution der Bestimmtheit von objektiver Gegenständlichkeit überhaupt ist von der Regulation des empirischen Prozesses der Bestimmung der einzelnen Gegenstände zu unterscheiden. Nur wenn Gegenständlichkeit überhaupt in ihrer Bestimmtheit bereits konstituiert ist und theoretisch vorausgesetzt werden kann, kann der Prozeß der empirischen Bestimmung einzelner Gegenstände durch das Ideal der vollständigen Bestimmung methodologisch reguliert werden, beispielsweise in der Wissenschaft durch empirische Theorien und Methoden. Der Schematismus erfüllt die „Gelenkfunktion“128 zwischen der Konstitution und der Regulation. Erkenntnistheoretisch gesehen, vermittelt er zwischen der Möglichkeit der gegenständlichen Bestimmtheit überhaupt und der Möglichkeit einzelner, empirisch zu bestimmender Gegenstände. Der Schematismus leistet die Vereinzelung und Konkretisierung der Bestimmtheit überhaupt im Hinblick auf die Bestimmung der kontingenten Empirie, indem er die rein reflexive Bestimmtheit der Kategorien mit der Zeitlichkeit und Kontingenz der Erfahrung in Verbindung bringt. 3. Konstitution und Regulation in der Systemtheorie Es kann nun versucht werden, die oben aufgeworfene Frage zu beantworten, inwieweit die Identitätsreflexion bzw. Beobachtung dritter Ordnung zur „Erklärung der Autopoiesis eines Systems“129 beitragen kann. Zur Beantwortung dieser Frage überführen wir in Ergänzung zu den von Luhmann in die Systemtheorie importierten transzendentaltheoretischen Begriffen der Bedingung der Möglichkeit130, der Konstitution131 und des Schematismus132 auch den Begriff der Regulation in die Soziologie. Indem der systemtheoretische Begriff der Konstitution explizit von dem der Regulation unterschieden wird, können die bestimmungs- und reflexionstheoretischen Aspekte der Systemtheorie deutlicher herausgearbeitet werden. Ausgehend vom Theorem der mitlaufenden Selbstreferenz läßt sich das Problem der Reflexion systemtheoretisch analog zur Transzendentaltheorie in zwei Richtungen verfolgen: als Begründungsreflexion auf die konstitutive Bestimmtheit der Einheit der Elemente sozialer Systeme und als Identitätsreflexion auf die strukturelle Einheit der Funktionssysteme. Entsprechend der vorstehenden transzendentaltheoretischen Überlegungen stellen die Kontingenzformeln und Codes der Funktionssysteme eine soziologische Reformulierung des transzendentalen Ideals der durchgängigen empirischen Bestimmung dar. Die Kontingenzformeln der Funktionssystemcodes sind bestim128
Hiltscher, Wahrheit und Reflexion, S. 37. Luhmann, Wissenschaft, S. 515. 130 Vgl. bes. Luhmann, Wissenschaft, S. 330. Vgl. auch ebd., S. 127, Luhmann, Soziale Ordnung u. Luhmann, Soziale Systeme, S. 44, 122, 149, 165, 606. 131 Vgl. Luhmann, Sinn als Grundbegriff, S. 30, Luhmann, Funktion der Religion, S. 75, Luhmann, Soziale Systeme, S. 25, 51, 63, 149, 162, 226, 241 u. ö., Luhmann, Gesellschaft, S. 50 u. 150. 132 Vgl. Luhmann, Schematismen u. Luhmann, Soziale Systeme, S. 123 ff. 129
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mungslogisch gesehen Regulative. Die bisher behandelte Identitätsreflexion auf die strukturelle Einheit der Funktionssysteme in Form ihrer Codes ist dementsprechend als Reflexion auf die Regulation sozialer Systeme auszuweisen. Codes stellen einen empirischen Weltausschnitt, einen „Kontingenzraum“133, unter die Bestimmung einer Unterscheidung und lösen so die „Ausdifferenzierung entsprechender Funktionssysteme“134 aus. Da Codes aus „zwei entgegengesetzten Werten“135 unter Ausschluß dritter Werte bestehen, verweist jeder Wert immer nur auf seinen Gegenwert. Solche Unterscheidungen sind in sich vollständig.136 Ein Code ist deshalb ein in sich geschlossener, aber gesellschaftsweit gültiger Strukturbereich, eine „Kontextur“137, wie Peter Fuchs im Anschluß an Gotthard Günther formuliert: „Die Welt ist dann, was relativ auf den Code der Fall ist.“138 Codes sind jeweils vollständige und geschlossene Welten, die zugleich (Zu-)Ordnungskriterien – klassisch gesprochen: Grundsätze bzw. Prinzipien – für empirische Kommunikationsereignisse bereitstellen.139 Kontexturen bzw. „Codes sind […] Totalkonstruktionen, die unter der Prämisse des ausgeschlossenen Dritten weltuniversell angewandt werden können“ und die „an die Stelle von Prinzipien treten“140. Wenn es an anderen Stellen heißt, daß Codes semantikgeschichtlich an die Stelle von Ontologien treten,141 ist dies kein Widerspruch, weil Kants Lehre vom transzendentalen Ideal die transzendentaltheoretische Reformulierung vormals ontologischer Fragen ist.142 Wenn Luhmann ausführt: „der Code definiert die Einheit des Systems, er macht erkennbar, welche Operationen das System reproduzieren und welche nicht“143, dann setzt dies bereits konstituierte Kommunikation voraus. Der Code konstituiert die Einheit der Kommunikation nicht, sondern „[e]s kommt darauf an, daß die Kommunikation sich der Regulierung durch den Code unterstellt“144. Deshalb sind, analog zur transzendentalen Erkenntnislehre, für die auch falsche Urteile über Gegenstände stets falsche Urteile über Gegenstände sind (und nicht etwa nichtige Irrtümer), auch Operationen von Funktionssystemen, die dem negativen Codewert zugeordnet werden, stets anschlußfähige Operationen.145 133
Luhmann, Distinctions directrices, S. 19. Luhmann, Distinctions directrices, S. 18. 135 Luhmann, Gesellschaft, S. 360. 136 Vgl. Luhmann, Wissenschaft, S. 195, Luhmann, Gesellschaft, S. 361 ff. 137 Fuchs, Erreichbarkeit, S. 43 ff. Vgl. Günther, Life as Poly-Contexturality. 138 Fuchs, Erreichbarkeit, S. 77. 139 Vgl. Göbel, Theoriegenese, S. 241 ff. 140 Luhmann, Codierung und Programmierung, S. 195. 141 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 205 u. Fuchs, Erreichbarkeit, S. 48 ff. u. 77 ff. 142 Vgl. oben Anm. 58. 143 Luhmann, Wissenschaft, S. 401. 144 Luhmann, Recht, S. 69. 145 Vgl. Luhmann, Wissenschaft, S. 203. 134
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Die Einheit der Unterscheidung der beiden Codewerte wird durch Kontingenzformeln repräsentiert. Kontingenzformeln sind unbestreitbare Letztbegriffe, die für die spezifische Bestimmtheit von sozialen Systemen als Funktionssystemen stehen. Sie „bringen […] die Einheit beider Werte des Duals und damit Vollständigkeit […] zum Ausdruck“146. Bei Kontingenzformeln handelt es sich um die „Repräsentation der Einheit des Systems im System“147. Es geht also „um eine Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung des Systems“148, die jedoch nicht als Beobachtung von außen, nicht als Theorie vollzogen wird. Den Vorläufer für die Kontingenzformeln der Funktionssysteme wie Gerechtigkeit im Rechtssystem, Gemeinwohl in der Politik, Limitationalität im Wissenschaftssystem oder Knappheit im Wirtschaftssystem erblickt Luhmann im Gottesbegriff der abendländischen Tradition.149 In ihrer säkularisierten, funktionssystemspezifischen Form erscheinen Kontingenzformeln aus der Perspektive des jeweiligen Systems „als Idee, Prinzip oder Wert“150, die die Frage nach der Kontingenz des Systemgeschehens ausblenden. Kontingenzformeln „grenzen ein System gegen das gänzlich Unbestimmbare ab“151, indem sie andere Möglichkeiten unhinterfragbar ausschließen.152 Auf diese Weise kann nach Luhmann unbestimmbare in bestimmbare Kontingenz überführt werden.153 Das heißt, ähnlich wie sich das transzendentale Ideal durchgängiger Bestimmung auf das „Bestimmungsgefälle zwischen schon erteilten Bestimmungen und noch zu erteilenden Bestimmungen“154 bezieht und die (methodische) Überführung der Unbestimmtheit des empirischen (= kontingenten) Gegenstandes in Bestimmtheit ermöglicht, sind Kontingenzformeln „auf die Differenz von Unbestimmbarkeit und Bestimmbarkeit“155 im Sinne eines funktionssystemspezifischen Komplexitätsgefälles zwischen System und Umwelt gerichtet. Dies ermöglicht es, die unbestimmte Komplexität und Kontingenz der Welt in die bestimmte Komplexität und Kontingenz des Systems zu transformieren.156 146
Luhmann, Funktion der Religion, S. 202. Luhmann, Recht, S. 217. 148 Luhmann, Recht, S. 217. 149 Vgl. Luhmann, Funktion der Religion, S. 82 f. 150 Luhmann, Recht, S. 219. 151 Luhmann, Wissenschaft, S. 397. 152 So geht es eben in der Wissenschaft nicht um Knappheit und in der Kunst nicht um Gerechtigkeit. 153 Vgl. Luhmann, Funktion der Religion, S. 83, 90, Luhmann, Wissenschaft, S. 396 f. 154 Hiltscher, Der ontologische Gottesbeweis, S. 206. 155 Luhmann, Recht, S. 220. 156 Auch Komplexität, Welt und Sinn sind regulative Begriffe. Wenn Luhmann als komplex eine „zusammenhängende Menge von Elementen“ bezeichnet, innerhalb deren „nicht mehr jedes Element jederzeit mit jedem anderen verknüpft sein kann“ (Luhmann, Soziale Systeme, S. 46), dann setzt dies bereits konstituierte Elemente und Relationen voraus. Sinn und Welt sind Komplemente des Komplexitätsbegriffs. Sinn ist die systeminterne Appräsentation von Komplexität (vgl. ebd., S. 94), während Welt als „Sinneinheit der Differenz 147
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Man könnte sagen, daß Luhmann den Gedanken des transzendentalen Ideals vollständiger Bestimmung mit dem Gedanken der Differenzierung kombiniert, so daß es nicht mehr um die gewissermaßen eindimensionale oder monokontexturale prädikative Bestimmung von Dingen, sondern um eine polykontextural differenzierte Bestimmung von Kommunikationsereignissen geht. Unter der Leitidee einer Kontingenzformel sind die Kommunikationsereignisse eines Funktionssystems von vornherein jeweils in der Weise durchgängig bestimmt, daß sie entweder unter den positiven oder den negativen Codewert fallen. Zugleich unterscheiden sich diese in sich geschlossenen und vollständigen Weltbereiche von anderen solchen von System und Umwelt“ die systeminterne „Abschlußeinheit“ (ebd., S. 283) der Sinnverarbeitung ist. Sinnhafte Komplexität resp. Welt müssen deshalb aus Sicht der Systemtheorie als das regulative Ideal sozialer Systeme bestimmt werden. Als solches zeigt es die Differenz zwischen der Bestimmungsleistung des Systems und der vom System als Welt, das heißt als prinzipiell erreichbar zu unterstellenden, aber im Moment nicht realisierten Bestimmungen an. Anders formuliert: das System kann die Einheit der Unterscheidung von System und Umwelt empirisch durch Beobachtung nicht vollständig einholen, muß sie aber prinzipiell voraussetzen. Letzteres kann es, weil die konstitutive Bestimmtheit der Unterscheidung von System und Umwelt gesichert ist. Komplexität ist deshalb ein Reflexionsbegriff bzw. die allgemeinste Formulierung eines re-entry. Luhmanns klassische Formel der „Reduktion von Komplexität“ bringt das Bestimmungsgefälle auf den Begriff, indem innerhalb des Komplexitätsbegriffs unbestimmte und bestimmte bzw. offene und strukturierte Komplexität unterschieden werden: „Von Reduktion der Komplexität sollte man dagegen in einem engeren Sinne immer dann sprechen, wenn das Relationsgefüge eines komplexen Zusammenhanges durch einen zweiten Zusammenhang mit weniger Relationen rekonstruiert wird. Nur Komplexität kann Komplexität reduzieren. Das kann im Außenverhältnis, kann aber auch im Innenverhältnis des Systems zu sich selbst der Fall sein.“ (ebd., S. 49) Man muß Komplexität als Idee totaler Kohärenz, „die entstünde, wenn man alles mit allem verknüpfen würde, von der bestimmt strukturierten Komplexität […] unterscheiden, die ihrerseits dann aber nur kontingent seligiert werden kann“ (ebd., S. 50). Bestimmte Komplexität ist durch Systemstrukturen verfügbare Komplexität (was gleichwohl nicht vom Selektionszwang entbindet), während unbestimmte Komplexität die Idee der Einheit der Unterscheidung von System und Umwelt (= Welt) im System ist. Entscheidend ist also nach Luhmann „die Differenz von zwei Komplexitäten“: diese Differenz ist das „Form gebende […] Prinzip“ (ebd., S. 50) empirischer Systemoperationen. Vollständiges Erfassen des Systems oder der Umwelt ist, wie auch die Beobachtungstheorie zeigt, unmöglich. Gleichwohl ist die Differenz zwischen erreichter Bestimmung und einer imaginierten Abschlußeinheit vollständiger Bestimmung operativ relevant. Darauf bezogen entwirft Luhmann die funktionale Methode. Deren Bezugsproblem ist eben das „Problem der Komplexität“ (ebd., S. 90). Die funktionale Methode setzt, wie sollte es anders sein, „Vorhandenes“ (ebd., S. 83) bzw. „Gegebenes, seien es Zustände, seien es Ereignisse“ (ebd., S. 83 f.) als bereits konstituiert voraus. Dieses bereits Gegebene bzw. Vorhandene, das heißt dieses bereits durch Systeme basal Bestimmte (Ereignisse, Zustände), wird durch die funktionale Methode unter dem Gesichtspunkt seiner Komplexität und damit seiner Kontingenz erfaßt (so auch Fuchs, Theorie der Systemtheorie, S. 206). Die funktionale Methode dient gewissermaßen der Erfassung des ‚Materials‘ der Systembildung. Auch dies ist in genauer Analogie zur Transzendentalphilosophie gebaut, wo die transzendentalen Grundsätze auf die Materie als Inbegriff der Natur ausgerichtet sind (vgl. Flach, Idee, S. 175). Die Leitunterscheidung dabei ist die Differenz von Problem und Problemlösung.
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codierten Bereichen, das heißt von anderen, gleichzeitig bestehenden Funktionssystemen. Entsprechend greift die Identitätsreflexion auf die Einheit der Funktionssysteme nicht auf die Konstitution der Kommunikation als solcher durch, sondern ist auf die Voraussetzung bereits konstituierter Kommunikationen angewiesen, die durch Kontingenzformeln und Codes empirisch je spezifisch bestimmt werden. Durch Identitätsreflexion und insbesondere durch Reflexionstheorien von Funktionssystemen wird gegenüber der basalen Selbstreferenz eine „höherstufige Kontrolle“ der „Selektion der eigenen Möglichkeiten“157 erreicht. Durch Wiedereinführung der Differenz von System und Umwelt ins System erlangt das System „Möglichkeiten der Selbststeuerung“158 und Orientierung. In diesem Sinne formuliert Luhmann denn auch, „daß die Differenz von System und Umwelt in den Systemen selbst […] zur Regulierung ihrer Operationen benutzt wird“159. Um das Problem deutlicher zu konturieren, ist an dieser Stelle eine Betrachtung der Luhmannschen Theorieentwicklung einzuschieben. Andreas Göbel hat gezeigt, daß auf dem Weg von der als Kommunikationstheorie (und nicht als Gesellschaftstheorie) angelegten allgemeinen Theorie sozialer Systeme160 über die differenzierungstheoretischen Untersuchungen über die einzelnen Funktionssysteme der Wirtschaft, der Wissenschaft, des Rechts, der Kunst, der Politik und der Religion161 bis hin zum gesellschaftstheoretischen Schlußstein Die Gesellschaft der Gesellschaft162 eine Verschiebung in den Grundbegriffen festzustellen ist, die zu einer immer stärker ausgeprägten beobachtungstheoretischen Anlage der Systemtheorie führt.163 Die beobachtungstheoretische Umarbeitung betrifft vor allem die Gesellschaftstheorie. Im Zuge dessen scheint sich die Explikation der Konstitution sozialer Systeme zunehmend vom kommunikationstheoretischen Theorem der doppelten Kontingenz auf die Beobachtung der Entfaltung von funktionssystemspezifischen Paradoxien der Beobachtung zu verlagern.164 Es läßt sich Göbel 157
Luhmann, Soziale Systeme, S. 617. Schneider, Grundlagen II, S. 371, am Beispiel der Wissenschaft. 159 Luhmann, Soziale Systeme, S. 247 (Hervorh. hinzugefügt). 160 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 18, 127, 222, 261, 345. 161 Vgl. u. a. Luhmann, Wirtschaft, Luhmann, Wissenschaft, Luhmann, Recht u. Luhmann, Politik. 162 Luhmann, Gesellschaft. 163 Vgl. Göbel, Theoriegenese, S. 169 – 258. 164 Vgl. Göbel, Theoriegenese, S. 207 ff. Zur Illustration: So hat es etwa das politische System seit seiner Ausdifferenzierung aufgrund der Monopolisierung der Gewalt mit der paradoxen Frage zu tun, ob die oberste politische Entscheidungsinstanz ihren eigenen Entscheidungen unterworfen und damit kontrollierbar sei oder nicht (vgl. Luhmann, Politik, S. 33 ff. u. 319 ff.; vgl. dazu ausführlich Göbel, Selbstbeschreibung). Solche Paradoxien können nach Luhmann niemals aufgelöst oder vermieden, sondern nur in produktiver Weise gedeutet werden. Paradoxien werden kreativ „entfaltet“, indem sie durch eine jeweils einleuchtende, aber historisch variable Unterscheidung ersetzt werden und dadurch solange 158
II. Das Problem der Reflexion
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zufolge eine Tendenz in der Theorieentwicklung erkennen, welche den Begriff der Paradoxie des Beobachtens aus dem Theoriekontext der Selbstbeschreibung bzw. Reflexion der Identität des sozialen Systems heraus auch auf die operative Konstitution der Einheit der Elemente sozialer Systeme, das heißt der Kommunikation, ausweitet.165 Letzteres werde erstmals in Die Wissenschaft der Gesellschaft systematisch durchgeführt, wo Luhmann denn auch von einer „konstitutiven Paradoxie des Systems“166 spricht. Durch diese Verschiebung der Konstitutionsproblematik aus der Kommunikations- in die Gesellschaftstheorie verliert aber der Begriff der Konstitution seine Eindeutigkeit, sodaß Luhmann in der Folge „die paradoxale Konstitution auch auf der Ebene der Elemente“167, das heißt der Kommunikation, zu rekonstruieren versucht. Erst dies führt nach Göbel zur Radikalisierung auch des Beobachtungsbegriffs, von dem aus in der späten Theoriephase die „Grundierung der Gesamt- in einer Beobachtungstheorie“168 erfolgt.169 Verglichen mit der Kommunikationstheorie (Soziale Systeme) kehrt sich offenkundig die konstitutionstheoretische Perspektive um: das Problem wäre nicht mehr, wie man von der durch das Theorem der doppelten Kontingenz explizierten Konstitution der Elemente sozialer Systeme über die Theorie der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien zu der Theorie der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft kommt, das heißt, wie Kommunikation und funktionale Differenzierung verkoppelt sind, sondern umgekehrt: „Die Beobachtungstheorie ist die Antwort auf den Versuch, die gesellschaftstheoretischen Grundeinsichten in die funktionale Differentialität der modernen Gesellschaft auf dem Niveau singulärer Kommunikationen zu sichern.“170
strukturbildend wirken, bis die Paradoxie wieder durchscheint. So überdeckt etwa derzeit noch die Unterscheidung von Regierung und Opposition die Paradoxie der Demokratie als Herrschaft der Beherrschten (vgl. Luhmann, Politik, S. 323 ff.). 165 Göbel, Theoriegenese, S. 12, 18 u. 216 f. 166 Luhmann, Wissenschaft, S. 323 (Hervorh. hinzugefügt). Vgl. auch ebd., S. 194. 167 Göbel, Theoriegenese, S. 217. 168 Vgl. Göbel, Theoriegenese, S. 24. 169 Denn die letzte Paradoxie ist die Paradoxie des Beobachtens, derzufolge man im Vollzug des Beobachtens sein eigenes Beobachten nicht beobachten kann (Beobachtung erster Ordnung). Sie wird dadurch entfaltet, daß sich genau dies empirisch beobachten läßt, weil es Beobachter gibt, die andere Beobachter beim Beobachten beobachten (Beobachtung zweiter Ordnung). Funktionssysteme erscheinen daraufhin als rekursiv geschlossene Zusammenhänge der Beobachtung zweiter Ordnung, die in der Wissenschaft etwa anhand von Publikationen anderer Wissenschaftler, in der Politik anhand der öffentlichen Meinung, in der Wirtschaft am Markt anhand von Preisen usw. Struktur gewinnt. In dieser Hinsicht kennt Luhmann schließlich sogar einen ansonsten nicht mehr vorhandenen gesellschaftlichen „Zentralpunkt […]: daß man beobachten kann, daß der Beobachter nicht beobachten kann, wie er beobachtet. Die eigentümliche Ausnahmslosigkeit dieser Struktur […] liegt für uns in der Operation des Beobachtens selber“ (Luhmann, Gesellschaft, S. 1127 f.). 170 Göbel, Theoriegenese, S. 231.
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Diese Problemformulierung setzt also nicht mehr gewissermaßen innerhalb des Kommunikationsbegriffs über bestimmte Alter-Ego-Konstellation am Problem des Erfolgs der Kommunikation, also der Unwahrscheinlichkeit ihrer Annahme, an, sondern es geht um die Disposition konkreter Kommunikationsereignisse von den Funktionssystemen her im Sinne der bestimmt „gerichteten Anschlußfähigkeit von systemspezifischen an systemspezifischen Kommunikationen“171. Denn die Kommunikationstheorie könne nur die allgemeine „‚Typik‘ des Sozialen“, eben Kommunikation, nicht aber „die ‚Typik‘ der Elemente von Funktionssystemen“172 erklären. In letzterer Hinsicht verlagere sich die Frage darauf: „wie erkennen systemspezifische Kommunikationen systemspezifische Kommunikationen?“173 Dies eben ist ein Beobachtungsproblem, welches über den Begriff des Codes beantwortet wird.174 Andreas Göbel scheint das oben erwähnte Problem der Dopplung im Begriff der Gesellschaft zwischen einer kommunikations- und einer gesellschaftstheoretischen Bestimmung dadurch lösen zu wollen, daß er das Verhältnis von konstitutionstheoretischer Sozialtheorie und strukturtheoretischer Gesellschaftstheorie umkehrt und die Konstitutionstheorie qua Kommunikationstheorie in die Gesellschaftstheorie qua Differenzierungstheorie integriert: „Im Grunde nämlich dreht die Systemtheorie in der Luhmann’schen Bauart das Verhältnis von allgemeiner Sozialsystemtheorie und ihr gegenüber spezieller gefassten Gesellschaftstheorie nachgerade um.“175
Damit wird das systemtheoretische Grundproblem der Selbstreferenz nicht mehr primär konstitutions-, das heißt kommunikationstheoretisch über die Situation der doppelten Kontingenz, sondern wissenssoziologisch, das heißt ausgehend vom Problem einer sich selbst beschreibenden Gesellschaft formuliert.176 Auf die kürzeste Formel gebracht: „Die moderne Gesellschaft (und nicht nur sie!) ist eine sich selbst beschreibende; die Gesellschaft ist eine ‚Gesellschaft der Gesellschaft‘.“177 Göbels programmatische Deutung der Systemtheorie als Wissenssoziologie geschieht in der Absicht, „in einer reflexiven Wendung nach dem historischen Index der Differenzierbarkeit von Sozial- und Gesellschaftstheorie […], nach ihrer historischen Möglichkeitsbedingung also“178 zu fragen. Das Ziel ist – wenn man dies so sagen kann – die Historisierung der Theorie entsprechend der historisch verstandenen Gesellschaft,179 genauer gesagt, die Beantwortung der Frage der Systemtheorie nach ihren geschichtlichen Bedingungen der Möglichkeit 171
Göbel, Theoriegenese, S. 231. Göbel, Theoriegenese, S. 171. 173 Göbel, Theoriegenese, S. 231. 174 Vgl. Göbel, Theoriegenese, S. 234 ff., bes. S. 237 f. 175 Göbel, Société perdu?, S. 64. 176 Vgl. Göbel, Theoriegenese, S. 11 f. u. passim sowie Göbel, Société perdu?, S. 67 f. 177 Göbel, Société perdu?, S. 68. 178 Göbel, Société perdu?, S. 64. 172
II. Das Problem der Reflexion
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als Sozial- resp. Gesellschaftstheorie. Dies führt bei Göbel zu einem Primat der Gesellschaftstheorie gegenüber der Sozialtheorie, denn die „Antwort darauf kann wiederum nur gesellschafts- und eben nicht mehr sozialtheoretisch ausfallen. Die Antwort auf die Frage nach der Unterscheidung von Sozial- und Gesellschaftstheorie ist selbst gesellschaftstheoretisch fundiert“180. Das bedeutet, daß Luhmanns Kommunikationstheorie letztlich an bestimmte geschichtliche Voraussetzungen gebunden ist, die aber nur gesellschaftstheoretisch formuliert werden können.181 Dieses Ziel der geschichtlichen Rückbindung der Gesellschaft wie der Systemtheorie, das von der vorliegenden Untersuchung geteilt wird, führt in Göbels Vorschlag jedoch dazu, daß doppelte Kontingenz für soziale Systeme nicht mehr als „sozialtheoretische Grundfigur, auf deren Basis man sich die Entstehung sozialer Ordnung […] vergegenwärtigen kann“182 in Frage kommt, sondern auf „den Status eines Methodikums“183 beschränkt wird. Damit verliert das im folgenden Kapitel zu rekonstruierende Problem der doppelten Kontingenz seinen für Sozialität konstitutiven Status. Doppelte Kontingenz konstituiert nicht mehr reale soziale Systeme, sondern dient lediglich deren methodischer Rekonstruktion.184 179
Anhand der hier angelegten Unterscheidung von Konstitution, Regulation und Schematismus läßt sich die von Andreas Göbel nachgezeichnete Verlagerung der Grundbegriffe in Luhmanns Theorieentwicklung genauer als Akzentverschiebung des Problemschwerpunktes von der Konstitution qua doppelter Kontingenz in der Kommunikationstheorie auf die Regulation qua Codierung durch die Leitdifferenzen der Funktionssysteme in der Gesellschafts- und Differenzierungstheorie kennzeichnen. Wenn die Analyse von Andreas Göbel zutrifft, dann besteht das Ziel der beobachtungstheoretischen Grundlegung darin, die Unterscheidung von Regulation und Konstitution zu nivellieren und die Kommunikationstheorie in der Gesellschaftstheorie aufgehen zu lassen. Man könnte dann mit Gotthard Günther sagen, daß Luhmanns beobachtungstheoretisch durchgearbeitete Gesellschaftstheorie das Verhältnis von Konstitution und Regulation umkehrt und zugunsten der Regulation verabsolutiert. Vor dem Hintergrund der älteren Selbstreferenztheorien optierte Luhmanns Beobachtungstheorie somit für Hegel und gegen Kant. Dies wird von Göbel sehr deutlich so gesehen: 179 Göbel
weist darauf hin, daß dieses Programm von „Luhmann selbst sicher deutlich zurückgewiesen“ worden wäre, weil es Luhmann selbst „um die Evolution von Ideen, nicht um Geschichte“ (Göbel, Theoriegenese, S. 274, Anm. 475) ging. 180 Göbel, Société perdu?, S. 64. 181 An anderer Stelle formuliert Göbel den „Anspruch, eine Theorie der modernen Gesellschaft möge eine moderne Theorie dieser Gesellschaft sein“ (Göbel, Dritter Sein, S. 153). 182 Göbel, Dritter Sein, S. 151. 183 Göbel, Dritter Sein, S. 152. 184 „Im Rahmen des Luhmann’schen Theoriesettings bildet das Theorem doppelter Kontingenz – in unwahrscheinlichkeitsepistemologischer Einstellung – vielmehr den Hinweis auf das fortlaufend sich reproduzierende Problem, auf das hin soziale Systeme in ihrem Ordnungscharakter rekonstruiert werden können.“ (Göbel, Dritter Sein, S. 151).
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„Die wissenssoziologisch motivierte Selbstreflexion der Gesellschaftstheorie ist in diesem Verständnis die eigentliche Erbin der Hegelschen Geistphilosophie. So weit entfernt ist die Relation der Beschreibungsform ‚funktionale Differenzierung‘ zu der Strukturform ‚funktionale Differenzierung‘ von der Figur der zu sich selbst kommenden Weltgeschichte nicht – zumindest spätestens dann nicht mehr, wenn man ‚Beobachtung‘ epistemologisch als ‚Grundbedingung des Erkennens schlechthin‘ interpretiert.“185
Gegen diese hegelianisierende Lesart setzen wir auf eine gleichsam Kantische Sichtweise, die aber über das Hegelsche Reflexionsproblem informiert ist. Identitätsreflexion als Beobachtung dritter Ordnung vermag die Bedingungen Möglichkeit der Konstitution der Einheit der Elemente sozialer Systeme nicht zu explizieren, da die basale Selbstreferenz keine Beobachtungsleistung ist. Die Konstitution der Einheit der Elemente sozialer Systeme geschieht nicht durch (Selbst-)Beobachtung, sondern eben selbstreferentiell, weshalb „Selbstbeobachtung […] von der Einheit der Reproduktion der Einheiten des Systems (Autopoiesis) sorgfältig unterschieden werden [muß]“186. Zum andern kann nach Luhmann „Kommunikation nicht direkt beobachtet, sondern nur erschlossen werden“187. Ihre Konstitution läßt sich beobachtungstheoretisch nicht einholen und ist anders gelagert als die bisher behandelte Identitätsreflexion resp. Beobachtung dritter Ordnung. Die Explikation der Konstitution der Bestimmtheit sozialer Systeme erfordert eine besondere Reflexion, die man als Begründungsreflexion bezeichnen kann. Die folgende Darstellung geht daher davon aus, daß Luhmann auch in seinem Spätwerk an der kommunikationstheoretischen Konstitutionstheorie des Sozialen festgehalten hat. Nur der Schwerpunkt der Betrachtung bzw. die Akzentuierung der Begriffe hat sich auf die Beobachtungs- bzw. Paradoxietheorie verlagert. Die konstitutionstheoretischen Grundbegriffe sind möglicherweise in den Hintergrund getreten, können jedoch aus systematischen Gründen nicht relativiert, ausgetauscht oder fallengelassen worden sein. Da die im ersten Kapitel aufgewiesenen Grenzprobleme nicht die Selbstregulation sozialer Systeme, sondern die Konstitution ihrer Bestimmtheit betreffen, wird im folgenden Kapitel die systemtheoretische Reflexion der Konstitution sozialer Systeme untersucht. Trotz des hier vertretenen konstitutionstheoretischen Anspruchs soll am Ziel einer geschichtlichen Verortung der modernen Gesellschaft wie auch der Systemtheorie festgehalten werden. Daß „[k]eine Konstitutionstheorie […] ihre eigene Genese konstitutionstheoretisch erklären“188 kann, ist zwar für die Erkenntnistheorie zutreffend. Ein Objekt kann sich seinem Erkanntwerden nicht verweigern. Wie im folgenden Kapitel gezeigt wird, ist dies in der Soziologie jedoch anders. Im Bereich des Sozialen ist eine Zurückweisung sozialer Situationen, insbesondere der Situation doppelter Kontingenz, denkbar. Somit wird es möglich, der doppelten Kontingenz selbst einen historischen Index nachzuweisen. 185
Göbel, Theoriegenese, S. 273. Luhmann, Soziale Systeme, S. 61. 187 Luhmann, Soziale Systeme, S. 226. 188 Göbel, Société perdu?, S. 64. 186
III. Kommunikation und soziale Systeme
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III. Kommunikation und soziale Systeme Luhmann führt in Soziale Systeme eine Begründungsreflexion durch. Ihr Thema ist die Konstitution der Einheit sozialer Systeme aufgrund von Selbstreferenz.1 Selbstreferenz verdankt sich dem Problem der doppelten Kontingenz als dem „Grundproblem der Konstitution sozialer Systeme“2. Von einem Zugang zur basalen Selbstreferenz des Sozialen ist sowohl im „alltäglichen“ Operieren sozialer Systeme in Form mitlaufender Selbstreferenz als auch in Form einer ausdrücklichen Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit sozialer Systeme auszugehen.3 Doppelte 1 Vgl. Göbel, Theoriegenese, S. 180 – 184. Betrachtet man die Theorieentwicklung hin zu Soziale Systeme, liegt die „Erweiterung gegenüber den früheren Annahmen […] vor allem im Konzept basaler Selbstreferenz begründet. […] Über das schlichte Vorkommen von Selbstreferenz hinaus wird die Generalisierung und Respezifikation als basale Selbstreferenz deshalb einen stärker konstitutiven Aspekt aller Selbstreferentialität hervorheben.“ (Göbel, Theoriegenese, S. 177). 2 Luhmann, Soziale Systeme, S. 165. Luhmann spricht auch vom „Problem der systemkonstituierenden doppelten Kontingenz“ (ebd., S. 162). Die hier verfolgte Interpretation unterscheidet sich vom Ansatz Rainer Schützeichels, der den Sinnbegriff für den Grundbegriff der Systemtheorie hält (vgl. Schützeichel, Sinn als Grundbegriff). Schützeichel unterscheidet hinsichtlich der Theorierekonstruktion „fundamentalistische[] Theorien“ von „Kohärenztheorien“ (ebd., S. 12) und stellt fest, daß für die Systemtheorie allein die kohärenztheoretische Sichtweise fruchtbar sei (vgl. ebd., S. 14). Deren „Überzeugungen“ seien „nicht begründungspflichtig oder begründungsbedürftig“, sondern „stützen sich gegenseitig und stehen untereinander in reziproken inferentiellen Begründungszusammenhängen“ (ebd., S. 12 f.). Die Kernfrage der Systemtheorie sei deshalb die Frage „nach den Bedingungen der Möglichkeit der Genese von Sinn im Operieren sozialer Systeme und nach der Bedingung der Möglichkeit des Operierens sozialer Systeme im Medium Sinn“ (ebd., S. 17, vgl. auch S. 73). Dementsprechend wird der Systembegriff depotenziert und als nachrangig behandelt (ebd., S. 57), sodaß doppelte Kontingenz lediglich für die Konstitution der Sozialdimension von Sinn und nicht für die Konstitution von Systemen bedeutsam ist (ebd., S. 74 ff.). Der Schwachpunkt dieser Argumentation ist, daß ausgehend vom Sinnbegriff weder die Bestimmtheit des Anschlußgeschehens sozialer Systeme noch die Bestimmtheit von Sinn erklärt werden kann. 3 Armin Nassehi faßt die Frage nach der Konstitution sozialer Systeme als Frage nach der Enttautologisierung selbstreferentieller Zirkel (vgl. Nassehi, Wie wirklich sind Systeme?, S. 59 f.). Die Bestimmtheit der Einheit der Elemente des Systems gehe auf „Asymmetrisierungen“ der tautologischen Zirkel zurück, durch die ein System Realität als „für sich selbst unsichtbare Setzungen“ (ebd., S. 60) erreiche. Diese anschlußermöglichenden Setzungen glichen selbsterzeugten Ontologien (vgl. ebd., S. 63), deren Dekomponierbarkeit durch Beobachtungen verhindert werden müsse, also einer „Beobachtungsblockade“ (ebd., S. 60) unterliege. Nassehi kommt zu dem Schluß, daß auch der „Satz ‚Es gibt soziale Systeme‘ […] als asymmetrisierende Setzung eines kommunikativen Geschehens“ (ebd., S. 64) zu betrachten sei, durch den sich die Systemtheorie selbst asymmetrisiere, also letztlich wie jedes System auf eine „Auto-Ontologisierung des selbstreferentiellen Operierens“ (ebd., S. 63) angewiesen sei. Der negative Begriff der Beobachtungsblockade deutet darauf hin, daß Nassehi letztlich versucht, das Konstitutionsproblem beobachtungstheoretisch einzufangen. Dagegen ist einzuwenden, daß die selbstreferentielle Konstitution sozialer Systeme ihrer Beobachtbarkeit vorgelagert ist. Sie kann daher nicht beobachtungstheoretisch erfaßt werden. Auch
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Kontingenz ist damit nicht nur das Grundproblem des Sozialen, sondern auch der Soziologie, für die es den Ausgangspunkt der Reflexion auf die selbstreferentielle Konstitution der Einheit sozialer Systeme darstellt.4 Luhmann verfolgt hierbei das schon früher formulierte Programm einer „Verbindung von Konstitutionsanalyse und Systemtheorie“, um „über eine erkenntnistheoretische Fassung des Problems der Konstitution […] hinauszugelangen“5, weil Sozialität im Rahmen der Thematik des Seins bzw. objektiver Gegenständlichkeit nicht zu erfassen ist. Vielmehr ist die Wirklichkeit des Handelns und der Kommunikation bereits in sich selbst reflexiv. Gleichwohl ist die Systemtheorie als Konstitutionstheorie des Sozialen als Bestimmungstheorie angelegt. Als solche soll sie im folgenden rekonstruiert werden. 1. Die Konstitution sozialer Systeme: Grenzbildung durch doppelte Kontingenz Die bestimmungstheoretische Analyse ist kein von außen an die Systemtheorie herangetragenes Interesse, sondern Luhmanns Darstellung ist selbst von bestimmungstheoretischen Überlegungen getragen. So bezeichnet er Autopoiesis auch als „Prozeß basaler selbstreferentieller Bestimmung“6, in dem „[j]ede Operation […] entsprechende Bestimmungen vollziehen [muß] – nicht so sehr um der eigenen Bestimmtheit willen, sondern deshalb, weil andernfalls keine weiteren Operationen angeschlossen werden könnten“7. Die Konstitution der Bestimmtheit und das empirische Bestimmungsgeschehen sozialer Systeme werden von Luhmann anhand des Problems doppelter Kontingenz expliziert. Ausgangspunkt der Analyse ist die Rekonstruktion einer selbstreferentiellen Unbestimmtheit. In einer ersten Annäherung an den Begriff der doppelten Kontingenz lassen sich zwei Bedeutungen des Begriffs der Kontingenz unterscheiden.8 Die erste Beder Begriff der (Auto-)Ontologie ist unzureichend, da er lediglich auf regulative Verhältnisse Anwendung finden, zur Konstitutionsproblematik jedoch nichts beitragen kann. 4 Die hier vertretene Auffassung sieht sich durch die erst nach Fertigstellung meiner Dissertationsschrift veröffentlichte Untersuchung Jurit Kärtners weitgehend bestätigt, wonach doppelte Kontingenz das „Ausgangsproblem des Sozialen und der soziologischen Theorie“ (Kärtner, Das Problem der doppelten Kontingenz, S. 60) darstellt. Kärtners Vorschlag einer Neufassung der Systematisierung der „Teiltheorien der Gesellschaft“ nach Sinndimensionen (vgl. ebd., S. 73) entspricht in etwa der hier vorgeschlagenen Dreiteilung in Konstitution (bei Kärtner u. a. Zeittheorie, Handlungstheorie), Regulation (bei Kärtner u. a. Theorie der Selektionsbereiche, Struktur- und Systemdifferenzierungstheorie) und Schematismus (bei Kärtner u. a. Theorie sozialer Positionen, Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien). 5 Luhmann, Funktion der Religion, S. 75, Anm. 6. 6 Luhmann, Soziale Systeme, S. 182. 7 Luhmann, Soziale Systeme, S. 123. 8 Vgl. zu dieser Doppeldeutigkeit in theoriegeschichtlicher Hinsicht Göbel, Theoriegenese, S. 88 ff., Schneider, Grundlagen II, S. 126, Anm. 38 u. Kärtner, Das Problem der doppelten Kontingenz, S. 61 – 64.
III. Kommunikation und soziale Systeme
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deutung entspricht der deutschen Übersetzung des englischen contingent on als „abhängig sein von etwas“. Doppelte Kontingenz bedeutet dann zunächst, „daß kein Handeln zustandekommen kann, wenn Alter sein Handeln davon abhängig macht, wie Ego handelt und Ego sein Verhalten an Alter anschließen will. Der reine, nicht weiter elaborierte Zirkel selbstreferentieller Bestimmung läßt das Handeln unbestimmt, macht es unbestimmbar.“9
Mit der Formulierung des doppelten Abhängig-Seins vom jeweils anderen gibt Luhmann die handlungstheoretische Bedeutung wieder, in der Talcott Parsons den Begriff der double contingency verwendet.10 Kontingenz wird von Luhmann aber auch modaltheoretisch als Negation von Unmöglichkeit und Notwendigkeit definiert: etwas Gegebenes ist so, wie es ist, wäre aber auch anders möglich.11 In dieser Hinsicht wird die Kontingenz des Verhaltens aufgrund der Intransparenz und Unvorhersehbarkeit des Verhaltens des jeweils anderen problematisch. Luhmann faßt das Problem der doppelten Kontingenz deshalb nicht als Problem der Koordinierung von Handlungen, sondern als „Problem der Verhaltensabstimmung“12 zweier selbstreferentieller Systeme, das aktuell wird, wenn zwei Systeme – von Luhmann zumeist als Ego und alter Ego (kurz: Alter) bezeichnet – aufeinander treffen und sich in ihrer wechselseitigen Undurchschaubarkeit und Unberechenbarkeit erfahren.13 Verhalten wird erst im Kontext von doppelter Kontingenz zum Handeln (bzw. zum Erleben).14 9
Luhmann, Soziale Systeme, S. 149. auch Luhmann, Sinn als Grundbegriff, S. 62 f. u. Luhmann, Einführung in die Systemtheorie, S. 318. Sowohl Göbel, Theoriegenese, S. 88 ff. als auch Kärtner, Das Problem der doppelten Kontingenz, sind der Auffassung, daß das Moment der wechselseitigen Abhängigkeit in Luhmanns Fassung des Theorems der doppelten Kontingenz keine Rolle mehr spielt. Ich halte dies für fraglich. Vgl. etwa Luhmann, Soziale Systeme, S. 166: „Wenn zusätzlich zur eigenen Verhaltensunsicherheit auch die Verhaltenswahl eines anderen unsicher ist und vom eigenen Verhalten mitabhängt, entsteht die Möglichkeit, sich genau daran zu orientieren und im Hinblick darauf das eigene Verhalten zu bestimmen.“ Vgl. in diesem Sinn auch Wolfgang Ludwig Schneiders Interpretation, daß „[d]oppelte Kontingenz […] meint […], daß jedes psychische System eine Auswahl aus unterschiedlichen Verhaltensmöglichkeiten trifft, die auch anders hätte ausfallen können und seine eigene kontingente (= auch anders mögliche) Auswahl von der kontingenten Auswahl des anderen abhängig [!, AH] macht“ (Schneider, Grundlagen II, S. 257). 11 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 152. 12 Luhmann, Soziale Systeme, S. 151. 13 „Zu einem Akutwerden doppelter Kontingenz genügt jedoch nicht die bloße Faktizität der Begegnung; zu einem motivierenden Problem der doppelten Kontingenz (und damit: zur Konstitution sozialer Systeme) kommt es nur, wenn diese Systeme in spezifischer Weise erlebt und behandelt werden: nämlich als unendlich offene, in ihrem Grunde dem fremden Zugriff entzogene Möglichkeiten der Sinnbestimmung. Deshalb die Spezialterminologie Ego und Alter bzw. alter Ego. Die Begriffe Ego und Alter sollen mithin offen halten, ob es sich um psychische oder um soziale Systeme handelt; und sie sollen offen halten, ob diese Systeme einem bestimmten Prozessieren von Sinn zustimmen oder nicht.“ (Luhmann, Soziale Systeme, S. 151 f.). 14 Luhmann lehrt, „daß das Problem der doppelten Kontingenz allem Verhalten der beteiligten Systeme […] eine Zusatzqualität verleiht: Das Verhalten reduziert eben jene 10 Vgl.
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Um die Undurchsichtigkeit der beiden Systeme sowie deren Indifferenz gegenüber der Unterscheidung von psychischen und sozialen Systemen hervorzuheben, bezeichnet Luhmann diese auch als „black boxes“.15 Diese sind vor allem „als in ihrem Grunde dem fremden Zugriff entzogene Möglichkeiten der Sinnbestimmung“16 relevant. Nach Luhmann sind zwei Aspekte des Problems doppelter Kontingenz zu unterscheiden und in ihrem Zusammenspiel zu untersuchen.17 Denn es „verschieben, überlagern und ergänzen sich zwei verschiedene Fassungen des Problems der doppelten Kontingenz: eine kurzschlüssige, die nur Unbestimmtheit referiert, und eine strukturierte, die mit Konditionierungen und mit limitierten Alternativen rechnet und auf Systemvorgaben angewiesen ist.“18
Luhmann spricht in diesem Zusammenhang auch von den „beiden selbstreferentiellen Zirkel[n]“, die jeweils „über alter Ego und über soziales System“19 laufen. Die über alter Ego laufende Selbstreferenz ist der „primäre Selbstbezug […] der Elemente, die für selektive Kombination geschaffen und zur Verfügung gestellt werden“ (indem Verhalten zu Handlung wird), während die „andere Ebene der Selbstreferenz“ im „Bezug auf das soziale System, das die basale Selbstreferenz erst ermöglicht“20, besteht. Letztere Selbstreferenz ist die Selbstreferenz der Kommunikation. Luhmann formuliert diese Unterscheidung zweier Selbstreferenzen auch bestimmungstheoretisch. Die elementare Selbstreferenz von Ego und alter Ego ist in der Form einer „ursprünglichen, zirkelhaften Unbestimmtheit gegeben“21. Unbestimmtheit, die aus der doppelten Kontingenz folgt. Es qualifiziert sich selbst unter diesem Aspekt als Handlung. Es fand sich im Raum der doppelkontingenten Unsicherheit freigesetzt, so daß jeder Vollzug Selektion und jede Selektion Limitierung bedeutet. Auf der Ebene der Emergenz sozialer Systeme werden diejenigen Elemente erst konstituiert, aus denen diese Systeme sich produzieren, und diese Autopoiesis erfordert die Konstitution der Einheit des Systems als selbstreferentieller Zirkel.“ (Luhmann, Soziale Systeme, S. 167 f.). Vgl. auch Kärtner, Das Problem der doppelten Kontingenz, S. 67 f. 15 „Zum Unterbau, der im Theorem der doppelten Kontingenz vorausgesetzt ist, gehören hochkomplexe sinnbenutzende Systeme, die für einander nicht durchsichtig und nicht kalkulierbar sind. Dies können psychische oder soziale Systeme sein. Wir müssen von deren Unterschied einstweilen absehen und sprechen deshalb von ‚black boxes‘.“ (Luhmann, Soziale Systeme, S. 156). 16 Luhmann, Soziale Systeme, S. 152 (Hervorh. hinzugefügt). 17 Vgl. zu dieser Doppelaspektigkeit der doppelten Kontingenz auch Kärtner, Das Problem der doppelten Kontingenz, der dies glänzend herausarbeitet. 18 Luhmann, Soziale Systeme, S. 184. 19 Luhmann, Soziale Systeme, S. 183. Kärtner, Das Problem der doppelten Kontingenz, S. 63 ff. hebt hervor, daß die hier von Luhmann verwendete Terminologie von Ego und alter Ego irreführend ist, daß sich die Unterscheidung von Ego und alter Ego erst nach erfolgter Lösung des Problems doppelter Kontingenz, das heißt erst im Zusammenhang von Kommunikation ausdifferenziert. 20 Luhmann, Soziale Systeme, S. 183. 21 Luhmann, Soziale Systeme, S. 184.
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Der Selbstreferenz des Systems hingegen kommt eine „selektive Bestimmtheit“ zu, durch die das System immer schon „bestimmt“ und weiter „bestimmbar“22 ist. Luhmann stellt das Problem der doppelten Kontingenz in seiner primären, elementaren Form wie folgt dar: „Die Grundsituation der doppelten Kontingenz ist dann einfach: Zwei black boxes bekommen es, auf Grund welcher Zufälle immer, miteinander zu tun. Jede bestimmt ihr eigenes Verhalten durch komplexe selbstreferentielle Operationen innerhalb ihrer Grenzen. Das, was von ihr sichtbar wird, ist deshalb notwendig Reduktion. Jede unterstellt das gleiche der anderen. Deshalb bleiben die black boxes bei aller Bemühung und bei allem Zeitaufwand (sie selbst sind immer schneller!) füreinander undurchsichtig.“23
Luhmann geht also zunächst von einer Bestimmtheit aus, nämlich der durch die jeweiligen internen Bestimmungsoperationen der beiden beteiligten Systeme herbeigeführten, für das jeweils andere aber unerreichbar bleibenden Bestimmtheit. Weil diese Bestimmtheit Resultat jeweils interner Bestimmungen ist, läßt sie sich nicht in soziale Bestimmtheit übersetzen, sondern führt vielmehr zum Problem wechselseitiger Intransparenz, das heißt Unbestimmtheit: „Verhalten ist nicht an sich unbestimmbar, nicht von ‚Natur‘ aus ‚frei‘ im Sinne von: offen für willkürliche Bestimmung. Unbestimmbar wird das Verhalten anderer erst in der Situation doppelter Kontingenz und speziell für den, der es vorauszusagen versucht, um eigene Verhaltensbestimmungen anhängen zu können. In der Metaperspektive der doppelten Kontingenz ergibt sich dann eine durch Voraussage erzeugte Unbestimmbarkeit.“24
Die von den beteiligten Systemen reflektierte Differenz von eigener Bestimmtheit und daraus resultierender Unbestimmtheit im Verhältnis zueinander führt daraufhin zur Unterstellung von Unbestimmtheit als Bestimmbarkeit auf sozialer Ebene: „Selbst wenn sie strikt mechanisch operieren, müssen sie deshalb im Verhältnis zueinander Indeterminiertheit und Determinierbarkeit unterstellen. Selbst wenn sie selbst ‚blind‘ operieren, fahren sie im Verhältnis zueinander besser, wenn sie sich wechselseitig Determinierbarkeit im System/Umwelt-Verhältnis unterstellen und sich daraufhin beobachten. Der Versuch, den anderen zu berechnen, würde zwangsläufig scheitern. Mit dem Versuch, ihn aus seiner Umwelt heraus zu beeinflussen, kann man Glück haben und Erfahrungen sammeln. […] Die schwarzen Kästen erzeugen […] durch ihr bloßes Unterstellen Realitätsgewißheit, weil dies Unterstellen zu einem Unterstellen des Unterstellens beim alter Ego führt.“25
Die erste soziale Bestimmung wird dadurch erreicht, daß die beteiligten Systeme „im Verhältnis zueinander Indeterminiertheit und Determinierbarkeit 22
Luhmann, Soziale Systeme, S. 184. Luhmann, Soziale Systeme, S. 156 f. 24 Luhmann, Soziale Systeme, S. 171. 25 Luhmann, Soziale Systeme, S. 156 f. 23
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unterstellen“26. Das beiderseitige Unterstellen 27 von Unbestimmtheit und Bestimmbarkeit führt zu einer „Realitätsgewißheit“28, die dann zugleich die Realität des sozialen Systems ist. Mit dem wechselseitigen Unterstellen von Unbestimmtheit und Bestimmbarkeit wechselt die Betrachtung von der elementaren Selbstreferenz auf die minimal strukturierte Form der Selbstreferenz des Systems. Die Struktur, das heißt die Bestimmtheit des Systems, ist hier in unbestimmter Form präsent. Ähnlich heißt es an anderer Stelle: „Ego erfährt Alter als alter Ego. Er erfährt mit dieser Nichtidentität der Perspektiven aber zugleich die Identität dieser Erfahrung auf beiden Seiten. Für beide ist die Situation dadurch unbestimmbar, instabil, unerträglich. In dieser Erfahrung konvergieren die Perspektiven, und das ermöglicht es, ein Interesse an Negation dieser Negativität, ein Interesse an Bestimmung zu unterstellen. Damit ist […] eine Systembildungsmöglichkeit im Wartestand [gegeben], die nahezu jeden Zufall benutzen kann, um Strukturen zu entwickeln.“29
Die Kurzfassung dieses Zusammenhangs lautet: „Ich tue, was Du willst, wenn Du tust, was ich will.“30 In dieser doppelt bedingten Form des Zirkels setzt „das Auftreten des Problems einen Prozeß der Problemlösung in Gang. […] Dieser Zirkel ist, in rudimentärer Form, eine neue Einheit, die auf keines der beteiligten Systeme zurückgeführt werden kann.“31 In diesem Sinne kann man sagen, daß das Problem der doppelten Kontingenz durch Kommunikation gelöst wird bzw. genauer: daß die Lösung des Problems reiner, unbestimmter doppelter Kontingenz in der durch Kommunikation strukturierten doppelten Kontingenz besteht.32 Luhmann betont, daß der Auslöser hierfür negativ bzw. sogar doppelt negativ ist.33 Das heißt, das System ist bereits im Kern selbstreflexiv. Mit Blick auf das Verhältnis von Bestimmtheit und Unbestimmtheit formuliert: Wenn sich in der Erfahrung der Nichtidentität, das heißt der mangelnden Bestimmung, die Perspektiven treffen, entsteht ein Minimum an Bestimmtheit (Luhmann sagt: ein Interesse an Bestimmung), sodaß Unbestimmtheit zur Bestimmtheit und Weiterbestimmung im Wartestand wird – noch ohne Anschluß, aber doch bereits anschlußfähig, das heißt prinzipiell bereits weiterbestimmbar. Es kommt mit anderen Worten zu einer unbestimmten Bestimmtheit des Systems. Mit der Transformation der doppelten Unbestimmtheit in eine minimale Bestimmtheit begründet doppelte Kontingenz eine unbestimmte, das heißt bestimmbare Bestimmtheit von 26
Luhmann, Soziale Systeme, S. 156. ist von einem doppelten beiderseitigen Unterstellen zu sprechen, denn die Unterstellung bezieht sich jeweils auf sich selbst und auf das jeweils andere System. 28 Luhmann, Soziale Systeme, S. 156. 29 Luhmann, Soziale Systeme, S. 172. 30 Luhmann, Soziale Systeme, S. 166. 31 Luhmann, Soziale Systeme, S. 166. 32 Vgl. Göbel, Theoriegenese, S. 184, Kärtner, Das Problem der doppelten Kontingenz, S. 64 f. 33 Dies hebt auch auch Kärtner, Das Problem der doppelten Kontingenz, S. 66 f., hervor. 27 Genauer
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Erwartungen, die nicht auf die beteiligten Systeme, sondern auf das soziale System zurückgeht. Das System in nuce ist auf dieser Grundlage fähig, analog zur „Bestimmungsgeschichte“34 des Prozesses der empirischen Erkenntnis eine auf Erfahrung beruhende „Selektionsgeschichte“35 aufzubauen. Luhmann formuliert diesen Zusammenhang wie folgt: „Die Verlagerung des Problems aus der offenen in die strukturierte Form benutzt als Gleitschiene die in aller doppelten Kontingenz liegende Selbstreferenz. Insofern bleibt das zu Grunde liegende Problem identisch. Aber sie vermindert nach und nach die Anregbarkeit durch Zufälle und ersetzt sie durch strukturabhängige Problemlagen. Das System verliert die Offenheit für Beliebiges und gewinnt Sensibilität für Bestimmtes. Dadurch differenzieren sich Umwelt und System. Umwelt und System sind nicht mehr nahezu kongruent als Unterbestimmtheit und Offenheit für alles Mögliche. Vielmehr gewinnt das System dadurch, daß seine eigene Selektionsgeschichte sich einspielt, eine Umwelt, in der vieles möglich, aber nur weniges für es relevant ist.“36
Schließlich ist auf dieser Grundlage die Unterscheidung von System und Umwelt der Möglichkeit nach bereits im System verfügbar. Luhmann erläutert dies an den „Konsequenzen für Selektion“37, die Luhmann wieder doppelt, entsprechend der beiden Aspekte des Problems doppelter Kontingenz, faßt: „Erstens werden Selektionszusammenhänge in die Einzelselektion eingebaut, da jedes Ego auch als Alter seines alter Ego fungiert und dies mitberücksichtigt.“38 Das heißt, daß Ego stets in der Lage ist, die Bestimmung seines Handelns am jeweiligen Systemkontext auszurichten. Zudem kann der Selektionszusammenhang des Systems auch unter dem „zweite[n] Gesichtspunkt“ berücksichtigt werden, „daß nämlich auch Selektionszusammenhänge seligiert werden können. Die Selektion wird doppelselektiv: sie wählt unter den zur Wahl stehenden Möglichkeiten diese (und nicht andere); und sie wählt einen Möglichkeitsbereich, ein ‚Woraus‘ der Selektion, in dem erst sich eine bestimmbare Zahl von Alternativen mit deutlichen Tendenzen für bestimmte Optionen abzeichnen.“39
Systeme erscheinen hier als „als Ordnungsgesichtspunkte, von denen aus ein Verhältnis von System und Umwelt zugänglich ist“40. Auf diese Weise ist die Unterscheidung von System und Umwelt im System verfügbar und ein Systemkontextwechsel möglich. Jurit Kärtner hat darauf aufmerksam gemacht, daß der Problemgesichtspunkt hierbei letztlich die Bestimmung der inhaltlich-thematischen Kontexte der Kommunikation ist, und Luhmanns Begriff des Selektionszusammenhangs überzeugend mit dem Begriff der Kontingenzformeln in Verbindung 34
Hiltscher, Der ontologische Gottesbeweis, S. 206. Luhmann, Soziale Systeme, S. 185. 36 Luhmann, Soziale Systeme, S. 185. 37 Luhmann, Soziale Systeme, S. 188. 38 Luhmann, Soziale Systeme, S. 188. 39 Luhmann, Soziale Systeme, S. 188. 40 Luhmann, Soziale Systeme, S. 189. 35
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gebracht.41 Dem ist aus der hier eingenommenen Perspektive lediglich hinzuzufügen, daß damit vom Problembereich der Konstitution in den der Regulation übergewechselt wird. Spätestens an dieser Stelle geschieht es, daß die beiden Fassungen doppelt kontingenter Selbstreferenz „ihre Führungsrolle wechseln“42. Doppelte Kontingenz läuft zwar primär auf der elementaren Ebene an.43 Mit dem Fortschreiten der „Systementwicklung“ ist es jedoch so, daß die Führungsrolle zunehmend der Ebene des Systems zukommt, denn „normalerweise fällt es einem bereits strukturierten System […] schwer, Unbestimmtheiten zu regenerieren oder gar in den Zustand der Erwartungslosigkeit zurückzukehren“44. Genau genommen, kann mit dem Wechsel der Führungsrolle völlige Unbestimmtheit nicht mehr angenommen werden. Selbst die „Wiederherstellung von Unbestimmtheit“ in der Form des Widerspruchs „kehrt nicht ins Geschichtslose zurück, sondern erzeugt nur Unsicherheit über das, was auf das Bisherige folgt“45. Damit wäre das für die Reproduktion sozialer Systeme grundlegende Problem der Anschlußfähigkeit gelöst. Die Operationen sozialer Systeme sind nach Luhmann Ereignisse ohne Dauer, die im selben Moment entstehen und vergehen.46 Das „Grundproblem […] Anschlußfähigkeit“ besteht deshalb darin, wie unter den Bedingungen der Ereignishaftigkeit der Elemente Kontinuität möglich ist, das heißt, „wie man überhaupt von einem Elementarereignis zum nächsten kommt“47. Auch dieses Problem wird von Luhmann bestimmungstheoretisch formuliert, wenn er feststellt: „Systeme mit temporalisierter Komplexität […] kombinieren […], zeitlich gesehen, Stabilität und Instabilität und, sachlich gesehen, Bestimmtheit und Unbestimmtheit. Jedes Element (Ereignis, Handlung usw.) ist dann bestimmt und unbestimmt zugleich: bestimmt in seiner momentanen Aktualität und unbestimmt in seinem Anschlußwert (der seinerseits aber ebenfalls im Moment mitaktualisiert werden muß).“48
Soll das Anschlußproblem gelöst werden können, darf das jeweils folgende Ereignis nicht völlig unbestimmt, nicht unbestimmbar sein. Genau dies wird durch den Wechsel der Führungsrolle erreicht. Das nächstfolgende Ereignis ist dann immer schon in den Bestimmungsbereich des Systems gebracht, es geht sozusagen nicht aus einer völlig offenen, unbestimmbaren Zukunft in die Gegenwart des Systems über. Man könnte sagen, daß sich mit dem Wechsel der Führungsrolle 41 Vgl.
Kärtner, Das Problem der doppelten Kontingenz, S. 80 f. Luhmann, Soziale Systeme, S. 184. 43 Vgl. z. B. Luhmann, Soziale Systeme, S. 182. 44 Luhmann, Soziale Systeme, S. 184. 45 Luhmann, Soziale Systeme, S. 184. 46 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 78 f. u. 472. 47 Luhmann, Soziale Systeme, S. 62. Vgl. auch Göbel, Theoriegenese, S. 205 zum „Zentralproblem ‚Anschlußfähigkeit‘“ in Soziale Systeme. 48 Luhmann, Soziale Systeme, S. 80. 42
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die zeitliche Perspektive der Systembildung umkehrt: das Anschlußproblem heißt nicht mehr: offene Zukunft, sondern ist vom strukturierten System her immer schon gelöst, weil es gar nicht mehr in Frage gestellt werden kann. Die bestimmungstheoretische Struktur des Problems der doppelten Kontingenz sollte damit deutlich sein. Die beiden Problemaspekte der reinen und der strukturierten Fassung des Problems und die entsprechenden Aspekte der elementaren Selbstreferenz und der Selbstreferenz des Systems entsprechen der Unterscheidung von Unbestimmtheit und Bestimmtheit. Genauer konnte die über das System vermittelte Selbstreferenz als unbestimmte, immer weiter bestimmbare Bestimmtheit identifiziert werden, auf deren Grundlage sich eine empirische Selektionsgeschichte des Systems einspielen kann. Das System fungiert in dieser Hinsicht wie ein Begriff,49 weshalb nach Luhmann die Konstitution der Einheit der Elemente nur als „Konstitution ‚von oben‘“, zu erklären sei, denn: „Elemente sind Elemente nur für die Systeme, die sie als Einheit verwenden, und sie sind es nur durch diese Systeme.“50 Über den Aspekt der Unbestimmtheit scheint keine völlige Klarheit zu herrschen. So bezeichnet Luhmann doppelte Kontingenz einmal als „kurzschlüssige, die nur Unbestimmtheit referiert“51, ein anderes Mal als „leere, geschlossene, unbestimmbare Selbstreferenz“52. Über diese heißt es: „‚Reine‘ doppelte Kontingenz, also eine sozial vollständig unbestimmte Situation, kommt in unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit zwar nie vor. Trotzdem eignet sich dieser Ausgangspunkt, um bestimmte Fragen weiter zu verfolgen“.53
Das könnte zu der Vermutung führen, es handle sich bei der doppelten Kontingenz in ihrer elementaren Form um ein bloß theoretisches oder methodisches Konstrukt. Dies wird von Luhmann allerdings entschieden zurückgewiesen, indem er gerade die Realität und Wirksamkeit der doppelten Kontingenz hervorhebt: „So sehr der Begriff Problem, der Begriff doppelter Kontingenz, der Begriff Autokatalyse im systemspezifischen Kontext wissenschaftlicher Bemühungen gebildet wird und hier seinen Ort und seine Funktion, seine Bewährung und seinen Nachfolgebegriff finden muß, so sehr ist das damit Gemeinte ein realer Sachverhalt im Gegenstandsbereich der Analyse. Wir behaupten also: Es gibt Probleme – nicht nur für die Wissenschaft. Die Realität reagiert auf Probleme, die sich in ihr stellen, durch Selektion. Probleme sind faktisch wirksame Katalysatoren des sozialen Lebens.“54
49 In der Transzendentaltheorie entspricht der gedachte Gegenstand der unbestimmten Bestimmtheit, weil er durch sein Gedachtsein bestimmt ist, jedoch in zunächst unbestimmter, immer weiter zu bestimmender Weise. 50 Luhmann, Soziale Systeme, S. 43. 51 Luhmann, Soziale Systeme, S. 184. 52 Luhmann, Soziale Systeme, S. 151. 53 Luhmann, Soziale Systeme, S. 168. 54 Luhmann, Soziale Systeme, S. 173.
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Wie oben am Leitfaden der Transzendentaltheorie dargestellt, ist die Rede von Unbestimmbarkeit schlechthin wenig sinnvoll. Vielmehr erscheint aus transzendentaltheoretischer Sicht der in der Anschauung gegebene unbestimmte Gegenstand durch seine Verortung in Raum und Zeit immer schon als bestimmte Unbestimmtheit, das heißt bestimmte Bestimmbarkeit. Diese Unterscheidung ist geeignet, die systemtheoretische Unterscheidung zweier Fassungen des Problems der doppelten Kontinenz bzw. zweier Selbstreferenzen zu präzisieren. Die elementare Selbstreferenz, die bald als unbestimmt, bald als unbestimmbar bezeichnet wird55, ist daher genauer als bestimmte Unbestimmtheit, nicht aber als Unbestimmbarkeit zu fassen. Das Moment der bestimmten Unbestimmtheit entspricht dem transzendentaltheoretischen Moment des Gegenstandes in der Anschauung. Die Selbstreferenz des Systems bzw. die doppelte Kontingenz in ihrer strukturierten Fassung hingegen entspricht der Bestimmtheit des Begriffs. Was macht nun die Unbestimmtheit der elementaren Selbstreferenz zu einer bestimmten Unbestimmtheit? Transzendentaltheoretisch bürgt hierfür die raumzeitliche Verortung des Gegenstandes. Von dieser Option nimmt Luhmann dezidiert Abstand: „Es lohnt, an dieser Stelle eine Erinnerung an Kant einzufügen. Kant hatte mit dem Vorurteil eingesetzt, daß Vielheit (in der Form von Sinnesdaten) gegeben und Einheit konstituiert (synthetisiert) werden müsse. Erst das Auseinanderziehen dieser Aspekte, also erst das Problematisieren von Komplexität, macht das Subjekt zum Subjekt – und zwar zum Subjekt des Zusammenhangs von Vielheit und Einheit, nicht nur zum Hersteller der Synthese. Die Systemtheorie bricht mit dem Ausgangspunkt und hat daher keine Verwendung für den Subjektbegriff. Sie ersetzt ihn durch den Begriff des selbstreferentiellen Systems. Sie kann dann formulieren, daß jede Einheit, die in diesem System verwendet wird, (sei es die Einheit eines Elements, die Einheit eines Prozesses oder die Einheit eines Systems) durch dieses System selbst konstituiert sein muß und nicht aus dessen Umwelt bezogen werden kann.“56
Auch Kant geht freilich davon aus, daß Einheit immer durch das Denken konstituiert wird. Er wäre nie auf den Gedanken gekommen, die Erkenntnis bezöge die Einheit des Gegenstandes von den Sinnesdaten: „Es wäre für die Kantische Position gewiß zerstörerisch“, so bemerkt Dieter Henrich, wenn man annähme, „daß die trz. Ästhetik im Auf bau dieser Argumentationsstruktur so in Anspruch genommen wird, daß der Sinnlichkeit eine Einheitsbildung zugeschrieben wird, deren Ursprung nicht im Verstande liegt“57. Wenn Luhmann seinen Bruch mit dem Kantischen Ausgangspunkt betont, kann dies nur bedeuten, daß er auf das Anschauungsmoment in der Erkenntnisrelation verzichtet bzw. in Form der Ereignishaftigkeit der Systemelemente auf den Aspekt der Zeitlichkeit reduziert,
55 Vgl. auch Kärtner, Das Problem der doppelten Kontingenz, S. 66 f. u. 69 f., der in der Frage nach dem Realitätsstatus der doppelten Kontingenz ähnlich unscharf bleibt. 56 Luhmann, Soziale Systeme, S. 51. 57 Henrich, Beweisstruktur der transzendentalen Deduktion, S. 43 f.
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so daß ein „System […], anders als das Leben, keine raumgebundene Existenz“58 hat. Armin Nassehi hat in seiner Auseinandersetzung mit der „erkenntnis theoretische[n] Disposition“59 der Systemtheorie herausgearbeitet, daß die Frage nach der Konstitution sozialer Systeme in eine Auseinandersetzung mit der Adäquationstheorie der Wahrheit führt.60 Er hält diese mit Luhmann allerdings für restlos erledigt, weil Luhmann die „Erkenntnis vom Erkannten“61 abkoppele. Gleichwohl halte Luhmann „am Begriff der Realität fest“62, indem er die Realität in den operativen Vollzug von Kommunikation verlagere. Dabei gebe es „keine operativen Kontakte zwischen System und Umwelt, also keine schwächere Form der Adäquatheitsrelationen“63, sondern nur die Realität des Reproduktionszusammenhangs des Systems. Das transzendentaltheoretische Adäquationsproblem transformiert sich so in das systemtheoretische Anschlußproblem. Gleichwohl gibt es, so unsere These, auch bei Luhmann ein Äquivalent für anschauliche Gegebenheit. Es besteht in der Situativität der doppelten Kontingenz. Luhmann spricht wiederholt von doppelter Kontingenz als Situation, ohne dabei aber den Begriff der Situation zu problematisieren.64 Die elementare Unbestimmtheit doppelter Kontingenz ist insofern immer schon bestimmte Unbestimmtheit, als sie als Situation bestimmt ist. Es wurde bisher bereits mehrfach darauf aufmerksam gemacht, daß die parallele Lektüre von Transzendentaltheorie und Soziologie nicht zu weit getrieben werden kann, da ihre Gegenstandsbereiche einen fundamentalen Unterschied aufweisen, der darin besteht, daß ein Gegenstand der Erkenntnis sich nicht von sich aus zu seinem Erkanntwerden verhalten kann. Diese soeben mit Dieter Henrich festgestellte Tatsache kann dahingehend zugespitzt werden, daß es im Rahmen der transzendentalen Erkenntnislehre absurd wäre anzunehmen, „daß sich das Mannigfaltige der Sinne quasi von sich her der Einigung durch den Verstand verweigern könnte“65. Im Bereich des Sozialen hingegen ist eine solche Verweigerung eine reale Möglichkeit. Darauf weist zunächst Luhmanns Formulierung vom „Sich-Einlassen auf 58
Luhmann, Soziale Systeme, S. 200. Luhmann, Stellungnahme, S. 381, den „sorgfältigen Analysen“ Nassehis zustimmend. 60 „Erkenntnistheorie sucht nach der Einheit der Differenz von Erkenntnis und Realgegenstand. Die bisher ausgeführten Überlegungen Luhmanns führen zu der Annahme, daß zwischen Erkenntnis und Erkanntem weder ein Abbildverhältnis noch eine wie immer geartete Adäquatheitsrelation angenommen werden kann.“ (Nassehi, Wie wirklich sind Systeme?, S. 57). 61 Nassehi, Wie wirklich sind Systeme?, S. 57. 62 Nassehi, Wie wirklich sind Systeme?, S. 57. 63 Nassehi, Wie wirklich sind Systeme?, S. 58 64 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 154 – 156, 158, 160, 167 – 169, 171 f., 179 u. ö. 65 Hiltscher, Kants Begründung der Adäquationstheorie, S. 426 (Hervorh. hinzugefügt). 59 So
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Situationen mit doppelter Kontingenz“66 hin. Worauf man sich einlassen kann, das läßt sich auch zurückweisen. An dieser Stelle muß mit Blick auf unsere Gesamtargumentation einmal vorgegriffen werden, weil hier zugleich der Ansatzpunkt für unsere Behauptung einer institutionellen Bestimmtheit sozialer Systeme liegt. Das bestimmende Moment des oben analysierten Unterstellens von Unbestimmtheit und Bestimmbarkeit ist eine Form des Erwartens, das aber in dieser elementaren Form noch keine kommunikative Erwartung, aber auch keine private Erwartung Egos oder Alters mehr sein kann. Vielmehr handelt es sich um eine institutionell bestimmte Erwartung, die doppelte Kontingenz als Situation erst möglich macht und zur Entstehung eines sozialen Systems führt. Der von Luhmann konstatierten „Bodenlosigkeit des Strukturgewinns“67 muß ein „Entschluß zur Bodenlosigkeit“68 vorausgehen, die „freischwebend konsolidierte Realität“69 des sozialen Systems setzt eine Entscheidung zur Sozialität als „schwebende Formen“70 voraus. Die von Hans Freyer herausgearbeitete Möglichkeit des Handelns, sich qua Entschluß zur Bodenlosigkeit zu einem „selbstgesetzten Minimum“71 zu reduzieren, entspricht dem von Luhmann in Anschlag gebrachten „Sich-Einlassen auf Situationen mit doppelter Kontingenz“72. Letzteres wird bei Luhmann jedoch nicht als Entscheidung behandelt.73 Damit wird sichtbar, daß die (institutionell bestimmte) Unbestimmtheit der Situation doppelter Kontingenz aus einem doppelt konditionierten Verzicht auf die positive Bestimmung des jeweils eigenen Handelns resultiert, ohne die die Konditionierung durch das jeweils andere Handeln nicht erklärbar wäre. Macht man diesen Entschluß jedoch kenntlich, ist die im Bereich der Erkenntnistheorie absurd erscheinende Verweigerung des Gegenstandes gegenüber der Synthesis des Verstandes im Bereich des Sozialen als Zurückweisung des Sich66
Luhmann, Soziale Systeme, S. 179. Luhmann, Soziale Systeme, S. 159. Vgl. auch ebd., S. 132. 68 Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 180 (Hervorh. hinzugefügt). Vgl. auch ebd., S. 190, 238. 69 Luhmann, Soziale Systeme, S. 173. 70 Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 180. Vgl. ebd., S. 92, 173. 71 Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 181. 72 Luhmann, Soziale Systeme, S. 179. Die hier plakativ eingestreuten Begriffe Freyers werden ausführlich unten in den Kapiteln VIII u. IX geklärt. Zwar sind diese Formulierungen – von Luhmann wie von Freyer – zunächst nur Metaphern, sie weisen jedoch auf bestimmbare Begriffe hin, die unten mit Gehlen als Unterscheidung von Verwerfung und Bejahung ausgearbeitet werden sollen. Vgl. unten Kap. V.4. u. VI. 73 Sondern als Problem des Vertrauens bzw. Systemvertrauens (vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 179 ff.) als der institutionalisierten „Erwartung der Kontinuität Komplexität reduzierender Systeme“ (Luhmann, Institutionalisierung, S. 39). Den Vorgang der Institutionalisierung dieser Erwartung kann Luhmann aber nur unter der Bedingung analysieren, daß doppelte Kontingenz stattfindet. Gerade dieses Zustandekommen wird aber in der hier vorgenommenen Rekonstruktion unter den Vorbehalt ihrer möglichen Zurückweisung (Rejektion) gestellt. 67
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Einlassens auf Situationen mit doppelter Kontingenz denkbar.74 Die von Luhmann explizierte elementare Unbestimmtheit doppelter Kontingenz steht damit nicht restlos unter der Bestimmung des Systems. Wir kommen nach der Darstellung des von Luhmann aus der Transzendentaltheorie in die Soziologie überführten Begriffs des Schematismus darauf zurück. 2. Der Schematismus sozialer Systeme: die Adressierung von Handlung Luhmann greift Kants Begriff des Schematismus an verschiedenen Stellen seines Werkes expressis verbis auf und spricht in diesen Zusammenhängen auch von einem auf „Imagination“ angewiesenen „Kontingenzschema“75. Der Begriff des Schematismus wird zunächst in einem Aufsatz über „Schematismen der Interaktion“76 als Grundbegriff vorgestellt und dann im Sinnkapitel von Soziale Systeme in die allgemeine Theorie sozialer Systeme eingearbeitet.77 Da die Funktion des Schematismus ganz allgemein gesagt in der Konkretion und Vereinzelung der konstitutiven Bestimmtheit in Richtung auf die Empirie besteht, ist in der hier verfolgten Interpretation zudem das vierte, mit „Kommunikation und Handlung“ überschriebene Kapitel von Soziale Systeme heranzuziehen.78 In seinem Artikel zu den „Schematismen der Interaktion“ setzt sich Luhmann von naturrechtlichen wie von phänomenologischen Ansätzen ab und benennt als seinen Gewährsmann Kant und dessen Begriff des transzendentalen Schematismus. Luhmanns Begriff des Schematismus „bezeichnet ein operatives Dual, das zur Kontingenzbehandlung benutzt wird“79. Die zu behandelnde Kontingenz ist die in Interaktionssystemen – man kann bereits hier verallgemeinern: in doppelter Kontingenz – entstehende Komplexität und der damit einhergehende Selektionszwang. Es geht um die Ungewißheit in der Relation zwischen dem „Handlungspotential“ und dem mit der „Einzelhandlung“ im Zusammenhang stehenden „anderen Handeln“80, welche jede in ihrem Zusammenhang erfolgende Selektion als kontingent erscheinen läßt. Auf diese Kontingenz richtet sich der Schematismus: „Unsere These ist: daß sich unter diesen Bedingungen Schematismen entwickeln, mit deren Hilfe so hohe und durchgehende Kontingenz bearbeitet werden kann“81. 74 Dies läßt sich anhand der Unterscheidung von Akzeption und Rejektion analysieren, deren handlungstheoretische Implikationen im zweiten Teil dieser Arbeit diskutiert werden. 75 Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 25 f. Vgl. Luhmann, Schematismen, Luhmann, Soziale Systeme, S. 123 ff., Luhmann, Wissenschaft, S. 231 f. u. 515, Anm. 78, Luhmann, Gesellschaft, S. 869 f., Luhmann, Organisation und Entscheidung, S. 141. 76 Luhmann, Schematismen. 77 Luhmann, Soziale Systeme, S. 122 ff. 78 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 191 ff. 79 Luhmann, Schematismen, S. 94. 80 Luhmann, Schematismen, S. 93. 81 Luhmann, Schematismen, S. 93.
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Mit Luhmanns Begriff des Schematismus soll „nicht auf kategoriale Einheit, sondern auf Dualität abgestellt“ werden in dem Sinne, daß „jeweils zwei Optionen offen“82 gehalten werden. Damit glaubt Luhmann sich von Kant abzusetzen, dessen Begriff des Schematismus in Luhmanns Augen „kategoriale Einheit […] in notwendige Form“83 überführe. Durch den Schematismus entsteht nach Luhmann eine „vorstrukturierte Option“, sodaß auf der Grundlage desselben Schematismus ein „Schematisierungsdissens“84 denkbar ist. Den Zeitbezug des Schematismus sieht Luhmann in der Ermöglichung der „Überleitung zum Anschlußhandeln“85 (in möglicherweise dissenter Form). Zusammenfassend werden die „drei Momente der Dualisierung, Subjektivierung, Temporalisierung“86 veranschlagt. Luhmann nennt drei Schematismen: Ego/Alter, konstant/variabel und external/internal, die er aus den drei Sinndimensionen (Sozial-, Zeit-, Sachdimension) ableitet.87 Die Funktion des Schematismus bezieht sich auf die aufgrund der „Ausdifferenzierung eines Systems“ entstehende Notwendigkeit, daß die Selektivität des Systems „dichotomisiert und […] auf Erleben und Handeln der Beteiligten verteilt werden“88 muß. Luhmann bezieht dies im Schematismus-Aufsatz wie gesagt auf das Komplexitätsproblem. Nach der Auffassung von Soziale Systeme setzt Komplexität die Konstitution der Elemente und Relationen bereits voraus.89 Das Kontingenzproblem, von dem Luhmann im Schematismus-Aufsatz spricht, kann sich also nur auf die durch die Konstitution des Systems ergebende (gewissermaßen
82
Luhmann, Schematismen, S. 94. Luhmann, Schematismen, S. 94. 84 Luhmann, Schematismen, S. 94. 85 Luhmann, Schematismen, S. 94. 86 Luhmann, Schematismen, S. 94. 87 Vgl. Luhmann, Schematismen, S. 95 ff. u. Luhmann, Soziale Systeme, S. 122 ff. In der Darstellung des Aufsatzes bezieht sich der Schematismus von Ego und Alter nicht einfach auf Personen, sondern auf die Unterscheidung der beteiligten Perspektiven im Hinblick auf die „Auslösung von Anschlußhandlungen, der Kanalisierung von Reaktionen; genauer: er stellt eine Form bereit, in der solche Entscheidungen vorbereitet und artikuliert werden können“ (Luhmann, Schematismen, S. 96). Der Schematismus konstant/variabel ermöglicht die Frage, „ob die aktuelle Gegenwart Veränderung zuläßt […] oder ob durchgehende Konstanz zu unterstellen ist“ (ebd.) und damit eine Konditionierung von Verhaltenserwartungen. Die Unterscheidung von internaler und externaler Zurechnung dient der Schematisierung von Personen als erlebenden oder handelnden. In Soziale Systeme werden dieselben drei Schematismen behandelt, aber als „Drittes“ (Luhmann, Soziale Systeme, S. 123) im Hinblick auf die Unterscheidung von Sinn und Welt abstrahiert. Der Schematismus vermittelt damit die Einheit der Unterscheidungen von System und Umwelt (= Welt, vgl. ebd., S. 105 f. u. S. 283) mit der Einheit der Unterscheidung von Aktualität und Möglichkeit (= Sinn). Der Schematismus macht damit, so Luhmann, diese beiden differenzlosen Letztbegriffe unterscheidbar und bestimmbar, er „formiert […] die Differenz von Welt und Sinn“ (ebd., S. 122). 88 Luhmann, Schematismen, S. 106. 89 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 45 ff. 83
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unendliche) systeminterne Eigenkomplexität des Systems beziehen. Diese muß notwendig Einschränkungen unterworfen werden. Mit Blick auf diese Funktionsbestimmung erschließt sich das Kapitel über „Kommunikation und Handlung“90 in Soziale Systeme als Beitrag zum Begriff des Schematismus. Entgegen seiner Beobachtungstheorie, die nur Empirisches gelten läßt, stellt Luhmann in Soziale Systeme fest, „daß Kommunikation nicht direkt beobachtet, sondern nur erschlossen werden kann. Um beobachtet werden oder um sich selbst beobachten zu können, muß ein Kommunikationssystem deshalb als Handlungssystem ausgeflaggt werden.“91 Die empirische Unbeobachtbarkeit der Kommunikation bezieht sich auf die Ebene der konstitutiven Selbstreferenz. Die unbeobachtbare konstitutive Bestimmtheit muß sich selbst in Handlungen vereinzeln, damit sie mit der Empirie in Kontakt kommen, das heißt, damit sie beobachtbar werden kann.92 Luhmann erörtert dieses Problem anhand der Frage, was eigentlich die Letztelemente sozialer Systeme seien: Kommunikation oder Handlung? Er kommt zu dem Schluß, daß soziale Systeme aus beidem bestehen: „aus Kommunikationen und aus deren Zurechnung als Handlung“93. Die Systemtheorie, und genau dies weist auf den Begriff des Schematismus hin, unterscheidet die „Differenz von Konstitution und Beobachtung […] mit Hilfe der Unterscheidung von Kommunikation und Handlung. Kommunikation ist die elementare Einheit der Selbstkonstitution, Handlung ist die elementare Einheit der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung sozialer Systeme.“94
Der Schematismus sozialer Systeme wird dann als Verfahren der Zurechnung beschrieben:95 „Handlungen werden durch Zurechnungsprozesse konstituiert. Sie kommen dadurch zustande, daß Selektionen […] auf Systeme zugerechnet werden.“96 Der Schematismus ist also ein Zurechnungsverfahren, das die oben genannten Unterscheidungen benutzt. Er hat als Verfahren etwas Prozeßhaftes, ist aber nicht Prozeß im Sinne der Unterscheidung Struktur/Prozeß und auch nicht 90
Luhmann, Soziale Systeme, S. 191 ff. Luhmann, Soziale Systeme, S. 226. 92 An diese Frage knüpfen die Überlegungen von Peter Fuchs zu dem zuerst von Jürgen Markowitz eingeführten Begriff des „sozialen Epigramms“ an (vgl. Fuchs, Erreichbarkeit, S. 187 – 193). Dieser weist mit dem hier als Schematismus beschriebenen Verfahren der Erzeugung von Beobachtbarkeit und Konkretion der konstitutiven Bestimmtheit große Ähnlichkeiten auf. Fuchs unterscheidet das soziale Epigramm jedoch vom Zurechnungsmechanismus der Handlungskonstitution. Er vermutet aber zutreffend, daß Epigramme die als Handlung schematisierte Kommunikation „nutzen“ (ebd., S. 190). 93 Luhmann, Soziale Systeme, S. 240. 94 Luhmann, Soziale Systeme, S. 241. 95 Vgl. zum Begriff der Zurechnung auch Heidenescher, Zurechnung u. Fuchs, Adressabilität. 96 Luhmann, Soziale Systeme, S. 228. 91
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im Sinne prozessualer Reflexivität.97 Wenn Luhmann also schreibt, daß Kommunikation „Element nur als Element eines, wie immer minimalen, wie immer ephemeren, Prozesses“ sei, und dies auf „basale Selbstreferenz“98 bezieht, dann ist dies zumindest undeutlich. Die Sicherung des Anschlusses des nächsten Ereignisses qua Bestimmtheit der basalen Selbstreferenz ist nicht schon Prozeß; sie wird durch Zurechnung schematisiert und kann so Prozeß werden. Die Funktion des Schematismus ist jedenfalls die Vereinzelung der Bestimmtheit, die als „Punktualisierung“99 allererst Anknüpfungspunkte für die Beobachtung, „Verknüpfungsstellen für Relationierungen“100, bietet: „Erst durch Handlung wird die Kommunikation als einfaches Ereignis zu einem Zeitpunkt fixiert.“101 Indem Kommunikation sich auf Handelnde zurechnet, legt sie „Adressaten für weitere Kommunikation, Anschlußpunkte für weiteres Handeln fest[]“102. Luhmann führt dies nach den drei Sinndimensionen aus: das System benutzt die sachliche Unterscheidung von System und Umwelt, um die Handlung dem System zuzurechnen.103 Damit wird zeitlich gesehen für die Beobachtung die Kontinuität der ereignishaften Elemente des Systems konstituiert, indem die als systemverursacht zugerechneten „Handlungen Bestimmtheit und Unbestimmtheit“104 als aktuelle Bestimmtheit und als Unbestimmtheit des Anschlußwertes kombinieren. In der Sozialdimension findet eine Synchronisation der divergenten Perspektiven Alters und Egos statt.105 Damit schauen wir noch einmal zurück zu Kant, von dem Luhmann den Begriff bezieht, und den er zugleich kritisiert. Luhmanns Funktionsbestimmung des Schematismus ist nahezu identisch mit der von Kant: es geht um die Möglichkeit der Konkretisierung durch Vereinzelung oder Punktualisierung der Bestimmtheit im Hinblick auf die Anschauung bzw. den Anschluß. Luhmann moniert aber den Bezug des Schematismus auf die Einheit der Kategorien. Es wurde oben recht allgemein gesagt, der Schematismus diene der Konkretisierung und Vereinzelung der Bestimmtheit überhaupt im Hinblick auf die Kontingenz der Empirie.106 Dies geschieht durch transzendentale Zeitbestimmung, durch welche die Zeit (der innere Sinn) den Kategorien entsprechend festgelegt wird.107 So entspricht zum Beispiel der Kategorie der Realität als der Unterscheidung von „Sein (in der Zeit)“ 97 Vgl.
Luhmann, Soziale Systeme, S. 388 ff. Luhmann, Soziale Systeme, S. 199. 99 Luhmann, Soziale Systeme, S. 233. 100 Luhmann, Soziale Systeme, S. 232. 101 Luhmann, Soziale Systeme, S. 227. 102 Luhmann, Soziale Systeme, S. 228. 103 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 230. 104 Luhmann, Soziale Systeme, S. 230. 105 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 231. 106 Vgl. oben Kap. II.2.b). 107 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. B 184 f. 98
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oder „Nichtsein (in der Zeit)“ die Zeitbestimmung der „erfülleten, oder der leeren Zeit“108; die Kategorie der Substanz wird als „Beharrlichkeit des Realen in der Zeit […], welches also bleibt, indem alles andre wechselt“109, schematisiert; das Schema der Kategorie der Kausalität ist „das Reale, worauf, wenn es nach Belieben gesetzt wird, jederzeit etwas anderes folgt. Es besteht also in der Sukzession des Mannigfaltigen, so fern sie einer Regel unterworfen ist.“110 Anders als Luhmann behauptet, denkt Kant also die Schemata selbst als Unterscheidungen: erfüllt/leer, beharrlich/ wechselnd, etwas/anderes. Diese stehen selbstredend unter der Einheit der kategorialen Bestimmtheit, die sich einer ursprünglichen Selbstreferenz verdankt (transzendentale Apperzeption). Auch Luhmann muß eine Bestimmtheit voraussetzen und tut dies auch: die selbstreferentielle Bestimmtheit der Differenz von System und Umwelt qua doppelter Kontingenz. Die Dualität aber, auf die es Luhmann ankommt und die den Anlaß für die Kritik an Kant liefert, gibt es auch bei Kant: die Schematismen der Kausalität als regelbestimmter Sukzession von etwas und etwas anderem oder der Substanz als des Beharrlichen im Unterschied zum Wechsel beispielsweise erzwingen keineswegs eine empirische Übereinstimmung darüber, was sukzediert, beharrt usw. Darüber läßt sich empirisch trefflich streiten. Aber daß etwas sukzediert, beharrt usw. ist in allem Dissens vorausgesetzt. Dies ist bei Luhmann in theoriearchitektonischer Hinsicht gar nicht anders. Die kategoriale Rückgebundenheit des Schematismus führt dazu, „Erscheinungen allgemeinen Regeln der Synthesis zu unterwerfen, und sie dadurch zur durchgängigen Verknüpfung in einer Erfahrung schicklich zu machen“111. Genau dies ist auch das Ziel des Schematismus bei Luhmann. Er soll „Verknüpfungsstellen für Relationierungen“112 bereitstellen. Die Kontinuität der sozialen Bestimmtheit überhaupt muß dabei qua doppelte Kontingenz stets gesichert sein. Die Verknüpfung in einer Erfahrung: das ist bei Luhmann das Entstehen von Strukturen durch die Beobachtungen des Systems, die aufgrund des Schematismus als Herstellung von Beobachtbarkeit erst möglich werden. Weil er die Beobachtbarkeit von Kommunikation ermöglicht, indem sich die Kommunikation Handlungen und Adressen zurechnet, besteht im Hinblick auf das Anschlußproblem die Funktion des Schematismus darin, daß durch ihn die Anschlußkommunikation unter die Alternative von Annahme und Ablehnung gestellt werden kann: „Die Sinneinheit Handlung wird als Synthese von Reduktion und Öffnung von Auswahlmöglichkeiten konstituiert. Das festzuhalten und anschlußfähig zu halten, ist ihre Funktion. […] Eine wichtige Konsequenz betrifft die Frage, unter welcher Differenz eigentlich ein System, das auf doppelte Kontingenz gebaut ist, zunächst anläuft. […] Das System 108
Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. B 182. Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. B 183. 110 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. B 183. 111 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. B 185. 112 Luhmann, Soziale Systeme, S. 232. 109
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wird in Gang gebracht und orientiert sich daher zunächst durch die Frage, ob der Partner eine Kommunikation annehmen oder ablehnen wird.“113
Weil der Schematismus sowohl zur Konstitution wie zur Regulation im Verhältnis steht, konstituiert er einerseits die Alternative von Annahme und Ablehnung; andererseits gehört die empirische Selektion von Annahme oder Ablehnung nicht mehr zur Einheit der Kommunikation in konstitutiver Hinsicht: Annahme oder Ablehnung „geschieht ‚außerhalb‘ der Einheit einer elementaren Kommunikation und setzt sie voraus“114. Das Problem der empirischen Annahme oder Ablehnung betrifft daher den „Kommunikationsbegriff “115 nicht. An die durch den Schematismus, das heißt an die durch die Zurechnung von Kommunikation auf Handlung ermöglichte Alternative von Annahme und Ablehnung lassen sich schließlich Einrichtungen knüpfen, die die konkrete Selektion von Annahme oder Ablehnung konditionieren. Die für die moderne Gesellschaft primären Einrichtungen dieser Art sind die symbolisch generalisierten und in Funktionssystemen binär codierten Kommunikationsmedien, welche das kommunikative Anschlußgeschehen in Richtung auf Annahme hin konditionieren:116 bei den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien wie Wahrheit in der Wissenschaft, Macht in der Politik, Eigentum in der Wirtschaft oder Liebe geht es „darum, die Selektion der Kommunikation so zu konditionieren, daß sie zugleich als Motivationsmittel wirken, also die Befolgung des Selektionsvorschlages hinreichend sicherstellen kann“117. Die Funktion der Kommunikationsmedien besteht mithin darin, die Annahme von Kommunikationen zu motivieren und angebotene Selektionen übertragbar zu machen.118 Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien erbringen eine „Verknüpfung von Selektion und Motivation“119, indem der auf die doppelt kontingenten Selektionen bezogene „Selektionsprozeß […] zum Selektionsmotiv“120 wird. Die Kontingenz der Selektion, die prima facie den Grund für die Unwahrscheinlichkeit der Annahme der Kommunikation darstellt, transformiert sich genau dann in ein Annahmemotiv, wenn der „Selektionsprozeß reflexiv“ und die selektive „Kettenbildung […] antizipiert“121 wird, und die Kontingenz dieser Verknüpfung als solche einen Anlaß darstellt, die Kommunikation anzunehmen. Durch eben diese Reflexivität des Selektionsprozesses selbst ergibt sich die „Notwendigkeit der Zurechnung von Selektionsleistungen“ auf „Adressen
113
Luhmann, Soziale Systeme, S. 160. Luhmann, Soziale Systeme, S. 203. 115 Luhmann, Soziale Systeme, S. 204. 116 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 205 f. u. Luhmann, Einführende Bemerkungen. 117 Luhmann, Soziale Systeme, S. 222. 118 Vgl. Luhmann, Einführende Bemerkungen, S. 217. 119 Luhmann, Gesellschaft, S. 332. 120 Luhmann, Einführende Bemerkungen, S. 218. 121 Luhmann, Einführende Bemerkungen, S. 218. 114
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und Einwirkungspunkte“122. Weil durch den Schematismus Handeln und Erleben möglich sind, können diese vermittels symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien empirisch, das heißt in konkreten Funktionssystemen, auf Adressen (genauer: Personen in Rollen) zugerechnet werden. Hier wiederum schließt die Theorie der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft an.123 Daß Funktionssysteme als regulative Einrichtungen den Schematismus zur Voraussetzung haben und an diesem ansetzen, läßt sich daran zeigen, daß Selektionen, deren Annahme motiviert werden soll, durch Funktionssysteme in bestimmte Zurechnungskonstellationen gebracht werden. Für symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien zeigen sich „vier Grundkonstellationen, in bezug auf welche die großen klassischen Medien-Codes für Wahrheit, Liebe, Eigentum/Geld und Macht/Recht entwickelt worden sind“, je nachdem, „ob Sender bzw. Empfänger der Kommunikation als Erlebende bzw. als Handelnde in Rechnung gestellt werden“124. Als Medien der „Weltkonstruktion“125 weisen die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien einen Bezug zur Regulation auf. Medien ermöglichen es, daß im Bereich der Annahme der Kommunikation auch die Zurückweisung eines Kommunikationsinhaltes möglich ist. Die Beobachtung einer wissenschaftlichen Aussage als unwahr ist eben keine Ablehnung der wissenschaftlichen Kommunikation, sondern deren Annahme und damit ein Anschluß an diese. Die hier vorgeschlagene bestimmungslogische Interpretation der kommunikativen Erzeugung von Adressabilität und die mit dieser Adressabilität verknüpften medialen Alter-Ego-Konstellationen im Hinblick auf bestimmte Funktionssysteme als Schematismus löst ein Problem auf, das Andreas Göbel in seinen Untersuchungen zur Genese von Luhmanns Systemtheorie aufgewiesen hat. Er stellt fest, daß vor dem Hintergrund von Luhmanns Uminterpretation der doppelten Kontingenz von ihrer handlungs- in eine modaltheoretische Fassung126 die Verknüpfung zwischen Kommunikations- und Differenzierungstheorie „auseinanderfällt“127. Göbel spricht in dieser Hinsicht sogar von einem „Hiatus zwischen interaktionstheorieaffiner Grundlegung und gesellschaftstheoretischer Ausrichtung“128 in der Systemtheorie. In diese „Lücke“129 zwischen der operativ elementaren Kommunikation und den Funktionssystemen als konkreten gesellschaftlichen Wirklichkeitsbereichen treten die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien.
122
Luhmann, Einführende Bemerkungen, S. 218. Vgl. Luhmann, Gesellschaft, S. 333 f. So schon Luhmann, Schematismen, S. 103. 124 Luhmann, Erleben und Handeln, S. 87. 125 Luhmann, Gesellschaft, S. 339. Vgl. ebd., S. 349 u. ö. 126 Vgl. Göbel, Theoriegenese, S. 88 ff. 127 Göbel, Theoriegenese, S. 92. 128 Göbel, Theoriegenese, S. 93. 129 Göbel, Theoriegenese, S. 92. Vgl. auch ebd., S. 221. 123
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Die Medientheorie bilde somit das „Scharnier zwischen Kommunikations- und Differenzierungstheorie“130. Die Medientheorie könne daher, so Göbel, sowohl kommunikationstheoretisch über das Erfolgsproblem (Annahme/Ablehnung) als auch differenzierungstheoretisch über das Zuordnungsproblem von Kommunikationen in den rekursiven Vernetzungszusammenhang der Funktionssysteme ansetzen.131 Weil die kommunikationstheoretische von der beobachtungstheoretischen Problemstellung der Medientheorie „zwar nicht abgelöst, aber doch tendenziell überlagert“132 werde, fragt Göbel, ob es nicht eigentlich zwei mehr oder weniger distinkte Medientheorien bzw. eine „Divergenz“133 in den Problembezügen der beiden Fassungen gebe, das heißt zwischen dem kommunikationstheoretischen Problem der Annahme/Ablehnung einerseits und dem beobachtungstheoretischen Problem der Zuordnung zum rekursiven Verweisungszusammenhang der Funktionssysteme andererseits.134 Zusammenfassend: „Die Medientheorie ist damit freilich doppelt belastet, muß nämlich zugleich den Erfolg von Kommunikation wie die systemspezifische Identifikation eines jeden einzelnen Kommunikationsereignisses strukturieren. Medien sind dementsprechend Strukturen in einem doppelten Sinne: sie strukturieren sowohl Annahmewahrscheinlichkeiten von Kommunikation wie auch ihre Systemzugehörigkeit.“135
Es sei deshalb eine „bleibende Ambivalenz“136 im Medienbegriff zu konstatieren, die möglicherweise bestimmten ordnungstheoretischen Implikationen geschuldet sei. Ordnet man die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien bestimmungslogisch dem Schematismus zu, ist dieser notwendig durch einen doppelten Bezug auf die Konstitution und auf die Regulation gekennzeichnet. Der transzendentale Schematismus bringt die konstitutive Bestimmtheit überhaupt mit der Kontingenz der Empirie in ein Verhältnis, deren Inbegriff das Ideal der vollständigen Bestimmung (der kontingenten Empirie) ist. Der soziale Schematismus als Konstruktionsregel für Verlaufstypiken vermittelt auf dem Weg funktionssystemspezifischer Alter-Ego-Konstellationen die konstitutive Bestimmtheit sozialer Systeme (doppelte Kontingenz) mit der Regulation empirischer gesellschaftlicher Welten, die durch die Codes und Kontingenzformeln voneinander abgrenzbar sind. In bestimmungslogischer Hinsicht gibt es folglich weder ein Auseinanderfallen verschiedener Theoriestücke noch eine inkonsequente Ambivalenz im Medienbegriff, weil es der Funktion des Schematismus entspricht, doppeldeutig zu sein und 130
Göbel, Theoriegenese, S. 242. Göbel, Theoriegenese, S. 240 ff. 132 Göbel, Theoriegenese, S. 246. 133 Göbel, Theoriegenese, S. 242. Vgl. ebd., S. 245 f. 134 Vgl. Göbel, Theoriegenese, S. 243. 135 Göbel, Theoriegenese, S. 245. 136 Göbel, Theoriegenese, S. 252. 131 Vgl.
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sowohl zur Konstitution (= doppelte Kontingenz, Kommunikation) als auch zur Regulation (= Code, Kontingenzformel) in Verbindung zu stehen. Die beiden Richtungen des Anschlußproblems (Annahme/Ablehnung als Adressierungsproblem von Alter-Ego-Konstellationen einerseits und das Zugehörigkeitsproblem andererseits) lassen sich bestimmungslogisch ebenfalls integrieren. 3. Die Situation der doppelten Kontingenz und die Warnung vor Katastrophen Luhmann zufolge braucht man mit Blick auf das Zustandekommen von doppelter Kontingenz als Situation „die Anlässe nicht genauer zu analysieren: was entsteht, ist ohnehin neu und, was immer die Anlässe sein mögen, immer dasselbe: eine zirkulär geschlossene Einheit. […] [D]iese Ausgangslage genügt, um eine Situation zu definieren, die die Möglichkeit in sich birgt, ein soziales System zu bilden.“137
Damit wird behauptet, daß die Situation der doppelten Kontingenz immer schon eine systembestimmte Situation ist. Mit der oben angestellten Überlegung, daß das System die Situativität der doppelten Kontingenz nicht ohne Rest in die Bestimmtheit des Systems überführen kann,138 wird diese Behauptung bestritten. Zugleich damit wird die Lösung des Anschlußproblems in Frage gestellt. Dies konvergiert mit den Ergebnissen des ersten Kapitels, wonach die Grenzprobleme der Gesellschaft auf bestimmte Bedingungen der Kommunikation zurückführen, die durch Kommunikation nicht eingeholt werden können, obwohl sie sie gefährden. Die Grenzprobleme der Gesellschaft sind damit zugleich Grenzprobleme der Systemtheorie. Sie verweisen, weil sie Reflexionsprobleme sind, auf die Bedingungen der Möglichkeit der Bestimmtheit der Kommunikation als solcher. Es soll daher, den ersten Teil der Arbeit abschließend, am Beispiel des Warnens vor Katastrophen gezeigt werden, in welcher Weise die oben angesprochene Möglichkeit der situativen Zurückweisung doppelter Kontingenz begrifflich erfaßt werden kann.139 Die Annahme ist, daß die im ersten Kapitel diskutierten Grenzprobleme auf eine Reflexionsposition verweisen, die der doppelten Kontingenz zwar vorgelagert ist, mit dieser aber dennoch in einem Zusammenhang steht. Dies ist der Zusammenhang von Reflexion und Bestimmtheit. Wir greifen dazu auf den Begriff der Katastrophe und die Analysen der Katastrophensoziologie zurück.140 „Katastrophen, die alles ‚danach‘ ins Unerkennbare versetzen“, stehen, so Luhmann, für die „Zukunft als das ganz Andere“141. Der Begriff der Katastrophe ver137
Luhmann, Soziale Systeme, S. 167. Vgl. oben Kap. III.1. 139 Vgl. oben Kap. III.1. 140 Wir nehmen hier die obigen Überlegungen aus Kap. I.2.b) u. III.3. wieder auf. 141 Luhmann, Recht, S. 142 f., vgl. Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 80 sowie Japp, Soziologie der Katastrophe. 138
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weist auf eine radikale Offenheit der Zukunft, die nicht in den Bestimmungs-, das heißt Anschlußbereich sozialer Systeme gebracht ist. Die Katastrophensoziologie, wie sie vor allem Lars Clausen konzipiert hat, betrachtet das Scheitern und den Untergang von Gesellschaften als reale Möglichkeit.142 Katastrophen werden zwar nicht als etwas Außersoziales (wie etwa ein alles auslöschender Einschlag eines Himmelskörpers) betrachtet, aber sie bezeichnen doch einen äußersten Fall: „Genau die Katastrophe konfrontiert uns damit: […] mit dem unausweichlichen Sterbenmüssen. Man kann auch in der Katastrophe scheitern“, und zwar in dem gesellschaftlichen Sinn der „Möglichkeit des ultimaten Scheiterns einzelner oder aller“143, wozu auch die Möglichkeit des gesellschaftlichen Suizids gehört.144 Unter einer Katastrophe wird ein „Vorgang […] in der Wirklichkeit“145 verstanden, bei dem es um die „Überlebenschancen ganzer Gesellschaften“, also auch um die „eigene materielle Basis der Soziologie“146 geht. Der Begriff der Katastrophe wird über den Begriff des sozialen Wandels bestimmt: Katastrophen sind extreme Formen sozialen Wandels, die sich (a) durch eine das Ganze der Gesellschaft treffende Radikalität und Entdifferenzierung, (b) durch höchste Plötzlichkeit und Rapidität sowie (c) durch Fatalität und Ritualisierung auszeichnen.147 Das Scheitern des kognitiven Zugangs zu „derart übermächtigen Situationen“148 bringt den Begriff der Katastrophe mit dem Begriff des Rituals in Verbindung.149 Dieser Zusammenhang wird im zweiten Teil ausführlich anhand Gehlens Institutionentheorie erläutert. Nach Gehlen besteht der Kern von Institutionen darin, die Bedrohung durch ein „überprägnantes“ Ereignis150 in eine existenzielle „Entscheidung zum Dasein“151 einer Gemeinschaft zu transformieren. In diesem Sinn kann man sagen, daß Gehlen den Kern von Institutionen in einem existenziell und gemeinschaftlich übernommenen Katastrophenrisiko sieht. Wichtig für das Verständnis ist nun, daß die katastrophensoziologische Analyse einen institutionellen Rahmen voraussetzt. Warnpraxis und Warnlogik gehörten zur Zeit der Niederschrift des Textes von Clausen und Dombrowsky dem „Warnwesen als einem Teil der Zivilverteidigung, und also auf der Nordhalbkugel einem Teil der NATO-Gesamtverteidigung“ an, dem der Verweigerer in diesem Beispiel 142 Vgl. Clausen/Dombrowsky, Einführung, Clausen/Dombrowsky, Warnpraxis, Clausen, Krasser sozialer Wandel, Clausen, Reale Gefahren. 143 Clausen/Dombrowsky, Einführung, S. 53 f. 144 Vgl. Clausen/Dombrowsky, Einführung, S. 68. 145 Clausen, Übergang, S. 44. 146 Clausen, Reale Gefahren, S. 51. 147 Vgl. Clausen, Reale Gefahren, S. 51 f., Clausen/Dombrowsky, Einführung, S. 48 ff. 148 Clausen/Dombrowsky, Einführung, S. 72. 149 Clausen/Dombrowsky, Einführung, S. 50 f., Clausen, Reale Gefahren, S. 58 f. 150 Vgl. Gehlen, Urmensch, S. 158. 151 Gehlen, Urmensch, S. 93, 177, 180.
III. Kommunikation und soziale Systeme
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„fundamental kritisch gegenüber steht“152. Die potentiell von einer Katastrophe Betroffenen werden nicht, wie in der Systemtheorie, als „eine amorphe Masse, die sich nicht in Form bringen läßt“153, behandelt, sondern die Gewarnten bilden eine konkrete Bevölkerung. Der Warner repräsentiert eine institutionelle Struktur, der auch der analysierende Soziologe angehört.154 Wie bereits festgestellt, tritt die Zukunft in diesem Ansatz nicht als ein Problem des Nicht-Wissens, das heißt der Kognition, sondern der Volition auf.155 Der Katastrophenwarner gibt, so wurde oben gesagt, keine auf Wahrscheinlichkeitswissen basierende Prognose ab, sondern will das Ereignis, vor dem er warnt, nicht eintreten lassen. Er muß – anders als im Bereich des Erkennens von Gegenständen – damit rechnen, daß „der Würfler die Prognose hört und innehält“, daß „der Kapitän sich vorsieht“, daß „Objekte Ohren haben“156. Die reflexionstheoretische Analyse des Warnens vor Katastrophen unterscheidet zwei problematische Situationen. Die erste besteht darin, daß der potentielle Auslöser der Katastrophe die Warnung in seine Handlungsplanung aufnimmt: „Die Warnung erreicht auch den Attentäter, und er tritt vom Versuch zurück. In einem solchen Fall vernichtet die Prognose, da sie zugleich Warnung ist, das Prognostizierte – und damit den Beweis ihrer Fundiertheit. Man hat gewarnt, und in der Praxis spielt sich nichts ab. In der Praxis kann dies bedeuten, daß der professionell korrekte Warner nicht vom Falschen Propheten unterschieden werden kann!“157
Die andere problematische Konstellation besteht darin, daß der Gewarnte „sich seine Position vorbehält“158. Es gibt gegenüber Annahme und Ablehnung der Warnkommunikation einen dritten Wert, der im Anschluß an Gotthard Günthers Begriff des Rejektionswertes als Reflexionswert der Verweigerung (bzw. Verwehrung) bezeichnet wird. Der Gewarnte ist imstande, „weder Ja noch Nein zu sagen“159, indem er die Einheit der Unterscheidung von Ja und Nein zurückweist, und sich seine Position vorbehält. In diesem Fall ist es unentscheidbar, ob eine Warnung stattgefunden hat oder nicht. Das Problem des Positionsvorbehaltes kann auf das Spannungsfeld zwischen dem Theorem der doppelten Kontingenz und dem nach Annahme und Ablehnung der Kommunikation geordneten empirischen Anschlußgeschehen der Kommu152
Clausen/Dombrowsky, Warnpraxis, S. 304. Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 120. 154 Vgl. Clausen, Krasser sozialer Wandel, S. 178. 155 Vgl. oben Kap. I.2.b). Der hiermit angesprochene und im zweiten Teil zu erörternde Begriff des Willens und des Handelns entspricht Luhmanns Unterscheidung von Erleben und Handeln, die vom Begriff der Beobachtung übergriffen wird, nicht. 156 Clausen, Krasser sozialer Wandel, S. 176. 157 Clausen/Dombrowsky, Warnpraxis, S. 302. Vgl. Clausen, Krasser sozialer Wandel, S. 172. 158 Clausen/Dombrowsky, Warnpraxis, S. 304. 159 Clausen/Dombrowsky, Warnpraxis, S. 303. 153
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nikation bezogen werden. Aufgrund Luhmanns strikter begrifflicher Trennung zwischen der elementaren Einheit der Kommunikation und dem empirischen Anschlußereignis kann Kommunikation unter die Differenz von Annahme und Ablehnung gestellt werden, sodaß ein Anschluß sowohl im Fall der Annahme als auch im Fall der Ablehnung der Kommunikation stattfindet.160 Annahme und Ablehnung sind zwei empirische Bestimmungsmöglichkeiten im Bereich der Akzeption der Kommunikation als solcher. Die Unterscheidung von empirischer Annahme und Ablehnung gehört nach Luhmann nicht zum Kommunikationsbegriff, weil sonst „eine abgelehnte Kommunikation gar keine Kommunikation“ und somit „Ablehnung von Kommunikation gar nicht möglich“ wäre.161 Geht man jedoch, wie hier vorgeschlagen wird, davon aus, daß das Zustandekommen doppelter Kontingenz von einem vorgängigen Sich-Einlassen, das heißt von einer Akzeption einer solchen Situation abhängt, dann ist auch deren Zurückweisung denkbar, die es unentscheidbar werden läßt, ob Kommunikation vorliegt oder nicht.162 Dies ist im Ausnahmefall einer Katastrophenwarnung möglich. Die von Lars Clausen und Wolf Dombrowsky im Anschluß an Gotthard Günther analysierte Möglichkeit, sich seine Position vorzubehalten, ist eine Entscheidung, die das Sich-Einlassen auf Situationen mit doppelter Kontingenz reflexiv in der Schwebe hält. Dies betrifft nicht nur das kommunikative Anschlußgeschehen, sondern auch den Kommunikationsbegriff, denn der Anschluß findet nicht statt, weil im bestimmungslogischen Vorfeld der doppelten Kontingenz eine Reflexion auf die Situation der doppelten Kontingenz stattfindet und diese als solche zurückgewiesen wird. Die Bestimmtheit doppelter Kontingenz ist im institutionell bestimmten Rahmen einer (Warn-)Situation Thema einer Reflexion, aber gerade nicht operativ kommunikationsbildend wirksam. Die Möglichkeit der Kommunikation wird als Situation doppelter Kontingenz in der Schwebe gehalten, indem der Verweigerer den für Kommunikation vorauszusetzenden Entschluß zur Bodenlosigkeit rejiziert und sich seine Position eigenbestimmt vorbehält. Dies verweist auf die Möglichkeit einer institutionell bestimmten Handlungsposition, für die das Sich-Einlassen auf doppelte Kontingenz in Form von Kommunikation zu einer entscheidungsabhängigen Option wird. Hiermit konkretisiert sich Luhmanns Infragestellung des Begriffs der Kommunikation, die oben anhand des Begriffs der virtuellen Kontingenz rekonstruiert wurde.163 Wenn Kommunikation die Lösung des Problems doppelter Kontingenz ist, so müßten entsprechend der 160 Der empirische Anschluß steht nach Luhmann – dies ist die Funktion von Kommunikation – unter der Alternative von Annahme und Ablehnung (vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 203 ff.). Wurde verstanden, so hat Kommunikation stattgefunden: „Die Kommunikation legt einen Zustand des Empfängers fest, der ohne sie nicht bestehen würde, aber nur durch ihn selbst bestimmt werden kann. Auf Annahme oder Ablehnung und auf weitere Kommunikation kommt es daher bei Kommunikationsbegriff nicht an“ (ebd., S. 204). 161 Luhmann, Soziale Systeme, S. 204, Anm. 18. 162 Vgl. zu einer ähnlichen These Stäheli, Sinnzusammenbrüche, S. 42 f. u. passim. 163 Vgl. oben Kap. I.3.d).
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funktionalen Methode auch funktionale Äquivalente für Kommunikation gefunden werden können. Die Problembeschreibung doppelter Kontingenz als wechselseitige Intransparenz und Unberechenbarkeit präformiert den Begriff sozialer Systeme in Richtung auf Kognition: „Allwissende psychische Systeme stünden im Verhältnis zueinander in voller Transparenz und könnten daher keine sozialen Systeme bilden.“164 Die Tendenz in Richtung Kognition findet sich sowohl auf der Ebene der elementaren Selbstreferenz als auch auf der Systemebene. So deutet Luhmanns Begrifflichkeit von Ego und alter Ego auf eine Vereinseitigung des damit verbundenen Reflexionsproblems hin. Luhmann schreibt: „Der andere ist ein alter Ego. Oder mit Gotthard Günther formuliert: ‚Das Du ‚ist‘ immer das Ich in thematischer Umkehrung‘. Aber er ist nicht nur das, er ist auch alter Ego. Man kann seinem Handeln zuvorkommen […]“165. Walter Bühl hat darauf aufmerksam gemacht, daß sich Luhmann eigentlich zu unrecht auf Günther beruft, denn Günther hat gerade nicht behauptet, daß das Du auch alter Ego ist.166 Günthers Ausgangspunkt des Problems der doppelten Reflexion, in deren Verlauf das Denken auf das Du stößt, ist vielmehr, daß ein Ego in der Reflexion nicht als Ego erscheinen kann. Wird das Ego als Ego intendiert, erscheint es als seiendes Objekt. Desweiteren ist es gerade nicht so, daß Ego dem Handeln des Du zuvorkommen könnte, sondern umgekehrt steht gerade das Du dafür, daß das Du dem Ich (und nicht umgekehrt) immer schon zuvorkommt. „Das Du“, so Bühl, „[geht] dem Ich […] voraus […]“167. Die Frage wäre also vielmehr, wie das Ego als Du, das heißt mit Günther: wie das Ich in thematischer Umkehrung begriffen werden könnte. Dann aber würde es als Wille begriffen.168 Im zweiten Teil der vorliegenden Untersuchung soll anhand des Denkens der Leipziger Schule dieser von Luhmann ausgeblendeten Seite der Sozialität nachgegangen werden.
164
Luhmann, Soziale Systeme, S. 458. Luhmann, Soziale Systeme, S. 177. Die zitierte Stelle findet sich bei Günther, Metaphysik, Logik, S. 67. 166 Vgl. Bühl, Luhmanns Flucht. 167 Bühl, Luhmanns Flucht, S. 233. 168 Vgl. dazu ausführlich unten Kap. V.2. u. V.5. 165
B. Zur Soziologie der Leipziger Schule „Der Weltkrieg war der Dämon, der die Pathetik kurz und klein schlug. Der Krieg hat keinen Anfang und kein Ende mehr, der graue Infanterist […] ist weder ein Individuum noch eine Gemeinschaft, er ist ein Bestandteil einer Elementargewalt, die über die zerwühlten Felder hin verstreut ist. Die Begriffe haben sich ihm verwirrt – die alten Begriffe. Es fallen ihm allmählich die Schuppen von den Augen; in dem unendlichen Nebel, in den sein geistiges Auge hineinblickt, beginnt es zu dämmern, und er fängt an, ohne zu wissen, was er tut, in den Kategorien des nächsten Jahrhunderts zu denken.“1
IV. Vom „okzidentalen Rationalismus“ zur „Selbstbegegnung des Abendlandes“ Das Denken der Leipziger Schule geht nicht nur aus einer Krisen-, sondern aus einer Katastrophenerfahrung hervor. Der Erste Weltkrieg ist nicht erst von Historikern, sondern schon von den Zeitgenossen als epochale Katastrophe empfunden worden, in der sich das Gesicht der Moderne offenbarte. Obwohl man den Eindruck haben mag, daß es sich bei dieser Kennzeichnung der Weltkriegsepoche um eine inzwischen durch Wiederholung entleerte Phrase handelt, trifft sie doch den realen Sachverhalt eines plötzlich einsetzenden und radikal und durchgreifend verlaufenden gesellschaftlichen Wandels.2 Aus katastrophensoziologischer Perspektive ist es daher eine präzise Beobachtung, wenn Karl Polanyi die Epoche der Weltkriege als „Katastrophe“ betrachtet, die die „Transformation einer ganzen Zivilisation“ bedeutete, von deren „Plötzlichkeit“ und ihrem „beispiellosen Ausmaß[]“ die Zeitgenossen jedoch „völlig überrascht“3 wurden. In den zuvor nicht gekannten Materialschlachten4 wurde 1
Fischer, Der deutsche Infanterist von 1917, S. 7. Clausen, Übergang u. Clausen, Krasser sozialer Wandel. 3 Polanyi, Great Transformation, S. 41 u. 52. 4 Über den Begriff des Materials schreibt Ernst Jünger: „Was wußten wir auch 1914 vom Material – von diesem Fremdwort, das bald eine immer schrecklichere Bedeutung für uns gewinnen sollte, bis es den Schlachten selbst, die wir zu schlagen hatte, den Namen gab? […] Nein, 1914 wußten wir noch nichts vom Material. Eine kleine Ahnung davon bekamen wir in den ersten Trommelfeuern, durch die man uns auf eine neue und grausamere Art zu beschießen begann. Aber erst, als uns das Schicksal 1916 nach dem doppelten Mahlgange der Verdun-Offensive in die fabelhafte Landschaft an der Somme verschlug, enthüllte sich uns der Wille der großen Staaten, der an den Fronten seine feurige Entladung fand. […] Uns schien es damals kaum geringer, als ob wir uns kopfüber in einen speienden Krater oder in einen flammenden Hochofen stürzen sollten. […] Es kamen überhaupt nur sehr wenige, nur 2 Vgl.
IV. Vom „okzidentalen Rationalismus“ zur „Selbstbegegnung des Abendlandes“ 147
das 19. Jahrhundert beendet und mit der auf den Krieg folgenden Beseitigung alter Reiche und Monarchien das 20. Jahrhundert eingeleitet. Ähnlich beurteilt Horst Baier das Geschehen als einen „katastrophischen Strukturbruch“, der zum „Herrschaftswandel[] vom Nationalstaat zum Sozialstaat“5 führte. In seiner universalgeschichtlichen Deutung teilt Dan Diner das 20. Jahrhundert „in zwei Hälften: die eine, die der Katastrophen, die schließlich sein historisches Antlitz prägen sollte, und die zweite, die zumindest für den Westen als beherrschende Zivilisation im Zeichen von Prosperität und Wohlfahrt steht“6. Das Katastrophenträchtige der Epoche der Weltkriege liegt nach Diner in der Kreuzung zweier Entwicklungslinien, die beide auf Universalität angelegt sind: zum einen das im 19. Jahrhundert weltweit expandierte politische System der europäischen Staaten mit seinem Anspruch auf Universalität der abendländischen Rationalität, zum anderen eine über den Rahmen des Staates hinausweisende globale, nicht in Europa zentrierte Machtordnung, die durch außereuropäische Mächte dominiert wird, die sich ebenfalls universalistisch verstehen.7 In diesem Sinn stellte der Erste Weltkrieg „den letzten europäischen Kontinentalkrieg und zugleich den ersten Weltkrieg“8 dar. Man kann die Entwicklung auch als eine in zwei Richtungen verlaufende Universalisierung betrachten, deren beiden Linien an einer bestimmten Stelle wieder zusammenführen und die daher zum „Weltbürgerkrieg“9 tendiert. In den plastischen Worten eines Zeitzeugen: „Im Mittelpunkte der Auseinandersetzung steht nicht etwa die Verschiedenartigkeit der Nationen, sondern die Verschiedenartigkeit zweier Zeitalter, von denen ein werdendes ein untergehendes verschlingt.“10 Im ersten Nachkriegsjahr wurden mit der politischen Neuordnung Europas die Grundlinien der weiteren Entwicklung festgelegt und Konflikte in noch größerem Maßstab vorgezeichnet. Das Jahr „1919 […] symbolisiert die Verschränkung beider Deutungsachsen, der des Weltbürgerkrieges und der der nationalen Konflikte“11. Es brachte keinen Frieden, sondern bildete vielmehr den Auftakt zu einem bürgerkriegsähnlichen Geschehen zwischen radikalen gesellschaftlichen Parteien, das im Zweiten Weltkrieg seine Fortsetzung fand. Der Zeitraum zwischen 1914 und 1945 wird deshalb von Historikern auch als Zweiter Dreißigjähriger Krieg bezeichnet.12
ein kleiner Bruchteil von denen, die angetreten waren, wieder heraus. Diese wenigen hatten eine Vorstellung bekommen vom Material.“ (Jünger, Feuer und Blut, S. 447). 5 Baier, Herrschaft im Sozialstaat, S. 135 u. 136. 6 Diner, Jahrhundert, S. 17. 7 Vgl. auch Schieder, Der Erste Weltkrieg, S. 320. 8 Schieder, Der Erste Weltkrieg, S. 320. 9 Diner, Jahrhundert, S. 21 ff. 10 Jünger, Der Arbeiter, S. 158. 11 Diner, Jahrhundert, S. 15. 12 Vgl. Wehler, Der zweite Dreißigjährige Krieg, S. 34.
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Obwohl diese Situation eine europäische bzw. globale Dimension aufweist, nimmt hinsichtlich der „Katastrophen des Jahrhunderts“ die „deutsche Geschichte […] einen zentralen Platz ein; schließlich waren beide Weltkriege, wenn auch auf unterschiedliche Weise, deutsche Kriege. Nicht zuletzt führten diese Großereignisse des Jahrhunderts Amerika aus seiner selbstgewählten Isolation nach Europa und Asien und von da aus in eine globale Verantwortung.“13
Die beiden sich überschneidenden Konfliktlinien sowie ihre Wahrnehmung als katastrophales Ereignis wird von Ernst Jünger treffend auf den Punkt gebracht: „Bei allen Spannungen dieser Zeit liegen die Wetterwinkel, die die ersten Blitze erzeugen, außerhalb. Nunmehr aber flammen die gesicherten Bezirke der Ordnung selbst wie Schießpulver auf, das lange trockengelegen hat, und das Unbekannte, das Außerordentliche, das Gefährliche wird nicht nur das Gewöhnliche – es wird auch das Bleibende. Nach dem Waffenstillstand, der den Konflikt nur scheinbar beendet, in Wahrheit aber alle Grenzen Europas mit ganzen Systemen von neuen Konflikten umzäunt und unterminiert, bleibt ein Zustand zurück, in dem die Katastrophe als das a priori eines veränderten Denkens erscheint.“14
Vor dem Hintergrund der nicht nur von Jünger beobachteten tiefgreifenden Veränderung des Denkens hat Reinhart Koselleck begriffsgeschichtliche Forschungen über den „Einfluß der beiden Weltkriege auf das soziale Bewußtsein“15 angeregt. Koselleck geht davon aus, daß die Erfahrung der Weltkriege die gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen in einer Weise umgebildet hat, „daß ein tradiertes Bewußtsein der jeweiligen Vorkriegszeit zum falschen Bewußtsein geworden ist“16. Dies weist auf das Reflexionsproblem hin, das von Hans Freyer noch gegen Ende des Zweiten Weltkrieges herausgearbeitet worden ist. Freyer hat die Überschneidung der beiden Entwicklungslinien in seiner Weltgeschichte Europas in großen Zügen nachgezeichnet. Er fügt dem Bild Diners jedoch den Aspekt hinzu, daß die global-machtpolitische Entwicklungslinie nicht etwa 13 Diner, Jahrhundert, S. 17. Karl Polanyi schreibt, daß merkwürdigerweise das entwaffnete und in seiner Existenz bedrohte „Deutschland nach seiner Niederlage imstande [war], die verborgenen Mängel der Ordnung des 19. Jahrhunderts zu erkennen und dieses Wissen für die beschleunigte Zerstörung dieser Ordnung einzusetzen. Eine Art unheimlicher intellektueller Überlegenheit erfüllte in den dreißiger Jahren jene deutschen Politiker, die ihre Aufgabe in der Zersetzung sahen, und die, im Zuge ihrer Bemühungen, die Dinge in ihrer politischen Linie unterzuordnen, oft sogar neue Wege im Finanzwesen, Handel, Krieg und Sozialwesen entwickelten. Die Probleme waren jedoch keineswegs von jenen hervorgerufen worden, die sie dann zu ihrem Vorteil ausnutzten; sie waren real und objektiv vorhanden und werden, unabhängig vom Schicksal der einzelnen Länder, weiter existieren“ (Polanyi, Great Transformation, S. 52). Insbesondere die liberalen Demokratien des Westens waren nach Polanyi unfähig, die Vorgänge zu begreifen und daher „die letzten […], die die wahre Bedeutung der Katastrophe ermaßen“ und daher schließlich „am langsamsten ihren Auswirkungen entgegentraten“ (ebd., S. 41). 14 Jünger, Der Arbeiter, S. 57. 15 Koselleck, Erinnerungsschleusen. Vgl. auch Koselleck, Erfahrungswandel. 16 Koselleck, Erinnerungsschleusen, S. 265.
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unabhängig von der okzidental-nationalstaatlichen auftaucht, sondern selbst auch auf europäische Ursprünge zurückgeht. Denn sowohl die Vereinigten Staaten als Einwanderungsland als auch die ideologisch begründete Sowjetunion sind nicht ohne ihre entsprechenden europäischen Ursprünge zu denken. Der Bezug der beiden neuen Weltmächte zu ihrer europäischen Herkunft ist allerdings ein negativer: er besteht im Falle von Amerika in der Ablösung von der Bindung an Europa, im Falle der Sowjetunion in einer ideologischen Radikalisierung.17 In den Weltkriegen wendet sich die von Europa ausgehende Universalisierung auf Europa zurück. Das macht den Treffpunkt der beiden Linien in den Weltkriegen zur „Selbstbegegnung des Abendlandes“18, in der sich Europa als Fremdes begegnet.19 Frey17 Vgl. Freyer, Weltgeschichte, S. 973 ff., wo das individualistische puritanische Ethos und die Unabhängigkeitserklärung als die prägendsten Faktoren angesehen werden. Vgl. dazu unten (Kap. IX). Vgl. auch ebd., S. 983 ff.: „Rußland […] wandelt die europäischen Vorbilder nicht nur ab, sondern saugt sie in seine Seele ein, wirft sie als eigne Energien aus sich heraus, sodaß fast nur die Worte gleich bleiben, und kehrt sie gegen den Westen.“ (ebd., S. 986). 18 Freyer, Weltgeschichte, S. 970. Freyer gebraucht neben dem Begriff der Selbstbegegnung auch die Metapher des Spiegelbildes, die er beide als letztlich inadäquat ausweist: „Ein Fortschritt, der sich umkehrt und mit seiner Spitze gegen den wendet, der ihn begann, ist einem Spiegelbild, das gegen sein Original aufsässig wird, verzweifelt ähnlich. Doch vor der Gewalt dieser weltgeschichtlichen Wirklichkeit zergeht sowohl das Gleichnis von dem Spiegelbild wie die Formel von der Selbstbegegnung des Abendlandes. Beide gelten nur, solange man auf die äußere Apparatur, auf Technik, Weltmarktkonkurrenz und Waffenwirkung blickt. Aber in Wahrheit geschieht viel mehr: […] eine wirkliche Neugestaltung der politischen Erde, eine Aufladung ferner Räume mit weltgeschichtlichen Energien.“ (ebd., S. 970 f.). 19 Volker Kruse bemerkt zwar richtig, daß sich Freyers Begriff der Industriegesellschaft mit Weber auf eine historische Individualität bezieht. Kruses Auffassung, daß die Industriegesellschaft als „genuin okzidentales Phänomen […] seit geraumer Zeit dabei ist, sich über die ganze Welt zu verbreiten“ (Kruse, „Geschichts- und Sozialphilosophie“, S. 109) zieht aber nur die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg in die Betrachtung ein und übersieht damit den Strukturbruch, um den es Freyer geht. Dieser Bruch wird in neuerer Zeit hingegen betont von John W. Meyer, dessen neoinstitutionalistisches Konzept der world polity zwar ebenfalls in der Tradition Webers steht und daher die Kontinuität weltgesellschaftlicher Institutionen (unter den Leitideen des Fortschritts und der Gerechtigkeit) mit dem europäischen Christentum hervorhebt (vgl. Meyer/Boli/Thomas, Ontologie und Rationalisierung). Meyer sieht aber andererseits die Richtungsumkehr des Universalisierungsprozesses „seit dem Zweiten Weltkrieg“, die ihrem „Ursprung nach protestantisch und anglo-amerikanisch“ ist und den „Zusammenbruch Europas“ (vgl. Meyer/Jepperson, Die „Akteure“ der modernen Gesellschaft, S. 65) voraussetzt. Freyers Überlegungen weisen zudem erstaunliche Ähnlichkeiten mit Ulrich Becks Ansatz der „reflexiven Modernisierung“ auf, welcher besagt: „die Modernisierung […] trifft nun auf sich selbst“ in dem dreifachen Sinne der Selbstgefährdung, die einerseits zur Selbstthematisierung motiviert, andererseits aber auch durch den „Ermächtigungsgehalt von Katastrophen“ „handlungsaktivierende“ (Beck, Risikogesellschaft, S. 14, 105, 43; vgl. ebd., S. 26, 48, u. 105 sowie Bonß, Vom Risiko) Effekte generiert. Zudem ist Luhmanns, Ökologische Kommunikation, S. 247, Figur der Rückwirkungen der Auswirkungen offensichtlich ähnlich wie Freyers Konstruktion gedacht.
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er beschreibt hiermit das Entstehen einer multizentrischen Weltordnung, deren Durchsetzung nach dem Zweiten Weltkrieg zwar in der Folge des bipolaren Konflikts zwischen Ost und West gehemmt wurde, mit dem Aufstieg Chinas inzwischen aber wieder zur offenen Frage geworden ist. Obwohl Freyer den Begriff des Selbstbegegnung aufgrund seiner Gleichnishaftigkeit zurückweist, bleibt doch das von ihm angedeutete Reflexionsproblem bestehen, das mit der Begegnung universell ausgerichteter Machtzentren und deren Positionsbestimmung zueinander gegeben ist. Freyers Gedanke beruht auf einer geschichtlichen Einordnung der Rolle der europäischen Technik. Ihr Einsatz beschränkt sich nicht darauf, zur Industrialisierung der Wirtschaft beizutragen, sondern ihr kommt auch ein Potential als politisches Machtmittel zur Unterwerfung fremder Erdteile zu. Aufgrund des besonders hohen Grades der Dekontextualisierbarkeit europäischer Technik kann diese allerdings auch ohne Kenntnis der Bedingungen ihrer Genese übernommen und angewendet werden: „Das Maschinenwesen erweist sich als Herrschaftsmittel von weltgeschichtlichem Rang […]. Es wirkt erobernd, wo es eingesetzt wird. Es schließt Fernen auf und bindet sie an den, der es primär handhabt. […] Aber jedes Herrschaftsmittel kann auch nachgeahmt und übernommen, dann sogar überboten werden, zwar nicht von allen, doch von denen, die das Zeug dazu mitbringen und den Entschluß dazu fassen.“20
Die neue Situation entsteht dadurch, „daß im 19. Jahrhundert in denjenigen Räumen, die die europäische Expansion freigelassen hat oder die sich aus ihr wieder losgemacht haben, neue Weltmächte aufstehen, und daß die industrielle Revolution, die in Europa entsprang, erst in diesen Räumen ihre volle Macht entfaltet. Sie ist dort nicht mehr, was sie in Europa war […]. Jetzt erst wird die industrielle Bewegung wahrhaft universal. Universal zu werden war von Anfang an ihre Tendenz, und der Glaube, daß sie es sei, gehörte zu ihrer Ideologie. Doch sie wird universal, indem sie auf das Abendland zurückstößt, und das war in jener Ideologie nicht vorausgesehen. Der virulente Keim ist in Europa gezüchtet, er infiziert den ganzen Planeten, aber er erweckt dadurch die fremden Räume und Mächte.“21
Der prägende Einfluß der Epoche der Weltkriege auf Gesellschaft und Soziologie wird von Freyer, Gehlen und Schelsky unisono bestätigt. Obwohl viele Entwicklungslinien im Rückblick älteren Ursprungs sind, ist Freyer zufolge erst „[i]n der Epoche der Weltkriege […] die neue Gestalt der Industriekultur geschichtlich zutage getreten. […] Sie wurden von der nationalökonomischen, soziologischen und staatsrechtlichen Theorie in flagranti erfaßt; daher die produktive, sehr spannungs- und gegensatzreiche Bewegung in den Sozialwissenschaften der zwanziger Jahre.“22
Arnold Gehlen erinnert daran, daß es für seine ansonsten stets an frühkindlichem Handeln und archaischen Gesellschaften demonstrierte Anthropologie auch einen modernen Anschauungshintergrund gibt, vor dem „sich Beobachtungen 20
Freyer, Weltgeschichte, S. 966. Freyer, Weltgeschichte, S. 969 f. 22 Freyer, Gesellschaft und Kultur, S. 503. 21
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aus unserer Zeit mit anthropologischen Theorien verbinden [ließen]. Ein Zeuge wiederholter Weltkriege und Revolutionen konnte sich über die Unstabilität der menschlichen Natur kaum täuschen […]“23. Die Epoche der Weltkriege kann auf diese Weise als außeralltägliches, „‚überprägnante[s]‘ Ereignis“24 bezeichnet werden, das institutionenbildend wirken kann. Wenn dies zutrifft, lassen sich die von Gehlen stets an archaischen bzw. frühkindlichen Beispielen entwickelten handlungswissenschaftlichen Kategorien auf die Moderne beziehen.25 Helmut Schelsky schließlich bemerkt über seine Teilnahme am Zweiten Weltkrieg, daß er „[o]hne diese Erfahrung der menschlichen ‚Realität‘ in ihren äußersten Formen“ sein „wissenschaftliches Arbeiten nach dem Kriege gar nicht verstehen“26 könnte. In dieser Lage ergibt sich gegenüber der Soziologie Max Webers und seiner Frage nach der Genese des okzidentalen Rationalismus eine charakteristische Problemverschiebung. Weber fragte bekanntlich: „welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, daß gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gern vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen?“27
Gemeint ist die einmalige Erscheinung eines „spezifisch gearteten ‚Rationalismus‘ der okzidentalen Kultur“28, der sich in allen ihren Teilbereichen wie Wissenschaft, Kunst, Verwaltung und Wirtschaft nachweisen lasse.29 Um die Besonderheit des abendländischen Rationalismus herauszuarbeiten, führte Weber vergleichende 23 Gehlen, Geburt der Freiheit, S. 212 f. Vgl. auch Rehberg, Existentielle Motive, S. 517 f. 24 Gehlen, Urmensch, S. 158. 25 Es kann damit der Kritik begegnet werden, daß Gehlens „Gegenwartsdiagnose in handlungs- wie ordnungstheoretischer Hinsicht merkwürdig steril“ (Wöhrle, Metamorphosen, S. 123) bleibt, weil er „das ‚rituell-darstellende Verhalten‘ in Urmensch und Spätkultur, selbst ‚derealisierend‘, in die Archaik vorverlagert“ (ebd., S. 153). Der darüber hinausgehenden These Wöhrles, daß sich Gehlens Grundbegriff des rituell-darstellenden Verhaltens schlicht auf „untergründige Kennzeichen“ der „reflexionslosen Ganzheitsangebote des Nationalsozialismus“ (ebd., S. 152) reduzieren lasse, kann hingegen nicht zugestimmt werden. Die oben angedeutete geschichtliche Lage wie auch deren sich begrifflich niederschlagende Konsequenz ist nicht abhängig vom Nationalsozialismus. 26 Schelsky, Rückblicke, S. 74. Weiter sagt Schelsky: „ich habe es floskelhaft als meinen ‚Realitätsdrall‘ bezeichnet und meinen Mitarbeitern, meinen Studenten und meinen Söhnen gegenüber immer als unverstehbar aber doch erwähnenswert geäußert, meist mit dem ironischen Kommentar, man könne nicht jeweils einen Krieg veranstalten, um ein Realitätsbewußtsein bei den Jüngeren und der Sozialwissenschaftler zu schaffen. Aber wenn ich später eine nicht nur das Fach Soziologie, sondern die Wissenschaft selbst überschreitende, ‚transzendierende‘ Erkenntnis forderte, so liegen hier meine metawissenschaftlichen Bezugspunkte.“ (ebd.). 27 Weber, Vorbemerkung, S. 1. 28 Weber, Vorbemerkung, S. 11. 29 Vgl. Weber, Vorbemerkung, S. 1 ff.
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Kulturanalysen durch, um jeweils herauszufinden, „was im Gegensatz stand und steht zur okzidentalen Kulturentwicklung“30. Dieser „Kulturvergleich immensen Ausmaßes“ wurde, so Luhmann, „nie überboten, sondern allenfalls mit neuen Daten wiederholt“; „das bleibende Verdienst dieser Unternehmung“ bestehe darin, „auf die regionale und historische Kontingenz hingewiesen zu haben“31, die der abendländischen Rationalität zukommt. Das Defizit der Weberschen Methode des Kulturvergleichs besteht Luhmann zufolge darin, daß „der ‚regionale‘ Vergleich dem historisch Neuen nicht gerecht“ werde, das „nicht zuletzt im Verhältnis zur eigenen Geschichte Europas“32 liege. Unter Rationalismus bzw. Rationalisierung verstand Weber bekanntlich den Glauben an die prinzipielle Berechenbarkeit der Dinge.33 Weber war überzeugt, daß die von ihm beobachtete Entwicklungsrichtung zur Universalisierung europäischer Prinzipien tendierte. Er schien aber das damit verbundene historisch Neue verkehrt eingeschätzt zu haben, denn die Prämisse seiner vergleichenden Untersuchungen bestand in der Universalisierung europäischer Strukturen, während in der Epoche der Weltkriege tatsächlich jener oben skizzierte „Rückstoß“ (Freyer) der außerhalb Europas radikalisierten Rationalität auf Europa erfolgte. Dies zwang seine Nachfolger dazu, bestimmte bei Weber implizit bleibende begriffliche Voraussetzungen zu explizieren. So fragte Weber nicht nach den konstitutiven Bedingungen der Möglichkeit des Handelns, sondern er setzte die Realität von Handlungen als empirische (historische oder gegenwärtige) Gegebenheit voraus, deren (historisch und sozial) variable Methodisierungsweisen, beispielsweise in Form der puritanischen Wirtschaftsethik, er soziologisch rekonstruierte. Er hat in diesem Sinne, wie KarlSiegbert Rehberg hervorhebt, „keine Konstitutionstheorie der Handlung geboten, sondern im striktesten Sinne eine Rekonstruktionstheorie“34. Dabei ist ein bestimmtes Handlungsverständnis stillschweigend vorausgesetzt, für das die Möglichkeit zu handeln unproblematisch ist.35 Deshalb wird das empirische Handeln (das eigene wie das beobachtete) lediglich unter dem Aspekt seiner rekonstruierbaren Methodisierung, nicht aber im Hinblick auf die konstitutiven Bedingungen seiner Möglichkeit relevant. Diese Methodisierung ist bei Weber „von ‚innen‘ 30
Weber, Vorbemerkung, S. 13. Luhmann, Wissenschaft, S. 702. Vgl. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 156. 32 Luhmann, Wissenschaft, S. 702 f. 33 Vgl. Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 594. 34 Rehberg, Handlungsbezogener Personalismus, S. 452. Oder schärfer formuliert: „Weber entwickelte keine Handlungstheorie.“ (Rehberg, Kulturwissenschaft, S. 631). Vgl. zur Unterscheidung von Konstitutions- und Rekonstruktionstheorien des Handelns Rehberg, Rationales Handeln, S. 204. 35 Rehberg bezeichnet dies als das „Weltbeherrschungsmodell des Handelns“: „Handlung wird von hier her als Verhaltensklasse der bewußten Verfügung über Möglichkeiten durch Handlungsmächtige verstanden, als Verhaltensmodus von Menschen also, die Zwecke setzen und Mittel wählen können […]“ (Rehberg, Rationales Handeln, S. 206). 31
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nach ‚außen‘ gedacht“36. Die innere, methodische Formierung des individuellen Verhaltens zum Zwecke der äußeren Beherrschung der Welt- und Sozialverhältnisse gipfelt in den Soziologischen Grundbegriffen in den beiden nebeneinander gestellten Herrschaftsanstalten Kirche und Staat.37 Offensichtlich ist es aber gerade diese von innen nach außen gerichtete, mehr oder weniger selbstverständliche Durchsetzungsfähigkeit, die in einer Katastrophensituation gehemmt wird. Damit werden sowohl die Bedingungen der Möglichkeit des Handelns als auch die in Webers Soziologischen Grundbegriffen nur „implizite Institutionentheorie“38 zur Explikation gezwungen. Das von Luhmann gewürdigte bleibende Verdienst Webers, die Kontingenz der abendländischen Rationalität aufgewiesen zu haben, hat bereits Hans Freyer ins Zentrum seiner Weber-Interpretation gestellt.39 Nach Freyer sei es Weber allerdings nicht geglückt, diese Geschichtlichkeit der sozialen Wirklichkeit auch wissenschaftstheoretisch herauszuarbeiten und in der Form der soziologischen Begriffsbildung zu berücksichtigen, weil „Max Weber, im Banne der Rickertschen Wissenschaftslehre, sein wissenschaftliches Tun selbst nicht adäquat beschrieben hat“40. Nach Freyer gibt es daher einen Punkt in Webers Soziologie, an dem „der methodische Individualismus wider Willen in inhaltlichen Individualismus umzuschlagen [scheint]“41. Dieser Umschlag geht auf die Divergenz zwischen der von Weber tatsächlich ausgeübten Wissenschaft und seiner Selbstauffassung in Gestalt seiner Wissenschaftslehre zurück, die einander nicht entsprechen.42 Die von Weber in seinen Forschungen tatsächlich gebildeten Idealtypen haben nach Freyer alle einen geschichtlichen Kern.43 36
Rehberg, Rationales Handeln, S. 199. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, § 17. 38 Rehberg, Grundlagentheorie der Institutionen, S. 138, Anm. 33 (Hervorh. hinzugefügt). Vgl. auch Tyrell, Gewalt, S. 59. 39 „[D]ie Grundintention der M. Weberschen Soziologie […] besteht in der Frage: Welches ist die eigengesetzliche Art der modern-europäischen Gesellschaftsgestaltung, und durch welche einmalige Verkettung von Umständen ist sie ermöglicht, ist sie erzwungen worden? Der ganze Materialreichtum der Max Weberschen Soziologie aber und ihr geradezu nervöses Bemühen, aus allen Zonen und Zeiten die divergentesten Möglichkeiten gesellschaftlicher Gestaltung heranzuziehen, bekommt erst von dieser Grundintention aus ihren Sinn. Seine Bedeutung ist: der enzyklopädische Nachweis, daß die gegenwärtige Gesellschaftsordnung nicht generell notwendig, sondern eine historische Kategorie ist. Dieser Nachweis wird geführt, indem die Frage gestellt wird: Wie kann es anders sein, und unter welchen Bedingungen ist es anders gewesen? […] Und die Soziologie, als die systematische Wissenschaft auch von den andersartigen gesellschaftlichen Wirklichkeiten, wird der Weg, auf dem sich die gegenwärtige Wirklichkeit in ihrer historischen Individualität selbst erkennen lernt.“ (Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 156; vgl. Landshut, Kritik der Soziologie). 40 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 198. Vgl. ebd., S. 145 ff., 190 ff., 199 ff., 207 ff. 41 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 177. 42 Vgl. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 178. 43 „Es handelt sich darum, einzusehen, daß auch die abstraktesten und generellsten, weil rationalsten Idealtypen der Soziologie noch einen aufweisbaren geschichtlichen Gehalt 37 Vgl.
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In Webers Begriff des Idealtypus wird die individualisierende, geschichtliche mit der generalisierenden, naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise verknüpft. Dadurch schafft Weber eine Art von Begriff, die über die Berücksichtigung der im Gegenstand enthaltenen geschichtlichen Wertsetzungen zum einen der historischen Rückbindung der betrachteten Phänomene Rechnung trägt, aber zum anderen durch Beachtung der involvierten kausalen Relationen auch deren allgemeine Seite herauszuarbeiten vermag. Es werden so an geschichtlich konkreten Erscheinungen soziologische Begriffe von verallgemeinerbarer (nicht schlechthin allgemeiner) Relevanz gebildet. In seinen wissenschaftstheoretischen Betrachtungen verlegt Weber aber die Wertentscheidung in die Verantwortung des einzelnen Individuums. So soll verhindert werden, daß existenziellen Entscheidungen, die nur von jedem einzelnen selbst getroffen werden können, der falsche Schein der wissenschaftlichen Notwendigkeit verliehen wird.44 Wissenschaft kann dazu beitragen, die kausalen Mittelzusammenhänge mit Blick auf bestimmte Zwecksetzungen zu durchschauen, sie kann die Frage beantworten, wie man zu bestimmten Zwecken gelangt und was wahrscheinlich deren Nebenfolgen sind. Und Wissenschaft kann die solchen Zwecksetzungen zugrundeliegenden Wertungen geschichtlich und soziologisch verstehbar machen. Nicht aber können Wertungen, Zwecksetzungen und Mittelwahlen selbst wissenschaftlich vollzogen werden. Obwohl Freyers Besinnung auf Webers Begriff der Wirklichkeitswissenschaft von dieser „große Stücke bestehen“ läßt, „nuanciert sie allerdings den Begriff der Wertfreiheit der Soziologie“45 in einem zentralen Punkt anders, denn in Webers „Dualismus der wertfreien Gesetzeserkenntnis und der Wertentscheidung des individuellen Gewissens rutscht genau diejenige werthaltige Wirklichkeit, auf die es ankommt, mitten durch“46. Was kann dies bedeuten, wenn doch Webers Begriff in sich tragen; und zwar nicht als unbewußten und ungewollten Rest, sondern als wesentliches Zentrum ihres logischen Baus. Der historische Kern der soziologischen Idealtypen liegt darin, daß die Zwecke und Werte, an denen das Handeln der Menschen letzthin orientiert ist, in ihnen prinzipiell als gegebene hingenommen werden: nur auf die Handlungsformen, die sich unter Voraussetzung eines bestimmten Willenszwecks rationalerweise ergeben müssen, bezieht sich der Idealtypus. M. Weber betont ganz grundsätzlich, und zwar gerade dort, wo er die Struktur der maximal evidenten Idealtypen ableitet, daß wir die letzten Ziele des Willens und ihre Wertgrundlagen ‚sehr oft nicht vollevident zu verstehen vermögen‘; daß wir uns je nach dem Grad ihrer Abweichung von unseren eigenen Wertsetzungen damit begnügen müssen, sie ‚rein intellektuell nachzuverstehen‘ oder sie geradezu ‚als gegeben einfach hinzunehmen‘ (Wirtschaft und Gesellschaft, S. 2). […] Woher gewinnen wir die Werte, die in dieser Weise den logischen Kern der soziologischen Idealtypen bilden? Antwort: aus der geschichtlichen Wirklichkeit. Phantasieren wir sie uns zusammen, so treiben wir ein ‚reines Gedankenspiel‘; was auch möglich, aber wissenschaftlich sinnlos ist.“ (Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 151 f.). 44 Vgl. Weber, Sinn der „Wertfreiheit“, u. Weber, Wissenschaft als Beruf. 45 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 210. 46 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 211.
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des Idealtypus bereits bestimmte geschichtliche Wertsetzungen zur Voraussetzung hat? Freyer stellt die Frage nach dem Status der Soziologie als Wissenschaft. Seine subtile Verschiebung betrifft die wissenschaftstheoretische Dimension von Webers Selbstverständnis und setzt am Wertbegriff an. Das Werthaltige der Wirklichkeit, auf das es Freyer ankommt, sind weder nur die geschichtlich-objektiv gegebenen Wertsetzungen, die jeweils zur Konstruktion von Idealtypen dienen, noch nur die individuell-subjektiven Wertsetzungen, die den Gewissensentscheidungen der Einzelnen zugrundeliegen. Die abstrakte Trennung dieser beiden Momente im Selbstverständnis einer wertfreien Wissenschaft ist richtig, solange sich die Soziologie auf eine rekonstruktive Methodologie beschränkt. Der geschichtliche „Wert“ der sozialen Wirklichkeit, um den es Freyer geht, impliziert dagegen eine existenzielle Selbstbezüglichkeit, die den Soziologen mit seinem Gegenstand verbindet. Der Wertbegriff ist hier eigentlich nicht mehr passend, weshalb er von Freyer denn auch in Anführungszeichen gesetzt wird.47 Das neue Problem besteht vielmehr in einer existenziell-geschichtlichen Selbstbezüglichkeit. Die Soziologie wird zur Selbsterkenntnis einer geschichtlichen Wirklichkeit. Die neue Lage lenkt den Blick auf „ein Geschehen, dem der Erkennende selbst mittätig, mitleidend, existenziell angehört“48. Damit hat Freyer nicht nur Webers Verdienst, sondern auch sein Defizit in der von Luhmann diagnostizierten Weise herausgearbeitet. Denn die Soziologie wird nicht nur zur Instanz der Selbsterkenntnis geschichtlicher Gegenwart, sondern sie reflektiert sich in diesem Zuge selbst auch als geschichtliches Phänomen.49 Die Soziologie entdeckt sich in ihrer Kontingenz als einer im 19. Jahrhundert entstandenen Krisenwissenschaft. Freyer erfüllt mit diesen Bestimmungen ein Desiderat gesellschaftlicher Selbstreflexion, das Weber in dieser Weise noch nicht sah. Luhmann wiederum läßt es in seiner Diskussion der gesellschaftlichen Selbstreflexion „offen, ob die Soziologie sich selbst als geschichtlich-epochengebunden zu verstehen und dieses Verständnis in ihren Begriffen widerzuspiegeln hat“; dies wäre, so Luhmann weiter, „Reflexion in unserem Sinne“50, die „namentlich Hans Freyer“51 in der Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft verfolgt habe. Indem Freyer dies tut, behebt er zugleich den von Luhmann festgestellten Mangel an Webers Soziologie, daß dessen Methode des Kulturvergleichs für die Bestimmung der aktuellen gesellschaftlich-geschichtlichen Situation nicht angemessen sei, weil dies nicht nur einen Vergleich unterschiedlicher Kulturen, sondern eine Selbstreflexion der „eigenen Geschichte Europas“52 erfordere. Diese Brechung des geschichtlichen 47 „Und eben dieser ‚Wert‘: Rationalität, wird von ihm mit vollem Bewußtsein als systembildendes Prinzip aufgenommen.“ (Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 157). 48 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 83. 49 Vgl. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 158 ff. Vgl. dazu auch Luhmann, Reflexive Mechanismen, S. 128 u. ebd., S. 140, Anm. 28. 50 Luhmann, Reflexive Mechanismen, S. 128. 51 Luhmann, Reflexive Mechanismen, S. 140, Anm. 28. 52 Luhmann, Wissenschaft, S. 703.
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Selbstverhältnisses und damit seine Bestimmungsmöglichkeit ergab sich aber, so unsere These, erst im Zuge der Weltkriege. Freyer kritisiert also Webers wissenschaftstheoretisches Selbstverständnis, was zugleich zu einer selbstbezüglich gewendeten Neuinterpretation des Begriffs des Idealtypus führt: „Max Webers Forderungen stehen unter den Auspizien einer Wissenschaftslehre, die außer der geschichtlichen, individualisierenden Begriffsbildung nur nomothetische Disziplinen kennt, die ihrer Logik nach Naturwissenschaften sind. Die Feststellung, daß der Stein soundso fällt, enthält natürlich nichts darüber, ob es gut oder schlecht ist, daß er fällt, ob ich ihn fallenlassen soll oder nicht: hier wird wirklich bloß das Feld für mögliche Willenshandlungen geklärt. Richtet sich aber unsere Erkenntnis auf ein Geschehen, dem wir existenziell verbunden sind, und ergreift sie dieses Geschehen im Aggregatzustand der Gegenwärtigkeit, so analysieren wir nicht nur die gesetzmäßige Struktur eines Materials, auf das sich beliebige Eingriffe richten können, sondern wir werden uns einer Wirklichkeit bewußt, der wir selbst mit unserem Sein und Tun angehören. Diese Wirklichkeit, in die unser Wille als mitwirkender Teil eingestellt ist, erkennt sich selbst nach ihrem Zustand und nach ihrer Richtung. Das ist eine offenbar andere Beziehung von Gegenstand und Erkenntnis, als wenn es sich darum handelt, die Struktur eines Wirkungsfeldes zu erforschen, in das dann Willensentschlüsse mit ganz freier Setzung der Ziele eingreifen können. Denn mit dem Aufweis der Willenskräfte, die in ihr lebendig sind, begreifen wir allererst den wesentlichen Gehalt dieser unserer gegenwärtigen Wirklichkeit. Sie treten nicht nachträglich als freier Eingriff zu dem eigengesetzlichen Material hinzu, sondern machen seine Substanz aus.“53
Freyers Reinterpretation des Begriffs der Wirklichkeitswissenschaft arbeitet ein Bedeutungsmoment heraus, das bei Weber implizit bereits vorhanden ist, aber durch dessen wissenschaftstheoretische Schriften verstellt wird. Aus diesem Grund muß sich auch Siegfried Landshut zufolge, auf den sich Freyer in diesem Punkt bezieht, das soziologische Bemühen auf die „Sicherung des Weberschen Frageansatzes gegen seinen eigenen Abfall“54 richten: „M. Weber hat es nie unternommen, die ‚gegenwärtigen Kulturwertungen‘, die für die Gegenstandsauswahl und Begriffsbildung der Kulturwissenschaften den Orientierungspunkt bilden, systematisch zu formulieren; wohl vor allem deswegen, weil er von ihrer Vielspältigkeit überzeugt war. Aber die Hauptdominante: die unaufhaltsam fortschreitende Rationalisierung aller Gebiete des Kulturlebens, hat er immer festgehalten. Und eben dieser ‚Wert‘: Rationalität, wird von ihm mit vollem Bewußtsein als systembildendes Prinzip genommen.“55 53
Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 210 f. Landshut, Kritik der Soziologie, S. 34. Landshuts von Marx und Heidegger beeinflußte Kritik richtet sich gegen Webers Auffassung der Wirklichkeit (vgl. z. B. Weber, Die „Objektivität“, S. 171 sowie dazu unten Kap. VII.3.), der Landshut entgegenhält, die Wirklichkeit sei „einmal keineswegs ein so wahl- und ordnungsloses Neben- und Nacheinander einer unendlichen Mannigfaltigkeit und dann – oder gerade deshalb tritt sie uns nie entgegen, sondern wir befinden uns schon immer mitten in ihm drin, und dies um so mehr, als wir selbst ja mit diese Wirklichkeit und dieses Leben sind“ (Landshut, Kritik der Soziologie, S. 16, vgl. ebd. S. 40). 54
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Dieses primäre systembildende Prinzip aber stammt Freyer zufolge aus der Geschichtsphilosophie.56 Es kommt also darauf an, der Geschichtsphilosophie eine realistische Wendung zu geben. Dies ist durchweg Freyers Programm. Er verortet deshalb den Ursprung der deutschen Soziologie im dritten Teil von Hegels Rechtsphilosophie.57 Die programmatische Reaktivierung der doppelten Reflexion Hegels, diesmal aber nicht in metaphysischer Absicht, sondern mit dem realistischen Fokus auf das Problem des Willens und der Handlung, geht auf jene neue Form der Kontingenzerfahrung zurück, die oben unter dem Stichwort der „Selbstbegegnung des Abendlandes“ geschildert wurde.58 Mit dem erst 1914, mit der Katastrophe des Ersten Weltkrieges beginnenden 20. Jahrhundert59 wird eine andere Seite der geschichtlichen Kontingenz bewußt, die jene von Weber berücksichtigte Kontingenz des okzidentalen Rationalismus einer nochmaligen Selbstreflexion unterzieht. Die von der Leipziger Schule theoretisch umgesetzte neue Problemwahrnehmung bildet das Thema der folgenden Kapitel. 55
55
Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 157. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 157. 57 Vgl. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 213 ff. u. Freyer, Einleitung, S. 62 ff. Freyer erläutert, daß die Soziologie nicht „mit Hegels Philosophie des Rechts“, sondern „in Hegels Rechtsphilosophie“ (Freyer, Einleitung, S. 62), beginnt. Der eigentliche Anfang der Soziologie liegt in „einer realistischen Wendung“ (Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 213) gegen das philosophische System. 58 Vgl. oben Kap. IV. 59 Vgl. Freyer, Gesellschaft und Kultur, S. 501 ff. 56 Vgl.
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B. Zur Soziologie der Leipziger Schule
V. Reflexion und Wille: Zu den frühen Schriften von Gotthard Günther, Arnold Gehlen und Helmut Schelsky Dieses Kapitel wird dem Verhältnis von Kognition und Volition, von Reflexion und Wille als einem grundsätzlichen Problem in den frühen Schriften von Gotthard Günther, Arnold Gehlen und Helmut Schelsky nachgehen. Gotthard Günthers Grundzüge einer neuen Theorie des Denkens in Hegels Logik und Arnold Gehlens Theorie der Willensfreiheit, beide aus dem Jahr 1933 und höchstwahrscheinlich ohne wechselseitige Kenntnis voneinander verfaßt, treffen sich in einem methodisch zentralen Punkt. Sie gehen davon aus, daß eine Selbstreflexion des Denkens auf dem Standpunkt des subjektiven Bewußtseins bzw. des Verstandes unmöglich ist, weil die subjektive Reflexion das Denken notwendigerweise verdinglicht und somit thematisch verfehlt. Ähnlich wie Günther1 bemerkt Gehlen in seiner Theorie der Willensfreiheit den „großen Fehler […], der in der Voraussetzung lag, das Ich objektiv zu denken. […] Das objektive Ich ist ein Widersinn und führt sich selbst ad absurdum, weil die lebendige geistige Tätigkeit eben meine und nicht die meines Gegenstandes […] ist“2.
Beide entwickeln in mehr oder weniger deutlichem Anschluß an Hegel eine Theorie der Reflexion auf die Reflexion, welche die Ebene der ichhaften Verstandesreflexion verläßt. Sowohl Günther als auch Gehlen nehmen eine Entsubjektivierung des Denkens vor, von der aus man, wie oben gezeigt,3 zu einem adäquaten Verständnis der erkenntnistheoretischen Problematik gelangen kann. Das heißt, man kann die doppelte, entsubjektivierende Reflexion auf einen endlichen Standpunkt des Erkennens zurückbeziehen, um die subjekttheoretisch unlösbaren Reflexionsprobleme in die Erkenntnislehre einzuarbeiten.4 Andererseits kann man von hier aus versuchen, die doppelte Reflexion in operativer Hinsicht zu bestimmen. Diese von Günther, Gehlen und Schelsky verfolgte Richtung führt auf die Frage nach dem Willen und dem Handeln. Denn die Reflexion auf die Reflexion weist mit Blick auf das Handeln eine methodologische Dimension auf, die den klassischen Begriff rationalen Handelns als unzulänglich erweist. Setzt man wie Weber die Realität von Handlungen schlicht als empirisch gegeben voraus, verfährt man also nicht konstitutionstheoretisch, sondern rekonstruktionstheoretisch im Sinne von Karl-Siegbert Rehberg,5 indem man „Handlungen objektiv und analytisch, also in der Ebene der Außenvorgänge“ untersucht, dann „verschwindet die Handlung unrettbar“6. 1
Vgl. oben Kap. II.2.a). Gehlen, Willensfreiheit, S. 92. 3 Vgl. oben Kap. II.2.a). Auch Gehlen ist daher nicht von der dort referierten Kritik Luhmanns an der Reflexionsphilosophie betroffen. 4 So im Anschluß an Günther Hiltscher, Wahrheit und Reflexion. 5 Vgl. Rehberg, Rationales Handeln, S. 204 u. Rehberg, Handlungsbezogener Personalismus, S. 452. 6 Gehlen, Urmensch, S. 28. 2
V. Reflexion und Wille
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Das hiermit bezeichnete Problem einer Verdinglichung des Denkens und Handelns in der subjektiven Reflexion findet, so die hier vertretene These, nicht nur in Gehlens Gesamtwerk durchgehende Berücksichtigung, sondern verbindet alle hier behandelten Autoren der „Leipziger Schule“. Günther und Schelsky fordern daher in einer gemeinsamen Schrift eine „transzendentale Theorie des praktischen Bewußtseins“, das sich nicht theoretisch, sondern in „Handlungen, d. h. in Entscheidungen“7 bestimmt. Hier rührt auch Günthers Interesse an der später ausgearbeiteten Idee einer formalen mehrwertigen Logik als Grundlage für eine operationsfähige Dialektik her. Auch Gehlen fragt nach dem Verhältnis der doppelten Reflexion zur existenziellen Verortung des Denkens als Handeln. Die von ihm zur Bestimmung dieses Verhältnisses vorgeschlagene Unterscheidung ist die Differenz von Bejahung und Verwerfung der Reflexion bzw. des Handelns, die das operative Verhältnis von Denken und Handeln erfaßbar macht. Diese Unterscheidung wird von Günther unter den Begriffen der Akzeption und Rejektion für die Logik fruchtbar zu machen versucht, in welcher Gestalt sie schließlich von Luhmann zur Analyse des Verhältnisses der Funktionssystemcodes zueinander herangezogen wird.8 Das Interesse an Themen wie Wille, Handeln und Entscheidung hat also nicht nur einen zeitgeschichtlich-politischen, sondern einen angebbaren theoretischen Hintergrund. Es ist der Ausgangspunkt einer „Handlungslehre, die niemand ignorieren sollte, der über eine rationalistisch oder formalistisch verkürzte soziologische Handlungstheorie hinauskommen will“9. Im folgenden wird das Problem von Reflexion und Wille bzw. Handlung ausgehend von Gotthard Günthers Hegelinterpretation als Sinn-Analyse des Denkens entwickelt, um von dort zum Begriff des Willens und der Handlung bei Günther, Gehlen und Schelsky zu gelangen. 1. Zur Theorie des Denkens Gotthard Günthers Auseinandersetzung mit der Hegelschen Logik aus dem Jahr 1933 verortet sich selbst im Kontext der Bemühungen um eine „Logik der Geisteswissenschaften“10, die als Methodenproblem von Wilhelm Dilthey initiiert wurde.11 Das Thema war die Sicherung der Geisteswissenschaften als Wissenschaften. Dies war in dem Maße dringlich geworden, als die historische Betrachtungsweise die Geltung der Vernunft als solcher zu relativieren begann und die Frage aufkam: „legt sich die Vernunft in allen historischen Erscheinungsformen wirklich vermittels desselben Systems von Bestimmungen aus?“12 Offenkundig ist 7
Günther/Schelsky, Vorwort, S. 6 f. Siehe dazu ausführlicher unten Kap. X.1. u. XI. 9 Rehberg, Hans Freyer – Arnold Gehlen – Helmut Schelsky, S. 94. 10 Günther, Grundzüge, S. XVII. 11 Dieser Problemansatz einer „Logik der Geisteswissenschaften“ wird von Günther später als vollständig verfehlt eingeschätzt. Vgl. z. B. Günther, Idee und Grundriß, S. 20 ff. 12 Günther, Grundzüge, S. 135. 8
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dies derselbe Ausgangspunkt, der auch zur Herausbildung der Wissenssoziologie geführt hat.13 Obwohl ein systematischer Vergleich mit der Wissenssoziologie Karl Mannheims sicher sehr aufschlußreich wäre, soll mit Blick auf die Vergleichbarkeit der unten erfolgenden Rekonstruktion des Freyerschen Problemansatzes Günthers Reflexionstheorie vor dem Hintergrund der Soziologie Max Webers situiert werden. In Günthers Werk finden sich zwar keinerlei explizite Bezugnahmen auf Weber. Die Verbindung läßt sich aber herstellen, wenn man sieht, daß beiden Werken die Frage nach der Kontingenz der okzidentalen Rationalität zugrunde liegt.14 Weber erforscht empirisch deren historische Genese. Die von Weber damit verbundene Frage, ob die von ihm untersuchten „Kulturerscheinungen“ wirklich und objektiv „von universeller Bedeutung und Gültigkeit“ sind, oder ob „wir uns“ das nur subjektiv „gern vorstellen“15, wird von ihm nicht ausdrücklich beantwortet. Günther hingegen legt sich die Frage nach der Universalität abendländischer Rationalität ausdrücklich hinsichtlich ihrer Gültigkeit vor.16 Weil es sich bei der fraglichen Universalität nur um einen selbstbezüglichen Sachverhalt handeln kann (denn „wir“ gehören diesem kulturell-gesellschaftlichen Komplex ja an), greift Günther auf Hegels Reflexionslogik zurück. Die Frage nach der Universalität der Rationalität soll aber in ihrer Gültigkeit beurteilt werden: darum wird Hegels Logik von vornherein von einem endlichen Standpunkt aus analysiert. Günther nimmt also einen Standpunkt ein, der mit Hegel gegen Hegel denkt. Hegel selbst, für den die Wissenschaft der Logik die „Selbstbewegung des Absoluten“17 ist, wäre die Frage nach der Geltung der Bestimmungen der Selbstreflexion für jeglichen endlichen Standpunkt sinnlos erschienen: „Denn vom Standpunk des Absoluten aus ist der einzelne abstrakte Begriff eben durch seine Einzelheit und Abstraktheit nur ein unwahres Moment, und damit kann eine formallogische Gültigkeitsfrage sinnvoll garnicht an ihn gestellt werden. Seine Wahrheit aber für das Ganze des Absoluten kann und soll uns ja hier nicht interessieren, weil wir wissen wollen, was der einzelne Begriff ‚für uns‘ bedeutet, und als was ‚wir‘ ihn im Sinne strengster logischer Valenz denken müssen, um von ihm aus die begriffliche Stringenz des Systems des absoluten Geistes verstehen und beurteilen zu können.“18
Mit dem Ziel, von einem endlichen Standpunkt eine kritische Urteils-, das heißt Entscheidungsfähigkeit zu bewahren, unterscheidet Günther Hegels metaphysisches System der absoluten Idee von dessen reflexionslogischer Methode, durch die sich die Universalität der Reflexionsbestimmungen in ihrer Totalität ausweisen lassen. Günthers These dazu ist, daß Hegels Metaphysik von seiner Methode ab13 Vgl. Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, zur Nachzeichnung dieser Linie. 14 Vgl. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 156 u. Luhmann, Wissenschaft, S. 702. 15 Weber, Vorbemerkung, S. 1. 16 Vgl. Günther, Grundzüge, S. 4. 17 Günther, Grundzüge, S. 5. 18 Günther, Grundzüge, S. 5.
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hängt und deshalb mit dieser steht und fällt, nicht aber umgekehrt.19 Der Begriff der Spekulation gewinnt also bei Günther eine rein methodische, von metaphysischen Konnotationen unabhängige Bedeutung.20 Es kann deshalb die reflexionslogische Methode beibehalten und ausgearbeitet werden, ohne an Hegels ontotheologischer Metaphysik festhalten zu müssen. Günther will also zeigen, „daß die logische Methode Hegels, d. h. das absolute System der Totalität (der Sinnbestimmungen) unabhängig von dem metaphysisch-spekulativen System des Absoluten ist“, wodurch die dem Reflexionssystem „innewohnende Problematik […] übernommen werden“21 kann, ohne Hegels Metaphysik zu verfallen. In dieser Art des Rückgriffs auf Hegel trifft sich Günther exakt mit Freyers Theorie des objektiven Geistes, der schon 1923 eine Anknüpfung an den deutschen Idealismus in methodischer Hinsicht fordert, während „[j]ede direkte Wiederbelebung des ‚deutschen Idealismus‘ en bloc, ob sentimental oder enthusiastisch, […] Quacksalberei [ist]. Die unerhörte Spannung, mit der in diesem System die Motive zusammengezwungen waren, ist unwiederbringlich aufgelöst […]“22.
Um das Problem der Rationalität in seiner elementaren Struktur zu untersuchen, geht Günther von einem sehr engen und formalen Begriff von Rationalität aus. Auch hier läßt sich hinsichtlich der Problematisierung eine Verwandtschaft mit Weber feststellen, wobei aber die Problemfassung deutlich unterschiedlich ist. Rationalität im formalen Sinn heißt bei Weber das Maß der Rechenhaftigkeit, das heißt das Maß, in dem Probleme „sich in zahlenmäßigen, ‚rechenhaften‘ Überlegungen ausdrücken“23 lassen. Rationalität ist also für Weber ein empirisches und graduelles Phänomen, das allerdings im Bereich der Wirtschaft ein empirisches „Maximum“24, die Geldrechnung, kennt, weil sich Geld vollständig in Zahlen ausdrücken läßt.25 Günther hingegen fragt nach den formallogischen Grundlagen dieser empirischen Rechenhaftigkeit. Er will „bei der Frage […] beginnen, innerhalb welcher Grenzen die traditionelle Logik und die ihr zu Grunde liegenden klassischen Axiome überhaupt Rationalität erzeugen können“26. Unter der „traditionellen Logik“ versteht Günther die von Aristoteles ausgehende Logik mit den drei Axiomen des Satzes der Identität, des Satzes vom Widerspruch und des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten. Günther sieht, daß der durch 19
Günther, Grundzüge, S. 220. bescheinigt Günther auch Gehlens Theorie der Willensfreiheit. Vgl. Günther, Idee und Grundriß, S. 398, Anm. 41 und unten Kap. V.4. 21 Günther, Grundzüge, S. 219. 22 Freyer, Theorie des objektiven Geistes, S. 13, zit. nach Günther, Grundzüge, S. 6, Anm. 1. 23 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 44. 24 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 44. 25 Dies ist der Ausgangspunkt der für Freyers Weber-Interpretation wichtigen Studie von Siegfried Landshut, Kritik der Soziologie. 26 Günther, Grundzüge, S. XVIII. 20 Dasselbe
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diese Axiome „definierte Bereich an Rationalität überraschend eng ist“; die traditionelle Logik ist „eine reine Sachlogik, d. h. sie definiert nur Seinsverhältnisse“27. Der auf der klassischen Logik beruhenden Rationalität sind damit nur irreflexive, objektive Seinsverhältnisse zugänglich. Rationales Begreifen vermag sich auf ihren Grundlagen nicht auf reflexive Sinnverhältnisse zu beziehen. Das kann aber nach Günther nicht heißen, „alles darüber hinausliegende Geistesleben seiner Struktur nach für irrational zu halten“28. Die Geisteswissenschaften (wie etwa Sprachwissenschaft, Rechtswissenschaft, historische Nationalökonomie, Kunstgeschichte, Mythologie, Theologie) betreiben schon seit längerem empirische Forschung über objektive Sinnverhältnisse, jedoch ohne daß über die solchen Sinnverhältnissen zugrundeliegende Logik Genaueres bekannt wäre. Auch hier trifft sich Günther wieder mit Überlegungen aus Freyers Theorie des objektiven Geistes, in der Freyer die Forderung nach einer neuen Logik, das heißt einer Logik des objektiven Sinns erhoben hatte. Freyer nimmt in seiner Theorie des objektiven Geistes eine phänomenologische Analyse der Formen des objektiven Sinns vor. Er fragt sich dabei ausdrücklich nicht, „wie die Kategorien des objektiven Geistes […] apriori fundiert sind“, sondern „[d]aß es die Sphäre von Gegenständen, von der sie handelt, überhaupt gibt, setzt sie voraus“29. Zugleich fordert Freyer aber hinsichtlich der „formallogische[n] Seite des Problems […] eine Logik des Typus und der Individualität […]. Aufgabe einer solchen Logik wäre die Theorie derjenigen Begriffe auszuarbeiten, die nicht Klassenbegriffe sind: die also die unübersehbare Mannigfaltigkeit der wirklichen Fälle nicht durch Abstraktion einer endlichen Anzahl gemeinsamer Merkmale überwinden; sondern die individuelle und typische Strukturen zu ihrem Inhalt haben: die also das Konkret-Wirkliche auf die immanente Notwendigkeit seines Gefüges zurückführen und zum Begriff gelangen, ohne den Umweg über die Generalisation zu nehmen.“30
Diese Forderung sei noch einmal zu Max Weber ins Verhältnis gesetzt. Weber definiert Soziologie bekanntlich als „Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will“31. Dabei bezieht sich das deutende Verstehen des Soziologen auf den von den Handelnden gemeinten Sinn. Verstehen setzt nach Weber die Fähigkeit zur 27
Günther, Grundzüge, S. XVIII. Günther, Grundzüge, S. XVIII. 29 Freyer, Theorie des objektiven Geistes, S. 133. 30 Freyer, Theorie des objektiven Geistes, S. 135 f. Sofern das Institutionelle nach Gehlen „denselben Sachverhalt“ bezeichnet, den Hegel „mit dem Begriff des ‚objektiven Geistes‘“ (Gehlen, Urmensch, S. 6) meinte, befindet sich Günthers Ansatz auch in gewisser Nähe zur Institutionentheorie. 31 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 1. Vgl. zu Webers Wissenschaftslehre Landshut, Kritik der Soziologie, S. 9 – 117, Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, Tenbruck, Das Werk Max Webers, Wagner/Zipprian, Max Webers Wissenschaftslehre, Kaesler, Einführung, S. 222 – 251, Šuber, Die soziologische Kritik, S. 275 – 339 und Schluchter, Grundlegungen, S. 197 – 272. 28
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Identifikation von Wertideen voraus. Letzteres ist nach Weber nur möglich, wenn „wir Kulturmenschen sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewußt zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen“32. Das Verstehen ist deshalb zugleich für die Wissenschaft ein Grenzbegriff. Das Handeln selbst wird als objektiv (nach „Ablauf“ und „Wirkungen“) gegeben vorausgesetzt. Zugleich grenzt Weber seinen Sinnbegriff als den empirisch zu erforschenden subjektiv gemeinten Sinn ausdrücklich von der Geltungsfrage des Sinns ab, und zwar gegen die beiden Möglichkeiten der objektiven Richtigkeit oder der metaphysischen Wahrheit.33 Dies macht Webers Soziologie zur „Wirklichkeitswissenschaft“34. Die letztere Unterscheidung zwischen einem objektiv richtigen und einem metaphysisch wahren Sinn entspricht einer Unterscheidung Hegels: nach Günther kann es in der klassischen Logik „keine ‚Wahrheit‘, sondern nur ‚Richtigkeit‘ geben. Dementsprechend sind die Urteile, die im Herrschaftsbereich der formalen Logik gefällt werden, keine ‚wahren‘ Urteile. […] Hegel [schreibt] den Urteilen der traditionellen Logik nur ‚Richtigkeit‘ zu[]“35.
Von dieser abstrakten objektiven Richtigkeit verstandesmäßiger Vorstellungen ist die absolute Wahrheit des metaphysischen Absoluten als eigentliches Thema von Hegels Wissenschaft der Logik zu unterscheiden.36 Günther lehnt, wie Weber, beide Wahrheitsbegriffe gleichermaßen ab. Er benutzt diese Unterscheidung als Folie, um seine eigene Fragestellung zu placieren. Für seine Analyse von Hegels Logik muß er einerseits dessen „dialektisch-absoluten Standpunkt einklammern und beiseite schieben“37, um andererseits nach einer zweiten Form des Denkens des Denkens fragen zu können, die neben die erste Form des Denkens des Seins (objektive Richtigkeit, klassische Logik) tritt. Webers Versuch der methodischen Verbindung des deutenden Verstehens des subjektiv gemeinten Sinns mit dem Anspruch auf objektiv-ursächliche Erklärung als Form soziologischen Wissens ist legitim, solange es um Teilaspekte des sozialen Geschehens geht, das heißt, wie Weber selbst feststellt, wenn sich die untersuchten „Objekte“ einer Auswahl aus der „schlechthin unendliche[n] Mannigfaltigkeit von nach- und nebeneinander auftauchenden und vergehenden Vorgängen, ‚in‘ uns und ‚außer‘ uns“38, verdanken. Webers Ablehnung der Geltungsfrage zugunsten empirischer soziologischer Forschung ist aber, so unsere These, hinsichtlich Webers eigener Fragestellung nach den kontingenten Entstehungsbedingungen abendländischer Rationalität als solcher, „welche doch – wie wenigstens wir 32
Weber, Die „Objektivität“, S. 180. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 1. 34 Weber, Die „Objektivität“, S. 170. 35 Günther, Grundzüge, S. 48. 36 Dieses ist angeblich „die Darstellung Gottes […], wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und des endlichen Geistes ist.“ (Hegel, Logik I, S. 44). 37 Günther, Grundzüge, S. 105. 38 Weber, Die „Objektivität“, S. 171. 33 Vgl.
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uns gern vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen“39, grundsätzlich verfehlt.40 In dieser Problemformulierung bildet die „universelle Gültigkeit“ bestimmter „Kulturerscheinungen“41, das heißt bestimmter Formen objektiven Sinns, geradezu die Voraussetzung und den Anlaß der Frage. Von hier aus gesehen kann Webers verstehende Methode mit Günther als ein ausweichendes Verschieben der Frage nach der universellen Gültigkeit des Sinns in die Objektivität von Seinsverhältnissen (ursächliches Erklären von Ablauf und Wirkungen) verstanden werden.42 In Webers selbstbezüglicher Frage nach der abendländischen Genese einer Rationalität von womöglich universeller Gültigkeit treffen sich also auf unbestimmte Weise die Dimensionen der objektiv-empirischen Richtigkeit43 und der metaphysischen Wahrheit44. Webers soziologische Methode wie auch sein empirischer Sinnbegriff bleiben gegenüber seiner eigenen Fragestellung hilflos.45 Auf diese Verlegenheit reagiert Webers Begriff des Charismas, der die Einheit moderner Rationalität zu erfassen sucht, indem er dualistisch einen Punkt außerhalb dieser Rationalität suggeriert.46 Im Begriff des charismatischen Führers liegt daher eine neben dem Kulturvergleich zweite, ebenso unzureichende Form der Konturierung der okzidentalen Rationalität. Es sollte bis hierhin deutlich geworden sein, daß sich Günther das Problem der Grundlegung einer Logik der Sinnverhältnisse ausgehend von einem wissenschaftlichen Methodenproblem stellt, das er selbst zu seiner Zeit im Rahmen der Frage nach einer Logik der Geisteswissenschaften verortete, das aber wie gezeigt auch auf grundlagentheoretische Fragen der Soziologie verweist. Er befindet sich in seiner von ihm selbst nicht geübten, sondern hier als Möglichkeit rekonstruierten Kritik an Weber in der Nachbarschaft zur phänomenologischen Soziologie von Schütz,47 verfährt aber selbst nicht phänomenologisch, sondern versucht das Problem der Objektivität des Sinns reflexionslogisch zu explizieren.48 39
Weber, Vorbemerkung, S. 1. Ich folge hier Landshut, Kritik der Soziologie u. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft. 41 Weber, Vorbemerkung, S. 1. 42 Günther unterscheidet seinsthematische „interobjektive Allgemeingültigkeit“ und sinnthematische „intersubjektive Allgemeinheit“. Zur Erläuterung dieser Unterscheidung siehe ausführlich unten. 43 Angezeigt durch die Worte: „wie wenigstens wir uns gern vorstellen“. 44 Angezeigt durch den Anspruch „universeller Bedeutung und Gültigkeit“. 45 Vgl. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft u. unten Kap. VII.3. 46 Charismatische Herrschaft bildet den Gegenbegriff zur formalen Rationalität. Vgl. Mommsen, Max Weber, S. 379 ff., Mommsen, Begriff der „plebiszitären Führerdemokratie“, Mommsen, Die antinomische Struktur, Mommsen, Rationalisierung und Mythos, Seyfarth, Alltag und Charisma, S. 165 ff., Rehberg, Rationales Handeln, S. 222 u. Rehberg, Rationalisierungsschicksal. 47 Vgl. zum Verhältnis von Weber und Schütz Rehberg, Person und Institution, S. 373 f. 48 Die phänomenologische Methode wird von demselben Vorwurf getroffen, der auch an Weber zu richten ist: auch wenn sie, im Unterschied zu Weber, von der „ursprünglich 40
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Die Frage nach der Objektivität des Sinns ist nach Günther gleichbedeutend mit der Frage nach der „intersubjektiven Allgemeinheit“, das heißt nach der Verbindlichkeit der Rationalität für sozial und geschichtlich unterschiedliche Subjekte. Davon wird die „interobjektive Allgemeingültigkeit“ – das heißt die Geltung von Begriffen für sachlich unterschiedliche Objekte – unterschieden, deren Form die klassische Logik ist. Die hier erneut zu konstatierende terminologische Nähe zur phänomenologischen Soziologie sollte nicht über den entscheidenden Unterschied hinwegtäuschen. Er liegt, wie bereits angedeutet und noch ausführlich gezeigt wird, darin, daß das Problem der „Intersubjektivität“ nicht aus der egologischen Perspektive der „Subjekte“, sondern umgekehrt das „Subjekt“ von der als Denken des Denkens begriffenen Ebene der „Intersubjektivität“ her begriffen wird. Nach dieser entsubjektivierenden Umkehrung der Betrachtungsweise, die ein zentrales methodisches Charakteristikum der Leipziger Schule ist, hat der gelegentlich weiterverwendete Terminus „Subjekt“ eigentlich nur noch didaktischen und keinen begrifflichen Wert mehr. Die klassische Logik vermag nur den Sinn von Begriffen, die für objektive Seinsverhältnisse gelten, verständlich zu machen: sie ist eine Logik von Seinsverhältnissen: „der letzte Sinn des durch die traditionelle Logik geregelten Denkens, und damit der Sinn dieser Logik selbst“ besteht, so Günther mit Hegel, in der „Bestimmung und Findung der gegenständlichen Verhältnisse“49. „Die traditionelle Logik erhält erst durch die Voraussetzung, daß es transzendente Gegenstände gibt, ihren Sinn.“50 Die traditionelle Logik als objektive Allgemeingültigkeit garantierende leere Form des Denkens beruht also auf der Trennung von Form und Inhalt. Der gegenständliche Inhalt, der in logische Form gebracht werden soll, muß als „Fremdes“, als „eine fertige Welt außerhalb des Denkens an und für sich vorhanden“51, das heißt als in diesem Sinn Transzendentes gegeben sein. Entsprechend trennt sich die objektive Allgemeingültigkeit, welche die Richtigkeit der Begriffe verbürgt, von der subjektiven Gewißheit, daß es Begriffe des subjektiven Denkens sind, welsubjektiven Gegebenheitsweise des Sinnes“ (Schneider, Grundlagen I, S. 235) und wie Günther und Gehlen von der Unmöglichkeit der „Fremddeutung des Handelns“ (ebd., S. 238) ausgeht, bleibt doch ihre grundsätzliche Erkenntnishaltung objektivistisch, wenn die „Lösung des Problems, wie intersubjektives Verstehen möglich ist, […] durch die Minderung der Ansprüche an das, was als richtiges Verstehen zählt“ (ebd., S. 243, zweite Hervorh. hinzugefügt), erreicht wird. Richtiges Verstehen ist aber seinsthematisch orientiert, weshalb eine im Bereich der Seinsthematik verbleibende Minderung der Ansprüche an Richtigkeit nicht zu einer adäquaten Methode führen kann. Typisierungen können also gar keine „Lösung dieses Problems“ (ebd., S. 245) bieten, sie umgehen es vielmehr, indem von dem involviertem Reflexionsproblem abgesehen wird. Die sich aus der Irreduzibilität der Perspektiven ergebende Frage, wie sich Selbstbeobachtung und Fremdbeobachtung zueinander verhalten, wird gar nicht beantwortet, sondern „neutralisiert“ (ebd., S. 249). Die konstitutionstheoretische Frage nach der Realität von Handlungen bleibt so aber unbeantwortbar. 49 Günther, Grundzüge, S. 44, zit. Hegel, Logik I, S. 24. 50 Günther, Grundzüge, S. 50 (i. O. gesperrt). 51 Hegel, Logik I, S. 36.
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chen die objektive Richtigkeit zukommt. Daraus ergibt sich das bereits erwähnte, auf dem Boden der klassischen Logik unlösbare Problem, den Status der subjektiven Gewißheit zu klären: denn im Rahmen der klassischen Logik ist „auch das Ich, das die subjektive Gewißheit der interobjektiven Allgemeingültigkeit hat, […] nur und ausschließlich Objekt (Ding) unter anderen Objekten“52. Hier setzt Kant an. Er depotenziert bereits die formale Logik, indem er ihr die von ihm entwickelte transzendentale Logik vorordnet. Die traditionelle Logik, so Kant, „abstrahiert […] von allem Inhalt der Verstandeserkenntnis, und der Verschiedenheit ihrer Gegenstände, und hat mit nichts als der bloßen Form des Denkens zu tun“53. Ihr Formbegriff beruht auf einer Abstraktion von jeglichem Inhalt, den sie deswegen als gegeben voraussetzen muß. Es ist Kants Entdeckung, daß die formale Logik Objektivität als solche immer schon voraussetzen muß, aber die Objektivität in ihrer genuinen Bestimmtheit gar nicht erfassen kann. Diese ursprüngliche Bestimmtheit zu erfassen und zu begründen, ist das Anliegen der transzendentalen Logik. In dieser wird „nicht von allem Inhalt der Erkenntnis abstrahiert[]“, sondern sie geht „auf den Ursprung unserer Erkenntnisse von Gegenständen […], so fern er nicht den Gegenständen zugeschrieben werden kann“54. Der Begriff der transzendentalen Einheit der Apperzeption drückt aus, daß objektive Bestimmtheit auf eine ursprüngliche Reflexivität zurückgeht. In dem berühmten: „Ich denke, muß alle meine Vorstellungen können […]“, tritt das „Ich“ nicht als empirisches Selbstbewußtsein auf, sondern als eine Reflexivität, deren Explikation nur möglich („muß […] können“) sein, nicht aber als faktisches Selbstbewußtsein vorausgesetzt werden muß. Indem die transzendentale Apperzeption den Gegensatz von Subjekt und Objekt in der basalen Reflexivität umgreift, vermag sie die Bestimmtheit von Objektivität überhaupt zu begründen, deren abstrakte Reflexionsbestimmungen von der traditionellen Logik axiomatisch erfaßt werden. Damit sprengt Kants transzendentale Logik bereits den Rahmen der traditionellen Logik. Gleichzeitig bleibt Kant der traditionellen Logik verpflichtet. Ihm wäre nie der Gedanke an eine andere als die klassische Logik gekommen, die für ihn, „ihrer Idee nach, ‚die‘ Rationalität, also das Denken überhaupt, definiere. Rationalität außerhalb dieser Logik war für diese Auffassung weiter nichts als eine Absurdität“55. Bei Kant liegt also eine Unklarheit oder Unentschiedenheit vor, die darin besteht, daß er „keine neue Theorie […] des Denkens, sondern gleich eine Theorie des Erkennens, d. h. des Verhältnisses des Bewußtseins zu seinem Gegenstand entwickelt […]. Kant tut also den zweiten Schritt vor dem ersten […]. Der spekulative Idealismus […] hat später versucht, die Unterlassungssünde Kants wieder gut zu machen und eine explizite Theorie des modernen Bewußtseins zu liefern.“56 52
Günther, Grundzüge, S. 46. Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. B 78. 54 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. B 80. 55 Günther, Grundzüge, S. 104. 56 Günther, Metaphysik, Logik, S. 56 f. 53
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Aus dieser Unklarheit über den Zusammenhang zwischen der Theorie des Denkens und der Theorie des Erkennens ergibt sich folgendes Problem. Wenn die Bestimmtheit der Objektivität in einer Reflexivität gründet (die einer transzendentalen Reflexion zugänglich ist), dann definiert die klassische Logik das bloßObjektive, das heißt das von dieser – Bestimmtheit ermöglichenden – Reflexivität Abgelöste, in diesem Sinne also „das Absolut-Objektive“, das aber „zugleich das Absolut-Bestimmungslose“ ist: „Unter dieser Voraussetzung aber wird völlig unverständlich, wie Allgemeingültigkeit selbst objektiv (d. h. nur objektiv) begründet werden soll.“57 Der Versuch einer erkenntnistheoretischen Grundlegung, das heißt der Versuch, seinsthematische Allgemeingültigkeit objektiv zu begründen, ohne sich die Frage nach der Möglichkeit des Denkens des Denkens zu stellen, führt zur Problematik des unbestimmten Dings-an-sich. Dies wurde bereits oben als das Dilemma dargestellt, in das ein erkenntnistheoretischer Standpunkt angesichts des Problems der Reflexion gerät.58 Einerseits ist der Gedanke des „Ichs“ in der Reflexion „leer und nichtig“59, ein unbekanntes X, andererseits bleibt er qua „Ich denke“ gleichwohl an einen Akt eines konkreten Subjekts gebunden. Der Zusammenhang dieser beiden unzureichenden Möglichkeiten läßt sich mit Kant nicht explizieren, sondern für Kant ist das Ich stets nur indirekt anhand objektiver Bestimmungen thematisierbar.60 Hier liegt Günthers „ursprüngliche[] Einsicht“61: versucht das Subjekt sich mittels der klassischen Logik selbst zu begreifen, macht es sich selbst zu einem seienden Ding; es denkt sich damit zwangsläufig als etwas, was es nicht ist. Die traditionelle Logik kann damit nicht die allgemeinste Form des Denkens sein. Damit wird aber auch das Problem der interobjektiven Allgemeingültigkeit zu einem Reflexionsproblem: die Destruktion der Verständlichkeit der objektiven Allgemeingültigkeit erzwingt die reflexionstheoretische bzw. sinnanalytische Methode: „Die Methode, die sich Hegel analog der transzendentalen Methode Kants schafft, ist sinnanalytisch.“62 Hegel untersucht den Sinn der klassischen Logik, um „dann zu prüfen, ob dieser so gewonnene Sinn der Sinn alles Denkbaren überhaupt oder nur ein Teilaspekt davon sei“63. Denn solange die traditionelle Logik qua unhinterfragter Selbstverständlichkeit seinsthematischer Rationalität Allgemeinheit verbürgen konnte, galten ja alle (allgemeingültigen) Aussagen über das Sein zugleich immer auch als allgemein für alle es denkenden Subjekte.64 Die durch die traditionelle Logik verbürgte All57
Günther, Grundzüge, S. 112. Siehe Kap. II.2. 59 Hiltscher, Gegenstandsbegriff und funktionale Reflexivität, S. 42. 60 Vgl. auch Günther, Grundzüge, S. 127. 61 Hiltscher, Wahrheit und Reflexion, S. 293. 62 Günther, Grundzüge, S. 105 f. 63 Günther, Grundzüge, S. 106 (i. O. gesperrt). 64 Vgl. Günther, Grundzüge, S. 111. 58
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gemeingültigkeit der auf seiende Objekte anwendbaren Begriffe (= „Interobjektivität“) fiel ineins mit der Gewißheit, die traditionelle Logik wäre auch die Form der Allgemeinheit für alle Subjekte („Intersubjektivität“). Der Zusammenhang von Interobjektivität und Intersubjektivität (Allgemeingültigkeit und Allgemeinheit) ist auf dem Boden der klassischen Logik schlechthin nicht explizierbar, ja noch nicht einmal als Problem formulierbar. Dieses Problem klar gesehen zu haben, ist nach Günther die Leistung Kants.65 Nun hat Kant aber die traditionelle Logik anerkannt. Dies geht nach Günther auf eine bestimmte Einschränkung zurück. Kant begründet zwar die Bestimmtheit der Objektivität und der Subjektivität in der ursprünglichen Reflexivität der transzendentalen Apperzeption (demonstriert in der transzendentalen Deduktion). Sie ist also der Unterscheidung von Subjekt und Objekt vorgelagert. Gleichwohl entspricht die Bestimmtheit dieser Reflexivität der klassischen Logik: „Die Grundthese der traditionellen Logik aber ist, daß alles Denken auf Objektives als Objektives geht. Das drückt Kant so aus, daß er lehrt, als Allgemeingültigkeit begründend ist die synthetische Einheit der transzendentalen Apperzeption objektiv. Der Gedanke, daß das Denken auch auf Objektives als Subjektives gehen könne, daß also das Denken sich selbst nicht als objektive Struktur, sondern als innere Allgemeinheit (als Sinn) denken könne, dieser Gedanke kann Kant garnicht kommen, denn Denken überhaupt heißt ja nach ihm Objektives als Objektives denken.“66
Deshalb kann Kant annehmen, daß auch das „Denken selbst […] durch die traditionelle formale Logik definiert [wird]“67. Mit Günthers Unterscheidung zwischen den – gleichermaßen kritischen! – Theorien des Erkennens und des Denkens wird nun erklärlich, warum Kant die klassische Logik zugleich überschreiten konnte und anerkennen mußte: soweit sich das Denken als Erkennen an seiende Objekte bindet, kann auch davon ausgegangen werden, daß die Bestimmtheit des Denkens selbst sich in seinsbezogenen Begriffen („Kategorien“) ausdrücken läßt. Zugleich hat Günther die über Kant hinausführende – historisch in den deutschen Idealismus hineinführende – Frage ausgesprochen: „wenn die transzendentale Einheit der synthetischen Apperzeption die Einheit des Subjektiven und des Objektiven ist, wie kann denn dann diese Einheit selbst begriffen werden, wenn alles Begreifen immer ‚objektiv‘ ist, denn diese Einheit ist als die Einheit des ‚Ich denke‘ doch ebenso subjektiv? Sie wird doch dann immer nur ‚einseitig‘ begriffen. Diese höchste Einheit, in welcher der Gegensatz zwischen ‚Subjekt‘ und ‚Objekt‘ aufgehoben ist, wird damit selber nur als Objekt begriffen. Mithin verfehlt das Denken, welches durch die traditionelle Logik definiert ist, hier unter allen Umständen sein Thema. Die Aporie, in die das Denken hier gerät, ist ungeheuer wichtig. Denn sie ist es gewesen, an der sich die Problematik der Hegelschen Logik (als reiner Logik) entzündet hat.“68
65 Vgl.
Günther, Grundzüge, S. 114. Günther, Grundzüge, S. 115 f. 67 Günther, Grundzüge, S. 115. 68 Günther, Grundzüge, S. 116. 66
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Kant gelingt es also, die Kluft „zwischen Subjekt und Objekt“ durch Begründung der interobjektiven Allgemeingültigkeit zu überbrücken; nicht aber kann er die Frage beantworten, „wie Allgemeinheit zwischen verschiedenen Subjekten möglich ist“69. Daß die Vernunft für alle gelten soll, ist mit Kant nicht einzu sehen. Hegel geht es nun nicht um eine Begründung der Möglichkeit des Erkennens, sondern um eine Bestimmung des Denkens als Denken. Das heißt, ihm geht es um die Bestimmung der Allgemeinheit des Subjektiven als reiner Selbstbezüglichkeit des Denkens. Hegel bearbeitet also ein Problem, das sich für Kant so noch nicht gestellt hatte: wenn man so will, das Problem der Intersubjektivität des Denkens. Kant konnte, so Günther, die Allgemeingültigkeit der Vernunft für die Subjekte nur postulieren, ohne sie aber in ihrer Notwendigkeit zu erweisen. Das Problem der Intersubjektivität des Denkens stellt sich erst in dem Moment, in dem die Geschichte zum Problem wird, das heißt eigentlich erst im 19. Jahrhundert: „War aber auf diese Weise das Selbstbewußtsein zum Träger des Allgemeinen geworden, so war nicht zu verstehen, warum notwendig das Allgemeine in der Vielheit der Subjekte mit sich identisch sein müsse, und die Frage bleibt offen: legt sich wirklich die Vernunft in allen Subjekten vermittels der gleichen Bestimmungen aus? Es war nicht dringend diese Frage zu beantworten, solange es sich nur um das Problem der Allgemeingültigkeit der Naturwissenschaften handelte. Da die Logik dieser Wissenschaften (wenigstens soweit Kant sie berücksichtigte) tatsächlich die traditionelle Logik war, so war die Allgemeingültigkeit interobjektiver Aussagen sozusagen durchs Experiment empirisch verifizierbar. So grotesk das auch klingen mag: Allgemeingültigkeit war empirisch ‚beweisbar‘. Diese bequeme Situation änderte sich aber sofort, als die Probleme der Geschichte in den Vordergrund der wissenschaftlichen Diskussion traten. Jetzt wurde die Frage: legt sich die Vernunft in allen historischen Erscheinungsformen wirklich vermittels desselben Systems von Bestimmungen aus? wirklich brennend. – Es ist vielleicht die größte streng wissenschaftliche Leistung Hegels, gesehen zu haben, daß diese Frage trotz ihrer wissenschaftlichen Lösbarkeit mit dem logischen Werkzeug seiner Zeit unbeantwortbar war.“70
Günther sieht nun bei Hegel Andeutungen zu einer zweiten Form des Denkens, die aber vereinzelt bleiben und von ihm nicht systematisch verfolgt werden. Es müßte also nun – folgt man Günther – eine Explikation der neben der klassischen Logik zweiten Form des Denkens erfolgen, welche das Denken selbst zu ihrem Inhalt hat.71 Durch diese selbstbezügliche Form würde zugleich die „Kluft zwi69
Günther, Grundzüge, S. 117. Günther, Grundzüge, S. 135. 71 Vgl. Günther, Grundzüge, S. 132 f., 146 f. u. 179. Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist Hegels Wesenslogik in der Wissenschaft der Logik. Dort wird das Denken des Denkens als selbstbezügliche Negativität expliziert. Hegel denkt in der Wesenslogik das Negative als Positives, das heißt nicht wie in der Seinslogik einfach gegen Seiendes bestimmt, sondern als ein sich selbst bestimmendes Ansich des Negativen. In dieser Idee einer zweiten Negation liegt der Ansatzpunkt für Günthers Suche nach einer zweiten Form des Denkens, die die Bestimmtheit (Positivität) des Denkens des Denkens ist. Dies kann nicht mehr subjekttheo70
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schen den isolierten Subjekten überbrückt“, indem die „einzelnen Bestimmungen der Vernunft“, das heißt Bestimmungen der Vernunft in den einzelnen Subjekten, „als unumgänglich notwendig aus dem Sinn des vernünftigen Bestimmens abgeleitet und als solche in ihrem notwendig-allgemeinen Zusammenhang dargestellt werden können“72. Das Problem der „Intersubjektivität“ löst sich mit dem Begriff des Subjekts in das Denken des Denkens auf. Die Rationalität der einzelnen Subjekte, ihre Vernünftigkeit, folgte dann nicht mehr aus einer nur an objektiven, zum Beispiel naturwissenschaftlichen, Bestimmungen abgelesenen bzw. behaupteten Vernunft, sondern die Vernunft würde aus dem reinen Selbstbezug des Denkens in ihrer Bestimmtheit begründet. Das „Verhältnis vom denkenden Ich zum gedachten Ich“73 wird auf diese Weise zu einem Verhältnis innerhalb des Denkens. Das Problem der Fehlthematisierung des Ichs im Versuch, dieses (objektiv) zu erkennen, erübrigt sich also ebenfalls. Deswegen wird Günthers Fassung des Intersubjektivitätsproblems auch nicht von Luhmanns hauptsächlich gegen Habermas gerichteten Vorwurf getroffen, daß „‚Intersubjektivität‘ überhaupt kein Begriff, sondern eine Verlegenheitsformel [ist], die angibt, daß man das Subjekt […] nicht mehr bestimmen kann“74. Wie gezeigt wurde, bildet die Unmöglichkeit der objektiven Bestimmung des Subjekts den Ausgangspunkt der Reflexionstheorie Günthers. Intersubjektivität, wenn man sie aus dem Allgemeinen des Denkens versteht, ist nicht mehr „Relation zwischen Objekten“75, sondern die subjektiven Selbstbewußtseine finden ihre Identität in der selbstreferentiellen Einheit des Denkens (nicht umgekehrt). Luhmanns an Husserl abgelesene Kritik der Bewußtseinsphilosophie geht, wenn man sie auf die Leipziger Schule bezieht, ins Leere, weil die „selbstreferentielle Geschlossenheit des Bewußtseins als Subjektheit“76 bereits verlassen wurde. Man kann zwar mit Luhmann sagen, daß Günther im Denken des Denkens „Relationen relationiert“; aber
retisch begriffen werden. Hegel schreibt: „Die Negativität ist die Negativität an sich; sie ist ihre Beziehung auf sich, so ist sie an sich Unmittelbarkeit; aber sie ist negative Beziehung auf sich, abstoßendes Negieren ihrer selbst, so ist die an sich seiende Unmittelbarkeit das Negative oder Bestimmte gegen sie. Aber diese Bestimmtheit ist selbst die absolute Negativität und dies Bestimmen, das unmittelbar als Bestimmen das Aufheben seiner selbst, Rückkehr in sich ist. […] Diese Beziehung des Negativen oder der Unselbständigkeit auf sich ist seine Unmittelbarkeit; sie ist ein Anderes als es selbst; sie ist seine Bestimmtheit gegen sich, oder sie ist die Negation gegen das Negative. Aber die Negation gegen das Negative ist die sich nur auf sich beziehende Negativität, das absolute Aufheben der Bestimmtheit selbst. Die Bestimmtheit also, welche der Schein im Wesen ist, ist unendliche Bestimmtheit; sie ist nur das mit sich zusammengehende Negative; sie ist so die Bestimmtheit, die als solche die Selbständigkeit und nicht bestimmt ist.“ (Hegel, Logik II, S. 22 f.). 72 Günther, Grundzüge, S. 125. 73 Günther, Grundzüge, S. 129. 74 Luhmann, Intersubjektivität oder Kommunikation, S. 162 75 Luhmann, Intersubjektivität oder Kommunikation, S. 165. 76 Luhmann, Intersubjektivität oder Kommunikation, S. 168.
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daß hierbei die „Realität“77 verloren gehe, trifft nur dann zu, wenn man Realität als objektiv-empirische Realität versteht.78 Das Denken des Denkens in einer zweiten, nicht seinsthematisch gebundenen Form des Denkens wäre zugleich der Ort, an dem neue, der traditionellen Logik entgegengesetzte logische Axiome deutlich werden müßten. Das Denken steht hier gewissermaßen vor der methodologischen Aufgabe einer „‚Erkenntnis‘theorie der Innerlichkeit.79 Letztere ist dasjenige, was wir schon öfters unter dem passenderen modernen Namen ‚Sinnanalyse‘ erwähnt haben“80. Um dem Ziel des formalen methodischen Zugangs zu dieser Innerlichkeit des Sinns näherzukommen, stellt Günther ausgehend von Hegels Untersuchung über die drei Stellungen des Gedankens zur Objektivität eine Überlegung über einen allgemeinsten, logisch unbestimmten Begriff von Etwas im Denken an.81 Das Denken kann dieses vorthematische Etwas im Denken auf zweierlei Weise „setzen“, das heißt thematisieren. Diese zwei Grundthemata des Denkens sind der „Denkgegenstand (die ‚Objektivität‘) als bloße ‚Aeußerlichkeit‘, ‚einfache Unmittelbarkeit‘ und ‚reines Sein‘ zu denken, oder aber Denken nimmt die ‚zweite Stellung‘ zur Objektivität ein, indem es seinen Denkgegenstand unter dem Thema ‚Innerlichkeit‘, ‚reiner Begriff‘ zu denken sich bemüht“82. Sinn überhaupt – das Thema der Hegelschen Logik – kann damit in bezug auf das unbestimmte Etwas überhaupt „entweder als Sinn des Seins oder als Sinn des Sinns gedeutet werden“83. Im Sinn des Sinns wird das unbestimmte Etwas des Denkens nicht als seiende Identität, sondern als „Nichtidentität“84 bestimmt. Günthers Interesse richtet sich auf die Formalisierung dieser Nichtidentität im Sinn: „Die aus dem Gesichtspunkt der Nichtidentität resultierende positive Bestimmungsgesetzlichkeit würde ein dem klassischen inverses Axiomensystem ergeben“85. Dieses negative Axiomensystem, so Günther, müsse bereits Hegel implizit voraussetzen, wenn die von ihm dargestellte absolute Vermittlung möglich sein soll. Um die Vermittlung möglich zu machen, muß sich das Denken nicht nur an der Identität des Seins reflektieren können, sondern auch an der Differenz inner77
Luhmann, Intersubjektivität oder Kommunikation, S. 164. Luhmann, Intersubjektivität oder Kommunikation, S. 163. 79 Dies wurde oben Kap. II.2. anhand des Terminus der bestimmten Unbestimmtheit dargelegt: in der Reflexion muß das Denken sich selbst in seiner bestimmten Unbestimmtheit, das heißt als quasi „gegenständliche“ Ansichbestimmtheit des Denkens denken können (vgl. Hiltscher, Wahrheit und Reflexion, S. 129 f.). Genau das meint Günther mit „‚Erkenntnis‘theorie der Innerlichkeit“. Das zugrundliegende Problem besteht darin zu verhindern, „daß Vernunft sich selbst als Erscheinung betrachtet“ (ebd., S. 130). 80 Günther, Grundzüge, S. 151. 81 Vgl. dazu auch Flach, Die dreifache Stellung. 82 Günther, Grundzüge, S. 190 f. 83 Günther, Grundzüge, S. 209. 84 Günther, Grundzüge, S. 190. 85 Günther, Grundzüge, S. 190. 78 Vgl.
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halb der Negativität.86 Erst durch die unterstellte inverse Axiomatik als einem Positiven im Negativen kann sich das von der seienden Objektivität reflektierte (bildlich gesprochen: zurückgeworfene) Denken in der Negativität bestimmen. Wie in der seinsthematischen Ausrichtung im Objekt wird es auch hier gebunden und reflektierbar. Diese Bindungs- bzw. Bestimmungsmöglichkeit präsentiert Günther als Möglichkeit einer zweiten Form einer formalen Logik. Die weitere Frage ist dann, wie beide Themata (Sein und Sinn) miteinander verbunden sind. Dies ist die Frage nach der Vermittlung in der „totalen Reflexion“, die beide Themata umfaßt. Isoliert man die beiden Themata voneinander, kommt ihnen jeweils axiomatischer Charakter für einen Wirklichkeitsbereich zu: als Reflexion in anderes und als Reflexion in sich; bezieht man die beiden Themata hingegen auf die totale Reflexion (die Reflexion in sich der Reflexion in sich und der Reflexion in anderes), werden sie als „unselbständige Momente im ‚System der Totalität‘ kenntlich. Damit aber verlieren sie notwendig ihren axiomatischen Charakter“87. Vermittelt werden können also eigentlich nicht die Themata als Axiomensysteme, denn diese verhalten sich als solche zueinander invers und schließen sich damit aus. Als Moment der totalen Reflexion jedoch sind sie „einander Ausschließende in der Einheit des Denkens. Und insofern sind sie einander nicht ausschließende […]“88. Die Hegelsche Lösung sieht Günther zufolge so aus, dass in der Vermittlung die beiden Themata zum einen als entgegengesetzte bzw. unmittelbare (1), zum anderen aber auch verbundene bzw. vermittelte (2) enthalten sein müssen; zum dritten muß die Vermittlung „die Einheit jener Themata als entgegengesetzter und vermittelter sein“89 (3). Schließlich, dies ist die letzte Anforderung an das absolute bzw. konkrete Denken, „muß das Denken […] die Einheit aller drei in der Einheit des Denkens gesetzten Verhältnisse sein“90 (4). Das heißt mit anderen Worten: Das erste Verhältnis entspricht der Situation des endlichen Verstandes, dem ein Objekt gegenübersteht. Das zweite Verhältnis entspricht der Reflexion auf den Sinn dieser gegenständlich orientierten Situation des Denkens. (Dieser Sinn ist der Sinn der klassischen Logik.) Das dritte Verhältnis entspricht der Reflexion auf die Reflexion des Sinns der gegenständlich orientierten Situation des Denkens. Hier eröffnet sich dem Denken die Frage nach dem Sinn als Sinn, wie er unabhängig von seiner Bindung als Sinn des Seins auftritt, das heißt, wie er als vom Sein unabhängiger („absoluter“) Gegenstand, als Gegenstand zweiter Ordnung oder Sinngegenstand, zu denken wäre. Schließlich vollzieht sich diese Reflexion auf das Denken als Denken selbst als Denken. Wenn die Vermittlung der drei genannten Verhältnisse sich aber als Denken vollzieht, dann kann die Einheit dieses dreifachen Verhältnisses in der Einheit des Denkens gesetzt (thematisiert) werden. Das heißt, im Denken schließlich sind die beiden Themata sowohl als getrennt als auch als verbunden 86 Vgl.
Günther, Grundzüge, S. 200 ff. Günther, Grundzüge, S. 199. 88 Günther, Grundzüge, S. 203. 89 Günther, Grundzüge, S. 204. 90 Günther, Grundzüge, S. 204. 87
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thematisiert. Das Thema des Sinns umfaßt also sich selbst sowie das Thema des Seins.91 Beziehungsweise noch einmal mit den oben gebrauchten Termini: das Thema des Sinns enthält sich selbst als Thema, es vermag also auf sich selbst zu reflektieren, weil die „intersubjektive Allgemeinheit“ im Unterschied zur „interobjektiven Allgemeingültigkeit“ durch Hegels methodologische Einführung einer zweiten Negation (Reflexion der Reflexion) in sich unterschieden ist.92 Es gibt also ein „Allgemeine[s] des Allgemeinen“93, nämlich in der Reflexion auf den Sinn der Allgemeinheit. Das Allgemeine wie das Allgemeine des Allgemeinen nun stellen nach Günthers Ansicht ein formallogisches Problem dar. Das Thema des Seins ist formalisiert in der klassischen Logik. Das Thema des Sinns wie auch die Vermittlung der beiden Themata im Sinn stellen nach Günther ebenfalls potentiell Probleme der formalen Logik dar. Die zweite Form des Denkens enthält sich selbst – das heißt seine Form – als Inhalt. Form und Inhalt sind also nicht mehr getrennt. Die absolute Vermittlung in der Einheit des Denkens kann also – wenn man die folgende Formulierung als genitivus subjectivus versteht – auch als „Formproblem der absoluten Vermittlung“94 aufgefaßt werden. Damit ist die Hegelsche Logik in der Interpretation Günthers „eine reine Sinnlogik“95. Günthers Punkt ist, daß die Thematik des Sinns „als Methode beide Thematiken als Inhalt umgreift […] So entsteht das komplizierte Gebilde einer Sinnanalyse des Sinns des Seins und des Sinns. Diese sinnanalytische Verbindung des Sinns des Seins mit dem Sinn des Sinns nennt Hegel einfach ‚Vermittlung‘.“96 Dies ist es, was sie als absolute Methode von Hegels Interpretation als metaphysisches Absolutes unterscheidet. Die Absolutheit der sinnanalytischen Methode besteht darin, daß sie aufgrund ihrer Selbstreflexivität prinzipiell nicht überboten werden kann, „weil sie schlechthin alle theoretisch möglichen Verhältnisse enthält, in denen die Momente des Denkens zueinander stehen können. Eine Situation des Denkens, die durch diese Logik nicht definiert werden könnte, kann es schlechthin nicht geben. Insofern ist diese Logik in einem rein formellen Sinne tatsächlich eine absolute Logik. Ihre Kategorien und Begriffe sind nicht mehr von einem Anderen, das außer ihnen liegt, abhängig. Sie finden ihren ‚Grund‘ allein in ihrer eigenen in sich geschlossenen Systematik und sind insofern tatsächlich ‚absolut‘. Diese Sinnlogik kennt deshalb auch keinen Gegenstand, von dem sie zu abstrahieren hat. Sie ist sich selbst ihr Gegenstand. In ihr muß der Inhalt ohne Rest in der Form aufgehen und umgekehrt die Form ohne jeden Rückstand als Inhalt begriffen werden können.“97 91 Vgl.
Günther, Grundzüge, S. 209 ff., bes. 212. Günther, Grundzüge, S. 213. 93 Günther, Grundzüge, S. 207. 94 Günther, Grundzüge, S. 214. 95 Günther, Grundzüge, S. 209. 96 Günther, Grundzüge, S. 212. 97 Günther, Grundzüge, S. 209. 92 Vgl.
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Dieses unüberbietbare und vollständig kohärente System von Sinnbestimmungen, zu dem sich die Hegelsche Methode der doppelten Reflexion rundet, ist absolut bestimmt. Diese absolute Selbstbestimmtheit läßt sich aber nur unter der entscheidenden Bedingung behaupten, daß man die „Totalität der Sinnbestimmungen“ auch wirklich methodisch als „Totalität der Sinnbestimmungen“98 auffaßt. „Hegel meint aber mehr […]. Logisches System und metaphysisches System sind ihm identisch.“99 Das heißt, Hegel selbst interpretiert seine Logik nicht nur als Methode der Sinnanalyse, sondern letztlich zugleich metaphysisch als Sein.100 „Wie kommt nun Hegel zur metaphysischen Auffassung seines logischen Systems. Im Hintergrund steht der Gedanke von der Doppeldeutigkeit der Objektivität als Sein und Sinn. Nun liegt ihm im vollendeten logischen absoluten System die Objektivität als Sinn, und zwar als ‚absoluter‘ Sinn vor. Und da gemäß der vorausgesetzten logischen Einsichten Sein in Sinn und Sinn in Sein umdeutbar ist, deutet er einfach das System des absoluten Sinns als System des absoluten Seins. Wir fragen nun: ist diese Umdeutung berechtigt? Die Antwort kann nur lauten: nein! Denn jede Deutung erfordert ein übergreifendes System von Sinnbestimmungen, in welchem sich die Deutung vollziehen kann. Ein solcher übergeordneter Standpunkt, der angibt, in welchem Sinne der Sinn hier als Sein gedeutet werden kann, ist nicht mehr vorhanden. Es ist völlig unmöglich anzugeben, ,in‘ welchem Sinn das absolute System der Sinnbestimmungen als absolutes Sein gedeutet werden soll.“101
Das heißt, die metaphysische Interpretation der Totalität des Sinns als Seins entbehrt der Bestimmtheit. Um dieser Bestimmtheit willen muß das Hegelsche System der Sinnbestimmungen Methode des Denkens, aber nicht zugleich Ausdruck eines metaphysischen Seins sein. Als sinnanalytische Methode aber hat es bleibenden Wert für eine allgemeine Bestimmungstheorie.102 98
Günther, Grundzüge, S. 216 (Hervorh. hinzugefügt). Günther, Grundzüge, S. 216. 100 Hegel schreibt: „So ist denn auch die Logik in der absoluten Idee zu dieser einfachen Einheit zurückgegangen, welche ihr Anfang ist; die reine Unmittelbarkeit des Seins, in dem zuerst alle Bestimmung als ausgelöscht oder durch die Abstraktion weggelassen erscheint, ist die durch die Vermittlung, nämlich die Aufhebung der Vermittlung zu ihrer entsprechenden Gleichheit mit sich gekommene Idee. Die Methode ist der reine Begriff, der sich nur zu sich selbst verhält; sie ist daher die einfache Beziehung auf sich, welche Sein ist. Aber es ist nun auch erfülltes Sein, der sich begreifende Begriff, das Sein als die konkrete, ebenso schlechthin intensive Totalität.“ (Hegel, Logik II, S. 504) Günthers Kritik richtet sich darauf, daß die „einfache Beziehung auf sich“ der Methode, die Hegel als „Sein“ auffaßt, daß diese Unmittelbarkeit „nur die Form der Unmittelbarkeit“ ist: „der Inhalt dieser absoluten Form aber ist Vermittlung und nicht Unmittelbarkeit. Damit aber hat die Unmittelbarkeit hier nicht mehr die Bedeutung des Seins, sie ist vielmehr der Index der absoluten ‚Methode‘ […]. Diese Methode ist ‚für uns‘ als Form unmittelbar, an sich aber ist sie die Vermittlung. Die Gleichsetzung, die Hegel zwischen absolutem Sinn und absolutem Sein vollziehen will, erweist sich also auch hier als logisch vollkommen undurchsichtig, gegen die eigenen methodischen Voraussetzungen verstoßend, und deshalb als wissenschaftlich nicht gerechtfertigt.“ (Günther, Grundzüge, S. 219). 101 Günther, Grundzüge, S. 217. 99
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Die Überlegungen seien abschließend noch einmal mit der Fragestellung Max Webers verglichen. Es wurde oben festgestellt, im Problem des Verstehens stoße die moderne Wissenschaft an ihre Grenze, weil die Voraussetzung für die Fähigkeit des Verstehens eine kulturelle Stellungnahme sei. Eine solche Stellungnahme vollzieht sich nach Weber als individuelle Wertentscheidung. Die Stellungnahme wird durch eine Vielheit verschiedener, miteinander unverträglicher Werte erzwungen. Über diesem „Polytheismus“ der „Wertordnungen“103 walte, so Weber, das „Schicksal“, und „der Einzelne hat sich zu entscheiden, welches für ihn der Gott und welches der Teufel ist“104. Auch die Entscheidung zur Wissenschaft ist eine solche Wertentscheidung, „[d]enn wissenschaftliche Wahrheit ist nur, was für alle gelten will, die Wahrheit wollen“105. Der Wert der Wissenschaft besteht nach Weber im Gewinn von Erkenntnissen über die Technik und die Beherrschbarkeit der Dinge und der Handlungen, über die Methoden des Denkens, über die Mittel zu bestimmten Zwecken, deren Folgen und Nebenfolgen sowie schließlich darüber, welchen Sinn und welche Konsequenzen bestimmte wertmäßige Grundhaltungen haben.106 Der vierte Punkt gehört zu den spezifischen Leistungen der Soziologie. Die Soziologie grenzt damit methodisch an die „Notwendigkeit […] sich zu entscheiden“107. Es ist weiterhin gesagt worden, daß Webers Ablehnung der Geltungsfrage des 102
102 Vgl. dazu auch oben Kap. II.2.b). So sieht dies auch Werner Flach, auf den sich die obigen Ausführungen zu Kant stützen. Anders als Günther bezieht Flach aber den methodischen Ertrag der Hegelschen Logik nicht auf die Entwicklung einer mehrwertigen formalen Logik, sondern zurück auf den kritischen Standpunkt Kants und Fichtes: „Dem Hegelschen Grundgedanken der dialektischen Methode kommt ein Wahrheitsgehalt zu, der ihm seine fortdauernde Aktualität sichert. […] Der Versuch, den Wahrheitsgehalt des Hegelschen Gedankens der Dialektik zu erschließen, hat aus der vereinfachenden Geistmetaphysik, die das Erscheinungsbild der Hegelschen Philosophie beherrscht, die komplexe sinnanalytische Logik, die den Kern der Hegelschen Philosophie ausmacht, herauszulösen. Die Frage ist: Wie soll das gelingen können […]? Dadurch, daß man zwei schlechterdings nicht zu übersehende Fakten zusammenhält: Hegels Kritik der traditionellen (formalen) Logik einerseits; das Fehlen eines eigenen, schlechthin neuartigen Prinzipiensystems der Hegelschen Logik andererseits. Bringt man diese beiden nicht wegzuleugnenden Fakten zusammen, so ergibt sich, daß auch die Hegelsche (absolute) Logik nicht umhin kann, die durch die Grundprinzipien der klassischen Logik bestimmte Formalität des Denkens festzuhalten. Diese Formalität ist in ebenso prägnanter wie präziser Weise im Begriff des Urteils fixiert. Also ist auch die absolute Logik Logik des Urteils, mag sie auch über die Logik des Urteils hinausstreben. Sie kann über die Logik des Urteils nur hinausstreben bzw. hinausgelangen, indem sie diese einschließt. Die Logik, die die Logik des Urteils überbietet und dennoch einschließt, ist die Logik des Denkens qua Prinzip […]“ (Flach, Hegels dialektische Methode, S. 55 f.). 103 Vgl. Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 603. Siehe zur Diskussion Krech/Wagner, Wissenschaft als Dämon, Tyrell, Wertkollision, Tyrell, „Kampf der Götter“, Schimank, Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, S. 55. 104 Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 604. 105 Weber, Die „Objektivität“, S. 184. 106 Vgl. Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 607 f. 107 Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 608.
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Sinns solange legitim sei, wie sich die soziologische Forschung auf Teilausschnitte der empirischen Wirklichkeit richtet, daß diese Ablehnung aber überdacht werden müsse, wenn sich die soziologische Frage auf Kulturerscheinungen von universeller Gültigkeit richtet. Dann nämlich rückt die von Weber in die existenzielle Verantwortung eines jeden Einzelnen gelegte Notwendigkeit, sich zu entscheiden, in den empirischen Fragebereich der Wissenschaft. Denn blickt man nicht nur auf die Entstehungsbedingungen des okzidentalen Rationalismus, sondern auf dessen Konsequenzen und das sich abzeichnende historisch Neue,108 dann sieht man, daß es die Universalität der Rechenhaftigkeit ist, die eine Stellungnahme erzwingt. Den „Glauben daran, daß man […] alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne“109, nennt Weber „Intellektualismus“, „Rationalisierung“ oder auch „Entzauberung“. Weber „persönlich bejah[t] […] den Intellektualismus“110. Wenn der Rationalismus oder Intellektualismus aber ein Glaube ist, den man bejahen oder ablehnen kann, dann ist die Rechenhaftigkeit selbst ein Wert (bzw. Unwert). Vor deren Konsequenzen dürfe man nicht „die Flucht ergreifen“ – auch hier wieder ist von der Rationalisierung in der dritten Person (als „Teufel“) die Rede –, sondern man müsse, fordert Weber, ihre Wirkungen „zu Ende überschauen“, um ihre „Macht“ und „Schranken“ zu sehen.111 Dies ist aber die Aufforderung zu einem konsequenten Durchdenken der „technische[n] Mittel und Berechnung“112. Mit der sich abzeichnenden Universalität der Rechenhaftigkeit (auch mythisierend als Gehäuse der Hörigkeit der Zukunft bezeichnet) wird der Polytheismus der Werte zu etwas Sekundärem. Die primäre Entscheidung ist keine Entscheidung zwischen vielen Möglichkeiten, sondern eine klare Alternative: entweder Bejahung der Intellektualisierung und Rationalisierung und deren für die Zukunft noch unabsehbaren Konsequenzen oder „das ‚Opfer des Intellekts‘ zu bringen“, um „in die weit und erbarmend geöffneten Arme der alten Kirchen zurück“113 zu kehren. Es handelt sich also nicht bloß um eine jeweils individuelle, sondern in erster Linie um eine geschichtliche Entscheidungssituation, in die die Jugend des Jahres 1917 gestellt war. Weber reagierte auf diese Herausforderung letztlich mit der Unterscheidung von Charisma und Rationalität. Auch hier gibt es nur eine Alternative und nicht viele Möglichkeiten: „Aber es gibt nur die Wahl. Führerdemokratie mit ‚Maschine‘ oder führerlose Demokratie […]“114. Gegen diese im Grunde genommen schlichten Alternativen von: Rationalisierung oder Kirche, Intellektualisierung oder Opfer des Intellekts, objektive Richtigkeit oder metaphysische Wahrheit, charismatischer Führer mit entseelter Gefolgschaft oder führerlose Demokratie setzt Günther auf 108 Vgl.
Freyer, Weltgeschichte, Luhmann, Wissenschaft, S. 702 f. Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 594 (erste Hervorh. hinzugefügt). 110 Vgl. Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 609. 111 Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 609. Vgl. Weber, Politik als Beruf, S. 558, wo in bezug auf politisches Handeln dasselbe Bild gebraucht wird. 112 Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 594. 113 Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 611 u. f. (Hervorh. hinzugefügt). 114 Weber, Politik als Beruf, S. 544. 109
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eine qualitative Erweiterung des Bereichs der Rationalität, der durch die Methode der Reflexion auf die Reflexion erreichbar und explizierbar ist. Für die reflexionstheoretische Erweiterung der Rationalität, zu der Günther in verschiedenen Anläufen ansetzt, steht unter anderem die Frage nach der logischen Relevanz des Du. Das Du ist nach Günther eine Form der Reflexion auf die Reflexion. Es repräsentiert eine Form des Denkens, die sowohl einem objektiven Blick als auch einem subjektiven Analogieschluß unzugänglich bleibt. Denn das Du ist wie das Ich kein Ding, es ist aber auch kein Ich. Deshalb betont Günther, „dass der Übergang von der Ich- zur Du-Subjektivität nicht durch Introspektion und Analyse des eigenen Subjektseins geleistet werden kann. […] Der Analogieschluss vom Ich auf die Du-Subjektivität (mit dem die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften immer geliebäugelt haben), muss versagen, weil das kategoriale System, durch das wir Reflexion im Ich interpretieren, eine ‚parallaktische‘ Verschiebung erleidet, wenn wir es auf Fremdreflexion anwenden. […] Unsere eigene Reflexion bricht sich nur einmal an der Außenwelt. Die des Du aber bricht sich zweimal. Einmal für sich selbst und ein zweites Mal für die Subjektivität des Denkens, das die Du-Reflexivität als ein objektives Phänomen beobachtet.“115
Das Du gehört keiner der beiden Seiten der radikalen Unterscheidung Webers zwischen einem geheimnisvoll begabten Charismatiker und einer Masse entseelter, verdinglichter und handlungsloser Individuen zu.116 Aber auch der Versuch von Alfred Schütz, der sich zur Ausarbeitung einer Theorie echten Fremdverstehens mit dem Problem des Du auseinandergesetzt hat, bleibt unzureichend, weil das Du bei Schütz in Analogie zum Ich gedacht wird.117 Deshalb urteilt Schelsky noch im Jahr 1970, daß „[e]ine Ich-Du-Theorie des sozialen Handelns […] mit zu den noch nicht erfüllten Aufgaben des theoretischen 115
Günther, Metaphysik der Institution, S. 17. definierte: „‚Charisma‘ soll eine als außeralltäglich […] geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie […] als ‚Führer‘ gewertet wird.“ (Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 140) Dies zeigt das Modell der „Führerdemokratie mit ‚Maschine‘“ (Weber, Politik als Beruf, S. 544), welches von Weber nicht nur auf einzelne Parteiorganisationen, sondern im „Typus der plebiszitären Führerdemokratie“ (Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 157) auf die gesamte staatliche Verwaltung bezogen wird. Damit bringt Weber die „‚Entseelung‘ der Gefolgschaft, ihre geistige Proletarisierung“ (Weber, Politik als Beruf, S. 544), die er für die Parteiapparate für notwendig hält, gewissermaßen gesamtgesellschaftlich in Anschlag. Weber hielt dies angesichts des von ihm diagnostizierten alles durchdringenden Legalitätglaubens offensichtlich für unausweichlich (vgl. Mommsen, Begriff der „plebiszitären Führerdemokratie“, S. 298). Die von Bürokratie und Rationalisierung ausgeschlossene Handlungsfreiheit konzentriert sich somit vollständig im charismatischen Führer. Die Masse hingegen bleibt selbst handlungslos und ist nurmehr formbares Material. Denn die Individuen verzichten in der Hingabe an den Führer auf eigenes Handeln. Die Masse – freilich aus lauter eigentlich autonom handelnden Individuen bestehend – will – so denkt Weber – „blind gehorchen, Maschine im amerikanischen Sinne sein“ (Weber, Politik als Beruf, S. 544). 117 Vgl. Schütz, Der sinnhafte Aufbau, S. 88 ff. 116 Weber
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Denkens in der Soziologie [gehört]; hier sind Max Weber und Alfred Schütz noch weiterzuführen“118. Auf Ansätze dazu wird in den nächsten Unterkapiteln einzugehen sein. 2. Das logische Problem des Du Um vom Reflexions- zum Handlungsproblem zu kommen, ist das logische Problem des Du zu erläutern. Dazu greifen wir auf Günthers Arbeit über „Metaphysik, Logik und die Theorie der Reflexion“119 zurück. Sie wurde bereits 1935 im direkten Anschluß an die Dissertation verfaßt120, aber erst 1957 veröffentlicht und 1976 erneut abgedruckt. Thema ist die Ausarbeitung der in der Dissertation als implizite in Hegels Wissenschaft der Logik nachgewiesenen negativen, jetzt „meontisch“ genannten Axiomatik. Die Darstellung der negativen Axiomatik schließt nahtlos an die oben dargestellten Überlegungen an, indem „die bisher selbstverständliche These der klassischen Logik: daß in der trinitarischen Axiomatik der totale Sinn der Rationalität überhaupt definiert sei“121, bestritten wird. Sie setzt dazu eine Überlegung fort, die bereits in der Dissertation angestellt wurde:122 um die Unterscheidung zweier logischer Themata als zweier verschiedener gegenständlicher Orientierungen des Denkens einzuführen, wird das Denken als Bestimmen von Objekten unterschieden von der Logik als den Regeln solchen Bestimmens.123 In logischer Hinsicht kann das Denken nun entweder seinsthematischen oder sinnthematischen Regeln folgen. Die klassische Logik, die den Gegenstand des Denkens als Identität, das heißt als ein dem Denken transzendentes Sein voraussetzt, erscheint dann als „Entscheidung“ dazu, „das Verhältnis zwischen dem Ich und dem Sein als unmittelbare Identität“124 zu setzen. Wenn dies aber zutrifft, dann kann diese Entscheidung auch anders ausfallen. Hier liegt das Problem des Willens, dem sich Günther über das bereits in seiner Dissertation in Aussicht gestellte System einer negativen logischen Axiomatik nähert. Während der seinsthematische Satz der Identität definiert, daß das Sein stets mit sich selbst identisch ist, besagt in Günthers meontischer Axiomatik der Satz vom reflektierten Gegensinn, daß Sinn immer als ein „Gegensatzverhältnis […] zweier unselbständiger Sinnkomponenten“ auftritt, „von denen jede die andere als totale Negation ihrer eigenen reflexiven Bestimmtheit enthält“125. Dies kann am Beispiel des Gegensatzes von wahr und unwahr oder von recht und 118
Schelsky, Theorie der Institution, S. 10. Günther, Metaphysik, Logik. 120 Dies geht aus einem Gespräch mit Günther hervor. Vgl. Günther, Phaidros. 121 Günther, Metaphysik, Logik, S. 36. 122 Vgl. Günther, Grundzüge, S. 187 ff. 123 Vgl. Günther, Metaphysik, Logik, S. 44 f. 124 Günther, Metaphysik, Logik, S. 46. 125 Günther, Metaphysik, Logik, S. 63 f. 119
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unrecht verdeutlicht werden, weil hier das theorietechnische Vorbild für Luhmanns Konstruktion der Funktionssystemcodes als geschlossener Gegensatzverhältnisse von jeweils negativen und positiven Werten liegt. Im geschlossenen Gegensatzverhältnis kann der Sinn der Wahrheit nur aus der Reflexion der Unwahrheit verstanden werden und umgekehrt. Die führt direkt zum zweiten Axiom. Während in der klassischen Logik etwas nur gedacht werden kann, wenn ihm nicht zugleich zwei widersprechende Bestimmungen zukommen (Satz vom verbotenen Widerspruch), wird die Bedingung der Denkbarkeit des Sinns im Satz der thematischen Inversion festgehalten:126 Sinn kann nur als ein Verhältnis thematischer Inversion gedacht werden, in dessen Rahmen Sinn und Gegensinn wechselseitig austauschbar sind. Hier geht es also um die Relation als solche, die einen bestimmten Widerspruch im Sinn abbildet. Der Satz der infiniten Reflexionsfolgen, der äquivalent zum Satz vom ausgeschlossenen Dritten aufgestellt wird, legt fest, daß in bezug auf das Verhältnis von Sinn und Gegensinn eine „übergeordnete Reflexionsebene vorhanden sein muß, auf der diese Inversionsbeziehung hergestellt wird und auf der sie definierbar ist“127. Ein thematisches Inversionsverhältnis von Position und Negation muß immer von einer weiteren Reflexion als Einheit behandelt werden können, es erzwingt also regelmäßig dritte Werte. Der Grund dieses Systems von Reflexionsbestimmungen liegt nach Günther im Denken. Der Satz vom introszendenten Ursprung bildet die Analogie zum Satz des Grundes bzw. zur klassischen Wahrheitsfrage: so wie der klassische Wahrheitsanspruch sich auf eine adäquate Abbildung des Seins bezieht, „muß jetzt als Wahrheitskriterium der Systematik der Reflexion gelten, daß sie das Selbstbewußtsein in sinngemäßer Wahrhaftigkeit widerspiegelt. Also geht es hier letzten Endes um die ‚Reflexionsidentität‘ von Reflexion und Selbstbewußtsein.“128
An dieser Stelle nun gelangt Günther zur „Deduktion des Du“129. Die Selbst reflexion des Denkens als Selbstbewußtsein oder Ich unterliegt wie jede Thematisierung von Sinnverhältnissen selbst dem Axiom der thematischen Inversion. Die thematische Inversion des Ichs aber ist das Du. Wir kommen hiermit zu der von Luhmann in Soziale Systeme aufgegriffenen Stelle, die bereits oben angesprochen wurde:130 Nach Günther stehen „Ich und Du in einem reellen metaphysischen Wechsel- oder Umtauschverhältnis nach Maßgabe der thematischen Inversion […]. Das heißt, das Du ‚ist‘ immer das Ich in thematischer Umkehrung. Also das Subjekt, das als Objekt, die totale Reflexion-in-sich, die als Sein gedacht wird.“131
126 Vgl.
Günther, Metaphysik, Logik, S. 64 f. Günther, Metaphysik, Logik, S. 65. 128 Günther, Metaphysik, Logik, S. 66. 129 Günther, Metaphysik, Logik, S. 67. 130 Vgl. oben Kap. III.3. 131 Günther, Metaphysik, Logik, S. 67. Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 177. 127
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In dieser thematischen Inversion von Ich und Du löst sich die Reflexion vom ontologisch verstandenen Sein, das heißt als einfache Selbstidentität: „[…] das Selbstbewußtsein [erfährt sich] endgültig als Selbst, weil es sich nicht mehr im Sein, und vermittelt durch das Sein, sondern in der reinen Reflexion selbst spiegelt und damit ein definitives Verhältnis zu sich selbst gewonnen hat. Das aber bedeutet, daß es sich seine eigene Existenzkategorie und sein Wirklichkeitsverständnis nicht mehr vom Sein zu leihen braucht, sondern dasselbe in sich selbst besitzt.“132
Das heißt, die Inversion des Ichs zum Du ist „keine bloß formale Denkoperation mehr“, sondern sie „führt das Denken in die Wirklichkeit, der es auf dem Wege der Reflexion […] anfänglich den Rücken gekehrt hatte, […] endgültig zurück“133. Daß diese Wirklichkeit von Ich und Du, zu der das totale System der Sinnbestimmungen hinführt, „nicht mehr das einfache Sein der klassischen Logik“134 ist, liefert die Begründung dafür, warum das Handeln einer Beobachtung von außen unzugänglich und ein Begriff des Handelns nur über den Weg der Reflexion zu erreichen ist. Das Du verweist auf eine Wirklichkeit, die nicht mehr die des theoretischen Seins ist. Es gehört zu den Phänomenen, die zwar „in das Denken gehoben werden können, die aber nie im Denken auflösbar sind“135. Das Du ist in diesem Sinne ein Restproblem des Denkens: es tritt im System der totalen Reflexion auf, kann aber nicht ins Denken aufgelöst werden, weil in der Form des Du das Denken selbst zur Wirklichkeit wird – jedoch zu einer Wirklichkeit, die nicht mehr die Wirklichkeit des klassischen bzw. theoretisch zu bestimmenden Seins ist. Kehrt man von der in der Reflexion gefundenen zweiten Thematik des Denkens wieder zu einem endlichen Standpunkt zurück, zweigt ein zweiter Erfahrungsbegriff ab: Erfahrung ist dann nicht mehr auf das Erkennen beschränkt, sondern wird auch im Handeln gemacht. Infolgedessen läßt sich die absolute Reflexion nicht nur für eine Erkenntnistheorie, sondern für eine Handlungslehre fruchtbar machen. Der Gegenstandsbezug einer von dieser Handlungslehre begründeten empirischen Wissenschaft wird nicht durch Theorie gesichert.136 Das Ziel ist dann die Grundlegung einer nicht auf „objektive Erkenntnis“ im theoretisch-gegenständlichen Sinn ausgerichtete Erfahrungswissenschaft, deren Bereich einer objektiven Erkenntnishaltung verschlossen bleiben muß, weil dieser allein auf der Grundlage von Entscheidungen bzw. Handlungen zugänglich wird. Und doch sind wissenschaftliche bzw. theoretische Aussagen über ihn möglich. Dieselbe These formuliert Gehlen, wenn er sagt, daß der Begriff der Erfahrung grundsätzlich verengt bzw. vereinseitigt wird, wenn man „Erfahrung als eine[] Art des Wissens“137 auffaßt und dieses ausschließlich unter dem „Begriff der Erkenntnis“138 versteht. 132
Günther, Metaphysik, Logik, S. 71. Günther, Metaphysik, Logik, S. 72 (Hervorh. hinzugefügt). 134 Günther, Metaphysik, Logik, S. 73. 135 Günther/Schelsky, Vorwort, S. 7. 136 Dies ist die formale Begründung der unten behandelten These Hans Freyers, daß in der Soziologie das Wollen die Erkenntnis fundiere (vgl. unten Kap. VII.3.). 137 Gehlen, Vom Wesen der Erfahrung, S. 4. 138 Gehlen, Vom Wesen der Erfahrung, S. 5. 133
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Der zweite wichtige Punkt ist, daß sich das Du nicht nur vom Sein, sondern eben auch vom Ich unterscheidet: „Im Du erscheint derselbe Rückzug von ‚mir‘, also vom Ich aus gesehen, als ein objektiver Vorgang, dirigiert von einer ‚selbst-Potenz‘, also als Wille oder Willensakt. Das Du ist ein ‚Objekt zweiter Ordnung‘, das die Fähigkeit besitzt, sich sowohl von mir (dem Ich) als auch von der Welt, den Objekten erster Ordnung, abzusetzen.“139
Das Du ist dem Ich unzugänglich, weil es keinen theoretisch erfaßbaren Status hat. Vielmehr ist es das Denken in der Form des Willens: „Das Du ist dem Ich ebenso Negation wie das Ding. Aber der logische Tenor der Negation ist verschieden. Das Ding kommt aus der Fremdheit her und nähert sich uns in der Reflexion. Das Du kommt aus uns und geht in die Fremdheit, ohne je zurückzukehren.“140
Aber das Du ist eben auch nicht nur Reflexion und deshalb nicht bloß ein objektiv-empirisch beobachtetes anderes Ich. Insofern „geht es in die Fremdheit“ bzw. in die Wirklichkeit. Luhmann beruft sich in Soziale Systeme bezüglich der Ausdifferenzierung der Sozialdimension des Sinns auf Günthers Begriff des Du.141 Seine Deutung „folgt weitgehend Gotthard Günther“142, jedoch meint er, daß Günther die beanspruchte „‚Deduktion des Du‘ nicht leisten kann“, weil aufgrund der Methode „der Reflexion auf Reflexion […] das Du ab extra“143 eingeführt werden müsse. Wie oben gezeigt wurde, führt Günther das Du nicht ab extra ein, sondern er zeigt – umgekehrt –, wie sich das Denken selbst zum Du entfremdet, das heißt selbst zur Wirklichkeit des Du – also Wille – wird. Dies geschieht, indem im Denken (das heißt durch das Denken selbst) und gewissermaßen am Denken eine neben dem Sein zweite Fremdheit aufgewiesen wird. Weiter schreibt Luhmann (im Zusammenhang des Themas der Differenzierung der Sinndimensionen): „In der begleitenden philosophischen Theorie wird diese Differenzierung von Sachdimension und Sozialdimension vorbereitet durch die neuzeitliche Reflexion auf die Unendlichkeit des Innenhorizontes am Spezialfall des je eigenen Bewußtseins. Diese Reflexion setzt zunächst Ich und Welt als zwei Unendlichkeiten kongruent (wenn auch mit inverser, über Negation vermittelter Formulierung); sie erfordert dann aber – das Ich muß sozusagen aus seiner inneren Verlorenheit zurückgeholt werden, und dies kann nicht durch die Sachwelt geschehen, die nur Entfremdung bewirkt – ein anderes Ich: ein Du. Das Ich gewinnt, so könnte ein semantisches Korrelat dieser gesellschaftsstrukturell ausgelösten Entwicklung formuliert werden, seine ichspezifische aktuale Unendlichkeit, seine transfinite Selbstheit nur in der Kontrastierung zu einem anderen Ich (Du) gleicher Art, das ihm jede ontologische Selbstfixierung verwehrt, dadurch daß es sie beobachtet.“144 139
Günther, Idee und Grundriß, S. 83. Günther, Idee und Grundriß, S. 107. 141 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 129. 142 Luhmann, Soziale Systeme, S. 129, Anm. 63. 143 Luhmann, Soziale Systeme, S. 129, Anm. 63. 144 Luhmann, Soziale Systeme, S. 129. 140
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Mit dem letzteren Satz beschneidet Luhmann Günthers Begriff des Du um die soeben aufgezeigte willenslogische Konsequenz. Das Du hat bei Günther nicht die Funktion, die aktuale Unendlichkeit zu ermöglichen – diese Unendlichkeit vermag die Reflexion autonom zu leisten. Was die Reflexion nicht erreicht, ist ihre Konkretisierung. Deshalb hat Günther Hegels Interpretation der absoluten Reflexion als Sein als willkürliche metaphysische Setzung zurückgewiesen.145 Die Unendlichkeit der Reflexion wird konkret nicht dadurch, daß es durch ein Du beobachtet wird – dies wäre das Bild einer empirischen Interaktion zweier Individuen –, sondern dadurch, daß das Ich das Handeln des Du als Fremdheit (analog zur Fremdheit des Seins) erfährt. Diese Fremdheit kommt dem (erkennenden) Ich immer schon zuvor. Daß es Luhmann so scheint, daß Günther das Du ‚ab extra‘ einführen würde, liegt daran, daß Luhmann über gar keinen genuinen Begriff des Du verfügt: schließlich werden Ego und alter Ego in der doppelten Kontingenz gerade nicht als Du, das heißt als Wille, sondern eben als Ego und alter Ego, das heißt reflexionstheoretisch als Kognition bestimmt. Mit anderen Worten: Luhmann schiebt das Du – als ‚alter Ego‘ – letztlich doch (entgegen seiner Behauptung) in die Ebene des klassischen Seins (Luhmann: der Sachwelt) – und verfehlt es somit thematisch. Dies liegt daran, daß bei Luhmann Handlung ausschließlich im Rahmen kommunikativer Zuschreibungen vorkommt. Der Zuschreibungsbegriff überdeckt das Reflexionsproblem, von dem ausgehend gezeigt werden kann, daß die Situation der doppelten Kontingenz neben der am Ego orientierten Lösung auch eine am Du orientierte Fassung zuläßt. An dieser Stelle eröffnet sich die Frage der Sozialität in Form von Institutionen. 3. Zur Lehre vom Willen Im folgenden wird versucht, den Begriff des Willens ausgehend vom Begriff der Reflexion zu entwickeln. Wir greifen dafür in erster Linie auf eine frühe Arbeit Schelskys zurück, die die Überlegungen der beiden vorangegangenen Kapitel direkt fortsetzt. Die große Schwierigkeit besteht darin, daß Schelsky seine Überlegungen anhand der Spätphilosophie Schellings entwickelt, die hier freilich nicht adäquat behandelt werden kann. Allerdings kann der Kerngedanke dennoch in seinen Grundzügen nachvollziehbar gemacht werden. Dies ist sogar unerläßlich, weil er die Begründung für eine Behauptung liefert, die in Gehlens Institutionentheorie scheinbar dogmatisch im Raum steht: „In dem völlig unproblematischen Erlebnis des Vollzuges einer Handlung ist jede Reflexion ausgehängt, man kann nicht gleichzeitig handeln und reflektieren, sondern nur sein Handeln anschauen.“146 Nach Friedrich Jonas nimmt Schelling die Marxsche Hegel-Kritik vorweg: „Schelling ist der erste, der den Versuch unternimmt, Hegel vom Kopf auf die Füße zu stellen […] Bei aller Kritik an dem alten Schelling ist nicht zu übersehen, daß Feuerbach 145 146
Vgl. oben Kap. V.1. Gehlen, Urmensch, S. 28.
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und Marx in diesem entscheidenden Punkt Schelling nur wiederholt haben. […] Hegel, bei dem es darum ging, das, was ist, im Denken zu erkennen, ist gescheitert, weil das, was ist, eben das ist, was vor dem Denken vorhanden ist, ‚so daß nicht vom Begriff zum Seyn, sondern vom Seyn, das dem Begriff zuvorkommt, zum Begriff fortgeschritten werden muß‘. Die berühmte spätere Formulierung von Marx im Vorwort zu seiner Kritik der politischen Ökonomie: ‚Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt‘, hat hier ihr theoretisches Vorbild.“147
Überdies sei im Denken des späten Schelling ein impliziter soziologischer Ansatz erkennbar, dessen Sinn in der „Umwandlung der Soziologie in eine Ethoswissenschaft“148 besteht. Dies läßt sich auf Gehlens Handlungs- und Institutionenlehre sowie auf Freyers Konzeption der Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft beziehen, deren Kern im Ethos bzw. genauer gesagt in den unterschiedlichen Willenshaltungen einer Gegenwart als deren Wirklichkeit liegt. Der Wille ist bei Freyer auf eine gewollte Zukunft gerichtet: in dieser Relation konstituiert sich der Wille als ein bestimmter. Auf diese Parallelen zu Freyer hat Schelsky selbst hingewiesen. Er kennzeichnet Schellings Spätphilosophie in kürzester Form als „Ansatz, zu einem Begriff der Geschichte von der Zukunft her zu kommen“149. Desweiteren stellt der Zusammenhang von Reflexion und Wille den Ausgangspunkt auf dem Weg zu Gehlens Handlungstheorie dar. Auch hier besteht das Neuartige darin, über den Begriff des Willens bzw. der Handlung eine Form des Zukunftsbezugs aufzuzeigen, der dem objektiven Erkennen unzugänglich ist: „wenn der Mensch wesentlich in die Zukunft handelt, die Zukunft aber gerade nicht erkennbar ist – wie sollte er anders handeln als aus Überzeugungen an einen möglichen Zustand, der nur dann möglich ist, wenn er im Grunde schon wirklich ist?“150
Schelsky knüpft an Günthers Kritik an der ontotheologischen Interpretation der absoluten Reflexion an. Wie oben dargestellt, zeigt Günther, daß der totalen Reflexion nur dann Bestimmtheit zukommt, wenn sie als Sinn, das heißt als Reflexion verstanden wird.151 Daß man der absoluten Reflexion mit Hegel zugleich die Unmittelbarkeit des Seins zuschreibt, ist nach Günther bestimmungslogisch nicht gerechtfertigt.152 Doch auch Schelling argumentiert ontotheologisch: wenn 147
Jonas, Geschichte der Soziologie, S. 167 f. Jonas, Geschichte der Soziologie, S. 167. 149 Schelsky, Thomas Hobbes, S. 92. Schelsky verweist an dieser Stelle auch auf Heidegger, Sein und Zeit. 150 Gehlen, Mensch, S. 365. 151 Vgl. oben Kap. V.1. 152 Schelsky faßt dieses Ergebnis wie folgt zusammen: „Der Wichtigkeit halber sei also noch einmal betont, daß der Mangel der Hegelschen Theorie darin gesehen wird, daß er auf keine Weise erklären kann, wie die Vernunftbestimmungen aus ihrem Vernunftsein in das der Wirklichkeit geraten, diese Erklärung liegt nicht in seinem Denkbereich; das ist der ‚garstige breite Graben‘, wie Schelling sagt [Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie, S. 154], über den die reine Vernunft nicht springen kann; die Wirklichkeit in ihrer 148
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er vom Sein spricht, meint er Gott, denn „Schellings Unterscheidung einer positiven von einer negativen Philosophie […] ist mit seiner Theorie vom ontologischen Gottesbeweis identisch“153. Schelsky macht darauf aufmerksam, daß der systematische Kern des Willensproblems jedoch nur erschlossen werden könne, wenn von Schellings metaphysischer Selbstinterpretation abgesehen bzw. diese dezidiert in Richtung der angezielten Handlungslehre umgeschrieben werde: es wird also zwar am „Gottesproblem“154 angesetzt, dieses jedoch als ein „Denkproblem“ aufgefaßt, aus dem sich „die reine Systematik des Denkens herausschälen“155 lassen werde. Dem Gottesbegriff wird eine Funktion innerhalb eines bestimmungstheoretischen Problems zugewiesen. Diese Vorgehensweise findet auch in der neueren Forschung über den ontologischen Gottesbeweis Bestätigung. Nach Wolfgang Röd gehört der Gott der neuzeitlichen Metaphysik von vornherein gar „nicht in den Bereich der Religion oder der Theologie“, sondern hat er vielmehr die „Funktion“, den „Grund der Übereinstimmung von Denk- und Seinsordnung“156 abzugeben. In ähnlicher Weise ist für Schelsky „Gott, als der bestimmte, der er sein soll, nichts als dieser Schlußgedanke, der den Denkweg der Bestimmungen noch einmal summierend umgreift […]“157. So wie also die Ergebnisse der Diskussion um das ontologische Argument funktional für eine Theorie des Erkennens fruchtbar gemacht werden können,158 wird dies von Schelsky und Günther im Hinblick auf das Handlungsproblem getan. Sie kann also funktional-bestimmungslogisch ausgewertet werden. Schelsky greift in Fortführung Günthers die Behauptung Hegels an, daß am Ende des Gangs der Logik die absolute Idee zu ihrem Anfang des unbestimmten, Existenz bleibt dem reinen Denken immer ein Wunder. Darum kann Hegel die Wirklichkeit oder das Geschehen auch nicht so denken, wie es uns die Erfahrung gibt, nämlich in der Verwirklichung der Idee voller Zufälle und Sprünge, d. h. voller Freiheit, sondern er muß in das geschichtliche Geschehen die Mechanik der Notwendigkeit hineindenken und die Faktizitäten der Existenz ignorieren. Sein Hauptfehler besteht also darin, nicht erkannt zu haben, daß er nur die Bestimmung der Freiheit gedacht, die Freiheit als solche aber nur behauptet hat. Indem er die Welt des notwendigen Wesens als das, was das Sein oder Gott ist, zugleich zur Existenz dieses Seins oder Gottes selbst erklärt, vollzieht er einerseits am Ende seiner Philosophie eine ungerechtfertigte Gleichsetzung von Denken und Sein, die innerhalb seines Denkens, nämlich der rein logischen Vernunftwissenschaft, jeder Stütze entbehrt, andererseits aber tut er auch diesen Schritt noch mit einer gewissen Notwendigkeit in seiner Fehlerhaftigkeit, da nur durch diesen von ihr selbst nicht zu rechtfertigenden Anspruch die Vernunftwissenschaft auf eine über sie hinausgehende Wissenschaft hindeutet und so eine sie transzendierende Philosophie der Existenz selbst fordert.“ (Schelsky, Schellings Philosophie, S. 66 f.). 153 Henrich, Gottesbeweis, S. 219. Der folgende Absatz lehnt sich z. T. an die Ausführungen von Höntsch/Werner, Reflexion und Wille, an. 154 Günther/Schelsky, Vorwort, S. 8. 155 Schelsky, Schellings Philosophie, S. 48. 156 Röd, Der Gott der reinen Vernunft, S. 9, 18 u. 17. 157 Schelsky, Schellings Philosophie, S. 55. 158 Dies ist das Unternehmen von Hiltscher, Der ontologische Gottesbeweis.
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unmittelbaren Seins zurückgeht, nun jedoch als sich selbst begreifender, erfüllter und konkreter Begriff.159 Diese Unmittelbarkeit des Seins der Idee sei aber, so Hegel, gerade kein Übergang aus der Idee ins Sein, sondern „vielmehr so zu fassen, daß die Idee sich selbst frei entläßt“160. Die Idee als absolute Vermittlung ist nach Hegel also nicht etwa nur ‚in den Dingen‘, sondern sie ist die räumliche und zeitliche Äußerlichkeit selbst, die jeglicher Dinglichkeit zugrunde liegt. Diese Entäußerung der Idee bezeichnet Hegel abschließend auch als „Entschluß der reinen Idee, sich als äußerliche Idee zu bestimmen“161. Günther zeigt, daß eben diese Bestimmung als logische nicht statthaben kann, sondern Hegels willkürliche Beigabe ist. Zu derselben Einschätzung kommt die erkenntnistheoretische Analyse. In der sinnanalytischen Lesart kann die absolute Idee im Hinblick auf den Standpunkt des endlichen Erkennens als absolutes Prädikat162 verstanden und so funktional in die transzendentale Erkenntnislehre „introduziert“ werden.163 Denn urteilstheoretisch gesehen läßt sich die absolute Reflexion so reformulieren, daß durch sie die „Subjektstermlehre in die Prädikatenlehre integriert“164 ist. Das heißt, der Sinn des anschauungsgegebenen Gegenstandes (repräsentiert im Subjektsterm des Urteils als dem Moment der bestimmten Unbestimmtheit in der Erkenntnisrelation) ist nun in der Reflexion vollkommen bestimmt (bestimmte Bestimmtheit in der absoluten Reflexion als Voraussetzung prädikativer Bestimmung). Bei Hegel selbst hingegen wird auch „die Prädikatenlehre in die Subjektstermlehre integriert“165. Das heißt, Hegel versteht die absolute Sinnbestimmtheit (bestimmte Bestimmtheit) zugleich als identisch166 mit der Anschauung vom Gegenstand (bestimmte Unbestimmtheit). Eben darin besteht „Hegels theologische[] Konzeption“, nach der „sich die absolute Idee als absolutes Subjekt selbst wieder zur Natur [entläßt]“167. Diesem angeblichen ‚freien Entschluß der reinen Idee‘ kommt aus dem System der Reflexionsbestimmungen aber keine Bestimmtheit mehr zu. Will man also Hegels Reflexionstheorie für eine funktionale Theorie des endlichen Erkennens nutzen, kann bzw. muß man von dessen Theologumena Abstand nehmen. Indem die absolute Reflexion 159 Vgl.
Hegel, Logik II, S. 572. Vgl. dazu auch Iber, Subjektivität, S. 203 ff. Hegel, Logik II, S. 573. Weiter heißt es: „Um dieser Freiheit willen ist die Form ihrer Bestimmtheit ebenso schlechthin frei, – die absolut für sich selbst ohne Subjektivität seiende Äußerlichkeit des Raums und der Zeit“ (ebd.). 161 Hegel, Logik II, S. 573. 162 Vgl. ähnlich auch Marx, Kritik, S. 224: „Hegel verselbständigt die Prädikate […]“ (zit. nach Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 96). 163 Vgl. Hiltscher, Wahrheit und Reflexion, S. 307 ff. 164 Hiltscher, Wahrheit und Reflexion, S. 295. 165 Hiltscher, Wahrheit und Reflexion, S. 295. 166 Es ist Hegels „Grundgedanke, es gebe eine ursprüngliche Vermittlung von Unmittelbarkeit und Vermittlung. Dieser Grundgedanke ist nur auf Basis einer ontotheologischen Interpretation des Ganzen überhaupt konsistent zu denken.“ (Hiltscher, Wahrheit und Reflexion, S. 271). 167 Hiltscher, Wahrheit und Reflexion, S. 295. 160
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auf den endlichen Standpunkt des Erkennens und damit auf die Notwendigkeit der Gegebenheit der Anschauung zurückbezogen wird, bleibt ihr Status als Sinn und damit ihre Bestimmtheit erhalten. Damit ist im Bereich der Erkenntnistheorie Günthers methodischer Forderung Genüge getan, daß die absolute Reflexion nur dann bestimmt sein kann, wenn sie Reflexion (also Negativität) bleibt. Es sollte im Vorstehenden angedeutet werden, wie Hegels absolute Reflexion auf methodische Weise fortgeführt werden kann. Denn analog dazu ist Schelskys handlungstheoretische Interpretation zu verstehen. Er legt sein Augenmerk aber nicht auf das System der absoluten Sinnbestimmtheit, sondern auf das von der eben angedeuteten erkenntnistheoretischen Reformulierung gerade ausgeschlossene Moment deren freier Verwirklichung. Die ontotheologische Abschlußbestimmung Hegels muß also noch einmal ernst genommen werden, um durch sie hindurch eine funktionale Reinterpretation des Begriffs der Positivität zu erschließen:168 „Nun schafft der Gott, der sich in die Wirklichkeit entläßt, diese offensichtlich durch einen freien Entschluß; die Existenz, die er selbst ist und die er den Bestimmungen des Seins jetzt als Wirklichkeit vermittelt, besteht also in der Freiheit gegenüber den Bestimmungen.“169
Bis hierhin entspricht dies genau dem Urteil Günthers: die sich zur Unmittelbarkeit des Seins entschließende reine Idee ist frei – von ihrer Bestimmtheit. In dieser Unbestimmtheit, die nach Günther unter formallogischen Gesichtspunkten unannehmbar ist, liegt zugleich bereits jener neue von Schelsky bzw. Schelling angesteuerte Bereich der geschichtlichen Wirklichkeit. Wenn man jetzt weiter „nach dem Geschichtlichen als solchem“ als nach „Existenz und Faktizität“ fragen will, kann dies „nur durch das Festhalten der Freiheit und der freien Entscheidung“170 geschehen. Andernfalls projiziert man, so Schelsky, die notwendigen Bestimmungen des reinen Denkens auf die geschichtliche Wirklichkeit des Willens. In der absoluten Reflexion wird also, so Schelsky mit Schelling, die Freiheit gedacht – weil sie aber gedacht wird, wird sie nur in ihrem Was, nicht jedoch in ihrem Daß thematisiert: es werden also „nur die Bestimmungen der Freiheit gedacht, die Freiheit als solche aber nur behauptet“171. 168 So schreibt etwa auch Christian Iber: „Vom Standpunkt der Spätphilosophie [Schellings, AH] führt die Logik [Hegels, AH] zugleich einen Existenzbeweis Gottes […]. Von dieser Warte erscheint die Entgegensetzung von Logik und Natur innerhalb des Systems Hegels und der Übergang von der Logik in die Naturphilosophie als defiziente Fassung des Übergangs von negativer zu positiver Philosophie. […] Und tatsächlich scheint mir an diesem Punkt Schellings Spätphilosophie wirklich eine Alternative zu der Hegels zu sein. Deshalb interpretiert Schelling den Übergang von der Logik zur Naturphilosophie als gescheiterten Versuch einer Schöpfungslehre […]“ (Iber, Subjektivität, S. 203), denn „Schöpfung ist als absolut freie Tat ein einmaliges Geschehen, das durch eine logische Philosophie nicht rekonstruiert werden kann“ (ebd., S. 205). 169 Schelsky, Schellings Philosophie, S. 63. 170 Schelsky, Schellings Philosophie, S. 65.
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Das Interesse der Leipziger Schule an Schelling ergibt sich daraus, daß dieser die in Frage stehende Unbestimmtheit als Wille auffaßt. So sagt er bereits in der Freiheitsschrift im Jahre 1809: „Es gibt in der letzten Instanz gar kein anderes Seyn als Wollen. Wollen ist Urseyn […]“172. Das Sein als Wille bezeichnet Schelling als „unvordenkliches Sein“, weil es dem Denken, sogar wenn es absolutes Denken ist, stets zuvorkommt.173 Es ist damit, vom Denken her gesehen, „jeder Bestimmung los und ledig“174. Schelsky fragt nun, wie sich dieser Wille erschließen lasse. Dazu geht er methodisch ebenfalls vom Denken des Denkens aus, betont dabei aber175 das Moment des Vollzugs dieses Denkens: „Wenn man nach dem Denken fragt, so muß man dabei denken wollen […]“176, das heißt, es setzt eine Spannung des Willens voraus, die Sphäre der einfachen Reflexion zu verlassen: 171
„[Z]war ist dem Denkinhalt oder den Bestimmungen nach die erste [d. h. die einfache, AH] Reflexion dieselbe wie die zweite [d. h. die doppelte, AH], es gibt keinen Unterschied des Wesens zwischen ihnen, wohl aber einen der Existenz. […] Dieses Festhalten der Reflexion auf sich selbst geschieht aber nur durch einen dauernden Willen, nicht in ein natürlicherweise gegenüberstehendes Denkobjekt zu fallen, d. h. sich nicht im Denken zu vergessen. Die Reflexion, die die Reflexion als Gegenstand festhält, ist der Existenz nach anders als diese: sie ist zugleich Wille.“177
Mit Günther kann man sagen, daß die Reflexion auf die Reflexion noch einen anderen Grund als ihre eigene sinnhafte Unbedingtheit hat: dies ist der dem 171
Schelsky, Schellings Philosophie, S. 66. Schelling, Wesen der menschlichen Freiheit, S. 350. Der Wille tritt hier nicht als bloß subjektive Willkür, Bedürfnis, Trieb oder ähnliches auf, sondern als Urgrund des Seins, also bereits im Bereich des Gegenständlichen: „Das Wort Gegenstand selbst, mit dem wir das Reelle in unserer Erkenntnis bezeichnen, sagt eigentlich nichts als Widerstand […]. Widerstand aber liegt eigentlich bloß im Wollen […]. Die Unterschiede, die wir zwischen den Dingen wahrnehmen, bestehen nicht darin […], daß einige absolut willenlos, andere dagegen mit Willen begabt sind. Der Unterschied besteht nur in der Art des Wollens.“ (Schelling, Philosophie der Offenbarung, S. 206 u. 207). 173 Das ist das eigentliche Thema der „positiven Philosophie“ im Unterschied zu aller bisherigen „negativen Philosophie“. 174 Schelsky, Schellings Philosophie, S. 68. 175 Mit Gehlen, Idealismus und Existentialphilosophie, S. 398 u. Gehlen, Der Idealismus und die Lehre vom menschlichen Handeln, S. 330 f. u. 332 f. 176 Schelsky, Schellings Philosophie, S. 70 (Hervorh. hinzugefügt). 177 Schelsky, Schellings Philosophie, S. 89 f. Schelskys Analysen werden von Gunnar Hindrichs, Das Absolute und das Subjekt, S. 139, bestätigt, wenn er schreibt: „Wenn auch das Denken in seinem Vollzug alle seine Bedingungen am Ende einzuholen sucht, so kann es doch eine Bedingung niemals einholen: das Faktum des Vollzugs selbst.“ Dies bedeutet eine „Verendlichung des Denkens“ (ebd., S. 140). „Stellte der Gedanke des Absoluten bei Hegel den unbedingten Vollzug des Denkens dar, so erweist der unbedingte Vollzug des Denkens sich bei Schelling nunmehr als die Selbsteinschränkung der Vernunft. Der unbedingte Vollzug des Denkens ist der Vollzug, der sein eigenes Jenseits denkt“ (ebd., S. 144). Das eigene Jenseits ist das Fremde im Eigenen: der Wille oder empirisch: das Du. 172
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Denken als solchem fremde Wille, mit Günther: das Du.178 Die doppelte Reflexion findet in sich den Willen nicht als Ich, sondern als Du, es findet sich in sich als Fremdes (was nicht mit der oben beschriebenen objektivistischen Fehlthematisierung des Ichs im Versuch der Selbstreflexion zu verwechseln ist). Daß also die Wirklichkeit des Willens methodisch nur erschlossen werden könne, wenn der Wille als solcher bejaht werde, dies stellt die methodische Kernbehauptung aller hier behandelten „Leipziger“ dar. Dies bedeutet, daß die Frage nach der Wirklichkeit eines Willens nur in dem Bewußtsein des Problems zu stellen ist, daß diese Wirklichkeit einer einfachen, objektiven Erkenntnishaltung nicht erreichbar ist, sondern daß man auf diese nur schließen kann, wenn man zuvor eine Reflexion auf die Reflexion vollständig durchgeführt hat.179 Der Wille, diesen Willen, der das bestimmende Prinzip der Reflexion auf die Reflexion ist, zum „Gegenstand“ zu machen, erschließt nun dem Denken „einen neuen Bereich“180 – eben den Bereich der Wirklichkeit des Willens und der Existenz. Dieser Bereich kann in jedem Fall nur der Bereich des eigenen Willens und der eigenen Existenz sein, denn die mehrfach angesprochene Fremdheit des Willens ist Fremdheit nur für die Reflexion. Der Wille ist als solcher von der Reflexion ausgeschlossen, bleibt aber methodisch zugleich immer an die Reflexion gebunden, weil ohne die Kenntnis ihrer Problematik sogleich der durch sie neu erschlossene „Gegenstands“bereich verschwindet: „Diese Philosophie des Willens oder der Existenz hat zu der Philosophie des Idealismus oder der logischen Vernunftwissenschaft eine durchaus feste Bindung, die nicht nur darin besteht, daß auch eine Willenslehre in Worte gefaßt werden und so auf irgendwelche Weise in Begriffe eingehen muß, sondern die in der Struktur des Willens selbst liegt. Der Wille ist für Schelling als reines Sein nur da, insofern er das Seinkönnende oder das Wesen vor sich hat, d. h. der Wille ist nur durch die reine Bestimmung oder das tranzendentallogische Denken als absoluter faßbar; indem er dieses als seine reine Negation vor sich hat, kann er nur durch dasselbe als reiner Wille existieren und erscheint so eindeutig im Denken.“181
Schelsky meint hiermit, daß unreflektierte Begriffe das Thema des Willens sowohl, was seine Formulierung als Problem als auch, folgt man Freyer, seine empirische Wirklichkeit als soziale Wirklichkeit angeht, unweigerlich verfehlen müssen. Dies wird auch von Gehlen unermüdlich betont. Die Bindung des Willens und Handelns an die Reflexion auf die Reflexion ist eine bleibende, allerdings allein in methodischer Hinsicht.182 178
Vgl. oben Kap. V.2.
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kann diese Frage deshalb überhaupt erst infolge der „Vollendung des deutschen Idealismus“ (Schulz, Vollendung des deutschen Idealismus) aufkommen. Die Frage nach der Wirklichkeit dieses Willens ergibt sich aus dem Zusammenhang der Frage nach der Bestimmtheit der absoluten Reflexion. Insofern setzt sie den Idealismus voraus. Indem sie nach der Wirklichkeit der Freiheit (der absoluten Reflexion) als der Wirklichkeit des Willens fragt, sprengt sie den Idealismus. 180 Schelsky, Schellings Philosophie, S. 91. 181 Schelsky, Schellings Philosophie, S. 92. 182 Dieser Grundsatz wird von Gehlen im Übergang von der Theorie der Willensfreiheit zur Anthropologie fallengelassen, was zu unauflösbaren Widersprüchen und letztlich zum
V. Reflexion und Wille
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Wie gelangt man nun zu diesem Willen? Die Antwort haben wir eigentlich bereits gegeben: denn schon indem wir die Frage nach dem Sein als Wollen überhaupt aufgeworfen haben, das heißt, indem „wir es haben wollen, haben wir es auch schon, denn man kann eben zu diesem unvordenklichen Sein nur durch den Willen gelangen, es liegt in seiner Existenz nur dem Wollen offen“183. Man gelangt zum Willen bzw. erschließt diesen als neuen wissenschaftlichen Themenbereich nur durch Selbstbejahung des Willens. Um nun dieses dem Denken stets zuvor kommende Sein des Willens gleichwohl denken, das heißt bestimmen zu können, muß eine Umkehr der Betrachtungsrichtung vollzogen werden: das Denken hat in sich selbst, das heißt nicht aufgrund einer Rückführung auf den Standpunkt der Erkenntnistheorie, sondern durch den reinen Selbstbezug der Reflexion, etwas ihm Vorgegebenes und damit Fremdes aufgefunden: das Außerhalb, das der Wille gegenüber dem Denken bedeutet, ist zwar deswegen nichts Objektives, aber gleichwohl „gewissermaßen wieder Erfahrung“184. Was das Denken jetzt, nach der Umkehrung der Betrachtungsrichtung, vor sich hat, ist nicht die Erfahrung im Erkennen von etwas (dem Was der Erfahrung), sondern die Erfahrung selbst als Wille bzw. Handlung: das Daß der Erfahrung. Nach der Umkehrung darf nicht mehr versucht werden, diese Erfahrung durch das Denken zu bestimmen, sondern es muß gefragt werden, wie der Wille zum Begriff kommt.185 Das heißt, das reine Sein des Willens muß wieder auf das Denken bezogen werden, aber nicht mehr in der Form der Erkenntnis, sondern so, daß die Wirklichkeit als Möglichkeit des Handelns erscheint. Diese Umkehrung der Richtung186 wird im folgenden nachvollzogen.
Scheitern Gehlens insbesondere am Problem der Reflexion im Zusammenhang mit seiner Institutionentheorie führen muß, wie dies die Rezeption immer wieder gezeigt hat. 183 Schelsky, Schellings Philosophie, S. 68 f. 184 Schelsky, Schellings Philosophie, S. 72. Vgl. Gehlen, Vom Wesen der Erfahrung. 185 Vgl. Schelsky, Schellings Philosophie, S. 74. Die folgenden Ausführungen lehnen sich z. T. an Höntsch/Werner, Reflexion und Wille, an. 186 Den Ausgangspunkt formuliert Schelling mit den Worten, daß „Gott“ nicht – wie seiner Meinung nach bei Kant im transzendentalen Ideal oder in Hegels absoluter Idee – „nur Ende bleiben müsse, das nie zum Anfang“ (Schelling, Philosophie der Offenbarung, S. 45) werden könne, sondern daß „das, was das Letzte der negativen Wissenschaft war […] nicht als bloße höchste Idee, sondern als das wirklich Existirende zu erweisen“ (ebd., S. 150) sei. Dieser Anfang der positiven Philosophie wird als Gottesbeweis entwickelt (vgl. dazu Henrich, Gottesbeweis, S. 219 – 237 u. Hindrichs, Das Absolute und das Subjekt, S. 139 – 151): „dieser Beweis selbst […] ist […] die ganze positive Philosophie, – diese ist nichts anderes als der fortgehende […] Erweis des wirklich existirenden Gottes“ (Schelling, Philosophie der Offenbarung, S. 131). Dies glaubt Schelling dadurch zu können, daß er „zwar nicht vom Begriff Gott ausgehen [kann], um Gottes Existenz zu beweisen, aber ich kann vom Begriff des bloß unzweifelhaft Existirenden ausgehen und umgekehrt die Gottheit des unzweifelhaft Existirenden beweisen. Ist nun die Gottheit das Was, das Wesen, die Potenz, so gehe ich hier nicht von der Potenz zum Seyn, sondern umgekehrt vom Seyn zum Wesen, das Seyn ist hier Prius, das Wesen posterius. Dieser Uebergang nun aber ist nicht möglich ohne Umkeh-
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Die absolute Reflexion ist, so wurde mit Günther und Schelsky gesagt, im Hinblick auf ihr Sein unbestimmt. Diesem Gedanken wird nun die Wendung gegeben, daß die Reflexion im Hinblick auf ihre Unbestimmtheit als Sein auch als „Gebiet der reinen Möglichkeit des Seins“187 betrachtet werden kann: als „ein mit Freiheit gesetztes Seyn“: die „Zukunft“188. Ohne ein stabilisierendes Moment ist diese reine Möglichkeit jedoch „als das sein Könnende nicht festzuhalten“, das heißt die Möglichkeit fällt immer sogleich zurück in das, was „nur immer gewesen sein kann“189, nämlich in das empirisch-objektive (= tote) Sein. Die Frage ist also, wie die reine Möglichkeit, das sein Könnende als solches festzuhalten ist. Das, was die zukünftige Möglichkeit davon abhält, sofort wieder in ihre Gewesenheit (das empirisch Objektive) zurückzufallen, ist der Wille: denn das Sein der reinen Möglichkeit ist nicht das gegebene Objektive, sondern eine „zweite Wirklichkeit“190. Diese aber ist das Sein als Wille.191 Dieser über das Denken hinausgegangene Wille, der also nicht durch das Denken bzw. die Vernunft gebunden ist, ist ein „reiner Wille, der keine Bestimmung hat“192 – das heißt, er „will also nichts, damit aber will er nicht und […] bleibt nicht Wille, sondern verschwindet in Nichts, genau wie die Potenz als solche verschwand, um in das empirische Sein zurückzufallen“193. Die beiden Momente des reinen Willens und der reinen Möglichkeit verweisen damit wechselseitig aufeinander: sie erhalten einander nur als gegensätzliche; zugleich aber sind sie im Verhältnis zueinander identisch bzw. Momente desselben: als einander Entgegengesetzte bedarf die Möglichkeit des Willens, um nicht sofort zu empirischem Sein zu werden, der Wille aber muß sich auf die Möglichkeit als seinen Gegensatz beziehen, um nicht ins Nichts zu fallen. Je für sich, sind sie dasselbe: das Sein des Willens ist nichts ohne die Möglichkeit; die Möglichkeit ist empirisches Sein ohne den Willen.194 Damit aber ist im Denken die Möglichkeit zu etwas völlig außerhalb rung, ohne die ganze Richtung […] zu ändern und […] eine neue Wissenschaft anzufangen, welche eben die positive Philosophie ist“ (ebd., S. 159). 187 Schelsky, Schellings Philosophie, S. 75 (Hervorh. hinzugefügt). 188 Schelling, Philosophie der Offenbarung, S. 203 u. 204. 189 Schelsky, Schellings Philosophie, S. 76. 190 Schelsky, Schellings Philosophie, S. 101. 191 Vgl. Schelsky, Schellings Philosophie, S. 75. 192 Schelsky, Schellings Philosophie, S. 77. 193 Schelsky, Schellings Philosophie, S. 77. 194 Schelsky faßt dies folgendermaßen zusammen: „jedes ist, wenn das andere als solches festgehalten wird, ihm gegenüber ein Nichts: dem Wesen als Bestimmung gegenüber ist das rein Seiende nichts, und dem Willen als dem rein Seienden gegenüber ist das Wesen das Nicht-seiende. […] Wiederum schließen sie sich aber nicht nur nicht aus, sondern erhalten sich als verschiedene jedes nur am andern. Der Wille, insofern er reiner Wille ist, kann sich selbst nicht als solchen wollen, da in seinem reinen Sein keine Bestimmung ist, als welche er sich wollen könnte; er muß erst auf die Potenz als das andere stoßen, um sich auf sich als reinen Willen zurückzubeziehen. Existieren kann aber nur, was irgendeine Beziehung zu sich hat. Ebenso gewinnt die Potenz erst dadurch, daß ein Wollen ihr vorausgeht, auf das hin sie als Möglichkeit erst sein kann, ihr Sein als Sein-Könnendes, denn auf das empirische
V. Reflexion und Wille
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des Denkens liegenden aufgewiesen: denn dieses eben geschilderte Verhältnis von Identität und Differenz ist nun als solches ein in sich negatives.195 Um einen positiven Begriff des Seins zu gewinnen, ist der Bezug der Möglichkeit und des Willens „dem empirischen Sein gegenüber […] als ‚Potenzen eines künftigen, möglichen Sein‘“196 zu enthüllen: „Damit haben wir die positive Bestimmung dieses ganzen transzendentalen Seins auch schon erreicht: es ist das, was dem empirischen Sein gegenüber eine eigene, unabhängige Position hat, ‚das zu sein und nicht zu sein erst wirklich Freie‘ (Schelling 13: 235)197, das sich damit aus einem transzendentalen, d. h. relativen Sein zu dem absolut transzendenten Sein bestimmt.“198
Der dem Denken jenseitige („transzendente“) Wille hat sich auf dem Umweg über das Denken des Denkens als reine Tätigkeit bestimmt. Er hat so zur „Konstitution […] reiner Selbstmacht“199 gefunden: der Wille ist frei, zu sein oder nicht zu sein, das heißt, er ist frei, zu handeln oder zu reflektieren. Der dem Denken stets zuvorkommende und in diesem Sinne blinde200 Wille hat sich, indem er sich von sich aus auf das Denken bezieht, als Verwirklichungsmöglichkeit konstituiert. Das Denken hat nach dieser Umkehrung der Richtung nicht mehr den Sinn des Seins, sondern „den Sinn von dynamischer Machtentfaltung“201 Es ist damit, weil es auf die Verwirklichung zukünftiger Möglichkeiten des Willens umgewendet ist, schöpferisch. Der im Denken erscheinende Wille ist „Potenz eins zukünftigen Seins“: die Wirklichkeit ist da als „Plan“202. In diesem Sinn zielt Schelsky auf die GrundleSein hin konnte sie nicht Möglichkeit bleiben, sondern ging in dies über.“ (Schelsky, Schellings Philosophie, S. 78 f.). 195 Denn „die Einheit oder Identität ist es sowohl als Nichtausschließlichkeit wie als gegensätzlicher Existenzgrund nur durch die Bestimmung, jeweils die reine Negation seiner selbst zu sein; damit ist nur ein negativer Begriff von diesem ganzen transzendentalen Sein gewonnen“ (Schelsky, Schellings Philosophie, S. 79). 196 Schelsky, Schellings Philosophie, S. 79. 197 = Schelling, Philosophie der Offenbarung, S. 235. 198 Schelsky, Schellings Philosophie, S. 79. 199 Schulz, Vollendung des deutschen Idealismus, S. 191. 200 Vgl. Schelsky, Schellings Philosophie, S. 75 u. ö. Vgl. auch Hindrichs, Das Absolute und das Subjekt, S. 143. Im Unterschied zu Luhmanns Theorie vom blinden Fleck der Beobachtung, der auch in der Beobachtung zweiter Ordnung noch erhalten bleibt, kann durch die Erweiterung des Kontingenzbegriffs im Hinblick auf den Willen die Blindheit selbst (und nicht nur die Blindheit der Beobachtung) zum Thema gemacht, das heißt als Wille positiv gesetzt werden. Dies geschieht, indem der blinde, das heißt unbestimmte Wille sich auf das Denken bezieht und sich damit als Macht festzuhalten vermag. Somit geht es um eine, wenn man dies mit Luhmann so sagen kann: Formierung des blinden Flecks selbst. 201 Schulz, Vollendung des deutschen Idealismus, S. 190. Vgl. Schelling, Philosophie der Offenbarung, S. 296 f. Vgl. zur Schellingschen Potenzenlehre Schelsky, Schellings Philosophie, S. 81 ff., Schulz, Vollendung des deutschen Idealismus, S. 190 ff., Schulz, Philosophie in der veränderten Welt, S. 380 ff. 202 Schelsky, Schellings Philosophie, S. 84.
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gung einer „transzendentale[n] Erfahrungswissenschaft“, die die „Formen herausstellen [muß], in denen ein der Wirklichkeit gegenüber potenzieller, d. h. möglicher Wille auf die Bestimmungen der Welt als Potenzen, d. h. Möglichkeit geht, um sie zu seinem Gegenstand zu machen, d. h. zum Objekt eines möglichen Handelns in Wirklichkeit“; es geht ihm also um eine „transzendentale Handlungslehre“203. Weil die Handlungslehre zugleich „Möglichkeitslehre“204 ist, muß die Wirklichkeit unter dem Gesichtspunkt ihrer Kontingenz erfaßt werden. Kontingenz wird hier aber nicht, wie es unseres Erachtens bei Luhmann der Fall ist, kognitivistisch definiert. Luhmann versteht unter Kontingenz „etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist“, jedoch „nicht das Mögliche überhaupt, sondern das, was von der Realität aus gesehen anders möglich ist“; Kontingenz setzt also „Gegebenes“, „Gegenstände“ bzw. „die gegebene Welt“205 jeweils voraus.206 Die entscheidende Einschränkung, daß der Kontingenzbegriff nicht das Mögliche überhaupt, sondern die gegenständliche oder reale Bestimmtheit der Möglichkeit erfassen soll, erweist diesen – mit Günther gesagt – als seinsthematisch orientiert. Dies kann man mit Schelsky auch so ausdrücken, daß es Luhmann um „das Was des Seinkönnens“, jedoch nicht um „das Seinkönnen selbst“207 geht. Das Was des Seinkönnens erfaßt jeweils nur die Seinsbestimmtheit der Möglichkeit. Das Sein der Möglichkeit selbst ist aber eine ganz andere Art des Seins der Gegebenheit von Objekten. Hier geht es vielmehr um das „Geschehen der Wirklichkeit […], soweit es vom Willen abhängig ist“208. Luhmann bevorzugt demgegenüber die Ausrichtung des Kontingenzbegriffs auf „die gegebene Welt“209. Aber in dieser gegebenen Welt der „Erfahrung der Außenwelt durch die Sinne […] kommt das reine Sein oder der reine Wille 203 Schelsky, Schellings Philosophie, S. 97. Zum Bezug auf Planung vgl. ebd., S. 84, deren Sinn in der Mitteilbarkeit existenzieller Erfahrung, das heißt von Handlungserfahrung besteht (vgl. ebd., S. 96 ff.). Schelsky betont dies an mehreren Stellen. Ausgangspunkt dieser Fragestellung ist wieder das Problem, daß in der „Erfahrung der Außenwelt durch die Sinne […] das reine Sein oder der reine Wille nicht vor[kommt]“ (Schelsky, Schellings Philosophie, S. 96). „Die Schwierigkeit der Mitteilung der gewonnenen bloßen Existenzerkenntnisse trat ein, da man die Umkehrung, die diese Erkenntnisse im Denken erfahren, nicht systematisch, d. h. wissenschaftlich, in dies Denken hineinzunehmen vermochte.“ (ebd., S. 94). 204 Schelsky, Schellings Philosophie, S. 98. 205 Luhmann, Soziale Systeme, S. 152. 206 Die vollständige Definition lautet: „Der Begriff wird gewonnen durch Ausschließung von Notwendigkeit und Unmöglichkeit. Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen. Er setzt die gegebene Welt voraus, bezeichnet also nicht das Mögliche überhaupt, sondern das, was von der Realität aus gesehen anders möglich ist.“ (Luhmann, Soziale Systeme, S. 152). 207 Schelsky, Schellings Philosophie, S. 98. 208 Schelsky, Schellings Philosophie, S. 98. 209 Luhmann, Soziale Systeme, S. 152.
V. Reflexion und Wille
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nicht vor“210. Das heißt, bei Luhmann findet eine kognitivistische Verkürzung des Kontingenzbegriffs statt: er beschneidet diesen um seine handlungstheoretische Dimension. Er schließt damit systematisch die Dimension aus, um die es der Leipziger Schule geht. Dieser Kontingenzbegriff schlägt sich schließlich folgenschwer im Theorem der doppelten Kontingenz nieder, das die soziale Realität des Du nicht einbeziehen kann. 4. Handeln als rationale Wahl und als freie Entscheidung Wir setzen die Betrachtung des Verhältnisses von Reflexion und Wille fort, nun aber zunehmend mit Blick auf den Begriff der Handlung. Dazu gehen wir von Arnold Gehlens Theorie der Willensfreiheit aus. Deren Thema ist die Unterscheidung von Verwerfung und Bejahung im Hinblick auf das Verhältnis von Reflexion und Handlung. Sie strukturiert zugleich das Verhältnis zweier Handlungsbegriffe, den des Handelns als rationaler Wahl und des Handelns als Entscheidung. Es ist diese Unterscheidung, die später von Günther als Unterscheidung von Akzeption und Rejektion in logischer Hinsicht fruchtbar zu machen versucht wird. Ausgehend von Günthers Ansätzen zu einer mehrwertigen Logik, die auf eben dieser Unterscheidung basieren,211 fand sie Eingang in Luhmanns Theorie funktionaler Differenzierung. Es sind zwei Begriffsverwendungen zu unterscheiden. Luhmann verwendet die Unterscheidung von Akzeption und Rejektion mit Bezug auf funktionale Differenzierung, um zu zeigen, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung nicht mit den Mitteln der klassischen zweiwertigen Logik beschrieben werden können.212 Diese Begriffsverwendung erfolgt im Anschluß an Günthers Logik, Luhmann sieht lediglich von Günthers Interpretation des Reflexionsbegriffs als letzter Realität ab und setzt an diese Stelle die Unterscheidung von System und Umwelt. Die andere Begriffsverwendung ist die willens- bzw. handlungstheoretische im Anschluß an Gehlen. Diese ist oben bereits mehr oder weniger deutlich in die Rekonstruktion von Luhmanns Begriff der doppelten Kontingenz mit eingeflossen. Luhmann problematisiert zwar, so sagten wir, das „Sich-Einlassen“ auf Kommunikation, das heißt, ihre Akzeption, verfügt aber dazu über keinen Gegenbegriff und führt daher in dieser Frage eine Unbestimmtheit mit, deren Folgen anhand der Grenzprobleme, insbesondere am Begriff der Katastrophe diskutiert wurden. Im folgenden wird Gehlens Theorie der Verwerfung und Bejahung erörtert, die nicht nur eine theoretische Verbindung zu Luhmann liefert, sondern auch zu Gehlens späterer Anthropologie. Denn die Unterscheidung von Verwerfung und Bejahung betrifft das Verhältnis von Reflexion und Handlung. Die von Gehlen in der 210
Schelsky, Schellings Philosophie, S. 96. Vgl. z. B. Günther, Cybernetic Ontology u. Günther, Das metaphysische Problem. 212 Siehe dazu ausführlicher unten Kap. X.1. u. XI. 211
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Theorie der Willensfreiheit geübte Methode der Reflexion auf die Reflexion leistet damit etwas, was in der späteren Anthropologie unmöglich wird. Sobald Gehlen die Methode der Reflexion auf die Reflexion fallenläßt, kann er das Verhältnis von Reflexion und Handlung bzw. von Reflexion und Institution nicht mehr angemessen berücksichtigen: „Institution und Subjektivität, Institution und Reflexivität schließen sich hier aus und lassen keine Vermittlung zu, so daß reflektierende Subjektivität unweigerlich an Institutionenverfall gekoppelt ist.“213 Die Unterscheidung von Verwerfung und Bejahung leistet eine solche Vermittlung auf operativem Wege. Es trifft zwar auf Gehlens Anthropologie, nicht aber auf seine Theorie der Willensfreiheit zu, daß es „ein für Gehlen undenkbarer theoretischer Ausgangspunkt“ wäre, daß man den „Begriff der Reflexivität vom Begriff der Subjektivität entkoppelt“214. Gehlens methodischer Ausgangspunkt ist vielmehr ganz derselbe wie bei Günther: beide benutzen die doppelte Reflexion als Methode, um sich vom Begriff des Subjekts zu lösen.215 Horst Firsching hat zwar herausgestellt, daß Gehlens Theorie der Willensfreiheit, obwohl sie Hegel kaum zitiert, „ihre oft bis in den Aufbau und ins Detail gehende Anlehnung an die §§ 5 – 29 der Hegelschen Rechtsphilosophie kaum verleugnen kann“216. Allerdings trifft es nicht zu, daß hier „rein vom Subjekt und seinem Handelnkönnen ausgegangen wird“217. Bereits in der zwei Jahre älteren Arbeit über Wirklicher und unwirklicher Geist hat Gehlen die theoretische Absicht geäußert, „den Begriff des individuellen Bewußtseins fallen zu lassen […]“218. Vielmehr verläßt die Reflexion auf die Reflexion den Standpunkt des Subjekts, sodaß die subjektive Perspektive auf das Handlungsproblem, das heißt das Handeln als rationale Wahl, von Gehlen von Anfang an als Zusammenhang der einfachen Reflexion rekonstruiert werden kann. Dieser Reflexionszusammenhang des rationalen Wahlhandelns umfaßt die Momente des Triebs, des Motivs, der Mittel und der Erfüllung. Ein Trieb ist immer „Triebüberschuß“219, das heißt er geht in seiner aktuellen Erfüllung nicht auf und ist deshalb immer aktiv. Die Erfüllung ist dem Trieb äußerlich. Motive sind Vor213
Firsching, Moral, S. 251. Firsching, Moral, S. 255. Firsching bezieht die Erfassung dieser Entkopplungsleistung auf Luhmanns Begriff der reflexiven Mechanismen. Vgl. Luhmann, Reflexive Mechanismen. 215 Vgl. Gehlen, Willensfreiheit mit Günther, Grundzüge. 216 Firsching, Moral, S. 209. Vgl. dagegen Günther, Rez. Arnold Gehlen, S. 187. 217 Firsching, Moral, S. 209. 218 Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, S. 324 f. Vgl. auch ebd., S. 325, Anm. 111. Dies scheint Firsching zu übersehen, wenn er die Vergeblichkeit von Gehlens Ansatz damit begründet, daß dieser „die Bürde der Dialektik des Willens mit dem Ziel der Versöhnung von individueller Freiheit und allgemeiner Notwendigkeit allein dem einzelnen Menschen und seinem Willen“ (Firsching, Moral, S. 212) auferlege. Die von Gehlen (und schon von Hegel) angezielte Freiheit ist aber nicht subjektiv-individuell. 219 Gehlen, Willensfreiheit, S. 14. 214
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stellungen von solchen Triebzielen. Das ermöglicht die Rekonstruktion als Reflexionszusammenhang: „Motive sind in dieser Sphäre zunächst gegenwärtig oder vorgestellte Triebziele, und insofern der Trieb immer durch das erscheinende Motiv in Bewegung und Erregung gesetzt wird, ist das Verhältnis des Triebes zum Motiv ein organisch-mechanisches und die Triebhandlung reaktiv.“220
Das Handeln auf dieser Stufe ist Wahlhandeln im Dienst der Triebe. Die Wahlmöglichkeit ergibt sich aus der Reflexion auf die Mittel der Trieberfüllung und ist insofern, wie es im vorigen Zitat hieß, „reaktiv“. Dazu gehört, daß der Wille als Trieb (das heißt der Wille als vorgestellte Erfüllung) die Reflexion auf die Mittel benutzt, um den Weg zu seinem Gegenstand, seiner Erfüllung, kausal zu beeinflussen: „Wille tritt also überall zunächst als Wille im Dienste der Triebe auf, näher als überlegte Wahl der Mittel und willensmäßige Beeinflussung des Kausalverlaufs. Die Triebe selbst haben keine zentrifugale, sondern eine reflektierende Bewegung […]“221. Gehlen faßt diese Bewegung des durch die Vorstellung erregten Triebes, der Reflexion auf die Mittel und ihre Auswahl im Hinblick auf die Erfüllung und schließlich die Erfüllung selbst als Momente einer Reflexionsbewegung, in der der Trieb zu sich zurückkehrt. Die hierin involvierte Freiheit, die Wahlfreiheit, kann zweierlei wählen: verschiedene Erfüllungsobjekte oder verschiedene Wege und Mittel der Erfüllung. Diese Freiheit aber ist, so Gehlen, ein Zwang222: „In allen solchen Fällen ist die Wahl selbst durch die Situation und durch die unveränderliche physische Organisation erzwungen. Das heißt: ich bin eigentlich nur deshalb genötigt zu wählen, weil ich nicht gleichzeitig an verschiedenen Orten sein, nur einen Weg auf einmal gehen, nicht im selben Augenblick essen und schauen und überhaupt nicht 220
Gehlen, Willensfreiheit, S. 15. Gehlen, Willensfreiheit, S. 21. 222 Ähnlich bereits Hegel: „Da ich die Möglichkeit habe, mich hier oder dort zu bestimmen, das heißt, da ich wählen kann, so besitze ich Willkür, was man gewöhnlich Freiheit nennt. Die Wahl, die ich habe, liegt in der Allgemeinheit des Willens, daß ich dieses oder jenes zu dem Meinigen machen kann. Dies Meinige ist als besonderer Inhalt mir nicht angemessen, ist also getrennt von mir und nur in der Möglichkeit, das Meinige zu sein, so wie ich die Möglichkeit bin, mich mit ihm zusammenzuschließen. Die Wahl liegt daher in der Unbestimmtheit des Ich und in der Bestimmtheit eines Inhalts. Der Wille ist also um dieses Inhalts willen nicht frei, obgleich er die Seite der Unendlichkeit formell an sich hat; ihm entspricht keiner dieser Inhalte: in keinem hat er wahrhaft sich selbst. In der Willkür ist das enthalten, daß der Inhalt nicht durch die Natur meines Willens bestimmt ist, der meinige zu sein, sondern durch Zufälligkeit; ich bin also ebenso abhängig von diesem Inhalt, und dies ist der Widerspruch, der in der Willkür liegt. Der gewöhnliche Mensch glaubt, frei zu sein, wenn ihm willkürlich zu handeln erlaubt ist, aber gerade in der Willkür liegt, daß er nicht frei ist. Wenn ich das Vernünftige will, so handle ich nicht als partikulares Individuum, sondern nach den Begriffen der Sittlichkeit überhaupt: in einer sittlichen Handlung mache ich nicht mich selbst, sondern die Sache geltend.“ (Hegel, Philosophie des Rechts, S. 67 = § 15, Zusatz). 221
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in einer Handlung mehrere Triebe befriedigen kann; ich also zur Wahl aus rein äußeren Gründen meiner Konstitution und Physis und aus einer objektiven, äußeren ‚Lage der Dinge‘ heraus genötigt und nicht etwa durch eine wesentliche Unverträglichkeit meiner verschiedenen Triebziele selbst. […] Die triebbedingte Wahl ist also nicht eigentlich Entscheidung, sondern nur ‚Rückstellung‘. In Konflikt zweier Triebe verzichte ich keineswegs auf Erfüllung des einen, sondern stelle ihn nur zurück, ähnlich, wie ich mir bei der Wahl von Speisen vorbehalte, die anderen nachher noch zu essen.“223
Daneben gibt es nach Gehlen eine das Wahlhandeln stets begleitende Reflexion, die der Äußerlichkeit des Willensgegenstandes entspricht. Diese Reflexion stellt den auf einen Gegenstand gerichteten Willen jeweils zugleich in Frage: „‚soll ich oder soll ich nicht?‘“224 Dies ist nach Gehlen der Grund für die Hypostasierung eines abstrakten „‚Willensvermögens‘ neben seinen ‚Motiven‘“225. Dieser vermeintliche Wille ist bloß die vergegenständlichte Reflexion. Diese Hypostasierung hängt eng mit einem wertorientierten Handlungsverständnis zusammen und hat eine fatale Folge: „Nämlich die gedankliche Trennung des Willens von seiner gegenständlichen Bestimmtheit hat die verhängnisvolle Folge, daß damit Willensvermögen und Verstand, Intellekt, d. h. das Organ der Motive voneinander ebenfalls getrennt werden […]. Jetzt ist der Verstand das Organ, das Werte vorstellt, und der Wille das, das ‚sich entscheidet‘. Gegen dieses Schema, das ich hier als denknotwendig nachgewiesen habe, kann man natürlich viel einwenden, ohne aber dadurch diese Denknotwendigkeit aufzuheben.“226
Wir kommen gleich darauf zurück. Wie zu sehen war, unterscheidet Gehlen Entscheidungen von der auf den Willen als Trieb zu beziehenden Wahlfreiheit. Jede Entscheidung hat als ihre negative Seite die Zurückweisung der Wahlsituation zur Voraussetzung: „In jeder echten Entscheidung aber ist eine Verwerfung eines Triebes, Wollens, einer Vorstellung usw. enthalten […]“227. Denn man kann „die ganze Alternative von sich abstoßen, und der Mann, dem man freistellte, ob er lieber in Malvasier oder Burgunder ertränkt werden wolle, wird wahrscheinlich auf Wahl überhaupt verzichtet haben“228. Das heißt, man kann prinzipiell die Situation der rationalen Wahl als solche verwerfen, weil sie als ganze einen Reflexionszusammenhang darstellt. 223
Gehlen, Willensfreiheit, S. 26. Bei Hegel heißt es: „Das im Entschluß Gewählte (§ 14) kann der Wille ebenso wieder aufgeben (§ 5). Mit dieser Möglichkeit aber, ebenso über jeden andern Inhalt, den er an die Stelle setzt, und ins Unendliche fort hinauszugehen, kommt er nicht über die Endlichkeit hinaus, weil jeder solche Inhalt ein von der Form Verschiedenes, hiermit ein Endliches, und das Entgegengesetzte der Bestimmtheit, die Unbestimmtheit, Unentschlossenheit oder Abstraktion, nur das andere gleichfalls einseitige Moment ist.“ (Hegel, Philosophie des Rechts, S. 68 = § 16). 224 Gehlen, Willensfreiheit, S. 53. 225 Gehlen, Willensfreiheit, S. 53. 226 Gehlen, Willensfreiheit, S. 54. Vgl. auch ebd., S. 84 f. 227 Gehlen, Willensfreiheit, S. 31. 228 Gehlen, Willensfreiheit, S. 32.
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Dieses Verwerfen ist schon Handeln höherer Ordnung, es bleibt aber hier noch unbestimmt. Entsprechend bleibt der implizierte echte Freiheitsbegriff noch negativ: „Das […] ist die negative Freiheit zweiter Stufe, die Neinsagefreiheit oder Verwerfungsfreiheit […]. In solchen Fällen ist die totale Verwerfung der Wahl selbst gleichbedeutend mit Nichthandeln […]“229. Weil der Reflexionszusammenhang der rationalen Wahl ein Zwangszusammenhang ist, ist die Verwerfungsfreiheit „nun die andere Seite eines realen Zwanges“230. Das heißt im Umkehrschluß, der Verzicht auf die Möglichkeit des Verwerfens wäre „frei induzierte Unfreiheit: das Unterlassen des Verwerfens ist der Verzicht auf eigentliche Entscheidung, die im Verwerfen liegen würde“, bis hin „zur Resignation, d. h. zum freiwilligen Verzicht, Freiheit geltend zu machen“231. Doch auch dies ist ein Wollen, wie Gehlen sagt, auch die Resignation setzt ein Geschehen in Gang: den Verfall.232 Was ist nun die positive Seite der Verwerfungsfreiheit bzw. wie gelangt man zu ihr? Gehlen geht es darum, die abstrakte Trennung von Wille und Verstand zu überwinden.233 Sie ist denknotwendig nur für die auf Objekte gerichtete Reflexion; diese objektiv ausgerichtete Reflexion kann den Handelnden ausschließlich in diesem Zwangszusammenhang denken: „Für die Reflexion über ein objektives, vorgestelltes Ich gibt es also nur das Schema der reaktiven Wahlfreiheit.“234 Die Konstitutionsbedingungen für Entscheidungen sind so prinzipiell unzugänglich. Will man sie explizieren, darf nicht mehr abstrakt vorgegangen werden, sondern es muß – analog zu dem Verhältnis zwischen formaler (abstrakter) und transzendentaler Logik – nach der Bedingung der Möglichkeit des Handelns gefragt werden. Man muß daher „eine neue Reflexion in einer ganz neuen Gedankenreihe anfangen, welche die Systematik unseres Problems, die wir jetzt übersehen, im Verhältnis zu der Reflexion, in der es entwickelt wurde, zum Gegenstand haben muß! Wir betrachten in einem neuen Abschnitt die Beziehung des bisher analysierten Freiheitsproblems zu dem, der es denkt, 229
Gehlen, Willensfreiheit, S. 31 u. 32. Gehlen, Willensfreiheit, S. 38. 231 Gehlen, Willensfreiheit, S. 40. 232 Vgl. Gehlen, Willensfreiheit, S. 41. 233 Auch wieder im modifizierenden Anschluß an Hegel: „Aber man muß sich nicht vorstellen, daß der Mensch einerseits denkend, andererseits wollend sei und daß er in der einen Tasche das Denken, in der anderen das Wollen habe, denn dies wäre eine leere Vorstellung. Der Unterschied zwischen Denken und Willen ist nur der zwischen dem theoretischen und praktischen Verhalten, aber es sind nicht etwa zwei Vermögen, sondern der Wille ist eine besondere Weise des Denkens: das Denken als sich übersetzend ins Dasein, als Trieb, sich Dasein zu geben. […] Das Theoretische ist wesentlich im Praktischen enthalten: es geht gegen die Vorstellung, daß beide getrennt sind, denn man kann keinen Willen haben ohne Intelligenz. Im Gegenteil, der Wille hält das Theoretische in sich: der Wille bestimmt sich; […] Ebensowenig kann man sich aber ohne Willen theoretisch verhalten oder denken, denn indem wir denken, sind wir eben tätig.“ (Hegel, Philosophie des Rechts, S. 46 ff. = § 4, Zusatz). 234 Gehlen, Willensfreiheit, S. 93. 230
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gehen somit zu dem über, was man eine Reflexion höherer Ordnung oder Reflexion auf die Reflexion nennen muß.“235 „Hier ist nun die Krisis des Problems. Wir haben in der Reflexion auf die Reflexion einen empörenden Widerspruch freigelegt, den man nicht denken kann, ohne ihn zu verneinen und von sich abzustoßen. Abzustoßen aber mit allen daran hängenden Voraussetzungen: das Ich mit seinen Trieben, die an den Objekten hängen, die Objekte selbst und die Reflexion, die jene zwar in Frage stellte, aber noch an sie gebunden war. Die Reflexion auf die Reflexion ist also ohne weiteres selbst der ablehnende, sich befreiende Wille, der Ort, wo im Verneinen eines Widerspruchs, der mein Wesen zusammenfaßt, die Einheit von Intellekt und Wille, der Ort der Freiheit sich herstellt!“236
Dieser Ort hat nichts mehr mit dem reflexiven Zwangszusammenhang der Willkürfreiheit des rationalen Wahlhandelns zu tun. Als Willkür verstanden, würde diese Position noch in einer Beziehung zur Kausalität (Trieb, Motiv, Wahl, Mittel usw.) stehen. Gerade dieser ganze Zusammenhang wird verworfen. Das Thema der Reflexion ist nicht mehr ein vergegenständlichtes Ich, sondern die Reflexion selbst im Hinblick auf deren Bestimmtheit als freie. Die Form dieser Bestimmtheit ist die Form der Autonomie. Damit gilt, daß Autonomie nicht selbst wieder Gegenstand von Zustimmung oder Ablehnung sein kann: „Freiheit heißt: nichts anderes denken zu können, als was man denken will, und nichts anderes wollen zu können, als was man selbst denkt. Eben das bedeutet: sich selbst ein Gesetz geben, und wird nur durch Abstoßung des Triebhanges samt der Reflexion möglich.“237 Damit gelangt Gehlen zu einer Behauptung, die für das Verständnis der weiteren Ausführungen immer vorausgesetzt bleiben muß: „Daraus folgt, man könne die Gültigkeit des Freiheitsgesetzes […] nur im Vollzug der freien Handlung einsehen, weil es eben formal ist und keinen eigenen objektiven Inhalt, wie das juristische Gesetz, aussagt. Die Möglichkeit der Einsicht in die Einheit von Freiheit und Gesetzlichkeit hat die existentielle Voraussetzung, daß man schon einmal frei gehandelt habe und sich dabei begriffen hat. Sonst ist jedes Gesetz, als objektives, bloße Pression und Heteronomie.“238
Wie man sieht, hat diese Konzeption nichts mit einer Flucht vor der Kontingenz der Moderne in irgendeine herbeiphantasierte Unmittelbarkeit zu tun, sondern „[d] urch Negation der Negation, das Abstoßen, wird die volle Position und Totalität des Ich erreicht“239. Wenn auf diese Weise eine Totalität der Reflexion und also des Willens erreicht wird, „wäre das Wesen des Handelnden von seiner Handlung nicht mehr zu trennen“240. Das heißt mit anderen Worten: wenn die Überwindung 235
Gehlen, Willensfreiheit, S. 99. Gehlen, Willensfreiheit, S. 119. 237 Gehlen, Willensfreiheit, S. 130. 238 Gehlen, Willensfreiheit, S. 131. 239 Gehlen, Willensfreiheit, S. 136. 240 Gehlen, Willensfreiheit, S. 138. 236
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der Reflexion durch die Reflexion selbst auf die Totalität der Handlung führt, dann wird in bezug auf diese Handlung – im Unterschied zu beliebigen empirischen Wahlhandlungen – die Reflexion vollständig in die Handlung eingeschlossen. Dies bedeutet, daß die Totalität der Handlung die Kontingenz der Wirklichkeit als totale in sich aufnimmt. Damit geht im Vergleich mit Luhmann ein radikalisierter Begriff der Kontingenz einher. Luhmanns Begriff der Kontingenz als „etwas, was weder notwendig noch unmöglich ist“, setzt „Gegebenes“ bzw. „Gegenstände“241 voraus, an denen das Auch-anders-möglich-Sein abgelesen wird.242 Damit kommt Gehlen auf die „zwei Hauptbestimmungen positiver Freiheit“, nämlich „1. Die Formalität der Freiheit“243, das heißt ihre Inhaltslosigkeit, sowie 2. die „Totalität“ des Willens bzw. der Handlung244 als deren Einheit und Unteilbarkeit. Die beiden Bestimmungen der freien Handlung: Totalität und Formalität, bedeuten, daß die Kontingenz der Wirklichkeit qua Bejahung total in die Form der Handlung übernommen wurde. Das so bestimmte Handeln ist äußerlich von rationalem Wahlhandeln nicht unterscheidbar, es ist aber gleichwohl nicht mehr durch willkürliche Zwecksetzung und verstandesmäßiges Mittelkalkül bestimmt. Gotthard Günther faßt Gehlens Gedankengang bis hierher so zusammen, daß die Reflexion auf die Reflexion einen Formwechsel herbeiführt, durch den die Handlung eine Überdetermination erfährt: die Handlung als empirisches Ereignis verändert sich nicht, sie gewinnt aber in der Form der Freiheit eine andere Form der Bestimmtheit.245 241
Luhmann, Soziale Systeme, S. 152. Vgl. dazu die Ausführungen oben Kap. V.3. 243 Gehlen, Willensfreiheit, S. 134. 244 Gehlen, Willensfreiheit, S. 135. 245 „Der Kern einer Theorie des Willens dreht sich also um das Problem eines Formwechsels. Der Inhalt eines Ereignisses bleibt immer bestehen, und die Ereignisse kommen so wie sie müssen. Das ist ihre natürliche objektive Determination. Aber diese Determination kann überdeterminiert werden, wodurch uns das selbe Ereignis als der Ausdruck eines mehr oder weniger mythologischen Willens erscheint. Im letzten Fall reden wir nicht mehr von einem Ereignis das sich zwischen toten Objekten abspielt sondern von einer Aktivität, in der angeblich eine treibende und dirigierende Kraft steht. Es kommt also zu dem bloßen Ereignis noch etwas hinzu, was das Ereignis zur Handlung macht. Die klassische Vermögenspsychologie begeht hier den Fehler, das sie hinter das Ereignis noch mal ein Objekt setzt, nämlich die Willenskraft, die das Ereignis ‚beleben‘ soll. Es ist klar, dass es sich hier um eine illegitime Hypostasierung handelt, die wir vom landläufigen Denken abziehen müssen um zur philosophischen Besinnung zu kommen. Die Idee von agierenden Ich-Subjekten, die als Regisseure hinter den blinden Ereignissen stehen und sie mit ihrer privaten Motorik umlenken, ist nichts weiter als eine unzulässige Verdoppelung der Objektwelt. Niemand hat eindringlicher als Arnold Gehlen in seiner tiefsinnigen Studie über die Willensfreiheit dargestellt, dass Freiheit allein die Form eines Ereignisses betrifft und nichts weiter. Damit dass wir ein Ereignis als eine Handlung begreifen, kommt zum Ereignismaterial schlechterdings nichts hinzu. Ein echtes Symbol der Freiheit ist deshalb der Amor Fati: die volle Bejahung dessen, was sowieso geschieht. Wir begegnen hier im Bereiche einer wissenschaftlichen Willenstheorie dem exakten Gegenstück zu dem Verhältnis von Assertion 242
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Gehlen gewinnt aus der Reflexion auf die Reflexion und der durch sie geschehenden Verwerfung des Reflexionszusammenhangs des Wahlhandelns eine Positionsbestimmung. Weil es sich dabei aber allein um ein Formproblem handelt, ist diese Positionierung objektiv-empirisch nicht beobachtbar, sondern nur vollziehbar bzw. bereits vollzogen: „Mein eigentliches Sein ist also schon real und erfüllt, weil ich ja bin und sonst gar nicht wäre. Es ist andererseits zugleich Aufgabe und zu bejahen. Man soll in Freiheit das sein, was man sowieso ist.“246 Das Ergebnis der formalen Wiederaufnahme dessen, was man sowieso schon ist, führt nach Gehlen zu einem bestimmten freien „Zustand“247 der Handlungsfähigkeit. Gehlen legt eine handlungsermöglichende Operativität frei, die die Form der Bejahung hat. Das heißt, der Wille ist in seiner minimalen Bestimmtheit in der Tat als Sein aufzufassen,248 dieses Sein des Willens findet aber „seinen systematischen Ort jenseits der Hegelschen Logik“249, das heißt der Reflexion. Denn die Reflexion auf die Reflexion (als Medium von Hegels Wesenslogik) dient bei Gehlen nicht wie bei Hegel dazu, zur absoluten Reflexion vorzudringen, sondern um die Reflexion von sich abzustoßen, indem der in der doppelten Reflexion liegende Wille als solcher bejaht wird. Gehlen treibt nun den Gedankengang noch weiter und scheint darauf abzuzielen, durch das Abstoßen der Reflexion diese gewissermaßen zu vernichten. Günther hat schon 1934 in einer Rezension von Gehlens Schrift Bedenken gegen diese Radikalisierung des Gedankengangs geäußert.250 Der Wille muß vielmehr auf die Reflexion bezogen bleiben. Gehlen erarbeitet einen – der Erkenntnistheorie analogen – Begriff der Adäquation, die aber im Bereich des Willens und der Handlung nicht die Übereinstimund Negation innerhalb des Bereiches der Logik. Wir erwähnten weiter oben die paradoxe Bemerkung von Reinhold Baer, dass zwar jede Aussage von ihrer Negation verschieden sei, dass aber kein wesentlicher Unterschied zwischen positiven und negativen Aussagen bestünde, ‚sogar schärfer zwischen einer Aussage und ihrer Negation‘. Wir fügen jetzt hinzu, dass genau dasselbe Verhältnis zwischen einem Ereignis und einer Handlung besteht. Beide sind zwar ‚verschieden‘, aber materialiter besteht kein Unterschied zwischen ihnen. Genau wie in der Logik kann die Differenz dann nur in einem Formunterschied bestehen. Relativ zu einem Ereignis, das nichts weiter als Ereignis ist und sich in einer subjektlosen Welt abspielt, ist die Handlung im Hinblick auf ihre Formprinzipien strukturell redundant. Man kann infolgedessen auch umgekehrt sagen, jedes Ereignis ist eine Handlung, in der das Suchen nach Redundanz vergeblich ist. Aus diesem Grunde kann man auch dem Determinismus nicht widersprechen, denn wenn ein Ereignis ohne jegliche mythologische Zutaten beschrieben werden soll, dann ist es notwendig alle redundanten Elemente abzuziehen. Genau hier liegt auch der Unterschied zwischen Schöpfung und Geschaffenem. Die Endlichkeit des Geschaffenen ist gegenüber dem Akt der Schöpfung nur ein Redundanzunterschied, also ein formeller.“ (Günther, Schelling, S. 118 f.). 246 Gehlen, Willensfreiheit, S. 143. 247 Gehlen, Willensfreiheit, S. 155. 248 Vgl. Baumann, Hegel’s Logic. 249 Günther/Schelsky, Vorwort, S. 7 (Hervorh. hinzugefügt). 250 Vgl. Günther, Rez. Arnold Gehlen, S. 188.
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mung des Verstandes mit den Objekten begründet, sondern die Möglichkeit einer Übereinstimmung des Handelns mit der „gegebene[n] konkrete[n] Lebenssituation, in der er [der Handelnde, AH] sich findet“251. Durch diese Situativität des Handelns ist es zugleich auf andere Handelnde verwiesen. Das wird Thema des nächsten Abschnitts sein. Zugleich macht diese Auffassung die unten vorgeschlagene reflexionstheoretische Reinterpretation der anthropologischen Handlungslehre möglich.252 Das Fazit dieses Abschnitts mit Blick auf die Systemtheorie lautet, daß das von Luhmann im Zusammenhang seines Begriffs der doppelten Kontingenz problematisierte „Sich-Einlassen“ auf Kommunikation implizit auf einen (Selbst-)Bestimmungsverzicht hinweist.253 Dieser Bestimmungsverzicht hat die nun mit Gehlen genauer angebbare Form eines „Unterlassen[s] des Verwerfens“ und damit letztlich der „Resignation“, das heißt des „freiwilligen Verzicht[s], Freiheit geltend zu machen“254. Die willensmäßige Seinsgrundlage sozialer Systeme ist deshalb im Sinne Freyers „auf ein Minimum reduziert“255, was sich in Luhmanns Reduktion des Du auf ein alter Ego spiegelt. 5. Das Du als Problem der Handlung Das Du als Kernproblem des Handelns ist das Thema von Gehlens Habilitationsschrift Wirklicher und unwirklicher Geist aus dem Jahr 1931. Sie gilt als Schlüssel zu Gehlens Gesamtwerk, einerseits deswegen, weil dort der das Werk durchziehende Gedanke der indirekten Bestimmung256 zum ersten Mal konsequent am Handlungsproblem durchgeführt wird, zum anderen aufgrund des ebenfalls im Gesamtwerk durchgehaltenen existenziellen Motivs.257 Gehlen geht von einem an der Wirklichkeit des handelnden Anderen gebildeten, situativen Begriff der Realität aus. Dies läßt mit Blick auf die spätere Anthropologie einen Bruch in Gehlens Theorieentwicklung vermuten, denn „[p]aradoxerweise stand Gehlen einer interaktionistischen Perspektive in seinen Frühschriften sehr nahe“, während sich „in seiner Anthropologie […] der interaktionistische Zug in seiner Argumentation [verlor]“258. Dies ist scheinbar deswegen der Fall, „weil die elementare Anthropologie bekanntlich ‚am abstrakten Modell des Einzelwesens‘ operieren will“259. Insbe251
Gehlen, Willensfreiheit, S. 167. Siehe unten Kap. VI. 253 Vgl. oben Kap. III.1. u. III.3. 254 Gehlen, Willensfreiheit, S. 40. 255 Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 83 u. passim. 256 Vgl. Fonk, Transformation. 257 Vgl. Rehberg, Existentielle Motive. Vgl. zum diskursiven Kontext Firsching, Moral, S. 200 ff. 258 Rehberg, Existentielle Motive, S. 526, Anm. 84. 259 Wöhrle, Metamorphosen, S. 174. 252
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sondere seit Gehlens Wendung zur Anthropologie scheint es so, als ob die soziale Dimension des Handelns dem anthropologischen Modell der Einzelhandlung unter nachträglicher Zuhilfenahme von Theorieelementen von George Herbert Mead nur unzulänglich angefügt werden könnte.260 Begreift man aber die von Gehlen vorgeschlagene Methode „absoluter Phänomenologie“ als Übergang vom unwirklichen zum wirklichen Geist, dann stellt sie sich als Weg vom Ich zum Anderen dar, also als methodische Bewegung von der Reflexion zum Handeln. Unter dieser Annahme ist die Gewinnung des Handlungsstandpunktes auch die Gewinnung des Standpunkts des Anderen. Daß diese Bewegung „absolut“ sein soll, deutet an, daß es hierbei nicht um „Rollenübernahme“ gehen soll, sondern um die Gewinnung einer Handlungsposition. Gehlen sagt über seine Methode, sie sei „die Idee […] des Weges zur Realität“261. Er versteht also Methode wörtlich als ‚Weg‘, aber in einem existenziellen Sinn: als ‚Bewegung‘. Dabei ist „der Andere […] das Ziel dieser gesammelten Bewegung“262. Die Verwirklichung dieses Ziels ist möglichst strikt dahingehend zu verstehen, daß das Ich selbst zum Anderen wird, weil „man sich erst gewinnt, wenn man ganz im Anderen lebt“263. Wenn, wie Gehlen weiter schreibt, „die Möglichkeit der ganzen Zuwendung zum Objektiven die Bedingung unserer Realität überhaupt ist“264, dann ist diese Zuwendung nicht als erkennende bzw. erlebende Intention auf Objekte zu verstehen, sondern als handelnde Selbst„objektivierung“. Gehlen fordert, sich selbst so zu „äußern“, sodaß man vom Ich her ein Anderer wird: „Es gibt ein handelnd vorgetragenes Sichsammeln in eine gegenwärtige Äußerung, in die ich restlos eingehe […] nur dann ist uns Realität als Zustand völlig gegeben“265. Der Andere ist also zugleich die Möglichkeit der eigenen Realität als eines Zustandes. Die Gegebenheit der Realität liegt in diesem eigenen Zustand selbst. Es geht also anders als etwa bei Mead nicht um die Hereinnahme anderer sozialer Perspektiven auf die Realität, sondern um die Vorbedingung zu solchen Abstraktionsleistungen.266 Die Äußerung, in der das geschieht, ist folglich keine Äußerung eines Ichs oder eines Individuums, etwa im Sinne einer Mitteilung einer Information, sondern ein existenzielles „Sichaussetzen“267. Dieses Sichaussetzen 268 ist zugleich 260 Vgl.
Joas, Intersubjektivität bei Mead und Gehlen. Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, S. 333. 262 Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, S. 320. 263 Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, S. 250. 264 Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, S. 250. 265 Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, S. 326. 266 Gehlens Mead-Rezeption scheint so zu liegen, daß Mead Gehlen lediglich das von ihm selbst bereits „Gedachte verdolmetschen hilft“ (Lauermann, Aussprache, S. 76). 267 Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, S. 236, 264, 320 u. ö. 268 Gehlen betont selbst die Nähe seiner Überlegungen zu denen von Heidegger, Sein und Zeit. Im Gegensatz zu Heidegger geht Gehlen aber von der problematisch gewordenen Reflexion und nicht von der faktischen Geworfenheit aus. Dieser reflexionstheoretische Ausgangspunkt macht Gehlens Ansatz soziologisch anschlußfähig. 261
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ein „Sichbegeben in die Sichtbarkeit“269. Damit wird Anschauung zu einem Handlungsbegriff.270 Setzt man diesen Gedanken voraus, kann Gehlen in der später ausgearbeiteten anthropologischen Handlungslehre nicht das Handeln eines Ichs, sondern eines Du beschreiben, das „nur in der Gemeinschaft möglich“271 ist. In Wirklicher und unwirklicher Geist vollzieht Gehlen den Weg vom Ich zum Du, von der Reflexion zum Willen, nach. Existenziell-phänomenologisch ist Gehlens Methode deshalb, weil sie nicht kognitiv ein Gegebenes erreichen, sondern den Übergang aus der kognitiven Reflexion in den Zustand handelnder Gegebenheit nachvollziehen will. Die Beschreibung setzt – dies entspricht den Ausführungen der Theorie der Willensfreiheit – das Ziel als bereits erreichtes voraus. Damit ist der Realitätsbezug der Methode keine Frage der Theorie mehr, sondern die Realität wird als Handlungsrealität vorausgesetzt. Dies ist das existentialistische Motiv. Gehlen schreibt also von einem Standpunkt aus, der die Forderung, die subjektive Ich-Reflexion zu verlassen und zum Anderen zu werden, bereits erfüllt hat, was er mehrmals emphatisch (performativ, wie man sagen könnte) zum Ausdruck bringt.272 Deshalb kommt für seine Aussagen alles „darauf an, daß sie uns nichts Neues sagen“273, sie sind nur wiederholend. Dieses Wiederholte ist allerdings vom Standpunkt klassischer Erkenntnis und Reflexion ein völlig Unbekanntes. Gleichwohl soll nicht in existenzieller Unmittelbarkeit verharrt werden. Aus diesem Grund muß neben der Methode „die Frage: welcher Gegenstand?“274 geklärt werden. Der hier interessierende Gegenstand kann wie gesagt kein theoretisch zugänglicher sein, weil der theoretische Gegenstand der tote, das heißt unwirkliche Gegenstand ist: „Von Wirklichkeit im eigentlichen und ausgezeichneten Sinne kann nur innerhalb menschlichen Lebens die Rede sein; der allein adäquate Gegenstand des Menschen ist der Andere und in den Beziehungen der Menschen untereinander realisiert sich das Sein in seinen wesentlichen Formen.“275
Daher ist die Realität weder erkennend noch in der Reflexion des Selbstbewußtseins zugänglich, denn der Andere ist als Anderer kein möglicher Gegenstand des Bewußtseins.276 Der Andere bzw. das Du kann aber auch nicht handelnd intendiert werden. Es geht vielmehr darum, „sich zu erkennen zu geben“277, man bestimmt nicht die Wahrnehmung durch den Begriff, sondern, so sieht es Gehlen, man wird selbst zur Anschauung. Darin verliert man sich selbst als Ich und wird 269
Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, S. 320. Ähnlich wie Marx in seinen Thesen über Feuerbach (vgl. Marx, Thesen, S. 5 ff.). 271 Gehlen, Mensch, S. 506. Vgl. ebd., S. 64 f. Siehe dazu ausführlich unten Kap. VI. 272 Vgl. Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, S. 330. 273 Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, S. 330. 274 Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, S. 159. 275 Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, S. 159. 276 Vgl. Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, S. 152 u. 278 f. 277 Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, S. 317. 270
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zum Anderen eines Anderen.278 Dasselbe gilt auch für den Anderen, sodaß beide auf die Situation als ganze verwiesen sind: „die Situation ist deshalb der erste Gegenstand […]“279. Sie ist der „gemeinsame[] Grund“280 sowohl des Einen wie des Anderen. Das beiderseitige Sichaussetzen führt zugleich dazu, daß die „Geistigkeit eine Qualität der Situation“281 wird.282 Wirklicher Geist im Sinne Gehlens ist ein nur von mehreren Handlungszentren her zugleich zu erreichender, dann aber in eine Totalität sich sammelnder situativer Zustand. Ausgehend von der oben getroffenen Feststellung, daß Gehlen den Begriff der Anschauung als Handlungsbegriff neu bestimmt, kann das gleichzeitige Sich-Äußern nur so erreicht werden, daß die Situation als konkreter Ort bestimmt sein muß. Von hier aus gewinnt jegliches Handeln seine Bestimmtheit. Erreicht wird die wirkliche Situation als solche durch die „transzendentale Handlung“283. Transzendentales Handeln ist riskantes Handeln. Damit hält Gehlen das Risiko der Situation für produktiv in einem existenziellen Sinn. Als das „absolute Bereitsein und Jasagen zu dem, was kommen wird“284 ist es – gewissermaßen vorgreifend – seinsgründend. Erreicht wird eine Realität, die noch nicht da ist, als Zustand. Das Sichaussetzen vor dem Risiko der offenen Zukunft führt immer aufs Neue zu einer „produktiven Wiederholung“285 des Seinszustandes. Kontingenz soll also nicht umgangen, sondern als solche in Form gebracht werden. Empirisch gesehen ist die transzendentale Handlung ein absoluter Bruch mit der unwirklichen Vergangenheit des Handelnden.286 Fragt man danach, was die Handlung selbst bestimmt, zeigt sich aber, daß das riskant-vorgreifende Sichaussetzen vor der Zukunft, welches das ganze Sein als Zustand hervorruft, „die Vergangenheit selbst“287 wiederholt. Die Formung der Gegenwart im Zustand der Handlung ist nichts anderes als die Kontinuierung der Geschichte. Die Geschichte als vergangene, das heißt als unwirkliche Vorstellung in der Erinnerung zu haben, heißt, die wirkliche, das heißt gegenwärtige Situation nicht zu erreichen: „die Wirklichkeit ist nur dann gewesen, wenn die Unwirklichkeit gegenwärtig ist. So heißt der Übergang von der Wirklichkeit in die Unwirklichkeit das Vergehen, und die Vorstellung ist eine Weise des Vergehens. […] Jederzeit ist es möglich, die Vergangen278 Vgl.
Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, S. 190 f. Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, S. 336 (Hervorh. hinzugefügt). 280 Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, S. 317. 281 Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, S. 324. 282 Gehlen kommt hier einer Auffassung nahe, die Luhmann erst Parsons zuschreibt, daß nämlich der „Handelnde […] kein Subjekt […] seiner Handlung“ mehr ist, sondern das „Handlungssystem […] das Subjekt des Handelnden“ (Luhmann, Talcott Parsons, S. 7). 283 Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, S. 154, 236 und passim. 284 Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, S. 249. 285 Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, S. 291. 286 Vgl. auch oben die Erläuterungen Günthers. 287 Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, S. 209. 279
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heit als Zustand wieder zu vergegenwärtigen, und sie als Gegenstand [des Bewußtseins, AH] haben heißt, die Gegenwart nicht realisieren können.“288 „Wer sich äußert, erinnert nicht.“289
Offensichtlich ist das Ziel der Gehlenschen Handlungslehre, zu einem handelnden Umgang mit der Kontingenz der Gegenwart und der Offenheit der Zukunft zu finden, dabei aber die geschichtliche „Kontinuität seiner [des „Lebens“, AH] überindividuellen Vergangenheit: der Familie, des Lebensortes, des Staates“290 zu wahren, so daß die in jeder situationsgerechten Handlung bereits erreichte Realität „uns nicht verläßt“291. Eine solche Handlungslehre hat notwendig einen geschichtlichen Rückbezug auf den Handelnden als Handelnden, weil ohne diesen Rückbezug gänzlich das Thema bzw. der Realitätsbezug fehlen würde. Dieser Rückbezug ist aber keine Reflexion des Denkens, sondern des Handelns. Eine wichtige Unterscheidung, die Gehlens Handlungslehre strukturiert, ist die auf Max Weber zurückgehende Unterscheidung von Alltag und Außeralltäglichkeit.292 Gehlen versucht, könnte man sagen, eine „transzendentale Handlung“ zu beschreiben, um von daher ein anderes Verhältnis zum empirischen Alltag zu erreichen. Ist einmal eine transzendentale Handlung vollzogen, gewinnt man „ein anderes Verhältnis zum Alltäglichen: deshalb nenne ich dieses die intensiv empirische Haltung“293. Diese Empirie ist im Vergleich zur Empirie des reflektierenden Subjekts eine „zweite Objektivität“294 – Handlungserfahrung. Nach Gehlen hingegen vollzieht sich im Moment der Ausnahme am Ich situativ eine Verwandlung,295 nach welcher nun nicht mehr vom reflektierenden Ich,296 das 288
Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, S. 210 u. 209. Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, S. 317. 290 Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, S. 345 f. 291 Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, S. 209. 292 Vgl. z. B. Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, S. 180, 197, 250 f., 319. Wir teilen damit die Einschätzung Firschings, daß Gehlens Ansatz der „Soziologie Weberscher Prägung fundamental entgegengesetzt ist“ (Firsching, Moral, S. 208), nicht. Vielmehr enthält Gehlens Ansatz eine Weiterentwicklung der Soziologie Webers, die der von Alfred Schütz ähnlich ist, weil sie auf die Konstitution von Handlungen zielt. Gehlen geht aber auch über Schütz hinaus, weil die Geschichte nicht wie bei Schütz bloß als Ressource objektiver, typischer Sinnformen erscheint, sondern das Mögliche als solches repräsentiert. Und Gehlen geht noch in einer anderen Hinsicht kategorial über Schütz hinaus. Für Schütz ist – wie auch für Luhmann – der Andere stets alter Ego, das heißt Ich. 293 Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, S. 251. 294 Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, S. 224. 295 Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, S. 209 u. 214. 296 Anders Firsching, Moral, S. 207, der meint, das „Ich der Subjektivität und Reflexivität wird verwandelt in ein allgemeines Ich, das an einem allgemeinen Sein partizipiert, und der Geist ist nicht mehr unwirklich […]“. Firsching mißversteht Gehlen in dem entscheidenden Punkt, weil er ihn hegelianisch liest (vgl. Firsching, Moral, S. 208). Weder kommt bei Hegel der Andere als Anderer vor, noch ist die Allgemeinheit des Selbstbewußtseins, die nach dem „Kampf um Anerkennung“ erreicht wird, eine situative. Deswegen distanziert 289
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Gegenstände hat, sondern vom handelnden Anderen als Du ausgegangen werden kann, der ein Gegenüber hat. Dies muß wieder in dem zweifachen Doppelsinn genommen werden, daß man selbst als Anderer vom Anderen ausgehen kann, und umgekehrt: Das ehemalige Ich ist selbst ein Anderer – das heißt ein nun Handelnder – geworden und kann deshalb ein nicht mehr auf bloß subjektiver Reflexion beruhendes Verhältnis zum empirischen, alltäglichen Anderen einnehmen; dasselbe gilt für den Anderen. Dies weist Ähnlichkeiten mit der Situation der doppelten Kontingenz auf. Der Unterschied zu Luhmann ist, daß Gehlen eine Seite der Kontingenz zur Sprache bringt, die von Luhmann ausgeblendet wird. Gehlen versteht den handelnden Anderen als Äußerlichkeit reiner Kontingenz, also gerade so, wie Luhmann seinen Kontingenzbegriff nicht verstanden wissen will. Gehlen bereitet einen Begriff von doppelter Kontingenz vor, der auf einer beiderseitigen Handlungsbeteiligung beruht, wobei der involvierte Handlungsbegriff nicht der des bedürfnisgetriebenen Wahlhandelns ist. Auch bei doppelter Kontingenz im Sinne Luhmanns handelt es sich um eine „Grundsituation“297. Doch im Unterschied zu Gehlen wird doppelte Kontingenz bei Luhmann als eine Situation konstruiert, um die Ablösung des Systems von seiner situativen Bindung zu beschreiben.298 Bei Gehlen findet die erste Bestimmung nicht durch einen ab extra eingeführten Zufall, sondern durch das auf beiden Seiten stattfindende freie Bejahen der Situation statt. Die Handlungswirklichkeit bleibt eine Situation gemeinsamen Handelns, während bei Luhmann an die Stelle der gemeinsam-handelnden Bejahung der Situation eine quasi kognitive, egologische Form der wechselseitigen Bezugnahme tritt, die zugleich den Blick von der Situativität weg lenkt: indem sich Ego und alter Ego als intransparent auffassen, emergiert Kommunikation. Der situative Wirklichkeitsbezug wird sich Gehlen auch schon in der Einleitung von Hegel: „Daß das Absolute Geist sei, war Hegel evident […]: wer wagt es heute zu sagen, er habe das verstanden? Ich behaupte, daß die Grundthesen des Idealismus und des Spiritualismus (die Welt ist nichts außer mir, die Welt, ja die Natur ist Geist) heute im echten Sinne von Verstehen unverstehbar sind. Die Welt in uns hat sich so geändert, daß diese Erfahrungen außerhalb der uns zugänglichen liegen“ (Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, S. 134, vgl. auch S. 214 f. und 323 f.). Gehlen weist das Absolute im Sinne Hegels zurück, um zu einer neuen Deutung des Absoluten als der „absoluten Anschaulichkeit“ (ebd., S. 320) zu gelangen. Dieses ist weder ichlich noch personal und schon gar nicht individuell, sondern situativ. Ein anderer Irrtum der Darstellung Firschings liegt in der Unterstellung, Gehlen suche paradigmatisch – pars pro toto für Bemühungen eines ganzen Diskurses, zu dem auch die von Firsching genannten Schmitt und Heidegger, Benjamin und Lukács gehören – nach einer „Unmittelbarkeit jenseits der Vermittlungen des einsam reflektierenden Geistes“ (Firsching, Moral, S. 204). Dies könnte Gehlens Begriff der Anschauung nahelegen. Doch ganz im Gegenteil: man war auf der Suche nach einer anderen Art von Vermittlung. Fraglosigkeit im Sinne der Reflexion heißt nicht Unmittelbarkeit im Sinne des Fehlens von Vermittlung, sondern die sehr voraussetzungvolle Fähigkeit zur Bejahung der Situation. Das wird die obige Darstellung deutlich gemacht haben. 297 Luhmann, Soziale Systeme, S. 156. 298 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 151 u. 165.
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gewissermaßen fast restlos von Kommunikation absorbiert. Bei Gehlen führt das beiderseitige Sichaussetzen oder Sichbegeben in die Sichtbarkeit zu einer handelnden Stellungnahme gegenüber der gemeinsamen Situation. Mit anderen Worten: Beschreibt man das ‚Innere‘ von Luhmanns ‚black boxes‘ reflexionstheoretisch als Zusammenhang von Reflexion und Wille, das heißt als thematisches Umtauschverhältnis von Ich und Du, werden zwei Bestimmungsmöglichkeiten doppelter Kontingenz denkbar. Erfolgt die wechselseitige Bezugnahme ichhaft unter Vorrang der Kognition, emergiert Kommunikation. Erfolgt eine gemeinsame Bezugnahme auf die Situation als solche unter dem Vorrang des Willens in Form des Du, entsteht ein Handlungszusammenhang, der als Institution verstetigt werden kann. Dies ist das Thema des nächsten Kapitels.
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VI. Eine reflexionstheoretische Relektüre von Arnold Gehlens Anthropologie 1. Vorüberlegungen zur theoretischen Verortung a) Zwischen Idealismus und Anthropologie Das Anliegen des sechsten Kapitels ist der Rückbezug von Arnold Gehlens anthropologischer Handlungs- und Institutionenlehre auf die im vorangegangenen Kapitel diskutierten reflexionstheoretischen Problemstellungen.1 Wie bereits in der Einleitung bemerkt, entspricht diese Interpretation nicht der Auffassung, die Gehlen selbst über sein Werk geäußert hat.2 Der Versuch einer reflexionstheoretischen Relektüre der Gehlenschen Schriften ergibt sich zunächst aus der hier vertretenen These, daß die Frage nach dem Verhältnis von Reflexion und Wille das gemeinsame wissenschaftliche Interesse der Leipziger Schule bildet. Er dient zugleich der Explikation unserer Behauptung, daß sich die Handlungs- und Institutionenlehre über den Begriff der Reflexion mit der Systemtheorie in Beziehung setzen läßt. Dazu wird das Augenmerk auf die Kontinuitäten zwischen Gehlens frühen Schriften und seiner Anthropologie gelegt.3 Diese lassen sich exemplarisch an dem 1935 erschienen Aufsatz „Der Idealismus und die Lehre vom menschlichen Handeln“4 aufzeigen, in dem Gehlen den Ausgangspunkt für seine anthropologische Analyse des Handlungsproblems offenlegt. Das Thema ist die Verbindung von deutschem Idealismus und philosophischer Anthropologie, wobei eine gute Zusammenfassung des bisher rekonstruierten Zusammenhangs geboten wird, indem die Ergebnisse der beiden bis dato veröffentlichten Hauptwerke Gehlens hinsichtlich der Aufgaben einer Handlungslehre ausgewertet werden.5 Gehlen weist zunächst die Form der Theorie als einzige Form der Wahrheit zurück.6 Der Grund dafür ist, daß der Erkennende im Gegenstandsbereich der 1 Eine solche Interpretationsrichtung ist bereits von Manfred Lauermann vorgeschlagen worden: „Meine Vermutung ist, Luhmann und auch Gehlen haben die Philosophie heimlich bereits gehabt, aber immer darauf gewartet, daß ihnen irgendeine Einzelwissenschaft das Gedachte verdolmetschen hilft. So könnte man auch verschiedene Textstellen aus ‚Der Mensch‘ interpretieren.“ (Lauermann, Aussprache, S. 76). 2 Vgl. z. B. Gehlen, Stellungnahme u. Gehlen, Anmerkungen. 3 Weil diese Kontinuitäten im Zuge der mehrfachen Überarbeitung zurücktreten, erfolgt hier auch der Rückgriff auf die erste Ausgabe von Gehlen, Mensch. 4 Gehlen, Der Idealismus und die Lehre vom menschlichen Handeln. 5 Vgl. dazu auch Fischer, Philosophische Anthropologie, S. 152 ff., bes. 156 ff. 6 Für Gehlen ist eine Theorie „ein sachlicher, gegenständlicher Begriffszusammenhang, der den Forderungen eindeutiger Bestimmtheit, unveränderlicher Gültigkeit und möglichst auch anschaulicher Vorstellbarkeit so weit entsprechen soll, wie er erreichbar ist. Eine solche Theorie hat also formal eine sehr wesentliche Übereinstimmung mit der realen Außenwelt, aus der sie gewonnen ist: ihr objektiver, gegenständlicher, beharrlicher Charakter, ihr
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Theorie keinen Platz hat, weil „jedes realistische Denkgebäude abstrakt ist: es sieht ab, und zwar von der Bezogenheit eines jeden Vorstellungssystems auf den, der es hat […]“7. Gehlen fragt daher nach Phänomenen, die in der Form der Theorie nicht aufgehen. Diese betreffen jeweils den „Übergang von der Innenwelt zur Außenwelt, von einem vollzogenen Seinsmodus zu einem vorhandenen“, den man „sich in keiner Weise ‚vorstellen‘ [kann]. Dieser Übergang heißt in der einen Richtung ‚Einverseelung‘ (Nietzsche) oder Erinnerung, in der anderen Handlung“8. Eine Hinwendung auf diesen (vorläufig so genannten) Übergang kann nur, wie Gehlen mit Verweis auf die Theorie der Willensfreiheit sagt, durch eine Reflexion auf die Reflexion geschehen, die zugleich das mit Ideologiekritik und Wissenssoziologie auftretende Relativismusproblem – das ein Reflexionsproblem ist9 – aufhebt: „Das Relativismusproblem ist daher ein Schulfall für solche Probleme, die nur in gewissen Gesamtzuständen der Person überhaupt denkbar sind […] [I]m Durchführen der Reflexion bis zur völligen Erhellung der Situationen, in denen diese Probleme auftreten, kann man in der Tat einen Bewußtseinszustand erreichen, in dem sie nicht mehr denkbar und aufgehoben sind“10.
Damit setzt Gehlen den Handlungsbegriff auch bereits in den Zusammenhang, den er in Wirklicher und unwirklicher Geist als positiven freigelegt hat: „Die Handlung gehört also zu den Realitäten, deren man nur im Vollzug innewerden kann, und die man nur im unmittelbaren Verkehr mit anderen erlebt. In der objektiven Betrachtung von außen, in theoretischer Haltung kann man niemals wissen, ob eine echte Handlung vorliegt oder nicht vielmehr eine bloße ‚Reaktion‘.“11
Es wurde oben gezeigt, daß Gehlen ein sehr weites Verständnis von reaktivem Handeln hat; darunter fällt vor allem jegliches Handeln als rationale Wahl. Die mangelnde Objektivierbarkeit des Handelns ist sowohl der systematische Grund dafür, eine Reflexion auf die Reflexion anzustellen, als auch für deren RückfühCharakter als Nicht-Ich, ihre Fremdheit und Eigenständigkeit als anschaulicher Wesenszug teilt sie mit der Welt der realen Dinge […]. Es ist ein sicheres Resultat der idealistischen Philosophie, daß dies nicht die Form ist, in der alle ganzheitlichen Wahrheiten auftreten können.“ (Gehlen, Der Idealismus und die Lehre vom menschlichen Handeln, S. 329) Gehlen bestätigt also den Anspruch auf adäquate Übereinstimmung des Gegenstandes mit der theoretischen Erkenntnis, gibt aber zu bedenken, daß objektive Gegenständlichkeit nicht das einzige mögliche wissenschaftliche Thema ist. 7 Gehlen, Der Idealismus und die Lehre vom menschlichen Handeln, S. 330. 8 Gehlen, Der Idealismus und die Lehre vom menschlichen Handeln, S. 330. 9 Etwa das Problem der Historisierung bzw. Kulturalisierung der Religion und der Politik: erst „wenn ich selbst politisch nichts entscheiden will, kann gefragt werden, welche politische Theorie denn nun ‚recht habe‘. Man kann auch zeigen, daß solche Fragen aus der bloßen Reflexion heraus niemals eine Lösung finden können, denn wenn diese sich wirklich durchführt, endet sie immer bei der Skepsis, d. h. bei der bewußten Rechtfertigung des schon vorausgesetzten Nichthandelns und Nichtwollens“ (Gehlen, Der Idealismus und die Lehre vom menschlichen Handeln, S. 336). 10 Gehlen, Der Idealismus und die Lehre vom menschlichen Handeln, S. 335 f. 11 Gehlen, Der Idealismus und die Lehre vom menschlichen Handeln, S. 331.
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rung auf eine Situation, weil die Wirklichkeit der Situation auf einen handelnden Anderen verweist. Gehlen erklärt deshalb die geschichtlich gegebene Situation, in der die Handelnden sich vorfinden, zum Zentrum seiner Analyse.12 Sein Ziel ist „eine geschichtliche Betrachtung den Menschen in seiner Kultur als Handlungsund Leistungszusammenhang“13. Zu diesem Zeitpunkt der Theorieentwicklung ordnet Gehlen den biologischen Aspekt der Analyse der situativen Einheit der Handlung unter, und zwar als deren objektives Moment und mögliches Spezialthema; die konkreten Bewußtseinsstrukturen sind als subjektives Moment gegenüber der Einheit der Situation ebenfalls zweitrangig, weil es keinen isolierten Bewußtseinsstandpunkt gibt.14 Beide Momente bergen, so Gehlen, die Gefahr der Vereinseitigung, wenn man sie abstrakt jeweils für sich zum Ausgangspunkt einer Gesamtbetrachtung machen würde.15 Abschließend wird angedeutet, wie die situativ rückgebundenen „Entscheidungen Dasein behalten oder Absichten Durchführung finden können“; bereits hier sieht es Gehlen „als ein Handlungsgesetz“ an, daß dies „nur in institutionell gewordener Form (also auch nur im Rahmen der Gemeinschaft)“16 geschehen könne. Unter diesem Gesichtspunkt der „gegebenen Institutionen“17 können nun von einer „Aufgliederung der Situation aus die Grundbestände des menschlichen Lebens in ihrem schon gegebenen und wirksamen Zusammenhang entwickelt werden […], denn von dieser Handlungslehre ist der Weg zur Aufweisung der Gesellschaft und der Gemeinschaft, der Familie, des Berufs und Rechts, und besonders zur Entwickelung der Wirklichkeit des Staates schon vorgezeichnet“18. 12 „Der Ausgangspunkt der philosophischen Handlungslehre ist damit bestimmt. Er kann nicht sein irgendein in der Wahrnehmung gegebenes Ding oder Wert oder Sachverhalt der objektiv betrachteten Umwelt, und auch nicht eine ‚Tatsache des Bewußtseins‘ (der abstrakt idealistische Ansatz). Sondern, wie ich schon 1931 vorschlug, nur eine Situation, d. h. eine jede konkrete Befindlichkeit des ganzen Menschen […] [D]iese Situation ist die wirkliche, konkrete Befindlichkeit, in der ich mich mit diesen zufälligen Bestimmungen, mit diesen Anderen zusammenlebend, unter gegebenen, schon sehr künstlichen Lebensbedingungen, in einem Staate und Volke, mit solchem Beruf und Besitz und diesen Fertigkeiten, solcher Sprache usw. vorfinde. Und diese Analyse der Situation ergibt die prima philosophia, die einleitende philosophische Wissenschaft, die wir einmal, um einen Namen zu haben, philosophische Anthropologie nennen wollen.“ (Gehlen, Der Idealismus und die Lehre vom menschlichen Handeln, S. 331 f.). 13 Gehlen, Der Idealismus und die Lehre vom menschlichen Handeln, S. 332. 14 Vgl. Gehlen, Der Idealismus und die Lehre vom menschlichen Handeln, S. 332. 15 Die objektive Betrachtung des „Menschen ‚von außen‘“, worunter Gehlen hier wie gesagt den Menschen „als Lebewesen im biologischen Sinne“ versteht, „läuft […] Gefahr, materialistisch zu werden“; vom Bewußtsein auszugehen führt zur Abstraktion eines freischwebenden „berufslosen Ideal- und Allgemeinmenschen unbestimmter Herkunft“ (Gehlen, Der Idealismus und die Lehre vom menschlichen Handeln, S. 332 f.) – beide Abstraktionen sollen vermieden werden. 16 Gehlen, Der Idealismus und die Lehre vom menschlichen Handeln, S. 340 (Hervorh. hinzugefügt). 17 Gehlen, Der Idealismus und die Lehre vom menschlichen Handeln, S. 340.
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Neben den Bereichen Familie, Beruf, Recht und Politik werden mögliche Fragestellungen zu Wissenschaft und Religion angedeutet19, die dann in Der Mensch ausführlich diskutiert werden. 18
b) Gehlens Selbstrevisionen Im Jahr 1965 stellt Gehlen anläßlich der Wiederveröffentlichung einer Auswahl aus seinen frühen Schriften die Entwicklung seiner Handlungs- und Institutionenlehre rückblickend so dar, daß er „heute die Versuche als verfehlt an[sieht], eine Anthropologie auf den Begriff der ‚Situation‘ zu stützen, wie er es damals unternahm, und er kam erst weiter, als er stattdessen eine dynamische Modellbetrachtung des handelnden Menschen in der Umwelt einsetzte“20. Der Ansatz zu dieser rezeptionssteuernden Selbstdarstellung findet sich bereits im Schlußkapitel von Der Mensch, das Gehlen bekanntlich für die vierte Auflage 1950 neu verfaßt hat.21 Dort heißt es, daß „unsere ganze Theorie notwendigerweise mit einer Abstraktion gearbeitet hat, nämlich mit einer Art Abstraktum des einzelnen handelnden Menschen“22. An anderer Stelle spitzt Gehlen diese Behauptung dahingehend zu, der anthropologische Handlungsbegriff sei „an dem abstrakten Modell eines imaginären Einzelmenschen, eines Robinson“23 abgelesen. In demselben Text aus dem Jahr 1968 lehnt Gehlen auch ausdrücklich seine beiden frühen Monographien Theorie der Willensfreiheit und Wirklicher und unwirklicher Geist ab, die er nunmehr als unbefriedigende Versuche hinstellt.24 18
Gehlen, Der Idealismus und die Lehre vom menschlichen Handeln, S. 345. Gehlen, Der Idealismus und die Lehre vom menschlichen Handeln, S. 341 ff. 20 Gehlen, Anmerkungen, S. 340. 21 Einen Überblick über die wesentlichen Änderungen von Der Mensch geben Lepenies, Handlung und Reflexion, S. 41 f. und ausführlicher Hagemann-White, Anthropologie, S. 244 – 247, wiedergegeben bei Rehberg, Nachwort, S. 872 – 876. Demnach wurden das erste und zweite sowie das siebente bis neunte Kapitel am stärksten umgebaut. Das dreiundvierzigste Kapitel entfiel, und das vierundvierzigste wurde wie erwähnt ersetzt. Der gesamte zweite Teil (das heißt nach der ersten Auflage Kap. 13 – 47, nach der Gesamtausgabe Kap. 13 – 37) erfuhr eine Reihe von Zusammenlegungen und Umstellungen, „wobei einzelne Abschnitte an ganz anderen Stellen als zuvor eingegliedert wurden […]. Es sind jedoch folgende Themen neu, die 1940 nicht ausgesprochen worden waren“, und zwar unter anderem: die „Rezeption von Mead (‚to take the role of the other‘) und die damit zusammenhängende Betonung der sozialen Seite kommunikativer Erfahrung; Alle Hinweise auf Institutionen […]; Fast alle Hinweise auf primitive Gesellschaften“ (Hagemann-White, Anthropologie, zit. nach Rehberg, Nachwort, S. 875). Das vierundvierzigste „Kapitel ist gänzlich neu geschrieben und stellt in knapper Zusammenfassung die Theorie des objektiven Geistes dar, die Gehlen in ‚Urmensch und Spätkultur‘ entfaltet“ (Hagemann-White, Anthropologie, zit. nach Rehberg, Nachwort, S. 876). 22 Gehlen, Mensch, S. 452 f. 23 Gehlen, Ein anthropologisches Modell, S. 209. 24 Vgl. Gehlen, Ein anthropologisches Modell, S. 211. Vgl. auch Gehlen, Stellungnahme, S. 96 u. 98. 19 Vgl.
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Dies muß sehr verwundern, findet sich doch in der ersten Ausgabe von Der Mensch eine Überlegung, die das Robinson-Modell des Handelns ausdrücklich ablehnt, ja als utopisch ad absurdum führt.25 Obwohl das Vorhandensein einer solchen Überlegung allein die Möglichkeit nicht ausschließt, daß Gehlen dieser Utopie doch selbst erlegen ist und dies erst nachher bemerkte und korrigierte, läßt sich doch zeigen, daß der Bezug auf das Soziale auch schon in der ersten Auflage von Der Mensch keineswegs nur eine abstrakte Behauptung bleibt, sondern als konstitutiv für das Handeln angenommen wird.26 In dem neu geschriebenen Schlußkapitel hat Gehlen das angeblich in den früheren Ausgaben von Der Mensch vertretene Robinson-Modell als Grund für einen weiteren Fehler ausgegeben, zu dessen Berichtigung er im selben Atemzug ansetzt: denn durch die bisher „verfolgte Betrachtungsweise“, die man „biologisch“ in einem „weiteren Sinn“27 nennen könne, seien die gesellschaftlichen Phänomene der Religion, der Kunst, des Rechts, der Technik usw. nicht zu bearbeiten, „weil unsere ganze Theorie notwendigerweise mit einer Abstraktion gearbeitet hat, nämlich mit einer Art Abstraktum des einzelnen handelnden Menschen“28. Folgt man Gehlen, wäre die Situation die folgende: der eine Fehler, vom Begriff der Situation auszugehen, sei durch die abstrakte Modellbetrachtung des handelnden Einzelmenschen, des Robinson, behoben worden, was aber zu jenem neuen Fehler führte, die Rolle der Institutionen zu übersehen, deren Begriff daraufhin sozusagen nachträglich ein- bzw. ausgearbeitet werden mußte. Denn „den Fehler eines zu engen Ansatzes“29 habe Gehlen erst nach einer Belehrung durch die Rechtswissenschaftler Carl Schmitt und Maurice Hauriou bemerkt, durch die er auf den Begriff der Institution aufmerksam geworden sei.30 Diese Selbst25 Die folgende Stelle ist in den Ausgaben ab 1950 nicht mehr enthalten: „Es gibt Utopien, welche dem isolierten Menschen Existenzchancen geben, Robinsonaden. Man muß dazu zunächst, wie die Sage es mit Romulus und der Wölfin tut, den Menschen in eine ‚ideale‘ Umwelt hineinsetzen, unter optimale Klimabedingungen, ohne Feinde, mit zugriffsbereiter Nahrung, in eine ‚pazifistische‘ Natur. Das heißt nur: man denkt die Pflegebedingungen der Gemeinschaft in die ‚Natur‘ hinein – ein nur für das Problem der Entstehung des Menschen wichtiger Gedanke. Aber damit wäre eigentlich noch nichts gewonnen! In einer solchen Schlaraffennatur, deren ein Robinsonkind bedürfte, würde es umgehend entarten, denn es fehlte ja mit der Zucht der Widerstand der Welt, der seine Antriebe an Mißerfolgen, Anpassungen, Durchsetzungen gegeneinander und Verwerfungen erst höher treibt. Unter dem Druck nicht beanspruchter und formierter Kräfte, die es bloß in Genuß umleiten könnte, würde ein solches Wesen in Selbstzerstörung enden. Es ist ganz belehrend, eine Utopie einmal durchzudenken.“ (Gehlen, Mensch, S. 507, vgl. ebd., S. 64). 26 Siehe zur Begründung ausführlich die unten folgenden Kapitel VI.2. bis VI.5. 27 Gehlen, Mensch, S. 452. 28 Gehlen, Mensch, S. 452 f. 29 Gehlen, Mensch, S. 453. 30 „Doch hat mich erst das Studium des von Carl Schmitt (Die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens) zitierten Maurice Hauriou (La Théorie de l’Institution et de la Fondation, in: La cité moderne et les Transformations du Droit, Paris 1925) auf die ent-
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beschreibung ist allerdings ebenfalls nicht stimmig, weil Gehlen den Begriff der Institution, wenn auch noch kaum expliziert, schon im Jahr 1935 eingeführt hat31 – also bereits ein Jahr nach Carl Schmitts Schrift Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens32 und nicht, wie rückblickend suggeriert, erst nachdem mehrere Auflagen von Der Mensch erschienen waren. Auch deutet der oben diskutierte Text aus dem Jahr 1935 verschiedene, später als „Probleme des Geistes“ betitelte Fragestellungen der Religion, der Kunst, der Wissenschaft, des Rechts oder der Politik gerade im Hinblick auf deren Institutionalität an.33 Trotz der produktiven Einsichten, die mit dieser Abstraktion im Hinblick auf die feingliedrige Analyse der sensomotorischen Kreisprozesse des Kleinkindes erreicht werden mögen, erscheint es fraglich, dieses Modell als Grundlage für eine Gesamtinterpretation der elementaren Handlungslehre anzusetzen. Schließlich ist nicht einzusehen, warum der Begriff der Situation angeblich zugunsten einer abstrakten Modellbetrachtung des isolierten Einzelnen, eines gestrandeten „Robinson“, fallengelassen werden mußte, nur um genau dies später wieder zu revidieren: denn hinsichtlich der „obersten Führungssysteme“ – an welcher Bezeichnung Gehlen festhielt, wie er betont34 – „erscheint es unzulässig, eine direkte Beziehung dieser Führungssysteme auf die biologische Konstitution des Menschen (auch im weiteren Sinne des Wortes) herzustellen“35. Diese Beziehung sei vielmehr immer sozial, genauer gesagt: institutionell vermittelt: „Es wurde hier [in den früheren Auflagen von Der Mensch, AH] also die Leistung oder Rückwirkung religiöser Vorstellungen auf die individuelle Antriebssphäre hervorgehoben. Damit wird in einer Art ‚Kurzschluß‘ die gesamte gesellschaftliche Welt sozialer Institutionen ausgeklammert […]“36.
Der Fehler, der auf den angeblichen Ausgangspunkt eines modellhaften Abstraktums des einzelnen Handelnden zurückgeht, wird nun unschädlich gemacht, indem Gehlen das „metaphysische“ bzw. genauer das „ideative“37 Bewußtsein als „einer dritten (ontologischen) Form“38 der Teleologie sowohl der Zweckrationalität als auch dem Verstehen entgegenstellt. Die ontologische Teleologie, deren „Schöpferkraft [sich] […] in der Gründung von Institutionen ausweist, die wesensmäßig scheidende Tatsache hingewiesen, daß ein Führungssystem (‚Idee directrice‘) stets das einer Institution ist, daß also mit anderen Worten ein Führungssystem (wie z. B. das puritanische Christentum oder die konfuzianische Ethik) wissenschaftlich und objektiv nur in bezug auf die gesellschaftlichen Institutionen verstanden werden kann, in denen es lebte. Die Soziologie bestätigte diese These auf Schritt und Tritt“ (Gehlen, Mensch, S. 453 f.). 31 So auch Firsching, Moral, S. 213, Anm. 54. 32 Siehe Schmitt, Über die drei Arten. Vgl. dazu unten Kap. VIII. 33 Vgl. oben Kap. VI.1.a). 34 Vgl. Gehlen, Mensch, S. 453. 35 Gehlen, Mensch, S. 454. 36 Gehlen, Mensch, S. 454. 37 Gehlen, Mensch, S. 467. 38 Gehlen, Mensch, S. 466.
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in einer idée directrice, einer Führungsidee zentrieren“39, wird also sowohl von der Teleologie der instrumentellen Zweckrationalität (Zwecktätigkeit) als auch von der subjektiven Teleologie (Zweckmäßigkeit), derer sich das Verstehen bedient,40 unterschieden, und zwar, wie Gehlen betont, in Form der „Realrepugnanz“ (Kant), also nicht logisch negierend, sondern wirklich abstoßend.41 Die mit dieser Kategorie der objektiven Teleologie zu erfassenden Phänomene sind also weder als Resultate zweckrationalen Handelns erklärbar noch dem subjektiven Verstehen zugänglich. Die objektivierende Einstellung versagt hier. Gehlen geht vielmehr davon aus, daß sich die Kategorien des institutionengründenden (ideativen) Verhaltens kategorial mit „gewissen potentiellen übergreifenden Kategorien der organischen und menschlichen Welt decken“, das heißt diese „im Vollzuge ‚treffen‘ und realisieren“42. An dieser Stelle führt Gehlen die in der Institutionenlehre zentrale Kategorie der sekundären objektiven Zweckmäßigkeit ein: „Eben dieses ‚Treffen‘ legt sich aus in der überraschenden […] objektiven Zweckmäßigkeit, die nun festzuhalten und auf Dauer zu stellen der wesentliche Inhalt der fundamentalen Insti39
Gehlen, Mensch, S. 467. die instrumentelle Zwecktätigkeit als auch das subjektiv-hypothetische Prinzip der Zweckmäßigkeit sind Formen der einfachen Reflexion. Vgl. dazu Günther, Metaphysik der Institution, S. 23. Jansen, Arnold Gehlen, führt aus, daß der Begriff der Zweckmäßigkeit der Natur nach Kants Kritik der Urteilskraft ein subjektives, ausdrücklich methodisch-hypothetisches Prinzip ist, mit dessen Hilfe die kausal nicht erkennbare Einheit eines Organismus (einer Pflanze, eines Tieres) dadurch zum Thema gemacht werden kann, daß diesem in seinem Umweltverhältnis Zweckmäßigkeit unterstellt wird. Weil die Struktur des Organismus so betrachtet wird, als ob dieser zweckmäßig eingerichtet wäre, können hypothetische Aussagen über diesen getroffen werden. Nach Kant darf solche subjektiv unterstellte Zweckmäßigkeit nicht mit objektiver Zwecktätigkeit verwechselt werden. Denn sonst verwandele sich der subjektiv-hypothetische Als-ob-Charakter der Zweckmäßigkeit des Organismus unter der Hand in ein objektives Resultat einer absichtsvollen Zwecktätigkeit. Die Natur werde dann, so Jansen, zu einer Art höheren Dritten, zu „einer Art Person“ (Jansen, Arnold Gehlen, S. 78) hypostasiert, welche den infrage stehenden Organismus ‚gemacht‘ habe. Genau darauf weise nun, so Jansen weiter, bezüglich des menschlichen Organismus Gehlens These vom Menschen als „Gesamtentwurf der Natur“ (Gehlen, Mensch, S. 9) hin. Eine andere Möglichkeit wäre, daß Gehlen im Vergleich zu Kant über einen ganz anderen Begriff der Natur verfügt, der die von Jansen angemahnte Berücksichtigung der doppelten Reflexion gewissermaßen einverleibt (vgl. dazu Gehlen, Deutschtum). 41 Vgl. zur Realrepugnanz auch folgende dunkle Anmerkung Luhmanns: „Zum Beispiel wird Raum dadurch konstituiert, daß man davon ausgeht, daß zwei verschiedene Dinge nicht zur gleichen Zeit die gleiche Raumstelle einnehmen können. […] Das Verhältnis sozialer Systeme zur Konstitution von Raum bedürfte im Anschluß an dieses Konzept von Widerspruch genauerer Klärung. Einerseits finden soziale Systeme die Realrepugnanz anderer Systeme mitsamt einer räumlichen Autopoiesis des Lebens immer schon vor (genau so wie sie die Irreversibilität der Zeit vorfinden). Andererseits ist die Vorstellung des Raumes als durch Raumstellen organisierte Widerspruchsvermeidung ihre Leistung.“ (Luhmann, Soziale Systeme, S. 525 u. ebd., Anm. 54). 42 Gehlen, Mensch, S. 477. Gehlen reformuliert damit die Abschlußthese aus seiner Theorie der Willensfreiheit (vgl. oben V.4.). 40 Sowohl
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tutionen ist […]“43, wozu wesentlich ein sichtbarer Ausdruck, ein Symbol, gehört.44 An dieser Symbolhaftigkeit macht Gehlen (am Beispiel des Totemismus) die soziale Vermittlung fest, die den Fehler des Kurzschlusses beheben soll. Gehlens rückblickende Selbstdarstellung auf die von ihm angeblich begangenen Irrtümer und Revisionen, die wir hiermit rekapituliert haben, ist für die Rezeption seiner Werke sehr einflußreich geworden, weil sie sogar von seinen Kritikern gern unbesehen übernommen wurde. So meint etwa Hans Joas aufgrund des mit dieser „rückblickenden Selbstdarstellung“45 verbundenen Plädoyers Gehlens, daß für weitere Forschungen an besagtem Robinson-Modell feszuhalten sei, in Gehlens Handlungslehre einen „traditionell individualistischen“46 Ausgangspunkt finden zu können. Das würde freilich den Sinn aller vorher verfaßten Werke Gehlens auf den Kopf stellen. Gleichwohl behauptet Joas, daß es dieser von ihm ausgemachte traditionell-individualistische Ausgangspunkt wäre, der Gehlen zu einem „mangelhaften Begriff[] von Intersubjektivität“47 verleite. Doch gibt Joas immerhin zu, daß ihn „irritiert, daß Gehlen häufig und gerade im Zusammenhang der Erwähnung Meads oder Deweys vom kommunikativen Charakter aller seelischen Vorgänge und aller Erfahrung spricht“48. Joas bezieht sich auf jene, der angeblichen Modellgrundlage des Robinson radikal widersprechende Stelle in Der Mensch, an der es heißt, der Pragmatismus seit Hobbes, besonders aber bei Dewey, vertrete die „Grundthese, daß alle seelischen (wir würden sagen: vitalseelischen) Vorgänge Kommunikationscharakter zeigen […]: das Besondere menschlichen Handelns ist das Handeln zu zweien, auch vorsprachlich; in seelischen Vorgängen findet stets Rede statt“, sodaß „‚Handeln auf ein Du hin‘ die Grundstruktur alles Seelischen ist“49. In der von Joas herangezogenen Ausgabe letzter Hand heißt es direkt weiter: „In die Rolle dieses Du rückt jedes beliebige Ding, so können wir sagen, dann ein, wenn wir es ‚in Erfahrung ziehen‘.“50 An den letzteren Satz, der sich in der ersten Ausgabe nicht findet, knüpft Joas die Kritik, daß Gehlen die Kommunikation auf ein Du hin letztlich einer übergeneralisierten Dingerfahrung unterordne, sodaß er „den ursprünglich intersubjektivistischen Sinn des Gedankens vom kommunikativen Charakter der Erfahrung damit verdeckt“51. Das heißt, die Dingerfahrung sei von der Intersubjektivität her zu rekonstruieren, nicht aber umgekehrt, wie es Gehlen tut. Diese 43
Gehlen, Mensch, S. 477. Gehlen, Mensch, S. 471 u. 474. 45 Joas, Intersubjektivität bei Mead und Gehlen, S. 108. 46 Vgl. Joas, Intersubjektivität bei Mead und Gehlen, S. 108. 47 Joas, Intersubjektivität bei Mead und Gehlen, S. 106. 48 Joas, Intersubjektivität bei Mead und Gehlen, S. 112. 49 Gehlen, Mensch, S. 191. Vgl. ebd., S. 579 f. 50 Gehlen, Mensch, S. 191. 51 Joas, Intersubjektivität bei Mead und Gehlen, S. 112. Vgl. auch Wöhrle, Metamorphosen, S. 176. 44 Vgl.
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Mahnung geht zwar für sich genommen in die richtige Richtung, doch in der von Joas nicht konsultierten ersten Auflage heißt es mit Blick auf das vom Pragmatismus akzentuierte „Handeln auf ein Du hin“ als „Grundstruktur alles Seelischen“: „Das ist richtig, aber nicht genug. In allen menschlichen Leistungen, von den Bewegungen an, erscheint dieser Kommunikationscharakter, er bezeichnet also nicht das ‚Seelische‘, sondern das ‚Menschliche‘. In allen Vollzügen ist die Unterscheidung des Seelischen vom Leiblichen unmöglich.“52
Gehlens Kritik am amerikanischen Pragmatismus, die in den späteren Auflagen weitgehend getilgt ist, liegt die Auffassung zugrunde, daß diesem eine systematische Reflexion auf die Unterscheidung von Reflexion und Handlung fehlt, sodaß er bloß einen „umgekehrten Rationalismus“53 darstellt: statt der Absolutsetzung theoretischer Wahrheit setzt er – ähnliches könnte man gegen Marx einwenden – die praktische, auf Veränderung oder Problemlösung gerichtete Absicht absolut: „Gegenüber bestimmten geistigen Erscheinungen versagt der ‚Pragmatismus‘“54. Joas mißt Gehlen an einer Problemformulierung, nach der es um die Vereinigung unterschiedlicher sozialer „Perspektiven auf Gegenstände[…] zu einem umfassenden Bild des Gegenstandes“55 gehen würde. Deutlicher kann man nicht demonstrieren, daß man in der klassischen Haltung des Erkennens verharrt, die zu keinem Begriff von Handlung fähig ist. Deshalb wird Gehlens Ansatz von Joas’ Kritik gar nicht getroffen.56 Gehlen thematisiert ja die Dinge nicht unter dem Aspekt ihrer Objektivität gegenüber einem Ich, sondern unter dem Aspekt des Gegenübers eines handelnden Du. Bei Joas, auch wenn er sich selbst für einen Handlungstheoretiker hält, ist die Problemstellung jedoch von vornherein erkenntnistheoretisch orientiert, was wie gesehen eine ganze Reihe von Verzerrungen nach sich zieht. Schon bei Mead schließt die Vielheit der Mich-Perspektiven „ein fiktives ‚Ich‘ ein, das sich nie selbst in den Blick bekommt“57. Das Du im Sinne Gehlens (und Günthers) ist aber keinesfalls eine objektive Perspektive auf ein ungreifbares Ich, sondern es „‚ist‘ immer das Ich in thematischer Umkehrung“58 52
Gehlen, Mensch, S. 580 (in der Ausgabe letzter Hand nicht enthalten). Gehlen, Mensch, S. 644. Vgl. ebd., S. 656 f. u. Günther, Idee und Grundriß, S. 71 f. 54 Gehlen, Mensch, S. 580. 55 Joas, Intersubjektivität bei Mead und Gehlen, S. 114 (Hervorh. hinzugefügt). 56 Liest man Gehlen vom deutschen Idealismus und nicht vom amerikanischen Pragmatismus her, dann könnte man sogar sagen, daß Gehlen in der Anthropologie nicht den Umgang mit den Dingen auf die Kommunikation mit dem lebendigen Anderen überträgt, sondern daß er wie Schelling umgekehrt davon ausgeht, daß die „Unterschiede, die wir zwischen den Dingen wahrnehmen, […] nicht darin [bestehen] […], daß einige absolut willenlos, andere dagegen mit Willen begabt sind. Der Unterschied besteht nur in der Art des Wollens. Z. B. der sogenannte todte Körper will eigentlich nur sich, er ist von sich selbst gleichsam erschöpft und eben darum impotent nach außen […]“ (Schelling, Philosophie der Offenbarung, S. 206). Das mag hier aber dahingestellt bleiben. 57 Mead, Gesammelte Aufsätze, S. 240. 58 Günther, Metaphysik, Logik, S. 67. 53
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– in thematischer Umkehrung, das heißt nicht als Erkennen, sondern als Handeln. Dabei erfahren nicht nur die Relationsglieder eine Umtauschung, sondern die Relation selbst ändert ihren thematischen Sinn. Letztlich geht es Gehlen nicht darum, wie Joas meint, durch Integration vieler Perspektiven „der Eigenstruktur der Dinge in einer universalen Weise gerecht werden zu können“59. Joas übersieht, daß die handlungstheoretische Ausgangsfragestellung im Umgang mit den Dingen gar nichts mit dem erkenntnistheoretischen Problem einer adäquaten Bestimmung von Gegenständen zu tun hat. Alles in allem überrascht es nicht, daß die Frage hoch umstritten ist, inwieweit die vierte, umgearbeitete Auflage gegenüber den älteren Versionen von Der Mensch (und damit auch indirekt im Hinblick auf die spätere Institutionenlehre) wirklich neue Auffassungen und Begriffe präsentiert.60 Die im Zuge der Selbstrevision vorgenommene Ontologisierung, die unmittelbar mit Gehlens Zurückweisung der doppelten Reflexion und dem dadurch entfallenen Gegenwartsbezug
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Joas, Intersubjektivität bei Mead und Gehlen, S. 114. Nach Joachim Fischer sind die Änderungen zwar erheblich, berühren aber nicht den philosophisch-anthropologischen „Argumentationskern“ (Fischer, Philosophische Anthropologie, S. 228 u. 230). Es entfallen die Bezugnahmen auf den Nationalsozialismus, und Gehlen übernehme Meads Sozialtheorie (vgl. ebd., S. 229). Als wichtigste Veränderung macht Fischer die Einführung des Begriffs der Institution namhaft, der den Begriff des obersten Führungssystems zwar nicht ersetze, aber die obersten Führungssysteme nun als „verankert in den ‚Institutionen‘“ (vgl. ebd., S. 230) vorstelle. Ganz anders wird die Situation von Patrick Wöhrle eingeschätzt. Seiner Ansicht nach sind die handlungstheoretisch relevanten Überlegungen, die Gehlen schließlich zu seiner Institutionenlehre führen, „erst Resultat der mehrfachen Modifikationen, die er nach dem Ende des Dritten Reiches am faschistischen Konzept der ‚Obersten Führungssysteme‘ vornimmt“ (Wöhrle, Metamorphosen, S. 35). Nach Wöhrle fehlt in den früheren Ausgaben der systematische Bezug zwischen den Einzelhandlungen und den obersten Führungssystemen (vgl. ebd., S. 36), sodaß ein Bruch zwischen elementarer Anthropologie und Institutionentheorie konstatiert werden müsse. Vor allem das rituell-darstellende Verhalten als sozialkonstitutiver Kern der Institutionentheorie befinde sich in einem Gegensatz zu dem weltverfügenden zweckrationalen Handeln, auf das die elementare Anthropologie schließlich zulaufe (vgl. ebd., S. 79). KarlSiegbert Rehberg nimmt eine dritte Position ein. Er beurteilt die Überarbeitung zwar ebenfalls als „tiefgreifende Neufassung“ (Rehberg, Grundlagentheorie der Institutionen, S. 121), die aber „eher als Nachträge, denn als Revisionen präsentiert“ werden (Rehberg, Nachwort, S. 878, vgl. auch Lepenies, Handlung und Reflexion, S. 42), denn es werde „die anthropologisch fundierte Sozialtheorie nun konsequenter […] durchdacht“ (Rehberg, Grundlagentheorie der Institutionen, S. 121 f., Hervorh. hinzugefügt). Das heißt, die erste Fassung enthält mit der „Lehre von den ‚obersten Führungssystemen‘“, ausgehend vom Verhältnis von „Antriebsüberschuß“ und dem „Gesetz der ‚Zucht‘“, tatsächlich bereits eine „Sozialtheorie“ (Rehberg, Grundlagentheorie der Institutionen, S. 117). Der „Neuansatz“ (ebd., S. 122) der Überarbeitung bestehe in der Einführung eines Begriffs der Institutionen, der jenseits des zweckrationalen Handlungsverständnisses ansetzt, und der über die Theorie des Totemismus und des gemeinschaftskonstituierenden rituell-darstellenden Verhaltens entfaltet wird (vgl. ebd., S. 123 ff.). 60
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zusammenhängt, ist überwiegend auf heftige Ablehnung gestoßen.61 In genuin soziologischen Denkzusammenhängen ist die Problematik der objektiven Teleologie vergleichbar mit dem von Gehlen mehr oder weniger offen vertretenen, rigiden ordnungstheoretischen Funktionalismus, der vor allem als Argument gegen die subjektive, handlungs- und institutionenzersetzende Reflexion herhalten muß.62 Im Hinblick auf dieses Problem unterscheidet Rehberg zwei Aspekte des Begriffs des „Mängelwesens“: dieser habe zum einen, weil er gerade nicht als „‚Substanzbegriff‘“63 mißverstanden werden dürfe, einen „transitorischen“64, zum anderen einen „‚begriffspolitischen‘“65 Sinn. Das Transitorische des Begriffs des Mängelwesens bestehe in seiner heuristischen Funktion, anhand der Unterscheidung von Mensch und Tier „Vergleichsmöglichkeiten“66 zu erschließen. Zugleich aber bilde Gehlens Rede vom Mängelwesen begriffspolitisch den „suggestiven Ausgangspunkt seiner Ordnungstheorie […] Denn nur, wenn der Mensch mit seiner mangelnden Organ-Spezialisiertheit als ein fragiles, gefährdetes, ‚entartungsbereites‘ und ‚riskiertes‘, also: auf Kompensation angewiesenes Wesen aufgefaßt wird, werden die Mittel der Selbststabilisierung […] zu Notwendigkeiten des Überlebens, gegen die jeder kritische Einwand als funktionsbedrohend zu verstummen hat“67. 61 Soweit ich sehe, bildet Samson, Naturteleologie, die einzige Ausnahme. Er begrüßt Gehlens Begriff der ontologischen Teleologie ausdrücklich als einen Beitrag zur metaphysischen Erneuerung des teleologischen Denkens. Die Gegenposition dazu vertritt Jansen, Arnold Gehlen, der mit Litt, Anhang, statt der Ontologisierung die Berücksichtigung der doppelten Reflexion fordert. 62 Vgl. Rehberg, Ansätze, Rehberg, Nachwort. 63 Gehlen, Mensch, S. 8. 64 Gehlen, Mensch, S. 8. 65 Rehberg, Nachwort, S. 765. 66 Rehberg, Nachwort, S. 765. 67 Rehberg, Nachwort, S. 765. Dies ist auf die bereits angedeutete Doppeldeutigkeit des Zweckbegriffs zurückzuführen, denn Zwecke können entweder als subjektive Zwecke auf den Menschen als Einzelwesen oder als objektive Zwecke auf den Menschen als Gattung bzw. „die Natur“ und darüber vermittelt auch auf die Institutionen bezogen werden: „Da Gehlen den Zweckbegriff aber als eine perspektivische Dublette verwendet, vermag er zwischen subjektiver Zweckfreiheit auf der Motivationsebene und ‚objektiver‘ Zweckdienlichkeit einen Bedingungszusammenhang zu stiften, der einen Funktionalismus der besonderen Art aufweist. Dieser Bedingungszusammenhang fällt auf der einen Seite zwar dezidiert antiutilitaristisch aus, auf der anderen Seite jedoch bleibt er zugleich auf eine abstraktere Nützlichkeitsdimension kultureller Leistungen fixiert, die nach den nunmehr substanziell dramatisierten Ausgangsbedingungen des ‚Mängelwesens‘ und deren manifesten Kompensationsmöglichkeiten fragt. In dieser Doppelung des Zweckbegriffs nun, die die objektive Zweckmäßigkeit subjektiver Zweckfreiheit zum Prinzip macht, drückt sich eine höchst folgenreiche und in weiten Teilen aporetische Denkhaltung aus […]“ (Wöhrle, Metamorphosen, S. 148). Patrick Wöhrle sieht vor diesem Hintergrund eine „latente Theoriestrategie“ (ebd., S. 147) Gehlens am Werk, die den grundlegenden, zweckfreien Aspekten des Handelns immer schon eine herrschafts- und ordnungsbezogene Funktion zukommen und zudem „die heuristische Funktion seines Mängelwesentheorems […] immer dann zum dramatisch zu-
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Rehberg verknüpft nun die Kritik an der Substantialisierung des Mängelwesens mit dem schwierigen Problem des Selbstbezugs der Soziologie. Dieser soll, das ist Rehbergs Programm, durch den Rückbezug auf eine individuelle „Perspektive der Betroffenheit“ gewährleistet werden.68 Indem die Institutionenanalyse von der Perspektive der Betroffenheit ausgeht, das heißt, den Zwangscharakter der Institutionen in Rechnung stellt69, wird zugleich das Problem der „Situierung jeder Soziologie“70 in ihrem Gegenstandsbereich berücksichtigt. Für die Berücksichtigung dieser Beteiligung des Beobachters am Beobachteten „[soll] die subjektive Perspektive […] eine Formel sein. Sie soll festhalten das Subjekthafte am Forschen […]“71. Im Unterschied zu den frühen Schriften der Leipziger Schule wird also in Rehbergs Theorie deren Selbstbezug gerade nicht durch Verwerfung der subjektiven Reflexion zugunsten der Bejahung der institutionellen Formung des Willens konstituiert. Sondern die subjektiv-individuelle Betroffenheit soll als Maßstab und mögliches Korrektiv gegen einen Funktionalismus dienen, der in der anthropologischen Zuspitzung nur noch die Entlastung, nicht aber die damit einhergehenden Belastungen der Herrschaft wahrzunehmen vermag, obwohl es doch denkbar ist, daß „die Belastungen und Imperative das Entlastungsmoment, auf das sie zielen, […] selbst zerstören“72. Es geht also, könnte man sagen, um eine Bestimmung der Grenzen institutioneller Geltung, die Schelskys Problemaufriß einer transzendentalen Soziologie ganz nahe steht.73 Nicht zuletzt im Einklang mit der kontroversen Rezeption sprechen deshalb mehrere Gründe gegen Gehlens Darstellung seiner Umstrukturierung seiner Theorie bzw. sogar gegen diese Umarbeitung selbst. So fragt Manfred Lauermann gelegentlich mit Blick auf Der Mensch, „ob die Fassungen nach 1945 nicht teilweise
gespitzten Drohhintergrund werden lässt, wenn stabilisierungs- und ordnungstheoretische Fragestellungen einsetzen. […] Damit schiebt sich allerdings in die Phänomenbeschreibungen Gehlens unmerklich ein hochgradig funktionalistisches Verständnis der menschlichen Kulturleistungen ein“ (ebd., S. 144). Auf diese Weise schleiche sich in Der Mensch eine „untergründige[] Tendenz“ (ebd., S. 64) ein, durch welche die Beschreibungen der Handlung als zweckfreier Umgang mit den Dingen „auf einen anders gelagerten Handlungstyp hin finalisiert“ (ebd., S. 54) werden, nämlich hin auf eine „verfügende Weltbemächtigung“ (ebd., S. 65). Letzteres sei nichts weiter als jenes „konventionelle[] Handlungsverständnis, das Max Weber idealtypisch als zweckrationales fasste“ (ebd., S. 67). 68 Vgl. Rehberg, Ansätze, Rehberg, Grundlagentheorie der Institutionen, Rehberg, Institutionen als symbolische Ordnungen, Rehberg, Institutionen, Kognitionen, Symbole. 69 Vgl. Rehberg, Ansätze, S. 22, 64 ff., 113 ff., 153 ff., Rehberg, Grundlagentheorie der Institutionen, S. 134 ff., Rehberg, Institutionen als symbolische Ordnungen, S. 56 ff., Rehberg, Institutionen, Kognitionen, Symbole, S. 46 ff. Vgl. zur Einordnung Wöhrle, Metamorphosen, S. 380 ff. 70 Rehberg, Ansätze, S. 66 (Hervorh. hinzugefügt). 71 Rehberg, Ansätze, S. 66. 72 Rehberg, Ansätze, S. 87. 73 Vgl. Schelsky, Ortsbestimmung.
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theoretische Innovationen zurücknehmen“74. Insbesondere hinsichtlich der aufgezeigten Ontologisierung der Teleologie und der Substantialisierung des Mängelwesens trifft diese Befürchtung zu. Neben den bereits genannten Unstimmigkeiten in Gehlens Selbstdarstellung (Robinson-Modell als Utopie und Vorbild, Einführung des Institutionenbegriffs 1935 und (Wieder-)Entdeckung 1950) liefert das von Gehlen rekonstruierte Relativismusproblem im Zusammenhang mit der Situativität des Handelns einen weiteren Einwand. Die Rekonstruktion des Relativismus- bzw. Reflexionsproblems unterscheidet sich 1950 nicht von der Auffassung jener frühen Schriften in den 30er Jahren75, hatte damals jedoch die Pointe der Reflexion auf die Reflexion, welche nun rückblickend als „inhaltslos“ abgelehnt wird, „denn alle Inhalte liegen in den beiden Strukturen, über die sie sich erhebt“76. Gehlens Argument ist hierbei das folgende: „Die einfache Reflexion bezieht Tatsachen oder Phänomene, die doppelte bezieht Beziehungen. Sie ist daher in zweiter Potenz auf schon vorhandene Tatsachen angewiesen.“77 Gehlen nennt hier freilich nur die eine Bestimmung der doppelten Reflexion, die Inhaltslosigkeit; die andere Bestimmung ist nach der Theorie der Willensfreiheit die Totalität78, sodaß man sagen kann, daß die zentrale These der frühen Schriften lautet, daß die doppelte Reflexion gegenüber dem irreflexiven Sein eine neue Form für eine andere Art von Inhaltlichkeit findet: das Sein des Willens. Seine Selbstberichtigung lautet weiter, daß man durch die Reflexion auf die Reflexion nicht über das hinauskomme, was die empirische Einstellung ohnehin schon liefere. Der Kurzschluß, den Gehlen an den früheren Auflagen von Der Mensch kritisiert, führe also in letzter Instanz auf den Kurzschluß zwischen der doppelten Reflexion und der (biologischen) Wirklichkeit der Handlung: „Es war gerade dieser Perfektionismus, die Eleganz der dialektischen Methode genau derselben Art, die mich veranlaßte, sie liegen zu lassen, nachdem ich sie selbst (Theorie der Willensfreiheit, 1933) gehandhabt hatte.“79 Solche Ansätze seien nun „mit Recht vergessen“80, weil es sein könne, „daß es zweckfreie geistige Handlungen und Schöpfungen gibt, welche sowohl für unser Leben im empirischen, irdischen Sinne, als auch für unser Leben im metaphysischen oder göttlichen Sinne vollständig belanglos sind“; die Crux sei: „Es gibt noch kein sicheres Kriterium dafür, welche Gestaltungen des Geistes sich eine metaphysische Bedeutung bloß anmaßen und welche sie haben.“81
74
Lauermann, Das Soziale im Nationalsozialismus, S. 49, Anm. 50. Gehlen, Idealismus und Existentialphilosophie, S. 385 ff., Gehlen, Wirklichkeitsbegriff des Idealismus, Gehlen, Der Idealismus und die Lehre vom menschlichen Handeln. 76 Gehlen, Mensch, S. 464. 77 Gehlen, Stellungnahme, S. 97. 78 Vgl. Gehlen, Willensfreiheit, S. 135 f. 79 Gehlen, Stellungnahme, S. 98. 80 Gehlen, Stellungnahme, S. 96. 81 Gehlen, Stellungnahme, S. 96. 75
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Die wenn nicht metaphysisch verbindliche, so doch lebensstabilisierende Relevanz bestimmter geistiger Handlungen erweise sich immer erst nachträglich aus den sekundären, rückwärts stabilisierend wirkenden unbeabsichtigten und zusätzlichen „Folgezweckmäßigkeiten“82 institutioneller Formen. Weil Gehlen aber eine Institutionentheorie hochkultureller Erscheinungen schuldig bleibt,83 fallen ihm jetzt aber nur noch archaische Beispiele wie Totemismus, Viehzucht und Ackerbau ein, die eine epochale sekundäre Zweckmäßigkeit abwarfen; die Gegenwart hingegen leide unter der Dauerkritik durch subjektive Zweckerwartungen, welche die Reste bestehender Institutionen fortwährend zersetze. Von einer Problematisierung Gehlens Selbstrevision her, das heißt von einer Problematisierung der ontologischen Teleologie her, ergeben sich auch Folgerungen für den Begriff der Situation. Man könnte sagen, daß Gehlen den Begriff der Situation ontologisiert. Seine Behauptung, er hätte in der anthropologischen Handlungslehre auf den Begriff der Situation verzichtet, ist jedoch unzutreffend. Vielmehr wird dieser in der Handlungslehre durchgehend und systematisch verwendet.84 Er dient aber nun als Folie, die zunehmende Ablösung des Handelns von seiner Situationsgebundenheit als Moment der Entlastung im Zuge der Handlungsformierung aufzuzeigen.85 Die konstitutive Belastung des Menschen wird aber in der Anthropologie nicht unter dem Begriff der Situation, sondern biologisch gefaßt: der Mensch als Einheit ist gefährdet bzw. er kann nur unter dem Blickwinkel seiner Gefährdung als Einheit („Gesamtentwurf“) betrachtet werden. Hält man hingegen am Begriff der Situation fest, gewinnt dieser durch die Formel vom Menschen als „Gesamtentwurf der Natur“ indirekt einen Zusatzsinn, der wesentlich ist: eben den der „Riskiertheit“86. Der Vorschlag ist deshalb, die Handlungslehre auf dem nicht-ontologischen Begriff der existenziell bedrohlichen, außeralltägliche87 Situationen bewältigenden Tat aufzubauen.88 Die Anthropobiologie ist dann eine mögliche Richtung der Spezifikation des Handlungsbegriffs, aber grundsätzlich von theoretisch untergeordnetem Rang.89
82
Gehlen, Stellungnahme, S. 96. Siehe dazu auch unten. 84 In der Ausgabe letzter Hand findet sich über das Verhältnis von Ding und Handlung sogar der Satz: „Das Subjekt dieser Vorgänge ist eigentlich weniger die Person als die Situation, das zwischen Person und Sache sich entwickelte Geschehen“ (Gehlen, Mensch, S. 217). 85 Vgl. Gehlen, Mensch, S. 163, 165 ff., 232, 347 ff., 293 ff., 494 f., 500, 681. 86 Gehlen, Mensch, S. 63 f. u. S. 454. 87 Die im Frühwerk oft betonte Rolle der Außeralltäglichkeit konserviert Gehlen in Formulierungen wie der von der „Sonderstellung“ (Gehlen, Mensch, S. 6 ff., 12 ff., 95 ff., 113 ff.), der „Ausnahme-Konstitution“ (ebd., S. 77, vgl. ) oder Einmaligkeit (ebd., S. 9, 13, 37,114, 129, 143) des Menschen. 88 Vgl. ähnlich auch Lipp, Mimesis oder Drama. 89 Vgl. Freyer, Machiavelli und die Lehre vom Handeln, S. 169 sowie Freyer, Weltgeschichte, S. 169 f. 83
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Das heißt, was vom Reflexions- bzw. Relativismusproblem her gesehen in den frühen Schriften als außeralltägliche Situation gedacht wird (in der die transzendentale Handlung bzw. doppelte Reflexion vollzogen wird), wird nun zu einer biologischen Gefährdung hypostasiert. Allerdings gilt dies nur für die Selbstrevision. Die erste Auflage Des Menschen enthält demgegenüber eine ausdrückliche Distanzierung von jeder ontologischen Denkform. Gehlen verwirft frühere Formen der Anthropologie (etwa Schelers) als „ontologisch, d. h. sie denken in Gegenstandsbegriffen objektiver Art. Der Mensch wird in die objektive Welt hineingedacht und erscheint als Teil oder Stück dieser Welt.“90 Dem hält Gehlen in der ersten Auflage „die ‚funktionale‘, die Vollzugsbetrachtung“ entgegen, die „sich der ontologischen gegenüber als fruchtbar erweist“91. Durch diese Ablehnung der Ontologie bleibt der Rückbezug des Konzepts des Menschen als „Gesamtentwurf der Natur“ auf die doppelte Reflexion und damit auf den Begriff der Situation möglich, auch wenn dies in Der Mensch nicht mehr eigens thematisiert wird. Dies wird auch von Horst Firsching so gesehen, der bemerkt, daß „die Entsicherung der Antriebsstruktur“ keineswegs zwingend als Gesamtentwurf der Natur konzipiert werden muß, sondern schon „in der Neinsage- und Verwerfungsfreiheit“ gedacht wird, von der her sich „allererst die Frage nach dem Willen und seiner Freiheit stellen läßt. […] Dieser Willensbegriff wird nun in die Anthropologie hineingeholt.“92 Deswegen ist auch nicht einsichtig, warum der Begriff der Situation entfallen müßte, wenn der Mensch als gefährdetes bzw. riskiertes Wesen bestimmt wird. Das größte Problem, das sich Gehlen mit der in der Selbstrevision vollzogenen Ontologisierung einhandelt, ist der Verzicht auf die doppelte Reflexion, die er seit 1950 als nur noch geisteswissenschaftlich relevant einstuft.93 Damit aber verbaut er sich systematisch die Verbindung zur Institutionenlehre,94 in welcher ja die Reflexion als institutionenbedrohendes Problem wieder auftaucht! Daß am Begriff der Situation festgehalten werden sollte, zeigt mithin ein Blick auf die Institutionenlehre. Wolfgang Lipp hat darauf hingewiesen, daß in Urmensch und Spätkultur die in Wirklicher und unwirklicher Geist entwickelte „wirklichkeitswissenschaftliche Position“, die „das Handeln […] nicht ‚in der Vor90
Gehlen, Mensch, S. 491. Gehlen, Mensch, S. 491. 92 Firsching, Moral, S. 221. Weiter heißt es: „Der Wille ist kein besonderes Vermögen des Menschen, sondern ist jedem Handeln immanent. Handeln und Wollen setzen sich gegenseitig voraus, und der Mensch ist ein handelndes und wollendes Wesen zugleich. Wollen ist also ‚das Urphänomen Mensch selbst. ‚Wollen‘ ist die Struktur der Handlungen eines unspezialisierten, nichtfestgestellten, entlasteten, eines sich selbst thematischen Wesens‘ [vgl. Gehlen, Mensch, S. 431]“ (Firsching, Moral, S. 221). Und weiter: „Man sieht, daß die Herstellung einer fraglosen Sicherheit des Seins nicht mehr aus einer ‚Reflexion auf die Reflexion‘ erwächst, sondern aus einem objektivierten, biologisch begründeten und in der Natur des Menschen selbst liegenden, also seienden Zustand abgeleitet wird“ (Firsching, Moral, S. 222). 93 Vgl. Gehlen, Stellungnahme. 94 Vgl. zur Akzentuierung dieser fehlenden Verbindung Wöhrle, Metamorphosen. 91
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stellung‘, sondern ‚in der Situation‘“95 verortet, fortgesetzt wird. Das ist richtig, Gehlens Selbstdarstellung hingegen ist anzuzweifeln. Die Institutionenlehre weist eine charakteristische Doppeldeutigkeit auf: einerseits bildet der Begriff der Situation geradezu den „Mittelpunkt“96 der Sozialtheorie, und zwar als Situation einer existenziellen Gefährdung, die hier wie im Frühwerk anhand der Unterscheidung von Alltag und Außeralltäglichkeit aufgefaßt wird.97 Damit wird der Kritik begegnet, Gehlen könne lediglich Bedrohungen durch die Natur denken.98 Andererseits ist der von Gehlen in der Institutionenlehre vertretene ordnungspolitische Funktionalismus, der zurecht von vielen Seiten kritisiert worden ist, dem Reflexionsproblem nicht gewachsen, was zu Gehlens Polemik gegen den Institutionenabbau in der „Spätkultur“ führt. In treffender Weise führt Patrick Wöhrle diesen ordnungstheoretischen Funktionalismus auf eine „Essentialisierung des Mängelwesen-Theorems“99 zurück. Diese Essentialisierung oder Substantialisierung ist aber die unmittelbare Folge der ontologischen Teleologie, mit deren Hilfe Gehlen gegen das Abstraktum des einzelnen Handelnden die soziale Dimension in seine Handlungslehre angeblich nachträglich einführen wollte. In direkter Verbindung hiermit steht ein weiteres Problem. Karl-Siegbert Rehberg zufolge macht der in Urmensch und Spätkultur präsentierte Institutionenbegriff „einen Kurzschluß seiner Argumentation sichtbar […], nämlich das Fehlen einer Entstehungsgeschichte hochkultureller Institutionen“100. Die von Rehberg bemerkte Lücke ist der Abkopplung der Handlungslehre von den reflexionstheoretischen Überlegungen geschuldet, ist die abendländische Kultur doch wesentlich christlich geprägte Reflexionskultur. Sie schließt sich, wenn man die Anthropologie reflexionstheoretisch liest. Die in der Theorie der Willensfreiheit mit Blick auf die Wirklichkeit der Handlung vorgelegte Skizze einer reflexionslogischen Aneignung religiöser Begriffe und Symbole ist als erster Ansatz zu einer solchen Entstehungsgeschichte der europäischen Institutionen zu verstehen.101 Daß die reli95
Lipp, Mimesis oder Drama, S. 361, Anm. 1. Lipp, Mimesis oder Drama, S. 361, Anm. 1. 97 Auch dies ist bereits von Lipp festgestellt worden, dessen dramatologische Konstitutionstheorie des Sozialen mit Überlegungen über die „Situation der ‚Ausnahme‘“ (Lipp, Mimesis oder Drama, S. 362; vgl. ebd., S. 373 ff.) zusammenfällt. 98 Vgl. Lipp, Mimesis oder Drama, S. 366. 99 Wöhrle, Metamorphosen, S. 144. 100 Rehberg, Grundlagentheorie der Institutionen, S. 120. 101 Denn Gehlen reformuliert dort die (heils-)geschichtlichen Begriffe der Schöpfung als „Vorstellung der Indirektheit des Seins zu sich selbst“ (Gehlen, Willensfreiheit, S. 171), der Gottessohnschaft als „Vorstellung einer Wiederholung Gottes im Menschen“ (ebd., S. 173), der Wiedergeburt als Verhältnis des Menschen zum Sohn Gottes (vgl. ebd., S. 231), der Demut als „Identität von Freiheit und Notwendigkeit selber, als Bejahen dessen, was geschehen muß“ (vgl. ebd., S. 173), sowie der Sakramente und „Riten als symbolische, wiederholende Handlungen und Zeichen des Ausdrucks der sonst bloß abstrakten Gesinnung“ (vgl. ebd., S. 173). Gehlens höchst anspruchsvolle These hierzu ist: „ein durchgeführtes Denken muß aus sich selbst zu den religiösen Kategorien gelangen, die durchweg die reflektiertesten, 96
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giösen Vorstellungen allesamt eine „schematische Vorstellung der Indirektheit des Seins zu sich selbst“102 liefern, besagt im Kern nichts anderes als das, was Gehlen 1950 anhand des vorgeschichtlichen Phänomens des Totemismus als Begriff der Institution vorführt: das Totemtier leistet symbolisch die „Schematisierung eines sehr komplexen Verhaltens in einen anschaulichen Begriff, an den sich Verpflichtungserlebnisse anknüpfen können“103. Der Unterschied ist, daß zum Totemismus und seinen Symbolen keinerlei geschichtliche Verbindung besteht, sodaß es sich hier um eine rein objektiv-analytische Rekonstruktion handelt, deren Übertragbarkeit auf eine Analyse des gegenwärtigen Handelns durchaus ungeklärt ist. Das Christentum als Institution hingegen bildet die in die Gegenwart hineinreichende geschichtliche Grundlage für seine Zeitdiagnose und Begriffsbildung.104 Es soll daher im folgenden versucht werden, die anthropologische Handlungslehre von den Ergebnissen der Theorie der Willensfreiheit und von Wirklicher und unwirklicher Geist sowie der Verknüpfung dieser beiden Ansätze in dem referierten Text über den „Idealismus und die Lehre vom menschlichen Handeln“ her zu rekonstruieren. ‚Der Mensch‘ ist vor diesem Hintergrund nicht als Ich, sondern als Du zu fassen. Die Theorie der Willensfreiheit hat das Verhältnis von Reflexion und Wille zum Thema. Der an das gegenständliche Wissen der einfachen Reflexion gebundene Wille wird wirklich, indem er in einer doppelten Reflexion seine Bindung an die einfache Reflexion löst und in freier Entscheidung das, was er als Wille je schon ist, bejaht und wiederholt. Auf diese Weise äußert er sich zugleich als Handlung. In Wirklicher und unwirklicher Geist wird gezeigt, daß die Wirklichkeit des Handelns als „gegenwärtige Äußerung“105 in einer Situation auf einen handelnden Anderen angewiesen ist, und umgekehrt. Diesen Anderen des jeweils Anderen unterscheidet Gehlen ausdrücklich als Du vom erkennenden und reflektierenden Ich. Dies führt letztlich auf die Situation des Handelns, welche sich damit zugleich als der gemeinsame Grund des Handelns der beiden Beteiligten erweist. Das Handeln wird damit entsubjektiviert oder, wie Gehlen sich ausdrückt, „Geistigkeit“ wird zu einer „Qualität der Situation“106. Die Situation bestimmt die beiden Beteiligten in ihrem jeweiligen Zustand als Du. Wie am Schluß des vorangehenden Kapitels festgestellt wurde, weist dies Ähnlichkeiten mit Luhmanns Begriff der doppelten Kontingenz auf. Der Hauptunterschied der beiden Konzeptionen besteht darin, daß Luhmann ein Ego und ein alter Ego aufeinandertreffen läßt, während Gehlen das reichsten und logisch komplexesten von allen sind, dabei aber wieder ganz unmittelbare und anschauliche werden“ (ebd., S. 231). Das heißt, die religiösen Symbole – hier insbesondere: das Kreuz – sind für Gehlen der anschauliche Ausdruck des Selbstbezugs des Handelns (vgl. ebd., S. 232). 102 Gehlen, Willensfreiheit, S. 171. 103 Gehlen, Mensch, S. 471. 104 Vgl. Gehlen, Mensch, S. 734. 105 Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, S. 326. 106 Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, S. 324. Vgl. auch Gehlen, Mensch, S. 217.
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Augenmerk auf den Du-Charakter der Beteiligten legt. So wird klar, daß bereits in der elementaren Handlungs- und nicht erst in der Institutionenlehre das „‚Handeln auf ein Du hin‘ die Grundstruktur […] [i]n allen Vollzügen“107 ist. Das heißt, auch die anthropologische Handlungslehre bestreitet nicht, daß alles, was beschrieben wird, „nur in der Gemeinschaft möglich“108 ist. Die folgenden Überlegungen nehmen somit einen Standpunkt gewissermaßen „zwischen“ Idealismus und Anthropologie ein und gehen davon aus, daß der Ausgangspunkt der Handlungs- und Institutionenlehre auch reflexionstheoretisch entwickelt werden kann. Das Handlungsproblem muß also nicht biologisch hergeleitet werden. Vielmehr ist am Grundbegriff der Situation festzuhalten. Gerade die frühen Schriften der Leipziger Schule sind geeignet, die Forderung nach einer Berücksichtigung der geschichtlichen bzw. gesellschaftlichen ‚Situierung‘ der Soziologie zu erfüllen, das heißt der Tatsache Rechnung zu tragen, daß auch die Soziologie dem soziologischen Gegenstandsbereich angehört. 2. Das Problem der Handlungskonstitution in elementarer Anthropologie und Institutionenlehre Gehlen strebt eine Konstitutionstheorie des Handelns an109, die er in Der Mensch als „elementare Anthropologie“110 ausarbeitet. Gleich einleitend wird herausgestellt, daß es sich dabei um ein selbstbezügliches Problem handelt: „der Mensch muß sein Wesen deuten und von daher sich selbst und anderen gegenüber tätig und stellungnehmend sich verhalten […]“111. Den Widerstreit zwischen der christlichen und der darwinistischen Selbstdeutung des Menschen, die einander ausschließen, nimmt Gehlen exemplarisch als Beleg dafür, daß der Mensch nicht durch bestimmte Eigenschaften, sondern vielmehr durch die Tatsache charakterisiert ist, daß er überhaupt zu sich Stellung nehmen muß, um handlungsfähig sein zu können. Im Unterschied zu Deutungen, die einen inhaltlich bestimmten Ausgangspunkt setzen, der den Menschen durch etwas anderes begreiflich macht – sei es, um im Beispiel zu bleiben, durch Gott oder die Evolution –, fragt Gehlen, warum der Mensch überhaupt der Selbstdeutung bedürftig ist. Gehlen weist die auch den gegensätzlichsten Deutungen zugrundliegende Überzeugung zurück, daß „der Mensch nicht aus sich selbst begriffen werden könne, daß er nur mit Kategorien des Außermenschlichen beschreibbar oder deutbar sei“112. Demgegenüber setzt 107
Gehlen, Mensch, S. 580. Gehlen, Mensch, S. 506. 109 Vgl. zum Anspruch, die Konstitution des Menschen zu klären, Gehlen, Mensch, S. 11, 30, 34, 59, 63, 77, 171, 190, 371, 423, 426 sowie Gehlen, Urmensch, S. 21, 46, 110, 120, 84 f., 148, 153. Vgl. zur Unterscheidung von Konstitutions- und Rekonstruktionstheorien Rehberg, Rationales Handeln, S. 204. 110 Gehlen, Mensch, S. 9 (i. O. mit Hervorh.). 111 Gehlen, Mensch, S. 3. 112 Gehlen, Mensch, S. 4. 108
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Gehlen am Faktum der Selbstdeutungsbedürftigkeit als solcher an. Am Anfang der elementaren Anthropologie steht in diesem Sinne keine inhaltliche Bestimmung, sondern eine Unbestimmtheit als Notwendigkeit der Selbstbestimmung. Ist die Selbstdeutung die spezifisch menschliche „Aufgabe“113, lassen sich ebenso spezifisch menschliche Begriffe entwickeln, die das Deutungsbedürfnis des Menschen selbst thematisieren und deuten. Das Projekt einer elementaren Anthropologie ist daher „kein bloß theoretisches“114, sondern von diesem hängt nicht zuletzt auch ab, wie man mit sich selbst und anderen umgeht. Das Problem der Konstitution oder Verfassung des Menschen formuliert Gehlen in biologischen Begriffen. Es sei von einer „biologisch abnormen Verfassung des Menschen“115, von der „Ausnahme-Konstitution des Wesens Mensch“116 auszugehen, denn „die Natur hat dem Menschen eine Sonderstellung angewiesen, oder anders gesagt, sie hat im Menschen eine sonst nicht vorhandene, noch nie ausprobierte Richtung der Entwicklung eingeschlagen, sie hat ein neues Organisationsprinzip zu erschaffen beliebt.“117
Die Webersche Unterscheidung von Alltäglichkeit und Außeralltäglichkeit tritt in Gehlens Anthropologie mithin im Gewand der Biologie auf. In methodologischer Hinsicht erläutert Gehlen, daß seine „Schrift […] eine philosophische und wissenschaftliche“118 sei. Die „anthropologische Aufgabe“ ist der ersten Auflage von Der Mensch zufolge dann gelöst, wenn ein wissenschaftlicher „Begriff, eine begriffene Anschauung, welche ‚den Menschen‘ bezeichnet, neben ‚das Tier‘ gestellt und die Sonderstellung des Menschen in der Natur verstanden“119 ist. Dementsprechend müsse gegenüber der „Biologie des Tieres“ eine „Biologie des Menschen“120 entwickelt werden. 113
Gehlen, Mensch, S. 4. Gehlen, Mensch, S. 3. 115 Gehlen, Mensch, S. 672. 116 Gehlen, Mensch, S. 77. 117 Gehlen, Mensch, S. 12. 118 Gehlen, Mensch, S. 5. 119 Gehlen, Mensch, S. 488. 120 Gehlen, Mensch, S. 489. In der Ausgabe letzter Hand schwächt Gehlen die begriffliche Unterscheidung einer Biologie ‚des Menschen‘ und einer Biologie ‚des Tieres‘ zu einer heuristischen Vergleichsbeziehung ab. Es ist dann nicht mehr von einer allgemeinen Unterscheidung ‚des Menschen‘ von ‚dem Tier‘ die Rede (vgl. Gehlen, Mensch, S. 488), sondern von einer Reihe spezifischer „Vergleiche“ einzelner „Eigenschaften und Leistungen“ (Gehlen, Mensch, S. 6). Dies wird auch im Vergleich der beiden folgenden Stellen deutlich: „Es könnte ja sein, daß alle wesentlichen menschlichen äußeren und inneren Merkmale und Leistungen einen noch nicht gesehenen Zusammenhang haben, der nur von einem bestimmten Gesichtspunkt deutlich wird. Wenn nun dieser Leitfaden uns nötigen würde, unsere maßgebenden Begriffe sehr oft im Gegensatz zu denen zu wählen, die sich in der Zoologie und Tierpsychologie bewährt haben, oder doch mindestens die Akzente entschieden zu verlagern – so wäre mit der Lösung der anthropologischen Aufgabe auch die Sonderstellung 114
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Aufgrund seiner „biologischen Mittellosigkeit“121, seiner „Unspezia lisiert heit“122, das heißt seiner Unbestimmtheit, ist der Mensch, anders als das durch spezifische Umwelten vorstrukturierte („instinkthafte“) Verhalten des Tieres, auf eine Weise mit der Welt konfrontiert, die kein bestimmtes Handeln präformiert. Der Mensch hat in diesem Sinn die Aufgabe, im handelnden Umgang mit der Welt die Bestimmtheit seines Handelns selbst herbeizuführen. Da dies jederzeit auch scheitern kann, ist seine Unbestimmtheit mit einer existenziellen Gefährdung verbunden. Gehlen formuliert deshalb, wiederum biologisch, daß der Mensch mit dem „Risiko einer Physis“ ausgestattet ist, „die aller beim Tiere wohlbewährten organischen Gesetzlichkeit geradezu widerspricht“123. Der Mensch ist „das gefährdete oder ‚riskierte‘ Wesen, mit einer konstitutionellen Chance, zu verunglücken“124. Zugleich ist der Mensch als, wie es metaphorisierend heißt, „ganz einmaliger, sonst nicht versuchter Gesamtentwurf der Natur“125 von einer „Einheit des Strukturgesetzes“ bestimmt, „das alle menschlichen Funktionen von den leiblichen bis zu den geistigen beherrscht“126. Das die traditionelle Unterscheidung von Leib und Seele unterlaufende einheitliche Strukturgesetz verdankt sich einer auf die Natur zurückgehenden „Grundbestimmung: der Handlung“127. Aufgrund seiner Unbestimmtheit ist der Mensch zur Handlung bestimmt. Denn die Natur hat zwar mit des Menschen in der Natur verstanden und ein Begriff, eine begriffene Anschauung ‚des Menschen‘ erreicht.“ (ebd., S. 8; die letzten drei Hervorh. sind hinzugefügt, AH) Demgegenüber heißt es in der ersten Auflage: „Es könnte ja sein, daß alle wesentlichen menschlichen, äußeren und inneren Merkmale und Leistungen einen noch nicht gesehenen Zusammenhang haben, der nur von einem bestimmten Gesichtspunkt deutlich wird – und ich werde zeigen, daß dem so ist. Wenn nun dieser Leitfaden gerade im Gegensatz zur Definition des Tieres zu gewinnen wäre, so wäre die philosophische Aufgabe gelöst: einen Begriff, eine begriffene Anschauung, welche ‚den Menschen‘ bezeichnet, neben ‚das Tier‘ gestellt und die Sonderstellung des Menschen in der Natur verstanden.“ (ebd., 488) Dieser Änderung des Textes der ersten Ausgabe korrespondiert eine zweite Textrevision, in deren Zuge Gehlen die methodologische Bemerkung streicht, daß es ihm im Gegensatz zu ontologischen Ansätzen auf „die ‚funktionale‘, die Vollzugsbetrachtung“ (ebd., S. 491) ankomme. Wird die elementare Anthropologie tatsächlich als funktionale Vollzugsbetrachtung durchgeführt, ist die in der Ausgabe letzter Hand enthaltene Versicherung, der Begriff des Mängelwesens sei „kein Substanzbegriff“ (ebd., S. 16), unnötig. Es sind diese Textänderungen, die in der Ausgabe letzter Hand zu einer Unklarheit über den methodischen Status des Mängelwesen-Theorems führen, die in der Rezeption den Anlaß geboten hat, Gehlen eine Substantialisierung oder Essentialisierung des Mängelwesen-Theorems vorzuwerfen. Diese Kritik ist hinsichtlich der ursprünglichen Disposition einer funktionalen Vollzugsbetrachtung gegenstandslos. 121 Gehlen, Mensch, S. 32. 122 Gehlen, Mensch, S. 34. 123 Gehlen, Mensch, S. 12 (in der ersten Auflage heißt es „biologisch“ statt „geradezu“). 124 Gehlen, Mensch, S. 30. 125 Gehlen, Mensch, S. 9. 126 Gehlen, Mensch, S. 20. 127 Gehlen, Mensch, S. 30. Gehlen spricht ebd., S. 26, auch vom „Naturentwurf eines handelnden Wesens“.
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der „Bestimmung des Menschen zur Handlung das durchlaufende Aufbaugesetz aller menschlichen Funktionen und Leistungen“128 aufgestellt, aber keine Hinweise über die Ausführung oder Erfüllung dieser Bestimmung gegeben; die Bestimmung seiner Handlungen ist vielmehr seine genuine eigene Aufgabe, deren Lösung Gehlen vor allem anhand der empirischen Kreisprozesse der Handlung expliziert. 129 Neben der Entfaltung der biologischen Formulierung der konstitutionstheoretischen „Frage nach den Existenzbedingungen des Menschen“130 in der elementaren Anthropologie nimmt Gehlen in seiner Institutionenlehre eine zweite Art existenzieller Gefährdung in Gestalt außeralltäglicher Ereignisse in den Blick, die einen Anlaß für die Gründung von Institutionen bilden können: „Ein außerordentliches Ereignis, ein prägnant-überraschendes Datum der Wahrnehmung muß […], solange es noch nicht bewältigt und neutralisiert ist, eine sehr genau ableitbare Wirkung haben: dem Eindruck wird Appellqualität zukommen, d. h. er wird von innen her zwangsläufig einen Antwortdruck mitsetzen, der als Bedürfnis erscheinen muß, und dies in um so höherem Grade, je mehr die unwahrscheinliche Erfahrung als bedrohlich (wie ein Erdbeben) oder als unerklärlich und rätselhaft empfunden wird, was übrigens meist auf dasselbe herauskommt. […] Ausgelöst wird daher ein Gefühlsstoß von starker instinktiver, aber unspezifischer Färbung, also ein Handlungsimpuls, der gerade durch das Fehlen von angeboren montierten Bewegungen einer Hemmung unterliegt, die ihn wieder als ein Bedürfnis zu handeln über die Bewußtseinsgrenze heben muß. Hiermit ist […] abgeleitet […] das Bedürfnis nach einem noch unbestimmten Verhalten. Und dieses entsteht, wie wir zeigten, quasiinstinktiv angesichts affekthoher außeralltäglicher Eindrücke.“131
Der Gedanke ist also, daß ein überraschendes und existenzbedrohendes Ereignis zu einem unbestimmten Handlungsimpuls führt, dessen sich die Betroffenen auf unbestimmte Weise inne sind. Gehlen betont, daß das außeralltägliche Ereignis nicht nur „den Eindruck des Überwältigenden und Gefahrdrohenden“ erzeugt, sondern in bezug auf den unbestimmten Handlungsimpuls auch den „Eindruck eines Verpflichtenden, das noch nicht definiert ist“132, hervorruft, was Gehlen auch als „unbestimmte Verpflichtung“133 bezeichnet. Entsprechend bilden „lebensnotwendige und zugleich gefährliche Situationen“ als „[u]rsprüngliche Brennpunkte“134 des Daseins eine von der Moral unabhängige, „autonome Quelle des Sollens“135, deren Verpflichtungsgehalt im Unterschied zur Formalität der Moral136 ein materialer ist. Die unbestimmte Verpflichtung angesichts existenzbe-
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Gehlen, Mensch, S. 20. Gehlen, S. 31. Siehe auch unten Kap. VI.4. 130 Gehlen, Mensch, S. 11. 131 Gehlen, Urmensch, S. 156 f. 132 Gehlen, Urmensch, S. 158. 133 Gehlen, Urmensch, S. 157 u. 158 134 Gehlen, Urmensch, S. 174. 135 Gehlen, Urmensch, S. 162. 129 Vgl.
VI. Eine reflexionstheoretische Relektüre von Arnold Gehlens Anthropologie
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drohender Ereignisse ist in nuce die Handlung als gesollte, welche die Bestimmbarkeit, Strukturierbarkeit und Erwartbarkeit der Einzelhandlungen im Kontext der Gemeinschaft ermöglicht. 136
Die Bestimmung der unbestimmten Verpflichtung erfolgt nach Gehlen in einem rituell-darstellenden Verhalten. Gehlen betont, daß „die darstellende Nachahmung eines eindrucksvollen Ereignisses […] von vornherein sozial ansteckend [verläuft]. […] Das oft gerühmte Erlebnis der ,Gemeinschaft‘, der Gruppeneinheit ist keineswegs ein unmittelbares.“137 Das existenzbedrohende Ereignis wird operativ in einem Ritus dargestellt, also wiederholt, „so daß also der Inhalt des Handelns zugleich seine Form, die Bestimmtheit des Wie sein muß: eben dies heißt nachahmendes, darstellendes Tun“138. Der Inhalt des Handelns ist deswegen nicht von seiner Form unterschieden, weil dieser Inhalt kein kontingentes Material des Handelns ist, das auch anders ausfallen könnte (wie im Bereich des einfach-reflexiven zweckrationalen Handelns), sondern weil der Inhalt des rituell-darstellenden Handelns die Kontingenz des eigenen Handelns selbst ist, als Vollzugsform: „Die elementarste Form des darstellenden Verhaltens besteht in der bloßen Rhythmisierung irgendeiner Bewegungsform. Dann tritt die Handlung zu sich selbst in ein Verhältnis und drückt dieses Verhältnis in sich selbst aus.“139 Das heißt, im rituelldarstellenden Handeln wird die eigene Kontingenz, das heißt die Möglichkeit der Infragestellung der eigenen Existenz durch außerordentliche, überprägnante Naturereignisse, von der Gruppe sowie von jedem einzelnen Teilnehmer als „‚Herausforderung‘ […] angenommen“140. Das rituell-darstellende Handeln, dessen Form von seinem Inhalt nicht unterschieden werden kann, ist auf diese Weise „Entscheidung zum Dasein“141. Die Entscheidung zum Dasein ist der Kern der Institutionen. Die institutionenbegründende Entscheidung zum Dasein bezieht sich in einem darstellenden Verhalten auf die „Wirklichkeit […] schlechthin“142, das heißt auf die Existenzbedrohung und Feindlichkeit, die von ihr ausgeht. Aus unbestimmten „Gefahrenzonen“ werden handelnd bestimmte „Risikozentren […] am Rande des Abgrundes“143, zu denen eine Position und die Möglichkeit des Umgangs mit ihnen gewonnen wird. Dadurch wird ein Verhältnis zur eigenen Endlichkeit möglich, ohne daß dabei vorstellende oder denkende Reflexion im Spiel wäre. In der Selbstbezüglichkeit der Bestimmung wird der Existenzbedrohung zu136 „Daß der Imperativ einem sozialen Bedürfnis entspricht, hatte Kant gesehen, der aus ihm alle Inhalte strich und das bloße Interesse an allgemeiner Gültigkeit (d. h. Dauer und Gegenseitigkeit) zum Inhalt des Sollens machte.“ (Gehlen, Urmensch, S. 185). 137 Gehlen, Urmensch, S. 169. 138 Gehlen, Urmensch, S. 179. 139 Gehlen, Urmensch, S. 167. 140 Gehlen, Urmensch, S. 177. 141 Gehlen, Urmensch, S. 177. 142 Gehlen, Urmensch, S. 16. 143 Gehlen, Urmensch, S. 183.
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gleich ein Sinn verliehen: Im rituell-darstellenden Handeln findet gewissermaßen, so Gehlen, eine „Personifizierung“144 oder Sozialisierung145 des Anderen des Daseins statt, denn das Ereignis trägt „die Evidenz eines Ego, das doch ein aliud ist“146. Ihr entspricht die Selbstentfremdung der rituell Handelnden vom Ich zum Du. Die im Ritus stattfindende „Inversion der Verhaltensrichtung“, durch die man die eigene existenzielle Lage „selbst in die Hand bekommt“147, kann nun, so Gehlen, von dem unmittelbaren Kontext des bedrohlichen Appelldatums abgelöst werden. Der Ritus kann gewissermaßen instrumentalisiert werden: „D. h. man kann ihn vollziehen, um das Erlebnis des Gruppeneinklangs […] zu erleben.“148 Damit können „lebensnotwendige und zugleich gefährliche Situationen […], diese Brennpunkte […], wo jeweils die größte Gefahrennähe besteht“149 – etwa Kriege oder Katastrophen – also bewußt „unter das Kommando des Ritus“150 gestellt werden. Wolfgang Lipp wendet gegen Gehlen ein, daß dieser „das Problem der Gründung“151 von Institutionen nicht hinreichend erörtert. Lipp zufolge hat Gehlen „vornehmlich die Stabilitätsbedingungen, nicht aber die Gründungsvorgänge von Institutionen untersucht. Die Frage, wie […] ‚unbestimmte Verpflichtungen‘, die den Ausgangspunkt der Entstehung von Institutionen darstellen, in ‚bestimmte‘ umgewandelt werden, wird von Gehlen im Effekt zwar miterörtert, vorgängig aber gar nicht differenziert genug gestellt.“152
Insbesondere wirft Gehlen das Problem der Gründung nicht in seiner „genuin geschichtlichen“153 Dimension auf, sondern bindet die institutionenbegründende „unbestimmte Verpflichtung“ an natürliche „Außendaten“154 bzw. die „Außenwelt“155, sodaß er letztlich „naturalistisch“156 argumentiert. Ähnlich bemerkt Jost Halfmann die „konzeptuelle Spannung […] zwischen dem gesellschaftstheoretischen und anthropologischen Anspruch“157 der Handlungsund Institutionenlehre Gehlens, die sich aus dessen Beschränkung „auf ,biologi144
Gehlen, Urmensch, S. 160. spricht zwar nicht von Sozialisierung, wohl aber von der im Monotheismus stattfindenden „‚Entsozialisierung‘ der Natur“ (Gehlen, Urmensch, S. 160). Beides sind nur annähernde Begriffe. 146 Gehlen, Urmensch, S. 178. 147 Gehlen, Urmensch, S. 173. 148 Gehlen, Urmensch, S. 173. 149 Gehlen, Urmensch, S. 175. 150 Gehlen, Urmensch, S. 185. 151 Lipp, Mimesis oder Drama, S. 366. 152 Lipp, Mimesis oder Drama, S. 371. 153 Lipp, Mimesis oder Drama, S. 366. 154 Lipp, Mimesis oder Drama, S. 366. 155 Gehlen, Urmensch, S. 158. 156 Lipp, Mimesis oder Drama, S. 366. 157 Halfmann, Die gesellschaftliche „Natur“ der Technik, S. 84. 145 Gehlen
VI. Eine reflexionstheoretische Relektüre von Arnold Gehlens Anthropologie
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sche‘ Ausgangsdringlichkeiten“158 ergibt. Der Begriff der Natur ist dann Halfmann zufolge nämlich mit einer doppelten Funktion belastet: „Einerseits soll die Natur einen kontinuierlichen Druck auf die soziale Evolution ausüben, andererseits sollen Technik und Institutionenbildung eine wachsende Distanzierung von der Natur ermöglichen“159.
In der Folge weist Gehlen, wie Patrick Wöhrle feststellt, „die Genese institutioneller Festlegungen dann an der Konfrontation eines frühgeschichtlichen Kollektivsubjekts mit der bedrohlichen Außenwelt“160, das heißt der Natur, aus und beschreibt durchweg lediglich archaische, vorgeschichtliche Phänomene. Gehlen verliert damit in seiner Institutionenlehre den gegenwartsbezogenen Realitätsbezug, den er in seinen Zeitdiagnosen beansprucht. Das von Lipp, Halfmann und Wöhrle diagnostizierte Problem läßt sich beheben, wenn man, wie oben mit Bezug auf die Epoche der Weltkriege vorgeschlagen, den reflexionstheoretischen Ausgangspunkt der Handlungslehre erneuert und das Bezugsproblem der Institutionenbildung vom Biologischen ins Geschichtliche verlagert.161 Bezieht man die Chance zu verunglücken, nicht auf die empirische Einzelhandlung, sondern auf die Notwendigkeit, handeln zu müssen, verlagert sich das Problem der Konstitution von Handlungen von der biologischen auf die politischgeschichtliche Ebene. Es ist deshalb zu überlegen, ob tatsächlich „‚das Politische“ wie von selbst zur Metapher für die Handlungszwänge und die Handlungsmächtigkeit des Menschen“162 wird, oder ob man nicht umgekehrt in der Anthropo-Biologie Gehlens den Versuch sehen kann, den in seinem Kern politischen Zwang zum Handeln mit den Mitteln empirischer Wissenschaft (der Biologie) zu veranschaulichen. In diesem Sinn schlägt auch Wolfgang Lipp vor, für „das reine Handeln“ – das heißt, für das Handeln im konstitutiven Sinn –, das sich „dem ‚Schicksal‘ stellt“163, den Begriff der geschichtlichen Tat einzusetzen: das „Risiko der exponierten Tat“ ist es, welche in Form „legitime[r] Gewalt“ „eine ‚unbestimmte Verpflichtung‘ – oder, der Ausdruck bietet sich an, den ‚Ausnahmezustand‘ – bewältigt“164 und so die von dem existenzbedrohenden Ereignis ausgehende unbestimmte Verpflichtung „zur Bestimmung“165 bringt.166 Das reine Handeln bzw. die politische Tat bestimmt einerseits die unbestimmte Verpflichtung, andererseits den unbestimmten 158
Halfmann, Die gesellschaftliche „Natur“ der Technik, S. 83. Halfmann, Die gesellschaftliche „Natur“ der Technik, S. 84. 160 Wöhrle, Metamorphosen, S. 123. 161 Vgl. oben Kap. IV. 162 Rehberg, Aktion und Ordnung, S. 330 f. 163 Lipp, Mimesis oder Drama, S. 369 u. 372. 164 Lipp, Mimesis oder Drama, S. 373. 165 Lipp, Mimesis oder Drama, S. 372. 166 Gehlens Institutionenlehre wäre somit im Kern Katastrophensoziologie. Noch einmal Lipp: „Auch Kultur hat ihren Ernstfall, auch sie hat ihre Grenzbedingungen; sie ist, wie die Institutionenlehre im Kern festhält, auf das Leben des Menschen, auf sein Überleben 159
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Handlungsimpuls. Lipps Begriff des reinen Handelns als politisch-geschichtliche Tat fällt letztlich mit Hans Freyers handlungstheoretischem Grundkonzept zusammen, auf das wir im nächsten Kapitel zurückkommen werden: „Politisches Handeln ist also ungesichertes Handeln, Handeln ohne Schienen und ohne vorbereitete Weichenstellungen, rein aktuelles Handeln, reines Handeln und darum ‚einfachstes‘ Handeln.“167
Ersichtlich argumentiert Gehlen dezidiert bestimmungstheoretisch, wenn er an anderer Stelle mit Nachdruck darauf hinweist, daß der erkenntnistheoretisch zu begründenden Möglichkeit der „Erfahrung im Urteil“, das heißt der Möglichkeit des Wissens, die handlungstheoretisch zu explizierende Möglichkeit der Handlungserfahrung in Form der „‚Techne‘ (Können)“168 zur Seite zu stellen sei. Zu beachten ist, daß sich in der Handlungslehre die erkenntnistheoretisch geläufigen Bestimmungs- und Reflexionsverhältnisse umkehren. ‚Die Dinge‘ werden in der Handlungslehre von vornherein unter einer anderen Problemstellung thematisiert, als dies in der Erkenntnistheorie der Fall ist. Gehlens Nachvollzug der Handlungsformierung verdankt sich einer thematischen Inversion der Erkenntnissituation, die Gotthard Günther in knapper Form wie folgt auf den Punkt gebracht hat: „Kant mag für die die Welt entscheidungslos spiegelnde Reflexion mit vollem Recht behaupten, dass die Gegenstände sich nach ‚unserer Erkenntnis‘ richten müssen.169 Wenn wir aber handeln wollen, diktieren uns die Dinge ihre Gesetze.“170
Dieser Satz lautet bei Gehlen so, daß „der Handlungskreis […] genötigt [ist], dem Gesetz und dem Antwortverhalten der Tatsachen zu folgen […]“171. Genauer gesagt, ist die Handlung von den Dingen her gesehen eine bestimmte Unbestimmtheit, die Einzelhandlung steht für das Moment der Unbestimmtheit in einer Handlungssituation. Die Handlung entspricht somit mutatis mutandis der Anschauung in der Erkenntnistheorie.172 Der Handelnde ist deshalb kein Ich, sondern ein Du. Institutionen hingegen, so Arnold Gehlen, „funktionieren […] ähnlich wie Begriffe“173. Genauer gesagt, funktionieren die Bezugsprobleme für die Entstehung von Institutionen ähnlich wie Begriffe. Die existenzbedrohenden „Appelldaten“174 der Außenwelt, in bezug auf die sich Institutionen bilden, treten aus Sicht der Einzelhandlung überraschend und unerwartbar ein, ihnen eignet in diesem Sinne Spontaneität. bezogen, und eben dies macht ihre Grundfunktionen – Entlastung und Stabilisierung – erst wahrhaft verständlich“ (Lipp, Entinstitutionalisierung, S. 100). 167 Freyer, Machiavelli und die Lehre vom Handeln, S. 162. Vgl. dazu unten Kap. VII.2. 168 Gehlen, Vom Wesen der Erfahrung, S. 5 u. 6. 169 Nach Kant müssen „die Gegenstände […] sich nach unserem Erkenntnis richten“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. B XVI). 170 Günther, Metaphysik der Institution, S. 32. 171 Gehlen, Mensch, S. 56. 172 Vgl. Gehlen, Urmensch, S. 28. 173 Gehlen, Urmensch, S. 43. 174 Gehlen, Urmensch, S. 157 u. 163 ff.
VI. Eine reflexionstheoretische Relektüre von Arnold Gehlens Anthropologie
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Diese Umkehrung der Bestimmungsrichtung ist, wie wiederum Wolfgang Lipp treffend herausgestellt hat, für das Verständnis von Gehlens Handlungslehre schlechthin entscheidend, doch viele einflußreiche Interpreten, Lipp nennt insbesondere Habermas, haben „Gehlen – den Handlungs- und Wirklichkeitswissenschaftler – wieder bewußtseinsphilosophisch und im Kern idealistisch“ verstanden und deshalb „die Unterscheidungen, die Gehlen getroffen hat, letztlich verkehrt begriffen. […] Wenn man Gehlen aus idealistischer Perspektive liest, kommt man regelmäßig zum Schluß, daß er Mensch und Gesellschaft über Gebühr vom Sachzwang her, ja sei es technokratisch, sei es überhaupt systemtotalitär interpretiere und das ‚Eigentliche‘ am Handeln: ‚Subjektivität‘, ‚Reflexivität‘ und ‚Sozialität‘ in der Theorie unterschlage, in der Praxis aber folglich unterdrücke.“175
Die empirischen Kreisprozesse der Einzelhandlung, in welchen in phantasiegeleiteter „Kommunikation mit den Sacherfahrungen“176 die unbestimmte Antriebsstruktur der Einzelhandlung orientiert177 wird, entsprechen dem ebenfalls selbst ähnlichen und sprachmäßigen wiederholend-darstellenden Ritus strukturell.178 Außeralltäglich-geschichtlich wird der institutionelle Kern etabliert, alltäglichempirisch bilden die einzelnen Handlungen Gewohnheiten aus.179 In beiden Hinsichten geschieht das Handeln vom anderen her. Die Schwierigkeit ist, nicht in die Haltung des Erkennens zurückzufallen, in der die handlungstheoretischen Begriffe und Aussagen unverständlich werden. Aus diesem Grund wird hier Gehlens anthropologische Handlungs- und Institutionenlehre von seinen reflexionstheoretischen Schriften her gelesen. Unabhängig von Gehlens biometaphysischer Metaphorik von der Natur als Schöpferin des Menschen als Mängelwesen besagt sein Ausgangspunkt, daß der Mensch als unbestimmter bestimmt ist. Die den Menschen zum Handeln zwingende existenzielle Unbestimmtheit läßt sich auch von der doppelten Reflexion her erreichen.180 Wie Gehlen in der Theorie der Willensfreiheit gezeigt hat, führt das Abstoßen der ichhaften Reflexion in der Reflexion auf die Reflexion zum Zustand des Nichthan175
Lipp, Mimesis oder Drama, S. 363. Gehlen, Mensch, S. 151. 177 Vgl. Gehlen, Mensch, S. 401 f. 178 Vgl. Gehlen, Urmensch, S. 156 ff., 146. 179 Vgl. Gehlen, Mensch, S. 164 f., 359, 407 mit Gehlen, Urmensch, S. 33, 83. 180 So auch Firsching, Moral, S. 221 f. Anstelle des Begriffs der doppelten Reflexion verwendet Gehlen in der Anthropologie den Begriff der Phantasie. Dabei handelt es sich um einen sehr grundsätzlichen Begriff, denn der Mensch lasse sich nicht nur als Mängelwesen, sondern ebensogut auch als „Phantasiewesen“ (Gehlen, Mensch, S. 374) begreifen. Als Phantasie kann der doppelten Reflexion ein Platz in der elementaren Handlungslehre zugewiesen werden. Die Phantasie besetzt den Hiatus zwischen Antrieben und Handlungen mit Bildern (vgl. ebd., S. 57 f., 209 ff., 372 ff., 366 ff., 378 ff.). Die für unseren Zusammenhang relevante Bedeutung der doppelten Reflexion liegt darin, daß sie Formen für den Willen bildet. 176 Vgl.
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delns.181 Damit ist von der Reflexion her eine Unbestimmtheit aufgewiesen, die nur durch Handlungen bestimmt werden kann. Dies entspricht in der biologischen Terminologie dem Hiatus zwischen den Antrieben und der Handlung, denn die doppelte Reflexion hängt mit der einfachen Reflexion auch das durch diese bestimmte Wahlhandeln aus.182 Aufgrund dieses Hiatus ist es nicht hinreichend, das Handeln aus Trieben oder Bedürfnissen abzuleiten, die beim Menschen ja gerade unbestimmt sind und nicht zu bestimmten Handlungen führen. Bedürfnisbefriedigung und Handeln stehen somit unter einer Hemmung, die Gehlen in der Theorie der Willensfreiheit reflexionstheoretisch, in Der Mensch biologisch herleitet. Entsprechend wird der Willensbegriff in der Anthropologie mit dem Begriff der Hemmung und der Wiederholung eingeführt: die Wiederholung des Erfolgs einer Handlung „ist, an der Wurzel seines Werdens betrachtet, der Wille. Gewollte Bewegungen entwickeln sich in erster Linie bei Hemmungen schon angesetzter“183. Aus diesem Grund „[erstreckt] sich der Bereich des Problems Wille über den ganzen Menschen“184, „Wollen ist […] also das Urphänomen Mensch selbst“185. Die aus der Theorie der Willensfreiheit bekannte Unterscheidung von Bejahung und Verwerfung (bzw. als terminologische Varianten: Festhalten/Ablehnen, Auswählen/Erledigen, Abstellen/Verzichten usw.) spielt auch in Der Mensch eine Rolle für das Problem der Handlungsformierung.186 Von der Reflexion her gesehen, lassen sich Haltungen und Gewohnheiten des Handelns nur in Form von „durchgezüchteten Hemmungen“187 der Reflexion aufbauen, „und von der anderen Seite her gesehen“ – nämlich von der Unbestimmtheit des Menschen als ‚Gesamtentwurf der Natur‘ her gesehen –, „ist eben dies der Formierungszwang“188. Die so formierten Gewohnheiten entstehen jenseits der einfachen Reflexion, weil jedes Zulassen oder Verwerfen von Handlungsformen ein Abstoßen der Reflexion impliziert. Mit der Theorie der Willensfreiheit formuliert, wird mit jeder Annahme oder Ablehnung einer Handlungsbestimmung die infragestellende einfache Reflexion abgestoßen, weil in jeder positiven Bestimmung der Freiheit (Bejahung) auch die negative Frei-
181 Vgl. Gehlen, Willensfreiheit, S. 32. In der „Reflexion auf die Reflexion […] reißt sich das Ich von sich selbst los“ (ebd., S. 120). Die vom Willen geleitete doppelte Reflexion reißt sich von sich selbst los und realisiert, so ist oben (Kap. V.4.) ausgeführt worden, die noch negative „Verwerfungsfreiheit“ (ebd., S. 31), welche als „totale Verwerfung der Wahl selbst gleichbedeutend mit Nichthandeln“ (ebd., S. 32) ist. 182 Vgl. zum Begriff des Hiatus z. B. Gehlen, Mensch, S. 55 f., 174, 397, 400. Zur These der Entsprechung zwischen Der Mensch und der Theorie der Willensfreiheit vgl. Firsching, Moral, S. 221 f. 183 Gehlen, Mensch, S. 561. Vgl. auch ebd., S. 54 ff. u. 387 ff. 184 Gehlen, Mensch, S. 429. 185 Gehlen, Mensch, S. 431. 186 Vgl. z. B. Gehlen, Mensch, S. 255, 274 f., 310, 359, 373, 380. 187 Gehlen, Mensch, S. 427. 188 Gehlen, Mensch, S. 427
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heit (Neinsagefreiheit bezüglich der Reflexion) vorausgesetzt ist.189 Die infragestellende (einfache) Reflexion wird damit zwar nicht schlechthin unmöglich, aber sie richtet sich nicht, bzw. genauer: sie kann sich nicht richten auf Gewohnheiten, sondern auf das (einfach-reflexive) zweckrationale Handeln und dessen Motive und Zwecke. Gehlen betont, daß Institutionen „vor dem Verstande niemals zu rechtfertigen“190 sind. Diese Formulierung hat viel zur Ablehnung seiner Institutionenlehre beigetragen. Es scheint, als müßten „Institutionen ‚einwandsimmun‘ sein“191, als müßten sie gegen die Einwände der Reflexion geschützt werden. Luhmann glaubte damit ein Argument gegen Gehlens Begriff der Institution gefunden zu haben: „Eine formulierte idée directrice – das ist schon der Anfang vom Ende einer Institution.“192 Die Frage ist, ob mit der Behauptung der Unmöglichkeit einer Rechtfertigung der Institutionen vor dem Verstand deren „fraglose Geltung“193 gemeint sein kann. Erst dann wäre die von Gehlen aus der Unbestimmtheit des Menschen gefolgerte Zuchtbedürftigkeit durch Institutionen ein ordnungspolitischer Funktionalismus. Einen anderen Blick auf dieses Problem gewinnt man, wenn man den Akzent in dem anstößigen Satz Gehlens auf das Wort Verstand legt. Die Einwände verfangen nicht, wenn man sich klarmacht, daß der Verstand reflexionslogisch gesehen dem Bereich der einfachen Reflexion entspricht. Der Versuch der Formulierung von institutionellen Leitideen durch den Verstand stellt keinerlei Gefährdung für deren Geltung dar, weil ein solcher Formulierungsversuch seinem Thema in keiner Weise angemessen ist. Dasselbe gilt nach Gehlens Theorie der Willensfreiheit für das zweckrationale Handeln als Reflexionszusammenhang: es ist das Handeln aus der Perspektive des Verstandes. Dem einfach-reflektierten Wahlhandeln aber ist tatsächlich weder die Ebene echten Handelns noch des Institutionellen erreichbar. Auf der Ebene des verstandesgeleiteten Handelns kann sich auch keinerlei Gewohnheit ausbilden. Vor dem Verstand sind Institutionen weder zu rechtfertigen noch zu widerlegen, denn Institutionen gelten unthematisch für die einfache Reflexion und das zweckrationale Handeln. Gleichwohl setzt das verstandesgeleitete rationale Wahlhandeln Institutionen voraus. Die Frage nach der Geltung von Institutionen ist gar kein mögliches Thema für die subjektive Reflexion. Mit der tendenziellen Preisgabe des Begriffs der doppelten Reflexion in der Anthropologie verfügt Gehlen nur noch über einen zunehmend unzureichenden Begriff der Reflexion. Daher stellt Gotthard Günther über die Debatte zwischen Gehlen und Schelsky, ob die Dauerreflexion institutionalisierbar sei oder nicht, zurecht fest, daß den Kontrahenten gemeinsam ist, „dass sie den klassischen (zweiwertigen) Begriff des ichhaften Subjekts voraussetzen. D. h. in ihren kontradiktorischen Argumenten ist stillschweigend angenommen, dass der Mensch eine invariante Seinsidentität 189
Vgl. dazu oben Kap. V.4. Gehlen, Urmensch, S. 299. 191 Rehberg, Grundlagentheorie der Institutionen, S. 131, Anm. 24. 192 Luhmann, Institutionalisierung, S. 32. 193 Rehberg, Grundlagentheorie der Institutionen, S. 120. 190
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besitzt.“194 Daraus folgt allerdings auch, daß sich aus den von den Institutionen hervorgerufenen subjektiven „Belastungen“195 für die Individuen die Grenzen der Geltung der Institutionen nicht ableiten lassen. Die Grenzen der Geltung sind vielmehr nur im Zusammenhang mit dem die Gründung von Institutionen bedingenden „überprägnanten Appelldatum“ (Gehlen) zu bestimmen. Die Frage nach den ermöglichenden und einschränkenden Grenzen dieses Geltungsbereichs führt auf das Politische (als unterschieden von Politik als Funktionssystem der Gesellschaft) und weiter auf die Frage nach dem Verhältnis von Soziologie und Politik. Aufgrund der bestimmungstheoretischen Disposition ergeben sich aus den bisherigen Ausführungen folgende Konsequenzen: 1. Die hier vorgelegte Interpretation der Gehlenschen Handlungs- und Institutionenlehre erfolgt unter der Annahme der Einheit von elementarer Anthropologie und Institutionenlehre.196 Dies entspricht Gehlens eigener Auffassung, wie die ursprüngliche Betitelung der Institutionenlehre mit Der Mensch II197 belegen mag. 2. Abweichend von Gehlen enthält nicht die elementare Anthropologie, sondern die Institutionenlehre die Konstitutionstheorie des Handelns. Handeln in konstitutiver Hinsicht ist eo ipso soziales Handeln.198 Die elementare Anthropologie hingegen beschreibt das empirisch vereinzelte Handeln als Auseinandersetzung mit der empirischen Wirklichkeit der Dinge, wobei die soziale Konstitution des Handelns immer schon vorausgesetzt ist. Die soziale Konstitution des Handelns ist der elementaren Anthropologie syste194
Günther, Metaphysik der Institution, S. 28. Vgl. Schelsky, Dauerreflexion. Rehberg, Grundlagentheorie der Institutionen, S. 135. 196 Eine andere Auffassung vertritt Wöhrle, Metamorphosen, S. 64 ff., 73 ff. 197 Vgl. Wöhrle, Metamorphosen, S. 73, Anm. 82. 198 Bereits in der elementaren Handlungslehre ist ein – wie auch immer dann zu entfaltender – Begriff von Sozialität vorauszusetzen. Auch Karl-Siegbert Rehberg geht davon aus, daß bereits in der ersten Auflage von Der Mensch eine implizite „Sozialtheorie“ (Rehberg, Grundlagentheorie der Institutionen, S. 117) enthalten ist. Anhand der hier verfolgten These ließe sich zudem eine von Rehberg beobachtete Unstimmigkeit zwischen dem Handlungsthema und der Sozialdimension ausräumen, die „bei Gehlen in merkwürdiger ‚Ungleichzeitigkeit‘ [erscheinen]: je mehr er sich nämlich einem ‚pragmatischen‘ Philosophieren zuwandte, desto weniger betonte er die intersubjektive Vermittlung des menschlichen Welt- und Selbstverhältnisses. In der vorangehenden ‚existentialistischen‘ Periode war es umgekehrt so, daß seine damalige Opposition gegen den Pragmatismus verbunden war mit einem emphatischen Modell von Intersubjektivität, nämlich mit der Überzeugung, daß die ‚Person‘ sich nur interaktiv, nämlich von ‚anderen‘, vom ‚Du‘ her, begründen lasse. So stehen Gehlens Beurteilungen pragmatistischer Autoren aus den 20er und frühen 30er Jahren in einem merkwürdigen Kontrast zu seinen gleichzeitig durchgeführten ‚phänomenologischen‘ Untersuchungen der – wie er das damals nannte – ‚Seinsgrade‘ des menschlichen Lebensvollzugs“ (Rehberg, Theorie der Intersubjektivität, S. 75, vgl. Wöhrle, Metamorphosen, S. 173 ff.). Nicht nur in die frühen Schriften, sondern auch die Anthropologie sind von einer ambivalenten Einschätzung des Pragmatismus geprägt. Gehlen hält die Einsichten der von ihm herangezogenen amerikanischen Pragmatisten für bedeutsam, aber nicht weitgehend genug. Wie bereits erwähnt, sieht Gehlen, Mensch, S. 644, im Pragmatismus einen „umgekehrten Rationalismus“. Vgl. auch, S. 656 f. 195
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matisch vorgeordnet, sodaß diese erst vor dem Hintergrund der konstitutionstheoretisch ansetzenden Institutionenlehre voll verständlich wird. Es sind also handlungstheoretisch systematisch drei Aspekte zu unterscheiden: die Konstitution des Handelns als Tat, dessen Vereinzelung und zeitliche wie räumliche Stabilisierung durch Institutionen sowie das Handeln in empirischer Hinsicht. Nachdem bisher das konstitutive Problem des Handelns als existenzielle Gefährdung diskutiert wurde, für deren Explikation ein Rekurs auf Natur oder Biologie nicht zwingend ist, sondern die auch in politisch-geschichtlichen Situationen bestehen kann, werden im folgenden die Aspekte der institutionellen Stabilisierung und des empirischen Einzelhandelns in den Blick genommen. 3. Stabilisierung und Vereinzelung als Effekt von Institutionen Unter der Voraussetzung der außeralltäglichen, für sich instabilen gemeinschaftlichen Entscheidung zum existenziell riskierten Dasein können sich eine „sekundäre Zweckmäßigkeit“199 ergeben, welche in Form zeitlicher und räumlicher Schematismen – Gehlen nennt die totemistische Ausbildung von Blutslinien über Generationen hinweg und die stationäre Tierhege200 – den rituellen Kern „rückwärts stabilisieren“201. Auf diese Weise wird Arbeitsteilung möglich 202, unter deren Bedingung der soziale Status durch Anlagerung sekundärer subjektiver Motive203 spezifizierbar wird, was zu dessen „Verästelung“204 und zu immer neuen Kombinationsmöglichkeiten empirischer Handlungen führt.205 Die Institutionenlehre im engeren Sinn erfaßt mithin den Bereich der Vermittlung der sozialen Handlungskonstitution mit dem Einzelhandeln. Unter der Bedingung der außeralltäglichen, geschichtlichen Etablierung und Stabilisierung von Institutionen wird schließlich all das möglich, was Gehlen in Der Mensch als alltägliche, empirische Kreisprozesse der Handlung beschreibt, die den Hiatus zwischen Antrieben und konkreten Handlungen überwinden und zum Aufbau empirischer Strukturen der je einzelnen Handlungen führen. Daher gibt es kein isoliertes Einzelhandeln, sondern immer nur durch Institutionen vereinzeltes Handeln. Im neu verfaßten Schlußkapitel von Der Mensch wird der Begriff der Institution am archaischen Beispiel des Totemismus als „Schematisierung eines sehr komplexen Verhaltens in einem anschaulichen Begriff, an den sich Verpflichtungserlebnisse anknüpfen können“206, eingeführt. Zur näheren Erläuterung müssen zwei 199 Vgl.
Gehlen, Urmensch, S. 34 f., 95, 121, 141 u. ö. Gehlen, Urmensch, S. 213 ff., 224 ff. 201 Vgl. Gehlen, Urmensch, S. 181, 213 ff., 251. 202 Vgl. Gehlen, Urmensch, S. 35 ff. 203 Vgl. Gehlen, Urmensch, S. 94 f. 204 Gehlen, Urmensch, S. 91. 205 Vgl. Gehlen, Urmensch, S. 47. 206 Gehlen, Mensch, S. 471. 200 Vgl.
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Theoreme Gehlens zusammengeführt werden: einerseits mit Blick auf die Konstitution der Handlung in der Tat das rituell-darstellende Verhalten, andererseits mit Blick auf die Anschauung bzw. die Empirie der individuellen Einzelhandlungen die Gewohnheitsbildung des Handelns unter der Trennung von Motiv und Zweck. Unter der Voraussetzung der Umkehrung der Bestimmungsverhältnisse in der Handlungslehre im Vergleich zur Erkenntnistheorie muß der Schematismus einerseits mit dem konstitutiven Problem des politisch-geschichtlichen Handelns im Verhältnis stehen. Letzteres Problem wird in der Institutionenlehre, also im Bereich der Handlungsschematisierung, mit dem Begriff der unbestimmten Verpflichtung (unbestimmte Bestimmtheit) gefaßt, die nach Gehlen das Kernproblem auch des Aufbaus von Institutionen bildet. In der neuen Fassung des Schlußkapitels von Der Mensch nimmt Gehlen exemplarisch die Anthropophagie als ein Bezugsproblem an, durch das sich durch Identifikation mit einem Totemtier eine Gruppeneinheit konstituieren kann. Das Totemtier bildet in dieser Version einen „äußeren ‚Appellgegenstand‘“, der „den Ansatzpunkt für ein asketisches Verhalten der Hemmungssetzung“ bietet: „Es ist verboten, das Totemtier zu töten und zu essen.“207 Dies impliziert eine Selbstbezüglichkeit des Willens, denn in der Identifikation mit dem Totemtier findet „der Mensch […] an sich selbst ein Thema seiner eigenen Willenskraft“208. Diese Selbstbezüglichkeit wird in eine anschauliche Verpflichtung übersetzt: „Indem nämlich die einzelnen Mitglieder der Gruppe sich je mit demselben Totemtier identifizieren“ und sich so gemeinsam auf das „Nichttöten[] und Nichtessen[] dieses Tieres“ verpflichten, entsteht auch eine Verpflichtung der Gruppenmitglieder untereinander: die existenzielle unbestimmte Verpflichtung läßt sich so in ein konkretes „Handeln übersetzen“, so daß das Verbot der Tötung des Totemtieres „zugleich den Mord und das Fressen des Gemordeten in der eigenen Gruppe [verhindert], weil ja jeder einzelne sich gegenüber jedem anderen mit dem Totem identifiziert hat“209. Ganz im Sinne des Schematismus wird eine Verpflichtung, die die „Gruppeneinheit“ betrifft, operativ zu einem konkreten und gewissermaßen vereinzelten „Verbot gegenüber jedem Gruppengenossen […] in derselben Bewegung real hergestellt“210. Der zentralen Rolle der Phantasie für den Schematismus wird von Gehlen dadurch Rechnung getragen, daß er das schematisierende Verhalten als „ideatives Verhalten“211 bezeichnet. Die diesem Verhalten zugrundeliegende „Phantasie“ aber ist „ganz eigentlich das elementare Sozialorgan“212. Die Phantasie ist Sozialorgan qua Schematismus: phantasiegeleitet konkresziert und vereinzelt sich politischgeschichtliche Handlungsbestimmtheit überhaupt zur Möglichkeit sozialen Han207
Gehlen, Mensch, S. 472. Gehlen, Mensch, S. 471. 209 Gehlen, Mensch, S. 473. 210 Gehlen, Mensch, S. 473 (Hervorh. hinzugefügt). Vgl. auch ebd., S. 376. 211 Gehlen, Mensch, S. 479 u. passim. 212 Gehlen, Mensch, S. 376. 208
VI. Eine reflexionstheoretische Relektüre von Arnold Gehlens Anthropologie
239
delns, das auf Individuen zurechenbar ist. Die Phantasie im Bereich der Handlung fungiert im Vergleich zur Erkenntnis in umgekehrter Richtung, ist also nicht „das Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen“213, sondern die „vitale Fähigkeit, mit der das Lebendige sich aus dem Orts- und Zeitpunkt, den es gerade innehat, weg- und außer sich versetzt, ohne tatsächlich von der Stelle zu weichen“214. Gehlen unterscheidet in zeitlicher Hinsicht Vergangenheits- und Zukunftsbezug der Phantasie. Im ersten Fall ist sie Erinnerungsvermögen oder Gedächtnis, im zweiten Fall Erwartung.215 Die Phantasie vermag „‚Versetzungsformen‘“216 zu bilden, die sich zwar im Bereich der „Bilder“217, das heißt, der Reflexion bewegen. Doch diese Bilder sind keine einfach-reflexiven Bilder von Objekten 218, sondern die Reflexion stellt hier als doppelte Reflexion Formen von Handlungsvollzügen bereit. Die doppelte Reflexion setzt sich in sich als Fremdheit, das heißt als Du. Anders gesagt, die Phantasie versetzt sich, das heißt sie versetzt sich aus der Reflexion in den Willen (qua Verwerfung und Bejahung) und wird sich als Wille inne: „[…] das Wir-Erlebnis wird realisiert, nämlich durch konkretes Verhalten mit dem Thema ,Wir, die Gruppe‘ persönlich neu erzeugt in realen Gesamtversetzungen, sagen wir dem Bärentanz. Die Gruppe wird nur erlebt, sofern sie zugleich etwas anderes ist, d. h. sie muß dargestellt werden durch Sichversetzen in ein gemeinsames Anderes und Handeln von daher. So erleben sie sich als die Bärengruppe in der Darstellung des Bären.“219
Statt der von Gotthard Günther angezielten logischen Stellenstruktur, die die Reflexion mehrwertig auf Ich-Du-Verhältnisse verteilt, können die Du-Versetzungsformen auch soziologisch und vielleicht sachlich triftiger als „verschieden besetzbare Formengerüste“220 verstanden werden. Institutionen wären dann eine nicht notwendig formal-organisatorische, sondern gesellschaftsweite Struktur von Handlungsstellen, die qua schematisierender Operativität zugleich ansatzweise Prozeßcharakter aufwiese. In Urmensch und Spätkultur wird der Ansatz des neuen Schlußkapitels von Der Mensch weiter entfaltet. Hier werden vor allem die Bestimmungsverhältnisse deutlicher. Das Bezugsproblem ist nicht die Fragilität der Gruppeneinheit angesichts des epochalen Anthropophagieproblems, sondern ein existenzbedrohendes Ereignis der Außenwelt, das heißt der Natur. Oben wurde die Kritik an der Ausschließlichkeit dieses Naturbezuges ausgeführt und versucht, die Existenzbedrohung ge-
213
Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. B 151. Gehlen, Mensch, 374. 215 Vgl. Gehlen, Mensch, S. 374 f. 216 Gehlen, Mensch, S. 660. 217 Gehlen, Mensch, S. 213. Vgl. ebd., S. 590 u. 357 f. 218 Vgl. aber Joas, Intersubjektivität bei Mead und Gehlen. 219 Gehlen, Mensch, S. 376. 220 Rehberg, Ansätze, S. 96. 214
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B. Zur Soziologie der Leipziger Schule
sellschaftsgeschichtlich konkret auf die Epoche der Weltkriege zu beziehen.221 Wie wir sahen, zieht Gehlen die auf die Natur zurückgehende Existenzbedrohung in einem außeralltäglichen „Naturereignis“ mit dem „Eindruck eines Verpflichtenden, das doch nicht definiert ist“222, zusammen. Dies nennt Gehlen eine „unbestimmte Verpflichtung“, die bestimmungslogisch exakt der unbestimmten Bestimmtheit in der Erkenntnistheorie entspricht. Ihr korrespondiert aufseiten der Betroffenen ein „Handlungsimpuls, der gerade durch das Fehlen von angeboren montierten Bewegungen einer Hemmung unterliegt, die ihn wieder als ein Bedürfnis zu handeln über die Bewußtseinsgrenze heben muß. Hiermit ist […] abgeleitet […]: das Bedürfnis nach einem noch unbestimmten Verhalten“223. Der von der außeralltäglichen Existenzbedrohung ausgehenden unbestimmten Verpflichtung entspricht also „‚das Bedürfnis, etwas zu tun‘“224, genauer gesagt also das bestimmte Bedürfnis, irgendetwas – noch Unbestimmtes – zu tun. Kürzer gesagt, der unbestimmten Bestimmtheit der Existenzbedrohung entspricht die bestimmte Unbestimmtheit der Einzelhandlung: „Die unbestimmte Verpflichtung […] steht in direktem Zusammenhang mit der Anschaulichkeit.“225 Diese Anschaulichkeit ist nichts anders als der Wille selbst, das Ich als reine Äußerlichkeit, als Du. Institutionell gebunden wird nicht das Ich, sondern das Du.226 Auf institutionentheoretischer Ebene wird als unbestimmte Verpflichtung im Begriff der „Situation“227 reformuliert, was in Der Mensch angeblich daraus resultiert, daß „die Natur […] dem Menschen eine Sonderstellung angewiesen“228 habe. Die sich anschließende Frage, die bereits Lipp ausdrücklich hervorhebt, ist dann, wie aus der „‚unbestimmten Verpflichtung‘ […] eine bestimmte [entsteht]“229. Gehlen betrachtet dies als die Frage, wie der unbestimmten Verpflichtung „ein spezifisches Verhalten ein für allemal zugeordnet wird“230. Unter der Voraussetzung von Lipps Kritik muß man davon ausgehen, daß durch die Tat die Herausforderung der Existenzbedrohung bereits angenommen wurde. Jetzt geht es um die Verstetigung bestimmter Verhaltensweisen, die sich auf die Herausforderung beziehen. Dies erfolgt im rituell-darstellenden Verhalten.
221
Siehe oben Kap. IV u. VI.1. Gehlen, Urmensch, S. 158. 223 Gehlen, Urmensch, S. 157. 224 Gehlen, Urmensch, S. 158. 225 Gehlen, Urmensch, S. 163. 226 Deswegen sind die Grenzen der sozialen Geltung von Institutionen nicht, wie Schelsky vorschlägt, mit Blick auf die subjektive Reflexion, sondern mit Bezug auf die politisch-geschichtliche Gründung von Institutionen zu bestimmen. 227 Gehlen, Urmensch, S. 159. 228 Gehlen, Mensch, S. 12. 229 Gehlen, Urmensch, S. 160. 230 Gehlen, Urmensch, S. 160. 222
VI. Eine reflexionstheoretische Relektüre von Arnold Gehlens Anthropologie
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Nachdem hiermit der Bezug des Schematismus zur Konstitution aufgewiesen ist, kommen wir zu seiner anderen Seite, den Bezug auf die Regulation. Die regulative Seite drückt Gehlen in dem Satz aus, daß „alle Institutionen als Systeme verteilter Gewohnheiten gelebt werden“231. Dabei bestehe die „Pointe“ in der „Entlastung vom Aufwand improvisierter Motivbildung“232. Das regulative Ideal institutioneller Bestimmung besteht darin, daß sich diese Gewohnheiten als „verselbständigte[]“ zu „Elementen der Institutione[n]“233 werden. Der Schematismus leistet hier mit Blick auf die Empirie individuellen Handelns das, was Luhmann später als Selektionsübertragung durch das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium der Macht beschreibt. Ihre reine Form ist im Bereich der Handlungsschematisierung der Imperativ, denn „ein Imperativ […] ist selbst eine Handlung und er setzt sich in Handlungen fort, indem er sie auslöst“234. Die Selektionsübertragung im Befehl setzt einerseits eine institutionelle „Instanz voraus, die zu Anweisungen berechtigt“, andererseits einen Inhalt, nämlich „etwas, das dauernd gelten soll“235, weshalb es verbreitet (im Sinne der der Vereinzelung im Schematismus) werden soll. Wenn die These zutrifft, daß der Inhalt des rituell-darstellenden Verhaltens die Kontingenz der eigenen Existenz ist, dann ist der Sinn der Institutionen, dieser Existenz Dauer zu verleihen und das Ende hinauszuschieben. Die in den Symbolen des rituell-darstellenden Verhaltens (archaisch: den Totems) symbolisierte Anschaulichkeit der eigenen Existenz „gerinnt schließlich in die einfache Formel: ‚man soll angesichts des Kultbildes den und den Ritus vollziehen‘. Der Imperativ ist daher die Form, wie die Wesenheit als gültige und verpflichtende gedacht wird, also jenseits der bloßen Vorstellungen sich verselbständigt. […] [D]ies ist die Form, wie allein jenseits der geistlosen Gewohnheit ein Verhalten auf Dauer gestellt werden kann: der Imperativ ist das virtuelle Schonvollzogensein der Handlung.“236
Dieser Übergangsbereich dynamisch stabilisierter, inhaltlich bestimmter Sollgeltungen ist das soziologische Herzstück der Institutionenlehre Gehlens. Die Gewohnheitsbildung im Bestimmungsbereich des institutionellen Imperativs bezieht sich auf das Problem, daß der Ritus als institutioneller Kern selbst völlig instabil ist.237 Gleichwohl bildet er die weder normative noch moralische, sondern existenzielle „Quelle des Sollens“238. Es erhebt sich die „Frage: wie wurde denn dieser
231
Gehlen, Urmensch, S. 23. Gehlen, Urmensch, S. 23. 233 Gehlen, Urmensch, S. 30. 234 Gehlen, Urmensch, S. 31. 235 Gehlen, Urmensch, S. 31. 236 Gehlen, Urmensch, S. 183. 237 Vgl. Gehlen, Urmensch, S. 213 f. 238 Gehlen, Urmensch, S. 162. 232
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B. Zur Soziologie der Leipziger Schule
Quellpunkt aller Stabilisierungen selbst stabilisiert […]?“239. Als Quellpunkt bildet er zwar „eine Art Hohlform, die gerade, weil sie zwecksetzungsfrei ist, alle möglichen Inhalte aufnehmen“240 und sich so selbst ad absurdum führen kann. An dieser Stelle tritt nun die sekundäre objektive Zweckmäßigkeit ein, durch welche der instabile kultische Kern der Institutionen festgehalten wird: „Diese Zweckmäßigkeit kann […] nur in der Geburt fundamentaler Dauerinstitutionen aus dem Ritus gesucht werden, deren Thema […] nur darin bestanden haben kann […], den Naturzweck zum eigenen Zweck zu machen.“241
Diese fundamentalen „Zwecke der Natur“ erblickt Gehlen „in der Ernährung und der Fortpflanzung […], deren Stabilisierung zu Institutionen also ein Nebenerfolg des Ritus gewesen sein muß“242. Für den Bereich der Ernährung ist Gehlens These, daß die im Kult verkörperten und in Bildern dargestellten wilden und gefährlichen Tiere eines Tages mit den Bildern vertauscht wurden, daß man also „noch auf der Stufe der Großwildjagd dem gemalten Bilde das lebende Tier selbst substituierte“243, indem man es nicht nur im Ritus und im Bild darstellte, sondern wirklich im Wortsinne als lebendiges festhielt und nicht tötete, sondern hegte. Für die Fortpflanzung bildete der totemistische Ritus die Möglichkeit, gruppenformierende Blutslinien der Abstammung zu stabilisieren, für die das „Totemtier als Ahnherr“244 eintritt. Gehlen vertritt also die „These von der Geburt der Blutslinie aus dem imitatorischen Tier-Ritual“245. Dies ermöglichte, neben der bereits erwähnten Überwindung der Anthropophagie die weitere „unerwartete sekundäre Zweckmäßigkeit“246 der Ein- und Ausheirat durch den Tausch von Mädchen zwischen den verschiedenen totemistischen Verbänden, durch welche der Inzest überwunden wurde. Damit wurde wiederum ein nach Gehlen objektiver Zweck der Natur in völlig ungeplanter, nicht intendierbarer Weise mittels des rituell-darstellenden Verhalten getroffen. Auf diese Weise verknüpft sich der dynamische, operativ-rituelle Kern mit der Ausbildung von Gewohnheiten, weil sich an die „im Zeitlauf […] ‚gleichbleibende
239
Gehlen, Urmensch, S. 215. Gehlen, Urmensch, S. 215. 241 Gehlen, Urmensch, S. 216. Vgl. Gehlen, Mensch, S. 472 ff. Die Kategorien des ideativen Verhaltens, sagt Gehlen in Der Mensch, „müssen sich […] mit gewissen potentiellen, übergreifenden Kategorien der organischen und menschlichen Welt decken, müssen sie im Vollzuge ‚treffen‘ und ‚realisieren‘ […]. Eben dieses ‚Treffen‘ legt sich aus in der überraschenden […] objektiven Zweckmäßigkeit, die nun festzuhalten und auf Dauer zu stellen der wesentliche Inhalt der fundamentalen Institutionen ist […]“ (ebd., S. 477). 242 Gehlen, Urmensch, S. 217. 243 Gehlen, Urmensch, S. 220. 244 Gehlen, Mensch, S. 477. 245 Gehlen, Urmensch, S. 233. 246 Gehlen, Urmensch, S. 235. 240
VI. Eine reflexionstheoretische Relektüre von Arnold Gehlens Anthropologie
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Sollfigur‘ nichtursprüngliche Motive anlagern können“247. Die institutionentheoretische Kategorie der Trennung von Motiv und Zweck besagt, daß im Rahmen stabilisierter Institutionen, mit denen bestimmte gewohnte Handlungsweisen verknüpft sind, eine unabsehbare Vielzahl subjektiver Zwecksetzungen möglich wird, mit denen von der einfachen Reflexion her an die Institution herangetreten werden kann: „Man handelt zunächst um der Sache willen, bei jeder Arbeit gibt es etwas, das getan werden muß, und diesem gilt ein verselbständigtes Interesse; sodann handelt man in Fortsetzung der Gewohnheit und des eigenen Könnens, aus dem Pflichtgefühl der eigenen Tätigkeit heraus, und dazu mit einer Unendlichkeit individueller, unterwegs freigesetzter Motive – aber im allgemeinen niemals im Hinblick auf die ‚Aufhebung von Bedürfnissen‘, also auf einen künftigen subjektiven Zustand der eigenen Befindlichkeit hin.“248
Von hier aus läßt sich nun auch Gehlens Kommunikationsbegriff aus Der Mensch weiter klären. Gehlen kennt nicht nur die bereits dargestellte Kommunikation mit den Dingen, in der das Handeln unter dem latenten Dauerschutz einer Institution mit den Dingen bekannt wird, sondern auch die „Kommunikation mit anderen“249. Diese setzt die institutionell ermöglichte, aus dem handelnden Umgang hervorgegangene Verfügbarkeit der Dinge sowie deren symbolische Verdichtung (Auslese durch Auswahl und Verwerfung) in der Sprache voraus.250 Die Kommunikation tritt aus ihrer Latenz und „wird objektiv, d. h. sie wird möglicherweise gleichgerichtet auf dasselbe Ding. Die Kommunikation mit anderen erhält einen Schnittpunkt, der ins Äußere fällt. Damit wird jedes künftige Interesse zunächst einmal öffentlich. Daß Menschen auf ein Äußeres hin in Beziehung treten, im Hinblick darauf sich miteinander in Verbindung setzen können, daß man sich in den anderen im Vorblick auf einen solchen Bezugspunkt einleben oder hineinversetzen kann, d. h. alle tieferen Vorgänge der Rede und Mitteilung werden von da aus angebahnt.“251
Wie Gehlen betont, ist hierbei immer die Situation primär, von dieser aus wird jeweils deren symbolische Kontraktion vorgenommen. Dinge werden nicht nur zu symbolischen Handlungsandeutungen zusammengezogen, sondern diese sind immer auch „Symbole in Symbolfeldern, worin nicht nur eine schnell und ‚umsichtige‘ Orientierung gewährleistet, sondern auch diejenige Entlastung möglich ist, die darin liegt, sich nicht auf die mögliche ungemeine Ausgiebigkeit der Dinge einlassen zu müssen. […] Da uns wahrnehmend weniger Einzeldinge als Gesamtsituationen gegeben sind, aber solche eben in gegliederter Form, wobei die Gliederungspunkte jeweils solche Symbole sind, so entsteht Beziehungserfassung grundsätzlich durch Dekomposition, Auflösung von Situationen in einzelne sensorische Akzente und deren Beziehungen, niemals durch 247
Wöhrle, Metamorphosen, S. 121. Gehlen, Urmensch, S. 69. 249 Gehlen, Mensch, S. 235. 250 Vgl. z. B. Gehlen, Mensch, S. 248 f. 251 Gehlen, Mensch, S. 235. 248
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B. Zur Soziologie der Leipziger Schule
Addition von etwa zuerst und der Reihe nach aufgefaßten Einzelheiten. […] Wenn unsere Handlungen sich so verhalten, daß sie bloß noch bestimmte und besondere Akzente oder Symbole unter sonst sehr veränderten, aber neutralisierten Umständen beachten, so ‚breiten sie sich aus‘, indem dasselbe Symbol, in ganz anderem Kontext, allein herausgehoben wird, und nun Wahrnehmung und Handlung sonst sehr verschiedene Dinge unter einer Hinsicht nehmen.“252
Gehlen beschreibt hier die Dekontextualisierung bestimmter symbolisch gewordener Dingeigenschaften und deren Übertragung in andere Kontexte. Diese bedeutet eine Verallgemeinerbarkeit und Erweiterbarkeit der Handlungserfahrung, denn: „Dieser Prozeß besteht also, ganz abstrakt gesagt, darin: daß mit Erfolg A [handlungserfolgreiches Symbol aus Handlungszusammenhang A, AH] für B [handlungserfolgreiches Symbol im Zusammenhang B] gesetzt, A als B genommen wird.“253
Dies ist möglich aufgrund der Operativität der Handlung.254 Von hier aus läßt sich Gehlens Begriff der Kommunikation erläutern. In der Kommunikation zwischen Handelnden – das heißt, nicht zwischen Ego und alter Ego, sondern zwischen einem Du und einem anderen Du – meint Mitteilung nicht die Mitteilung von Informationen über die Dinge, sondern Mitteilung von Handlungsmöglichkeiten. Es handelt sich um das operative Moment der Selbstbezüglichkeit des Willens. Was einer kognitiv vereinseitigten Kommunikationstheorie wie der von Luhmann unzugänglich ist, ist gerade der Clou eines volitiv orientieren Kommunikationsbegriffs: „Eine […] prinzipielle Irrationalität liegt in der sozialen Ebene des Denkens, in der Mitteilung. Die Mitteilung hat […] die außerordentliche Bedeutung, unsere Einsichten, welche ja direkt oder indirekt zuletzt Motive werden, und damit also den Entstehungsprozeß unserer Handlungen von der eigenen Erfahrung unabhängig zu machen. Auf Grund der sprachlichen Mitteilung verstehen und handeln wir von den Einstellungen und Erfahrungen Anderer her, und überhaupt nicht mehr aus dem Zusammenhang der eigenen Innenwelt. […] Den kommunikativen Gebrauch der Sprache haben wir oben eingeklammert […], aber diese Einklammerung darf keine endgültige sein. Überall da also, wo wir […] im unmittelbaren Erlebnisumgang mit den Dingen stehen, sie in tätigem Umgang bewältigend […], wird eine Einsicht oder Erkenntnis natürlicherweise in soziale Bewegung gebracht, sie wird nicht nur […] ‚transportabel‘, sondern in denselben oder ähnlichen Interessen mitgeteilt […]“255. 252
Gehlen, Mensch, S. 249 f. Gehlen, Mensch, S. 251. 254 Im übrigen wird damit unter handlungstheoretischem Gesichtspunkt und in anderen Termini ebenjener Strukturbildungsprozeß formal erfaßt, der bei Luhmann mit dem Begriffspaar von Kondensation und Konfirmation bezeichnet wird. Kondensation und Konfirmation betrifft die Luhmanns Sinnbegriff vorgelagerte operative „Genese von Sinn“ (Luhmann, Recht, S. 127). Kondensation als „Reduktion auf Identisches“ (Luhmann, Wissenschaft, S. 108) entspricht dabei der von Gehlen in der Handlung beobachteten symbolischen Verdichtung, während Konfirmation dafür steht, daß sich solche Identitäten „auch für einen anderen Kontext als geeignet erweisen“ müssen, damit die Identität „auch in einem neuen Kontext als dieselbe erkennbar bleibt. Dadurch entstehen re-identifizierbare Invarianzen.“ (Luhmann, Recht, S. 127). 253
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Mitteilung heißt in der Handlungslehre Weitergabe und Verteilung von Handlungsansätzen, denn mitgeteilt werden nicht nur begrifflich faßbare Bedeutungen (Informationen, wie Luhmann sagen würde), sondern auch die kognitiv nicht erfaßbaren Handlungsimpulse: 255
„Die Suggestionen, Ansteckungen, die wortlosen Einverständnisse und Gefühlsentwicklungen, die damit zusammenhängenden Gesinnungen und Gesinnungsfolgen und nicht zuletzt die entbundenen Handlungen gehören also durchaus zur Bedeutung von Aussagen, wenn man darauf achtet, daß diese in der sozialen Sphäre leben 256, aber natürlich zu einer begrifflich gar nicht faßbaren Bedeutung. Sie gehören so sicher zur Bedeutung, als diese doch zumindest in dem besteht, ‚was darunter verstanden wird‘.“257
In der ersten Auflage heißt es direkt weiter: „Man kann natürlich eine Mitteilung abstrakt herausheben und auf den bloßen Satz, die mitgeteilte Erkenntnis, zurücksetzen – das aber ist eine Kunstleistung der Abstraktion.“258
Wenn Sprache und Kommunikation wie bei Gehlen handlungstheoretisch verstanden werden, bleibt in jeder noch so unhinterfragten Gewohnheit „für immer etwas von ‚Durchsetzung‘ erhalten, von Ansteckung oder Befehl, selbst in späteren reinen Mitteilungen“259. Gehlen unterscheidet offenkundig ähnlich wie Luhmann zwischen Bedeutung, Mitteilung und Verstehen, nur daß Kommunikation in der Systemtheorie einseitig auf den „Sonderfall von Informationsverarbeitung schlechthin“260 reduziert wird. Dies erfolgt durch die kognitivistische und egologische Vereinseitigung der Beteiligten: „Im Unterschied zu bloßer Wahrnehmung von informativen Ereignissen kommt Kommunikation nur dadurch zustande, daß Ego zwei Selektionen unterscheiden und diese Differenz seinerseits handhaben kann. […] Die Differenz liegt zunächst in der Beobachtung des Alter durch Ego. Ego ist in der Lage, das Mitteilungsverhalten von dem zu unterscheiden, was es mitteilt. Wenn Alter sich seinerseits beobachtet weiß, kann er diese Differenz von Information und Mitteilungsverhalten selbst übernehmen und sich zu eigen machen […] “261.
Indem der Inhalt der Mitteilung auf die sachliche Fremdreferenz (Information) reduziert wird, fällt genau die Handlungsdimension (der Du-Aspekt) der Mitteilung, um die es Gehlen geht, heraus. Luhmann konzediert zwar, daß man „sehr wohl auch über sich selbst etwas mitteilen [kann] […]; dies aber nur so, daß man 255 256
Gehlen, Mensch, S. 650 f. In der ersten Auflage heißt es „in der Mitteilung leben“ statt „in der sozialen Sphäre
leben“. 257 Gehlen, Mensch, S. 362 f. 258 Gehlen, Mensch, S. 651. 259 Gehlen, Mensch, S. 246. 260 Luhmann, Soziale Systeme, S. 198. Vgl. auch Göbel, Institution. 261 Luhmann, Soziale Systeme, S. 198.
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sich selbst als Kontext von Informationen vorführt, die auch anders ausfallen könnten“262. Das heißt nach Luhmann, daß man nicht anders kann, als sich selbst als Handelnden gleichsam kognitivierend in die Sachebene zu schieben, so daß – wie man mit Gehlen sagen kann – die eigene Handlung „objektiv und analytisch, in der Ebene der Außenvorgänge“ betrachtet wird: „Dann aber verschwindet die Handlung unrettbar. Man denkt nämlich dann notwendig an Beziehungen von Prozessen und Dingen, die im Verhältnis von Ursache und Wirkung stehen. […] Durch alle diese völlig unkorrekten Begriffe fällt die Handlung wie durch ein Sieb hindurch.“263
Gegen die szientifische Abstraktion der Kommunikation zur Informationsverarbeitung zielt Gehlen auf so etwas wie Handlungsfähigkeitsverteilung im Sinne der Schematisierung des reinen Handelns. Wenn Mitteilung im Sinne Luhmanns Handlung ist, dann setzt kommunikative Informationsverarbeitung stets Handlungsfähigkeitsverteilung voraus – nicht aber umgekehrt! Denn während die Abstraktion der Kommunikation auf Informationsverarbeitung als Grenzfall auch im Rahmen der Handlungslehre beschreibbar ist, wird der Handlungsaspekt im Sinne Gehlens in Luhmanns Systemtheorie systematisch ausgeblendet. Bei Gehlen steht der Kommunikationsbegriff im Zusammenhang mit dem Problem der Charakter-, das heißt der Gewohnheitsbildung. Im Begriff des Charakters wird die Möglichkeit des Kontextwechsels festgehalten. Der Charakter ist das Gegenstück zu Symbolisierung und Mattsetzung des Überraschungsfeldes der Dinge. Er ist einerseits „ein rein Irrationales, ein bloßes ‚Daß‘ – eine irrationale Antriebskonstante“264, die einer „Logik der Gewißheiten“265 folgt und durch ein vorproblematisches „Erledigen“ bzw. „Ablehnen“ wie durch ein ebenso vorproblematisches „unbeirrbare[s] Festhalten“266 bestimmter Handlungsinhalte aufgebaut wird. Der Charakter als eine gewohnheitsmäßige „Ordnung des Abstellens und Verzichtens“267 leistet so eine invariante Führung des hinsichtlich der jeweiligen empirischen Problemstellungen variablen Handelns. Gehlen betont, daß diese Art 262 Luhmann, Soziale Systeme, S. 207. Luhmann zufolge resultiert daraus das Problem der „Aufrichtigkeit“ (ebd., S. 207), das der Kommunikation inhärent sei, denn man könne „nicht sagen, daß man meint, was man sagt. Man kann es zwar sprachlich ausführen, aber die Beteuerung erweckt Zweifel, wirkt also gegen die Absicht. Außerdem müßte man dabei voraussetzen, daß man auch sagen könnte, daß man nicht meint, was man sagt. Wenn man aber dies sagt, kann der Partner nicht wissen, was man meint, wenn man sagt, daß man nicht meint, was man sagt“ (ebd., S. 208). Das Problem, das Luhmann mit der Aufrichtigkeit hat, stellt sich nur für ein reflektierendes Ich, es ist ein Reflexionsproblem, das sich jeder nicht zureichend durchgeführten Reflexion aufdrängt. Im Handeln mit Bezug auf das Problem des existenziellen Verunglückens wird es ausgehängt. 263 Gehlen, Urmensch, S. 28 f. 264 Gehlen, Mensch, S. 650. 265 Gehlen, Mensch, S. 648. 266 Gehlen, Mensch, S. 645. 267 Gehlen, Mensch, S. 359.
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der Ordnung wissenschaftlich „wesentlich unbegründbar“268 ist. Dem ist hinzuzufügen, daß sie deswegen keineswegs unbestimmt ist. Wenn die allgemeine Tendenz der handelnden Aneignung der Dinge darin besteht, diese verfügbar zu machen, so daß die Welt schließlich voraussehend und tendenziell situationsenthoben beherrschbar wird, dann geht gleichwohl der letzte Schritt in dieser Tendenz der Abstraktion, Symbolisierung und Situationsentlastung gerade nicht auf. Der letzte Schritt aus der geführten Kindheit zum souveränen Handeln des Erwachsenen erfordert eine Wiederaneignung der elementaren Situativität überhaupt. Diese Situativität, die Riskiertheit des Handelnden, wird von Gehlen biologisch als eine solche konzipiert, die man nur um den Preis der Selbstzerstörung ablehnen kann. Denn andererseits wird der Begriff des Charakters in letzter Konsequenz nicht nur „irrational“ über das operativ-formative Annehmen und Ablehnen von Handlungsbestimmungen gedacht, sondern auch über dessen bewußte „Gründung“269 – gegen den „Überdruß am schwankenden Zustand des Instinkts“270. Die Folge ist ein „Innesein […][,] eine Gegenwärtigkeit selbstverständlicher Grundentscheidungen“271. Die Notwendigkeit solcher selbstverständlichen Grundentscheidungen wird von Gehlen im „Gesetz der Zucht“ zusammengefaßt. Die Einheit der Führung liegt nicht in den Dingen, sondern im reflexiven Rückbezug auf konkrete „Führungssysteme“272. Die selbstbezügliche Annahme der Notwendigkeit einer institutionellen Formierung des Handelns, wie sie Gehlen im „Gesetz der Zucht“ formuliert, ist die Bedingung der Möglichkeit der Handlungs- und Institutionenlehre und zugleich die Form, in der der Handelnde selbst die Fähigkeit gewinnt, „die über die ganze Breite der Person ablaufenden Bewegungen ,in Führung zu nehmen‘“273. Zugleich ist das Gesetz der Zucht Karl-Siegbert Rehberg zufolge Kern einer „Sozialtheorie“, die mit der „Lehre von den ,obersten Führungssystemen‘“, ausgehend vom Verhältnis zwischen „Antriebsüberschuß“ und dem „Gesetz der ,Zucht‘“274, bereits in der ersten Fassung von Der Mensch vorliegt. Diese Sozialtheorie ist einerseits „auf den einzelnen bezogen“, andererseits lassen sich darüber „aber auch die Einzelmenschen zusammenschließen zum formierten Aktivismus“275. Die Institutionenlehre entfaltet die hierin involvierten Bestimmungsverhältnisse. 268
Gehlen, Mensch, S. 653. Gehlen, Mensch, S. 443. 270 Gehlen, Mensch, S. 443, mit Kant. 271 Gehlen, Mensch, S. 443. 272 Gehlen, Mensch, S. 680. Vgl. ebd. S. 452 f. u. 709 ff. 273 Gehlen, Mensch, S. 430. 274 Rehberg, Grundlagentheorie der Institutionen, S. 117. 275 Rehberg, Grundlagentheorie der Institutionen, S. 118. Rehberg sagt weiterhin, daß Gehlen mit dieser ersten Fassung des Institutionenkonzepts „unmittelbar aus der biologischen Konstitution des Menschen ‚oberste Führungssysteme‘ ableiten wollte“ (Rehberg, 269
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Das Gesetz der Zucht ist das handlungstheoretische Pendant zum erkenntnistheoretischen „Ich denke“. Es steht dafür, daß sich der Handelnde seine Führungsbedürftigkeit und damit seinen Bezug zu den Institutionen klarmachen kann. Im Gesetz der Zucht wird die eigene „Riskiertheit“, die man als Vollzug je ist, thematisch. Handlungsgewißheit und invariant formierte „Dauerinteressen“ sind deshalb „nicht bloß […] gewohnheitsmäßig geworden […]. Dauerinteressen im eigentlichen Sinne sind vielmehr solche, welche das Lebensgesetz des Menschen in sich aufgenommen […]“276, das heißt bejaht haben.277 Das Handeln, das in der operativen Formierung „zunehmend indirekt, symbolisch, zunehmend ‚frei‘ von der Unmittelbarkeit, aber gerade dadurch führend und umsichtig“278 wird, kann sich durch diesen Schritt explizit von den Zumutungen der Unmittelbarkeit befreien. Offenkundig entspricht die letztere, von Gehlen in Anführungszeichen gesetzte Freiheit von der Unmittelbarkeit der Bejahung der Situativität des Handelns, in der der Wille sich selbst zum Material wird.279 Zum „Material der Zucht“280 wird der Wille sich aber nicht als ‚Gesamtentwurf der Natur‘, sondern nur „an bestimmten Situationen“281. Deswegen bedarf auch die Handlungs- und Institutionenlehre des Grundbegriffs der Situation. Er kann daher nicht, wie Gehlens Rückblick suggerieren will, aus der Handlungslehre verschwunden sein. Nur dann wird es möglich, die sich bereits in der Theorie der Willensfreiheit andeutende Verabsolutierung der Reflexionslosigkeit zu vermeiden und die dauernde Bindung des Willens und Handelns an die Reflexion – aber an die doppelte – zu berücksichtigen.282 Deshalb kann Gehlen auch sagen, daß eine „Persönlichkeit […] eine Institution in einem Fall“283 sei. Denn eine Persönlichkeit zeichnet sich durch die Fähigkeit aus, adäquat auf die ihr gegebenen Situationen zu handeln: Grundlagentheorie der Institutionen, S. 118). Gegenüber der Annahme einer unmittelbaren Beziehung zwischen der biologischen Situation des Menschen und den obersten Führungssystemen, die auch Gehlen sich selbst in seinem Selbstrückblick bescheinigte, wird hier versucht zu zeigen, daß diese Beziehung nicht Unmittelbarkeit, sondern vielmehr Vermittlung, nämlich die Form des Selbstbezugs der Handlung, ist. 276 Gehlen, Mensch, S. 415. 277 Dies steht nicht im Widerspruch zu den „Irrationalen Erfahrungsgewißheiten“ (Gehlen, Mensch, S. 355 ff.). 278 Gehlen, Mensch, S. 743. 279 Vgl. in diesem Zusammenhang auch einen der frühesten, bereits um 1917 verfaßten Texte von Hans Freyer über „Das Material der Pflicht“ (Freyer, Material der Pflicht), in dem Freyer die Bewegung des Begriffs der Pflicht im Denken Fichtes vom Kantischen Ausgangspunkt des formalen Sittengesetzes zu einem inhaltlich bestimmten Pflichtbegriff im Spätwerk Fichtes nachzeichnet. Die vergleichbare Bewegung der „Soziologisierung“ der Moral vollzieht Horst Firsching aufschlußreich nach, in deren Kontext er auch Gehlens Theorie der Willensfreiheit rückt (Firsching, Moral, S. 204 ff.). 280 Gehlen, Mensch, S. 408 (Hervorh. anders gesetzt). 281 Gehlen, Mensch, S. 408. 282 Vgl. zur Kritik schon Günther, Rez. Arnold Gehlen. 283 Gehlen, Seele, S. 133.
VI. Eine reflexionstheoretische Relektüre von Arnold Gehlens Anthropologie
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„Wer die Kraft und die Erfindungsgabe hat […], die Situationen, und gerade die alltäglichen, auch auszuwerten, sie in all ihren Qualitäten zu vernehmen: der hat oder ist Persönlichkeit im spezifischen Sinne. Das kann nur der, dem […] die Übersicht über sich und die Situation nicht verloren geht und der diese Übersicht handelnd beweist.“284
Als kontingenter Fall unter die Institution subsumiert zu sein, ist wie gesagt im Sinne des Schematismus zu verstehen: die Institution bezieht das Kontingente als Kontingentes ein und ermöglicht freies, das heißt lagebezogenes Handeln. Daher kann in Gehlens elementarer Anthropologie kein Robinson, sondern muß in ihr eine institutionelle Ordnung vorausgesetzt sein. Die Einsicht in die Notwendigkeit der Zucht heißt nichts anderes als die institutionelle Handlungsbestimmtheit als Grundsatz des Handelns bewußt inkraft zu setzen, das heißt auf die geschilderte Weise als die eigene Bestimmung zu übernehmen. In der Anthropologie wird diese letzte Bestimmung auf den ominösen „Gesamtentwurf der Natur“ und nicht, wofür hier plädiert wird, auf eine geschichtliche Lage zugerechnet. 4. Empirische Kreisprozesse der Handlung Das Bezugsproblem des handelnden Umgangs mit den Dingen besteht in der adäquaten Bestimmung des Handelns durch die Dinge, was sich als Können bzw. in der Führung von Bewegungen zeigt, die dann gelingen oder mißlingen können. Dem entspricht ein zweiter Wahrheitsbegriff, den Freyer so formuliert: „Dem interesselosen Wohlgefallen des theoretischen Geistes begegnet diese Sorte Wahrheit allerdings nie, und er würde kaum etwas mit ihr anzufangen wissen. […] Sie ist echte Wahrheit, hervorgelockt vom Willen, aber keineswegs ein willkürlicher Aspekt, sondern mit der ganzen Objektivität der Gegenstände geladen: ein präzises Bild der wirklichen Sache. Ist es nicht präzis, so korrigiert sich’s von selbst. Der Springer fällt auf die Nase, das Gefecht geht fehl, und der Griff greift nicht die Gelegenheit, sondern daneben“.285
Das Verhältnis von Bestimmtheit und Unbestimmtheit bzw. von Begriff und Anschauung ist im Handeln gegenüber dem Erkennen also thematisch invertiert. Die Handlung ist zunächst eine Unbestimmtheit, die an der Bestimmtheit der Dinge Erfahrungen machen und Führung (Bestimmung) gewinnen kann. Deswegen kann Gehlen unter der Prämisse der Verlagerung der Antriebsmomente in den Gegenstand vom Willen als „Material der Zucht“286 sprechen. In den Worten Gehlens: die Handlung ist – als entäußertes Du – „den Außenerfahrungen entblößt und damit und darin abwandlungsfähig und steuerbar“287, sie ist als unbestimmte („entblößte“) bestimmbar („steuerbar“). 284
Gehlen, Seele, S. 133. Freyer, Pallas Athene, S. 22. 286 Gehlen, Mensch, S. 408. Ähnlich ist bei Freyer der Wille das „Material“ der Gesellschaft (Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 81, 89, 303 u. Freyer, Herrschaft und Planung, S. 23). 287 Gehlen, Mensch, S. 558 (Hervorh. hinzugefügt). 285
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B. Zur Soziologie der Leipziger Schule
Die Dinge hingegen sind bestimmungslogisch genauer als unbestimmte Bestimmtheit zu fassen: ihnen eignet eine zunächst noch unbestimmte Spontaneität,288 sodaß ihre Bestimmtheit für die Handlung „einfach ein unendliches Überraschungsfeld“289, ja eine „elementar feindliche“290 Umgebung bildet. Beide Momente – das heißt, die bestimmte Unbestimmtheit der Handlung als reiner Vollzug und die unbestimmte Bestimmtheit der Dinge – müssen in ein Verhältnis gesetzt werden, in welchem sie sowohl als verbundene als auch als getrennte aufeinander bezogen werden. Dies geschieht nun nicht in der Form des Erkennens, das heißt im Urteil, sondern in Situationen des kommunikativen Umgangs mit den Dingen. Bestimmungen werden in der Erfahrung des Handelns mit den Dingen gewonnen, wodurch auf der einen Seite das Handeln ein zunehmend bestimmtes, das heißt geführtes wird, weil die Bewegungen gekonnte werden, während auf der anderen Seite die Dinge ihre gefährliche „Eindringlichkeit“291 verlieren: „Unsere Bewegungen müssen aus der Unbestimmtheit und Ungesteuertheit an den Sachen selbst Richtung und Prägnanz erhalten haben, also einsetzbare und geführte geworden sein, um ‚gekonnte‘ zu sein.“292 Genauer gesagt wird die Eindringlichkeit und Feindlichkeit der Dinge durch die Phantasie zu Handlungserwartungen umgeformt. Hier liegt das Moment der Verbindung der Dinge und des Handelns. Die von der Phantasie gebildeten Versetzungsformen werden im experimentierenden Handeln ‚eingebildet‘, das heißt im Wortsinne inkorporiert: „Wenn wir vor einem breiten Graben einen Sprung erwägen, so ist die Ausführung oder Unterlassung vom Resultat eines ‚eingebildeten‘ Sprunges abhängig. Wir können alle unsere Glieder phantasiemäßig in andere Lagen, Bewegungen oder Bewegungskombinationen versetzen, ohne dies ‚wirklich‘ auszuführen. Sportliche Fähigkeit scheint in hohem Grade in der guten Leistung der Bewegungsphantasie zu bestehen, die die bei jedem Sport beanspruchten neuen Kombinationen vorentwirft. Wir können uns mit ihr in eine Bewegung einleben – nicht eindenken – ohne sie zu vollziehen.“293
Die „Mattsetzung ihrer Eindringlichkeit“294 erfahren die Dinge, wenn die Handlungsbewegung sich „nicht nur in das Ding, sondern sogar in seine bevorstehenden Antworten hinein[versetzt]“295. Die so reduzierte Eindringlichkeit wird dann zu einer „‚mögliche[n] Ausgiebigkeit‘“296, nämlich von „Bewegungsvorschriften“297. 288
Gehlen, Mensch, S. 436, spricht auch von der „Phantasie der Dinge selbst“. Gehlen, Mensch, S. 149. 290 Gehlen, Mensch, S. 689. 291 Gehlen, Mensch, S. 204. 292 Gehlen, Mensch, S. 213. Vgl. auch ebd., S. 278 u. Gehlen, Urmensch, S. 31 ff. 293 Gehlen, Mensch, S. 211. 294 Gehlen, Mensch, S. 204. 295 Gehlen, Mensch, S. 590. 296 Gehlen, Mensch, S. 149. 297 Gehlen, Mensch, S. 218. 289
VI. Eine reflexionstheoretische Relektüre von Arnold Gehlens Anthropologie
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Denn in dem Maße, wie die Dinge im tätigen Umgang zu nur noch symbolischen Andeutungen des Sehfeldes verdichtet werden, knüpft die Phantasie mögliche Handlungsverläufe an sie: es erfolgt eine „Umarbeitung des Überraschungsfeldes in eine verfügbare und in verdichteten Andeutungen übersehbare Welt von zu erwartenden Eindrücken und Erfolgen“298. Gleichwohl bleiben die Dinge und das Handeln getrennt: „Wir haben eben die Dinge nicht ‚selbst‘“299, auch nicht als verfügbare und beherrschte. Die Handlungsphantasie erreicht nicht die Dinge selbst. Wenn Gehlen sagt, die „Handlungsphantasie […] ist […] sozusagen die Phantasie der Dinge selbst“300, stellt das Wörtchen sozusagen die entscheidende Einschränkung dar: die Handlungsphantasie reicht nur bis zu Urphantasie, die aber gerade dadurch gekennzeichnet ist, das Leben in seinem reinen Vollzug eben nicht bestimmen zu können. Allerdings stellt sich die ‚Verfügbarkeit‘ und ‚Übersehbarkeit‘ der Dinge als Wiederholbarkeit eigener Handlungen im Umgang mit den Dingen dar: „die Phantasie der Bewegung versetzt sich in den Gegenstand, und wir erleben unsere eigenen Bewegungen mit vom Gegenstand her, so daß […] Eigenschaftsfolgen [des Dinges, die in der Umgangsbewegung wahrgenommen werden, AH], immer wiederholbar, zugleich Bewegungsanweisungen sind. Das bedeutet: die Objektivität […] stellt sich gerade im Kommunikationsprozeß, im sichversetzenden Umgang heraus!“301
Am Ende dieser Bestimmungsprozesse stehen so durch die Phantasie entworfene „Zielbilder“ der Bewegung, „ihres Verlaufs und ihrer Erfolge“302. Dieser später als „Verlagerung der Antriebsmomente“303 bezeichnete Sachverhalt kann „Willenshandlung“304 genannt werden, denn der Wille bestimmt nicht ein anderes, sondern er bestimmt durch ein anderes sich selbst. Es gibt in diesem Prozeß kein Ich, sondern nur ein handelndes Du, für welches deshalb die Dinge „Mitteilungen“ und „Antworten“305 bereithalten. In bestimmungslogischer Perspektive läßt sich zwischen den Darstellungen der empirischen Kreisprozesse des Handelns in Der Mensch und in Urmensch und Spätkultur kein Unterschied feststellen. Allerdings sind die Formulierungen im Rahmen der Institutionenlehre prägnanter. Aber auch hier spricht Gehlen von der „Steuerung von der Sache her“306. Unter dem „Antrieb“ des Handelns wird mit
298
Gehlen, Mensch, S. 149 f. Gehlen, Vom Wesen der Erfahrung, S. 13. 300 Gehlen, Mensch, S. 436. 301 Gehlen, Mensch, S. 284 f. 302 Gehlen, Mensch, S. 590. 303 Gehlen, Urmensch, S. 27. 304 Gehlen, Mensch, S. 167 f. 305 Gehlen, Mensch, S. 169. 306 Gehlen, Urmensch, S. 12, 27 u. passim. 299
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der „Verlagerung der Antriebsmomente in den Gegenstand“307 gerade nicht ein „Bedürfnis“308 des Handelnden verstanden, sondern dessen Antriebe „können also aus der Sache entnommen und von ihr [!, AH] weitergetrieben werden“309. Auch die Theorie der phantasiegeleiteten Erwartungsbildung wird hier nur wiederholt: das experimentierende „Probehandeln“ erfolgt durch „eine geführte Phantasiebewegung des ‚Sichversetzens‘, in der die ganz nach außen gewendete praktische Intelligenz mögliche Handlungen und mögliche Dingantworten vor sich hin entwirft“310. Das Handeln bestimmt sich von den Dingen her, das heißt zum einen, die Dinge sind als sie „selbst“ unabhängig vom Handeln bestimmt. Andererseits ist dies eine vom Handlungsstandpunkt aus getroffene Behauptung. Sie kann getroffen werden, weil die Dinge nicht nur schlicht „außerhalb“311 des Umkreises der Handlung liegen, sondern weil „man von ihnen her handelt“312. Gehlen denkt an archaische Dinge: „Schon indem man ein Haustier ernährt und pflegt oder den Acker bestellt, verhält man sich zum Selbstwert im Dasein dieser Pflanzen und Tiere, gerade auch wenn sie, zu einem späteren Zeitpunkt, als Nahrung dienen. Doch bleibt diese Beziehung auf die eigenen Bedürfnisse zurückgestellt.“313
Diese Handlungssituation unterliegt als solche einer „Entscheidung“ zum Eigendasein des Dings als dem „Entschluß, von diesem her zu handeln“314. Das zweckfreie Handeln im empirischen Sinn der kommunikativen Kreisprozesse ist nur unter dem Schutz einer Institution möglich, weil die Entscheidung zum Eigendasein der Dinge bzw. der Entschluß, von diesen her zu handeln, eine Entscheidung zum Dasein überhaupt voraussetzt. 5. ‚Das Tier‘ als Ideal vollständiger institutioneller Bestimmung Das Soziale bleibt in der elementaren Handlungslehre implizit, ist aber stets vorausgesetzt.315 Der in der Neufassung des Schlußkapitels von Der Mensch sowie in Urmensch und Spätkultur explizierte Begriff des Sozialen als Institutionalität wird bestimmungstheoretisch gesehen in regulativer Hinsicht verwendet, wenn er über den Begriff des Tieres gefaßt wird. Das Regulativ des empirischen Handelns ist die Idee einer vollständigen sozialen Bestimmung des Menschen, eine Idee, die 307 Gehlen, Urmensch, S. 27 u. passim, Gehlen, Probleme einer soziologischen Handlungslehre, S. 216. 308 Gehlen, Urmensch, S. 12. 309 Gehlen, Urmensch, S. 12. 310 Gehlen, Urmensch, S. 13. 311 Gehlen, Urmensch, S. 14. 312 Gehlen, Urmensch, S. 15. 313 Gehlen, Urmensch, S. 15. 314 Gehlen, Urmensch, S. 16. 315 Vgl. Gehlen, Mensch, S. 64 f.
VI. Eine reflexionstheoretische Relektüre von Arnold Gehlens Anthropologie
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niemals verwirklichbar ist, aber funktional für ein bestimmungstheoretisches Problem steht. Dieses Regulativ wird in Der Mensch und in Urmensch und Spätkultur ähnlich so formuliert, daß ein „praktisches Gewohnheitsverhalten beim Menschen an der Stelle steht, wo wir beim Tier die Instinktreaktion finden“316. ‚Das Tier‘ steht für die Lösung des Problems, welches für den empirischen Menschen angezeigt und wissenschaftlich untersucht werden soll: das Tier hat mit seiner „bloßen Existenz […] schon ein ‚Problem‘ gelöst […], und zwar in einer Vollkommenheit, die jeder Erkenntnis spottet. […] [A]uf das Tier sehen heißt zugeben, daß das lebendige Dasein selbst ein Wert ist, vielleicht der Wert“317. Nimmt man die von Gehlen präsentierte Analogie von Instinkt und Institution beim Wort, steht ‚das Tier‘ für die vollständige empirische Bestimmung der Handlung durch die Institutionen, die dem Menschen gerade nicht erreichbar ist, wie Gehlen über die vorgeschichtlichen Formen des Tierkultes sagt: „im Tier bewundert der Mensch eine ihm nicht gegebene Weise des ungestörten, unbeeinflußbaren Daseins, also der ‚Macht‘ – eine nicht menschliche und von seiner Phantasie als übermenschlich ausgelegte Vollkommenheit. Mit anderen Worten: die ganze konstitutionelle Disharmonie und Belastung der menschlichen Existenz […] sieht man in der mühelosen, sicheren, stillen Lebendigkeit des Tieres gerade nicht, und darin unterscheidet sich der Mensch selbst vom Tiere, das ‚göttlich‘ ist im Hinblick auf die gelassene, geheime Mächtigkeit seines Daseins.“318
Die umgekehrte ‚Göttlichkeit‘ ‚des Tieres‘ als Idee einer vollkommenen Lösung des Problems des Handelns ist jene Fiktion,319 die Freyer zurecht gegen den Primat der Anthropologie als Konstitutionstheorie des Handelns ins Feld
316
Gehlen, Urmensch, S. 24. Vgl. Gehlen, Mensch, S. 37. Gehlen, Mensch, S. 511. Vgl. ebd., S. 77. 318 Gehlen, Mensch, S. 385. 319 Dies hat Luhmann zu folgendem Urteil über Gehlen bewogen: „Gehlens Kontext ist noch der alteuropäische Versuch, den Menschen aus seinem Unterschied zum Tier zu bestimmen, nur daß in diesem Kontext die Bewertung umgekehrt wird. Gehlen feiert nicht mehr das Unterscheidungsmerkmal der Vernunft, sondern scheint zu bedauern, daß der Mensch nicht mehr Tier sein, sondern es nur noch verehren kann. […] Demgegenüber verschiebt sich der Denkrahmen, wenn man nicht mehr Mensch und Tier, sondern Sinnsysteme und organische Systeme und eventuell noch physische Systeme und Maschinen als Systeme vergleicht“ (Luhmann, Systemtheoretische Argumentationen, S. 308, Anm. 29). Dagegen argumentiert Gotthard Günther, daß Gehlens Anthropologie im klassischen Sinn gar keine Philosophie mehr ist: „Ein hervorragender und mit respektablem Können unternommener Versuch, die Erscheinung des Menschen unter bewusster Absehung von dem kategorialen Gegensatz von Subjekt und Objekt zu verstehen, ist die an anderer Stelle von uns zitierte Anthropologie Arnold Gehlens. Es ist aber tief bezeichnend, dass der Verfasser des ‚Menschen‘ zum Apostat gegenüber der Philosophie werden musste, um seine Resultate zu erreichen. Diese Anthropologie ist unphilosophisch, das ist richtig. Es ist aber ebenso richtig, dass man mit den heute zur Verfügung stehenden philosophischen Mitteln die von Gehlen erarbeiteten Resultate nicht erreichen kann.“ (Günther, Amerikanische Apokalypse, Mappe 245D, S. 134 f.). 317
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führt.320 Es geht mit Freyer darum, dieser Idee und damit der Unterscheidung von Mensch und Tier einen systematischen Platz zuzuweisen. Dieser Platz ist die Regulation und nicht, wie Gehlen behauptet, die Konstitution der Handlung. Der Charakter und die Gewohnheiten des Handelnden können stets nur fast wieder ‚instinktiv‘ werden und sich mit den organischen Vollzügen treffen. Gehlen sorgt aber aufgrund der fehlenden Unterscheidung zwischen Konstitution und Regulation unvermeidlich für Mißverständnisse, wenn er schreibt, daß Dinge wie „das Werkzeug, Gerät oder Sachsymbol […] eine Art Auslöserwirkung auf die ebenso bestimmte Handlungsgewohnheit doch in dem Sinne [haben], daß der sichtbar und dauernd daliegende Gegenstand eine bereitgestellte Gewohnheit sozusagen an der Vollzugsschwelle, im Ansatzzustand festhält“321.
Gehlens Rede von der „‚Wiederherstellung‘ instinktiver Bewegungsreaktionen“322 kann sich nicht auf die Ebene der Konstitution der Handlungen beziehen. Sie bedeutet keinesfalls die „Restitution eines Reiz-Reaktions-Schematismus“, die man zurecht als „Verarmung der handlungstheoretischen Begrifflichkeiten“323 ablehnen müßte, sondern ist eine unglückliche Formulierung des regulativen Ideals vollständiger sozialer Bestimmung. In Form von „‚verselbständigten Gewohnheiten‘“ gehen die Handlungen als „Elemente der Institutionen“324 ein. Diese Verselbständigung von Gewohnheiten kann niemals so weit getrieben werden, daß eine Problematisierung der Konstitutionsbedingungen der Handlung, das heißt die Reflexion auf die Möglichkeit, existenziell verunglücken zu können, ausgeschaltet werden könnte. Ein völlig gewohnheitsmäßig bestimmter Handelnder wäre kein Handelnder mehr. Der von Gehlen sich selbst im Rückblick unterstellte Kurzschluß zwischen der angeblich biologischen Konstitution des Menschen (die wir bestreiten) und der sozialen Ebene findet nicht statt. Das regulative Ideal ist seit der Theorie der Willensfreiheit eine Angleichung der Strukturen der Physis und des Charakters, nicht deren Identität (was ein Kurzschluß wäre): in der Theorie der Willensfreiheit will Gehlen die „formale Identität von Wirklichkeitsstrukturen und Freiheitsstrukturen“325 aufzeigen, die gerade keine absolute Identität, sondern ein „indirektes [Verhältnis]“326, Einheit der Strukturen, ist. Entsprechend kann man in der Anthropologie „den Bereich des Charakters von zwei Seiten her ansehen, und zwar ist er von ‚oben‘ gesehen eine einverleibte Ordnung von Haltungen und Führungsregeln, von angeeigneten und, wenn sie zuverlässig arbeiten sollen, fast bewußtlos gewordenen ‚Instinkten‘, 320 Vgl. Freyer, Machiavelli und die Lehre vom Handeln, S. 169, Freyer, Weltgeschichte, S. 169 f., Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 243. 321 Gehlen, Urmensch, S. 24. 322 Wöhrle, Metamorphosen, S. 95. 323 Wöhrle, Metamorphosen, S. 95. 324 Gehlen, Urmensch, S. 30. 325 Gehlen, Willensfreiheit, S. 150 f. 326 Gehlen, Willensfreiheit, S. 155.
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die aus den Antrieben auskrystallisierten und in Handlungen der Welt ausgesetzt, an ihr ausgelesen wurden; von ‚unten‘ her gesehen ist jedoch der Charakter eine Fortsetzung der gerichteten, rhythmischen und geschlossenen Abläufe, zu denen sich der biologische Lebensprozeß überall abstimmt, in den Umkreis des Selbstvollzogenen.“327
Es gilt beides: weder wird der Handelnde jemals wirklich instinktiv handeln, noch wird der biologische Lebensprozeß vollständig selbst vollzogen. Beides wäre absurd, weil beides sein konstitutives Existenzrisiko aufheben würde. Aber Gehlen stellt dies offensichtlich in sozialer Hinsicht als regulatives Ideal vollständiger Bestimmung des Menschen hin. Eine vollständige soziale Bestimmung im Sinne einer vollständigen Sicherung des Menschen kann demzufolge niemals Wirklichkeit werden. Ein existenzielles Scheitern ist auf zwei Weisen möglich. Der Einzelne kann in der einfachen Reflexion hängen bleiben, weil er nicht in der Lage ist, die Reflexion zu reflektieren und nie wieder zurück328 zur echten Handlung kommt. Dies ergibt sich aus der Fähigkeit der Phantasie, sich aus ihrer Situation (Zeit- und Ortsbestimmtheit) imaginativ heraussetzen zu können. Aus der Möglichkeit, daß „der Unterschied zwischen vorgestellten und wirklichen Situationen sozusagen vorübergehend aufhebbar“329 ist, resultiert die Gefahr, daß „nun daraus bei festgehaltener Reflexion ein Verschwinden der Welt für das individuelle Bewußtsein eines nichthandelnden (sondern spekulierenden) Menschen folgen kann […]“330. In der hier vertretenen Interpretation ist dieser Vorgang so zu rekonstruieren, daß die doppelte Reflexion (Phantasie) dann den Bezug zum Handeln verliert, wenn sie nicht mehr über die orthogonal zur Reflexion stehende Unterscheidung von Annahme und Ablehnung verfügt,331 denn dann verliert sie die Fähigkeit, die einfache Reflexion qua doppelter Reflexion abzulehnen, um den Willen, der sie ist, zu bejahen. Dadurch kann sich in der Phantasie (doppelte Reflexion) eine Vorstellungswelt (einfache Reflexion) aufbauen, sodaß „die menschlichen Handlungen und Antriebe nicht mehr zur Welt [lies: zur Welt des Handelns, AH] zurückfinden“332. Obwohl Gehlen dieses Relativismus- oder Reflexionsproblem (bzw. den Intellektualismus oder später: 327 Gehlen, Mensch, S. 444. Weiter heißt es: „Jede einzelne Gewohnheit kann vom Bewußtsein hergesehen etwas Zufälliges haben, was auch anders denkbar wäre; aber die Gewohnheit, Gewohnheiten anzunehmen und einzuverleiben, also eine Haltung aufzubauen, ist physisch und erzwungen, andernfalls man mit Zerrüttung des Nervensystems bezahlt. Einem gesunden Körper merkt man eine gewisse Gespanntheit an, eine Geladenheit mit zügigen Handlungs- und Bewegungsbereitschaften, und ebendasselbe liegt in der Auswahlund Verwerfungsbereitschaft eines Charakters, und um so überzeugender, je weniger ein Bedürfnis nach Begründung, eine Ahnung auch anderer Möglichkeiten hindurchscheint.“ (ebd.). 328 Denn reflexionstheoretisch ist Handlung Wiederholung (vgl. oben Kap. V.4.). 329 Gehlen, Mensch, S. 301. 330 Gehlen, Mensch, S. 607. 331 Vgl. oben Kap. V.4. 332 Gehlen, Mensch, S. 371.
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die Dauerreflexion) in Der Mensch wie gesagt nicht mehr systematisch über den Begriff der doppelten Reflexion entwickelt, ist klar, daß es auch so beschrieben werden kann. Der große Vorzug der Theorie der Willensfreiheit ist die Rekonstruktion des rationalen Wahlhandelns als Reflexionszusammenhang. Für eine doppelte Reflexion ist er damit als ganzer zugänglich und kann so Gegenstand der Annahme oder Ablehnung werden. Ohne die doppelte Reflexion kann hier allerdings das Relativismusproblem Platz greifen, doch Gehlen verfügt seit der Reduktion der Handlungslehre auf die Anthropologie über kein argumentatives Mittel mehr, mit diesem umzugehen. Der andere Fall eines fundamentalen Scheiterns ist, daß die geschichtlich konkreten Institutionen als solche bestritten werden. Dies ist das Thema der „Weltkriege und Revolutionen“333. Dann wird die Führungsordnung in ihrer Kontingenz, das heißt in ihrer geschichtlichen Kontingenz sichtbar. Hier liegen die konstitutiven Grenzen der Geltung von Institutionen. Wie das nächste Kapitel zeigen wird, ist von Freyer die Tatsache berücksichtigt worden, daß Kriege und Bürgerkriege die institutionellen Inhalte und Strukturen zerstören können.334 Indem solche Ausnahmezustände verhindert oder überwunden werden, sind Institutionen möglich. Nach unserer Auffassung bildet deshalb die Epoche der Weltkriege als überprägnant-existenzbedrohendes Ereignis den realen Hintergrund für Gehlens Handlungs- und Institutionenlehre. Die existenzielle Bedrohung des mitteleuropäischen Kultur- und Gesellschaftsraums ist so gesehen der „Brennpunkt“ (Gehlen), an dem die Frage nach der Wirklichkeit der Institutionen aufgeworfen werden mußte.
333 334
Gehlen, Ein anthropologisches Modell, S. 213. Vgl. oben Kap. VII.2.
VII. Soziologie und Politik: Zur Soziologie Hans Freyers
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VII. Soziologie und Politik: Zur Soziologie Hans Freyers 1. Die Leipziger Schule im differenzierungstheoretischen Diskurs der Soziologie Zu Beginn dieses Kapitels soll das Denken Hans Freyers zunächst soziologiegeschichtlich verortet werden. Zur Einordnung der Stellung Hans Freyers in der Geschichte der Soziologie bietet sich Hartmann Tyrells Unterscheidung dreier begrifflicher Traditionen im differenzierungstheoretischen Diskurs der Soziologie an.1 Tyrell unterscheidet einen evolutionstheoretisch orientierten Teildiskurs, der mit Herbert Spencer einsetzt und soziale Differenzierung als organische Teilung eines Ganzen auffaßt, von einer zweiten, mit Adam Smith beginnenden und von Georg Simmel perfektionierten Richtung, die Wirtschaft als gesellschaftliches Zentrum und soziale Differenzierung als Arbeitsteilung begreift.2 Die dritte Linie ist Tyrell zufolge eine „spezifisch deutsche Denkweise, die bei ‚Differenzierung‘ vor allem die großen überindividuellen ‚Kultursphären‘ (heute: ‚Funktionssysteme‘) im Sinn hat“3. Die Besonderheit dieses Denkens ist seine Sinnorientierung. Denn im Gegensatz zur ersten und zweiten Richtung verweist es auf die „Ausdifferenzierung von Sinnsphären“4 wie etwa Religion, Wissenschaft, Kunst und Wirtschaft. Dieser Gedanke geht, wie Alois Hahn gezeigt hat, auf Wilhelm Dilthey zurück.5 Hahn schlägt vor, Dilthey wieder als Klassiker der Soziologie6 und „prominentesten Vorläufer der neueren soziologischen Systemtheorie Niklas Luhmanns“7 zu 1 Vgl.
Tyrell, Diversität. Tyrell, Diversität, S. 128 ff. Durkheim scheint so gesehen diese beiden ersten Linien zu verbinden: es geht ihm um den organischen Zusammenhalt des durch Arbeitsteilung Getrennten. 3 Tyrell, Diversität, S. 119. 4 Tyrell, Diversität, S. 138. 5 Vgl. Hahn, Diltheys Systemtheorie. 6 Dilthey selbst polemisiert bekanntlich heftig gegen die Soziologie. Dies richtete sich aber gegen die naturwissenschaftlich, das heißt nicht am Problem des Sinns orientierte französische (Comte) und angelsächische (Spencer) Soziologie. 7 Hahn, Diltheys Systemtheorie, S. 5. Hartmann Tyrell hat sich dieser Ansicht angeschlossen und regt ebenfalls an, „Wilhelm Dilthey als Klassiker der soziologischen Differenzierungstheorie ins Gespräch“ (Tyrell, Diversität, S. 138) zu bringen. Tyrell bemerkt – insbesondere mit Blick auf den als Lehrbuch konzipierten Band von Schimank, Theorien gesellschaftlicher Differenzierung – zur Frage der Originalität des Gedankens der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung von Sinnsphären, daß es „für Soziologen […] immer noch eine Überraschung [ist], erfahren zu müssen, daß die ‚Kreuzung sozialer Kreise‘ eine Idee (und Formulierung) Diltheys und nicht (zuerst) Simmels war. Diltheys Explikation dieser Idee artikuliert dabei (anders als Simmel) nun genau das, was heute ‚Polykontexturalität‘ heißt, nämlich, daß ein und dasselbe Ereignis unter die Systemreferenz und ‚Zuständigkeit‘ verschiedener ‚Kultursysteme‘ fallen kann […] Max Weber hat differenzierungsbezogen an diesen Diltheyschen Gedanken im Kategorienaufsatz unverkennbar angeknüpft.“ (Tyrell, Diversität, S. 138). 2 Vgl.
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lesen und hebt „drei Theoriekomplexe“ heraus, die Dilthey zum Vorgänger für die Soziologie Luhmanns machen, und zwar „Verstehenstheorie, Theorie der Ausdifferenzierung von Kultur- und Organisationssystemen und die Theorie von den ‚autobiographischen Zusammenhängen‘“8. In diese Linie Dilthey-Luhmann läßt sich nun auch Freyer rücken, ähnlich wie dies im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen Luhmanns Begriff des Funktionssystems und dem „Systembegriff[] in der Theorie des objektiven Geistes von Freyer bereits Horst Baier getan hat, wo Systeme als Kreisläufe beschrieben werden“, wobei in Freyers Analyse „Kultursysteme […] plötzlich zu etwas werden, was in sich kreist und aus sich heraus – freilich immer durch menschliche Schaffensprozesse – dann weiterentwickelt wird […]. Das Aufgreifen des Systembegriffs bei Luhmann hat nicht nur amerikanische Ursprünge bei seinem Lehrmeister Talcott Parsons,9 was Luhmann selbst in der Talcott-Parsons8
Hahn, Diltheys Systemtheorie, S. 5. Auch Hartmann Tyrell betont, daß Luhmanns erstes dezidiert differenzierungstheoretisches Werk Grundrechte als Institution nicht in der Tradition „der (‚strukturfunktionalistischen‘) amerikanischen Nachkriegssoziologie“, sondern in „einer deutschen Tradition, an deren Anfang, die Differenzierungsbegrifflichkeit explizit, ja emphatisch nutzend, Wilhelm Dilthey steht“ (Tyrell, Diversität, S. 145). Eine interessante Anregung für hier anzuschließende Forschungen zum Verhältnis von Freyer, Parsons und Luhmann hat Wolfgang Lipp gegeben. Unter dem Weberschen Titel der Wirklichkeitswissenschaft nimmt er eine soziologiegeschichtliche Gruppierung vor, welche Weber, Freyer, Gehlen, Luhmann und Parsons umfaßt, und zwar nicht deswegen, weil sich Luhmann auf Parsons, sondern weil sich Parsons methodologisch auf Freyer beruft (vgl. Lipp, Mimesis oder Drama, S. 361, S. Anm. 1). Obwohl wir dieser Anregung hier nicht nachgehen können, sei doch die von Lipp gelegte Spur kurz angedeutet, weil sie auch der Konturierung des hier verfolgten Vorhabens dienlich ist. Bekanntlich hatte Parsons von 1925 bis 1927 in Heidelberg Soziologie studiert, war mit einer Arbeit über Weber und Schumpeter promoviert worden und insofern mit der deutschen Soziologie bestens vertraut. Lipp gibt zwei Stellen aus dem 1937 erschienenen Hauptwerk The Structure of Social Action von Parsons an, wo er sich zustimmend auf Freyer bezieht. Nachdem Parsons wissenschaftstheoretisch „a division into three great classes of theoretical systems“ vorgeschlagen hat, die man als „the systems of nature, action and culture“ bezeichnen könne, schreibt er weiter: „The closest approach to this classification is that of Freyer (Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft) into Naturwissenschaft, Wirklichkeitswissenschaft and Logoswissenschaft. The present formulation owes a good deal to his scheme, though it differs in certain respects“ (Parsons, Structure, S. 762). Vgl. dazu auch den Hinweis unten Kap. VII.3, Anm. 260. Die zweite Stelle betrifft einen ähnlichen methodologischen Punkt. Über die Unmöglichkeit, die Soziologie auf positivistische oder idealistische Prämissen zu gründen, findet Parsons: „This concept of sociology could not develop on a positivistic basis. For at the radical positivistic pole all empirical sciences become natural sciences in the above sense. […] On an idealistic basis, on the other hand, the facts of value integration were clearly seen, but the inherent tendency was to assimilate them to culture systems in the above sense, and thus to end up in some kind of emanationist theory. Freyer, in his book cited above, has analyzed this tendency with great acumen. Thus, as long as social thought has remained divided between the positivistic and the idealistic systems there has been no place for an analytical sociological theory in the sense in which it has just been defined.“ (Parsons, Structure, S. 774). 9
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Festschrift sehr schön beschrieben hat, sondern eben auch Ursprünge im Neuidealismus, wie auch im Neufichteanismus der Leipziger.“10
Im folgenden wird deshalb dafür argumentiert, Freyer in die von Hahn und Tyrell nachgezeichnete Linie Dilthey-Luhmann einzuordnen. Diese ist zur Linie Hegel-Dilthey-Freyer-Luhmann zu erweitern. Diltheys Programm war es, an das durch Hegel philosophisch erschlossene Problem der Geschichte nicht mehr metaphysisch heranzugehen, sondern die Geschichte als einen Bereich endlicher Erfahrung anzusehen. Das Subjekt der Geschichte ist nicht mehr ein Absolutes, dessen Bestimmungen die idealistische Metaphysik zu entfalten hat, sondern Geschichte vollzieht sich als geschichtliche Erfahrung und wird damit als in Grenzen bestimmbar gedacht.11 Dilthey war der Ansicht, daß diese Bestimmbarkeit erkenntnistheoretisch erklärbar ist und entwickelte auf dieser Grundlage seine Theorie der Geisteswissenschaften. Ausgangspunkt ist dabei das, was Hegel die „Sphären des Volkslebens“ (Religion, Kunst, Wissenschaft, Familie, Wirtschaft, Recht und Militär) nennt.12 Diltheys begriffliche Wendung gegenüber Hegel besteht vor allem darin, daß er die genannten Formen des Geistes aus ihrer Hierarchie im Verhältnis von objektivem und absolutem Geist herauslöst und diese als einander gleichgeordnete Systeme der Kultur annimmt.13 Dilthey erreicht damit zweierlei: Er beschneidet Hegels System um dessen letzte 10
Baier, Aussprache, S. 84. bedeutet gerade nicht, daß die Geschichte selbst „gemacht“ werden könnte. Sondern das Verhältnis zur Geschichte wird wieder kritisch im Sinne Kants (vgl. Freyer, Diltheys System). 12 Diese Überlegungen finden sich unter dem Titel Die Vernunft in der Geschichte im Einleitungsband zu Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. In den Absätzen über „Staat und Religion“, „Die Sphären des Volkslebens“ und „Die Verfassung“ (Hegel, Philosophie der Weltgeschichte, S. 99 – 129) skizziert Hegel ausgehend vom Verhältnis von Staat und Religion die „Sphären des Volkslebens“ (Hegel nennt Religion, Kunst, Philosophie, Familie, Gewerbfleiß, Privatrecht, empirische Wissenschaften, Verfassung, Heeresorganisation); entscheidend sei die Frage nach dem „Prinzip“ der Sphären, „die Bestimmung, was für ein Zusammenhang wirklich vorhanden sei“ (ebd., S. 101). Hegel unterscheidet in seinem System bekanntlich den objektiven vom absoluten Geist und insofern „Stufen“ desselben. So gehören Moral, Recht, Familie, Wirtschaft und die empirischen Wissenschaften dem objektiven Geist an, während Kunst, Religion und philosophische Wissenschaft Formen des absoluten Geistes sind. Der objektive Geist ermöglicht dem absoluten Geist die Selbstbegegnung. Im absoluten Geist geschieht die „Bewußtwerdung des absoluten Geistes in der Welt“ (Theunissen, Hegels Lehre vom absoluten Geist, S. 76), seine Konkretion. Dem absoluten Geist sind zwar zeitlich lokalisierbare Formen – die griechische Kunst, die christliche Religion, die preußische Philosophie – zuzuordnen, er ist also „in die Weltgeschichte auch eingebettet. Wiewohl nicht selber Weltgeschichte, geht diese um sie [d. h. um die Bewußtwerdung des absoluten Geistes, AH] herum weiter“; das heißt, entscheidend ist nicht das zeitliche Nacheinander des Erscheinens der wesentlichen Ausprägungen des objektiven Geistes, sondern daß „in der zeitlichen Geschichte des absoluten Geistes […] dieser […] sein konkretes Selbstbewußtsein“ (ebd., S. 76) gewinnt. 13 Vgl. Dilthey, Aufbau, S. 150. 11 Das
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Bestimmung, den absoluten Geist. An diese Stelle tritt bei Dilthey das sich selbst verstehende Leben. Damit wird bestimmungslogisch gesehen die geschichtsphilosophische Position Hegels in eine erkenntnistheoretische zurückgeführt. Der Gegenstand der Diltheyschen Erkenntnistheorie als „Kritik der historischen Vernunft“ ist dann nicht mehr die Natur, sondern die „geschichtliche Welt“. Familie, Wirtschaft, Recht, Kunst, Religion und Wissenschaft sind Kultursysteme, die als Sinnsphären nebeneinander bestehen. Ihr Zusammenhang wird dadurch nicht mehr durch den absoluten Geist gestiftet, sondern, wie Dilthey sagt, auf der Ebene der ‚Realität des Lebens‘, in welcher die ‚Totalität des seelischen Zusammenhanges‘ wirke.14 Letzteres entsprach bei Hegel der Ebene des subjektiven Geistes. Bei Dilthey ist auch dieser keine Stufe in der Dialektik des Absoluten mehr, sondern tritt empirisch als eine Vielzahl ‚schaffender Individuen‘ auf, die in einem gesellschaftlichen Zusammenhang stehen. Auch der geisteswissenschaftliche Forscher ist ein solches Individuum. Er verhält sich zu den Kultursystemen im Prinzip nicht anders als die übrigen Gesellschaftsteilnehmer durch Prozesse des Verstehens, die der Forscher lediglich zu einer wissenschaftlichen Methode ausformt. Die Kultursysteme unterscheidet Dilthey von der „äußeren Organisation“ der Gesellschaft, womit „die Verhältnisse von Gemeinschaft, äußerer Bindung, Herrschaft, Unterordnung der Willen in der Gesellschaft“15 gemeint sind. Nach Hahn und Tyrell entspricht dies Luhmanns Unterscheidung von Funktionssystemen und Organisationen. Genaugenommen geht Dilthey aber über diese Unterscheidung hinaus, weil er den Begriff der Gemeinschaft, der, wie Maren Lehmann gezeigt hat, zu den Restproblemen der Unterscheidung von Organisation und Funktionssystem gehört, ausdrücklich berücksichtigt.16 Luhmanns dreiteilige Systemtypologie von Interaktions-, Organisations- und Gesellschaftssystem wird von Dilthey vollständig vorweggenommen, denn auch der Begriff der Interaktion findet als „unermeßliche Anzahl verschwindend kleiner, rasch vorübergehender Beziehungen“17 von Individuen Berücksichtigung. Das Individuum bildet sowohl bezüglich der äußeren Organisation als auch der Kultursysteme einen „Kreuzungspunkt“18: „Dieselbe ungeteilte Person ist zugleich Glied einer Familie, Leiter einer Unternehmung, Gemeindeglied, Staatsbürger, in einem kirchlichen Verbande, dazu etwa Genosse eines 14 Hinsichtlich der Frage nach dem Zusammenhang der Kultursysteme kritisiert Freyer Diltheys „Psychologismus“ (Freyer, Theorie des objektiven Geistes, S. 151), demzufolge jedes Zwecksystem einen bestimmten menschlichen Trieb widerspiegele (vgl. ebd.). Freyer folgt in der Frage nach dem Zusammenhang der Kultursysteme weder Hegel noch Dilthey. 15 Dilthey, Einleitung, S. 64. Vgl. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 38 ff. Freyer lehnt die Subsumtion der äußeren Organisation der Gesellschaft unter den Begriff des Geistes ab. Soziale Formen sind keine reinen geistigen Gebilde, sondern zeitlich gebundene, zukunftsoffene Wirklichkeiten (vgl. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 7). 16 Vgl. Lehmann, Restprobleme. 17 Dilthey, Studium, S. 65, zit. nach Hahn, Diltheys Systemtheorie, S. 17. 18 Tyrell, Diversität, S. 138, legt Wert auf die Feststellung, daß dies ein originärer Gedanke Diltheys und nicht Simmels ist.
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Gegenseitigkeitsvereins, eines politischen Vereins. Der Wille der Person kann so auf höchst vielfache Weise verwoben sein und wirkt dann in jeder dieser Verwebungen nur vermittels des Verbandes, in welchem er sich befindet.“19
Ausdifferenzierung ist nach Dilthey als historischer Prozeß zu beschreiben. An seinem Anfang bestehen Sinn und äußere Organisation ungetrennt in der Einheit der Familie. Die Handlungsstruktur des Hauses erfüllt alle denkbaren Zwecke: wirtschaftliche, rechtliche, erzieherische usw. gleichermaßen. Im Zuge ihrer zunehmenden Verselbständigung treten sie aber mehr und mehr auseinander, so daß es schließlich unmöglich wird, alle gesellschaftlichen Zwecke im Rahmen ein und derselben Struktur zu erfüllen.20 Beispielweise erfolgt auf diese Weise im 18. und 19. Jahrhundert die Auslagerung der wirtschaftlichen Zwecke aus dem Verband des Hauses. In der Moderne erweisen sich die Kultursysteme als eigengesetzlich strukturierte „Zwecksysteme“. Dilthey bezeichnet sie auch als Wirkungszusammenhänge bzw. Leistungssysteme: „Wirtschaft, Recht, Philosophie, Kunst, Religion“ bezeichnen „Wirkungszusammenhänge verschiedener Personen zu gemeinsamer Leistung“21. Auf den als Sinnsystem objektivierten Zweck können sich dann verschiedene Organisationsformen (aber auch Interaktionen und Individuen) richten. Entsprechend gilt umgekehrt aus Sicht der Organisationen, daß sie „die Ziele wechseln“, „die Maschine gleichsam zur Erfüllung einer anderen Aufgabe“ verwenden können bzw. „ganz heterogene Aufgaben nebeneinander“22 erledigen müssen. Dilthey beschreibt den Bezug von Organisationen und Funktionssystemen mithin in einer Weise, die von der Institutionenlehre unter dem Begriff der Trennung von 19
Dilthey, Einleitung, S. 65. große geschichtliche Wirklichkeit kann nur als solche, kann nur in ihrem historischen Zusammenhang verstanden werden, und dessen Grundgesetz ist: das Verbandsleben der Menschheit hat sich nicht auf dem Wege der Zusammensetzung gebildet, sondern es hat sich aus der Einheit des Familienverbandes differenziert und entfaltet. All unser Erkennen vermag nur, rückschreitend von der Gliederung dieses Verbandslebens, wie wir es auf uns zugänglichen, den primären Zuständen möglichst nahen Stufen der äußeren gesellschaftlichen Organisation vorfinden, die Reste zu interpretieren, welche ein Licht auf den großen geschichtlichen Vorgang werfen, in welchem von der lebens- und machtvollen Einheit des Familienverbandes aus die äußere Organisation der Gesellschaft sich differenziert hat, und Verbandsleben, Verbandsentwicklung bei den verschiedenen Völkerfamilien und Völkern einem vergleichenden Verfahren zu unterwerfen. Es ist die außerordentliche Bedeutung der germanischen Verbandsentwicklung für eine solche vergleichende Untersuchung, daß auf eine verhältnismäßig sehr frühe Stufe einer Verbandsentwicklung, welche zu einer außerordentlich reichen Entfaltung genossenschaftlichen Daseins bestimmt war, ein ausreichendes geschichtliches Licht fällt. Auf dem Gebiet der äußeren Organisation der Menschheit ist das umfassende Grundgesetz des geschichtlichen Lebens in seiner Wirksamkeit noch deutlich fühlbar, nach welchem, wie ich zeigen werde, auch die Totalität des inneren Zwecklebens sich nur allmählich zu den einzelnen Kultursystemen differenziert hat und nach welchem diese Kultursysteme erst allmählich zu ihrer vollen Selbständigkeit und Einzelausbildung gelangt sind.“ (Dilthey, Einleitung, S. 73 f.). 21 Dilthey, Aufbau, S. 153. 22 Dilthey, Aufbau, S. 172. 20 „Diese
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Motiv und Zweck, von der neueren Systemtheorie aber als Multireferentialität der Organisation bezeichnet wird.23 An der Trennung von Handlungssinn und Handlungsstruktur, von Kultursystemen und äußerer Organisation bzw. systemtheoretisch: von Funktionssystemen auf der einen Seite und Organisation und Interaktion auf der anderen Seite setzt Dil theys Theorie des Verstehens an. Differenzierung nötigt zum Verstehen: „Generell besteht die soziale Voraussetzung dafür, daß die Verstehensproblematik kulturell dramatisch wird, in einem hohen Ausmaß an sozialer Differenzierung.“24 Verstehen soll als Methode eine Reflexion auf die Einheit der sinnhaft differenzierten Handlungszusammenhänge ermöglichen. Die Besonderheit des Diltheyschen Verstehensbegriffs liegt aber darin, daß er nicht nur wissenschaftliche Methode, sondern auch Teil des Gegenstandes, nämlich der Kultursysteme selbst ist. Verstehen ist wesentlich selbstbezüglich. Es ist nach Dilthey immer auf ein Erleben und einen Ausdruck bezogen: Der „Gegenstand der Geisteswissenschaften entsteht […] nur, sofern menschliche Zustände erlebt werden, sofern sie in Lebensäußerungen zum Ausdruck gelangen und sofern diese Ausdrücke verstanden werden“25. Die Diltheysche Verstehenstheorie als Trias von Erleben, Ausdruck und Verstehen läßt sich nun auf den Luhmannschen Kommunikationsbegriff als Synthesis von Information, Mitteilung und Verstehen abbilden. Umgekehrt kann man so die Diltheyschen Sinnbezirke als rekursive Systeme betrachten, deren empirische Operationen Erleben, Ausdruck und Verstehen sind.26 Selbstreferenz wird bei Dilthey zu einem empirischen Tatbestand. In Erleben, Ausdruck und Verstehen „vollzieht sich nun der Aufbau der geschichtlichen Welt“27. Dilthey meint damit also die faktische Gestaltung der Sinndifferenzierung in der Geschichte. „Das geschichtliche Leben schafft“28, und zwar in den sogenannten Kultursystemen als Leistungszusammenhängen. „Alles Gegebene ist hier hervorgebracht, also geschichtlich.“29 Freyer konzipiert im Anschluß an Diltheys Unterscheidung von Erleben, Ausdruck und Verstehen den Prozeßaspekt des objektiven Geistes als ein soziales Anschlußgeschehen. Die Grundlage dafür bildet ein empirischer Begriff des Sinns, den Freyer in seiner Theorie des objektiven Geistes als Relation zweier Elemente entwickelt, die zugleich diese Verknüpfung miteinander anzeigt: „Die Relation Sinn soll überall da als gegeben angenommen werden, wo zweierlei vorhanden ist: ein Äußeres und ein Inneres, ein Zeichen und ein Gemeintes, und wo zwi23 Vgl. Wöhrle, Metamorphosen, S. 309 ff.; Lieckweg/Wehrsig, Zur komplementären Ausdifferenzierung. 24 Hahn, Diltheys Systemtheorie, S. 8. 25 Dilthey, Aufbau, S. 86. 26 Vgl. Hahn, Diltheys Systemtheorie, S. 12. 27 Dilthey, Aufbau, S. 88. 28 Dilthey, Aufbau, S. 153. 29 Dilthey, Aufbau, S. 148.
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schen diesen beiden Gegenständen eine Beziehung besteht, daß vom Strukturzusammenhang der menschlichen Seele aus auf Grund der Wahrnehmung des ersten der zweite verstanden werden kann.“30
Objektiver Geist als in Gebilden oder Geräten31 eingeschlossener Sinn bedarf zwar dieser aktuellen Akte des Verstehens nicht, um als solcher zu bestehen, aber er setzt doch „seelischsubjektives Seelentum überhaupt voraus“32, der die verfestigten sinnhaften Selektionen aktualisiert. Das heißt, es muß ein subjektiver Prozeß da sein, der sich überhaupt auf die Gebilde des objektiven Geistes bezieht. Das Bezugsproblem des Verstehens liegt nach Freyer darin, „den Anschluß an den aus fremder Seele geborenen Sinnzusammenhang zu suchen. Ich habe in mir eine gesamtseelische Lage herzustellen, in die der gegenständliche Sinngehalt des Werkes als objektive Seite einfügbar ist. Dieser gegenständliche Zusammenhang, den ich selbst vielleicht nicht original zu produzieren vermocht hätte, den ich aber mindestens muß nachbilden können, ist das Verbindungsstück zwischen jenem fremden Geist und dem meinen. Das ist die Modifikation, die die allgemeine Formel des seelischen Kreislaufes im Fall des objektiven Geistes erfährt: nicht die voll-seelische Lebenswelle fließt durch den Ausdruck hindurch ins andre Seelentum über, sondern ein Stück geistgeladener Materie ist als Schlußstück eingeschaltet, und von zwei Seiten her ist seelische Realität an seinen objektiven Sinngehalt angeschlossen.“33
So treten „zwischen dem Ich und dem Du“ die „Dinge als Drittes im Bund und als Träger eines neuen eignen Sinnes“34 auf. Die beiden beteiligten „Seelen“ bzw. psychischen Systeme selbst bleiben füreinander also intransparent, sie „fließen nie zusammen“35. Die Modifikation, von der im Zitat die Rede ist, ist eine Modifikation an Diltheys psychologisch-lebensphilosophischer Verstehenstheorie, der es um das „Innewerden eines psychischen Zustandes und Wiederfinden desselben im Nacherleben“36 ging. Diltheys Theorie des Verstehens geht davon aus, das Erleben eines eigenen Zustandes und das Nachbilden eines fremden Zustandes im Verstehen seien einander gleich, was von Gehlen scharf kritisiert worden ist.37 Das Verstehen im Sinne Freyers kann mit diesem Irrtum Diltheys jedoch nicht in Verbindung gebracht
30
Freyer, Theorie des objektiven Geistes, S. 17. unterscheidet „fünf Grundformen des objektiven Geistes“ (Freyer, Theorie des objektiven Geistes, S. 55): Gebilde, Gerät, Zeichen, Sozialform und Bildung. Bezüglich der Kategorie Sozialform korrigiert sich Freyer in der Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft. Er zeigt dort, daß soziale Formen gerade nicht geisteswissenschaftlich erfaßt werden können. 32 Freyer, Theorie des objektiven Geistes, S. 78. 33 Freyer, Theorie des objektiven Geistes, S. 79. 34 Freyer, Prometheus, S. 81. 35 Freyer, Theorie des objektiven Geistes, S. 85. 36 Dilthey, Aufbau, S. 136. 37 Vgl. Gehlen, Mensch, S. 461 u. 459 ff. 31 Freyer
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werden, weil es sich nicht auf ein anderes psychisches Leben, sondern auf den von einem solchen Leben hervorgebrachten gegenständlichen Sinn bezieht. Die ersten beiden Momente des objektiven Geistes als Prozeß bestehen demnach darin, daß überhaupt zwei Beteiligte da sind, daß also erstens „überhaupt ein aufnehmender Geist da ist“, sowie zweitens, „daß der Sinngehalt, den die Form dem jeweils aufnehmenden Seelentum entgegenbringt, nach seinem gesamten Inhalt nicht aus der verstehenden, sondern aus einer andern Seele stammt“38. Das zweite Moment steht für die stets vorauszusetzende „soziale Situation“39, die durch den objektiven Geist vermittelt wird.40 Es werden also drei operativ relevante Einheiten angesetzt: zwei füreinander fremde „Seelen“, eine objektivierende und eine aufnehmende, müssen da sein, aber vor allem auch ein unabhängiges „Stück geistgeladener Materie“41, das den beiden Seelen gegenüber ebenfalls fremd ist. Das Verstehen ist, da es über den objektiven Geist vermittelt ist, immer auch eine Komplexitätssteigerung und damit konstruktiv. Freyer nennt diesen Effekt „Schaffen“: „Nur im Schaffen kann die objektive Form wieder ins seelische Leben einbezogen werden.“42 In diesem Sinne der operativen (Nach-)Bildung sind alle Formen des objektiven Geistes mit der Kategorie des Gerätes (= der Technik) verwandt, die immer auf eine operative Anwendung bzw. Aneignung verweist, weil Geräte eben keine selbstgenügsamen perpetua mobilia sind. Zugleich folgt aus dem Verstehen als aktivem Nachbilden, daß jedes Verstehen immer auch das Mißverstehen einschließt bzw. genauer gesagt: daß das Verstehen im Sinne des objektiven Geistes als Prozeß gegen die Unterscheidung von richtigem und falschem Verstehen indifferent ist: „So begnügt sich der seelische Kreislauf nicht, den Sinngehalt der objektiven Form wie ein mechanisches Abbild zu realisieren, sondern er baut ihn, indem er ihn zu aktuellem Leben auflöst, tätig wieder auf und kann darum gar nicht anders, als an seiner langsamen Wandlung zu arbeiten. Alle Einsicht in die prinzipielle Wandelbarkeit der kulturellen Gebilde gründet in der Einsicht, daß es kein seelisches Verhalten gibt, in dem nicht Aktivität verborgen läge.“43
Hier weicht Freyer wie gesagt systematisch von Dilthey ab, der eine exakte Nachbildung im Verstehen für möglich hielt. Freyer nähert sich neueren Verstehenstheorien wie der Luhmannschen an, deren Begriff des Verstehens ebenfalls richtiges wie falsches Verstehen umfaßt bzw. indifferent gegen die Unterscheidung bleibt. Man könnte nun gegen den hier unternommenen Versuch einer Aktualisierung der Freyerschen Theorie des objektiven Geistes im Hinblick auf die Luhmannsche 38
Freyer, Theorie des objektiven Geistes, S. 78. Freyer, Theorie des objektiven Geistes, S. 98. 40 Vgl. Freyer, Theorie des objektiven Geistes, S. 98. 41 Freyer, Theorie des objektiven Geistes, S. 79. 42 Freyer, Theorie des objektiven Geistes, S. 82. 43 Freyer, Theorie des objektiven Geistes, S. 82. Vgl. auch ebd., S. 123. 39
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Systemtheorie einwenden, daß Luhmanns Begriff des Verstehens gerade nicht auf psychische Systeme verweist, sondern daß dieser, als Beobachtung der Unterscheidung von Information und Mitteilung, ein soziales Ereignis bezeichnet, nämlich die operative Einheit der Kommunikation. Doch auch dieser Aspekt ist von Freyer bedacht worden, denn als drittes Moment des „seelischen Kreislaufes“ des Verstehens wird hervorgehoben, daß – von der „Seele“ bzw. dem „psychischen System“ her gesehen – der ganze in Frage stehende Sachverhalt, an den „der Anschluß gesucht und gefunden“ wird und der in diesem Sinne Anlaß zum aktiv-seelischen Nachbilden bietet, „ein objektivierter Sinngehalt“ bleibt.44 Abschließendes Kriterium bleibt also die Fremdheit (Objektivität) des prozessierten Sinns. Das heißt, Freyer sieht – wie bereits Dilthey45 – sehr deutlich, daß die im Verstehen konstituierte Einheit des Sinns zwar auf aktuelles Erleben angewiesen, der Sinngehalt aber von dieser Aktualität ablösbar ist und Menschen in diesem Sinn kein Bestandteil der systemischen Kreisläufe sind.46 Oder noch einmal in Freyers Worten: „Mag sich auch nur im Kontakt mit lebendigem Seelentum der Sinngehalt wiederbeleben: wenn der Kreislauf einmal geschlossen ist, so bildet die objektive Form ein eignes Zentrum von Wirkung in ihm. Das meinten wir mit dem Ausdruck ‚geistgeladene Materie‘.“47 „Hier wird nochmals ganz klar, was wir mit der Zweipoligkeit des seelischen Kreislaufs meinten. Nicht nur die den Sinngehalt realisierende Seele, sondern auch der Sinngehalt selbst ist wirkender Kraftpunkt in ihm.“48
Freyer sieht also, so läßt sich behaupten, daß die Seelen der Reproduktion des objektiven Geistes gegenüber stets äußerlich, das heißt diesem gegenüber operativ getrennt bleiben. Freyer verfügt allerdings über keinen Begriff, der Luhmanns Begriff der Kommunikation entsprechen würde. Gleichwohl sind Ansätze dazu vorhanden, wie etwa in der gerade zitierten Bemerkung, daß sich im Bereich des objektiven Sinns ein Verstehenskreislauf schließt. Doch im Gegensatz zu Luhmann werden „in der sozialen Situation […] nicht neue Aktzentren geschaffen“49, das heißt, es bleibt letztlich unentschieden, wo die Selektion nun eigentlich stattfindet, wenn weder die Seelen noch der objektive Geist dafür in Frage kommen. Oder anders gesagt: Freyers Seelen sind im Unterschied zu Luhmanns psychischen Systemen für die Strukturbildung des objektiven Geistes auch inhaltlich und nicht nur als leere Irritationspotentiale von Bedeutung. Vor dem Hintergrund der Tyrellschen Konturierung einer besonderen sinnorientierten Linie des soziologischen Denkens kommen wir noch einmal auf Diltheys Begriff des Zwecksystems zurück. Freyer nimmt diesen wie folgt auf: 44
Freyer, Theorie des objektiven Geistes, S. 84. Hahn, Diltheys Systemtheorie, S. 14. 46 Daraus folgt auch die Tatsache der wechselseitigen Intransparenz psychischer Systeme füreinander, „wir fließen nie zusammen“ (Freyer, Theorie des objektiven Geistes, S. 85). 47 Freyer, Theorie des objektiven Geistes, S. 85. 48 Freyer, Theorie des objektiven Geistes, S. 87. 49 Freyer, Theorie des objektiven Geistes, S. 102. 45 Vgl.
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„Ich bezeichne die notwendigen und wesentlichen, in sich homogenen und von einem eignen Formungsprinzip beherrschten Sphären des Kulturlebens (also das Recht, die Kunst, die Wissenschaft, die Wirtschaft usw.) mit Dilthey als ‚Kultursysteme‘ […]“50.
Die Genese der Kulturgebiete deutet Freyer ausgehend von Diltheys Wendung vom „Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften“51. „Das Problem ‚Aufbau der geschichtlichen Welt‘ erhält in ihnen eine funktionelle, genetische, aktive und, recht verstanden, subjektive Wendung. Das soll heißen: es ist ein Subjekt da, das den Aufbau der geschichtlichen Welt leistet, die Geisteswissenschaften; und es wird nun gefragt: wie haben die Wissenschaften diesen Aufbau fertiggebracht, und wie arbeiten sie an ihm weiter?“52
Freyer versteht den Aufbau der geschichtlichen Welt als schöpferische Hervorbringung der Struktur der Kultursysteme und der ihnen zugeordneten Gegenstände, die von den Geisteswissenschaften tätig geleistet worden ist: „Die Objekte der Geisteswissenschaften entstehen erst dadurch, daß sie als gültige Formen mit einem gegenständlichen Sinn gewußt werden.“53 Das heißt, wenn „[j]ede Geisteswissenschaft […] in einem der Sinnbezirke, in die sich der Geist auseinanderlegt, ihren Gegenstand [hat]“54, dann wird dieser Gegenstand von den Geisteswissenschaften nicht, wie in der Naturwissenschaft, als so und so bestimmter vorgefunden, sondern allererst auf reflexivem Weg erzeugt. Erst nach erfolgtem Aufbau im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert kann eine explizite theoretische Reflexion, wie sie Dilthey und Freyer unternehmen, auf den Vorgang der geisteswissenschaftlichen Bildung objektiver Sinnformen durchgeführt werden. Dies bedeutet dezidiert nicht, daß die „Kategorien des objektiven Geistes […] (in der Terminologie des deutschen Idealismus gesprochen) […] deduziert werden“ sollen; vielmehr setzt die Rekonstruktion des „kategoriale[n] Gefüge[s]“ der „objektiv-geistigen Welt“ durch eine Theorie des objektiven Geistes voraus, daß es die operativ durch die Geisteswissenschaften des 19. Jahrhunderts ‚aufgebaute‘ „Sphäre von Gegenständen, von der sie handelt, überhaupt gibt“55. 50
Freyer, Theorie des objektiven Geistes, S. 146. So der Buchtitel von Dilthey, Aufbau. 52 Freyer, Theorie des objektiven Geistes, S. 10. Wie bereits festgestellt, war die Auffassung Diltheys, daß sich in den Prozessen des Erlebens, des Ausdrucks und des Verstehens der „Aufbau der geschichtlichen Welt“ (Dilthey, Aufbau, S. 88) als Differenzierung der Sinnsphären vollzieht, sodaß geschichtlich gesehen das „Gegebene […] hervorgebracht“ (Dilthey, Aufbau, S. 148) ist. 53 Freyer, Soziologie als Geisteswissenschaft, S. 120. 54 Freyer, Diltheys System, S. 488. 55 Freyer, Theorie des objektiven Geistes, S. 133. Kulturphilosophie im Sinne Freyers „mag also die alte kantische Frage: wie ist eine Synthesis apriori möglich? erweitert auf alle Bezirke der Kultur und vertieft zu einer Metaphysik des Geistes, von neuem stellen“ (Freyer, Soziologie als Geisteswissenschaft, S. 120). Die Bewußtwerdung der Grundlagen der Geisteswissenschaft erfolgte nach Freyer, Theorie des objektiven Geistes, S. 3, durch den Angriff des Naturalismus seitens Darwins, Mills, Comtes und anderen. In der Stoßrich51
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Diese Sichtweise führt zugleich zu einer Abkopplung von naturrechtlichen Traditionen wie überhaupt von der Natur als Grundbegriff der Geistes- und Sozialwissenschaft: „Denn was umfängt uns doch, als Kulturmenschen, als unsere Umwelt? Nicht ‚Natur‘, nicht ein eigengesetzlicher und geistfremder Zusammenhang wildwachsender Kräfte, sondern ein dichtes Gewirr aus diesen und aus den Objektivationen des Geistes.“56
Die Frage der Geisteswissenschaft im Sinne Freyers lautet dann: „wie ist jener Aufbau der historischen Welt nicht sowohl denkerisch geleistet worden als objektiv beschaffen?“57 Die Beschaffenheit der objektiven Sinnformen besteht in ihren Grundzügen einerseits darin, daß sie „gegen die Sphäre des Aktuell-Seelischen abgegrenzt“ sind, andererseits darin, daß nach „relativ selbständigen, wenn auch zum Wirkungszusammenhang verbundenen Kultursystemen“ gegliedert sind, die „mit spezifischen Begriffen (‚geisteswissenschaftlichen Begriffen zweiter Ordnung‘) erfaßt werden“58 können. Freyers Gedanke ist geeignet, die in der Institutionenlehre Arnold Gehlens bestehende Lücke einer Theorie der Genese hochkultureller bzw. moderner europäischer Institutionen zu schließen.59 Denn die von ihm vorgelegte, mehr oder weniger deutliche und teils noch mit mythologischen Begriffen wie dem des Volksgeistes arbeitende Rekonstruktion der Genese der Kultursysteme in Gestalt der sinnhaften Autonomie der Kunst, der Wissenschaft, des Rechts usw., die von Alois Hahn und Hartmann Tyrell als begrifflicher Vorgänger von Luhmanns Begriff der Funktionssysteme dingfest gemacht worden sind, trägt alle Züge des ungeplanten, nicht zweckgerichteten, nicht gewollten, kurz gesagt emergenten geschichtlichen Aufspringens einer „sekundären Zweckmäßigkeit“60, weshalb Diltheys ursprüngliche Bezeichnung der Kultursysteme als Zwecksysteme den Sachverhalt sehr genau trifft. Diese These findet eine Bestätigung durch Gehlen selbst. Gehlen weist darauf hin, daß „die Verselbständigung und Autonomie, welche die Institutionen gegenüber dem Einzelnen gewinnen, […] denselben Sachverhalt“ meinen, den Hegel „mit dem Begriff des ‚objektiven Geistes‘“61 bezeichnete. Gehlen versucht, die Verselbständigung und Autonomie der Institutionen im Unterschied zu Hegel, aber auch zu Freyer „aus der Natur des Menschen abzuleiten“62. Gegen die Herleitung der Institutionen aus der Natur des Menschen sowie gegen Gehlens Begriff der ontologischen Teleologie63 lietung gegen den französischen Positivismus entwickelt Freyer denn auch seine ersten genuin soziologischen Überlegungen (vgl. Freyer, Soziologie als Geisteswissenschaft). 56 Freyer, Theorie des objektiven Geistes, S. 16. 57 Freyer, Theorie des objektiven Geistes, S. 10. 58 Freyer, Theorie des objektiven Geistes, S. 12. 59 Vgl. zu dieser Lücke Rehberg, Grundlagentheorie der Institutionen, S. 120. 60 Vgl. dazu oben Kap. VI.2. 61 Gehlen, Urmensch, S. 6. 62 Gehlen, Urmensch, S. 6. 63 Vgl. zur Diskussion oben Kap. VI.1.
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fert die dem Vorgang in der hier vorgeschlagenen Interpretation zugrundeliegenden Reflexivität der Kultursysteme als Säkularisat des christlichen Begriffs des Geistes einen schlagenden Beweis gegen Gehlens Bindung der Handlungs- und Institutionentheorie an den Begriff der Natur. Freyer formuliert deshalb einen Vorbehalt gegen die Anthropologie: „Eine allgemeine philosophische Anthropologie würde den Anspruch darstellen, der Mensch solle in seinem Wesen erkannt werden, ohne daß wir von ihm, mit ihm oder gegen ihn etwas wollen; er solle erkannt werden ohne bestimmten Standpunkt, d. h. überhaupt ohne Standpunkt. Ob damit nicht ein Einwand gegen das ganze Unternehmen einer philosophischen Anthropologie ausgesprochen ist, ist hier nicht zu untersuchen.“64
Gegen die anthropologische Grundlegung optiert Freyer für eine politischgeschichtliche Bestimmung des Problems der Handlung und der Institutionen. Auf dem Weg zu seinem Begriff der Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft unterwirft Freyer Diltheys Begriff des Geschichtlichen, der auf einer geisteswissenschaftlichen Kritik an der Philosophie Hegels beruht, einer nochmaligen, nun wirklichkeitswissenschaftlichen Umformung. Freyer stellt fest: Diltheys auf der Theorie des Verstehens beruhende „geschichtliche Welt hat etwas merkwürdig Unhistorisches. Man kann geradezu sagen, echte Historizität mangelt ihr durchaus“65, denn Dilthey interessiere sich nicht für „die Welt der Ereignisse, Taten, Entscheidungen, sondern die Welt der objektiven, nachverstehbaren Formen, der menschlich bedeutsamen Sinngehalte“66. Dies hat nach Freyer mehrere Folgen. So hat der Begriff der Geschichte selbst in Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften keinen eindeutigen Platz. Die Soziologie wird „als Wissenschaft teils abgelehnt, teils inadäquat bestimmt“ und „in ihrer logischen Eigenart gegenüber den Wissenschaften von den Kultursystemen nicht voll erfaßt“67. Soziologie und Geschichte erweisen sich „gleichsam als Restprobleme der Diltheyschen Wissenschaftssystematik“68. Bei beiden handelt es sich um Wirklichkeitswissenschaften, das heißt solche Wissenschaften, die ein zeitgebundenes Geschehen zu ihrem Gegenstand haben. Der Gegenstand der Geschichtswissenschaft ist zwar eine abgeschlossene Wirklichkeit. Aber historisch sind nach Freyer nicht die geistigen Gehalte der Vergangenheit zu untersuchen, sondern die vergangenen Handlungswirklichkeiten. Die Schwierigkeit besteht darin, die „Geschichte in denjenigen Aggregatzustand“ zurückzusetzen, „in dem sie noch Entscheidung war“69. Der 64 Freyer, Machiavelli und die Lehre vom Handeln, S. 169. Freyer erneuert diesen Zweifel mit Blick auf Gehlen kurze Zeit später: „Beißt sich diese Erwägung nicht in den Schwanz? Man setzt den Menschen fiktiv als Tier, um dann zu finden, daß er als solches höchst unvollkommen und sogar unmöglich ist.“ (Freyer, Weltgeschichte, S. 169 f.; vgl. auch Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 243). 65 Freyer, Diltheys System, S. 489. 66 Freyer, Diltheys System, S. 490. 67 Freyer, Diltheys System, S. 489. 68 Freyer, Diltheys System, S. 489. 69 Freyer, Diltheys System, S. 499.
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Historiker soll also nach Freyer nicht nur faktische Geschehensverläufe schildern, sondern vergangene Entscheidungssituationen gegenwärtig machen. Soziologie ist einerseits „die letzte Geisteswissenschaft“70, ihr kommt eine „Grenzstellung“71 zu. Soziologie ist Geisteswissenschaft, insofern die sozialen Formen sich auf die differenzierten Sinnbereiche beziehen. Soziologie unterscheidet sich aber andererseits von der Geisteswissenschaft, insofern die sozialen Strukturen nicht ihrerseits geschlossene geistige Strukturen sein können, sondern zukunftsoffene Handlungsformen sein müssen. Freyer knüpft also an Diltheys Unterscheidung der „Wissenschaften von der äußeren Organisation der Gesellschaft“ von den „Wissenschaften der Kultursysteme“72 an, weist aber der äußeren Organisation als sozialer Struktur eine eigene Wissenschaft zu. Dilthey glaubte die Wissenschaften von der äußeren Organisation der Gesellschaft als Geisteswissenschaft durchführen zu können. Nach Freyer ist Diltheys dualistische Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften aber nicht geeignet, um einen adäquaten Begriff der Soziologie zu bilden: „Daß sich der Geist in seine autonomen Bezirke auseinanderfaltet, in bündigen Formen objektiviert, ist eins seiner wesentlichen Momente. Aber damit ist sein Begriff nicht erschöpft. In den geschaffenen Formen existiert er als gültiger Gehalt, als zeitentrückter Sinn, als Perfectum. So mag die Geisteswissenschaft ihn aufsuchen und ihn zum Verstehen zu neuem Leben erwecken. Außerdem aber ist er Wirklichkeit, zeitgebundenes Geschehen: Und hier liegt der Gegenstand der Geschichte und der Soziologie.“73
Die Soziologie ist Gegenwartswissenschaft. Ihr Gegenstand sind weder die abgeschlossenen, geisteswissenschaftlich nachzuverstehenden Gebilde des Geistes noch die abgeschlossenen Handlungswirklichkeiten, deren Charakter als Entscheidungsgegenwart in der historischen Darstellung herauszuarbeiten wäre. Sondern die soziale Wirklichkeit ist nicht abgeschlossen und nie abzuschließen, weil sie als „Wirklichkeit in der Zeit […] eine eindeutige Richtung“ hat: „die gegenwärtige Situation“74. Das bedeutet, die sozialen Formen sind auf die gegenwärtige Handlungs- und Entscheidungswirklichkeit und die in ihr vorfindlichen Willensrichtungen und strukturellen Tendenzen bezogen. Sie sind zwar überindividuelle und in diesem Sinn objektive Strukturen, aber nicht völlig objektiv: „Mit ganz bestimmten Sozialgebilden, nämlich den gegenwärtigen, sind wir in besonderer und unleugbarer Weise verbunden: sie sind einfach wir selbst und sonst nichts. Ihr Fortbestehen und ihre Veränderung ist unserm Willen anheimgegeben. […] Das ist die Dimension, die in Diltheys Begriff der geschichtlichen Welt durchaus fehlt.“75 70
Freyer, Soziologie als Geisteswissenschaft, S. 121. Freyer, Soziologie als Geisteswissenschaft, S. 123. 72 Freyer, Soziologie als Geisteswissenschaft, S. 124. Vgl. Freyer, Diltheys System, S. 487 ff. 73 Freyer, Diltheys System, S. 494. 74 Freyer, Diltheys System, S. 497. 75 Freyer, Diltheys System, S. 497. 71
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2. Die Kultursysteme und der Verfassungsstaat Freyer arbeitet die im Ausblick der Theorie des objektiven Geistes aufgeworfene Frage nach dem Zusammenhang der Kultursysteme in seinem Buch Der Staat aus.76 Hier wird zugleich der bei Gehlen unterbelichtete Begriff der politisch-geschichtlichen Tat im Verhältnis zu den Institutionen anhand des Verhältnisses des Staates (als Tat) zum Geist (das heißt zu den Kultursystemen) zum Thema.77 Zur Erläuterung sind spätere Texte heranzuziehen, in denen Freyer die Theorie des Politischen als Handlungslehre entwirft. Zugleich liefert umgekehrt eine Theorie des politischen Handelns einen Beitrag zu einer Theorie vom Handeln überhaupt. Denn weil „[p]olitisches Handeln […] reines Handeln und darum ‚einfachstes‘ Handeln“78 ist, stellt „das politische Handeln für eine Theorie des Handelns überhaupt einen Spezialfall von stark aufschließendem Wert“79 dar. Freyers Ausgangsunterscheidung mit Blick auf den Staatsbegriff ist die Unterscheidung von Struktur und Handlung: „Es ist nun aber, so primitiv diese Unterscheidung auf den ersten Blick aussehen mag, schlechthin der entscheidende Unterschied, ob eine Theorie des Politischen vom politischen Handeln ausgeht oder vom Strukturbegriff des Staates.“80 Freyer nimmt an, „daß die Theorie des Politischen vom Handeln her richtiger begonnen wird als von einer Strukturlehre des Staates aus“81. Gleichwohl ist der Staat beides: Struktur und Tat. Die Struktur (der objektive Sinn) wird aber von der Tat her bestimmt und nicht umgekehrt. Typisch für diesen beiden grundlegenden Herangehensweisen stehen dabei Machiavelli und der deutsche Idealismus.82 Das Denken vom Typus des deutschen Idealismus unterscheidet sich vom Typus Machiavellis in der Frage nach dem Primat von Struktur oder Handlung: das Politische ist im deutschen Idealismus „nicht primär Lehre vom politischen Handeln, sondern Lehre vom Staat – während für Machiavelli genau das Umgekehrte gilt“83, wobei unter Staat hier die verfassungsmäßige Struktur des Staates gemeint ist. Die Lehre vom politischen Handeln interessiert sich in erster Linie für machtbezogenes Handeln. Sie fragt danach, welches politische Handeln „das Sachgerechte“ sei: „Die Sachwelt des politischen Handelns besteht für Machiavelli in dem absoluten Kampfverhältnis der politischen Subjek76 Vgl.
Lange, Rezeption und Revision, S. 71 zum Zusammenhang von Der Staat und Theorie des objektiven Geistes. 77 Wir nehmen hier die Überlegungen aus Kap. VI.2. wieder auf. 78 Freyer, Machiavelli und die Lehre vom Handeln, S. 162. Die Einsicht der Einfachheit des politischen Handelns etwa gegenüber dem wirtschaftlichen Handeln geht Freyer zufolge auf Hegel, Philosophie des Rechts, S. 499 (= § 332) zurück. 79 Freyer, Machiavelli und die Lehre vom Handeln, S. 160. 80 Freyer, Machiavelli und die Lehre vom Handeln, S. 160. 81 Freyer, Machiavelli und die Lehre vom Handeln, S. 160. 82 Vgl. Freyer, Machiavelli, Freyer, Preußentum, Freyer, Material der Pflicht, Freyer, Machiavelli und die Lehre vom Handeln. 83 Freyer, Machiavelli und die Lehre vom Handeln, S. 159.
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te, in ihrem Naturzustand, in ihrer grundsätzlichen Böswilligkeit zueinander.“84 Sachgerechtes Handeln ist ein solches, das sich in dieser Welt überhaupt zu halten vermag. Dieser primären Frage wird die Struktur der jeweiligen politischen Einheit, ihre Verfassung und Institutionen, nachgeordnet. Im Gegensatz dazu fragt das Denken vom Typus des deutschen Idealismus (insbesondere Hegel) nach dem Staat zuerst als Struktur: „[…] in der Staatsphilosophie des deutschen Idealismus […] wird […] der Staat als ‚Organismus der Freiheit‘, als ‚das sittliche Ganze‘ gefaßt und in erster Linie als geistige Gestalt angeschaut – als eine Gestalt des potenzierten Willens freilich: daß der Staat als ein in die Geschichte gestelltes Wesen in lauter Handlungen, Taten, Entscheidungen lebt, wird gewußt, aber es ist erst das Zweite.“85
Denkt man nicht geschichtsphilosophisch, sondern wie Freyer zunächst rein machtpolitisch, dann wirft der Naturzustand der Staaten das Problem der eigenen Ersetzbarkeit auf. Für Freyers Wirklichkeitswissenschaft, die sich vom „Systemzwang des objektiven Idealismus“ gelöst hat, ist „Geschichte nicht vollendet, sondern sie läuft in Gegenwart und Forderung aus, sie läuft durch unseren Willen hindurch weiter“86. Das Politische erscheint so „als die höchste Verdichtungsform des Historischen“87 und bildet eine undurchdringliche Grenze für die logische Dialektik: „[I]n der Welt des Politischen gibt es Tatsachen und Schicksale, die nicht sinnmäßig auflösbar sind, gibt es Ereignisverkettungen, die nicht bloß Entwicklung sind […], gibt es Entschlüsse, die nicht nur die Erschließung eines verborgenen Gehalts, sondern den freien Anfang einer hier und jetzt beginnenden Wirkungsreihe bedeuten. Soll diese Welt adäquat aufgefaßt werden, so scheint das nur ganz anders möglich zu sein, als wie der Idealismus Wirklichkeiten zu denken gewohnt ist und vielleicht allein denken kann.“88
Hegel hat zwar in der Rechtsphilosophie den Willen ins Zentrum seiner Betrachtung gestellt, aber dieser war, weil die Rechtsphilosophie als ganze dem objektiven Geist angehört, letztlich dem absoluten Geist untergeordnet.89 Den „Hiatus 84
Freyer, Machiavelli und die Lehre vom Handeln, S. 165 f. Freyer, Machiavelli und die Lehre vom Handeln, S. 160. Zugleich verfügt Hegel aber über einen in den §§ 321 bis 360 der Rechtsphilosophie entwickelten Begriff der „Weltgeschichte“ als Verhältnis souveräner Staaten gegeneinander, das nicht durch ein über den Staaten stehendes Recht bzw. einen Richter geregelt werden kann, sondern letztlich in der realen Möglichkeit des Krieges seine Bestimmtheit findet (vgl. Hegel, Philosophie des Rechts, S. 409 – 512, bes. S. 499 f.; vgl. Freyer, Machiavelli und die Lehre vom Handeln, S. 156). Im Krieg ist nach Hegel „der Staat […] Individuum, und in der Individualität ist die Negation wesentlich enthalten. Wenn also auch eine Anzahl von Staaten sich zu einer Familie macht, so muß sich dieser Verein als Individualität einen Gegensatz kreieren und einen Feind erzeugen.“ (Hegel, Philosophie des Rechts, S. 494). 86 Freyer, Ethische Normen und Politik, S. 117. 87 Freyer, Tradition und Revolution, S. 68. 88 Freyer, Das Politische als Problem, S. 51. 89 Gegen den oft gegen Hegel vorgetragenen Vorwurf einer „Staatsvergottung“ u. ä. führt Michael Theunissen die Unterscheidung von Totalität und Absolutheit an. Eine Vergöttlichung des Staates bzw. eine Verstaatlichung Gottes wäre dann der Fall, wenn man 85
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zwischen dem Gewordenen und dem Ziel, der das Wesen des Willens ausmacht“90, hat Hegel nicht eigens berücksichtigt. Es „fehlt die Tat als Tat und das Faktum als nicht nur sich selber machende Lage, sondern als fait accompli“91. Dem Hang des Idealismus, „alles zum Gegenstand, zum vorstellbaren oder denkbaren Inhalt zu machen“92, setzt Freyer entgegen, daß das Politische kein als objektiver Geist beschreibbarer Sachzusammenhang ist. Geschichte vollzieht sich nicht als Entwicklung, sondern in Entscheidungen: „Das Politische ist das Feld der Taten. Es ist keine Sachwelt und kein systematischer Zusammenhang. Ohne die Kategorien des Willensaufbruchs und der Entscheidung ist es nicht zu denken. Und die politische Geschichte entwickelt sich auch nicht. Sie wird getan, sie wird gewagt, sie wird erlitten. […] Der Moment zwingt nicht den Willen in seinen Dienst, sondern der Wille den Moment.“93
Anhand der von Karl-Siegbert Rehberg eingeführten Unterscheidung von Konstitutions- und Rekonstruktionstheorien des Handelns94 ist Freyers politische Handlungslehre als Konstitutionstheorie zu qualifizieren. Politisches Handeln ist konstitutiv bestimmend, weil es eine räumliche Grenze zwischen dem Bereich möglichen Handelns und einem Äußeren setzt, das dem Handeln nicht zugänglich ist. Die Handlung als Tat ist reine Aktualität und als solche riskantes Handeln. Zugleich kann Handeln nicht ohne einen Bezug auf anderes Handeln vorkommen. Das Medium des Handelns ist die Macht, das Gegenüber der Handlung ein anderer Machtbereich: „Das ist der Sinn der fruchtbaren Formel vom Naturzustand zwischen Staaten. Der Naturzustand ist kein ‚Zustand‘ im Sinne einer Ordnung, er ist kein Status, er ist solch ein leerer Raum, in dem nur dasjenige gilt, was jeweils an aktueller Kraftwirkung eingesetzt wird. Politisches Handeln ist also ungesichertes Handeln, Handeln ohne Schienen und
die organische Totalität des Staates mit der Absolutheit gleichsetzt: Theunissen nimmt Hegel gegen den „Anspruch einer politischen Kritik, welche die Totalität gegen das Absolute ausspielt“ (Theunissen, Hegels Lehre vom absoluten Geist, S. 14), dadurch in Schutz, daß er zeigt, „daß das Absolute die Bedingung ist, unter der allein Totalität als sich selbst überschreitende gedacht werden kann. […] Damit das Absolute sich als objektive Totalität setzen kann, muß es ihr an sich zuvorkommen. Daß es die Totalität transzendiert, ermöglicht allererst deren Selbsttranszendenz.“ (ebd., S. 16 f.). Die Unterscheidung von objektivem und absolutem Geist ist also sowohl hinsichtlich Hegels Staatsbegriffs als auch seines Begriffs von Weltgeschichte bzw. Weltgeist unverzichtbar: nur sie verhindert eine Mystifikation und Absolutsetzung von Staat bzw. Weltgeist. Theunissen wendet sich vor allem gegen die zur beinahe allgemeinen Lehrmeinung gewordenen Hegel-Interpretation von Teilen der „Frankfurter Schule“. 90 Freyer, Das Politische als Problem, S. 51. 91 Freyer, Das Politische als Problem, S. 51. 92 Freyer, Das Politische als Problem, S. 53. 93 Freyer, Das Politische als Problem, S. 53 u. 59. 94 Vgl. Rehberg, Rationales Handeln, S. 204 u. Rehberg, Handlungsbezogener Personalismus, S. 452.
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ohne vorbereitete Weichenstellungen, rein aktuelles Handeln, reines Handeln und darum ‚einfachstes‘ Handeln.“95
Die Tat zieht in den ‚leeren Raum‘ reiner Machtbeziehungen, das heißt in den Bereich reiner Ungewißheit und Aktualität Grenzen ein. Sie bestimmt damit einen konkreten Raum des Handelns: „Die Tat […] setzt […] den Raum […]. Sie zieht durch die Wirklichkeit hindurch eine Umgrenzungslinie […], macht ein Stück Welt frei für die werdende Form.“96 Die werdende Form nun ist nichts anderes als der oben behandelte objektive Sinn im Prozeß des Verstehens, der sich empirisch im Bereich der differenzierten Kultursysteme vollzieht. Indem die Tat „von außen nach innen, […] von leerer Macht zu erfülltem Sinn“97, einen „Geltungsraum“98 für Sinnformen schafft, ist für den Begriff der Tat die Grenzsetzung gegenüber ihrem Sinn primär. Auf diese Weise bildet die Tat, wie Wolfgang Lipp sagt, den „Grenzbezug sozialer Gestaltung“99. Damit ergeben sich andere Bedingungsverhältnisse als in Webers Handlungsverständnis: es wird nicht ein Handeln von seinem Sinn her verstanden, sondern die Tat bildet die Bedingung der Möglichkeit des Sinns und damit auch des sinnhaft orientierten individuellen Handelns. Webers Ansatz, der das Vorkommen von Handlungen als empirische Realität voraussetzte, um deren historisch variable Methodisierungsweisen zu rekonstruieren, wird nicht abgelehnt, sondern, ähnlich wie dies Gehlen mit Blick auf den Begriff des rationalen Wahlhandelns tut, in seinen Konstitutionsbedingungen reformuliert. Während Webers Handlungsmethodisierung vom gemeinten Sinn her „von ‚innen‘ nach ‚außen‘ gedacht“100 ist, ist die Handlung als Tat grundsätzlich „von außen nach innen“101, von den Handlungsgrenzen zum Sinn hin, zu denken. In zeitlicher Hinsicht läßt sich ein der Adäquatheit der Erkenntnis analoges Problem aufweisen: „Handeln ist immer von der Sachwelt her bestimmt und hat in ihr seine Norm; es ist ‚richtig‘, wenn es sachgerecht ist.“102 Der Maßstab für das „Sachgerechte“ sind hier aber keine denkunabhängigen Objekte im Raum, sondern die „‚Zeit‘ selbst“, das heißt die „Zeit von der Seite des Handelns her“ bestimmt, „nämlich durch den Handlungsmodus, der ihr gewachsen ist“103. Diese Zeit ist 95
Freyer, Machiavelli und die Lehre vom Handeln, S. 162. Freyer, Der Staat, S. 34. 97 Freyer, Der Staat, S. 131. 98 Freyer, Preußentum, S. 120. 99 Lipp, Mimesis oder Drama, S. 362. Von hier ergibt sich eine andere Möglichkeit, an Schelskys Konzept einer transzendentalen Theorie des Sozialen anzuknüpfen. Wenn die Tat die Bedingung der Möglichkeit empirischen sozialen Handelns ist, bestimmen die Grenzen der Tat – und nicht die reflektierende Subjektivität des Individuums – die Grenzen des Handelns. 100 Rehberg, Rationales Handeln, S. 199. 101 Freyer, Der Staat, S. 131. 102 Freyer, Machiavelli und die Lehre vom Handeln, S. 165. 103 Freyer, Machiavelli und die Lehre vom Handeln, S. 166. 96
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letztlich die eigene Zeit, deren Ende erfolgreich hinausgeschoben wird.104 Denn unter dem reinen Machtaspekt betrachtet, besteht das Problem des Handelns in der eigenen Ersetzbarkeit.105 Dies ist das ursprüngliche und konstitutive „Problem der Grenzen des Handelns“: es „steht daher durchaus und in allen Einzelheiten unter der Alternative Sieg-Niederlage, Erfolg-Mißerfolg“106, denn die Niederlage geht im äußersten Fall mit dem eigenen Verschwinden einher. Sachgerecht ist in diesem elementaren Bereich ein Handeln, das sich selbst im Dasein hält.107 Ersichtlich geht es bei dieser Sachgerechtigkeit um ein doppelseitiges Verhältnis zweier Handelnder, die feindlich zueinander stehen.108 Das Adäquationsproblem erscheint im Bereich des (politischen) Handelns nicht als Frage nach der Wahrheit, sondern nach der Gerechtigkeit. Freyer lehnt eine kohärenztheoretische Auffassung ausdrücklich ab, welche lediglich „die logische Einheit und Widerspruchslosigkeit des rechtlichen Normensystems“109 für entscheidend hält. Wie wir unten sehen werden, vertritt Luhmann einen solchen kohärenztheoretischen Gerechtigkeitsbegriff.110 Politische und rechtliche Entscheidungen sind nach Luhmann dann gerecht, wenn sie untereinander konsistent und in ihren Prämissen der gesellschaftlichen Komplexität angemessen sind.111 Freyer hingegen versteht seinen Gerechtigkeitsbegriff zwar als ethisch, er zählt sich aber nicht zu der von Luhmann abgelehnten humanistischen oder bürgerlichen Tradition, die ihre Fragen an den Problemen der Einzelhandlung abgelesen hat, sondern ordnet sich einer zweiten Linie der Aufklärung zu,112 die sich nicht auf die individuellen Einzelhandlungen bezieht: „Es gibt zwei große Formen oder Existenzweisen der Aufklärung: eine literarische, bürgerliche, humanitäre, revolutionäre – und eine politische, herrscherliche, staatliche Form“; das Thema der zweiten Form der Aufklärung „ist denkende Vorbereitung aufs Handeln, und zwar auf ganz bestimmte Handlungen. Der Begriff Denken muß dabei freilich in einem sehr starken, existentiellen Sinn genommen werden“113. Die ethische Frage nach der Richtigkeit des Handelns steht zwar im Zentrum, jedoch ist die Adresse eine andere als das Individuum: „Die politische Ethik be104 Dies meint Freyer mit der dunklen Formulierung: der „Wille [zwingt] den Moment“ (Freyer, Das Politische als Problem, S. 59). 105 Vgl. auch Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 515. 106 Freyer, Machiavelli und die Lehre vom Handeln, S. 171. 107 Dies, und nicht seine technokratische Interpretation, ist der Sinn des Begriffs des Sachzwangs. Siehe als eine sachgerechte Erläuterung Gehlen, Hypermoral, S. 103 ff. 108 Vgl. Freyer, Machiavelli und die Lehre vom Handeln, S. 171. 109 Freyer, Herrschaft und Planung, S. 34. 110 Siehe unten Kap. VIII. 111 Vgl. Luhmann, Grundrechte, S. 162 ff., Luhmann, Recht, S. 214 ff. 112 Vgl. Freyer, Machiavelli und die Lehre vom Handeln, S. 12 ff. 113 Freyer, Preußentum, S. 16. Vgl. auch Freyer, Machiavelli und die Lehre vom Handeln, S. 160.
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zieht sich letzthin […] auf die Gestaltung der Herrschaft. […] Echtes Gebot ist auch hier nur, sich richtig zu entscheiden, nicht aber zu wissen, daß oder warum es so richtig sei.“114 Das Problem der Gerechtigkeit besteht primär in der Frage, welches politische Handeln der existenziellen Herausforderung der eigenen Ersetzbarkeit angemessen ist. Daher macht „Gerechtigkeit […] den politischen Charakter eines Volkes aus“115: Die Gerechtigkeit einer Herrschaft „kann nur dadurch erwiesen werden, daß die Herrschaft den Bestand des politischen Volkes und die Integrität seines geschichtlichen Willens verbürgt. Welche Herrschaftsstruktur das leistet, die ist gerecht.“116 Gerechtigkeit bezieht sich also auf die Verantwortung politischer Taten in geschichtlichen Lagen, welche angesichts der Ersetzbarkeit und Endlichkeit der Herrschaft geeignet sind, ihr eigenes Ende aufzuhalten.117 Dazu muß sie aber in der Lage sein, diese äußerste Möglichkeit reflexiv berücksichtigen zu können. Das gerade ist der Sinn der realistischen Wendung von Hegels Metaphysik zu einem konstitutionstheoretischen Handlungsbegriff. Freyer denkt den Staat von seiner Grenze, das heißt vom Krieg her, und ist darin sowohl an dem Vorbild des durch klare Außengrenzen gekennzeichneten europäischen Nationalstaates als auch an der sich abzeichnenden globalen Machtordnung orientiert. Letztere kennt aufgrund ihrer universalen Machtansprüche keine Außengrenzen und läßt dadurch die politische Grenzbestimmung problematisch werden. Aus dem Staatenkrieg klassischer Prägung entsteht ein Weltbürgerkrieg, wenn die universalen, entgrenzenden Ansprüche globaler Mächte auf die Ordnung begrenzter Nationalstaaten trifft. Wenn es mit Franz-Xaver Kaufmann zutrifft, daß im Zuge des sich seit dem Ersten Weltkrieg vollziehenden Aufbaus eines internationalen Systems kollektiver Sicherheit der völkerrechtliche Begriff „‚Friede‘ […] zunehmend durch den der Sicherheit verdrängt worden ist“118, dann betont Freyer die andere Seite des Strebens nach ubiquitärer Sicherheit, nämlich die Permanenz einer existenziellen Unsicherheit, die von Freyer als Ende des „bürgerlichen Sicherungswillen[s]“119 bejaht wird. In diesem Sinn schreibt Freyer: „Am 114
Freyer, Herrschaft und Planung, S. 42 u. 43. Henkel, Hermann Hellers Theorie der Politik, S. 258 f. 116 Freyer, Herrschaft und Planung, S. 43. 117 Vgl. dazu auch Henkel, Hermann Hellers Theorie der Politik, S. 258 f., der zeigt, daß Hermann Hellers Gerechtigkeitsbegriff mit dem von Freyer übereinstimmt. 118 Kaufmann, Leitbild beherrschbarer Komplexität, S. 78. Vgl. auch Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, S. 36 u. oben Kap. I. 119 Freyer, Tradition und Revolution, S. 72. Über diesen Sicherungswillen schreibt Ernst Jünger, damit die risikosoziologische Beschreibung der Gesellschaft als Versicherungsgesellschaft und Vorsorgestaat vorwegnehmend: „Der Bürger […] ist zu begreifen als der Mensch, der die Sicherheit als einen höchsten Wert anerkennt und demgemäß seine Lebensführung bestimmt. […] Der ideale Zustand der Sicherheit […], den der Fortschritt zu erreichen strebt, besteht in der Weltherrschaft der Vernunft […]. Es kommt in dieser Welt darauf an, das Gefährliche als das Sinnlose zu sehen, und es ist im gleichen Augenblicke verschwunden, in dem es im Spiegel der Vernunft als Irrtum erscheint. Dies ist im einzelnen innerhalb der geistigen und tatsächlichen Ordnungen der bürgerlichen Welt überall 115
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Anfang des Weges, den der Staat zum Geiste geht, steht der Krieg – so wie der Krieg am Anfang unsrer deutschen Gegenwart steht.“120 Die latente Fortdauer des Krieges wird begrifflich relevant, indem Freyer Krieg und Frieden als zwei Formen des Krieges unterscheidet.121 Politik erscheint, ähnlich wie bei Weber, als fortwährender Kampf. Weil der Krieg die intensivste Weise des Kampfes ist, „darum ist der Staat in jedem Moment seiner Existenz, offen oder latent, auch Krieg“122: „Alle Politik denkt nach den Kategorien Sieg oder Niederlage, ist Kampf, rechnet stets mit allen Mitteln des Kampfs, rechnet also auch stets mit dem Krieg. Alle Politik ist […] (um ein bekanntes Wort umzukehren) Fortsetzung des Krieges mit veränderten Mitteln.“123
Freyers politische Handlungslehre unterscheidet sich somit von Carl Schmitts Begriff des Politischen. Gleichwohl stellt Schmitt den wohl wichtigsten zeitgenössischen Bezugsautor für Freyer dar. Den Hintergrund von Schmitts Begriff des nachzuweisen. Es offenbart sich im großen in dem Bestreben, den Staat, der auf Rangordnung beruht, zu sehen als Gesellschaft, deren Grundprinzip die Gleichheit ist und die sich durch einen Vernunftakt begründet hat. Es offenbart sich im Aufbau eines Versicherungssystems, durch das nicht nur das Risiko der inneren und äußeren Politik, sondern auch das des privaten Lebens gleichmäßig verteilt und damit der Vernunft unterstellt werden soll – in Bestrebungen, in denen man das Schicksal durch die Wahrscheinlichkeitsrechnung aufzulösen versucht. […] Alle Fragestellungen innerhalb dieses Raumes, seien sie künstlerischer, wissenschaftlicher oder politischer Natur, laufen darauf hinaus, daß der Konflikt vermeidbar ist. Tritt er dennoch auf, wie es etwa den permanenten Tatsachen des Krieges oder des Verbrechens gegenüber nicht zu übersehen ist, so kommt es darauf an, ihn als Irrtum nachzuweisen, dessen Wiederholung durch Erziehung oder durch Aufklärung zu vermeiden ist. Diese Irrtümer treten nur deshalb auf, weil die Faktoren jener großen Rechnung, deren Ergebnis die Bevölkerung des Erdballes mit einer einheitlichen, sowohl von Grund auf guten als auch von Grund auf vernünftigen und daher auch von Grund auf gesicherten, Menschheit sein wird, noch nicht zur allgemeinen Kenntnis gekommen ist“ (Jünger, Der Arbeiter, S. 50 – 52). Während im Bereich bürgerlicher Sicherheit Risiken durch versicherungsmathematische Wahrscheinlichkeitsrechnung kalkulierbar gemacht werden, unterscheidet Jünger diesen Bereich als ganzen – und damit auch die von den Risiken ausgelösten Gefahren für andere – von dem „Gefährlichen“ bzw. „Elementaren“ (ebd., S. 19 f. u. passim). 120 Freyer, Der Staat, S. 140. 121 Freyer schreibt: „Und doch ist und bleibt die Führung der Grenze und die starke Fügung des äußeren Reichs das Werk der politischen Tat, nämlich das Werk des Kriegs in seinen beiden Formen Krieg und Frieden“ (Freyer, Der Staat, S. 145). 122 Freyer, Der Staat, S. 145. 123 Freyer, Der Staat, S. 142. Hier gibt es überraschende Berührungspunkte mit Michel Foucault. Denn Foucault erhebt die von Freyer vorgebrachte These zu einem methodischen Postulat: weil die „Politik […] der mit anderen Mitteln fortgesetzte Krieg“ (Foucault, In Verteidigung, S. 63, vgl. S. 32), „die zivile Ordnung […] eine Schlachtordnung“ (ebd., S. 63), und „Krieg […] der Motor der Institutionen“ (ebd., S. 67) ist, muß zur Untersuchung der gegenwärtigen Gesellschaft methodisch auf den letzten Krieg zurückgegangen werden: man müsse „aus dem Frieden den Krieg herauslesen“ (ebd., S. 67).
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Politischen bilden Überlegungen zur modernen Technik, die denen Freyers ganz ähnlich sind. Die Gegenwart ist nach Schmitt durch einen Glauben an die Technik gekennzeichnet, der den prinzipiellen Endpunkt einer Entwicklung bedeutet, die ihren Ausgang von der Erfahrung der religiösen Bürgerkriege in der frühen Neuzeit nahm. Schmitt beobachtet eine Reihe seither stattfindender Versuche, die an bestimmten Streitfragen entbrannten politischen Kämpfe zu neutralisieren, indem man sie auf anderen Gebieten zu entscheiden versucht. So sollte etwa ein wissenschaftlich rational konstruierter, weltanschaulich neutraler Staat die unlösbaren religiösen Streitigkeiten beilegen. Eine endgültige Beseitigung der Streitgründe, so Schmitt, sei jedoch nie gelungen, vielmehr „wandert die europäische Menschheit aus einem Kampfgebiet in neutrales Gebiet, immer wird das neu gewonnene neutrale Gebiet sofort wieder Kampfgebiet und wird es notwendig, neue neutrale Sphären zu suchen. Auch die Naturwissenschaft konnte den Frieden nicht herbeiführen. Aus den Religionskriegen wurden die halb noch kulturell, halb bereits ökonomisch determinierten Nationalkriege des 19. Jahrhunderts und schließlich einfach Wirtschaftskriege.“124
In der Technik glaubte man schließlich „den absolut und endgültig neutralen Boden gefunden zu haben“, kennen doch die „technischen Probleme […] einleuchtende Lösungen“125. Nun ist aber die Technik – wie Schmitt und Freyer in Übereinstimmung mit der neueren Systemtheorie feststellen – kein gesellschaftliches Sachgebiet (bzw. kein Funktionssystem) wie Religion, Wissenschaft, Wirtschaft, sondern die Neutralität der Technik impliziert etwas durchaus Nicht-Sachliches: „Aber die Neutralität der Technik ist etwas anderes als die Neutralität aller bisherigen Gebiete. Die Technik ist immer nur Instrument und Waffe, und eben weil sie jedem dient, ist sie nicht neutral. Aus der Immanenz des Technischen heraus ergibt sich keine einzige menschliche und geistige Entscheidung, am wenigsten die zur Neutralität. Jede Art von Kultur, jedes Volk und jede Religion, jeder Krieg und jeder Friede kann sich der Technik als Waffe bedienen.“126
Schmitt macht also auf die politische Dimension der Technik aufmerksam.127 Doch hiermit sind die Neutralisierungsversuche an ein prinzipielles Ende ge124
Schmitt, Begriff des Politischen, S. 82. Schmitt, Begriff des Politischen, S. 82. 126 Schmitt, Begriff des Politischen, S. 83. 127 Diesen Gedanken findet man, ins Anthropologische gewendet, auch bei Gehlen. Für dessen Anthropologie folgt der existenzielle Doppelsinn der Technik, „lebensfördernd und lebensvernichtend“ zu sein (Schmitt: „Instrument und Waffe“), aus der Tatsache, daß die Technik „in dem Riskanten, der Existenz auf dem Rande des Umkippens, […] geradezu ein spiegelbildlicher Ausdruck des Wesens des Menschen“ (Gehlen, Das Vorurteil gegen die Technik, S. 165 f.) ist: „Die Technik ist […] der große Mensch, ein Abbild des menschlichen Wesens, das uns aus der Außenwelt entgegentritt.“ (ebd., S. 169) ‚Der Mensch‘ ist anthropologisch durch seine Riskiertheit bestimmt. Hierin trifft er sich mit der zentralen Eigenschaft der Technik: da er auch scheitern kann, ist ihr Einsatz entscheidungsabhängig. Gehlen reformuliert also die Einsicht Schmitts und Freyers in anthropologischen und damit in geschichtlich indifferenten Begriffen. Doch auch bei Gehlen hat diese These von der 125
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langt: der moderne Glaube an die Technik – Webers „Legalitätsglauben“128 nicht unähnlich – ist die letzte „Konsequenz des nun zu Ende getriebenen Neutralisierungsprozesses“129. Er intensiviert das Politische. Die von einer Neutralisierungserwartung begleitete Entwicklung und Ausbreitung der modernen Technik hat das Gegenteil einer politischen Entschärfung gebracht: Schmitt sieht, wiederum mit Freyer übereinstimmend, das Kennzeichen der ihm gegenwärtigen Lage darin, daß die spezifisch europäischen Ideen des 19. Jahrhunderts außerhalb Europas zu Ende gedacht worden sind, und diese, nunmehr radikalisiert, auf Europa zurückzuwirken beginnen.130 Diese Lage ist es, welche Schmitts Überlegungen zum Begriff des Politischen motivieren. Angesichts der sich globalisierenden politischen Verhältnisse relativiert oder dezentriert Schmitt die Begriffe des Staates und des Politischen, indem der Staat und das Politische in ein Bedingungsverhältnis gebracht werden: „Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus.“131 Der Staat und das Politische fallen nicht mehr in eins, wie dies unter den Bedingungen einer europäisch dominierten Politik der Fall war. Vielmehr ist ein Verständnis des Staates nur vom Begriff des Politischen her möglich. Der Staat und das Politische fallen nicht mehr zusammen, sondern die Fähigkeit, politisch zwischen Freund und Feind unterscheiden zu können, wird als Bedingung der Möglichkeit politischer Einheit sichtbar, die dann auch in Form von Staatlichkeit in Erscheinung treten kann. Die Unterscheidung von Freund und Feind ist deshalb mit Schmitt als Entscheidungskriterium und nicht als Leitunterscheidung eines Sachgebiets – Schmitt nennt nützlich/unnütz für die Wirtschaft, schön/häßlich für die Kunst oder gut/böse für die Moral – zu verstehen.132 Der Feind ist weder böse noch schädlich oder häßlich, sondern „in einem besonders intensiven Sinne existenziell etwas anderes und Fremdes […], so daß im extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind, die weder durch eine im voraus getroffene generelle Normierung, noch durch den Spruch eines ‚unbeteiligten‘ und daher ‚unparteiischen‘ Dritten entschieden werden können.“133 „Spiegelbildlichkeit“ von Mensch und Technik einen geschichtlichen Index: das „Vorurteil gegen die Technik“ (wie der Titel des zitierten Aufsatzes lautet), das aufgrund der realen Möglichkeit des Nichtfunktionierens der Technik einen reflexiven Vorbehalt gegen die moderne Technik geltend macht, ist europäischen Ursprungs: es wird „in den Exportländern der Technik, in Amerika und Rußland, nicht geteilt, sondern diese europäische Erfindung wird nur hier in ihrer Bedenklichkeit erwogen“ (ebd., S. 164). 128 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 19 u. 154. 129 Schmitt, Begriff des Politischen, S. 84. 130 Vgl. Schmitt, Begriff des Politischen, S. 73 f. 131 Schmitt, Begriff des Politischen, S. 19. 132 Vgl. Schmitt, Begriff des Politischen, S. 25 f. 133 Schmitt, Begriff des Politischen, S. 26. Eine anthropologische Ausarbeitung von Schmitts Begriff des Politischen bietet Helmuth Plessner. Nach Plessner gehört die politische „Freund-Feind-Relation […] zur Wesensverfassung des Menschen“ (Plessner, Macht und menschliche Natur, S. 54), woraus für ihn folgt, daß der Mensch als exzentrische Positionalität nicht ohne seine „Volkhaftigkeit“ (ebd., S. 89) zu denken ist. Wie er weiter er-
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Ähnlich wie in der Leipziger Schule ist dies von vornherein selbstbezüglich gedacht.134 Doch anders als bei Freyer wird das Politische von Schmitt nicht als permanenter Kampf aufgefaßt. Freund und Feind unterscheiden und sich damit in den Bereich des Politischen begeben, das heißt selbst Feind sein und einen Staat begründen und halten zu können, heißt nicht, faktisch ununterbrochen im Kampf auf Leben und Tod zu stehen: „Feind ist nur eine wenigstens eventuell, d. h. der realen Möglichkeit nach kämpfende Gesamtheit von Menschen, die einer ebensolchen Gesamtheit gegenübersteht.“135
Schmitt hebt deshalb ausdrücklich den „Gegensatz agonalen und politischen Denkens“136 hervor. Die Unterscheidung von Freund und Feind hat letztlich den existenziellen oder geschichtlich-politischen Sinn, den Zustand des Friedens von dem des Krieges unterscheiden zu können. Schmitt versucht, die nach seiner Auffassung zentrale Errungenschaft des europäischen Völkerrechts, die aus der Erfahrung der religiösen Bürgerkriege Europas137 gewonnene Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Feind zur Bestimmung des jus ad bellum in die sich abzeichnenden globalen politischen Verhältnisse zu überführen. Dieser Bestimmung und „Einhegung“ des Krieges dient die Unterscheidung von Freund und Feind: nur wenn der Feind (hostis) nicht der private (moralische, wirtschaftliche, religiöse, läutert, hat das von Schmitt betonte existenzielle Anderssein seinen Grund nicht in einer dumpfen Angst, einem irrationalen Schutzbedürfnis oder im Streben nach der Aufrechterhaltung des eigenen Wohlstandsniveaus, sondern „in der Unheimlichkeit des Fremden“ (ebd., S. 55; vgl. dazu auch Fischer, Plessner). Dieses Unheimliche rühre daher, daß das existenziell „Fremde nicht bloß ein Anderes ist“, sondern zugleich auch „das Eigene, Vertraute und Heimliche im Anderen und als das Andere“ (Plessner, Macht und menschliche Natur, S. 55). Weil also das Fremde zum Eigenen gehöre, komme man von ihm und damit von der Feindschaft „nicht einmal durch die Humanitätskonzeption los“ (ebd., S. 56). Vielmehr zwinge dies zur Bestimmung des Eigenen und Vertrauten gegen das Unheimliche und Fremde. Indem „in der Freund-Feind-Relation sich eine Eigenzone gegen eine Fremdzone abzugrenzen und zu behaupten“ habe, wird Feindschaft zu einer „Konstante der menschlichen Situation“ (ebd., S. 57). 134 „Die Möglichkeit richtigen Erkennens und Verstehens und damit auch die Befugnis mitzusprechen und zu urteilen ist hier nämlich nur durch das existenzielle Teilhaben und Teilnehmen gegeben. Den extremen Konfliktsfall können nur die Beteiligten selbst unter sich ausmachen; namentlich kann jeder von ihnen nur selbst entscheiden, ob das Anderssein des Fremden im konkret vorliegenden Konfliktsfalle die Negation der eigenen Art Existenz bedeutet und deshalb abgewehrt oder bekämpft wird, um die eigene, seinsmäßige Art von Leben zu bewahren.“ (Schmitt, Begriff des Politischen, S. 26). 135 Schmitt, Begriff des Politischen, S. 27. 136 Schmitt, Begriff des Politischen, Ausg. 1933, S. 10, Anm. 2. Weiter heißt es: „Feind ist nicht der Konkurrent oder der Gegner im Allgemeinen. Feind ist auch nicht der Gegenspieler, der ‚Antagonist‘ im blutigen Wettkampf des ‚Agon‘.“ (ebd., S. 10) Neben Autoren der Konservativen Revolution wie Ernst Jünger oder Hans Freyer interpretiert insbesondere die dekonstruktivistische Theorie des Politischen im Anschluß an Ernesto Laclau Feindschaft als Antagonismus. Siehe z. B. Stäheli, Sinnzusammenbrüche, S. 56 u. passim. 137 Vgl. Koselleck, Kritik und Krise, S. 11 – 39.
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wissenschaftliche) Gegner (inimicus), sondern eine öffentliche Gesamtheit möglicherweise auf Leben und Tod kämpfender Beteiligter ist,138 wird der Krieg strukturell und begrifflich zum Ausnahme- bzw. Ernstfall: nur Feinde können auch Frieden schließen.139 Nur unter der rechtlichen Bedingung von Feindschaft ist Frieden ein vom Krieg qualitativ unterschiedener „Status“140 und kein latenter Modus des Krieges. In diesem Sinne kann man sagen: während das agonale Denken den Frieden als latenten Krieg versteht und somit von der Unmöglichkeit des Friedens als eines vom Krieg unterschiedenen Zustandes ausgeht, ist der durch Feindschaft gehegte Krieg auf die Wiederherstellung des Friedens gerichtet. Während nach Schmitt der „Krieg […] durchaus nicht Ziel und Zweck oder gar Inhalt der Politik“ ist, sondern „die als reale Möglichkeit immer vorhandene Voraussetzung, die das menschliche Handeln und Denken in eigenartiger Weise bestimmt und dadurch ein spezifisch politisches Verhalten bewirkt“141, ist Politik für Freyer – für den zwar ebenfalls „Feindschaft kein Haß“ ist – auf „die objektive Notwendigkeit offnen oder latenten Kriegs“142 bezogen. Wenn der Krieg notwendig ist, hat der Friede als Zustand keinen Platz mehr. Welche der beiden Auffassungen mit Blick auf heutige Bedingungen letztlich die zutreffende ist, kann hier nicht entschieden werden. Freyers Konzept eines kontinuierlichen Übergangs zwischen offenem und latentem Kampf zieht jedenfalls eine radikale Konsequenz aus der Globalisierung der Machtpolitik und trägt mit ihrer Konfliktorientierung die deutlich soziologischeren Züge. Freyer nähert sich jedoch in den 30er und 40er Jahren zunehmend Schmitts Begriff des Politischen an,143 indem er dessen Einsicht in die Unterscheidung von Staat und Politik für seine Theorie der Kultursysteme fruchtbar macht. Freyer interpretiert Kultur im Sinne der Ausdifferenzierung von Kultursystemen als vorpolitischen „geistigen Gehalt, den es zu vertreten gilt“144: „Diese Theorie [gemeint ist Schmitts Begriff des Politischen, AH] gibt sehr präzis die Schwelle an, jenseits derer ein religiöser, ein ökonomischer, ein kultureller Gegensatz in 138 Vgl.
Schmitt, Begriff des Politischen, S. 27 f. Gegensatz dazu steht das von Schmitt antizipierte Szenario eines vermeintlich letzten Krieges als „Krieg gegen den Krieg“: „Der Krieg spielt sich dann in der Form des jeweils ‚endgültig letzten Krieges der Menschheit‘ ab. Solche Kriege sind notwendigerweise besonders intensive und unmenschliche Kriege, weil sie, über das Politische hinausgehend, den Feind gleichzeitig in moralischen und anderen Kategorien herabsetzen und zum unmenschlichen Scheusal machen müssen, das nicht nur abgewehrt, sondern definitiv vernichtet werden muß, also nicht mehr nur ein in seine Grenzen zurückzuweisender Feind ist.“ (Schmitt, Begriff des Politischen, S. 35). 140 Vgl. Schmitt, Begriff des Politischen, S. 66, wo Schmitt von der „Unterscheidung der beiden verschiedenen Status ‚Krieg‘ und ‚Frieden‘“ spricht. 141 Schmitt, Begriff des Politischen, S. 33. Vgl. auch ebd., S. 31 – 35. 142 Freyer, Der Staat, S. 142. 143 So auch Greve, Geschichtsphilosophie, S. 135. 144 Freyer, Ethische Normen und Politik, S. 118. 139 Im
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einen politischen umschlägt. Eben damit führt sie vom Politischen auf ein Vorpolitisches zurück. […] Sie fordert dazu auf, jedesmal auf geschichtliche Gehalte zurückzugehen, in deren Dienst der Existenzkampf mit allen Mitteln und das Risiko des Ernstfalls sinnvoll wird.“145
Feindschaft und das Risiko des Kampfes werden hiermit nicht unmittelbar auf die Kultursysteme als Rahmen individueller Freiheit, sondern auf deren „Geltungsraum“146 bezogen. Damit reformuliert Freyer seine Unterscheidung von Tat und Geist: „Tat nämlich ist dasjenige Handeln, dessen Gehalt Geist ist.“147 Der zu strukturierende Gehalt der Tat ist nach Freyer ‚Geist‘, das heißt im Falle des Staates die Kultur bzw. genauer: die ausdifferenzierten Kultursysteme. So kommt Freyer zu drei Momenten von Bedingungen der Möglichkeit der Tat: die Tat steht erstens unter der Bedingung der Macht, räumliche Grenzen setzen zu können, zweitens setzt sie einen bereits bestehenden geistigen Gehalt voraus, auf den sie sich als ihren Sinn (von außen nach innen) richten kann, und drittens kann eine solche Tat nur als riskanter Vorgriff in eine ungewisse Zukunft gewagt werden.148 Gesellschaftsgeschichtlich konkret wird diese Dualität von Tat und Geist am Begriff der Verfassung diskutiert. In ihr soll die ‚Grundentscheidung‘, von der Freyer in seinen kultursoziologischen Schriften immer nur als impliziter spricht, offen politisch vollzogen werden. Die politische Wendung des differenzierten Geistes zum Staat geschehe „im Innern der Verfassung selbst“149: „die Verfassung […] ist der ursprüngliche Entschluß, durch den der Staat seine geschichtliche Aufgabe ergreift. […] Sie ist […] der Beginn seiner Verantwortung vor der Weltgeschichte“150. Weil sich die Tat auch auf eine geschichtlich vorfindliche Struktur bezieht, wird im Begriff der Verfassung die oben erläuterte Unterscheidung von Handlung und Struktur miteinander verknüpft: „Denn das ist allerdings, kurz und gut, der einzige vernünftige Sinn von Freiheit, der sich denken läßt: Freiheit sei der Inbegriff jener autonomen Strukturen, die der Staat nicht erzeugt hat, sondern vorfindet, und die er nicht verändert, sondern bewahrt, indem er sie in das Reich aufnimmt.“151
Michael Henkel kommt deshalb mit Blick auf Freyers Buch über Den Staat zu dem Schluß, daß Freyer „alles andere als ein prinzipieller Gegner des Verfassungsstaates“152 war. Die Verfassung hat nach Freyer stets zuerst den po145
Freyer, Ethische Normen und Politik, S. 118. Freyer, Ethische Normen und Politik, S. 120. 147 Freyer, Der Staat, S. 32. 148 Vgl. Freyer, Der Staat, S. 39. 149 Freyer, Der Staat, S. 185. 150 Freyer, Der Staat, S. 188. 151 Freyer, Der Staat, S. 168. 152 Henkel, Hermann Hellers Theorie der Politik, S. 150. Hermann Heller, dessen Denken das Thema von Michael Henkels Habilitationsschrift ist, ist ein weiterer Staatsrechtslehrer, der sich an Freyers Überlegungen anschloß. Freyers Soziologie als Wirklichkeits146
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litischen Charakter der Tat, sie repräsentiert die konstitutive, handlungsermöglichende Grenzsetzung und kann sich deswegen auf einen vorgängigen kulturellen Sinn beziehen. Denn die Verfassung ist nach Freyer zweiteilig:153 sie ist nicht nur die Form des Staates nach seiner politischen bzw. geschichtlichen Seite hin und damit auf das Problem der eigenen politischen Ersetzbarkeit bezogen, sondern auch reflexive Einheit seiner Gesetze und damit Einheit des positiven Rechts.154 Durch die Verfassung soll das Gefüge der autonomen Kultursysteme auf diesen Bestimmungsbereich der politischen Tat bezogen werden. Dieses soll angesichts seines drohenden „Zerfall[s]155 […] in ein Chaos kämpfender Klassen“156 des Bürgerkrieges zum Gehalt der Tat werden. Das System der Kultursysteme wissenschaft, daneben auch die Theorie des objektiven Geistes und Der Staat, bildeten die theoretische Grundlage für Hellers Staatslehre (vgl. auch Schluchter, Entscheidung). Henkel ordnet Heller direkt in den Zusammenhang der Leipziger Schule ein und spricht aufgrund der Bezüge zwischen Heller und Freyer von einer „Geburt der Politikwissenschaft aus dem Geiste der Soziologie“ (Henkel, Hermann Hellers Theorie der Politik, S. 104 ff., bes. S. 114 ff., 591 ff., bes. 616 ff.). Heller ist nach Luhmann der erste Staatstheoretiker, der der systemtheoretisch angestrebten „Reduktion der politischen Ordnung auf spezifische Funktionen“ nahekommt, welche zuerst in „Hellers Auffassung des Staates als ‚organisierte Entscheidungs- und Wirkungseinheit‘ […] treffend charakterisiert“ (Luhmann, Grundrechte, S. 17) wurde. Henkel gibt gegenüber Versuchen, Freyer politisch zu diskreditieren, zu bedenken, daß es aus Hellers Sicht bis auf eine Kritik an Freyers in Der Staat vorgetragenes Europa-Konzept, in dem sich Freyer für einen politischen Pluralismus der Völker und gegen eine politische Einheit in einem europäischen Staat ausspricht (vgl. Freyer, Der Staat, S. 208 ff.), „ausschließlich Übereinstimmungen mit Freyers Denken“ (Henkel, Hermann Hellers Theorie der Politik, S. 149) gibt; Heller, der sich zur Weimarer Demokratie bekannte, „erkannte offenkundig in Freyer weder einen Antidemokraten noch gar einen Befürworter oder Wegbereiter der Nationalsozialisten, vielmehr dürfte er in ihm einen staatsbejahenden Sozialisten gesehen haben, der zur Demokratie ein skeptisches Verhältnis hatte, aber nicht schlechtweg antidemokratisch gesonnen war“ (ebd., S. 149). Henkel fährt hinsichtlich Hellers Einschätzung Freyers fort: „Es ließe sich zeigen, daß Heller dies mit guten Gründen so sehen konnte, doch führte eine entsprechende Darlegung im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit zu weit. Sicher ginge es in einer entsprechenden Erörterung nicht darum zu leugnen, daß Freyer – der weder vor noch nach dem 30. Januar 1933 Mitglied der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen war – um 1933 herum und bis etwa 1935 den Nationalsozialisten und dem neuen Regime eine gewisse Sympathie entgegenbrachte. Indes waren seine im vorliegenden Zusammenhang interessierenden Schriften, namentlich Der Staat und selbst die Revolution von rechts weder nationalsozialistische noch per se antirepublikanische Schriften. Vielmehr zeichnen sich diese Bücher – mehr die Revolution von rechts denn Der Staat – durch eine politische Ambivalenz und Unbestimmtheit aus, die eine antidemokratische Lesart zwar nicht völlig ausschließt, aber auch nicht von vornherein intendiert und nahelegt“ (ebd., S. 150). 153 Auch in diesem Punkt ist Freyers Konzept in der Grundauffassung mit Schmitt, Verfassungslehre, vergleichbar. Vgl. dazu auch Göbel, Erschöpfung, S. 276. 154 Vgl. Freyer, Der Staat, S. 181. 155 Das Ergebnis dieses Zerfalls faßt Freyer übrigens als nachgeschichtlichen Zustand auf (vgl. Freyer, Der Staat, S. 94 f.). 156 Freyer, Der Staat, S. 95.
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wird also als Schutzgut des Staates bestimmt und zum Inhalt seiner Verfassung gemacht.157 Der drohende Zerfall der Kultursysteme läßt sich mit der von Luhmann beobachteten „Gefahr der Entdifferenzierung“158 vergleichen. Im Unterschied zu Luhmann ergibt sich nach Freyer die Gefahr der Entdifferenzierung nicht aus der Politik, sondern aus der Gesellschaft, sofern diese in einem Bürgerkrieg „kämpfender Klassen“ zerfällt. Diese gesellschaftlich induzierte Gefahr wird durch die politische Tat in ein politisches Risiko, das heißt in eine entscheidungsabhängige Situation überführt. Der Ausdruck dieser Tat ist die Verfassung. Das Gesetz sei nun die Form, in der die Kultursysteme im Namen ihrer Autonomie politisiert werden sollen.159 Ziel ist die „politische Umbildung der autonomen Kultur zur Einheit eines Ganzen“160, die das scheinbar Paradoxe bewirken soll, die Autonomie der Kultursysteme durch ihre „Politisierung“161 zu erhalten.162 Denn Freyer betont im157 Die hierbei unterstellten Gegner sind bestimmte technisch orientierte globale Planungsperspektiven (vgl. unten Kap. IX). Denn als bloße Idee steht die Technik einerseits für eine „grenzenlose Welt“ (Freyer, Der Staat, S. 176), andererseits kann dann das „Unternehmen der Technik […], wenn es von seinem eignen Sinn aus gedacht wird, nur planetarisch gedacht werden“ (ebd., S. 175). Insofern, also von der Idee der Technik als abstraktem, unbestimmtem Können unter Vernachlässigung ihres Wirklichkeitsbezuges „[wird] die Technik des sympathisierenden Ingenieurs in SSR. […] nicht anders sein als die in USA., wenn sie gut ist“ (Freyer, Herrschaft und Planung, S. 19). Planetarische Grenzenlosigkeit heißt aber nichts anderes als politische Unbestimmtheit: „Jene grenzenlose Welt der bloßen Mittel trägt in sich selbst zwar die Kraft zu einem unendlichen Fortschritt, aber nicht die Kraft, geschlossne Schicksalsräume zu bilden“ (Freyer, Der Staat, S. 176). Das Amalgam von Wirtschaft und Technik, die Zivilisation, „ist der andre große Faktor der geschichtlichen Bewegung“ (ebd., S. 174). Auch wenn sich deren Bewegung selbst nicht als politisch, sondern als friedliche wirtschaftliche Expansion oder als universales Ziel der Menschheitsentwicklung versteht (vgl. z. B. Schumpeter, Zur Soziologie der Imperialismen u. dagegen Schmitt, Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus), muß es von einer an Bestimmtheit interessierten Perspektive als politisches Vorhaben erscheinen. 158 Luhmann, Grundrechte, S. 23. 159 Vgl. Freyer, Der Staat, S. 161 ff. 160 Freyer, Der Staat, S. 179. 161 Freyer, Der Staat, S. 165. 162 Wie dies im einzelnen genau geschehen soll, bleibt unausgeführt, aber Freyer scheint etwas vorzuschweben, was Carl Schmitt kurze Zeit später unter dem Begriff der „institutionellen Garantie“ von Grund- bzw. Freiheitsrechten als Rechtsfigur entwickelt (vgl. Schmitt, Freiheitsrechte und institutionelle Garantien). Schmitt unterscheidet zwischen „den Grundrechten überlieferter, d. h. bürgerlich-rechtsstaatlicher Art“, den „institutionellen Garantien“ des öffentlichen Rechts sowie den „Institutsgarantien“ des Privatrechts (vgl. ebd., S. 143). Die letzteren beiden gehören zu den „der Vorkriegsjurisprudenz unbekannten oder jedenfalls nicht geläufigen Arten verfassungsrechtlicher Gewährleistungen“ (ebd., S. 143). Mit dem Begriff der institutionellen Garantie werden fundamentale bürgerliche Freiheiten wie etwa persönliche Freiheit, Eigentum, Unverletzlichkeit der Wohnung und Freiheit der Meinungsäußerung (vgl. ebd., S. 141 f.) von solchen Freiheiten unterschieden, die öffentliche Institutionen voraussetzen und diese unter den Schutz der Weimarer Reichs-
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mer wieder, daß die Autonomie der Kultursysteme keineswegs einer politischen Fremdbestimmung weichen soll oder auch nur könnte, sondern daß es sich bei der Politisierung um eine reflexive Formung von Formen handelt, deren Funktion gerade in der Erhaltung der Autonomie dieser vorstaatlichen kulturellen Formen besteht. Die politische Form beruht immer auf der „Formung eines Geformten. Jedes Teilsystem der Kultur trägt von Anbeginn und unverlierbar seine eigne Struktur und Gesetzlichkeit in sich. Über diese Autonomien aber stülpt der Staat […] die zweite Formung durch seine Gesetze. Die formende Arbeit des politischen Prinzips löscht jene Autonomien nicht aus, trägt ihnen nichts ab, tastet sie als solche überhaupt nicht an. Sonst wäre Kunst im Staate nicht mehr Kunst, Recht bliebe nicht Recht, Kultur nicht Kultur.“163
Durch Einbezug der Kultursysteme als in sich geschlossenen, autonomen Welten des Geistes in die Verfassung soll aus diesen, in den Worten Freyers, ein „Schicksalsraum“164 werden. Die Idee des Schicksalsraumes steht für eine durch und durch sinnhaft gewordene Handlungsumgebung, in der der einzelne Handelnde völlig widerstandslos Bestätigung findet. In der vollständigen Durchführung der politischen Wendung des Geistes wäre der Staat mit der Kultur identisch. Daß dies ein unter realen politischen Bedingungen unerfüllbares, aber gerade deshalb leitendes Ideal ist, wird daran ersichtlich, daß die erstrebte Schließung des Schicksalsraumes aufgrund seines politischen Charakters gar nicht erreicht werden kann. Das Ziel, daß der einzelne Handelnde in diesem Schicksalsraum „leben kann wie das Tier in seinem Walde lebt“165, kann nicht eintreten, weil auf dem Felde des Politischen die eigene Position konstitutiv immer fraglich bleibt.166 Die Tat ist nie ohne die Refleverfassung stellen (vgl. ebd., S. 149). Der Schutz dieser Grundrechte durch die Reichsverfassung erfolgt hier also über den Umweg der Garantie von Institutionen. Beispiele für solche verfassungsmäßig geschützten Institutionen sind die kommunale Selbstverwaltung, das Berufsbeamtentum, die Freiheit der Wissenschaft und Lehre an den Universitäten, die Unabhängigkeit der Richter sowie die Freiheit der Religionsgesellschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts (vgl. ebd., S. 143 – 152). Schmitt führt weiterhin aus, daß der Begriff der Gewährleistung oder Garantie hier den spezifischen Sinn hat, daß „die Verfassung sich mit der Garantie, die sie gibt, identifiziert und eine Verletzung der Garantie ohne weiteres eine Verletzung ‚der Verfassung selbst‘ bedeutet, wenn ein Angriff auf das gewährleistete Objekt ein Angriff auf die Verfassung selbst ist“ (ebd., S. 153 f.). Leider geht Luhmann in Grundrechte als Institution auf Schmitts Begriff der institutionellen Garantie nicht ein. Vielmehr ebnet Luhmann die Unterscheidung zwischen institutionell zu garantierenden und individuellen Grundrechten ein (vgl. dazu unten Kap. VIII.). 163 Freyer, Der Staat, S. 167 f. 164 Freyer, Der Staat, S. 99. 165 Freyer, Prometheus, S. 63. 166 „Daß ein Menschentum im Kosmos der Kunst, der Wissenschaft, des Rechts als in seinem Schicksalsraum wirklich leben könne oder je gelebt habe, ist der Irrtum derer, die diesen hohen Werken in der sekundären Haltung des Historikers gegenüberstehen. Wirklich leben kann in jener Welt allein der Typus des Gebildeten. Der aber ist kein Schritt in der Geschichte des Geists, er ist höchstens ihr Abfallprodukt. […] Die politische Wendung ruft gegen dieses überwuchernde Schöpfertum des Stils die andre Aktionsweise des Geistes auf
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xion auf ihr Ende zu denken, entspricht sie doch dem Versuch, dieses Ende nicht stattfinden zu lassen. Gerade deshalb ist die Möglichkeit der Reflexion dieses Endes aber auch die Bedingung der Möglichkeit ihrer Realität. Das regulative Ideal einer politisch-kulturellen Schließung impliziert eine institutionentheoretische Perspektive, die dasselbe Regulativ wie die Institutionenlehre Gehlens in Anschlag bringt, der an „genau der Stelle, wo beim Tier die ‚Umwelt‘ steht, […] beim Menschen die Kulturwelt“167 sieht. Weil aber Gehlen seinen Handlungsbegriff anthropologisch aus der Unterscheidung des Menschen vom Tier, das heißt von der Natur, gewinnt, läuft er Gefahr, die modernen Verhältnisse aus den Augen zu verlieren. Denn im Bereich des Politischen geht die Existenzbedrohung nicht auf die Natur zurück, sondern hier ist das Handeln wirklich ‚vollständig‘ aus seiner Bindung an die Natur abgelöst. 3. Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft Freyer konturiert seine theoretischen Überlegungen zur Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft vor dem Hintergrund einer Gegenwartsdiagnose, derzufolge die aus dem 19. Jahrhundert überkommene, „wesentlich als Klassengesellschaft gebaute Sozialordnung“ nunmehr mitten „in der Umbildung begriffen ist“168. Diese Umbildung betrifft nicht nur einzelne Bereiche der Gesellschaft, sondern die Gesellschaftsstruktur als ganze. Freyer betont, daß zur Erfassung des Problems der Umbildung der gesellschaftlich primären Struktur die empirische Analyse von gesellschaftlichen Teilprozessen als solchen nicht ausreicht: „Der konkrete Begriff hat diese Gesellschaftsordnung vielmehr als ein – wenn auch aus vielen Elementen zusammengesetztes – Ganzes, und zwar als ein über sich hinausstrebendes Ganzes, als ein – wenn auch aus vielen Einzelentwicklungen zusammengeschlungenes – zukunftsreiches Geschehen zu begreifen.“169
Um mit Luhmann zu sprechen, versucht Freyer das „Auswechseln der Form der Stabilität“170 der Gesellschaft, eine Katastrophe im Sinne eines umfassenden gesellschaftlichen Strukturbruchs zu erfassen. Dabei hat die Soziologie nicht nur den Bruch zu berücksichtigen, sondern auch eine neue Ordnung zu antizipieren.171 Es den Plan: die Tat. Das Schaffen ist die große Gegenbewegung gegen das Leben: vom Leben ausgehend, aber nicht wieder einmündend in das Leben; auf Bündiges gerichtet, nicht auf Wirkliches. Die Tat aber, selbst als wirkende Kraft in das Reich der Wirklichkeit, macht ihre Werke erst wirklich, ehe sie sie bündig werden läßt. Sie macht sie wirklich, indem sie ihnen ihren bestimmten Raum, ihre bestimmte Dauer, ihre bestimmte Verkettung mit den andren Teilen der Wirklichkeit sichert.“ (Freyer, Der Staat, S. 101 f.). 167 Gehlen, Mensch, S. 37. Vgl. Gehlen, Urmensch, S. 24. 168 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 303. 169 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 303 f. 170 Luhmann, Gesellschaft, S. 616. 171 „Nur sofern es einer neuen Sozialstruktur zustrebt, ist das Geschehen der sich auflösenden Klassengesellschaft Gegenstand eines möglichen soziologischen Begriffs.“ (Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 304).
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geht um den „Übergang von der Klassengesellschaft zu einer neuen Ordnung“, die noch nicht da ist, aber „deren Grundzüge sich in ihren Bewegungen vorbereiten“172: „Jedenfalls: auch hier sind es immanent-gesellschaftliche Prozesse, die die Klassenstruktur in die neue Ordnung umbilden; und auch hier ist diese neue Ordnung soviel oder sowenig Positives über sie aussagbar sein mag, jedenfalls dadurch charakterisiert, daß sie nicht mehr auf Klassenherrschaft begründet und insofern nicht mehr ‚Gesellschaft‘ sein wird.“173
Daß die neue soziale Ordnung nicht mehr Gesellschaft sein wird, bedeutet, daß sie nicht mehr Gesellschaft im Sinne der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft des 19. Jahrhunderts sein wird.174 Vielmehr ist – so formuliert Freyer rückblickend – in der „Epoche der Weltkriege, einschließlich der Zwischenzeiten […] die neue Gestalt der industriellen Gesellschaft“175 geprägt worden. Der Krieg ist deswegen eine entscheidende Bedingung für die neue Struktur der Industriegesellschaft, weil in „Kriegslagen […] die Grenze zwischen dem, was militärisch und was zivil […] ist, flüssig wird“176. So wie die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft reflexiv relativiert, das heißt politisch-institutionell eingebettet werden muß, können unter dem Eindruck ihres möglichen Zerfalls in einem Bürgerkrieg „kämpfender Klassen“177 auch die ausdifferenzierten Kultursysteme nicht mehr unproblematisch, das heißt in der Einstellung der Geisteswissenschaften, vorausgesetzt werden. Die Gesellschaft ist nach Freyer einerseits sowohl in synchroner wie in diachroner Hinsicht „nicht unabhängig von den Systemen der Kultur zu denken“178. Die Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft hat wie die Theorie des objektiven Geistes deren „Gliederung“, „Bewegung“ und „Zusammenhalt“179 zu bestimmen. Doch anders als in den Geisteswissenschaften werden die geistigen Gehalte in wirklichkeitswissenschaftlicher Perspektive zu „geistige[n] Mächte[n], die an bestimmten geschichtlichen Orten verankert sind und dort existenzielle Bedeutung für einen bestimmten Umkreis von Menschen haben. Aus dem Gestaltenreich des geschaffenen Geistes wird die geschichtliche Wirklichkeit, der ihr Ideengehalt unablösbar eingelagert ist.“180
Die soziologische Betrachtung setzt mithin die im vorigen Kapitel erläuterte politische Wendung der Kultursysteme, die Zuordnung ihrer Ideengehalte wie Gerechtigkeit im Rechtssystem, Wahrheit in der Wissenschaft, Schönheit in der Kunst 172
Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 303. Vgl. ebd., S. 117, 165 ff., 287 ff., 297. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 291. 174 Vgl. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 285 ff. 175 Freyer, Gesellschaft und Kultur, S. 504. Vgl. auch oben Kap. IV. 176 Freyer, Gesellschaft und Kultur, S. 504. 177 Freyer, Der Staat, S. 95. 178 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 105. 179 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 105. 180 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 111. 173
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oder Nützlichkeit in der Wirtschaft als institutionelle Leitideen zu einem politisch bestimmten Geltungsraum voraus. Die Soziologie ist daher nicht ohne einen Bezug zum Politischen zu denken. Im Spannungsfeld der noch nicht bestimmten, sondern in radikaler Transformation begriffenen politischen Ordnung und der als ausdifferenzierte Kultursysteme überlieferten Sinnformen bewegen sich die ebenfalls problematisch gewordenen sozialen Strukturen. Sie bilden das Scharnier zwischen der konstitutive Bestimmtheit sichernden politischen Tat und dem regulativen Sinn der Kultursysteme und werden dementsprechend von Freyer unter dem Begriff des „Schematismus der soziologischen Strukturbegriffe“181 analysiert. Den soziologischen Strukturbegriffen wie etwa Gemeinschaft und Gesellschaft, Stand und Klasse hat nach Freyer sowohl Generalisierbarkeit als auch geschichtliche Gebundenheit zuzukommen, wobei der Begriff der Geschichte immer den dreifachen Sinn hat, Vergangenheit und Zukunft gegenwärtig zu verknüpfen, indem Vergangenheit in Gegenwart ausläuft und eine existenzielle Entscheidung mit Blick auf die Zukunft erzwingt. Im Begriff des Schematismus der soziologischen Strukturbegriffe sind daher ein zeitloses, allgemeines Sinnmoment mit einem zeitgebundenen, konkreten Wirklichkeitsmoment miteinander verknüpft, wobei die Kategorie der Geschichtlichkeit wiederum doppeldeutig ist. Darum müssen soziologische Strukturbegriffe einerseits mit Blick auf die Vergangenheit ein „System des Nacheinander“ bilden: „Ihre Kategorien müssen historisch lokalisiert und miteinander im Sinne der Zeitfolge verbunden sein.“182 Andererseits hat die Soziologie im Sinne Freyers auch den realen Willensgehalt einer durch ihre geschichtliche Lage eindeutig bestimmten Gegenwart zum Thema, deren Bestandteil nicht zuletzt die Soziologie selbst ist. Die Soziologie hat letztlich eine existenzielle, willensmäßige Bindung an die Gegenwart.183 Dieser Willensgehalt ist in jeder Gegenwart plural und damit umstritten. Ihn begrifflich in dieser Pluralität und Gegenwärtigkeit zu erfassen, ist nach Freyer die Aufgabe der Soziologie. Die daraus resultierende methodologische Schwierigkeit besteht darin, daß diese Gegenwärtigkeit nicht den Charakter von Gegenständlichkeit aufweist. Sie ist auch kein Entwicklungsprozeß. Sondern die Gegenwart ist mit Blick auf die Zukunft offen, sie erzwingt Entscheidungen und Handlungen: „Der Hiatus zwischen Gegenwart und Zukunft wird nicht durch dinghafte Entwicklungen, sondern durch den Willen überbrückt.“184 Diese Überbrückung oder Transformation wird in theoretischer Hinsicht als Schematismus gefaßt. Dieser ist selbst weder Bild noch Verlauf, sondern Gestaltbildung und als solche die theoretisch gewendete Realität des Handelns. Auf die Handlungswirklichkeit bezogen, geht es um gesellschaftliche Formen des Willens in einem noch nicht entschiedenen 181
Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 221 ff. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 87. 183 Vgl. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 89 mit Bezug auf Landshut, Kritik der Soziologie. 184 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 307. 182
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Zustand. Eine schlicht-gegenständliche Erkenntnishaltung versagt hier, die Soziologie weist per se ein selbstreflexives Moment auf. Die soziale Wirklichkeit als Thema der Soziologie hat ihren bestimmungslogischen Ort vielmehr zwischen der handlungsermöglichenden (politischen) Konstitution von Handlungswirklichkeit überhaupt einerseits und deren sinnhafter, den ausdifferenzierten Kultursystemen Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion und Kunst entlang verlaufenden Regulation andererseits. Die soziale Wirklichkeit zeichnet sich durch diese doppelte Beziehung aus: die „gesellschaftlichen Gebilde“ sind „Formen aus Leben“185. In ihnen werden sinnhafte (geistige, kulturelle) Gehalte von einem Willen getragen. Sich umzubilden und zu transformieren wird daher von Freyer zur Grundbestimmung der sozialen Wirklichkeit erklärt: „Sich geschichtlich zu verändern, ihre Struktur zu festigen, sie aufzulockern, zu erstarren, sich schließlich aufzulösen oder revolutionär zerbrochen zu werden – alles das ist für die gesellschaftlichen Gebilde keineswegs ein äußerliches Schicksal, wie für das Kunstwerk das Verwittern des Steins. Sondern diese Prozesse der Bildung und Umbildung gehören zu ihrem Wesen: diese Prozesse sind das Wesen ihrer Form. Jede gesellschaftliche Gleichgewichtslage ist labil. Jede gesellschaftliche Ordnung trägt (solange sie sie auch zu bannen fähig sein mag) weitertreibende Momente, geschichtsbildende Kräfte in sich. Das sind die Faktoren, die sie wesentlich unbündig, damit aber allererst zu Wirklichkeiten machen. Von ihnen absehen, das ergibt eine Utopie, aber keine Soziologie.“186
Freyers Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft versteht sich selbst als Wissenschaftstheorie der Soziologie, als logische Grundlegung ihres Systems, wie es im Untertitel heißt. Logik meint hier Wissenschaftstheorie. Die Freyersche Wissenschaftstheorie ist nicht freischwebend, sondern arbeitet selbst bereits auf wirklichkeitswissenschaftlichen Grundlagen. Diese Behauptung läßt sich am Begriff des „Erkenntniswillens“187 bzw. der „Erkenntnishaltung“188 festmachen. Freyer unterscheidet bekanntlich – hier kann an die oben geführte Diskussion von Diltheys Geschichtsbegriff angeknüpft werden189 – drei Gruppen empirischer Wissenschaften: Natur-, Logos- und Wirklichkeitswissenschaften:190 185
Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 81. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 85. 187 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 3, 82, 207 u. passim. 188 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 3, 79, 114, 199 u. passim. 189 Siehe Kap. VII.1. 190 Freyer schreibt damit seiner Meinung nach eine Unterscheidung Kants von transzendentalphilosophischen auf wirklichkeitswissenschaftliche Grundlagen um (vgl. zum folgenden Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 206 f.). Kant seinerseits hatte auf die alte griechische Dreiteilung von Logik, Ethik und Physik zurückgegriffen, die er auf transzendentalphilosophische Grundlagen stellte, und unterschied formale von materialen Wissenschaften. Die formale Wissenschaft, die sich nur mit den Formen des Verstandes und der Vernunft befaßt, ist die Logik (von Kant hernach noch einmal in formale, das heißt gegenstandsindifferente, und transzendentale, das heißt gegenstandskonstitutive Logik unterschieden). Die materialen Wissenschaften können sich auf die Gesetze der Natur (der Materie) richten, dann hat man es mit der Physik zu tun. Die Gesetze der Freiheit sind kein 186
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„Das Wesentliche ist dabei, daß die Wissenschaften nicht nach formallogischen Kriterien, sondern nach dem Erkenntniswillen, der ihnen innewohnt, unterschieden werden. Eine letzthin gegenständliche Einteilung also; denn nach der Struktur der Objekte und dem Lebensbezug des Menschen zu ihnen richtet sich die Erkenntnishaltung, in der sie adäquat aufgefaßt werden können.“191
Alle drei Gruppen von Wissenschaften – Naturwissenschaften, Logoswissenschaften und Wirklichkeitswissenschaften – sind empirische Wissenschaften. Sowohl die Gegenstände der Logoswissenschaft (= Geisteswissenschaften) als auch der Naturwissenschaften haben echt objektiven Charakter, die sich aus der Spezifik ihrer Form ergeben. Die wirklichkeitswissenschaftliche Bestimmung der Naturwissenschaften geht davon aus, daß diese „das Feld für mögliche Willenshandlungen“192 untersucht. Die Naturwissenschaften zielen auf die schlechthin allgemeine Bestimmung ihrer Objekte, die Suche richtet sich auf Naturgesetze. Es wird nach einem gesetzlichen Zusammenhang nach dem Schema gefragt: immer wenn bestimmte ursächliche Bedingungen gegeben sind, treten bestimmte Folgen ein.193 In diesem kausalen Sinn enthalten die Gegenstände der Naturwissenschaften zwar Zeit, aber nicht im Sinne einer geschichtlich konkreten Zeit, sondern als Variable im Gesetzeszusammenhang.194 Eine Einschränkung derart, daß Naturgesetze mit gesellschaftlichen oder historischen Bedingungen variierten, wäre absurd. Die Objekte der Logoswissenschaften sind verstehbare Sinngehalte.195 Unter dem rein sachlichen Aspekt, daß es sich hierbei um Sinnformen handelt, ist ebenfalls von Abgeschlossenheit und insofern echter Objektivität auszugehen. Sprachen, Mythen, Rechtssysteme, Herrschaftsformen, religiöse Dogmen, Kunstwerke, Baustile, wissenschaftliche Paradigmen oder Wirtschaftsformen können als in sich geschlossene Sinnzusammenhänge von den differenzierten empirischen Geisteswissenschaften wie der Rechtsgeschichte, der Religionswissenschaft, der Kunst- und Architekturgeschichte, der Wissenschafts- und Wirtschaftsgeschichte Thema der Wissenschaft, sondern die Sache der Ethik. Diese Dreiteilung übernimmt Freyer, gibt ihr aber wie gesagt eine wirklichkeitswissenschaftliche Grundlage. 191 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 207. 192 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 210. Weiter heißt es: „Die Erde ist nicht sinnvolle, geschlossene Form […] Sondern sie ist Schauplatz, Widerstand, Lebensraum, nicht endgültige Gestalt, sondern Material für menschliche Gestaltungen. Aus diesem völlig anderen Lebensbezug zu ihr wächst mit Notwendigkeit eine völlig andere Erkenntnishaltung. […] Der Erde gegenüber befindet sich der Mensch wesentlich nicht im Zustande der reinen Anschauung. Auf der Erde will er leben, er will sie kultivieren, das heißt in menschliche Gestaltungen einbeziehen. Diese ganz primäre Willenstatsache, also der – im weitesten Sinne verstanden – technische Wille ist aus der Erkenntnishaltung der Naturwissenschaften nicht wegdenkbar.“ (Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 203 f.). 193 Vgl. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 198. 194 Vgl. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 192. 195 Vgl. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 21 ff.
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untersucht werden, denn offenkundig liegt der Gliederung der Geisteswissenschaften die Differenzierung der Kultursysteme zugrunde.196 Ihr Thema ist allerdings nicht das gegenwärtige gesellschaftliche Handeln im Horizont dieser Kultursysteme, sondern die Erforschung der objektivierten Sinnformen. Diese sind, einmal objektiviert, der Sache nach „echtes Perfektum“, das heißt „zeitlose Gebilde“197. Sie können im Prinzip immer wieder durch das theoretische Verstehen aktualisiert werden. Ihre psychischen, historischen oder sozialen Realisierungsformen sind demgegenüber sekundär und gehören nicht zu ihrer Bestimmtheit als Reflexionsgegenstände.198 Von beiden Wissenschaftsgruppen unterscheiden sich grundlegend die Wirklichkeitswissenschaften. Freyer zählt darunter die Psychologie, die Soziologie und die Geschichtswissenschaft.199 Diesen Wissenschaften ist gemeinsam, daß ihre Gegenstände unumkehrbar zeitgebunden sind.200 Geschichte und Soziologie haben als Wissenschaften einen gemeinsamen Zeitbezug. Freyer vertritt daher die These, „daß die Gegenstände der Soziologie wesentlich historischer Natur sind. Sie sind an eine bestimmte geschichtliche Stunde gebunden.“201 Die sozialen Formen können nicht, wie naturwissenschaftlich erkannte Gesetzes- oder geisteswissenschaftlich erkannte Sinnzusammenhänge, zu jedem beliebigen Zeitpunkt realisiert werden, sondern die konkrete raumzeitlich bestimmte Realisierung ist für die Gegenstände der Wirklichkeitswissenschaften wesentlich.202 196 Vgl.
Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 25, 28, 202 f. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 26 u. 83. 198 Vgl. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 22. 199 Vgl. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 80. 200 Vgl. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 56 u. 87. 201 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 56. 202 Die Schwierigkeit besteht damit einerseits in der Abgrenzung von Soziologie und Geschichtswissenschaft, andererseits von Soziologie und Geisteswissenschaften. Die Notwendigkeit der Abgrenzung zur Psychologie (vgl. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 179 ff.) und zur Naturwissenschaft sieht Freyer auch, hält er aber für weniger wichtig. Die Gefahr, Soziologie als Naturwissenschaft zu betreiben, besteht eher für die von Comte geprägte französische Soziologie (vgl. Freyer, Soziologie als Geisteswissenschaft). Die deutsche Soziologie steht aufgrund der von Tyrell herausgearbeiteten und von Freyer genau so gesehenen Sinnorientierung vielmehr in der Gefahr, zur Geisteswissenschaft zu werden, was er insbesondere für die formale Soziologie Simmels feststellt, während heute möglicherweise an die formtheoretische Überarbeitung der Systemtheorie zu denken wäre. Obwohl Freyer stark von Simmel beeinflußt ist (vgl. Lange, Rezeption und Revision u. den einleitenden Kommentar von Elfriede Üner zu Freyer, Material der Pflicht, S. 71 f.), sieht er in dessen Konzept der formalen Soziologie die Grenze zur Geisteswissenschaft überschritten: „Simmels Begriff der sozialen Form greift […] keineswegs bloß aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit ein abstraktes Moment heraus: dieses Verfahren könnte durchaus berechtigt sein. Sondern durch seine Abstraktion wird stillschweigend und ungewollt eine verhängnisvolle Veränderung am Objekt bewirkt. Was geschichtliches Geschehen ist, wird zur ruhenden Struktur fixiert. Der Nerv der Zeit, das heißt der Wirklichkeit, wird aus den 197
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Dabei handelt es sich bei der sozialen Wirklichkeit nicht um Gegenstände im klassischen Sinn. Zwar weisen sie Eigenschaften von Objektivität auf, denn sie sind erstens dauerhaft, der Veränderbarkeit weitgehend entzogen, von ihnen geht zweitens ein „Gültigkeitsanspruch“ aus, und sie sind „drittens Strukturen von verstehbarer und beschreibbarer Art“203. Zugleich sind sie dies alles nicht. Vielmehr ist ein „gesellschaftliches Gebilde […] ein charakteristischer Grenzfall der Objektivität“204, weil sie „dauernd im Zustande des Werdens“205 bleiben. Von dieser anderen Seite her gesehen bestimmt sich die Gegenständlichkeit des Sozialen durch weitere drei Momente. Das erste Moment betrifft die Dauer und Konstanz der gesellschaftlichen Wirklichkeit:206 „Die gesellschaftlichen Gebilde sind von allen anderen Gebilden der geschichtlichen Welt erstens durch die einfache Tatsache unterschieden, daß sie Formen aus Leben sind. Die Menschen selbst, mit ihrem ganzen Wesen und Schicksal, sind das Material, aus dem sie sich aufbauen.“207
Freyer versteht hier Material fast wörtlich als Materie, die einer technischen Formung zugänglich ist. Der Unterschied liegt im Begriff des Lebens, dem eine Operation zugeordnet werden kann: „Gesellschaftliche Formen […] leben davon, daß die Menschen sich dauernd willfährig in ihr Bildungsgesetz einfügen, sich dauernd neu zu ihrem Bestand bekennen.“208 Die Verknüpfung des Lebens mit den gesellschaftlichen Strukturen erfolgt operativ als Bejahung dieser Strukturen.209 sozialen Wirklichkeiten herausgerissen. Die Soziologie wird in eine Logoswissenschaft verwandelt“ (Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 56). 203 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 80. 204 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 81. Vgl. auch ebd., S. 175. 205 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 171. 206 Vgl. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 81 ff. Vgl. auch Freyer, Einleitung, S. 7 f. 207 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 81. 208 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 82. 209 Für die gegenwärtige Gesellschaft wird ein solches Bekenntnis beispielsweise von neoinstitutionalistischen Gesellschaftstheorien wie der von John W. Meyer angenommen: „Moderne ‚Individuen‘ bekennen sich zu der institutionalisierten Auffassung, daß sie über verbriefte politische Rechte, Wirksamkeit und Kompetenzen verfügen; sie sind davon überzeugt, daß sie selbständig über ihren Beruf, ihre Investitionen und ihren Güterkonsum entscheiden; sie äußern bereitwillig ein breites Spektrum kultureller Urteile und haben kein Problem damit, Fragebögen zu ihren Ansichten über Politik, Wirtschaft oder auch über die genauen Eigenschaften Gottes, inklusive seiner Existenz, auszufüllen. Gestützt auf die Möglichkeiten und Anreize des modernen Systems nehmen sie an den verschiedensten politischen und kulturellen Ereignissen teil – und können ex post facto mit größter Genauigkeit erklären, daß und wie sie ihre Handlungen als die für ihre Zwecke am besten geeigneten ausgewählt haben“ (Meyer/Boli/Thomas, Ontologie und Rationalisierung, S. 36). Der letzte Bezugspunkt wird hier aber nicht politisch, sondern religiös konzipiert (vgl. ebd., S. 38 ff., bes. 40). Souveräne politische Völker kommen in dieser Ordnung seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr als Akteure in Frage: „Das System der Agentschaft, das wir hier untersu-
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Im Falle der gesellschaftlichen Wirklichkeit macht diese wie auch immer implizite, latente, unausgesprochene oder uneingestandene Zustimmung zu den gesellschaftlichen Formen zugleich deren Bestand wie deren Dynamik aus. Jede gesellschaftliche Form beruht damit immer zumindest auf einem „Freiwilligkeitsminimum“210. Daher kann Freyer sagen, die sozialen Strukturen „werden aufgeführt wie eine Musik oder wie ein Drama“, nur daß sie kein Spiel sind, sondern „im Raum und in der Zeit des Lebens selbst […] wirklich [geschehen]“211. Die notwendige Kehrseite des Bekenntnisses ist die „Freiheit der Lossagung,212 die jedes soziale Gebilde, auch das am festesten gefügte, seinen Mitgliedern wohl oder übel läßt“213. Das Freiwilligkeitsminimum ist die Bedingung der Möglichkeit sowohl der Lossagung wie auch des Bekenntnisses und deshalb der „Existenzgrund“214 der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Durch die Unterscheidung von Bejahung und Lossagung werden die Sinnformen in die Handlungswirklichkeit eingebettet. Hier liegt der Unterschied zum oben geschilderten Kreislauf des Verstehens aus der Theorie des objektiven Geistes. Der Verstehenskreislauf aus Erleben, Ausdruck und Verstehen bewegt sich völlig im Bereich des objektiven Sinns, weil er immer Formen schafft und weiterbildet, die sich vom aktuellen Erleben ablösen lassen. Eben dies gilt für die sozialen Formen nicht. Deren Bestimmtheit zeichnet sich gerade dadurch aus, daß sie mit dem „Leben“, das heißt mit der Wirklichkeit des Willens verbunden bleiben. Diesen Unterschied betont Freyer bereits in der Theorie des objektiven Geistes, in der er schon – neben den Kategorien Gerät, Zeichen und Bildung – über einen Begriff der „Sozialform“215 verfügt. Im Unterschied zu den geistigen Prozessen liegt „die Welt der sozialen Formen […], bildlich gesprochen, rechtwinklig zu diesen paralchen, ist eine zutiefst historische Konstruktion in dem allgemeinen Sinn, den wir bereits angesprochen haben: Es hat seine Wurzen in der religiösen und rechtlichen Geschichte des Westens. Daneben ist es aber auch eine historische Konstruktion in einem spezifischeren Sinne: Seine genauere Ausarbeitung ist ein Ergebnis des seit dem Zweiten Weltkrieg vorherrschenden liberalen Modells soziopolitischer Ordnung, das individuelle Autorität höher bewertet als diffuse korporative oder staatliche Autorität, das auf Demokratie und Marktwirtschaft setzt usw. Die Vorherrschaft der Vereinigten Staaten während dieser Epoche und der Zusammenbruch Europas (und damit des Korporatismus) an ihrem Beginn spielen hier offensichtlich eine wichtige Rolle. Das kulturelle Modell des liberalen Systems ist seinem Ursprung nach protestantisch und anglo-amerikanisch, hat sich aber in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts über die ganze Welt ausgebreitet“ (Meyer/Jepperson, Die „Akteure“ der modernen Gesellschaft, S. 65). 210 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 173. 211 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 82. 212 Schon in der Theorie des objektiven Geistes heißt es: der Einzelne „kann prinzipiell adieu sagen und seiner Wege gehen“ (Freyer, Theorie des objektiven Geistes, S. 102), zum Beispiel nach Amerika auswandern. 213 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 173. 214 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 174. 215 Freyer, Theorie des objektiven Geistes, S. 64 ff.
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lelen Schaffensrichtungen“ in den Bereichen „Wissenschaft, Kunst, Recht usw.“216. Diese Querlage bezieht sich formal gesehen auf die Unterscheidung von Bejahung und Lossagung. Es wurden oben ausgehend von Alois Hahns Annahme der Vergleichbarkeit der Systemtheorien Diltheys und Luhmanns die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen beiden bzw. Freyers Theorie des Verstehens aufgezeigt.217 Nun kann noch ein weiterer wesentlicher Unterschied festgehalten werden. Während die Ablösbarkeit des objektiven Geistes von der aktuellen Subjektivität der Reflexion auf der in sich geschlossenen, wie Freyer sagt: in sich „bündigen“ Relationalität der Sinngehalte beruht, steht die Unterscheidung von Bejahung und Lossagung quer zu diesem Vorgang der Entäußerung der Reflexion. Die Freiheit der Bejahung und Lossagung ist keine Möglichkeit der Reflexion, sondern des Willens und Handelns, setzt aber Reflexion voraus. Wie an Luhmanns allgemeiner Theorie sozialer Systeme gezeigt wurde, kennt diese nur den Begriff des Sich-Einlassens auf Kommunikation, der undeutlich im Begriff des Systemvertrauens aufgeht.218 Dies läßt sich nun dahingehend präzisieren, daß Luhmann eine Unterscheidung aus dem Bereich des Wollens und der Handlung – die Unterscheidung von Akzeption und Rejektion – der Reflexion annähert. Er ignoriert die Möglichkeit der Rejektion bzw. Lossagung, reduziert damit das Handeln zu einem Resultat kommunikationsinterner Zurechnung und löst damit die systematisch vorhandenen Berührungspunkte von Kommunikations- und Handlungslehre219 auf. Das zweite Moment der Objektivität sozialer Formen hält die Diskontinuität der gesellschaftlichen Wirklichkeit fest:220 „Die zweite grundlegende Eigenschaft der gesellschaftlichen Gebilde betrifft ihr Verhältnis zur Zeit.“221 Gesellschaftliche Wirklichkeiten als „Lebenswirklichkeiten […] transzendieren immer sich selbst […] in der Richtung auf eine andere, veränderte gesellschaftliche Lage hin. […] Sie sind wesentlich nicht Perfektum, sondern Imperfektum.“222 Freyer grenzt dies wie immer in zwei Richtungen ab: Gesellschaft ist nicht Perfektum, das heißt sie ist kein Werk des objektiven Geistes und überhaupt nicht geisteswissenschaftlich zu erfassen. Daß Gesellschaft zeitlich verfaßt ist, kann aber andererseits auch nicht im Rahmen des neutralen naturwissenschaftlichen Zeitbegriffs verstanden werden: „Die Zeit ist für sie nicht jene neutrale Sphäre, in der sich die Mannigfaltigkeit der Gebilde entfaltet und der Formenwandel zwischen ihnen vor sich geht. […] Sie hat eine ein216
Freyer, Theorie des objektiven Geistes, S. 69. Siehe Kap. VII.1. 218 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 179 f. u. oben Kap. III.1. 219 Handlungslehre im hier rekonstruierten Verständnis Freyers und Gehlens. Selbstverständlich hat Luhmann eine eigene Handlungstheorie. 220 Vgl. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 83 ff.; Freyer, Einleitung, S. 8 ff. 221 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 83. 222 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 84. 217
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deutige Richtung. Sie ist unumkehrbar. Sie ‚vergeht‘, d. h. sie setzt durch den prägnanten Zustand der Gegenwärtigkeit hindurch Zukunft in Vergangenheit um.“223
Schließlich ist die gesellschaftliche Wirklichkeit auch „die Synthesis der beiden ersten. Es vereinigt die Bestimmungen, daß gesellschaftliche Gebilde unlösbar an den Menschen und unlösbar an die Zeit gebunden sind, zu der dritten: daß sie die existenzielle Situation des Menschen sind. Es bezieht sich auf die gesellschaftliche Wirklichkeit als gegenwärtiges Schicksal und gegenwärtige Entscheidung.“224
Dies ist der Grund für den nichtobjektivierbaren Rest, den jede theoretische Beschreibung (im oben ausgeführten Verständnis) notwendigerweise übrig lassen muß. Die gegenwärtige Entscheidung erscheint der kognitiven Orientierung als Hiatus zwischen Vergangenheit und Zukunft. Dieser ist in seiner Wirklichkeit, das heißt in der existenziellen Entscheidungssituation, ausschließlich handelnd zugänglich: „Alle Geschichte endet an ihrer Stirnseite in diesem prinzipiell anderen Aggregatzustand des gelebten Lebens, der gegenwärtigen Existenz.“225 Die existenzielle Entscheidungsgegenwart ist allererst „jene Identität von Subjekt und Material, die in weiterem Sinne für alle gesellschaftlichen Tatsachen galt“226. Diese Identität ist zugleich die Bedingung der Möglichkeit soziologischer Wahrheit, das heißt Bedingung der Möglichkeit, daß die Soziologie ihren Gegenstand in einem prinzipiellen Sinne zu treffen vermag. Deswegen muß an derselben Stelle, wo es um die „Synthesis“ der gesellschaftlichen Wirklichkeit selbst geht, auch die Soziologie ins Spiel kommen: „Hier wird die Soziologie zum wissenschaftlichen Selbstbewußtsein einer menschlichen Gegenwart, zur Theorie einer Existenz.“227 In diesem Sinne ist Soziologie „Gegenwartswissenschaft“, das heißt aber Wissenschaft vom „Moment der gegenwärtigen Entscheidung“228. Daß sich die Gegenstände der Soziologie aufgrund ihrer Geschichtlichkeit nicht vollständig objektivieren lassen, hat zur Folge, daß es keine geschlossene soziologische Theorie geben kann. Gleichwohl vertritt Freyer den Anspruch auf ein theoretisches System soziologischer Begriffe. Wie diese beiden scheinbar widersprüchlichen Anforderungen zusammen zu denken sind, ist im folgenden zu klären. Vorab ist festzustellen, daß sich Freyers Ansatz der von Volker Kruse angelegten Unterscheidung zweier dominanter soziologischer Strömungen als „historischer“ und „systematischer“ Soziologie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts nicht fügt.229 Diese Dichotomie verkürzt das Problem in unzulässiger Weise, denn Freyer konzipiert historische Soziologie als systematische. Dies leistet der Begriff 223
Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 86. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 87. 225 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 88. 226 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 89. 227 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 89 228 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 89. 229 Vgl. Kruse, „Geschichts- und Sozialphilosophie“, S. 12. 224
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des „Schematismus der soziologischen Strukturbegriffe“230. Kruses Behauptung, daß Freyer (zusammen mit Siegfried Landshut) den „Höhepunkt der Opposition gegen eine systematische Soziologie“231 markiere, ist unzutreffend. Vielmehr opponiert Freyer gegen eine Reduktion der Wirklichkeitswissenschaft auf formale Soziologie, das heißt letztlich auf Geisteswissenschaft.232 Die Besonderheit der soziologischen Erkenntnishaltung liegt darin, daß „sich unser Erkenntniswille auf die Lagen eines Geschehens [richtet], in dem wir selbst stehen und das durch uns weitergeschieht“233. Dieser Selbstbezüglichkeit entspricht „eine neue Erkenntnishaltung“, die selbst auch „wieder als ein willensmäßiges Verhalten zur geschichtlichen Welt zu erkennen“234 sein muß. In dieser Frage liegt die Bedeutung von Freyers Auseinandersetzung mit der Soziologie und Wissenschaftslehre Max Webers. Das Hauptergebnis dieser Auseinandersetzung besteht in einer Umdeutung des Status der soziologischen Begriffsbildung, das heißt des Begriffs des Idealtypus, sowie des wissenschaftstheoretischen Status der Soziologie. Dazu greift Freyer auf den bereits dargestellten realistisch gewendeten Geschichtsbegriff Hegels zurück, insbesondere auf den dritten Teil von Hegels Rechtsphilosophie, welche die Sittlichkeit zum Thema hat. Hier verortet Freyer den Ursprung der Soziologie. Freyer ist der Ansicht, daß die Ausführungen zur Soziologie als Wissenschaft in Webers Wissenschaftslehre den von Weber tatsächlich durchgeführten Forschungen nicht gerecht wird.235 Seine Kritik bzw. die erwähnte Umdeutung richtet sich allein auf Webers Analyse des logischen Status der Soziologie. Akzeptiert man Freyers Argumentation, so expliziert diese nur in adäquater Weise, was Weber in seinen Studien wirklich erreicht hat: dies ist mehr, als seine Wissenschaftstheorie glauben läßt. Deren Schwachstelle ist der Wirklichkeitsbegriff. Weber versteht Wirklichkeit als „eine schlechthin unendliche Mannigfaltigkeit von nach- und nebeneinander auftauchenden und vergehenden Vorgängen, ‚in‘ uns und ‚außer‘ uns“236. Er stellt sich daraufhin die Frage nach dem wissenschaftlichen Selektionskriterium, wie aus dieser „unendlichen Wirklichkeit […] ein endlicher Teil derselben […] ausgesondert“237 und zum Gegenstand gemacht werden könne. Eine von Freyer als ungenügend kritisierte wissenschaftstheoretische Interpretation dieser Frage wäre, ob diese unendliche Wirklichkeit „einer doppelten begrifflichen Formung fähig sei“238, in der sie durch die auf allgemeine Gesetze zielende Begriffsbildung der Naturwissenschaft zur Natur, durch die auf das Verstehen hi230
Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 221 ff. Kruse, „Geschichts- und Sozialphilosophie“, S. 98 f. 232 Vgl. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, z. B. S. 46 ff. u. bes. S. 66 ff. 233 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 200. 234 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 111. 235 Vgl. ähnlich auch Rehberg, Person und Institution, S. 373 f. 236 Weber, Die „Objektivität“, S. 171. 237 Weber, Die „Objektivität“, S. 171. 238 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 193. 231
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storischer Individualitäten gerichtete Methode der Geisteswissenschaften zur Geschichte gemacht würde. Freyer geht vielmehr davon aus, daß der Gegenstand der Soziologie wie auch der Geschichte von vornherein geschichtlich sind: „Die Frage ist, wie gesagt, nicht: ob neben der historischen Begriffsbildung eine generalisierende, auf Gesetze abzielende, möglich sei. Die Frage ist vielmehr: ob das geschichtliche Geschehen – und zwar als geschichtliches Geschehen – die gegenständliche Grundlage für eine doppelte Begriffsbildung in sich enthält, nämlich außer der geschichtswissenschaftlichen Erkenntnis die Erfassung durch soziologische Strukturbegriffe zuläßt, vielleicht erfordert.“239
Die Wirklichkeitswissenschaften unterscheiden sich also nicht nur in der Betrachtungsweise, sondern auch in der Art der Gegenstände sowohl von den Natur- als auch von den Geisteswissenschaften. Während die einen die Materie zu ihrem Thema haben, die anderen aber den objektiven Sinn, ist der Gegenstand der Wirklichkeitswissenschaften der Wille. Nicht die Natur, sondern der Wille ist hier das ‚Materiale‘: „Für alle Erkenntnis gesellschaftlicher Gebilde gilt diese Identität von Material und Subjekt. Schauen wir ihnen auf den Grund, so finden wir immer uns selbst.“240 Obwohl er einen Bezug zu den Formen des objektiven Sinns hat, die von der Reflexion hervorgebracht, verstanden und verändert werden, läßt sich die Wirklichkeit des Willens nicht auf diesen Sinnbezug reduzieren. Das hat nun im Falle der Soziologie zur Folge, daß sie ihr Thema nicht vollständig zum Objekt machen kann. Denn das Thema der Soziologie sind die gegenwärtigen Strukturen des Willens. Aufgrund der soziologischen Selbstbezüglichkeit zwischen Erkennen und Wollen wird die volle Objektivierung des soziologischen Gegenstandes verhindert. Der Erkennende gehört seinem Objekt an: „Der Terminus Wirklichkeitswissenschaft, mit dem wir die logische Natur der Soziologie bezeichnen, […] bezeichnet […] die adäquate Erkenntnishaltung gegenüber einem sinnvollen Geschehen, dem der Erkennende selbst existenziell angehört.“241
Das heißt, gesellschaftliche Strukturen sind, anders als die Formen des objektiven Geistes, nicht von den sie tragenden Handlungen und dem Bekenntnis zu ihrem Bestand als Willensformen ablösbar; dies ist das existenzielle Moment nicht nur der sozialen Strukturen, sondern auch der Soziologie.242 Die Soziologie wird somit zur Reflexionswissenschaft des Willens. Wenn also Freyer in Richtung Weber sagt, dieser habe sich die geschichtsphilosophischen Wurzeln seiner Fragestellung „verhüllt oder gar verleugnet“243, dann 239
Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 193 f. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 82. 241 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 199. 242 Wie wir noch sehen werden, kommt es wissenschaftlich nicht auf eine Bejahung dieser oder jener bestimmten Strukturform und ihrer Entwicklungstendenzen an, sondern lediglich darauf, daß überhaupt eine existenzielle Willensbindung zwischen dem Soziologen und seiner Gesellschaft besteht. 243 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 157. 240
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ist dies bereits vom Standpunkt der realistisch gewendeten Hegelschen Geschichtsphilosophie aus formuliert. Der von Weber in seiner „Fragestellung“244 vorausgesetzte „‚Wert‘“245, die abendländische Rationalität, geht nicht auf ein persönliches Werturteil des Individuums Max Weber zurück. Sie bildet aber den bewußten „Orientierungspunkt“ für dessen „Gegenstandsauswahl und Begriffsbildung“246. Doch obwohl sich seine tatsächlich durchgeführten Forschungen an der Relevanz der okzidentalen Rationalität für die Gegenwart orientierten, hat Weber „es nie unternommen“, diesen Gegenwartsbezug „systematisch zu formulieren“247. Denn dies führt auf das von Freyer vorgeschlagene Verständnis von Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft als Selbsterkenntnis der Gegenwart. In dieser selbstreflexiven Problematik liegt der Grund für Freyers Ablehnung von Webers Stellungnahme hinsichtlich der Wertfreiheit der Soziologie. In Freyers wissenschaftstheoretischem Plädoyer, die „werthaltige Wirklichkeit, auf die es ankommt“248, in die soziologische Begriffsbildung aufzunehmen, ist der Wertbegriff ins Existenziell-Selbstbezügliche umgedeutet. Ihm liegt kein Werturteil im Sinne Webers zugrunde, sondern die soziologisch erkenntnisnotwendige Verbundenheit des Soziologen mit der gegenwärtigen gesellschaftlichen Gestalt der Geschichte. Das Problem der Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft besteht in der Unvereinbarkeit zweier Ausgangspunkte: wenn die Soziologie einerseits primär „Gegenwartswissenschaft“249 sein will, dann ist es der geschichtlichen Offenheit der Zukunft geschuldet, daß eine vollständig geschlossene, inhaltlich verstandene Theorie (bzw. ein „System“) nicht möglich ist, weil diese die Bestimmtheit der Zukunft vorwegnehmen müßte. Die Gegenwart wäre nicht mehr als Entscheidung und Handlung, sondern als natürliche Entwicklung oder geistige Entfaltung gedacht. Wir hätten es dann nicht mehr mit Soziologie, sondern mit idealistischer Geschichtsphilosophie oder einer naturalistischen oder teleologischen Evolutionstheorie zu tun. Freyer hält dem in allen seinen Schriften entgegen, daß der „Hiatus zwischen Gegenwart und Zukunft […] nicht durch dinghafte Entwicklungen, sondern durch den Willen überbrückt [wird]“250. Andererseits aber kann auf den Anspruch auf ein theoretisch allgemeines System soziologischer Strukturbegriffe wissenschaftlich nicht verzichtet werden. Denn ein Verzicht auf allgemeine theoretische Durchdringung der gesellschaftlichen Wirklichkeit würde die Soziologie tendenziell zur Geschichtswissenschaft werden lassen. Freyers Frage ist also, wie 244 „welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, daß gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gern vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen“ (Weber, Vorbemerkung, S. 1). 245 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 157. 246 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 157. 247 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 157. 248 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 211. 249 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 89. 250 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 307.
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der Gegenwartsbezug der Soziologie zu denken ist. Seine Antwort lautet zusammengefaßt, daß die vollständige empirische Erfassung der Gesellschaft zum theoretischen Ideal wird; der Vorbehalt, daß ein echt objektiver Zugang zur Gesellschaft aufgrund ihrer Geschichtlichkeit und Zukunftsoffenheit prinzipiell unmöglich ist, wird hingegen reflexiv als konstitutive Wahrheitsbedingung der Soziologie in Anschlag gebracht. Das konkrete Forschungsziel der Soziologie besteht dann darin, gesellschaftliche Strukturbegriffe zu bilden, die sowohl geschichtlich konkret, das heißt raumzeitlich bestimmt, als auch theoretisch allgemein sind. Die Allgemeinheit muß aber notwendig regulative „Forderung“251 bleiben, weil die Zukunft der Gesellschaft stets als geschichtlich offene gedacht werden muß. Freyer stellt zunächst ein Problem fest, das sich aus der Divergenz der von ihm diskutierten soziologischen Ansätze ergibt. Die Vielfalt der soziologischen Ansätze „enthält deswegen ein grundsätzliches Problem, weil von ihnen allen der Anspruch erhoben wird: sie seien aus der Analyse der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung, aus der Aufdeckung ihrer inneren Widersprüche und aus der Beobachtung ihrer Entwicklungstendenzen gewonnen worden; sie seien also nicht Utopie, nicht Prophezeiung oder ungefähre Prognose, auch nicht Sollensforderung oder Idealbild, sondern ‚Wissenschaft‘.“252
Freyer betrachtet die Theorien deshalb als „konkurrierende Versuche“, die aber alle denselben Anspruch auf die „objektive, daher nachprüfbare Erkenntnis der faktischen Entwicklungstendenzen der Gegenwart“253 erheben. Obwohl es immer mehrere, konkurrierende Beschreibungsansätze gibt, gibt es keinen soziologischen Ansatz, der sich selbst nur als Meinung, Prophetie oder reine Sollensforderung verstünde. Die Ansicht, daß die Beschreibungen jeweils partikulare Ausschnitte der Gesellschaft abbilden, die sich zu einem Gesamtbild zusammenfügen ließen, lehnt Freyer mit dem Argument ab, daß es sich bei ihnen nicht nur um Gegenwartsdeutungen, sondern immer auch „Thesen über die Zukunft dieser Gegenwart“254 handelt. Dies ergibt sich zwingend aus dem Charakter der gesellschaftlichen Wirklichkeit als einer einmaligen geschichtlichen, das heißt kontingenten Konstellation, die notwendig nicht so bleibt, wie sie ist. Mit Blick auf Max Weber sagt Freyer deshalb im Anschluß an Landshuts Kritik der Soziologie: „der Punkt, an dem die abstrakte von der konkreten Soziologie abgabelt, wird durch den Hinweis auf die Auffassung der Gegenwart ‚unter dem Aspekt der Veränderbarkeit‘ ganz richtig gekennzeichnet.“255 Dies ist nicht so zu verstehen, daß deswegen die Soziologie zur Veränderung der Gesellschaft aufgerufen wäre, sondern so, daß die Soziologie im Sinne Freyers nicht von der Veränderbarkeit der Gesellschaft abstrahieren kann, ohne ihren Gegenstand zu verfehlen. Freyer unterscheidet nun allgemein zwei grundverschiedene geistige Haltungen: Entweder ist man in der Haltung des 251
Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 301 f. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 295. 253 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 295. 254 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 298. 255 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 287. 252
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Wollens und Handelns auf die Wirklichkeit bezogen, oder man richtet sich in theoretischer Einstellung auf sie. In der ersten Auffassung ist die Wirklichkeit ein taktisch bestimmtes Feld riskanter Gelegenheiten und Hindernisse, im zweiten Fall ist diese Bindung an das eigene Handeln gebrochen und es kann sogar selbst zum Gegenstand werden. Es erscheint dann als eine hypothetische Motiv- oder Wirkungstendenz unter anderen sozialen Tendenzen.256 In der theoretischen Haltung verschwindet jedoch der eigentliche Handlungscharakter der Wirklichkeit zugunsten einer hypothetischen Objektivität. Will man aber den Handlungscharakter begrifflich festhalten, kann diese Objektivität nur den Charakter einer „Forderung“257 haben: die möglichst reine theoretisch-gegenständliche Auffassung ist das Kriterium für die „formelle Wissenschaftlichkeit“258 der Soziologie als Wissenschaft. Die rein empirische Objektivität ist ihr wissenschaftlich orientierender „Grenzbegriff“ und stellt in diesem Sinne die deskriptive „Endaufgabe“259 dar. Empirische Theoriebildung geht hier also als Ideal ein. Freyers Vorbild hierfür ist die amerikanische Soziologie. Die europäische Soziologie habe „gewissermaßen für die gegenwärtige Gesamtsituation dasjenige zu leisten, was in der amerikanischen Soziologie ‚social review‘ genannt wird“260. Dazu sei die amerikanische Soziologie jedoch „erheblich zu qualifizieren und in ihrer Fragestellung von Anfang an zu europäisieren“261. Denn für die zeitgenössische ame256 „Es ist ein evidenter Unterschied, ob sich eine Ideenbildung als wirkende Kraft in die Realität einsetzt, sich also gleichsam selbst zum Auge des auf Umbildung der Realität gerichteten Willens macht – oder ob sie als Leitidee auftritt, unter der die sonst auseinanderfließende Fülle des Tatsächlichen theoretisch gesammelt und geordnet werden soll, sich also in den Dienst der Aufgabe stellt, der Wirklichkeitsauffassung das begriffliche Gerüst und damit allererst die logische Möglichkeit zu geben. In beiden Fällen kommt zustande oder kann jedenfalls zustande kommen: eine Gesamtanschauung der vorliegenden Wirklichkeit. Aber im ersten Fall treten alle Teilmomente wesentlich mit dem taktischen Vorzeichen auf […]. Auch im zweiten Fall wirkt der vorausgegebene Zielgedanke zwar selektiv und strukturgebend auf die Gesamtheit der Tatsachen; nur indem er das tut, kommt eine Gesamtanschauung des Wirklichen überhaupt zustande. Aber die Allmacht der taktischen Ordnungsgesichtspunkte ist gebrochen, die enge Bindung der zu erfassenden Objekte an ein Willensziel gelockert, das Eigengewicht der gegenständlichen Zusammenhänge vergrößert. Im idealtypischen Fall der rein theoretischen Erkenntnis wird das eigene Wollen selbst im Sinn der gegenständlichen Auffassungsweise umgedacht: es wird zur Teiltendenz im Kräftefeld der Gesamtwirklichkeit. An Stelle der Frage: was bedeutet das Objekt x für oder gegen die Realisierung des Ziels A? tritt die Hypothese einer Entwicklungstendenz A und die selbstverständliche Bereitschaft, an widersprechenden Erfahrungstatsachen diese Hypothese so zu korrigieren, daß sie ein fruchtbareres Erkenntnismittel wird.“ (Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 300). 257 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 301. 258 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 302. 259 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 302 u. 303. 260 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 302. 261 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 303. Diese Qualifikation und Europäisierung hat kurze Zeit später Talcott Parsons, Structure, vorgenommen – nicht zuletzt unter methodischem Verweis auf Freyer, Wirklichkeitswissenschaft. Vgl. oben Kap. VII.1, Anm. 11.
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rikanische Soziologie sei eine technische Perspektive auf Gesellschaft kennzeichnend. Gerade diese gelte es zu korrigieren: „Man hat oft bemerkt, daß die amerikanische Soziologie dem gesellschaftlichen Tatsachenmaterial typischerweise in technisch-konstruktiver Haltung gegenübertritt; es also als ‚Material‘ im eigentlichen Sinne, als eine statische Größe, die technischen Eingriffen Raum gibt, auffaßt; wobei sowohl das Gesamtgefüge der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung wie das Ziel der einzelnen technischen Eingriffe mit naiver Selbstverständlichkeit als gültig vorausgesetzt zu werden pflegt.“262
Ausgehend von der im Vergleich zu den Vereinigten Staaten völlig verschiedenen „Problematik der europäischen Situation“ wird in der europäischen Soziologie „an die Stelle des statischen Gesellschaftsbegriffs ein dynamischer, an Stelle der technisch-konstruktiven Haltung zur Gegenwart eine politische, an Stelle der Einstellung auf organisatorische Teilaufgaben die Tendenz zur Gesamtsicht gesetzt“263.
Dies betrifft noch das methodische Ideal im Hinblick auf eine vollständig empirisch-objektive Gegenstands- das heißt Gegenwartsbestimmung. Hier setzt Freyer nun die „Gegenrechnung“264 an. Denn neben der methodisch-formalen Forderung an die Wissenschaftlichkeit der Soziologie gibt es auch eine ganz anders gelagerte „materielle Forderung“265. Die Gesellschaft soll bzw. kann (in Europa) nicht in technisch-konstruktiver Haltung tatsächlich als Material behandelt werden. Denn die „Eigenart ihres Objekts“ besteht darin: „Eine lebendige Wirklichkeit erkennt sich selbst: das ist die völlig neue Situation, aus der die logische Struktur und die Erkenntnishaltung der Soziologie verstanden werden muß.“266 Das Wirkliche der Gegenwart aber ist ihr Willensgehalt, weshalb die „Erfassung dieser Willensrichtung […] zur unwegdenkbaren Aufgabe“267 der Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft wird. Wenn Soziologie aber Selbsterkenntnis der gesellschaftlichen Gegenwart sein soll, muß der Willensgehalt der Gesellschaft auch in die Theorie eingerechnet werden. Dies wirft die Frage nach der Minimalbestimmtheit des Sozialen als eines Gegenstandes auf. Dieser weist eine bestimmte und eine unbestimmte Seite auf. Die soziologi262 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 303. Genauer werden diese selbstverständlichen Voraussetzungen der amerikanischen Soziologie von Friedrich Tenbruck, George Herbert Mead, unter die Lupe genommen, der Freyers Einschätzung bestätigt: „der amerikanischen Soziologie [waren] gewisse Vorannahmen unterlegt, die ihren Ahnherren als selbstverständlich galten. Man nahm als gesichert an, daß (1) die ‚Gesellschaft‘ ein eigener Gegenstand sei, der einer eigenen Wissenschaft anvertraut werden müsse, die (2) nach dem Muster der exakten Naturwissenschaft technisch die Gesetzmäßigkeiten dieses ‚Gegenstandes‘ erforschen müsse, um dadurch (3) die Gesellschaft nach eigener Absicht einrichten und die Geschichte lenken zu können“ (Tenbruck, George Herbert Mead, S. 191). 263 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 303. 264 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 303. 265 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 306. 266 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 83. 267 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 206.
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sche Erkenntnis ist ihrem eigenen Anspruch nach auf die Übereinstimmung mit ihrem Gegenstand gerichtet, der getroffen oder verfehlt werden kann. Soziologische Erkenntnis muß einerseits Selbstbeobachtung der sozialen Wirklichkeit sein, andererseits muß ihr Gegenstand relativ unabhängig von der Erkenntnis gegeben sein. Das Kriterium für die Minimalbestimmtheit des Sozialen, wie Freyer es versteht, legt er in folgender Überlegung dar: „Da die gegenwärtige Wirklichkeit eine – freilich sehr vielspältige, als Ganzes aber eindeutig bestimmte – historische Individualität ist, die seinerzeit in eine ebenso bestimmte Zukunft übergegangen sein wird, so ist es prinzipiell möglich, ja es ist prinzipiell notwendig, die möglichen Hypothesen unter der Alternative ‚wahr oder falsch‘ zu vergleichen. Eine der möglichen Hypothesen ist grundsätzlich im absoluten Sinne wahr, wobei es natürlich dahinsteht, ob dieser Treffer im gegenwärtigen Stadium der Entwicklung (oder auch nur überhaupt) mit Mitteln der wissenschaftlichen Soziologie gelingen kann. Die materielle Forderung der Soziologie ist jedenfalls damit formuliert. Erst sie und die vorhin entwickelte formelle Forderung der ‚Wissenschaftlichkeit‘ zusammen ergeben die Idee der soziologischen ‚Wahrheit‘.“268
Es wird hiermit nicht gesagt, daß die Soziologie den „Treffer“ inhaltlich-hypothetisch formuliert haben muß, sondern es wird behauptet, daß es prinzipiell eine bestimmte Willensrichtung geben muß, welche die Bestimmtheit der Gegenwart kontinuiert. Das Problem ist also die Verknüpfung von Kontinuität und Diskontinuität durch zukunftsbezogene Entscheidungen. Der Hiatus von Vergangenheit und Zukunft besteht dabei nur für die theoretische Haltung, und zwar deswegen, weil er nicht durch Entwicklungen, sondern nur durch Entscheidungen überbrückt werden kann. Der Hiatus zwischen Gegenwart und Zukunft ist ein Problem für die Theorie im Sinne der gegenständlichen Betrachtung der Wirklichkeit. Für den „taktisch“ im Sinne der vorhin zitierten Unterscheidung zweier geistiger Haltungen eingestellten Willen gibt es diesen Hiatus nicht. Hier gibt es nur die gelingende oder scheiternde Aktion. Denn ganz gleich, ob die Handlung gelungen oder gescheitert ist, gibt es eine neue Lage, wurde die „Lücke“ zwischen der Ausgangssituation und der Situation nach der Handlung geschlossen und Kontinuität gewährleistet. Das in dieser Unterscheidung liegende prinzipielle Problem geht als Wahrheitsanspruch in die Soziologie ein. Dieser liegt in der prinzipiellen Ebene der Schließung eines nur für die theoretische Einstellung entstehenden Hiatus zwischen Vergangenheit und Zukunft durch die gesellschaftliche Wirklichkeit. Weil aber die gesellschaftliche Wirklichkeit die gegenwärtige Wirklichkeit des Willens ist, gilt, daß dieser Hiatus immer schon überbrückt sein wird. Darum muß Freyer von einem Vorgriff durch die eine „neue Ordnung“ setzende politische Tat ausgehen, um die gegenwärtige, als Umbildung der primären Gesellschaftsstruktur aufgefaßte Situation überhaupt soziologisch auf den Begriff bringen zu können. Daß Freyer selbst die soziologische „Entscheidung“ trifft, „jedenfalls für die europäische Situation die Völker als die Geltungsräume des neuen gesellschaftsbildenden Prinzips“ anzusetzen, bedeutet deshalb gerade nicht, „eine andersartige Entscheidung“ eines konkurrierenden 268
Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 306 f.
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Ansatzes für „in sich sinnlos“269 zu halten. Entscheidend ist nicht die inhaltliche Bestimmtheit des Vorgriffs, sondern nur, daß eine bestimmte zukünftige Ordnung angenommen wird, von der her ein System der soziologischen Strukturbegriffe möglich wird. Denn die Willensbestimmtheit der sozialen Wirklichkeit auch für ihre soziologische Erkenntnis zu beanspruchen zielt ja auf die Entwicklung einer Systematik soziologischer Strukturbegriffe. Doch nur „von dem, was noch nicht gesellschaftliche Wirklichkeit, sondern Intention gesellschaftlichen Wollens ist, gestaltet sich das System der soziologischen Strukturbegriffe“270. Es geht also um das Einheitsmoment der soziologischen Begriffsbildung: „Mit anderen Worten: Jeder Strukturbegriff der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung setzt voraus, daß ein bestimmter Wille, diese Sozialstruktur künftig umzubilden, als geschichtlich gültig gesetzt oder anerkannt werde. Selbstverständlich ist und bleibt es etwas anderes, ob diese Zukunft praktisch gewollt, in ihrer Richtung tatsächlich gearbeitet, etwa Politik getrieben – oder ob sie als konstitutives Moment der Theorie, als Hypothesis verwendet wird. Hier scheiden sich die beiden geistigen Haltungen, von deren Unterschied vorhin gesprochen wurde; hier scheiden sich Soziologie und Politik. Nur als integrierendes Moment der Theorie bezieht die Soziologie den Willensgehalt der Gegenwart in einer bestimmten Festlegung in sich ein. In dieser theoretisch umgebildeten Gestalt aber ist er ihr unentbehrlich.“271
Freyer knüpft hiermit ausdrücklich an die Erkenntnis des Historismus an, daß die Geschichte ihre Einheit immer von der Gegenwart her gewinnt. Geschichte ist immer gegenwärtige Geschichte, das heißt immer auch Geschichte eines handelnden Willens, der gerade noch nicht vergangene Geschichte geworden ist. Diese Einsicht wendet Freyer auf die Soziologie an. Wenn Soziologie „Gegenwartswissenschaft“272 sein will, muß sie davon ausgehen, daß sie zugleich die Geschichte einer Zukunft ist. Das aber bedeutet „die Notwendigkeit der Entscheidung für eine bestimmte Willenslinie in bezug auf die gesellschaftliche Entwicklung. Sie bildet, in ihrer theoretischen Transformation, die apriorische Voraussetzung für das System der Soziologie. Pointiert gesprochen: nur wer gesellschaftlich etwas will, sieht soziologisch etwas.“273
Die Gegenwart geht also qua Vorgriff als theoretischer Grenzbegriff des Systems der historischen Soziologie in dieses ein. Nur so wird das Problem der Transformation einer gesamtgesellschaftlichen Struktur, einer Katastrophe im Sinne Luhmanns, begrifflich faßbar. Die Gegenwart als solche ist kognitiv unzugänglich, sondern nur handelnd erreichbar. Aber diese kognitiv-theoretisch unbestimmbare Handlungsgegenwart ist als Vergangenheit einer Zukunft, auf die man gegenwärtig nur vorgreifen kann, als bestimmte Unbestimmtheit minimal bestimmbar. Die Bedingung, die Gegenwart qua Tat und qua Theorie als Gegenwart einer Zu269
Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 305 f. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 305. 271 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 304. 272 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 89. 273 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 305. 270
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kunft aufzufassen, um von (im Sinne Luhmanns) katastrophalen gesellschaftlichen Transformationsprozessen soziologische Kenntnis zu erlangen, macht schließlich die Soziologie selbst (und nicht nur ihr Thema) zu einem geschichtlichen Phänomen.274 Nach dieser Ansicht startet die Soziologie genau zu dem Zeitpunkt, als die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft problematisch zu werden beginnt und nicht mehr trägt. Genuin soziologisches Denken beginnt nach Freyer deshalb nicht schon mit Platon oder Hegel, beginnt nicht, solange noch „die gesellschaftlichen Kräfte in eine adäquate Form gebracht, also Staat und Gesellschaft sinnvoll ineinandergearbeitet“275 werden können. Diese Frage nach dem geschichtlichen Charakter der Soziologie als Wissenschaft ist von Luhmann offen gelassen worden.276 Dies ist die Konsequenz seiner gegen das willenstheoretische Verständnis der Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft gerichteten kommunikationstheoretischen Grundlegung der Soziologie. Damit hat sich Luhmann gegen ein ebenfalls mögliches komplementäres Verhältnis dieser beiden Auffassungen, wie es hier vorgeschlagen wird, entschieden. Gleichwohl hat er das damit entstehende Theorieproblem klar gesehen. Daher läßt es Luhmann hinsichtlich des Problems der gesellschaftlichen Selbstreflexion „offen, ob die Soziologie sich selbst als geschichtlich-epochengebunden zu verstehen und dieses Verständnis in ihren Begriffen widerzuspiegeln hat“, obwohl dies, wie er fortfährt, „Reflexion in unserem Sinne“ wäre, welche „namentlich Hans Freyer“277, vollzogen habe. Vollzieht man aber diese Reflexion, so „gilt für die Soziologie der Satz: Wahres Wollen fundiert wahre Erkenntnis. Es gibt keine andere Wissenschaft, mit der die Soziologie diese eigentümliche Grundlage teilte. Für die Soziologie aber ist sie gültig. Nur durch sie wird Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft möglich.“278
Der pointierte Schlußsatz von Freyers Buch (Wahres Wollen fundiert wahre Erkenntnis), dem eine auf mehreren Seiten durchgeführte Reflexion über die Unterscheidung von Wissenschaft und Politik vorangeht, ist in seiner Kompaktheit oft mißverstanden worden. So meint beispielsweise Volker Kruse, sich dabei auf Mannheim berufend, mit diesem Satze werde „die Grenze zwischen Wissenschaft und Politik eingeebnet, Wissenschaft politisch instrumentalisiert“, weil Freyer hiermit die Wissenschaft der Politik unterordne, sodaß sein Konzept an diesem Punkt nicht mehr Wirklichkeitswissenschaft sei, sondern „den Tatbestand der Geschichts- und Sozialphilosophie“279 erfülle. Das Gegenteil ist der Fall. Kruses 274
Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 158 ff. Vgl. ebd., S. 115 ff. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 165. 276 Vgl. dazu unten Kap. VIII. 277 Luhmann, Reflexive Mechanismen, S. 140, Anm. 28, mit Verweis auf Freyer, Wirklichkeitswissenschaft. 278 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 307. 279 Kruse, Historische Soziologie, S. 97. Vgl. auch Kruse, „Geschichts- und Sozialphilosophie“, S. 213 u. 157 sowie Üner, Soziologie als „geistige Bewegung“, S. 47 – 68, bes. S. 61 ff. 275
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Behauptung liegt überdies gar keine eingehende Analyse von Freyers Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft zugrunde, sondern er interpretiert Freyers Theorie auf der Grundlage eines zeitgenössischen Interviews280 als „hegelianisierende Geschichtstheorie mit ‚Gemeinschaft‘ als These, ‚Gesellschaft‘ als Antithese, die nun im Begriff sind, sich in der Synthese ‚Volk‘ zu vereinigen. […] Es handelt sich um eine teleologische Geschichtsauffassung.“281 Von einer solchen Teleologie kann bei Kenntnis von Freyers Wissenschaftstheorie aber keine Rede sein. Darum kann Kruse irrigerweise meinen, daß sich die Auffassung, daß die „Wirklichkeit […] nach der Zukunft hin offen ist“282, erst „beim späten Freyer“283 finden würde. Anders als geschichts- und sozialphilosophische Ansätze nimmt Freyer keine inhaltlich-empirischen Bestimmungen qua Setzung oder Deduktion vorweg. Diese müssen vielmehr auf dem Wege empirischer Forschung der gesellschaftlichen Gegenwart entnommen werden. Das in Freyers System der historischen Soziologie vorhandene konstruktive Element der Bildung theoretischer Strukturbegriffe bezieht sich auf die zukünftigen, willensbestimmten Entwicklungstendenzen, die aber stets unter dem Vorbehalt ihrer tatsächlichen Verwirklichung stehen. Diese Bemerkungen zum Verhältnis der Freyerschen Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft zu Geschichts- und Sozialphilosophie gelten mutatis mutandis für ihr Verhältnis zur Politik. Der inkriminierte Satz verweist lediglich auf die soziologischen Erkenntnisbedingungen,284 unter deren Voraussetzung dann Politik und Wissenschaft innerhalb der Soziologie unterschieden werden können, denn obwohl bzw. weil durch die Soziologie ein bestimmter ordnungsbildender Wille überhaupt vorausgesetzt werden muß, geht es in inhaltlicher Hinsicht doch gerade um die Aufrechterhaltung des Unterschiedes von Politik und Wissenschaft.285 280 Siehe den Abdruck des Interviews zwischen Earle Edward Eubank und Hans Freyer im Sommer 1934 bei Käsler, Soziologische Abenteuer, S. 101 – 110. 281 Kruse, „Geschichts- und Sozialphilosophie“, S. 157. 282 Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 13, zit. nach Kruse, „Geschichtsund Sozialphilosophie“, S. 158. 283 Kruse, „Geschichts- und Sozialphilosophie“, S. 158. Vgl. auch ebd., S. 200. 284 So auch Henkel, Hermann Hellers Theorie der Politik, S. 612. 285 Dies wird auch von Michael Henkel ausdrücklich betont: „Damit wird keineswegs einem Primat der Politik in der Wissenschaft das Wort geredet […], sondern ein erkenntnistheoretischer Zusammenhang klargemacht: Da jeder Gegenwartspunkt eben noch Zukunft war, wäre die Gegenwart nicht erkennbar, wenn der Forscher nicht unterstellen könnte und de facto immer unterstellte, daß sie die Fortführung von Tendenzen der bisherigen, inzwischen vergangenen Gegenwart darstellt, deren Zukunft sie eben noch war; Wissenschaft wäre mit anderen Worten unmöglich, ginge der Forscher davon aus, daß plötzlich alles völlig anders sein könnte, oder nochmals anders gewendet: wenn er davon ausginge, daß die Welt augenblicklich ins Chaos zu fallen vermöchte.“ (Henkel, Hermann Hellers Theorie der Politik, S. 612 f.) Die Möglichkeit, daß plötzlich alles völlig anders sein könnte, daß also ein katastrophaler Geschichtsbruch eintritt, ist kein mögliches Thema empirischer Wissenschaft, aber der politischen Tat.
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Freyers fraglicher Schlußsatz ordnet somit die Wirklichkeitswissenschaft der Politik nicht unter, sondern selbstreflexiv bei. Wirklichkeitswissenschaft kann sich nur unter der Bedingung geschichtlicher Kontinuität vollziehen, für welche aber nicht sie selbst, sondern eben nur die politische Tat sorgen kann. Für diese aber ist die reale Möglichkeit des geschichtlichen Kontinuitätsabbruchs und insofern die „Katastrophe“ das eigentliche Bezugsproblem. Die scheinbar willkürlich-dogmatische, in Wahrheit aber denknotwendige Setzung der Gegenwart als Gegenwart einer tatbestimmten Zukunft überhaupt ist eine methodologische Notwendigkeit, zu welcher der soziologische Gegenstand, die Wirklichkeit des Willens, zwingt. Gerade deshalb gibt es soziologische Theorien stets und unaufhebbar im „Plural“286. Interessanterweise hat Freyer die ihm zum Vorwurf gemachte Vermischung von Wissenschaft und Politik an derselben Stelle explizit in bezug auf Karl Mannheims Soziologie festgestellt, deren Begriff der „sozial freischwebenden Intelligenz“287 auf „Politik als Wissenschaft“288 zielt. Wäre Politik als Wissenschaft möglich, wie Mannheim glaubte, wäre Gesellschaft planbar.289 Gegen eine solche Absicht steht nicht nur Freyers Unterscheidung von Politik und Wissenschaft, sondern auch die Unterscheidung von Herrschaft und Planung.290 Die Mannheimsche Wissenssoziologie, jedoch gerade nicht Freyers soziologische Wissenschaftslehre, zielt „auf sehr interessante Zwischenlagen zwischen den beiden reinen Typen [einer politischen und einer theoretischen Willenshaltung, AH] und auf – wie es scheint – gesetzmäßige Übergänge zwischen ihnen. […] Alle diese Zusammenhänge entfallen für unsere wissenschaftstheoretische Fragestellung.“291
In diesem Sinn „hat die Soziologie […] in der Theorie der Gegenwart ihr systematisches Ziel“292. In der theoretischen Beschreibung der Gegenwart kann die Soziologie richtig oder falsch liegen, und es wird immer eine Vielzahl konkurrierender Ansätze geben. Die Bedingung der Möglichkeit ihrer selbst und ihrer Gegenstände, das heißt, die Grundlage für alle konkurrierenden Ansätze, die Einheit der Soziologie, ist, „daß das Begriffsgebäude der Soziologie konkret-historisch, und zwar mit der Intention auf die in der Gegenwart gültigen Strukturbegriffe 286
Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 297. Mannheim, Ideologie und Utopie, S. 123 ff. 288 Mannheim, Ideologie und Utopie, S. 116. Vgl. dazu auch Landshut, Kritik der Soziologie, S. 73. 289 Entsprechend bemerkt Uta Gerhardt, daß Mannheim auf umfassende wissenschaftliche Gesellschaftsplanung zielte: „Mannheim postulierte eine soziologisch gebildete – gegenüber den sozialen Klassen ‚freischwebende‘ – Intelligenz. Deren Aufgabe sollte es sein, die Krise der zwanziger Jahre durch wissenschaftlich fundierte Gesellschaftsplanung zu lösen.“ (Gerhardt, Zäsuren, S. 58). 290 Vgl. Freyer, Herrschaft und Planung sowie ausführlich unten Kap. IX. 291 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 301 (Hervorh. hinzugefügt). 292 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 170. 287
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aufzubauen ist“293. Der Anspruch auf diese Gültigkeit besteht in der Unterstellung, daß die gegenwärtige Gegenwart auch die vergangene Gegenwart einer Zukunft ist. Dieser Anspruch liegt jenseits der Differenzen der einzelnen Entwürfe und stellt deren konstitutive Erkenntnisbedingung dar, unter denen soziologische Erkenntnis ihren Gegenstand überhaupt zu treffen oder zu verfehlen vermag. In bezug auf die Konstitutionsreflexion hat der Begriff des Systems der soziologischen Strukturbegriffe einen methodischen Status, weil die rein theoretische Haltung aus sich heraus keinen Gegenstandsbezug begründen kann.294 Deswegen ist das System der soziologischen Begriffe bzw. die Gesellschaftstheorie das in vollständiger Perfektion nicht erreichbare Ideal der Soziologie. Wäre es verwirklichbar, müßte Gesellschaft als Wirklichkeit aufhören zu bestehen bzw. würde Soziologie zur Geisteswissenschaft werden. Wie ist nun der Schematismus der soziologischen Strukturbegriffe näher zu kennzeichnen? Wir kommen dazu noch einmal auf die bereits angedeuteten Eigenschaften soziologischer Begriffe zurück. Es wurde bereits festgestellt, daß soziologische Begriffe sich auf ein geschichtliches Material richten, also immer einmalige geschichtliche Lagen zum Thema haben. Zugleich jedoch sollen diese einmaligen geschichtlichen Individualitäten nicht als einmalige, das heißt geschichtswissenschaftlich, untersucht werden, sondern im Hinblick auf ihre Struktur. Freyer ist der Auffassung, daß im Grenzfall sogar „an einem individuellen Phänomen, das wesentlich einmal und nur einmal in der geschichtlichen Zeit da war“295, eine generalisierende Begriffsbildung ansetzen kann. Dies ist nach Freyer deswegen möglich, weil gesellschaftliche Wirklichkeit immer auch eine sinnhafte, geistige Seite hat und insofern über einen Begriff von sich verfügt. Daraus ergibt sich ihr Gebilde- bzw. Gestaltcharakter, der die doppelte (geschichtswissenschaftliche und soziologische) Begriffsbildung ermöglicht. Normalerweise kommen die soziologisch aufgewiesenen Strukturen aber nicht nur einmal vor, sondern, wie beispielsweise „Herrschaft“, „Gemeinschaft“ oder „Klasse“ in mehreren geschichtlichen Epochen: „Aber bis zuletzt bilde ich nicht Klassenbegriffe und Gesetzesbegriffe im Sinne der Naturwissenschaft. Ich denke nicht nach dem Schema: wo immer die Bedingungen a bis x gegeben sind, tritt die Erscheinung y auf.“296 Sondern die „Soziologie hat, wenn sie nicht dem Formalismus verfallen will, jene Formel zu konkretisieren zu der anderen: nur an diesem bestimmten geschichtlichen Ort können die Bedingungen a bis x samt ihrem Erfolg y gegeben sein.“297 Das heißt, gesellschaftliche Strukturen sind zwar im Prinzip ablösbar von ihrer geschichtlichen Bindung; werden sie jedoch als „ewige“ geistige Formen genommen, verlieren sie ihren Wirklichkeitsgehalt und Soziologie wird zur Geisteswissenschaft. Dies bedeutet für das Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Soziologie: 293
Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 170. Dieser Satz gilt für Handlungswirklichkeiten. 295 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 194. 296 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 198. 297 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 193. 294
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„es bleibt ein klarer Unterschied, ob die Begriffsbildung auf die Kette der Gegenwarten, in denen das gesellschaftliche Gebilde geworden ist, und auf die Frage, was in diesen Gegenwarten geschah und getan wurde, oder ob sie auf das Baugesetz des Gebildes gerichtet ist und seine Dynamik nur als wesentliches Element seiner Struktur einrechnet. Der Winkel, um den sich der Erkenntniswille dreht, wenn er die gesellschaftliche Wirklichkeit erst als Geschehen und Entscheidung, dann als Strukturgesetz denkt, ist klein, aber völlig scharf bestimmbar.“298
Dies leistet, so Freyer, bereits Webers Begriff des Idealtypus. Freyers wissenschaftstheoretische Umdeutung des Begriffs des Idealtypus lehnt lediglich Webers bereits oben angesprochenen neukantianisch geprägten Wirklichkeitsbegriff 299 ab. Vielmehr ist die geschichtliche Wirklichkeit, von der die Soziologie auszugehen hat, eo ipso als geschichtliche Individualität bestimmt. Daraus ergibt sich die Möglichkeit des soziologischen Systems. Dazu liest Freyer an Hegels Rechtsphilosophie, die in dieser Hinsicht und recht verstanden der Ausgangspunkt der deutschen Soziologie ist, die Unterscheidung eines strukturellen Stufen- und Schichtenwertes ab. Die „Gestalten des Willens“300 tragen in Hegels Dialektik immer einen Doppelcharakter. Im Bereich der Sittlichkeit treten die Familie (von Freyer als Idealtyp der Gemeinschaft verstanden), die (bürgerliche) Gesellschaft und der Staat einerseits als logisch-dialektische Entwicklungsstufen des objektiven Geistes auf, die zueinander in einem bestimmungslogischen Ordnungsverhältnis stehen. Andererseits sind die genannten Strukturen mit Blick auf den gegenwärtigen Gesellschaftszustand als „Schichten […] übereinandergelagert“301. Freyer sieht nun soziologisch systematisch von der logischen Dialektik Hegels ab und macht die Wirklichkeit des Willens (und nicht der absoluten Idee) zum letzten Bezugspunkt seiner Theoriebildung. Zugleich hält er an der Unterscheidung vom Stufen- und Schichtenwert der Wirklichkeitsstrukturen fest. Damit wird die Zeit nicht mehr der Logik, sondern dem Willen untergeordnet. Der Übergang zwischen den gesellschaftlichen „Entwicklungs“stufen ist dann kein logischer, sondern einer des Handelns: „Es hieße sich mit einer Scheinlebendigkeit und mit einer bloß in die Dinge hineingespiegelten Dialektik begnügen, wenn man die wesensverschiedenen Strukturen der Gesellschaft nur als eine logische Abfolge anordnen, sie aber im übrigen als die immer vorhandenen Möglichkeiten der sozialen Ordnung auffassen wollte. Ihre wahre Lebendigkeit besteht darin, daß sie realiter in der Zeit ineinander umspringen, einander ablösen, einander aufheben. Das Prinzip dieses Übergangs ist für jede einzelne Struktur eigentümlich und gehört zu ihrem Wesen. Es gehört zum Wesen und so zum Strukturbegriff der Gemeinschaft, daß sie in bestimmter Weise und Richtung zerbrochen und überwunden wird; zum Wesen der Herrschaft, daß sie in bestimmter Weise verfällt; zum Wesen der Gesellschaft, daß sie bestimmte Revolutionen in sich trägt.“302 298
Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 197. Weber, Die „Objektivität“, S. 171. 300 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 214. 301 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 216. 302 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 219. 299 Vgl.
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Daraus ergibt sich die Möglichkeit, daß die „Bildungsprinzipien der gesellschaftlichen Ordnung“ immer zugleich als „Entwicklungsschritte und Strukturelemente“, zugleich als „Stufen und Schichten“303 zu nehmen. Dazu stellt Freyer eine weitere Überlegung an. Es ist davon auszugehen, daß gewisse konkrete gesellschaftliche Wirklichkeiten ihr Strukturprinzip in mehr oder weniger reiner Form verwirklichen. Es ist eine empirische Frage, inwieweit eine gesellschaftliche Wirklichkeit ein Strukturgesetz in besonders reiner, durchgreifender Ausprägung zeigt. Solche reinen „Grundstrukturen sind z. B.: Klassengesellschaft, Ständegesellschaft, Gemeinschaft. Das heißt: es ist möglich, daß ein geschichtlich-wirklicher Sozialkörper in einer gewissen Epoche seiner Entwicklung durchaus als Klassengesellschaft, rein als ständische Gesellschaft, vollkommen als Gemeinschaft gebaut ist.“304
Von hier aus kommt Freyer zu der These, daß eine geschichtlich gebundene Reihe sozialer Strukturen aufzustellen sei, deren strukturelle Übergänge sich nicht logisch (wie bei Hegel), aber auch nicht faktisch als bloße Aufeinanderfolge bzw. Entwicklung, sondern als ein willensbestimmtes „Auseinanderhervorgehen und Ineinanderüberspringen“305 vollziehen: „Bilden wir die Reihe der gesellschaftlichen Grundstrukturen, so überwinden wir zugleich den historischen Zusammenhang der gesellschaftlichen Wirklichkeit und bestätigen ihn, werten ihn aus. Wir denken systematisch – unter Abstraktion von der Kontinuität der Geschichte – von einem reinen Typus zum andern hin: doch so, daß jeder Typus seinen festen Stellenwert in der Gesamtreihe findet und daß die ihm immanente Dialektik, die ihn in den nächsten weitertreibt, in den Begriffsinhalt aufgenommen wird.“306
Zugleich gehen aufgrund des Schichtenwerts der gesellschaftlichen Strukturen diese beim Übergang von einem Idealtyp in den anderen nicht verloren, sondern reichern sich an. Damit läßt sich die Tatsache, daß bestimmte gesellschaftliche Entwicklungsstufen Strukturen in eher reiner Form aufweisen, auch so formulieren, daß diese jeweils „primär das Bauprinzip gesellschaftlicher Gesamtlagen“307 darstellen. Ähnlich wie dies auch für Luhmanns Begriff der primären Differenzierungsform der Gesellschaft der Fall ist, bedeutet dies, daß andere Strukturformen in die jeweils primäre Struktur eingelagert sein können. Freyer führt das System der soziologischen Strukturbegriffe nicht selbst aus, sondern gibt mit den Begriffen Gesellschaft, Gemeinschaft, Stände, Klassen nur einen Überblick über mögliche Grundzüge.308 Interessanterweise wird der von ihm selbst für das primäre Strukturprinzip der nächsten Gesellschaftsstufe gehaltene Begriff des Volkes309 an dieser Stelle nicht 303
Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 217. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 224. 305 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 226. 306 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 226. 307 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 228. 308 Vgl. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 230 – 285. 309 Vgl. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 305 f. 304
VII. Soziologie und Politik: Zur Soziologie Hans Freyers
309
näher ausgeführt, sondern es werden nur einige mehr oder weniger unzusammenhängende negative Abgrenzungen gegeben. Der Begriff des Volkes beziehe sich weder (biologisch) auf Abstammungsgemeinschaften noch (liberal) auf die Nation oder (utopisch) auf Gemeinschaft,310 und er verträgt sich auch nicht mit dem Klassengegensatz.311 Es spricht aber einiges dafür, daß die soziologisch antizipierte neue Ordnung Europas von Freyer als „eine prinzipiell neue Volksordnung“312 gedacht wird. Das prinzipiell Neue beruhte dann auf nichts anderem als auf der Spannung des Vorgriffs auf diese neue Ordnung selbst.313 Im Begriff des Volkes zeigt sich möglicherweise nicht ein Freyer oft unterstellter Faschismus, sondern seine gelegentlich auch bemerkte Ironie: weil auf der gegenwärtigen Stufe gesellschaftlicher Reflexion die Bestimmtheit der gesellschaftlichen Wirklichkeit als willenhafter Übergang der Vergangenheit in die unbekannte Zukunft soziologisch erkannt ist, kann das Volk als Strukturbegriff für die „neue Ordnung“, die aber noch nicht da ist, sondern nur bestimmungsnotwendig gedacht werden muß, in nichts anderem als in dieser Forderung und in diesem Vorgriff auf diese neue Ordnung bestehen. Dann aber stünde dieser Begriff des Volkes für eine reflexive Strukturierung einer als (politisches, existenzielles) Risiko bestimmten Zukunft – die so aber in genau diesem existenziell-reflexiven Sinne schon „da“ ist.314 310 Vgl. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 252 f. Vgl. zur Abgrenzung des Volksvom Gemeinschaftsbegriff auch Freyer, Gemeinschaft und Volk u. zur Abgrenzung vom Begriff der Nation Freyer, Der politische Begriff des Volkes u. Freyer, Reflexion über die Begriffe Nation, Volk, Reich. 311 Vgl. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 290, 297. Vgl. auch Freyer, Revolution von rechts. 312 Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 290. 313 Vgl. ähnlich Freyer, Tradition und Revolution, S. 68, hier unter Verwendung des Begriffs der Nation: „Die Nation […] ist immer im Aufbruch, sie formiert sich immer neu, sie wird immer und ist nie.“ Zur Bevorzugung des Begriffs des Volkes gegenüber dem Begriff der Nation Freyer, Der politische Begriff des Volkes, S. 4 ff. sowie Freyer, Reflexion über die Begriffe Nation, Volk, Reich. 314 Wenn Freyer sagt: „Immer nur der Träger der leibhaftigen Zukunft weiß die Wahrheit über die Gegenwart, und die nächste Gegenwart weiß bereits der Träger der nächsten Epoche“ (Freyer, Revolution von rechts, S. 38), dann hat der Begriff des Volkes erstaunliche Ähnlichkeit mit dem des leeren Signifikanten in der dekonstruktiven Diskurstheorie, wo dieser als imaginärer Abschlußbegriff und Garant der Kohärenz von Diskursen bzw. Systemen eingeführt wird: „Das System muß, um sich überhaupt konstituieren zu können, eine erste Differenz zwischen sich und etwas anderem treffen, wobei das Andere für das System unerreichbar ist. […] Systeme werden retroaktiv dadurch konstituiert, daß sie eine imaginäre Vollheit des Systems im System – seine Systematizität – repräsentieren.“ (Stäheli, Sinnzusammenbrüche, S. 54 u. 55) Urs Stäheli zufolge markiert „der leere Signifikant die reine Selbstreferenz des Systems“ sei daher der „leere Ort des Systems“ (ebd., S. 241 u. 280; vgl. Opitz, Grenze des Rechts, S. 39 ff. u. 308 ff.). Die dekonstruktive Diskurstheorie vertritt die Auffassung, daß das Politische, das als Feindschaft im Sinne eines Antagonismus gedacht wird, über Politik als gesellschaftliches Funktionssystem hinausweist (vgl. Stäheli, Sinnzusammenbrüche, S. 296 ff., Laclau, Leere Signifikanten u. Laclau/Mouffe, Hegemonie). Der Begriff des Antagonismus soll sichtbar machen, daß es sich bei der vermeintlichen
310
B. Zur Soziologie der Leipziger Schule
Deshalb hat Freyer den Begriff des Volkes auch als „quer“315 zu dieser stehendes Restproblem der Gesellschaft bezeichnet. Das Volk im Sinne eines soziologischen Strukturbegriffs tritt erst auf, „[n]achdem die Gesellschaft ganz Gesellschaft geworden ist“316. Gesellschaft aber bestimmt Freyer – vom Volk her – als „das schiere Risiko“317. Wenn es der Sinn des Volksbegriffs ist, die freischwebende, nun als reines Risiko bestimmte Gesellschaft geschichtlich zu verorten,318 erweist sich die Unterscheidung von Volk und Gesellschaft möglicherweise als Reflexionsbegriff und Bestimmungsmöglichkeit existenzieller Risiken. Über den Begriff des Volkes sucht Freyer nach einer volitiven Bestimmungsmöglichkeit gesamtgesellschaftlicher und insofern (im Sinne Luhmanns oder Polanyis) „katastrophaler“ Strukturtransformationen. Das unspezifische Nichtwissen riskanter Zukünfte, das die systemtheoretische Risikosoziologie jeweils kognitiv in Richtung auf spezifisches, wahrscheinlichkeitstheoretisches Teilwissen (Expertenwissen) einerseits, andererseits auf bloß subjektive Katastrophenängste, die als „Vermeidungsimperative“ an den in seinem Funktionieren schlicht vorausgesetzten Wohlfahrtsstaat als Regulationsansprüche adressiert werden,319 bestimmt, um den Begriff der Katastrophe von dem der Entscheidung zu entkoppeln, erhält hier eine Struktur. Das sich daraus ergebende komplexe Verhältnis von Wissen und Wollen ist in den vorangehenden Ausführungen soziologisch analysiert worden. Freyers wissenschaftstheoretisches Konzept der Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft zielt, so kann man zusammenfassend sagen, auf eine wissenschaftliche Erfassung einer nur volitiv vollziehbaren Bestimmung einer kognitiv unbestimmbaren offenen Zukunft. Risikosoziologisch gesehen ist der von Freyer implizierte Risikobegriff der des Katastrophen-, nicht des Normalrisikos. Nun sind die von Freyer begrifflich bestimmten und in ihrer schematischen Reihe untersuchten sozialen Strukturen nicht in der Sach-, sondern in der Sozialdimension angesiedelt. Gleichwohl verfügt Freyer mit dem von Dilthey übernommenen Begriff der Kultursysteme über einen der funktionalen Differenzierung Konstitution der Diskurse bzw. Systeme in Form der leeren Signifikanten stets lediglich um („hegemoniale“) „Versuche“ (Stäheli, Sinnzusammenbrüche, S. 57) der Konstitution handelt. Auf diese Weise ist der die Konstitution bestreitende Antagonismus immer schon in die Konstitution mit einbezogen. Stäheli gewinnt so einen Begriff des Politischen, der sich von dem des politischen Systems als eines Funktionssystems dadurch unterscheidet, daß das Politische alle übrigen Funktionssysteme zu durchdringen vermag und in der Lage ist, jedes einzelne Funktionssystem durch Einsatz leerer Signifikanten zu ‚antagonisieren‘ (vgl. Stäheli, Sinnzusammenbrüche, S. 316). Der Unterschied zwischen dem leeren Signifikanten und dem Freyerschen Begriff des Volkes ist, daß letzteres nicht nur Zeichen, sondern reflexive Struktur eines wirklichen Willens ist. 315 Freyer, Revolution von rechts, S. 54. Vgl. oben Kap. I.3.c). 316 Freyer, Revolution von rechts, S. 37. 317 Freyer, Revolution von rechts, S. 20 f. 318 Vgl. Freyer, Revolution von rechts, S. 53. 319 Vgl. Japp, Beobachtung von Nichtwissen, Japp, Soziologie der Katastrophe. Siehe zum Zusammenhang oben Kap. I.2.b).
VII. Soziologie und Politik: Zur Soziologie Hans Freyers
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äquivalenten Begriff für den sachlichen – Freyer sagt: „geistigen“ oder „kulturellen“ – Aspekt gesellschaftlicher Differenzierung.320 Im Verhältnis zu dieser sachlichen Differenzierung nach den „parallelen Schaffensrichtungen“ in den Kultursystemen der Wissenschaft, der Kunst, des Rechts, der Wirtschaft usw. stehen die sozialen Strukturen, wie wir bereits feststellten, „rechtwinklig“321. In einer ebensolchen Querlage zueinander befinden sich die Begriffe der Kognition und der Volition. Freyer scheint vor dem Hintergrund einer epochalen Ausnahmesituation322, welche die Kontinuität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als solche zum Problem macht, eine sonst unbeobachtbar bleibende, latente323 Struktur sichtbar machen zu wollen. Aufgrund dieser Problemdisposition ist es fraglich, daß Freyer mit seinem Begriff des Volkes wirklich einen weiteren Schritt in der Stufenreihe der soziologischen Strukturbegriffe gemeint haben kann, ob damit nicht vielmehr ein permanentes theoretisches wie gesellschaftliches „Restproblem“324 im Verhältnis von sachlicher und sozialer Differenzierung markiert worden ist, das durch den zeitlichen Vorgriff der Tat bestimmbar wird.
320 Vgl.
Hahn, Diltheys Systemtheorie, Tyrell, Diversität u. oben Kap. VII.1. Freyer, Theorie des objektiven Geistes, S. 69. 322 Vgl. oben Kap. IV. 323 Vgl. Lauermann, Form der Latenz. 324 Vgl. Lehmann, Restprobleme. 321
C. Die institutionelle Bestimmtheit sozialer Systeme „Was in unserer Wirklichkeit gegenwärtig in Frage steht, ist nicht sosehr das Wachstum des Staats und der Staatsräson, sondern vielmehr seine Abnahme […]. Das deutsche Modell, das sich ausbreitet und das in Frage steht, das deutsche Modell, das zu unserer Gegenwart gehört, das ihr unter seinem wirklichen Zuschnitt eine Struktur und ein Profil gibt, dieses deutsche Modell ist die Möglichkeit einer neoliberalen Gouvernementalität.“1
VIII. Das politische System in Luhmanns Handlungssystemtheorie Es ist verschiedentlich behauptet worden, daß Niklas Luhmanns Systemtheorie „bei aller theoretischen Universalisierung und Weltgesellschaftlichkeit doch an die Perspektive der befriedeten Bundesrepublik“2 und damit an den „spezifischen Erfahrungs- und Erwartungsraum […] der Europäischen Union“3 gebunden sei. Es soll im folgenden gezeigt werden, inwiefern dies nicht nur für den Entstehungskontext der Systemtheorie, sondern auch für ihre grundbegriffliche Disposition gilt. Dazu ist zunächst danach zu fragen, was die „Spezifik der Perspektive der befriedeten Bundesrepublik“ und des „Erfahrungs- und Erwartungsraums der Europäischen Union“ ausmacht. Dazu knüpfen wir an die Ausführungen zum Wohlfahrtsstaat oben in Kapitel I.2.a an. In diesem Zusammenhang wurde mit Ernst Forsthoff festgestellt, daß der bundesrepublikanische „Staat […] zur Funktion der Gesellschaft“4 geworden ist. Wie oben angedeutet, wird diese Feststellung durch Michel Foucaults Studien über die Geschichte der Gouvernementalität bestätigt, in deren Zusammenhang der westdeutsche Staat als Phänomen einer weltgeschichtlich relevanten neuartigen Konstruktion von Legitimität analysiert wird.5 Wie Forsthoff macht Foucault auf die Bedeutung der Tatsache aufmerksam, daß die Gründung des westdeutschen Staates im Jahr 1949 der Etablierung einer Wirtschaftsverfassung im Jahr 1948 mit der Einführung der Deutschen Mark und der Freigabe der Preise durch die amerikanische Militärregierung sowohl zeitlich
1
Foucault, Geburt der Biopolitik, S. 268 f. Rehberg, Person und Institution, S. 373, Anm. 9. 3 Fischer, Bourdieu und Luhmann, S. 2855. 4 Forsthoff, Bundesrepublik, S. 4. 5 Vgl. zu Foucaults Analyse Hacke, Bundesrepublik, S. 55 ff. u. Balke, Gouvernementalization. 2
VIII. Das politische System in Luhmanns Handlungssystemtheorie
313
nachfolgt als auch politisch nachrangig ist.6 Foucault zufolge stellt sich die Lage 1948 so dar, daß es infolge der bedingungslosen Kapitulation, Besetzung und Teilung des Deutschen Reiches „offensichtlich nicht möglich ist, für ein Deutschland, das noch nicht wiederhergestellt ist, und für einen neu zu bildenden deutschen Staat historische Rechte zu fordern“7. Da es „keinen kollektiven Willen gibt, der sich in einer Situation manifestieren könnte, in der Deutschland einerseits geteilt und andererseits besetzt ist“8, es also auch keine politische Adresse für einen Friedensvertrag gibt, wird auf dem von Foucault nachgezeichneten Weg, das heißt unter der Absehung von historischen Rechten ein Ersatz für politische Anerkennung und Legitimität konstruiert. Foucault will für den (inzwischen um das Gebiet der ehemaligen DDR erweiterten) westlichen Teil Deutschlands zeigen, daß an die Stelle politischer Souveränität ein institutioneller Rahmen tritt, der eine Wirtschaftsordnung ermöglicht, unter deren Voraussetzung politische Legitimation indirekt erreicht wird. Foucault geht es um die für die Institutionenbildung leitende „Idee, daß man die Legitimität des Staats auf die garantierte Ausübung einer wirtschaftlichen Freiheit gründen kann“9. Foucault umreißt die Grundzüge seiner Analyse mit folgenden Worten: „Also gibt es keine historischen Rechte und keine juridische Legitimität, um einen neuen deutschen Staat zu gründen. Nehmen wir aber einen institutionellen Rahmen an […], dessen Beschaffenheit oder Ursprung keine Rolle spielt, einen institutionellen Rahmen X. Nehmen wir an, daß dieser institutionelle Rahmen X nicht die Funktion hat, die Souveränität auszuüben, da ja im gegenwärtigen Zustand nichts eine juridische Macht des Zwangs begründen kann, sondern dessen Aufgabe einfach wäre, die Freiheit zu sichern. Also nicht einzuschränken, sondern einfach einen Raum der Freiheit zu schaffen, eine Freiheit zu sichern und sie gerade auf dem Gebiet der Wirtschaft zu sichern.“10
Die Wirtschaft vermag unter diesen neuartigen Bedingungen dem Staat Legitimität zu beschaffen, weil das innerhalb dieses institutionellen Rahmens wirt6 Stephan Lessenich hingegen meint, daß „nach 1945 […] der vorübergehend verlorene Primat der Wirtschaft wiederhergestellt [wurde]“ (Lessenich, Dynamischer Immobilismus, S. 125). Er erläutert leider nicht, inwiefern vorher ein Primat der Wirtschaft bestanden hatte. Dagegen betont Forsthoff wie Foucault das Neuartige der Situation: „Hätten es 1945 die Verhältnisse erlaubt, einen Zeitplan des Wiederaufbaus aufzustellen, so hätte man, soweit man sich dabei von den Erfahrungen der Weimarer Zeit hätte leiten lassen, gewiß der Wiederherstellung der Staatlichkeit den Vorrang eingeräumt. Denn diese Erfahrung ließen sich dahingehend resümieren: ohne geordneten Staat keine geordnete Wirtschaft. Diese Erfahrungen werden durch den Wiederaufbau nach 1945 eindeutig widerlegt. […] Denn als im Jahre 1949 mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes eine deutsche Staatlichkeit wieder ins Leben trat, war zwar der wirtschaftliche Aufbau noch nicht abgeschlossen, aber er war soweit gediehen, daß die Struktur der Wirtschaft erkennbar feststand und die Weichen für die weitere Entwicklung gestellt waren.“ (Forsthoff, Bundesrepublik, S. 3). 7 Foucault, Geburt der Biopolitik, S. 121. 8 Foucault, Geburt der Biopolitik, S. 121. 9 Foucault, Geburt der Biopolitik, S. 122. 10 Foucault, Geburt der Biopolitik, S. 121 f.
314
C. Die institutionelle Bestimmtheit sozialer Systeme
schaftlicher Freiheit ausgeübte wirtschaftliche Handeln als quasi-politische „Zustimmung zu diesem Rahmen“11 gewertet werden kann. Die Ausübung wirtschaftlicher Freiheit kann von anderen Staaten als Zustimmung zu einer auf wirtschaftliche Wahlfreiheit beschränkten Handlungsfreiheit und somit als Zeichen für politische Berechenbarkeit genommen werden: „Die Wirtschaft erzeugt Zeichen, politische Zeichen“12, weil unter diesen Bedingungen das faktische wirtschaftliche Handeln die Entpolitisierung Deutschlands und damit die Sicherheit der anderen Staaten bezeugt. Und umgekehrt: die Sieger stellen den Besiegten Sicherheit in Form eines institutionellen Rahmens bereit, der als Voraussetzung zur Bildung generalisierter Erwartungen dient.13 Dieser Zustand ist nicht mit politischem Frieden im klassischen völkerrechtlichen Sinn zu verwechseln.14 ‚Befriedung‘ im Sinne der eingangs zitierten Einschätzung Karl-Siegbert Rehbergs bedeutet nicht Frieden, sondern die Gewährung von Sicherheit durch das Latentstellen des Krieges und dessen Ächtung durch ein globales System kollektiver Sicherheit. Anders als Gehlen, demzufolge es „den Deutschen […] nicht geglückt“ ist, „sich überhaupt als […] geschichtliche Einheit zu halten“15, sieht Foucault in dieser Konstruktion daher nicht das Ende, sondern „eine Unterbrechung der Geschichte“16. Infolge seiner Depotenzierung zu einer Funktion der Wirtschaft ist das westdeutsche Staatsgebilde ein „radikal ökonomische[r] Staat […]: Seine Wurzel ist vollkommen ökonomisch.“17 Indem die Bundesrepublik den geschichtlich bemerkenswerten Fall eines Staates darstellt, der primär Gesellschaft ist, kehrt sich auf diesem indirekten Wege der Legitimation das klassische (europäische) Verhältnis von Staat und Gesellschaft, in dem der Staat, anders etwa als in den Vereinigten Staaten von Amerika, gegenüber der Wirtschaft geschichtlich und sachlich Vorrang hatte, um. Der Staat bzw. das politische System werden zu einer Funktion der Gesellschaft. Dieselbe Bewegung wird von Claus Offe unter dem Begriff des Spätkapitalismus analysiert. Offe betrachtet die „entpolitisierenden Tendenzen“ des „spätkapitalistische[n] Wohlfahrtsstaates“18 als Konsequenz eines keiner eindeutigen politischen Position mehr zurechenbaren institutionellen Mechanismus, dessen wichtigster Bestandteil die grundgesetzliche Etablierung und massenmediale Aufrechterhaltung eines „Kartell[s] von Parteien“19 ist. Erreicht wird dadurch die „Fil11
Foucault, Geburt der Biopolitik, S. 122. Foucault, Geburt der Biopolitik, S. 125. 13 Darauf ist gleich zurückzukommen. 14 Vgl. Kaufmann, Leitbild beherrschbarer Komplexität, S. 78. Vgl. dazu oben Kap. I. u. Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, S. 36 sowie Luhmann, Soziale Systeme, S. 418). 15 Gehlen, Hypermoral, S. 103. 16 Foucault, Geburt der Biopolitik, S. 126. 17 Foucault, Geburt der Biopolitik, S. 126. Vgl. auch Forsthoff, Staat in der Industriegesellschaft u. Forsthoff, Bundesrepublik. 18 Offe, Strukturprobleme, S. 38 u. 30. 19 Offe, Strukturprobleme, S. 32. 12
VIII. Das politische System in Luhmanns Handlungssystemtheorie
315
terung und Kontrolle des Willensbildungsprozesses“20 bzw., deutlicher formuliert, die „‚Mediatisierung‘ des Volkes durch Verbände und Parteien“21. Offe spricht deshalb in diesem Zusammenhang auch von einem – offenbar im Vergleich zu einem nicht weiter ausgedeuteten alten – „neuen Begriff des Politischen“22, der sich dadurch auszeichnet, daß „sich die Funktionen des Staates auf stabilitätserhaltende Interventionsleistungen verkürzen“, so daß „die demokratische Willensbildung“ nur noch „als Störfaktor neben anderen registriert“ wird, „während der status quo als solcher niemals zum Gegenstand politischer Motivbildung werden kann“23. Diesem Komplex entspricht auf der Seite der Soziologie bzw. Politikwissenschaft eine begriffliche „Reduktion von Staat und Demokratie auf Kategorien des Verfahrens“, die nach Offe zu einer professionell gepflegten „Erkenntnislücke“24 geführt habe. Systemtheoretisch kann dies, wie bereits angedeutet,25 als Zweitcodierung der (demokratischen) Unterscheidung von Regierung und Regierten durch einen (wohlfahrtsstaatlichen) Code Regierung/Opposition im Rahmen fixierter ParteiAlternativen beschrieben werden.26 Indem die Unterscheidung von Regierung und Opposition die primäre Unterscheidung von Regierung und Regierten überformt, wird nach Luhmann „das alte Problem der Souveränität […] unsichtbar“27. An die Stelle des Problems der Souveränität tritt die im folgenden näher zu untersuchende pauschale (problemlose) Akzeption parteienstaatlicher Entscheidungen. Gleichwohl bleibt es nach Luhmann prinzipiell möglich, daß die Unterscheidung von Regierung und Opposition politisch rejiziert wird.28 Dies würde die Aufmerksamkeit wieder auf die Unterscheidung von Regierung und Volk lenken und damit den Staat aus dem neuartigen Legitimationszusammenhang tendenziell herausrücken. Dieser Übergang erscheint von der Unterscheidung von Regierung und Opposition her, aber auch für die Systemtheorie als zu verhindernde Politisierung bzw. Entdifferenzierung.29 Die Bundesrepublik ist als „Staat ohne Ernstfall“30 mit Blick auf die sich weiter durchsetzende Weltgesellschaft keineswegs nur ein Beispiel. Vielmehr ist die Konstruktion der Bundesrepublik Ausdruck einer weltpolitischen Lage, in der sie 20
Offe, Strukturprobleme, S. 31. Offe, Strukturprobleme, S. 49, Anm. 7. 22 Offe, Strukturprobleme, S. 45. 23 Offe, Strukturprobleme, S. 48. 24 Offe, Strukturprobleme, S. 154. 25 Siehe oben Kap. I.1.b). 26 Vgl. Luhmann, Theorie der politischen Opposition, Stäheli, Sinnzusammenbrüche, S. 255 ff. 27 Luhmann, Theorie der politischen Opposition, S. 17. 28 Vgl. Luhmann, Theorie der politischen Opposition, S. 18. 29 Vgl. Luhmann, Theorie der politischen Opposition, S. 19. 30 Forsthoff, Staat in der Industriegesellschaft, S. 59. 21
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C. Die institutionelle Bestimmtheit sozialer Systeme
zum „paradigmatischen Fall des Staates“31 als Moment der – daraufhin soziologisch neu zu konzipierenden – Gesellschaft avanciert.32 Die der Bundesrepublik häufig zugeschriebene bzw. angemahnte Führungsrolle in der Europäischen Union betrifft in dieser Perspektive vor allem ihren Modellcharakter als entpolitisierte ‚Gesellschaft‘ „für Nationen, die sich selbst nicht mehr als handlungsmächtige Einheiten sehen, sondern als Getriebene von Entwicklungen, etwa der Globalisierung. Im Gesellschaftsbegriff wird das bewegende, aktive Moment in der Geschichte entpersonalisiert, nicht mehr dem Willen einer Gruppe oder Person zuschreibbar, sondern nur noch anonymen Prozessen, gegenüber denen man reagieren kann.“33
Es ist diese Situation, in der der Begriff ‚Gesellschaft‘ in einem soziologisch erweiterten Verständnis34 in der politischen bzw. kollektiven Selbstbeschreibung gegenüber konkurrierenden Selbstbeschreibungsformeln wie Nation, Volk oder Staat zu dominieren beginnt.35 Die der politischen Umstrukturierung adäquate semantische Umsetzung vom Staats- auf den Gesellschaftsbegriff gilt Clemens Albrecht zufolge nicht nur für die Soziologie, sondern auch für Rechts-, Politik- und Geschichtswissenschaft.36 Der Punkt, auf den es hier ankommt, ist, daß es sich beim Begriff der Gesellschaft nicht nur um einen theoretischen Begriff, sondern ebenso um einen Trend der politischen Semantik handelt, dem sich auch Luhmann zuordnen läßt. Es läßt sich damit einer Möglichkeit soziologischer Reflexion nachgehen, die Luhmann selbst zwar gesehen, aber nicht verfolgt hat. Vielmehr ließ er es ausdrücklich „offen, ob die Soziologie sich selbst als geschichtlich-epochengebunden zu verstehen und dieses Verständnis in ihren Begriffen widerzuspiegeln hat. (Das wäre Reflexion in unserem Sinne.)“37 Wollte die Soziologie sich selbst als geschichtlich-epochengebunden verstehen, müßte sie sich unter der Voraussetzung der geschichtlichen Offenheit des gegenwärtigen gesellschaftlichen Geschehens betrachten, das sie nicht vollständig theoretisch kontrollieren kann. Dies entspräche der von Freyer wissenschaftstheoretisch entfalteten Situation der Soziologie.38 Entsprechend bemerkt Luhmann, daß die von ihm als Möglichkeit in Betracht gezogene explizite Reflexion des geschichtlichen Selbstverständnisses der Soziologie 31
Forsthoff, Staat in der Industriegesellschaft, S. 7. Vgl. dazu Firsching, Ausgang. schreibt: „Das deutsche Modell, das sich ausbreitet und das in Frage steht, das deutsche Modell, das zu unserer Gegenwart gehört, das ihr unter seinem wirklichen Zuschnitt eine Struktur und ein Profil gibt, dieses deutsche Modell ist die Möglichkeit einer neoliberalen Gouvernementalität.“ (Foucault, Geburt der Biopolitik, S. 269). 33 Albrecht, Bundesrepublik, S. 112. 34 Und zwar im Hinblick auf die ältere Bedeutung als ‚bürgerliche Gesellschaft‘, das heißt als dem Staat gegenübergestellte oder untergeordnete Wirtschaft. 35 Vgl. Albrecht, Bundesrepublik. 36 Vgl. Albrecht, Bundesrepublik, S. 107. 37 Luhmann, Reflexive Mechanismen, S. 128. 38 Vgl. oben Kap. VII.3. 32 Foucault
VIII. Das politische System in Luhmanns Handlungssystemtheorie
317
„namentlich Hans Freyer“39 in der Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft durchgeführt habe. Beobachtet man nun Luhmann mit Freyer, kann die Systemtheorie in ihrem geschichtlichen Kontext situiert werden. So läßt sich auf ein von Andreas Göbel bemerktes „Dilemma“ der Systemtheorie reagieren, daß sie zwar um die „Historizität ihrer eigenen Erkenntniskategorien“ weiß, diese aber „als universell gültige traktiert“40. Letzteres würde theoretische Geschlossenheit bedeuten.41 Denn obwohl Luhmanns Begriff der Reflexion als Selbst-Thematisierung der Gesellschaft „eine Mitthematisierung der Geschichtlichkeit und Kontingenz jeweiliger Selbst-Thematisierungen“42 verlangt, setzt er mit Systemdifferenzierung, Evolution und symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien als den sachlichen, zeitlichen und sozialen Hinsichten der gesellschaftlichen Selbstreflexion43 Begriffe an, die als „die semantischen resp. selbstthematisierenden Alternativen […] im Rahmen der Theorie zugleich das Analyseraster für die Rekonstruktion historischer Semantiken wie auch die strukturellen Voraussetzungen ihrer eigenen Benennbarkeit bilden“44.
Damit verbleibt die Geschichtlichkeit und Kontingenz der jeweiligen SelbstThematisierung stets im Rahmen einer universellen theoretischen Gültigkeit, die dadurch erreicht wird, daß Gesellschaft als „selbstsubstitutive Ordnung“ unterstellt wird, die „nicht durch etwas anderes, sondern nur durch sich selbst ersetzt werden kann“45. Nicht die Gesellschaft selbst und ihre Selbst-Thematisierung als solche sind damit geschichtlich kontingent, sondern nur ihre jeweils gesellschaftsinternen Selbst-Thematisierungsweisen. Bei Freyer hingegen ist die Selbst-Thematisierung als solche der geschichtlich neue Fall.46
39
Luhmann, Reflexive Mechanismen, S. 140, Anm. 28. Göbel, Theoriegenese, S. 162 f. Vgl. ähnlich auch Stäheli, Sinnzusammenbrüche, S. 256. 41 Entsprechend bemerkt Andreas Göbel, „daß in dieser Hinsicht Luhmann sich deutlich in der Tradition von Hegel und Marx sieht“ (Göbel, Theoriegenese, S. 163). Nach Göbel führt dies dazu, daß die Systemtheorie im Kern Wissenssoziologie ist: „Sie [die Systemtheorie, AH] weiß sich – in konsequenter Selbstanwendung ihres eigenen wissenssoziologischen Kern- qua Korrelationstheorem – auf korrelativem Niveau zu den Strukturen, die sie beschreibt und kann sich selbst deshalb nicht anders denn als (selbstthematisierenden) Teil dessen, was sie beschreibt, beschreiben, muß aber zugleich diese Konstellation quasiobjektivistisch voraussetzen und externalisiert damit ihre eigene Position.“ (ebd.). 42 Luhmann, Selbst-Thematisierung, S. 103. 43 Vgl. Luhmann, Selbst-Thematisierung, S. 107 ff. 44 Göbel, Theoriegenese, S. 163. 45 Luhmann, Selbst-Thematisierung, S. 109. 46 Wie bereits zitiert, besteht nach Freyer „die völlig neue Situation, aus der die logische Struktur und Erkenntnishaltung der Soziologie verstanden werden muß“, darin, daß „[e]ine lebendige Wirklichkeit“, welcher „der Erkennende selbst mittätig, mitleidend, existenziell angehört“, „sich selbst [erkennt]“ (Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 83). 40
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C. Die institutionelle Bestimmtheit sozialer Systeme
Aufgrund Luhmanns mangelnder expliziter Reflexion der geschichtlich-institutionellen Bestimmtheit sozialer Systeme ergibt sich eine unklare Bestimmung des Verhältnisses von Evolution und Geschichte. Luhmanns Evolutionstheorie unterscheidet zwischen Evolution und Geschichte. Evolutionstheorie fragt nach dem je gegenwärtig, unter den Bedingungen einer gleichzeitig gegebenen Welt stattfindenden Aufbau strukturierter Komplexität durch die Mechanismen der Variation, Selektion und Stabilisierung.47 Der Hauptunterschied zum Begriff der Geschichte besteht nach Luhmann darin, daß Geschichtswissenschaft im Rahmen der Unterscheidung von vorher und nachher an objektiven Kausalerklärungen für bestimmte Strukturänderungen interessiert sei; Evolutionstheorie müsse dieses Anliegen als empirisch unrealistisch zurückweisen und zirkuläre Verhältnisse und Argumente vorziehen.48 Luhmann baut als Gegner der Evolutionstheorie also einen ganz bestimmten Geschichtsbegriff auf, der sich von Freyers Begriff der Geschichte, der auf die Relevanz von Entscheidungen und nicht auf Kausalität abstellt, in charakteristischer Weise unterscheidet. Entscheidungen kommen nicht ohne Selbstbezug aus, weshalb Freyer einen kausal bestimmten Begriff der Geschichte als Entwicklung ausdrücklich ablehnt.49 Luhmann geht davon aus, daß sich die „evolutionären Errungenschaften“50 wie beispielsweise Schrift und Buchdruck, aber auch die jeweils neuen Differenzierungsformen hochunwahrscheinlichen „geschichtlich einmaligen“51 Ausgangspunkten verdanken, die in der Folge zu stabilen Strukturen führen.52 Diese Ansicht deckt sich weitgehend mit Gehlens Begriff der sekundären Zweckmäßigkeit, welche ebenfalls im Handeln zufällig aufspringende, sehr unwahrscheinliche Strukturbildungen und deren rückwärtige Stabilisierungsleistungen durch die sekundäre Besetzung mit Zwecken beschreibt. Pure Zirkularität kommt bei Gehlen theoretisch deshalb nicht zustande, weil er die Errungenschaften des Handelns nicht allein an ihrer strukturellen Komplexität, sondern anthropologisch in erster Linie an ihrem adäquaten Bezug auf die organischen Grundlagen des Menschen mißt.53 47 Vgl. Luhmann, Gesellschaft, S. 413 ff. Vgl. auch Kuchler, Das Problem des Übergangs. 48 Vgl. Luhmann, Gesellschaft, S. 569 ff. 49 Vgl. z. B. Freyer, Wirklichkeitswissenschaft, S. 307, Freyer, Das Politische als Problem, S. 54. 50 Luhmann, Gesellschaft, S. 505 ff. 51 Luhmann, Gesellschaft, S. 416. 52 Vgl. Luhmann, Gesellschaft, S. 414 u. 565. 53 Den Gedanken der Ablösung von der konkreten Entstehungssituation kennt Gehlen zwar ebenfalls. Behält man aber die Konstitutionsbedingungen des Handelns und der Institutionen in ursprünglichen Bedrohungssituationen im Auge, können die Entstehungssituationen neuer Strukturformen nicht völlig abgehängt werden – es sei denn um den Preis einer gesellschaftlichen Katastrophe (vgl. Clausen, Übergang, Clausen, Krasser sozialer Wandel, Clausen, Reale Gefahren).
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Luhmanns These, daß die Evolution ihre geschichtlichen Ausgangslagen zirkulär selbst produziert,54 setzt die Möglichkeit voraus, daß die jeweiligen Ausgangslagen rückblickend als zufällige außer acht gelassen werden könnten. Entsprechend bleibt Luhmanns Evolutionstheorie die Erklärung des Übergangs zwischen den verschiedenen Strukturformen der Segmentation, Stratifikation und der funktionalen Differenzierung schuldig, der Hinweis auf die Evolution der Evolution eine „Leerformel“55. Nach der hier vertretenen Auffassung verweist diese von Barbara Kuchler aufgedeckte Leerstelle des Übergangs in Luhmanns Evolutionstheorie auf das Problem der Geschichte. Die Unschärfe in der Unterscheidung von Evolution und Geschichte bei Luhmann zeigt sich daran, daß die evolutionären Errungenschaften wie auch die evolutionär unterschiedenen Formen der Gesellschaftsstruktur offensichtlich sozialen Systemen zugerechnet werden, weil die Evolution selbst kein operationsfähiges System sein kann. Zugleich aber sollen sich soziale Systeme ihrerseits der Evolution verdanken, denn bei der Evolutionstheorie „handelt es sich um eine Theorie des geschichtlich einmaligen Aufbaus von Systemen“56 – nicht nur von Strukturen. Eine ähnliche Unschärfe zeigt sich in Luhmanns Theorie der Evolution des politischen Systems. Der „zwischen Evolution und Rationalität“57 angesiedelte Begriff des Wohlfahrtsstaats verdeckt diese Unschärfe. Während der Rechts- und Verfassungsstaat nach Luhmann eine geschichtliche Institution für die Lösung des Problems der Begrenzung der Souveränität darstellt, die „im wesentlichen durch politische Theorie induziert und entsprechend planmäßig realisiert worden“ war, bildet sich der Wohlfahrtsstaat „auf der Grundlage (nicht: unter Überwindung!) des Verfassungsstaates“58 heraus. Evolution des politischen Systems aber findet nach Luhmann nur im Rahmen des Wohlfahrtsstaats statt, welcher jedoch den ideengeleiteten und geplanten Verfassungsstaat voraussetzt!59 Obwohl der Verfassungsstaat als geschichtliche Wirklichkeit die (dauernde) Voraussetzung für den Wohlfahrtsstaat und damit für die Evolution des politischen Systems bildet, motiviert die evolutionstheoretische Überlegung die Relativierung des Staatsbegriffs: „Dem Staatsbegriff wird nicht direkt widersprochen […], wenn man […] die Differenz von System und Selbstbeschreibung des Systems zugrunde legt. […] Der Staat ist nicht letzter Bezugspunkt der Zuordnung von Handlungen, sondern eine semantische Variable, die im Variationszusammenhang mit anderen beurteilt werden muß.“60
54 Vgl.
Luhmann, Gesellschaft, S. 504. Kuchler, Das Problem des Übergangs, S. 39. 56 Luhmann, Gesellschaft, S. 416. 57 Luhmann, Wohlfahrtsstaat zwischen Evolution und Rationalität. 58 Luhmann, Wohlfahrtsstaat zwischen Evolution und Rationalität, S. 112. 59 „Diese Überlegungen legen es nahe, daß mit der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates das politische System eine eigene Evolution beginnt.“ (Luhmann, Wohlfahrtsstaat zwischen Evolution und Rationalität, S. 112). 60 Luhmann, Wohlfahrtsstaat zwischen Evolution und Rationalität, S. 115. 55
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Dies widerspricht aber den beiden von Luhmann getroffenen Vorbehalten, denn indem der Begriff des Staates vom Handlungs- und damit vom Existenzproblem abgekoppelt und als semantische Variable in einem Variationszusammenhang mit anderen Variablen reformuliert wird, wird das konstitutive Problem der eigenen politischen Ersetzbarkeit (Souveränität als Grundlage des Verfassungsstaates) in ein Struktur- bzw. Kohärenzproblem umgemünzt. Dies ist unzulässig, wenn nach Luhmann die Unterscheidung von Verfassungs- und Wohlfahrtsstaat erhalten bleiben soll.61 Offensichtlich denkt Luhmann aber an eine Umkehrung ihres Verhältnisses, wenn er sagt, daß der „Wohlfahrtsstaat auf Staatlichkeit nicht verzichten kann und den Verfassungsstaat nicht überwindet, sondern ihn inkorporieren muß“62. Diese Inkorporation ist die systemtheoretische Umkehrung des Verhältnisses von Regulation und Konstitution im Bereich des Politischen.63 Nur unter diesem umgekehrten Vorzeichen kann man von einer Evolution des politischen Systems ohne störende Reste an geschichtlich-politischer Rückbindung sprechen. Den Umkehrpunkt scheint Luhmann auf den Zweiten Weltkrieg zu datieren.64 Die angedeuteten politisch-geschichtlichen Voraussetzungen werden jedoch durch die Systemtheorie nicht nur faktisch nicht explizit reflektiert, sondern diese begriffliche Erfassung wird auch prinzipiell erschwert durch die im folgenden aufzuzeigende Reduktion des Politischen auf ein Funktionssystem der Gesellschaft sowie die Ausblendung des Zusammenhangs von Reflexion und Wille bzw. Hand61 Vgl.
Luhmann, Wohlfahrtsstaat zwischen Evolution und Rationalität, S. 115. Luhmann, Wohlfahrtsstaat zwischen Evolution und Rationalität, S. 115. Direkt weiter heißt es: „Nur wer den Staat als Kollektivindividuum, als geistige Qualität oder als historische Gestalt eines Volkes denkt, wird dem Urteil Carl Schmitts beistimmen, die Epoche der Staatlichkeit sei an ihr Ende gelangt. Geht man nicht von Identität aus, die als objektiver Geist oder wie immer sonst beschrieben wird, sondern von der Differenz von System und Selbstbeschreibung des Systems, wird einerseits der Staat gegenüber Hochidealen der Vergangenheit als Reduktion unfaßbarer Komplexität, als Selbstsimplifikation abqualifiziert; er wird andererseits aber funktional definiert und in seiner historisch-kontingenten Notwendigkeit erst eigentlich begründet.“ (Luhmann, Wohlfahrtsstaat zwischen Evolution und Rationalität, S. 115 f.). 63 Hierin liegt wirklich eine Ähnlichkeit mit Hegel. Wie bereits oben in Kap. II.2.b) mit Günther festgestellt wurde, hat sich „bei Hegel das Verhältnis konstitutiver (und damit auch regulativer) Prinzipien des Denkens gegenüber dem, was Kant darunter versteht, genau umgekehrt“ (Günther, Grundzüge, S. 196). 64 „Während der Verfassungsstaat als ein Werk theoretischer Reflexion betrachtet werden kann, ist der Wohlfahrtsstaat ein Resultat evolutionärer Entwicklungen. Das soll nicht heißen: niemand habe ihn gewollt, er sei unbeabsichtigt entstanden. Er ist durch und durch das Ergebnis politischer Zielsetzungen, aber eben unreflektierter politischer Zielsetzungen. Die Staatssemantik wird fortgeschrieben, man spricht seit dem zweiten Weltkrieg in zunehmendem Umfang von welfare state, aber der Begriff resumiert, obwohl nach wie vor zentral an ‚Staat‘ festgemacht, eher ein problemreiches Resultat von Politik als eine Gründungsmaxime. Mit der Schwerpunktverlagerung von Verfassungsstaat, Rechtsstaat und selbst Demokratie zu Wohlfahrtsstaat reagiert die Selbstbeschreibung des politischen Systems auf ein neuartiges Problemgefühl.“ (Luhmann, Staat und Politik, S. 95). 62
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lung. Sicherheit erscheint dann systemtheoretisch nicht als Produkt einer politisch durchgesetzten globalen institutionellen Struktur, deren Element die bundesdeutsche Staatlichkeit ist, sondern, worauf Wolfgang Bonß aufmerksam gemacht hat,65 als Effekt des Operierens und der Strukturbildung sozialer Systeme. Denn nach Luhmann ist jede Strukturbildung ein Sicherheitsgewinn: „Schon in die Formierung der Erwartungsstrukturen gehen […] Momente der Risikoabwehr und der Steigerung von systeminternen Sicherheiten ein.“66 Das heißt, Sicherheit ist aus Sicht der Systemtheorie nicht Ergebnis einer kontingenten institutionellen Struktur bzw. eine politische Semantik, sondern ein basaler Effekt der Strukturbildung sozialer Systeme bzw. sogar mit dieser gleichzusetzen, denn Strukturen haben als solche Sicherheitswert. Dies gilt zum einen für den Aufbau basaler Strukturen vor dem Hintergrund doppelter Kontingenz: „Wenn überhaupt Erwartungen gebildet werden, haben sie sogleich schon einen Sicherheitswert […]“67. Es gilt aber auch für die reflexiven Erwartungsstrukturen, insbesondere für das kognitive und das normative Erwarten. Sowohl Kognitionen als auch Normen sind an der Unterscheidung von Sicherheit und Unsicherheit orientiert, sie formieren sich direkt im Hinblick auf das „Sicherheits-/Unsicherheitsproblem“68. Es reicht folglich nicht aus, die Systemtheorie in ihrem Entstehungskontext zu verorten, sondern es muß auch gezeigt werden, in welcher Weise ihre Grundbegriffe geschichtlich gebundene Begriffe sind. Obwohl Luhmann die Möglichkeit geschichtlicher Selbstreflexion der Soziologie wie gesagt nicht theoretisch ausgearbeitet hat, ist es in diesem Zusammenhang aufschlußreich, daß er die Systemtheorie gleichwohl in den Zusammenhang einer spezifischen „Geschichtssicht“69 stellt, nach der „insgesamt eine Form des Lebens zu erwarten [ist], in welcher das menschliche Dasein durch funktionale Rationalisierung von den schwersten Belastungen der natürlichen und sozialen Umwelt befreit ist, die unsere Geschichte geprägt haben“70.
Diese Geschichtssicht befindet sich im Einklang mit jener oben behandelten universalen wohlfahrtsstaatlichen Leitidee der sozialen Sicherheit (in ihren beiden Ausprägungen der internationalen kollektiven Sicherheit sowie der wohlfahrtsstaatsinternen sozialen Sicherheit).71 Unter deren Vorzeichen konzipiert Luhmann ein auf Risikominimierung zielendes Zusammenspiel von Systemtheorie, Entscheidungstheorien und Theorien der Handlungsplanung.72 Funktionale Analyse und 65 Vgl.
Bonß, Vom Risiko, S. 90 f. Luhmann, Soziale Systeme, S. 418. 67 Luhmann, Soziale Systeme, S. 418. 68 Luhmann, Soziale Systeme, S. 436. 69 Luhmann, Grundrechte, S. 199. 70 Luhmann, Grundrechte, S. 199. 71 Vgl. oben Kap. I.1. u. I.2. 72 Vgl. Luhmann, Politische Soziologie, S. 16 ff. u. Luhmann, Grundrechte, S. 203. Luhmanns Angebot an die Politikwissenschaft bestand darin, sich als Theorie der Handlungs66
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Systemtheorie verstehen sich in Luhmanns wissenschaftstheoretischer Selbstverortung der 60er Jahre als Beiträge zu einer systemrationalen Kooperation von „Soziologie und Entscheidungstechnik“73, die mit Blick auf die Handlungsplanung insgesamt zu einer Entlastung des Handelns und in diesem Sinn zu mehr Sicherheit führen sollen, die folgerichtig nicht mehr vom Staat, sondern vom Gesellschaftssystem geschützt werden soll: „Und so findet der Mensch seine Sicherheit nicht mehr in den Grenzen seines eigenen Rechtsgehäuses, die der starke Arm des Staates schützt, sondern in der Funktionsfähigkeit des gesellschaftlichen Systems, an dem er teilnimmt.“74 Diese Geschichtssicht bildet den Hintergrund für Luhmanns politische Soziologie. Entsprechend dem skizzierten Semantiktrend wird deren Prämisse wie folgt formuliert: „Über den Platz, den bei uns der Staatsbegriff besetzt hält, muß anders verfügt werden, vermutlich durch eine soziologische Theorie der differenzierten Gesellschaft […]. Erst im Rahmen einer derartigen Theorie können die besonderen Aktionsbedingungen und Leistungen des politischen Systems, das mit dem Staatsbegriff gemeint war, ermittelt werden.“75
Unter den Bedingungen der hier mit Foucault angedeuteten „neuen, komplizierteren Wirklichkeiten“ bescheinigt Luhmann dem „deutsche[n] Staatsdenken“76, daß es das „Zusammenschrumpfen des politisch Bedeutsamen auf spezifizierte Entscheidungszusammenhänge“ nicht mitvollzogen hat und stattdessen am „alte[n], umfassende[n] Ordnungsanspruch des Politischen“77 festzuhalten scheint. Er konzediert jedoch: „Mit Recht ahnt man einen unverzichtbaren Kern in dem an den Staatsbegriff geknüpften Ordnungspostulat. Das Problem liegt in der Adresse.“78 Nach Freyer hingegen bestand der Sinn des Politischen darin, sich zum Schutz eines kulturell differenzierten Handlungsraumes im Bereich der Geschichte zu halten, ein Sinn, der nicht vollständig theoretisch einholbar ist. In dieser Konstellation wird also von einer geschichtlichen Einheit ausgegangen, die über eine konstitutive politische Identität bzw. Adresse verfügt, aber auch eine regulative, gesellschaftlich-differenzierte Seite hat. Luhmann versucht demgegenüber das Problem des adäquaten politischen Handelns allein durch die Kohärenz differenzierter sozialer Systeme aufzufangen. So wird Gesellschaft zum Leitbegriff und die Soziologie zur Leitwissenschaft. planung zu verstehen. Ziel war es, „die spezifische Rationalität des politischen Kalküls auszuarbeiten […]. Eine wichtige Lücke wäre hier zu füllen, da wir zwar die bürokratieinternen Entscheidungsprozesse in ihren Programmen juristisch und wirtschaftlich durchkonstruiert haben, über die eigentümliche Rationalität des politischen Verhaltens aber noch sehr wenig wissen.“ (Luhmann, Politische Soziologie, S. 18). 73 Luhmann, Grundrechte, S. 203. 74 Luhmann, Grundrechte, S. 181. 75 Luhmann, Grundrechte, S. 17. 76 Luhmann, Grundrechte, S. 16 77 Luhmann, Grundrechte, S. 15. 78 Luhmann, Grundrechte, S. 17.
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Entsprechend der systemtheoretischen Geschichtssicht kontinuiert die Notwendigkeit der zu erbringenden Ordnungsleistung derjenigen politischen Einheit, von der das ältere politische Denken ausging. An die Stelle dieser konkreten politischen Einheit tritt nach Luhmann die soziale Differenzierung der gesellschaftlichen Kommunikation. Aber das durch die einstige politische Einheit erfüllte Ordnungspostulat besteht fort: „Für deren Ordnungsleistung muß die soziale Differenzierung in jeder Hinsicht funktionale Äquivalente bereitstellen. Der Prozeß der Differenzierung vollzieht sich als Prozeß der Substitution funktionaler Äquivalente. Die ursprüngliche Einheit lebt daher als eine Art Systemzwang fort: Sie kann nur durch ein komplexes Netz von ausdifferenzierten, funktional spezifizierten und aufeinander abgestimmten Strukturen ersetzt werden.“79
Nicht kontinuiert dagegen nach Luhmann die einheitliche politische Adresse. Diese interpretiert Luhmann nicht wie Freyer als volitives Problem angesichts der Herausforderung, im Bereich der Weltpolitik als politische Handlungseinheit ersetzt werden zu können, sondern kognitiv als die Unmöglichkeit einer „Einsichtsund Entscheidungszentralisierung“80 unter differenzierten gesellschaftlichen Bedingungen. An die Stelle des stets problematischen politischen Anspruchs auf geschichtlich-politische Einheit tritt in Luhmanns politischer Soziologie ein in sich zusammenhängendes Geflecht von sozialen Systemen, das nur noch kognitiv thematisiert werden kann.81 Die Stabilität dieses Geflechts ist daher keine Frage souveräner Entscheidung über Freund und Feind, sondern eine Frage der Aufrechterhaltung der Grenzen zwischen sozialen Systemen und deren (gesellschaftlichen) Umwelten. Je höher das erreichbare Komplexitätsniveau der Verflechtung sozialer Systeme durch Funktions- und Leistungsbeziehungen ist, desto stabiler und „sicherer“ (im oben erläuterten Sinn) ist die Gesamtordnung. Weil sich die Systemtheorie ausdrücklich auf die begriffliche Erfassung von Komplexität spezialisiert, kann sie, wenn nicht selbst als Beitrag zur Stabilisierung, so doch als Versuch einer adäquaten Beschreibung dieser Ordnung verstanden werden. Man kann damit sagen, daß Luhmann die sich im Deutschland der 20er und 30er Jahre herausbildende multidisziplinäre Reflexion des Politischen82 soziolo79
Luhmann, Grundrechte, S. 199. Luhmann, Grundrechte, S. 17. 81 Was wir wiederholt als Umkehrung von Regulation und Konstitution (bzw. von Kohärenz und Adäquation) bezeichnet haben. 82 Vgl. dazu z. B. Göbel/van Laak/Villinger, Metamorphosen des Politischen, Waschkuhn/Thumfart, Politisch-kulturelle Zugänge zur Weimarer Staatsdiskussion. Hellmuth Plessner gibt in seinem Buch Macht und menschliche Natur einen zeitgenössischen Einblick in die Vielfältigkeit der wissenschaftlichen Bemühungen des Jahres 1931: „Das Buch stellt sich damit in die Diskussion einer Wissenschaft und Philosophie der Politik, die – wir nennen nur einige Namen – in Deutschland von philosophischer Seite besonders durch Freyer und Litt, von iuristischer Seite durch Carl Schmitt, Kelsen, Smend, von soziologischer Seite durch Max Weber, Scheler, Karl Mannheim, von historischer Seite besonders durch den zu wenig bisher beachteten Otto Westphal vorangetragen wird. Zugleich gehört es in die Auseinandersetzung um das Problem von Philosophie und Anthropologie, das, von der 80
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gisch beerbt. Im Einklang mit dem oben angesprochenen Trend der öffentlichen, aber auch wissenschaftlichen „Staatsfeindschaft, oder zumindest: Staatsvergessenheit in Jurisprudenz, Soziologie und Politikwissenschaft“83 betreibt Luhmann die Integration der auf verschiedene Disziplinen verteilten Reflexion des Politischen in die Soziologie als Gesellschaftstheorie. Luhmann entscheidet die disziplinären Zuordnungsfragen mit seinem Begriff der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft. Wenn Politik und Recht Funktionssysteme der Gesellschaft sind, dann ist Soziologie als Systemtheorie der Gesellschaft gegenüber Rechts-, Politik- und Geschichtswissenschaft die höherrangige Wissenschaft.84 Luhmanns wichtigste Referenzautoren aus der Epoche der Zwischenkriegszeit sind die wissenschaftlichen Antipoden Hermann Heller und Hans Kelsen.85 Nach Luhmann nimmt einerseits „Hellers Auffassung des Staates als ‚organisierte Entscheidungs- und Wirkungseinheit‘“ die systemtheoretisch angestrebte „Reduktion der politischen Ordnung auf spezifische Funktionen“86 bisher am deutlichsten vorweg.87 Die von der Politik bereitgestellte Kapazität zu kollektiv bindenden Entscheidungen wird unter dem kausalen Aspekt des zweckrationalen Bewirkens Historismusfrage aus durch Dilthey in Bewegung gebracht, auf sehr verschiedenen Wegen Scheler, Heidegger, Misch und der Verfasser in Angriff genommen haben.“ (Plessner, Macht und menschliche Natur, S. 12; vgl. zu Plessner Fischer, Plessner u. Fischer, Die exzentrische Nation). Dieser Aufzählung von mit Namen verbundenen Ansätzen ließen sich die von Hermann Heller und Siegfried Landshut, aber auch von Arnold Gehlen und Ernst Forsthoff hinzufügen. 83 Henkel, Hermann Hellers Theorie der Politik, S. 644. Vgl. auch Albrecht, Bundesrepublik. Foucault, Geburt der Biopolitik, S. 269, spricht von „Staatsphobie“. 84 Vgl. Luhmann, Politische Soziologie, S. 16 ff. 85 Vgl. zu deren Verhältnis Henkel, Hermann Hellers Theorie der Politik, S. 54 ff. 86 Luhmann, Grundrechte, S. 17. 87 Hiermit liegt eine bisher wenig beachtete Kontinuität mit der Leipziger Schule vor, in deren Zusammenhang Hermann Heller eingeordnet werden kann (so Henkel, Hermann Hellers Theorie der Politik, S. 152 ff.; vgl. auch Schluchter, Entscheidung). Hellers Theorie der Politik und des Staates sowie seine Auffassung von Politikwissenschaft stützen sich in den wissenschaftstheoretischen Grundsatzfragen maßgeblich auf Freyer: „Hellers Programm der Begründung der Politikwissenschaft als Wirklichkeitswissenschaft wurde zur gleichen Zeit allgemeiner – für ein System der Soziologie – von Hans Freyer verfolgt, der es in Fortführung früherer Arbeiten in seiner Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft ausbuchstabierte. Mit dem dort entfalteten Ansatz befindet sich Heller in nahezu vollkommener Übereinstimmung, wenn er seine politikwissenschaftliche Staatslehre als Soziologie und diese als Wirklichkeitswissenschaft […] ausweist.“ (Henkel, Hermann Hellers Theorie der Politik, S. 616) Der gemeinsame Ausgangspunkt von Freyer und Heller bestand in dem zu einem politischen Realismus gewendeten Hegel und in Diltheys Theorie der Kultursysteme, der Heller und Freyer – in der aufgezeigten Weise (siehe oben Kap. VII) – zu einer Kritik und Erweiterung der Weberschen Soziologie führte (vgl. Henkel, Hermann Hellers Theorie der Politik, S. 98 ff.). Freyers Konzept der Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft stellt den weiter gefaßten Ansatz dar, während die Politikwissenschaft als Wirklichkeitswissenschaft eine ihrer möglichen Spezifikationen bildet (vgl. ebd., S. 616 ff.).
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von Wirkungen in der Gesellschaft aufgefaßt.88 Für die Auslegung des Gleichheitssatzes als Verpflichtung auf die Konsistenz von Entscheidungen und Inbegriff des positiven Rechts beruft sich Luhmann andererseits auf Hans Kelsen.89 Luhmann reformuliert mithin staats- bzw. rechtswissenschaftliche Theorien soziologisch unter den Begriffen der Organisation und des Rechts90 bzw. der Zweck- und der Konditionalprogrammierung91 in ihrem gemeinsamen Bezug auf die zugrundeliegende Einheit des politischen Systems der Gesellschaft. Indem Luhmann diese beiden Ansätze auf die Unterscheidung von Entscheidung und Norm abstrahiert und diese Unterscheidung auf die zugrundeliegende Einheit eines sozialen Systems relationiert, das in neuer Form das oben erwähnte ältere Ordnungspostulat erfüllen soll, wiederholt er ein theoriesystematisches Schema, mit dem Carl Schmitt unter dem Begriff der Institution seine Wendung zum konkreten Ordnungsdenken vorbereitet.92 Schmitt zeigt in seiner Betrachtung Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, daß die abstrakten Rechtsauffassungen des „Normativismus“ und des „Dezisionismus“ einander wechselseitig bedingen und als Momente einer Unterscheidung dem juristischen Positivismus zuzuordnen sind.93 Schmitt zufolge „ist der juristische Positivismus ganz an die für das 19. Jahrhundert kennzeichnende staatliche und gesellschaftliche Lage gebunden“94. Im Unterschied zu Luhmann, der diese Konstellation gesellschaftstheoretisch fortschreibt, ist der Rechtspositivismus nach Schmitt Teil „des im 19. Jahrhundert zur Herrschaft gelangten Gesetzgebungsstaates“95. Schmitt weist das „Schutz vor Risiko und Verantwortung“ suchende „Sicherheitsbedürfnis des Positivismus“96 zugunsten der Frage nach „konkrete[n] institutionelle[n] Ordnungen“97 zurück, womit auch der Begriff der Situation einen zentralen Stellenwert gewinnt.98 In 88
Vgl. z. B. Luhmann, Grundrechte, S. 175 f. Luhmann, Grundrechte, S. 173. 90 Vgl. Luhmann, Politik, S. 191, wo es heißt, daß es für „eine einschränkende Präzisierung des Staatsbegriffs […] offensichtlich mehrere Möglichkeiten [gibt], etwa die Reduktion auf einen Rechtsbegriff (Kelsen) oder die Reduktion auf einen Organisationsbegriff (Heller), die dann kontrovers bleiben“. 91 Vgl. auch Luhmann, Recht, S. 223 u. 231, Anm. 47. 92 Schmitt, Über die drei Arten, S. 54 ff., beruft sich hierfür auf Maurice Hauriou und Lorenz von Stein. Dies ist zugleich die Stelle, an der Gehlen, Mensch, S. 453 f., seinen Begriff der obersten Führungssysteme mit dem Begriff der Institution verbindet. Siehe dazu oben Kap. VI.1.b). 93 Vgl. Schmitt, Über die drei Arten, S. 29 ff. 94 Schmitt, Über die drei Arten, S. 39. 95 Schmitt, Über die drei Arten, S. 38 f. 96 Schmitt, Über die drei Arten, S. 39. 97 Schmitt, Über die drei Arten, S. 15. 98 Entscheidend für eine „allgemeine[] Theorie der ‚Institution‘“ ist nach Schmitt, Über die drei Arten, S. 56, „die alles tragende Grundvoraussetzung, nämlich eine normale stabilisierte Situation, eine situation établie.“ 89 Vgl.
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diesem Zuge wird der auf der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft beruhende Staatsbegriff des 19. Jahrhunderts einer neuen Bestimmung als „Institution der Institutionen“99 unterworfen.100 Man kann damit sagen, daß in der Systemtheorie an die Stelle des Begriffs des Staates als einer konkreten Ordnung der Begriff der Gesellschaft tritt. Der zentrale Unterschied beider Auffassungen besteht darin, daß die Einheit der konkreten Ordnung unter einer Idee repräsentiert werden kann,101 während dies für die Gesellschaft im Sinne Luhmanns, aber auch für das von ihm konzipierte politische System der Gesellschaft nicht möglich ist.102 Vielmehr entwickelt Luhmann unter den skizzierten neuen Bedingungen einer nicht-adressablen und nicht repräsentationsfähigen gesellschaftlichen Ordnung eine soziologische Theorie der Legitimation politischen Entscheidens.
99 Im Zusammenhang heißt es: „Es genügt aber für die hier aufzuweisende Gesamtlinie, daß die bloße Wiederherstellung eines Begriffes der ‚Institution‘ sowohl den bisherigen Normativismus, wie den Dezisionismus und damit auch den aus beiden zusammengesetzten Positivismus überwindet. Der Staat selbst ist für die institutionalistische Denkweise nicht mehr eine Norm oder ein Normensystem, auch keine bloße souveräne Dezision, sondern die Institution der Institutionen, in deren Ordnung zahlreiche andere, in sich selbständige Institutionen ihren Schutz und ihre Ordnung finden.“ (Schmitt, Über die drei Arten, S. 56 f.) Schmitts Wendung zum konkreten Ordnungsdenken ist in der Rezeption Hermann Hellers als Annäherung an Heller wahrgenommen worden. So schreibt Gerhart Niemeyer, daß Hellers Denken jenseits der Verabsolutierung von „Normordnung“ und „Dezisionismus“ „weder in die Nähe Kelsens noch in die Carl Schmitts, sondern vielmehr genau in der Mitte zwischen beiden hindurchführt“ (Niemeyer, Einleitung, S. IX). Niemeyer attestiert Schmitts Wendung zum konkreten Ordnungsdenken jedoch eine Annäherung an Heller: „In einer vor kurzem veröffentlichten Schrift (Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 1934) vollzieht Carl Schmitt allerdings eine überraschende ‚Wendung zur Idee‘.“ (ebd., Anm. 1) Ähnlich auch Wolfgang Schluchter, Entscheidung, S. 186, Anm. 13: „Hellers Formulierungen bringen ihn häufig in unerwartete Nähe zu Carl Schmitt. Dieser Eindruck wird noch dadurch bestärkt, daß Heller viel häufiger gegen Kelsen als gegen Schmitt polemisiert. Das hat seinen Grund darin, daß Schmitt unter rein theoretischem Aspekt Hellers Grundintentionen zumindest partiell entgegenkommt. Trotzdem hat Heller aus seiner – vorwiegend politisch begründeten – Ablehnung Carl Schmitts keinen Hehl gemacht.“ 100 In einer Besprechung einer Aufsatzsammlung Schmitts vollzieht Freyer diese Wendung zum konkreten Ordnungsdenken nach und schlußfolgert, daß unter der Voraussetzung einer konkreten institutionellen Ordnung dem Begriff der Feindschaft ein neuer Status zukommt, weil nun „das Politische in eine neue Phase [tritt]; es darf und muß nun in neuer Weise gedacht werden“, denn der Staat als Institution der Institutionen „schöpft sein Denken nicht, wie ein bedrohter und ungewisser Zustand, aus der Tatsache der Feindschaft, sondern aus der Tatsache seiner selbst“ (Freyer, Besprechung von Carl Schmitt, S. 265). 101 Vgl. Schmitt, Reichsbegriff, S. 312. 102 Vgl. Luhmann, Tautologie und Paradoxie, S. 162. Ähnlich schon Forsthoff, der vom „Ende der geistigen Selbstdarstellung des Staates“ (Forsthoff, Staat in der Industriegesellschaft, S. 51 ff.) sprach.
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Luhmann setzt sich hierbei insbesondere von Max Webers Theorie der Legitimität ab.103 Anders als Max Weber sieht Luhmann das Bezugsproblem der Legitimität nicht in der Anerkennung von Herrschaft, sondern in der sozialen Differenzierung.104 Indem ein gesellschaftlicher Bereich politischen Entscheidens sich von anderen gesellschaftlichen Bereichen differenziert und somit unterscheidbar und sichtbar wird, entsteht ein Bedarf an Legitimation dieser Entscheidungen. Für Weber bestand die moderne Form der Legitimität im „Legalitätsglauben“105. In diesem Begriff fallen, wie Carl Schmitt feststellt, Legalität und Legitimität zusammen.106 Nach Schmitt ist das Zusammenfallen von Legalität und Legitimität im Legalitätsglauben das Kennzeichen des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates als der für das 19. Jahrhundert typischen Form des Staates.107 Im Gesetzgebungsstaat, so Schmitt, „‚herrschen Gesetze‘, nicht Menschen, Autoritäten und Obrigkeiten. Noch genauer: die Gesetze herrschen nicht, sie gelten nur als Normen. Herrschaft und bloße Macht gibt es überhaupt nicht mehr“108. Gesetze und Normen können durchgesetzt werden nicht primär aufgrund von Herrschaft, sondern aufgrund ihrer Geltung. Luhmann nun nimmt von Webers Prämisse Abstand, „daß die faktische Legitimität einer Herrschaft einfach die Folge des faktischen Glaubens an das Prinzip der Legitimierung sei“109. Obwohl sich Luhmann hiermit gegen Weber wendet, will er den von Weber konstatierten Zusammenhang von Herrschaft und Legitimität nicht „leugnen“, sondern „begründen“110. Luhmann führt den von Weber benannten Zusammenhang aber nicht auf den Staat des 19. Jahrhunderts, den parlamentarischen Gesetzgebungsstaat, sondern auf die funktional differenzierte Gesellschaft zurück. Analog zu Schmitt argumentiert Luhmann aber ebenfalls über den Begriff der Geltung. Nach Luhmann beruht daher die Legitimität politischer Entscheidungen „gerade nicht auf ‚frei-williger‘ Anerkennung, auf persönlich zu verantwortender Überzeugung, sondern im Gegenteil auf einem sozialen Klima, das die Anerkennung verbindlicher Entscheidungen als Selbstverständlichkeit institutionalisiert und sie nicht als 103 Vgl. Luhmann, Grundrechte, S. 140, Anm. 12. Max Weber schreibt: „Keine Herrschaft begnügt sich, nach aller Erfahrung, freiwillig mit den nur materiellen oder nur affektuellen oder nur wertrationalen Motiven als Chancen ihres Fortbestandes. Jede sucht vielmehr den Glauben an ihre ‚Legitimität‘ zu erwecken und zu pflegen.“ (Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 122) Luhmann setzt das Bezugsproblem tiefer an, um den von Weber herausgearbeiteten Zusammenhang von Legitimität und Herrschaft „zu begründen“ (Luhmann, Grundrechte, S. 140, Anm. 12). 104 Vgl. Luhmann, Grundrechte, S. 140, Anm. 12, u. Luhmann, Legitimation, S. 27 ff. 105 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 19 u. 154. 106 Vgl. Schmitt, Legalität und Legitimität, S. 13 f. 107 Vgl. Schmitt, Legalität und Legitimität, S. 7 ff., 19 ff. 108 Schmitt, Legalität und Legitimität, S. 8. 109 Luhmann, Grundrechte, S. 144. 110 Luhmann, Grundrechte, S. 140, Anm. 12.
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Folge einer persönlichen Entscheidung, sondern als Folge der Geltung der amtlichen Entscheidung ansieht“111.
Herrschaft kommt zwar nach Luhmann noch vor;112 die Akzeptanz politischer Entscheidungen beruht aber nicht auf der Drohung mit dem Einsatz von Gewalt, sondern schlicht auf ihrer gesellschaftlich institutionalisierten Geltung. Daher kommt in der modernen Gesellschaft „Legitimation […] nicht allein durch Prinzipienglauben zustande, sondern durch eine kommunikative Ordnung, welche die Akzeptierung der Staatsentscheidungen trägt und weiterträgt. Legitimität der staatlichen Herrschaft heißt mithin: daß das Kommunikationssymbol ‚verbindliche Entscheidung‘ einen festen, allgemein anerkannten Kurswert hat.“113
Um dies theoretisch erfassen zu können, muß der „Begriff des Akzeptierens […] entsprechend formalisiert werden“114. Dieser wird so weit verallgemeinert, daß er die Akzeption von politischen Entscheidungen unabhängig von irgendwelchen Gründen meint. Ist ein solches gesellschaftliches „Klima“ durchgesetzt, können Erwartungen durch Entscheidungen im politischen System und Setzung von positivem Recht ständig geändert werden. Die Generalisierung der Akzeption fremder Entscheidungen zur „Pauschalakzeptierung“115 ist die Bedingung der Möglichkeit
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Luhmann, Legitimation, S. 33 f. Herrschaft ist auf ausreichende Zwangsmöglichkeiten angewiesen – um der Effektivität in problematischen Grenzfällen willen, vor allem aber zum Schutze ihrer Darstellung als ausnahmslos verbindlich. Andererseits ist die Drohung mit Zwang und erst recht die nackte Gewalt als Herrschaftsgrundlage unzureichend. Dies nicht nur, weil sie zu großen Aufwand erfordert, also wirtschaftlich unrationell und deshalb nicht expansionsfähig ist. Ebenso wesentlich ist: daß sie die Motive des Gehorsams faktisch und sozial sichtbar einengt auf ein Vermeiden der angedrohten nachteiligen Folgen. Zwangsherrschaft bleibt damit, ähnlich wie der geldlose Tausch, an ein partikulares, nur situationsmäßig überzeugendes Verhältnis, an eine sehr enge Korrelation von spezifischen Befehlen und spezifischen Zwangslagen gebunden. Zwang ist kein generelles, sondern nur ein konkret einsetzbares Herrschaftsmittel. […] Es muß, mit anderen Worten, besondere Institutionen geben, die verhindern, daß der Staat zu einer Zwangsanstalt zusammenschrumpft, die von Fall zu Fall Befehle gegen widerstrebende Motive zwangsweise durchsetzt, denn in dieser Form kann der Staat seine hochkomplizierten und vielfältigen Problementscheidungsaufgaben nicht erfüllen. Das Zwangspotential muß auf die spezifische Funktion einer Notfallskontrolle reduziert werden (die freilich unentbehrlich bleibt). Und zugleich damit müssen Einrichtungen der Generalisierung von Kommunikationen institutionalisiert werden, die darauf spezialisiert sind, legitime politische Macht zu schaffen, die sich in verbindlichen Entscheidungen äußert, welche nicht allein mit Rücksicht auf drohenden Zwang, sondern primär wegen ihrer Verbindlichkeit, also wegen eines kommunikativen Symbols akzeptiert werden, über das der Staat unter spezifischen, genau geregelten Voraussetzungen ,verfügen‘ kann.“ (Luhmann, Grundrechte, S. 142 f.). 113 Luhmann, Grundrechte, S. 144 f. 114 Luhmann, Legitimation, S. 33. Vgl. dazu Tyrell, Gewalt. 115 Tyrell, Gewalt, S. 89. 112 „Legitime
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für den laufenden und reibungslosen „Einbau neuer Erwartungsstrukturen“116 aufseiten der Betroffenen, das heißt für eine umfassende kognitive Haltung im Bereich des Politischen. Die Akzeptanz politischer Entscheidungen beruht zwar nicht auf der Einsicht in die Wahrheit ihrer Gründe oder dem Glauben an ihre Prinzipien.117 Gleichwohl läuft die „Generalisierung des Anerkennens von Entscheidungen“ auf ein „wahrheitsähnliches […] Akzeptieren“118 hinaus, sodaß die jeweilige Entscheidung schließlich – und eigentlich völlig inadäquat – „wie eine […] Tatsache behandelt“119 wird: „Bei erfolgreichem Lernen werden die durch Entscheidung geänderten Erwartungen gleichsam automatisch, von innen heraus, beachtet und wie eine (willkommene oder unwillkommene) Tatsache behandelt.“120 Luhmanns Geschichtssicht ist also eingebettet in die Zukunftsaussicht auf eine Kognitivierung der Perspektiven aller Beteiligten. Politischer und sich auf veraltetes Recht berufender Widerstand ist keine adäquate Haltung im Bereich sozialer Systeme.121 Denn erst wenn „das Verhalten des entscheidungsbetroffenen Staatsbürgers durchweg gleichförmig ist, nämlich: kampflos akzeptierend, weil andere Reaktionen sinnlos sind und keine sozialen Stützen finden“122, gelingt die gesellschaftliche Schließung. Das Umkippen in eine nicht gesellschaftlich, sondern politisch bestimmte Lage bleibt aber immer möglich. Das von Luhmann skizzierte Modell einer funktional differenzierten Gesellschaft ist daher an der vom politischen System ausgehenden Gefahr der Entdifferenzierung und Politisierung der gesellschaftlichen Ordnung orientiert. Diese Gefahr ist offensichtlich das Restproblem der Auflösung der politischen Adresse in ein Geflecht sozialer Systeme. Luhmann unterscheidet mithin implizit zwischen einer politisierten entdifferenzierten und einer entpolitisierten differenzierten Gesellschaft: „Die Gefahr der Entdifferenzierung, der Politisierung des gesamten Kommunikationswesens, ist in der gesellschaftlichen Emanzipation und Autonomsetzung des politischen Systems angelegt, ist mithin ein Merkmal des Differenzierungsprozesses selbst.“123
116
Luhmann, Legitimation, S. 33. Luhmann, Grundrechte, S. 144. 118 Luhmann, Legitimation, S. 32. 119 Luhmann, Legitimation, S. 34. Vgl. Luhmann, Grundrechte, S. 145. 120 Luhmann, Legitimation, S. 33 f. 121 An der aufgrund politischer Lernfähigkeit erreichten automatischen Beachtung geänderter Erwartungen „fehlt es, wenn der Betroffene im Protest gegen die Entscheidung weiterzuleben sucht, Widerstand leistet, sein gekränktes Recht immer wieder hervorholt, immer wieder den Schorf von seinen Wunden kratzt und Hilfe und Zustimmung gegen die Entscheidung zu organisieren sucht, kurz: nicht lernt, sondern bei seinen alten, enttäuschten Erwartungen bleibt“ (Luhmann, Legitimation, S. 33 f.). Vgl. aber Luhmanns persönliche Bemerkungen in Guibentif/Luhmann, Gespräch, S. 218. 122 Luhmann, Grundrechte, S. 147 f. 123 Luhmann, Grundrechte, S. 24. 117 Vgl.
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Luhmann vertritt daher die Auffassung, daß bestimmte institutionelle Voraussetzungen gegeben sein müssen, die die Möglichkeit der Differenzierung der Gesellschaft offenhalten, wie etwa die Institution der Grundrechte. Kommunikation wird als ein Erfordernis behandelt, das sich aus der Tatsache gesellschaftlicher Differenzierung ergibt.124 Später tritt an die Stelle dieser auch geschichtlich konkretisierbaren Bedingungsverhältnisse die implizit behauptete Deckungsgleichheit von funktionaler Differenzierung und selbstreferentieller Kommunikation im Begriff der Autopoiesis der Funktionssysteme.125 Deren Bedingungen der Möglichkeit werden dann anhand des Theorems der doppelten Kontingenz expliziert, welches aber gerade dazu dient, die Frage nach den möglicherweise vorhandenen geschichtlichinstitutionellen Bedingungen des Zustandekommens von doppelter Kontingenz als Situation abzuschneiden. Genau dies führt dazu, daß die von Luhmann seit dem Ende der 80er und verstärkt in den 90er Jahren beobachteten Selbstgefährdungs tendenzen der funktional differenzierten Gesellschaft, die wir im ersten Teil unter den Begriffen Exklusion, Risiko und Ökologie behandelt haben, nicht angemessen thematisiert werden können. Luhmann führt eine Reihe von Gründen an, warum das politische System unter Umständen aus dem sachlich bestimmten Rahmen gesellschaftlicher Differenzierung ausbrechen kann und die Gesellschaft zu politisieren vermag. Als schwerwiegendsten Grund gibt Luhmann die sachliche „Unbestimmtheit dessen, was ein politisch entscheidungsbedürftiges Problem werden kann“, an: „die politische Funktion ist keine inhaltlich fest umrissene Sachaufgabe, sondern ihre Thematik hängt davon ab, welche Probleme jeweils politisiert werden, weil keine besseren Lösungen institutionalisiert sind“126. Dies befindet sich zum Teil mit der Behauptung von Carl Schmitt und Hans Freyer im Einklang, daß das Politische gerade kein Sachgebiet wie etwa Wirtschaft, Religion oder Kunst sei, sondern ein „Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation“127, der sich aus jeglichem gesellschaftlichen Konflikt zum politischen Gegensatz von Freund und Feind zuzuspitzen vermag.128 Luhmann wendet diesen Gedanken differenzierungstheoretisch,129 indem Politik als politisches System konzipiert wird, das die anderweitig nicht lösbaren ge124 Vgl.
Luhmann, Grundrechte. Luhmann, Soziale Systeme u. Luhmann, Gesellschaft. 126 Luhmann, Grundrechte, S. 24. Ein zweiter Grund ist die gesellschaftliche „Zentralisierung der legitimen Macht zu verbindlichem Entscheiden“ (ebd.), mit der die generalisierte Verwendbarkeit dieser Macht zu allen möglichen Zwecken einhergeht. Ein weiterer zu nennender Punkt betrifft „das Fluktuieren der politischen Unterstützung, deren Beweglichkeit durch die Konstruktion einer allgemeinen Wählerrolle – in Abtrennung von sonstigen sozialen Rollen des Wählers“ (ebd.), wodurch sich die Möglichkeit einer Bündelung dieser frei fluktuierenden Unterstützung quer zu allen sachlichen gesellschaftlichen Differenzierungen ergibt. 127 Schmitt, Begriff des Politischen, S. 26. 128 Vgl. Schmitt, Begriff des Politischen u. Freyer, Preußentum. 129 Vgl. Luhmann, Politische Soziologie, S. 36 ff. 125 Vgl.
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sellschaftlichen Konflikte gleichsam an sich zieht und in eine bearbeitbare Form bringt. Das Politische als Intensitätsgrad, der sich zum Gegensatz von Freund und Feind verdichten kann, bleibt aber offenkundig latent erhalten, sodaß es Vorkehrungen geben muß, die nach Luhmann stets drohende Gefahr der Politisierung und Entdifferenzierung der Gesellschaft zu verhindern. Aus Luhmanns Sicht ist dadurch die Möglichkeit der Freiheitsbedrohung gegeben, deren Kristallisationskern der Staat ist. Dieser „faßt das Potential an Freiheitsbedrohung, das in der Gesellschaft diffus und ungreifbar verstreut vorhanden ist, zusammen und macht die Freiheitsfrage entscheidbar – was im Einzelfall Gewinn oder Verlust der Freiheit bedeuten kann“130.
Ersichtlich deckt sich Luhmanns Auffassung mit jener von Foucault: der von Luhmann konkret betrachtete Staat gewährt nicht Freiheit, sondern stellt nur ihre Regulierungsinstanz und als solche auch eine mögliche Bedrohung der Freiheit dar.131 Als Schutzinstanz vor dieser Möglichkeit der Freiheitsbedrohung bringt Luhmann die Grundrechte in Anschlag.132 Es handelt sich bei den Grundrechten um eine scheinbar paradoxe Einrichtung, die „gegen den Staat gerichtet“ ist, obwohl sie „vom Staat gewährt“133 wird. Politik verdoppelt sich also gewissermaßen: sie hat einerseits in Gestalt der Verfassung die Institution der Grundrechte und vermittelt über diese die Differenzierung der Gesellschaft zu schützen, deren Teilsystem sie andererseits ist. Grundrechte werden von Luhmann als Institution, das heißt zunächst weder „als ‚ewige Menschenrechte‘“134 noch als positives staatliches Recht behandelt. Sie sind in einem Bereich angesiedelt, der weder nur staatlich noch rein gesellschaftlich ist135, der aber einen Bezug sowohl auf den Staat als auch die Gesellschaft aufweist.136 Als Voraussetzung für Differenzierung und Kommunikation werden die Grundrechte von der Verfassung kodifiziert, um „das Kommunikationswesen so zu ordnen, daß es im großen und ganzen für eine Differenzierung 130
Luhmann, Grundrechte, S. 57. „Der Staat ist, was immer wieder vergessen wird, Vorbedingung aller Freiheit; nicht weil er sie schon partiell oder in elementaren Vorformen gewährleistet, sondern weil sie in der Form des Entscheidungsprogramms für staatliche Organisation rational regulierbar wird.“ (Luhmann, Grundrechte, S. 57). 132 Vgl. Luhmann, Grundrechte, S. 57. 133 Luhmann, Grundrechte, S. 182. Dabei ist nach den bisherigen Ausführungen zu beachten, daß, solange das von Luhmann beschriebene Arrangement in Kraft ist, in beiden Richtungen der Staat als solcher gar nicht adressiert werden kann. 134 Luhmann, Grundrechte, S. 23. 135 Vgl. Luhmann, Grundrechte, S. 23. 136 Institutionen sind für Luhmann – nicht ganz in Übereinstimmung mit der eben getroffenen Einschränkung – Erwartungsstrukturen sozialer Systeme, die gelten, solange sie nicht bestritten werden (vgl. Luhmann, Grundrechte, S. 12 f. u. Luhmann, Institutionalisierung). Grundrechte sind insofern vorpositives Recht und als solches zunächst nur „möglicher Gegenstand rechtlicher Positivierung“ (Luhmann, Grundrechte, S. 13). 131
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offen bleibt. Die Garantie von Freiheiten ist nichts anderes als eine Garantie von Kommunikationschancen.“137 Die Institution der Grundrechte ermöglicht den Primat funktionaler Differenzierung und auf dieser Grundlage auch Kommunikation. Denn in diesem frühen differenzierungstheoretischen Entwurf bildet die Differenzierung den Anlaß für Kommunikation.138 Die Grundrechte dienen der Aufrechterhaltung dieses „allgemeinen Prozesses zivilisatorischer Differenzierung“139, indem sie „gewissen Rückfalltendenzen“140 in geschichtlich gesättigte, volitiv bestimmte Kommunikationsweisen verhindern, die Luhmann kognitivistisch als Entdifferenzierung wahrnimmt. Im Grundgesetz werden die Grundrechte positiviert, wodurch es zur politischrechtlichen Schutzinstanz dieser Institution wird. Auf diese Weise kann sich die funktionale Differenzierung mit der Kommunikation rekursiv zusammenschließen, wodurch nach Luhmann eine „selbsttragende Ordnung“141 etabliert wird. Deren Erhaltung bleibt aber problematisch, sodaß ihr nolens volens eine Tendenz zur Selbstüberschreitung eingeschrieben ist.142 Auf dem Wege der Vermittlung durch die Grundrechte wird das Politische dauernd einer grundlegenden Entpolitisierung bzw. Reduzierung zu einem gesellschaftlichen Teilsystem unterworfen. 137
Luhmann, Grundrechte, S. 23. Luhmann, Grundrechte, S. 23 u. 196 ff. Luhmann spricht auch von einer „Entbindung der Kommunikationsmöglichkeiten“ (Luhmann, Grundrechte, S. 23). 139 Luhmann, Grundrechte, S. 22. 140 Luhmann, Grundrechte, S. 23. 141 Luhmann, Grundrechte, S. 196. 142 Dieses schwer zu erfassende Verhältnis spiegelt sich nach Luhmann im Grundgesetz in der impliziten Verschränkung des Art. 79 Abs. 3 GG mit dem Art. 146 GG wider (vgl. Luhmann, Grundrechte, S. 184), das heißt in der Verschränkung des Verbotes der Änderung bestimmter Verfassungsartikel (sog. Ewigkeitsklausel), insbesondere der Grundrechte, mit der geschichtlichen Vorläufigkeit des Grundgesetzes als ganzem. Solange die Grundrechte in Geltung sind, schützen sie die funktionale Differenzierung der Gesellschaft, welche umgekehrt Motive für die Durchsetzung ihrer Geltung liefert (vgl. zur Aktualität dieser Deutung Nichelmann, Form und Funktion), wodurch der Eindruck des Sich-selbst-Tragens dieser Ordnung entsteht. Der Art. 79 Abs. 3 GG verbietet zwar die Änderung der Grundrechtsartikel und erklärt diese zu gewissermaßen ewigen Grundrechten, wodurch sie leicht mit „Werten“ verwechselt werden können (vgl. dazu Schmitt, Tyrannei der Werte, sowie aus systemtheoretischer Sicht Nichelmann, Form und Funktion). Allerdings läßt sich, wie Luhmann feststellt, zwar „die Änderung anderer Verfassungsartikel, nicht aber die Änderung des Art. 79 Abs. 3 GG verbieten“ (Luhmann, Grundrechte, S. 184). An genau dieser Stelle verweist Luhmann auf die geschichtliche Vorläufigkeit des Grundgesetzes als ganzem, die in Art. 146 GG festgehalten wurde und noch immer festgehalten wird, so daß es sich bei der fingierten Ewigkeit der Basis des Grundgesetzes „doch wohl […] um eine provisorische Ewigkeit handelt“ (Luhmann, Grundrechte, S. 184, Anm. 32). Der Versuch, eine Verfassung zu etablieren, müßte dieses Provisorium verwerfen und eine geschichtlich offene Situation mit ungewissem Ausgang herbeiführen. Aus der Perspektive der Theorie der funktional differenzierten Gesellschaft führte dies zu „Gefahren sozialer Regression, die man, wenn man sie sieht, nicht ernsthaft wollen kann“ (ebd., S. 184). 138 Vgl.
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In seiner Analyse des Entdifferenzierungsschutzes unterscheidet Luhmann den Katalog der Grundrechte in die beiden Gruppen Freiheit und Gleichheit.143 Freiheitsrechte formulieren grundsätzlich ein „Handlungsrecht des Bürgers“144. Die beiden wichtigsten Freiheitsrechte der Würde und Freiheit der Person ermöglichen die Individualisierung kommunikativer Erwartungen.145 Ebenfalls Freiheitsrechte, dienen die Grundrechte der Glaubens- und Meinungsfreiheit sowie der Vereinigungsund Versammlungsfreiheit der „Gewährung von Kommunikationsfreiheiten“146. Die genannten Grundrechte zur Gewährung von Kommunikationsfreiheiten sollen die Be- oder Verhinderung von Kommunikation durch geschichtlich oder politisch bedingte Sozial- und Gefühlsbindungen verhindern.147 Die zweite große Hauptgruppe bildet das Grundrecht auf Gleichheit vor dem Gesetz. Gleichheit ist als Grundrecht auf Gleichheit vor dem Gesetz die Grundlage der Rechtsstaatlichkeit. Als solche gibt sie nicht wie die Freiheitsrechte das individuelle Handeln und Kommunizieren aufseiten des Publikums frei, sondern bindet die Staatsverwaltung. Zwischen den Freiheitsrechten und dem Grundrecht auf Gleichheit stehen die politischen Rechte wie insbesondere das Wahlrecht.148 Wie Luhmann zeigt, wird das Wahlrecht funktional ebenfalls durch das Prinzip der Gleichheit (Gleichheit der Wahl) bestimmt. Dadurch nimmt das Prinzip der Gleichheit bezüglich des politischen Systems eine Doppelstellung ein. Über das Grundrecht der Gleichheit läßt sich so die Ausdifferenzierung der Politik als Funktionssystem der Gesellschaft sowie dessen interne Differenzierung beschreiben.149 Gleiches Wahlrecht und Gleichheitssatz differenzieren das politische 143 Vgl.
Luhmann, Grundrechte, S. 162. Luhmann, Grundrechte, S. 163. 145 Vgl. Luhmann, Grundrechte, S. 53 ff. 146 Luhmann, Grundrechte, S. 97. Luhmann zählt zu Glaubens- und Meinungs- sowie Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit „Sonderformen wie Pressefreiheit, Freiheit von Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre, Freiheit familiärer Erziehung, Koalitionsfreiheit, Parteibildungsfreiheit und in gewissen Hinsichten auch Berufsfreiheit“ (ebd., S. 98) hinzu. 147 Dies geschieht durch „Verzicht auf vorbeugende Kontrolle aller Kommunikationen“ (Luhmann, Grundrechte, S. 98), indem die Wahl von „Kommunikationsthemen und […] von Kommunikationspartnern“ (ebd.) in Form der Generalisierung bzw. Zivilisierung der kommunikativen Erwartungen (ebd., S. 103 ff.) freigegeben wird. 148 Diese nehmen „eine etwas abgesonderte Stellung unter den Grundrechten“ ein, „da sie erst mit dem Staate und in bezug auf ihn entstehen. Sie gelten daher auch nicht als prinzipiell unbegrenzt (und nur einschränkbar) wie die Freiheitsrechte“ (Luhmann, Grundrechte, S. 136). 149 „Gleiches Wahlrecht und Gleichheitssatz – oder wie man umfassender auch formulieren könnte: Mehrparteiendemokratie und Rechtsstaat – sind komplementäre, funktional äquivalente Institutionen des politischen Systems, deren Verschiedenheit durch den Unterschied zweier Systemgrenzen des politischen Systems vorgezeichnet ist. Diese Doppelstellung des Gleichheitsprinzips an beiden Grenzen des politischen Systems läßt sich durch eine weitere Überlegung noch verdeutlichen, wenn man die entsprechende Innendifferenzierung 144
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System in Politik (genauer: Parteiendemokratie) und rechtsstaatliche Verwaltung. Das politische System verfügt damit über zwei Grenzen. Zum einen wird durch das Verfahren der gleichen Wahl eine Zentralisierung politischer Macht150 erreicht und symbolische Legitimität beschafft, die als legitimierte Macht zur Anfertigung von Entscheidungen durch die Verwaltung eingesetzt werden.151 Die andere Grenze des politischen Systems entsteht durch die Produktion von Entscheidungen durch die Verwaltung. Verwaltungsentscheidungen müssen rechtsstaatlichen Ansprüchen genügen, das heißt nach Luhmann, sie müssen sich durch den Gleichheitssatz binden lassen. Damit reformuliert Luhmann in systemtheoretischen Begriffen das von Schmitt herausgestellte „unmittelbar notwendige konstruktive Grundprinzip des Gesetzgebungsstaates, in welchem eben nicht Menschen und Personen herrschen, sondern Normen gelten sollen“152, das heißt die klassische Unterscheidung von Exekutive und Legislative. Wie oben gezeigt, sind nach Schmitt Normativismus und Dezisionismus die beiden zusammengehörigen Momente des Rechtspositivismus, der wiederum an die konkrete Voraussetzung des Gesetzgebungsstaates des 19. Jahrhunderts gebunden ist.153 Luhmann nimmt diese Einsichten in seiner funktional-strukturellen Analyse auf, nach der die „Funktion des Gleichheitssatzes als Strukturprinzip staatlicher Entscheidungsordnung“154 zu bestimmen ist. Als ein solches funktionales Strukturprinzip ist „der Gleichheitssatz in der Tat die Quintessenz des positiven Rechts“155. Zugleich ist der Gleichheitssatz die Grundlage für die Ausdifferenzierung der Politik im engeren Sinn. Indem sich die Legitimation der Politik durch das Verfahren der Wahl und die Erzeugung kollektiv bindender Entscheidungen durch die Verwaltung differenzieren, grenzt sich das politische System aus der Gesellschaft aus und schließt sich intern. Regiert wird die Differenzierung in beiden Teilsystemen des politischen Systems durch das Prinzip der Gleichheit. Das Verfahren der Wahl antwortet auf das „Legitimitätsproblem“156, das sich mit der Ausdifferenzierung des politischen Systems stellt. Die politische Wahl produdieses Systems nach Politik und Verwaltung mit in den Blick zieht. […] Das politische System wird in ‚Politik‘ und ‚rechtsstaatliche Verwaltung‘ geteilt und der Informationsfluß an der Grenze zwischen Politik und Verwaltung juristisch kontrolliert, so daß unbegründbare Ungleichheiten, die im Prozeß der politischen Konsensbildung entstehen, wieder herausgefiltert werden.“ (Luhmann, Grundrechte, S. 175). 150 Vgl. Luhmann, Grundrechte, S. 174. 151 Es wird also nicht, wie etwa in Max Webers Modell des charismatischen Führers, die Verwaltung von der Politik bestimmt, sondern eher benutzt die Verwaltung die „Politik“. Später konzipiert Luhmann hier zwei gegenläufige Machtkreisläufe. 152 Schmitt, Legalität und Legitimität, S. 8. 153 Vgl. Schmitt, Über die drei Arten. 154 Luhmann, Grundrechte, S. 178. 155 Luhmann, Grundrechte, S. 178. 156 Luhmann, Grundrechte, S. 140.
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ziert nach Luhmann ein kommunikatives Symbol, das heißt die Legitimität der politischen Macht, wodurch das bereits erwähnte Erfordernis der pauschalen Akzeption politischer Entscheidungen stabilisiert wird.157 Durch das Verfahren der Wahl erhält der Wähler für seine Generalhinnahme politisch-rechtlicher Entscheidungen einen „Gegenwert“158, nämlich eine generalisierte „Verantwortungsentlastung“159 im sozialen Verkehr, die zu dessen Differenzierung beiträgt. Denn mit Blick auf die Person differenzieren sich durch die Allgemeinheit, Gleichheit und Freiheit der Wahl die Rolle des Wählers von den übrigen Rollen seiner Person, in denen diese politisch jeweils „Entscheidungsabnehmer“160 ist. Dadurch wird die Legitimitätserzeugung vollständig privatisiert und für den einzelnen folgenlos.161 Dies betrifft die Ausdifferenzierung des politischen Systems aus der Gesellschaft. Die interne Differenzierung, das heißt die Trennung von Politik und Verwaltung erfolgt dadurch, daß unter der primären Bedingung einer fundamentalen Entpolitisierung162 das Wahlverfahren eine pauschale Bereitschaft zur Abnahme von Entscheidungen herbeiführt, die durch die Verwaltung angefertigt werden.163 Während die Gleichheit der Wahl für die Versorgung des politischen Systems mit legitimer Macht (aber auch mit gewählten Personen in Ämtern) zuständig ist, bestimmt die unten noch zu diskutierende Gleichheit vor dem Gesetz (als Grundrecht) die Leistungserbringung des politischen Systems in Form kollektiv bindender Verwaltungsentscheidungen.164 Die in früheren politischen Verhältnissen vorausgesetzte politische Öffentlichkeit weicht somit nach Luhmann einer vollständigen Intransparenz sowohl der politischen Kommunikation als auch der Entscheidungsanfertigung in der Verwaltung.165 An die Stelle der Formulierung öffentlicher Interessen tritt die vor allem massenmediale Inszenierung von Öffentlichkeit in Form von Wahlkämpfen und Kampagnen.166 Der Kanalisierung der Willensbildung durch Parteien entspricht somit die „Ablenkung von Sachzielen auf substituierte Formalziele (Wahlgewinne)“167.
157
Luhmann, Grundrechte, S. 141 ff. Luhmann, Grundrechte, S. 145. 159 Luhmann, Grundrechte, S. 145. 160 Luhmann, Grundrechte, S. 150. 161 Entscheidend ist hierfür die Gleichheit der Wahl, welche die beiden anderen Prinzipien der Allgemeinheit des Zugangs und der Geheimhaltung der Stimmabgabe trägt: Gleichheit ist „ein Prinzip der Indifferenz und der Spezifikation von Gründen: Alle Unterschiede dürfen bzw. sollen ignoriert werden außer solchen, die sich in einem funktionsspezifischen Zusammenhang begründen lassen.“ (Luhmann, Legitimation, S. 159 f.). 162 Im oben mit Foucault und Offe herausgestellten Sinne. 163 Vgl. Luhmann, Grundrechte, S. 148. 164 Vgl. Luhmann, Grundrechte, S. 174 f. 165 Vgl. Luhmann, Grundrechte, S. 152. 166 Vgl. Luhmann, Grundrechte, S. 150 u. 157. 167 Luhmann, Grundrechte, S. 151. 158
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Damit kommen wir zur Bedeutung des Gleichheitssatzes als Grundlage der rechtsstaatlichen Bindung der Verwaltungsentscheidungen. Ein adäquates funktionales Verständnis des Gleichheitssatzes läßt sich nur durch eine reflexive „Umkehrung“168 der Perspektive erreichen. Der Gleichheitssatz richtet sich in letzter Hinsicht nicht auf eine womöglich zu erstrebende Gleichheit der dem Recht unterworfenen Betroffenen, sondern stellt eine Aufforderung an den Staat dar, für die faktisch mit fast jeder Entscheidung einhergehenden Ungleichheiten nach sachlich universalisierbaren und zugleich spezifischen Gründen für die Ungleichheit zu suchen. Dies zielt letztlich auf die Konsistenz der staatlichen Entscheidungen, die gleichwohl jeweils doch zu Ungleichheiten führen.169 Funktional betrachtet folgt daraus, daß der Gleichheitssatz „den Entscheidenden, vor allem den, der Entscheidungsprogramme entwirft, [bestimmt], die Konsistenz der Entscheidungen mit anderen Entscheidungen in ihren Gründen der Ungleichbehandlung zu wahren und seine persönliche Motivationsstruktur in dieser Rolle als auswechselbar zu behandeln“170.
Indem der Entscheidende gezwungen ist, vom Entscheidungsbetroffenen als Person abzusehen, muß er (der Entscheidende) zugleich auch „sich selbst als austauschbar voraussetzen“171. Das selbstbezügliche Prinzip der eigenen Austauschbarkeit bildet den Einheitsgesichtspunkt der Konsistenz der Entscheidungen. Die Verpflichtung auf Austauschbarkeit gilt für das Verhältnis „des Handelnden zum Behandelten“172, also des Entscheidenden zum Entscheidungsbetroffenen. Der Gleichheitssatz bindet zunächst also jeden einzelnen Beamten bzw. Verwaltungsangestellten.173 Doch bindet der Gleichheitssatz funktional gesehen nicht nur den 168
Luhmann, Grundrechte, S. 170. „Ein Unternehmer darf nicht deshalb bevorzugt Subventionen erhalten, weil er sich zu einer bestimmten Konfession bekennt; ein Schüler darf nicht deswegen versetzt werden, weil seine Eltern zur Honoratiorenschicht der Stadt zählen; aber ein Strafmandat darf höher ausfallen, weil der Kraftfahrer wohlhabend ist (weil die Empfindlichkeit der Buße von seinem Vermögensstand abhängt). Jede Orientierung an einer nicht einleuchtenden, nicht strukturell relevanten, sondern gleichsam zufälligen, nur in der Person sich ergebenden Rollenkombination ist eine Verletzung des Gleichheitssatzes.“ (Luhmann, Grundrechte, S. 179). 170 Luhmann, Grundrechte, S. 178. 171 Luhmann, Grundrechte, S. 177. 172 Luhmann, Grundrechte, S. 177. 173 Die Gründe der Ungleichbehandlung durch Verwaltungsentscheidungen dürfen nicht „in einer besonderen ‚Nähe‘ des Handelnden zum Behandelten liegen“, sondern müssen anderen Kriterien genügen. „Es darf sich nicht etwa um seine Verwandten, Freunde oder Feinde, Corpsbrüder, Stammesangehörige oder Konkurrenten handeln, sondern z. B. um Kraftfahrzeugbesitzer oder um Personen, die einer bestimmten Krankheit verdächtig sind. Die Diskriminierung darf ihren Leitgesichtspunkt also nicht im Entscheidenden selbst haben, seinen Gefühlen, Vorlieben, Zugehörigkeiten oder den entsprechenden Aversionen, denn das führt zu diffus-partikularistischer Orientierung. Sie soll ihre Gründe in der objektiven Situation haben, die nach unpersönlich-abstrakten selektiven Standards beurteilt 169
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einzelnen Entscheidenden, sondern die gesamte staatliche Ordnung.174 Der Gleichheitssatz ist somit die Grundlage der Rechtsstaatlichkeit der Staatsverwaltung. Daß die Funktion des Gleichheitssatzes darin besteht, daß er „unmittelbare, partikulare, persönliche Verflechtungen an der Grenze zwischen Staatsbürokratie und Publikum [unterbindet]“175, bezieht sich also nicht nur auf den einzelnen Beamten bzw. Verwaltungsangestellten, sondern gilt funktional gesehen für den gesamten durch ihn strukturierten Prozeß der Entscheidungsanfertigung. In diesem Sinne gilt die Austauschbarkeit für den Prozeß der Entscheidungsanfertigung als solchen und somit für die „Staatsbürokratie“ als ganze. Gälte diese Austauschbarkeit nicht, bestünde die Gefahr der Verschmelzung von Staat und Gesellschaft.176 Der Gleichheitssatz verhindert also wie alle anderen Grundrechte in spezifischer Weise die Entdifferenzierung der Gesellschaftsstruktur.177 Luhmann erarbeitet auf diese Weise eine soziologische Variante der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft.178 Die theoretischen Optionen für diese Unterscheidung lassen sich schematisch wie folgt darstellen. Im Rahmen der Staatslehre des 19. Jahrhunderts, vor allem bei Hegel, sind Staat als (konstitutionelle) Monarchie und (bürgerliche) Gesellschaft eindeutig voneinander abzugrenzen. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, zunächst noch unter den Bedingungen der Monarchie, stellte sich das Problem der zunehmenden Verflechtung oder Verschmelzung von Staat und Gesellschaft durch ausufernde staatliche Interventionen in die Gesellschaft einerseits und durch wachsende gesellschaftliche Ansprüche an den Staat andererseits. Problematisch wird dieser Zustand, wenn die Monarchie fällt. Vor diesem Hintergrund nennt etwa Carl Schmitt die zunehmende Ununterscheidbarkeit von Staat und Gesellschaft „Wohlfahrtsstaat“179 und führt – nicht zuletzt daraufhin – die Unterscheidung von Staat und Politik ein.180 Denn die Unterwird. Der Entscheidende darf nicht nur ‚Seinesgleichen‘ gleich behandeln […]“ (Luhmann, Grundrechte, S. 177). 174 Vgl. Luhmann, Grundrechte, S. 178. 175 Luhmann, Grundrechte, S. 178. 176 Vgl. Luhmann, Grundrechte, S. 176. 177 Im Fall des Gleichheitssatzes wird letztlich unterbunden, daß staatliches Handeln lediglich auf eine Wirkung von Fall zu Fall abzielt: „Der Staat würde, dächte er nur daran, mit seinen Entscheidungen unter Einsatz seiner politisch gebildeten Macht spezifische Wirkungen in der Gesellschaft zu erzielen, in seinem Wirken sich mit der Gesellschaft verschmelzen. Er ginge in der Befriedigung partikularer Wünsche und Interessen auf, von denen er sich nicht distanzieren könnte. Demgegenüber zwingt die Pflicht, jede Ungleichbehandlung zu begründen, ihn dazu, Abstand zu nehmen und eine besondere Art von Entscheidungsautonomie zu suchen. Er muß sein unmittelbares Entscheiden so disziplinieren, daß er konsequent bleiben kann. Und Konsequentsein distanziert.“ (Luhmann, Grundrechte, S. 175 f.). 178 Vgl. zu dieser Unterscheidung auch Luhmann, Staat und Gesellschaft. 179 Vgl. Schmitt, Hüter der Verfassung, S. 79. 180 Vgl. bes. Schmitt, Begriff des Politischen, S. 19.
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scheidung von Staat und Politik reagiert auf zwei Probleme: zum einen auf die sich vor allem im Ersten Weltkrieg abzeichnende Globalisierung der Politik, welche die Stellung des europäischen Staates dezentriert, sodaß Staat und Politik nicht mehr ohne weiteres ineins gesetzt werden können; zum anderen, damit eng zusammenhängend, reagiert die Unterscheidung von Staat und Politik auf die mangelnde Unterscheidbarkeit von Staat und Gesellschaft im Hinblick auf die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates nach dem Zusammenbruch des zweiten Reiches und dem Dominantwerden des Parlamentarismus und der Parteipolitik. Schmitt argumentiert damit nicht auf Hegelschen Grundlagen. Vielmehr befindet sich Schmitt in der Nähe zu Luhmanns Analyse des Wohlfahrtsstaates mit seiner Überforderung der Funktion durch die Leistung.181 Der Unterschied zu Luhmann ist, daß die Funktion der Politik im Sinne Luhmanns, die Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen, bei Schmitt nur die eine Seite des Problems darstellt. Denn das primäre Problem ist die von innen heraus zu sichernde politische Einheit als solche, systemtheoretisch formuliert: die Adressabilität des Staates im Bereich der Weltpolitik. Politische Einheit kommt einem Staat (bzw. einem Volk) dann zu, wenn er durch souveräne Entscheidung über den Ausnahme- bzw. Ernstfall zur Distanzierung von der Gesellschaft fähig ist.182 Die Unterscheidung von Freund und Feind ist keine gesellschaftliche Unterscheidung, sondern setzt den politischen Souverän durch eigene Entscheidung in ein Verhältnis zu anderen souveränen politischen Einheiten.183 Gelingt dies, ist zugleich die Unterscheidbarkeit von Staat und Gesellschaft 181
So auch Göbel, Erschöpfung, S. 279. Vgl. auch oben Kap. I. Vgl. z. B. Schmitt, Politische Theologie u. Schmitt, Begriff des Politischen. 183 Hier liegt der Unterschied zu Hegel. Es geht nicht schlicht um eine hierarchische Überordnung des Staates über die Gesellschaft bzw. deren Eingliederung in eine „Totalitätskonzeption des Politischen“ (Göbel, Erschöpfung, S. 281), sondern um das Problem der politischen Ersetzbarkeit, welches sich für Hegel so noch gar nicht stellen konnte, weil Hegel von der metaphysischen Einheit der Weltgeschichte aus dachte. Das Problem der politischen Ersetzbarkeit, also das Problem, sich überhaupt als politische Einheit gegenüber anderen solchen Einheiten behaupten zu können, hat zwar auch Konsequenzen für das Verhältnis zur Gesellschaft und ihren Teilsystemen, aber die „Einheitsbildung der Gesellschaft durch Politik“ (ebd., S. 282) bildet nicht die Stoßrichtung der Argumentation Schmitts. Das Kernproblem ist die politische Einheit des Volkes, nicht der Gesellschaft. Pointiert gesagt: Staatenkrieg ist kein mögliches Thema von Gesellschaftstheorie, Bürgerkrieg hingegen schon! Ebensowenig trifft es zu, daß Schmitt eine „monozentrische, auf das ‚Politische‘ fixierte Weltsicht“ (ebd., S. 285) pflegte. Repräsentationsfähigkeit auf der Grundlage von Feindschaft kann sich ganz offenkundig nicht auf den Feind erstrecken, denn dieser bestimmt sich ja gerade durch seine existenzielle Fremdartigkeit. Feindschaft führt nolens volens in pluriversale Verhältnisse, während es bei Luhmann nur ein einziges Funktionssystem der Politik der Weltgesellschaft gibt. Die Einheitsbildung der Gesellschaft, die Carl Schmitt Andreas Göbel zufolge anstrebte, liefe auf einen Zustand hinaus, den Schmitt so beschreibt: „Wo alles übereinstimmt, muß ohne Diskussion und ohne wesentliche Interessengegensätze die Entscheidung sich von selbst ergeben, weil Alle dasselbe wollen. Aber dieser Zustand ist nur als gedankliche Idealkonstruktion, nicht als geschichtliche und politische Wirklichkeit anzusehen. Die Gefahr einer radikalen Durchführung des Prinzips der Identität liegt darin, daß die wesentliche Voraussetzung – substanzielle Gleichartigkeit des Volkes – fingiert 182
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gesichert. Dies gilt, obwohl der Staat als rechtsstaatliche Verwaltung Teil der Gesellschaft ist; er gehört aber als politische Einheit nicht der Gesellschaft an.184 Auch die für Schmitts Verfassungslehre zentrale Kategorie der Repräsentation bezieht sich nicht auf die Gesellschaft, sondern auf „ein als politische Einheit existierendes Volk gegenüber dem natürlichen Dasein einer irgendwie zusammenlebenden Menschengruppe“185. Repräsentiert wird nach Schmitt nicht die Gesellschaft,186 was unmöglich wäre, sondern das Volk in seiner existenziellen politischen Einheit. Keine der beiden skizzierten Optionen, weder die Hegelsche noch die Schmittsche, steht Luhmann zur Verfügung, denn der von Luhmann betrachtete Staat bzw. das diesem zugehörige Volk befindet sich nicht in der Lage, sich von sich aus als politisch adressabel, das heißt als Souverän seiner Entscheidungen voraussetzen zu können, sondern es steht nur noch eine Entscheidungen anfertigende rechtsstaatliche Verwaltungseinheit im Blick, die sich nicht aus sich selbst heraus erhalten kann, sondern deren Bedingungen der Möglichkeit von außen gewährt und von innen pauschal akzeptiert werden. An die Stelle eines Volkes, das seinen geschichtlichen Willen durch einen Staat politisch behauptet, tritt das politische System der Gesellschaft. Damit entfällt zum einen das politische Problem der „Bestandserhaltung“, was die von Luhmann vollzogene Umkehrung der strukturell-funktionalen in die funktional-strukturelle Theorieauffassung ermöglicht. Zum anderen wird aber auch die von Luhmann für funktional notwendig erachtete Trennung von Staat und Gesellschaft prekär. Die Suche nach einem gesellschaftlichen Modus dieser „Trennfunktion“187 führt ihn zu seiner Interpretation des Gleichheitssatzes. Der Grund dafür liegt offenkundig in der nun zu konstatierenden Gleichartigkeit von Staat und Gesellschaft. Weil der fragliche Staat politisch nicht souverän, sondern Moment (des politischen Systems) der Gesellschaft ist, braucht er Gründe, um sich dennoch als ungleich von der (übrigen) Gesellschaft zu unterscheiden. Das Kriterium dafür liefert der Gleichheitssatz. Macht der Staat diesen zur Prämisse der Entwird. Das Maximum an Identität ist dann nicht wirklich vorhanden, wohl aber das Minimum an Regierung. Die Folge ist, daß ein Volk aus dem Zustand politischer Existenz in den unterpolitischen Zustand zurücksinkt, ein bloß kulturelles, bloß ökonomisches oder bloß vegetatives Daseins führt und einem fremden, politisch aktiven Volke dient.“ (Schmitt, Verfassungslehre, S. 215) Umgekehrt ist mit Bezug auf das Problem des Politischen aber auch die Verschärfung der Hierarchie keine Option: „Umgekehrt: ein Maximum von Repräsentation würde ein Maximum von Regierung bedeuten; solange es vorhanden ist, könnte es mit einem Minimum von Homogenität des Volkes auskommen und aus national, konfessionell oder klassenmäßig verschiedenartigen Menschengruppen eine politische Einheit bilden. Die Gefahr dieses Zustandes liegt darin, daß das Subjekt der politischen Einheit, das Volk, ignoriert wird und der Staat, der niemals etwas anderes ist als ein Volk im Zustand politischer Einheit, seinen Inhalt verliert. Das wäre dann ein Staat ohne Volk, eine res populi ohne populus“ (ebd.). 184 Vgl. Schmitt, Verfassungslehre. 185 Schmitt, Verfassungslehre, S. 210. 186 Anders Göbel, Erschöpfung, S. 276 f. 187 Luhmann, Grundrechte, S. 176.
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scheidungen über sein Handeln, indem er sich als austauschbar auffaßt, erreicht er eine Konsistenz seiner Entscheidungen, die ihn von der Gesellschaft distanziert.188 Dies bietet ein funktionales Äquivalent für eine Distanzierung von Staat und Gesellschaft, die diesmal nicht staatlich (Hegel), nicht politisch (Schmitt), sondern gesellschaftlich fundiert ist: damit erweist sich das Grundrecht auf Gleichheit vor dem Gesetz als funktionales Äquivalent der Aufrechterhaltung der Trennung von Staat und Gesellschaft auf dem Wege gesellschaftlicher Differenzierung. Hier ist an die Darlegungen zu Freyers Begriff der Gerechtigkeit zu erinnern.189 In Freyers Staatstheorie steht, so wurde festgestellt, der Begriff der Gerechtigkeit für die Frage danach, welches politische Handeln für das Hinausschieben der eigenen politischen Ersetzung geeignet ist. Das letzte Ziel des Staates, seine Gerechtigkeit, besteht nach Freyer (und gewissermaßen auch für Schmitt) darin zu verhindern, daß das dem Staat zugehörige Volk aus dem Bereich des Politischen verschwindet, das heißt ersetzt wird.190 Hier liegt also auch eine Austauschbarkeit vor, die jedoch in einer ganz anderen Ebene liegt als bei Luhmann, nämlich in dem Verhältnis eines Staatsvolks zu anderen Staaten und Völkern. Gerecht ist staatliches Handeln nach Freyer dann, wenn es das Volk und die Freiheit des Einzelnen vertritt und sich nicht lediglich durch partikulare gesellschaftliche Interessen leiten läßt. In dieser politischen Perspektive ist der Staat aus Sicht des Volkes keinesfalls austauschbar, sondern unersetzlich. Beide Konstruktionen bürgen also auf völlig unterschiedlichen Wegen dafür, die von Luhmann herausgehobene Gefahr der Entdifferenzierung von Staat und Gesellschaft, die mit der staatlichen Befriedigung bloß partikularer gesellschaftlicher Wünsche und Interessen eintreten würde, zu verhindern. Die Austauschbarkeit bei Luhmann bezieht sich allerdings nicht wie bei Freyer auf die Ersetzbarkeit im politisch-geschichtlichen Sinn, sondern auf die Beziehung zwischen dem Staat und den Individuen in Gestalt der „Grenze zwischen Staatsbürokratie und Publikum“191. Der Unterschied liegt tatsächlich, wie Luhmann sagt, in der Adresse. Sowohl die politisch zugespitzte Sichtweise Freyers als auch die entpolitisiertgesellschaftliche Luhmanns sind einseitig. Freyer überbetont die politische Gleichheit innerhalb eines Volkes, das anderen Völkern ungleich ist. Gerechtigkeit wird auf Selbsterhaltung eingeengt. Obwohl Luhmann betont, daß Grundrechte nicht mit Menschenrechten zu verwechseln sind, überstrapaziert er doch die gesellschaftliche Gleichheit, indem er aus dem Prinzip der Gleichheit einen Begriff der Gerechtigkeit entwickelt, der von einer unproblematischen Abnahmebereitschaft politischer Entscheidungen (Pauschalakzeption) ausgeht, die aber, wie oben am
188 Luhmann zeichnet hiermit insgesamt ein Negativabbild von Webers Modell des charismatischen Führers (vgl. Luhmann, Grundrechte, S. 157, bes. Anm. 43). 189 Siehe oben Kap. VII.2. 190 Vgl. ähnlich Schmitt, Begriff des Politischen, S. 50. 191 Luhmann, Grundrechte, S. 179.
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Problem der Exklusion gezeigt,192 nicht unter allen Umständen vorausgesetzt werden kann. Wie oben gezeigt, verfügt Freyer 1925 in Grundzügen über eine Theorie des Schutzes der Differenzierung der Kultursysteme.193 Im Gegensatz zu Luhmann läuft bei Freyer der Schutz der Autonomie der Teilgebiete der Kultur aber nicht über die dauernde Entpolitisierung, sondern über deren Politisierung zum Schutz vor ihrem Zerfall durch gesellschaftliche Radikalisierungstendenzen. Dieses Konzept wurde hier im Sinne Carl Schmitts als institutionelle Garantie von Freiheitsrechten zu verstehen versucht, welche neben die klassischen bürgerlichen Freiheitsrechte (vor allem persönliche Freiheit, Eigentum, Freiheit der Meinungsäußerung) treten. Institutionelle Garantien unterscheiden sich von individuellen Grundrechten dadurch, daß sie Handlungsfreiheiten nicht direkt an das Individuum adressieren, sondern vermittelt über den Schutz einer gegebenen Institution gewährleisten.194 Neben Recht, Religion und Wissenschaft rechnet Freyer auch die Freiheit der Kunst zu solchen politisch zu überformenden Freiheiten. Es fällt nun auf, daß bei Luhmann diese Freiheiten unterschiedslos unter die Kategorie der Ermöglichung von Kommunikationschancen fallen, die bei ihm individuell verstanden werden. Damit zeichnet sich bei Luhmann eine ähnliche Überdehnung ab, wie sie bei Freyer der Fall ist – nur in der entgegengesetzten Richtung. Luhmann vernachlässigt also jene Gefahr der Entdifferenzierung, die vonseiten der Gesellschaft ausgeht. Diese Möglichkeit ist von Helmut Schelsky als von sozialen Bewegungen verfolgte „Strategie der Systemüberwindung“ aufgewiesen worden, welche sich die von Luhmann übersehene institutionelle Dimension der Kommunikationschancen vor allem im Bereich der Sozialisation und Bildung, aber auch der Religion und der Massenmedien zur „Eroberung der Positionen der ‚Sinn-Vermittlung‘“195 und der Verbreitung von Informationen zunutze machen.196 Weil die Institutionen der SinnVermittlung der Gesellschaft gegenüber „eine gewisse, zumeist auf erkämpften individuellen Grundrechten (Forschungsfreiheit, Lehrfreiheit, Meinungsfreiheit, Glaubensfreiheit usw.) beruhende Autonomie besitzen“, ist es nun nach Schelsky immerhin denkbar,
192
Siehe oben Kap. I.1. Siehe oben Kap. VII.2. 194 Wie gesagt, zählt Schmitt darunter neben der kommunalen Selbstverwaltung und dem Berufsbeamtentum die Freiheit von Wissenschaft und Lehre an den Universitäten, die Unabhängigkeit der Richter sowie die Freiheit der Religion (vgl. Schmitt, Freiheitsrechte und institutionelle Garantien, S. 143 – 152). 195 Schelsky, Strategie der „Systemüberwindung“, S. 24. 196 Weil nach Schelsky „‚Information‘ […] das entscheidende ‚Produktionsmittel‘“ (Schelsky, Strategie der „Systemüberwindung“, S. 24) geworden ist, ist „die Chance, ‚Sinn‘, das heißt Informationen, Normen, Ideale, Orientierungen, vermeintliche Forschungsergebnisse, Nachrichten usw., ohne jede Kontrolle durch die Wirklichkeitserfahrungen der Adressaten, produzieren und vermitteln zu können“ (ebd.), auch politisch relevant. 193
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„diese Institutionen in den revolutionären und ‚systemüberwindenden‘ Griff zu bekommen, ohne daß das politische und wirtschaftlich-soziale Gesamtsystem dies wirksam verhindern kann, es sei denn, es hebe eben den für diese Institutionen im demokratischen Verständnis konstituierenden Grundwert der ‚Autonomie‘ auf“197.
Auf eben diese Möglichkeit reagiert Freyers Konzept der Politisierung, das jedoch gerade auf die Erhaltung der Autonomie der Teilsysteme zielt. Gründet man den Differenzierungsschutz aber ausschließlich auf den Schutz der Grundrechte, läßt sich die Möglichkeit zu einer „Strategie der Verwendung individueller Grundund Freiheitsrechte als Angriffsmittel gegen die legitimen Staatsaufgaben“, ihre „Umfunktionierung […] zu Kampfmitteln“ und letztlich möglicherweise auch eine „Verfassungsüberwindung“198, nicht verhindern.
197 198
Schelsky, Strategie der „Systemüberwindung“, S. 24. Schelsky, Strategie der „Systemüberwindung“, S. 29, 30 u. 32.
IX. Die geschichtliche Bestimmtheit sekundärer Systeme
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IX. Die geschichtliche Bestimmtheit sekundärer Systeme Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt Freyer in der Theorie des gegenwärtigen Zeitalters eine Theorie der geschichtlichen Situationen bzw. der Geschichtlichkeit des Handelns.1 Freyer kann hierzu auf seine frühen Arbeiten zurückgreifen, mit dem Unterschied, daß der starke politische Akzent der frühen Schriften im Versuch einer theoretischen Verallgemeinerung der geschichtlich-situativen Bindung des Handelns in den Hintergrund tritt. Der Begriff des sekundären Systems ist durch eine doppelte Bestimmung von Universalität und Geschichtlichkeit charakterisiert.2 Über das Verhältnis der Geschichte zu den sekundären Systemen stellt Freyer fest: „Durch den Pluralismus der geschichtlichen Welt3 greifen nun universale Bewegungen hindurch […]. Es gibt, anders gesagt, spezifisch weltgeschichtliche Situationen: Si1 Vgl.
Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. nimmt mit dem Begriff des sekundären Systems Überlegungen aus den frühen 20er Jahren wieder auf. In Prometheus heißt es dazu, daß an die Stelle der Natur nunmehr ein „sekundäres System“ (Freyer, Prometheus, S. 55) technischer Mittel getreten sei, das sich als „System der Zivilisation“ (ebd., S. 58) zu schließen droht. Technik wird hier klassisch als Mittel verstanden, das die Tendenz hat, sich dadurch scheinbar zu verselbständigen, daß die Mittel ihrer unbestimmten Möglichkeiten wegen gewollt werden. Ganz im Gegensatz zu einem Freyer gelegentlich unterstellten kulturkritischen Ansatz ist die hier geforderte Konsequenz, das sekundäre System aus Sicht der geschichtlich gewachsenen Ordnung bewußt als „einen Knick und Sprung, einen Entschluß zur Zivilisation“ (ebd., S. 55), zu bejahen. Gerade durch diese gemeinsame Bejahung erlange man dem sekundären System gegenüber wieder Handlungsspielraum. Freyer zielt auf eine „zweite Tat der Freiheit, die nach unserer bloßen Loslösung aus dem Gefüge der Natur ein neues Gefüge aus Geist baut, in dem der Mensch leben kann wie das Tier in seinem Walde lebt“ (ebd., S. 63). 3 Vgl. oben Kap. VII. Freyer hält nach wie vor an der oben dargelegten realistischen Interpretation eines politischen Begriffs der Weltgeschichte fest, sodaß auch in der Theorie des gegenwärtigen Zeitalters von einem Verschwinden des Politischen bzw. des Geschichtlichen keine Rede sein kann. Freyer geht weiterhin gegen Hegels Konzept des Weltgeistes davon aus, daß „sich die Einheit der Weltgeschichte aufgelöst“ (Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 249) habe und es nunmehr nicht mehr nur jeweils ein weltgeschichtlich führendes Volk – bzw., wie Parsons formulierte: eine „Führungsgesellschaft“, in seinem Fall: „die Vereinigten Staaten“ (Parsons, System moderner Gesellschaften, S. 110 f.) –, sondern einen gegenwärtigen „Plural von Völkern“ (Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 248) und gesellschaftlichen Ordnungen gebe, so daß „bald hier, bald da Geschichte anhebt“ (ebd., S. 249). Der Begriff des Volkes steht hier für eine Verschiedenheit geschichtlicher Herkünfte und semantischer Traditionen, die prinzipiell gleichrangig sind und quer zur Weltgesellschaftlichkeit der sekundären Systeme stehen. Freyer könnte sich für diese Auffassung auf Plessners Studie über Macht und menschliche Natur berufen. Auch Plessner lehnt die idealistische Lehre vom Weltgeist als einer „Mannigfaltigkeit nach einem Plan dramatischer Sukzession“ (Plessner, Macht und menschliche Natur, S. 90) von Völkern ab. Vielmehr handelt es sich bei der Weltgeschichte um die gegenwärtige und „ursprüngliche Mannigfaltigkeit der geschichtlich gewordenen Kulturen und ihrer Weltaspekte“ (ebd., S. 49). Während die Völker für die Partikularität der Kontinuität des jeweiligen geschichtlichen Erbes stehen, trägt nach Plessner ihre Feindschaft untereinander der Universalität 2 Freyer
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tuationen, in denen sich zwar die einzelnen Kraftzentren und Kraftfelder als ein Plural abzeichnen wie sonst auch, in denen sie aber gegeneinander aufgeschlossen sind; was in ihnen geschieht, läßt sich dann nicht mehr aus ihnen selbst, sondern nur aus der ganzen Situation begreifen.“4
Universalität bedeutet hier keinen Widerspruch zur geschichtlichen Bestimmtheit und Situativität, sondern die Universalität des sekundären Systems ist selbst eine bestimmte einmalige geschichtliche Situation. Die „Weltsituation des sekundären Systems“5 ist durch seine Universalität zu einer „Angelegenheit der ganzen Erde“6 geworden. Anhand der Unterscheidung der Begriffe der Geschichte und der Situation entwickelt Freyer eine Theorie des Verhältnisses der sekundären Systeme zur Geschichte. Geschichte ist die je gegenwärtige Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in welche die Handelnden gestellt sind.7 Als ganze ist sie für sie „Verhängnis“8 und somit unbestimmbar. Doch Geschichte vollzieht sich in von ihr geschaffenen Situationen:9 In Situationen als der „Grundfigur des geschichtlichen Geschehens“10 wird Geschichte bestimmbar. Diese Grundfigur ist triadisch gedacht: die Geschichte führt Situationen herauf, die für die Handelnden zur Herausforderung werden. Die Geschichte ist als Situation ein „Anruf“ oder „Anspruch“ zu „Antworten und Entscheidungen“11 der in ihr stehenden Handelnden. Die je gegenwärtig durch die Situation herausgeforderten Handelnden bezeichnet Freyer mit dem Begriff der Generation,12 der das formale Korrelat dieser neuen Situation Rechnung. Feindschaft heißt nach Plessner mit Blick auf „das nächste Säculum, sieht man auf den Orient und Afrika“, daß Europa durch Verzicht auf weitere Kolonialisierung „das Fremde zu seiner Selbstbestimmung nach eigener Willkür entbindet und mit ihm in einer neu errungenen Sphäre von Freiheit auf gleichem Niveau das fair play beginnt“ (ebd., S. 87). 4 Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 249. 5 Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 255. 6 Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 259. 7 Vgl. Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 215 ff. u. 234 ff. 8 Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 220. 9 Vgl. Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 62 ff., 156, 190, 201, 215 ff. u. 234 ff. 10 Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 215. 11 Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 235 u. 220. 12 Vgl. Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 237. Freyer bezieht sich auf Heidegger, Sein und Zeit, S. 384 f., verfügt aber bereits 1918 über einen ähnlichen, an der Zukunft orientierten Begriff der Generation, wie ihn auch Heidegger auf fundamentalontologischen Grundlagen ausarbeitet. Freyer sucht „einen neuen Begriff der Erde“, indem er die existenzielle „Erde der Generationen neben die Erde der Ideen“ (Freyer, Antäus, S. 42) setzt: „Uns aber bleibt die Generation vollgültige freie und schöpferische Kraft, nur zersplitterte. Die Zukunft ist leer, und es ist unsre Sache, sie zu füllen.“ (ebd.) Heidegger bestimmt den Begriff der Generation im Zusammenhang mit dem des Geschicks: „Wenn aber das schicksalshafte Dasein als In-der-Welt-sein wesenhaft im Mitsein mit Anderen existiert, ist sein Geschehen ein Mitgeschehen und bestimmt als Geschick. Damit bezeichnen wir
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einer durch Entscheidungen bestimmbaren Zukunft ist. Dazu muß das Handeln sich zunächst auf die Situation „einlassen, sonst begegnet man ihr nicht einmal, sondern geht an ihr vorbei“13. Allerdings geht es bei diesem Sich-Einlassen auf die Situation nicht darum, in ihr aufzugehen und sich von ihren Voraussetzungen zu isolieren, sondern darum, die Herausforderung als Handlungsprämisse zu übernehmen und „aus einer gegebenen […] eine ‚eingenommene‘ Situation“14 zu machen. Denn erst damit wird aus der Geschichte als unbestimmbarem Verhängnis eine „vorausgeworfen[e]“15 Zukunft, die der Handlungsgegenwart „gegenübergestellt ist“16 und zu der man sich verhalten kann. Zu den geschichtlichen Möglichkeiten des Handelns zählt nach Freyer auch der „Entschluß zur Voraussetzungslosigkeit“17. Die Änderung der Lage erscheint dann als Teil einer alternativlosen Entwicklung – und damit nicht mehr als Entscheidung. Der Verzicht auf positive geschichtliche Freiheit kann im Bereich sekundärer Systeme zur Handlungsprämisse werden.18 das Geschehen der Gemeinschaft, des Volkes. Das Geschick setzt sich nicht aus einzelnen Schicksalen zusammen, sowenig als das Miteinandersein als ein Zusammenvorkommen mehrerer Subjekte begriffen werden kann. Im Miteinandersein in derselben Welt in der Entschlossenheit für bestimmte Möglichkeiten sind die Schicksale im vorhinein schon geleitet. In der Mitteilung und im Kampf wird die Macht des Geschickes erst frei. Das schicksalhafte Geschick des Daseins in und mit seiner ‚Generation‘ macht das volle, eigentliche Geschehen des Daseins aus.“ (Heidegger, Sein und Zeit, S. 384 f.) Zum Geschick wird das Miteinandersein, wenn es seine Geworfenheit übernimmt (Gehlen würde sagen: bejaht). Dies wird nach Heidegger nur durch einen Zukunftsbezug möglich, den er das „Vorlaufen zum Tode“ nennt: „Nur Seiendes, das wesenhaft in seinem Sein zukünftig ist, so daß es frei für seinen Tod an ihm zerschellend auf sein faktisches Da sich zurückwerfen lassen kann, das heißt nur Seiendes, das als zukünftiges gleichursprünglich gewesend ist, kann, sich selbst die ererbte Möglichkeit überliefernd, die eigene Geworfenheit übernehmen und augenblicklich sein für ,seine Zeit‘. Nur eigentliche Zeitlichkeit, die zugleich endlich ist, macht so etwas wie Schicksal, das heißt eigentliche Geschichtlichkeit möglich.“ (ebd., S. 385) Im Anschluß an Heidegger wird der Begriff der Generation von Karl Mannheim schließlich ins Wissenssoziologische gewendet und zu einem Gegenbegriff des Begriffs der Klasse. Sowohl für den Begriff der Klasse als auch der Generation ist nach Mannheim, Das Problem der Generationen, S. 542 u. 517, deren „Lagerung“ entscheidend: „Klassenlage und Generationenlage (Zugehörigkeit zueinander verwandter Geburtenjahrgänge) haben also das Gemeinsame, daß sie, als Folge der spezifischen Lagerung der durch sie betroffenen Individuen im gesellschaftlichhistorischen Lebensraume, diese Individuen auf einen bestimmten Spielraum möglichen Geschehens beschränken und damit eine spezifische Art des Erlebens und Denkens, eine spezifische Art des Eingreifens in den historischen Prozeß nahelegen.“ (Ebd., S. 528). 13 Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 234. 14 Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 215. 15 Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 215. 16 Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 236. 17 Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 181. Vgl. auch ebd., S. 171 u. 174. 18 Dies hat eine erhöhte Anpassungsfähigkeit an die Bedingungen des sekundären Systems zur Folge (vgl. Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 238).
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So wie sich der geschichtliche Bezug minimalisiert, wächst der Zukunftshorizont der Situation. Die Gegenwart dieser Zukunft faßt sich dann nicht mehr auch als Herkunft, sondern nur noch als Funktion der Zukunft. Mit einer Unterscheidung von Reinhart Koselleck kann man sagen, daß sich dann das Verhältnis von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont umkehrt.19 Freyer denkt somit den Grenzfall der Modernität, daß Erfahrungsraum und Erwartungshorizont nicht nur, wie es Koselleck mit Blick auf die begriffsgeschichtliche Sattelzeit im Ausgang des 18. Jahrhunderts zeigen will, auseinandertreten, sondern „wieder dazu [tendieren], einem gemeinsamen Raum anzugehören – diesmal unter Federführung der Erwartung“20. Die Gegenwart bestimmt sich nicht mehr auch durch die vergangenen Erfahrungen, sondern allein aus dem zukünftigen Erwartungshorizont. Dies ist das Kennzeichen der Utopie, wie sie in den 30er Jahren durch Freyers Planungstheorie herausgearbeitet wird. Freyers Begriff der Planung hat das Verhältnis geplanter sekundärer Systeme zu einer vorausgesetzten geschichtlichen Lage zum Thema. Freyers Planungsbegriff ist ein kritischer Begriff, weil er die Grenzen der Planbarkeit gegenüber der Grenzenlosigkeit und den überzogenen Planungsansprüchen der Utopie bestimmt. Dazu werden einerseits Technik und Planung sowie andererseits Planung und Herrschaft unterschieden. Planung verweist zum einen auf die Vorgängigkeit politischer Grenzen, die gerade nicht geplant werden können.21 Zum anderen wird der Begriff der Technik als Verknüpfung gegebener Wirkungsmöglichkeiten aus der Unterscheidung von der Natur gelöst. Technik hat ihren eigentlichen Bezugspunkt nicht wie in der Marxschen und anthropologischen Auffassung in der Beherrschung der Natur,22 sondern in der Gestaltung der Bedingungen der Gesellschaft.23 19 Vgl.
Koselleck, „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“. Geulen, Plädoyer, S. 3. Christian Geulens Überlegungen sind instruktiv, jedoch kann seiner These, daß „der größte Teil des [20.] Jahrhunderts – chronologisch wie thematisch – […] heute nicht mehr als unmittelbare Gegenwartsgeschichte wahrgenommen [wird]“ (ebd., S. 1), nicht zugestimmt werden. Für die Ablehnung dieser überzogenen These Geulens liefert Freyers Gesellschaftstheorie einen triftigen Grund. Wenn keine nachvollziehbare Verbindung des 20. Jahrhunderts zur Gegenwart mehr bestünde, dann wären Freyers Überlegungen unmöglich gewesen, denn er beschreibt ja jenen von Geulen erst für das 21. Jahrhundert diagnostizierten Zustand bereits anfangs des 20. Jahrhunderts. 21 Freyer schreibt: „das Wesen der Herrschaft liegt fraglos jenseits der Sphäre der Planung. Herrschaft zu begründen oder zu führen ist kein möglicher Gegenstand des Planens“ (Freyer, Herrschaft und Planung, S. 39), sondern umgekehrt: „die Herrschaft setzt den Raum, sie schafft den Status, für den allererst geplant werden kann“ (ebd., S. 40). Denn die Zustimmung der Beherrschten zur Herrschaft, die Legitimität im Sinne Webers, ist nicht erzwingbar. Ohne diese Zustimmung aber ist Planung unmöglich. Karl Mannheim kritisiert Freyer zu Unrecht, wenn er suggeriert, daß sich Freyer angeblich darauf „verläßt […]: wenn nur einmal die Macht da ist, wird sich der Plan schon von selbst einstellen“ (Mannheim, Mensch und Gesellschaft, S. 155, Anm. 2). Mannheim unterläßt es, zwischen Macht, Herrschaft und Planung zu unterscheiden. 22 Vgl. dazu Halfmann, Die gesellschaftliche „Natur“ der Technik, S. 63 ff., 77 ff. Freyer, Zur Philosophie der Technik, S. 13, lehnt die Theorie der Organprojektion ausdrücklich ab. 20
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Gegen den Begriff der Technik als System von Mitteln zu bestimmten Zwecken ist Technik hier als institutionelle Struktur erfaßt.24 Freyer bestimmt damit den Begriff der Technik nicht mehr in der Unterscheidung von der Natur, sondern in Unterscheidung zu einer Kultur bzw. Gesellschaft.25 Das Verhältnis von Technik und Gesellschaft ist nach Freyer das Thema von Planung. Weil es nicht ausreicht, funktionierende Techniken zu konstruieren, sondern diese immer auch in die gesellschaftliche bzw. geschichtliche Wirklichkeit implementiert werden müssen,26 gibt es nach Freyer eine „innere Zusammengehörigkeit der beiden Sachen und der 23
23 Vgl. Freyer, Herrschaft und Planung, S. 20. Freyers Theorie der Technik bzw. des Gerätes reformuliert die Unterscheidung von Zweck und Mittel als objektiven Sinnzusammenhang, der sich in einem Schema bzw. einem Material fixieren läßt. Dieser Gedanke bildet auch die Grundlage für die reflexionstheoretische Entfaltung des zweckrationalen Handlungsbegriffs, die Gehlen in der Theorie der Willensfreiheit vornimmt, wo er das rationale Wahlhandeln vom Handeln als Entscheidung unterscheidet. Nach Gehlen ist das zweckrationale Handeln ein Zusammenhang der einfachen, das heißt objektiv orientierten Reflexion, weil das zweckrationale Wahlhandeln auf einer Verknüpfung vorgestellter Handlungsziele mit ebenso vorgestellten Handlungsmitteln ist, deren Einheit die Vorstellung der Bedürfnisbefriedung bildet (vgl. oben Kap. V.4.). Mit dem Vergleich zwischen jemandem, der mit seinem Arm die Richtung des Weges anzeigt und einem Wegweiser verdeutlicht Freyer, was gemeint ist. Aber auch eine Trinkschale oder elektrisches Licht stellen die objektivierte Verknüpfung einer Ursache mit einer Wirkung dar. Eine kausale Verknüpfung wird von der aktuellen Handlung abgelöst. Zieht man zur Erläuterung Luhmanns Bestimmung des zweckrationalen Handelns als „Bewirken von Wirkungen“ (Luhmann, Zweckbegriff, S. 24 ff.) heran, dann kann Freyers Absicht mit späteren systemtheoretischen Technikbegriffen verständlich gemacht werden. Ähnlich wie der systemtheoretische Begriff der Technik als einer Form im Medium lose gekoppelter kausaler Möglichkeiten (vgl. oben Kap. I.3.b).) wird hier unter dem Begriff des Gerätes der Sachverhalt bezeichnet, daß aus dem Bereich möglicher Verknüpfungen von Handlungsursachen und -wirkungen eine bestimmte ausgewählt und in eine Installation eingeschlossen wird: es wird also aus dem „Handlungszusammenhang […] ein einzelnes Teilstück […] zur Form objektiviert, es wird […] aus der bloßen Aktion abgelöst und […] verfestigt“ (Freyer, Theorie des objektiven Geistes, S. 61). Damit ist die Möglichkeit der Dekontextualisierung des Gerätes verbunden. Dies bezeichnet Freyer mit dem Begriff der Form. Eine Form ist nicht an ihren Entstehungskontext gebunden, sondern kann auch in anderen Kontexten angewendet werden. Gleichwohl sind Geräte immer auf „hinzutretende Akte der Verwendung“ (ebd., S. 61) angewiesen. Technik kann sich nicht in sich schließen, sondern daß „es verwendbar, und zwar in einer bestimmten Richtung verwendbar ist, das ist dem Gerät nicht […] zufällig und unwesentlich, sondern es liegt in der Gesamtstruktur seines Bedeutungsgehalts“ (ebd.). 24 „Wie jede Handlung, so ist auch das gesellschaftliche Handeln einer Menschengruppe mitsamt der Technik, deren es sich bedient, eine Ganzheit und muß als solche aufgefaßt werden.“ (Freyer, Zur Philosophie der Technik, S. 12). 25 Vgl. Freyer, Zur Philosophie der Technik, S. 13. Zur Problematik, ob der Begriff der Technik über die Differenz zur Natur oder zur Gesellschaft bestimmt werden sollte, vgl. Halfmann, Die gesellschaftliche „Natur“ der Technik, S. 109 ff. 26 Vgl. zu diesem allgemeinen Problem aus systemtheoretischer Sicht Halfmann, Implementation.
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beiden Haltungen Technik und Planung“27. Während bei der ingenieursmäßigen Konstruktion der Technik im Prinzip jedes Mal die vollständige Unendlichkeit möglicher kausaler Verknüpfungen zur Verfügung steht, gibt es immer nur eine konkrete geschichtliche bzw. gesellschaftliche Ausgangslage.28 Im Unterschied zum technischen Konstruieren setzt politische Planung in den von Freyer herangezogenen Beispielen der Verkehrs-, Siedlungs- und Wirtschaftsplanung das „konstruktive Schema des Plans“ zwar unter der „Fiktion, der vorgegebene Zustand sei so etwas wie ein Material, das erst im Plan einer konstruktiven Gestaltung unterworfen werde“, an, jedoch „ist der vorgegebene Zustand, wie jeder geschichtliche Zustand, weiterwirkendes Erbe, dem nur durch aktive Umstellungen und Einschaltungen eine neue Gestalt seiner selbst entlockt wird“29. Diese Umstellungen ziehen bestimmte, in der gegebenen Lage vorhandene Strukturen und Entwicklungslinien zusammen. Es wird „die Richtung bestimmt, in der die Gegenwart geschichtlich weitergetrieben werden soll“ und „aus zusammenhanglosen Ansätzen ein sinnvolle Ordnung gemacht“30 durch „Einschaltung geeigneter Zwischensysteme“31. Dem geschichtlichen Zustand wird – wie Freyer sagt – eine neue Gestalt „entlockt“, weil dies – anders als im Bereich der Technik, die es mit bloßer Materie zu tun hat – der Legitimität, das heißt der Zustimmung und dem aktiven Mitvollzug durch die Planungsbetroffenen bedarf.32 Politische 27 Freyer, Herrschaft und Planung, S. 22. Weiter heißt es: „Das Entwerfen eines Plans ist ein Erfinden gleichsam auf höherer Stufe. Wenn die immanente Utopie der Technik die Transformierbarkeit aller Stoffe und Kräfte ineinander ist, so ist die immanente Utopie der Planung die Transformierbarkeit aller historischen Lagen ineinander. In beiden Fällen werden die Elemente der Wirklichkeit nicht innerlich verwandelt, zum Beispiel nicht gebildet, nicht aus sich oder zu sich selbst entwickelt, sie werden nur durch Einschaltung geeigneter Zwischensysteme neu aufeinander bezogen.“ (Ebd.). 28 „Der Plan […] wird einer bestimmten geschichtlichen Lage übergeworfen. […] Die Natur liefert immer eine unendlich große Vielzahl von Ausgangslagen für den technischen Eingriff […]. Die Geschichte aber liefert zu jeder Zeit nur eine bestimmte Ausgangslage. Und in das Werk der Planung geht diese geschichtliche Lage keineswegs nur als Baustoff ein, sondern als Gegenwart, der eine bestimmte Zukunft entrungen wird.“ (Freyer, Herrschaft und Planung, S. 22). 29 Freyer, Herrschaft und Planung, S. 23. Das heißt mit Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit: „Das technische Gebilde steht im Plan, wie das Wort in der Aussage oder der Posten in der Rechnung steht. Es steht im Plan, das heißt: es wird erst in der Synthesis des Plans zum konkreten Ding, so wie der Posten erst in der Synthesis der Rechnung aus abstrakter Zahl zu konkreter Größe wird.“ (Ebd., S. 20). 30 Freyer, Herrschaft und Planung, S. 23. 31 Freyer, Herrschaft und Planung, S. 22. 32 „Der planende Wille schaltet sich prinzipiell nicht anders in den geschichtlichen Gang ein, als sich überhaupt eine geschichtliche Aktion zwischen Gegenwart und Zukunft einschaltet.“ (Freyer, Herrschaft und Planung, S. 23) Dies ist der Grund, weshalb Planung Herrschaft, nicht aber umgekehrt Herrschaft Planung voraussetzt. Mit Blick auf das Problem der Planung ist „Herrschaft […] ein Gestaltungsprinzip, das wesentlich dezentralisiert arbeitet […]. Das Prinzip Herrschaft wirkt nicht von einem Punkt des Volkskörpers bloß auf die an-
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Planung liefert eine Konstruktionsanweisung für die Gestalt des konkreten Handelns, für seine Vereinzelung zu konkreten Handlungsstellen.33 Freyers Begriff der Planung erweist sich so als Verhältnis des geplanten sekundären Systems zur konkreten geschichtlichen Lage.34 Die ungeplanten geschichtderen hin, sondern es wirkt notwendig von allen her auf die Mitte hin. Die Zustimmungen, die dem Herrschaftsanspruch begegnen, die aktiven Kräfte, die sich zum Herrschaftsgebilde bekennen, die Bereitschaft zu Leistung und Opfer, die es in den Menschen bewirkt und durch die es sie über ihr natürliches Dasein steigert – die sind der Grund seines Bestands. Fachtechnisch formuliert: Herrschaft sucht wesentlich Legitimität, und ihr Bestand beruht auf der Tragfähigkeit der Legitimitätsgrundlage, die sie vorfindet oder die sie zu schaffen vermag.“ (Ebd., S. 38). 33 Bei Freyer, Zur Ethik des Berufes, wird diese Struktur von Handlungsstellen in erster Linie als System von Berufen gefaßt. Indem durch Planung die Struktur der Berufe auf die soziale Struktur abgebildet wird, hat der Begriff der Planung einen sozialistischen Einschlag (vgl. Freyer, Der Staat, S. 174 ff.), wobei aber „Sozialismus“ mit Blick auf die Wirtschaft nicht ein „System inhaltlicher Maßnahmen“, eine Planwirtschaft, meint, sondern auf den „Sinn der Wirtschaft im Staat“ (ebd., S. 176) zielt. Man kann dies in Richtung einer institutionell einheitlichen, aber dezentralen Ordnung der Wirtschaft im Staat verstehen. Im internationalen Vergleich ist (neben Japan) vor allem die deutsche Wirtschaft sogar noch nach 1949 für ihre korporatistischen Koordinierungsstrukturen und Orientierungsmuster bekannt, die sich auf so unterschiedliche Bereiche wie Geldpolitik, Unternehmensfinanzierung, die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die interne Führungsstruktur von Wirtschaftsorganisationen, die Konkurrenz der Unternehmen untereinander oder die besondere Form der Ausbildungs- und Berufsstruktur beziehen, und die man aufgrund ihrer Spezifik auch als „deutschen“ oder „rheinischen“ Kapitalismus“ bezeichnet hat (vgl. z. B. Streeck, Deutscher Kapitalismus u. Windolf, Die Zukunft des rheinischen Kapitalismus; zur Einordnung der Forschungen über die „Varieties of capitalism“ in einen institutionentheoretischen Begriff des Sozialstaats siehe Lessenich, Dynamischer Immobilismus, S. 63 ff., zur „Abwicklung der Deutschland-AG“ siehe die Studien in Streeck/Höpner, Alle Macht dem Markt?, sowie Beyer, Deutschland AG a. D. u. Beyer, Globalisierung). Dieses strukturelle Arrangement hatte den allgemeinen Sinn, das Risiko von Organisationen, mit Bezug auf das Wirtschaftssystem ersetzt zu werden (Exklusion), dadurch politisch zu reduzieren, daß aus dem gedachten Bereich einer globalen Gesamtwirtschaft ein begrenzter und damit planbarer Zusammenhang herausgehoben wird. Diese Strukturen stellen aus weltgesellschaftlicher Perspektive, etwa im Sinne der liberalen world-polity-Struktur einen Fremdkörper dar. Meyer/Jepperson, Die „Akteure“ der modernen Gesellschaft, S. 67, zeigen ihr Erstaunen darüber, daß „noch heute“, das heißt im Jahr 2000, „allen standardisierenden Einflüssen zum Trotz […] die stärker korporatistischen nationalen Varianten des modernen Systems (Deutschland, Skandinavien, das verwestlichte Japan)“ die Handlungsträgerschaft stärker „in der sozialen Gemeinschaft“ verorten statt nur in Individuen und Organisationen. 34 Dieser Begriff des sekundären Systems als eines geplanten Systems findet sich im Prinzip bereits bei Freyer, Der Staat, S. 168, wo in allgemeinerer Weise auf die politische Wendung der Kultur in der Einheit einer ‚Tat‘ Bezug genommen wird: „Der Formungsprozeß der politischen Wendung ist wesentlich von sekundärer, übergreifender Art“, für die „es wesentlich [ist], nur autonome Strukturen als seine Glieder in sich aufnehmen zu können“. An anderer Stelle heißt es entsprechend: „Gültige Formen der Kultur produzieren ist etwas anderes als ihnen einen Geltungsraum sichern. Einen Kulturgehalt geschichtlich verwirklichen heißt nicht ihn schaffen, sondern ihn verwalten. Die Verwaltung eines Guts setzt
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lichen Ausgangslagen bezeichnet Freyer auch als die „primären Ordnungen“35. Die Planung transformiert einen Teil der primären geschichtlichen Ordnung in ein sekundäres, geplantes System.36 Das heißt, daß die Rückbindung an die geschichtliche Ausgangslage erhalten bleibt und die Reichweite des Planbaren prinzipiell begrenzt ist. Planung ist in diesem Sinne daran beteiligt, „das Außen (keineswegs als ein Gleichgültiges, aber als das andere) gegen den Binnenraum seiner Verwirklichung“37 abzugrenzen. Die Unterscheidung von „Freund und Feind im politischen Sinn des Worts“38 entspricht hier also der bestimmungslogischen Funktion, den Rückbezug des Plans auf das Problem der Verwirklichung wachzuhalten: denn für keine geschichtliche Lage gibt es nur eine Möglichkeit ihrer Weiterführung, sondern immer mehrere, einander widerstreitende Pläne. Freyers Begriff der Planung hat gerade die kritische Funktion, daß die Verbindung zum geschichtlich gegebenen „Gebilde auf gewachsenem Grunde“39 gewahrt wird: „Die geschichtliche Gegenwart wird in der Planung nicht vernichtet, sondern […] geordnet“, das heißt „in neuer Gestalt festgelegt“40. Der Plan setzt in diesem Sinne politische Grenzen als Grenzen der Machbarkeit voraus.41 Die zurückzuweisende Idee unbegrenzter Planbarkeit nennt Freyer eine Utopie. Eine Utopie ist die Idee eines Plans, der „eine so große Weite und Endgültigkeit“42 hat, daß die notwendige Voraussetzung politischer Grenzen der Planung aus dem Blick gerät und das bestimmende Moment „geschichtlicher Entscheidung aus offener Situation heraus […] ausgeschaltet“43 wird. Das heißt, der von dem utopischen Plan beanspruchte zeitliche Ausgriff in die Zukunft ist unbegrenzt, wohingegen die geschichtlich-situativen Ausgangsbedingungen verschwinden. Die Utopie muß daher aus einer politischen Perspektive als ein Gegen-Politisches erscheinen. Sie voraus, daß das Gut zuvor geschaffen wurde, und bedeutet lediglich: daß für die Bedingungen seines Bestands und seiner Wirksamkeit gesorgt werde.“ (Freyer, Preußentum, S. 120). 35 Freyer, Gesellschaft und Kultur, S. 531. 36 Vgl. Freyer, Herrschaft und Planung, S. 23. 37 Freyer, Herrschaft und Planung, S. 24. 38 Freyer, Herrschaft und Planung, S. 24. 39 Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 86. 40 Freyer, Herrschaft und Planung, S. 22. 41 Ulrich Bröckling, Alle planen, S. 68, ordnet Freyers Planungsbegriff daher verkehrt ein: „Totale Planung bedeute folglich totale Herrschaft. Wenn der Plan in seiner Rationalität über allen politischen Machtspielen stehen sollte, so das bereits von Hans Freyer in den 30er Jahren vertretene Argument, dann waren alle Machtmittel gerechtfertigt, die ihm praktische Geltung verschafften – eine Volte von der Verabschiedung des Politischen zu seiner Restitution im Namen der Planrationalität […]“. Gerade dies würde nach Freyer jedoch das Ende des Politischen und den „Irrweg in die Utopie“ (Freyer, Herrschaft und Planung, S. 25 ff.) bedeuten, nicht aber dem Sinn politischer Planung entsprechen, denn: „Nicht die Planenden herrschen (das war der Irrweg der Utopie), sondern die Herrschenden planen.“ (Ebd., S. 31). 42 Freyer, Herrschaft und Planung, S. 25. 43 Freyer, Herrschaft und Planung, S. 25.
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erscheint dann als Versuch der „Verwandlung der Geschichte in einen Sachzusammenhang“ bzw. der „Eskamotierung des Politischen“44. Das heißt, in der Utopie werden die technische Konstruktion und die geschichtliche Wirklichkeit so aufeinander projiziert (Freyer sagt: „durch ein Koinzidenzw under aufeinandergezaubert“), daß der Plan „sich im Grunde selber [verwirklicht]“45. Das „Problem der Verwirklichung“, das sich aus dem Widerstand der in der gegenwärtigen Situation Handelnden ergibt, die mit dem Anspruch des Plans konfrontiert werden, „schrumpft auf ein Minimum zusammen“46. Eine verwirklichte Utopie würde das Ende der Geschichte bedeuten.47 Dies kann nach Freyers früher Planungstheorie auf zwei Weisen geschehen. Das politische Problem der Verwirklichung kann sich zum einen ins Extrem ultimativer Gewalt zuspitzen, „dann tritt an dieser Stelle typischerweise der Gedanke der letzten Aktion, der letzten Revolution, der letzten Diktatur, der letzten Machtentfaltung und Gewaltanwendung auf, – ein Gedanke, der genau an die Seite des letzten Krieges und der letzten Herrschaft gehört. Das Problem der Verwirklichung wird dann nicht unterschlagen, aber es wird forciert – und dadurch unterschlagen. Der politische Einschlag im Plan wird nicht übersehen, aber er wird auf einen Punkt zusammengezogen und soll dadurch unschädlich gemacht werden.“48
Die Minimalisierung des Verwirklichungsproblems kann sich zum anderen auch durch die Entscheidung der Planungsbetroffenen selbst vollziehen. Offenkundig ist es diese Selbstminimalisierung, die Freyer in der Theorie des gegenwärtigen Zeitalters in ihren Konsequenzen im Strukturbegriff des sekundären Systems zu fassen versucht. Zur Konkretisierung dieser Möglichkeit gibt Freyer in der Weltgeschichte Europas einige Andeutungen. So werde in Amerika unter den Bedingung der scheinbaren Grenzenlosigkeit des Raumes49 und der modernen
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Freyer, Ethische Normen und Politik, S. 52 u. 53. Freyer, Herrschaft und Planung, S. 27. 46 Freyer, Herrschaft und Planung, S. 27. 47 „Die Formel für diese Lösung, die zugleich die Grundformel alles utopistischen Denkens ist, besteht in folgendem. Der Plan – und zwar ein bestimmter Plan, meist ein solcher, der die ganze Erde übergreift, damit das Politische auch gründlich ausgeschaltet sei – sei auf Grund seines Gehalts nicht mehr willkürliche Setzung, sondern Notwendigkeit, nicht mehr historisches Faktum, sondern übergeschichtliche Wahrheit, er bewirke nicht mehr Geschichte, sondern er beende die Geschichte.“ (Freyer, Herrschaft und Planung, S. 25). 48 Freyer, Herrschaft und Planung, S. 27. Freyer nennt im Jahr 1933 die russische Revolution und ihre Folgen als Beispiel. Die Sowjetunion bot in den 20er und 30er Jahren drastisches Anschauungsmaterial für eine extrem forcierte Planung eines geschichtlich gegebenen Zustandes mit dem weltrevolutionären Ziel der Aufhebung aller bestehenden Grenzen. 49 „Die Weite des Raumes hat hier nicht auflösend, sondern geradezu konstituierend gewirkt, damit allerdings auch von Europa weggeführt und ein eigenmächtiges geschichtliches Wesen, eine Gegenmacht zum Abendland von eigner Vitalität, eignem Geist und eignem Selbstbewußtsein erzeugt.“ (Freyer, Weltgeschichte, S. 977). 45
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Technik50 der neu entstehende „Industriekörper, der in den europäischen Ländern eine sekundäre Bildung aus eigner Volkssubstanz auf geschichtlichen Grundlagen ist […] als abstrakte Unternehmung auf freiem Grunde aufgebaut“51. Dies entspricht dem in der Theorie des gegenwärtigen Zeitalters gegebenen Schema des sekundären Systems. Dieses ist strukturell so gebaut, „daß keine vorgefundene Ordnung in sie aufgenommen“ und „kein eingebrachtes Eigenrecht anerkannt“ wird, sondern es soll „alles, was in diese Struktur eingeht, in ihrem Bauplan vorgesehen und von ihren Antrieben in Bewegung gesetzt sein, und nur intendierte Elemente sollen in ihr mitspielen“52. Sekundäre Systeme nehmen in geschichtlicher Hinsicht mithin ein „äußerstes Maß von Voraussetzungslosigkeit“ in Anspruch: „Diese Struktur entwirft sich in einem Raum, der nichts als ein Koordinatensystem ist, kein Kraftfeld, keine geschichtlich vorgeprägte Welt […]“53. Was mit diesen Andeutungen eines voraussetzungslosen Koordinatensystems gemeint ist, kann anhand des aus der Zeit zwischen der Unabhängigkeitserklärung und der Ratifizierung der amerikanischen Verfassung stammenden54 amerikanischen Landvermessungssystems verdeutlicht werden, dessen soziologische Bedeutung von Stefan Kaufmann untersucht worden ist.55 Das als American Grid System bekannte geometrische Landvermessungsschema diente als großtechnisches Projekt der Organisation der räumlichen Expansion nach Westen.56 Es sollte „durch eine deutlich in der Landschaft fixierte Eigentums-, Verwaltungs- und politische Ordnung die Grundlage zur Regelung des gesellschaftlichen Lebens“57 legen. Kaufmann zeigt, daß das Gitternetz als Planschema nicht einen bereits bestehenden konkreten Zusammenhang einfängt, wie dies in europäischen Planungszusammenhängen (sogar noch im sowjetischen) der Fall wäre, sondern umgekehrt den „Zusammenhang der zukünftigen Union“58 repräsentiert. Entscheidend ist, daß das Schema des Grids ein abstraktes „Medium der Landnahme“59 seitens eines
50 „Die moderne Technik, die in den europäischen Ländern das vorhandene Leben nur intensiviert und überbaut, wirkt hier aufschließend, erweckend, begründend […]“ (Freyer, Weltgeschichte, S. 979). 51 Freyer, Weltgeschichte, S. 980. 52 Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 83. 53 Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 83. 54 Vgl. Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit, S. 179. 55 Vgl. Kaufmann, Soziologie der Landschaft. 56 „Sieht man von Alaska und Hawaii ab, sind gut zwei Drittel der US-amerikanischen Fläche mit diesem grid überzogen, das der Expansion des neu gegründeten Nationalstaates von den Gebirgszügen im Osten bis zur pazifischen Küste, von den 1780er Jahren bis zur Schließung der frontier im Jahre 1890, einen formalen Rahmen verlieh“ (Kaufmann, Soziologie der Landschaft, S. 162). 57 Kaufmann, Soziologie der Landschaft, S. 328. 58 Kaufmann, Soziologie der Landschaft, S. 170. 59 Kaufmann, Soziologie der Landschaft, S. 236.
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Staates war, der noch gar nicht existierte, dessen Planung jedoch gleichwohl der „faktischen Landnahme […] durch die Siedler“60 stets zuvorkam: „Der neue Staat existierte in erster Linie nicht in seinen Institutionen, sondern über eine in einen expandierenden Raum projizierte Ordnung. Er band sich – um es mit Koselleckschen Begriffen auszudrücken – nicht mehr an einen Erfahrungsraum, sondern an einen Erwartungshorizont. Die Land Ordinances operieren in einem Feld staatlicher und gesellschaftlicher Programmatik […]. Zunächst ging es den Land Ordinances um eine kalkulierbare und effiziente Regierungs- und vor allem Verwaltungspraxis. Als Schlüssel zur Effizienz galt die Geometrisierung der Landschaft.“61
Dies führt dazu, daß „nicht die Karte das Land, vielmehr […] die Landschaft die Karte“62 repräsentiert. Auf diese nur scheinbar paradoxe Weise transformiert das Gitterschema „Souveränitätsansprüche in Eigentumsfragen, Belange territorialer Herrschaft in privat-ökonomische Interessen“63. Mit Blick speziell auf die amerikanische Stadt, die nach Max Weber durch den amerikanischen Bürgerkrieg nicht mehr nur wirtschaftliches, sondern auch Zentrum der politischen Macht geworden war,64 sieht auch Richard Sennett im Rahmen seiner Überlegungen zu einer „protestantischen Ethik des Raumes“65 einen „allgemeinen Zusammenhang zwischen Gitterstadt und kapitalistischer Ökonomie“, weil „sich gleichförmige Bodenparzellen auch am leichtesten verkaufen lassen“66. Damit stellt das American Grid System aber einen politischen Plan dar, der nicht nur, wie etwa die von ideologischen Parteien unternommenen Planungen inhaltlich unbegrenzt ist, sondern in dem technische Planung und geschichtlicher Verwirklichungsraum in einer Weise zusammenfallen, daß dieser von jenem her verstanden wird. Bestimmungslogisch formuliert: Konstitution und Regulation kehren sich um. Auch von Freyers Planungsbegriff her gesehen, kehren sich also die Verhält60
Kaufmann, Soziologie der Landschaft, S. 307. Kaufmann, Soziologie der Landschaft, S. 168. 62 Kaufmann, Soziologie der Landschaft, S. 185. 63 Kaufmann, Soziologie der Landschaft, S. 308. 64 Max Weber, Kapitalismus und Agrarverfassung, S. 437, sieht den Kern des amerikanischen Bürgerkrieges im Streit um die Frage, ob eine ländliche Bindung der Herrschaft erhalten bleibt oder „ob die wirtschaftliche und politische Macht endgültig in die Hände des städtischen Kapitalismus übergehen soll, ob die kleinen ländlichen Zentren politischen und geistigen Lebens […] verfallen […]. In den Vereinigten Staaten ist diese Frage, jedenfalls für die Gegenwart, durch einen der blutigsten Kriege der Neuzeit entschieden worden, der mit der Zerstörung der aristokratischen, gesellschaftlichen und politischen Zentren der ländlichen Gebiete endete. Selbst in Amerika, mit seinen demokratischen Traditionen, die der Puritanismus als dauerndes Vermächtnis hinterließ, war der Sieg über die Pflanzeraristokratie schwierig und wurde mit großen politischen und sozialen Opfern gewonnen“. Die Parallelen zu Webers Untersuchungen der deutschen Landarbeiterfrage liegen auf der Hand (vgl. dazu Riesebrodt, Patriarchalismus). 65 Sennett, Die Großstadt, S. 80. 66 Sennett, Die Großstadt, S. 77. Vgl. auch Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit, S. 186 f. 61
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nisse um: die Planung wird nicht durch einen bestimmten, politisch konstituierten Raum ermöglicht und damit begrenzt, sondern die Bestimmung des „politischen“ Raumes erfolgt durch den Plan selbst: „Jeffersons Karte war in Wahrheit ein geopolitischer Entwurf, die territoriale und räumliche Fassung des Gesellschaftsprojekts der amerikanischen Gründerväter.“67 Plan und Verwirklichungsraum fallen ineins, weshalb sich, wie Karl Schlögel formuliert, „die Geschichte der Vereinigten Staaten […] auch darstellen läßt als die Produktion des amerikanischen Raumes“68. Überspitzt gesagt: es wird nicht ‚in‘ einem Raum, sondern ‚der‘ Raum geplant und manipuliert.69 67
Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit, S. 182. Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit, S. 177. Vgl. auch ebd., S. 177 – 188. 69 Gotthard Günther stellt in seinem Buch Die amerikanische Apokalypse, in dem er Amerika als metaphysische Idee auffaßt, Überlegungen an, die den Sachverhalt von einer anderen Seite erhellen mögen. Günther geht dazu von der Unterscheidung zwischen materiellen Objekten im Raum und dem Raum als solchem aus. Seiner Ansicht nach müßte es aufgrund der Relativitätstheorie, welche den Raum als krümmbar beschreibt, möglich sein, den Raum wie ein Objekt technisch zu manipulieren. Der nach Freyer für den europäischen Begriff der Technik zentrale Gedanke von der Plastizität und Manipulierbarkeit der Materie wird hier also ins Prinzipielle einer „Plastizität“ des Raumes selbst zugespitzt. Diese Radikalisierungsmöglichkeit entspricht nach Günther dem unerfüllten Ideal europäischer Wissenschaft und Technik, wie Günther, Amerikanische Apokalypse, S. 177, mit Oswald Spengler, Untergang, S. 227, betont: „Der unendliche Raum ist das Ideal, welches die abendländische Seele immer wieder in ihrer Umwelt gesucht hat. Sie wollte es in ihr unmittelbar verwirklicht sehen, und dies erst gibt den unzähligen Raumtheorien der letzten Jahrhunderte jenseits aller vermeintlichen Resultate ihre tiefe Bedeutung als den Symptomen eines Weltgefühls. Inwiefern liegt die grenzenlose Ausgedehntheit allem Gegenständlichen zugrunde? Kaum ein zweites Problem ist so ernsthaft durchdacht worden, und fast hätte man glauben sollen, es hinge jede andre Weltfrage von dieser einen nach dem Wesen des Raumes ab. Und ist es nicht für uns in der Tat so?“ Günther kommentiert lakonisch: „Gesucht, jawohl, aber nicht gefunden!“ (ebd.) Die Absicht, den Raum zu ‚finden‘ und technisch zu manipulieren, stützt sich auf den Gedanken, daß der Raum im Rahmen der klassischen Ontologie dem Nichts entspricht. So konnte bzw. mußte der Raum als das Medium des Übergangs in die Transzendenz erscheinen. Reine Ausgedehntheit aber ist der Tod: „Nach der alten klassischen Vorstellung ist der Raum als das absolute Nichts das Vehikel des Überganges von der empirischen Immanenz in die Transzendenz des Göttlichen. Räumliche Entfernung ist immer zugleich metaphysische Ferne.“ (ebd., S. 181) Hegel hat jedoch eine Theorie der doppelten Negation entwickelt, die die Gegenständlichkeit des Nichts, sein Ansichsein, zu denken erlaubt. Günther glaubt deshalb, daß es prinzipiell möglich wäre, „dass die folgende Frage zufriedenstellend beantwortet wird: Wenn nun der Raum nicht mehr das Mittel des Überganges aus unserer empirischen Existenzform in die Regionen des göttlichen Absoluten ist, was ist er dann positiv? Und inwiefern ist er eine empirische Größe, der der Mensch genau so gegenübersteht wie der physischen Materie seiner Existenzebene? Der vollgültige Beweis, dass diese Frage endgültig beantwortet und damit für den Menschen eine höhere Ebene der historischen Existenz erreicht wäre, würde darin bestehen, dass zuerst Denkverfahren und später Techniken aufgewiesen würden, die erlaubten, den Raum genau so zu manipulieren, wie der Mensch in seinen handwerklichen und maschinellen Verfahren die Materie manipuliert und seinen Bedürfnissen gemäß umformt. Ein solches technisches Ziel 68
IX. Die geschichtliche Bestimmtheit sekundärer Systeme
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Man kann in Freyers Begriffen tatsächlich von einem Zusammenfall von technischer Planung und gesellschaftlichem Verwirklichungsraum sprechen – und insofern von einer Selbstverwirklichung des Plans.70 Ein solcher „Plan“ ist aber in einem viel radikaleren Sinn „utopisch“ und transzendiert die Geschichte in ganz anderer Weise, als dies einer inhaltlich bestimmten Ideologie jemals möglich wäre.71 Im Moment von dessen „Verwirklichung“ tritt ein möglicherweise irreversibler Reflexionsverlust ein: die Bindung des Planes an die „politische“ Entscheidung verschwindet, womit der Plan seine Erkennbarkeit als Plan verliert.72 Der ursprüngliche Selbstbezug der Planung durch die Rückbindung an eine politische Entscheidung bzw. an eine grenzsetzende Tat, deren Gegenüber eine ebenso selbstbezügliche politische Einheit ist, wird dadurch minimiert, daß die politischen Unterscheidungen von innen und außen sowie von Herrschaft und Planung aufgehoben werden. Es lassen sich also anhand von Freyers Planungsbegriff idealtypisch drei Typen geschichtlicher Situationen unterscheiden: erstens den Zustand von ungeplanten, geschichtlich gewachsenen „primären Ordnungen“73, zweitens die Einschaltung eines begrenzten geplanten sekundären Systems in den Bereich einer kontinuierenden primären Ordnung – dies entspricht Freyers eigenem Standpunkt – sowie dem Raum gegenüber ist keineswegs bloße Phantasterei. Theoretisch wissen wir schon, dass der Raum manipuliert werden kann. Man kann ihn ‚krümmen‘. Das Problem ist sinnlos dem Platonischen tó mé on [im Original griechisch, AH] gegenüber. Das Nichts ist weder krumm noch gerade.“ (ebd., S. 181) Das Spezifische der europäischen Technik liegt nach Günther eben darin: sie ist weder nur an bestimmte Objekte bzw. bestimmte Kontexte gebunden – der Gedanke von der Plastizität der Materie abstrahiert schon von jeglichen besonderen Objekten und liegt der prinzipiellen Dekontextualisierbarkeit der modernen Technik zugrunde –, noch kann sie sich – aus Gründen eines Restes an Bindung an die ontologische Tradition – entschließen, die Manipulation des Raumes selbst in Angriff zu nehmen, was das Kennzeichen allein der amerikanischen Technik sei. Günther sagte – im Gegensatz zu Gehlen, der sich in diesem Punkt irrte – aufgrund seiner metaphysisch-logischen Erwägungen das schließliche Scheitern der Sowjetunion von Anfang an voraus (ebd., S. 226 ff.). 70 Aus der Sicht der klassischen europäischen Metaphysik entspricht dies der Idee der Apokalypse: der utopische Plan „triumphiert eo ipso. Die Geschichte wird bei seinem Anblick auf einmal das Jüngste Gericht“ (Freyer, Herrschaft und Planung, S. 27). Günthers Buch trägt deswegen den Titel Amerikanische Apokalypse, weil in Amerika die Ortlosigkeit programmatisch ist. 71 Vgl. auch Günther, Amerikanische Apokalypse, S. 219 ff., 257 ff. Vgl. zur soziologischen Relevanz Tenbruck, George Herbert Mead. 72 Dies gilt trotz der von Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit, S. 179, zurecht hervorgehobenen Tatsache, daß „es […] auch anders [hätte] kommen können“, daß sich also nicht Jeffersons „Konstruktionszeichnung der großen Maschine“, sondern „ein Nordamerika der vielen Staaten, der vielen Kolonien“ durchgesetzt haben könnte. Nur: dies sagt ein Europäer. Dagegen läßt sich einwenden, daß in der Perspektive eines Planes, der sich nicht in einem vorausgesetzten Raum vollzieht, sondern mit der Setzung dieses Raumes selbst zusammenfällt, im Erfolgsfall seine Bindung an seine Entscheidung auslöscht. 73 Freyer, Gesellschaft und Kultur, S. 531.
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C. Die institutionelle Bestimmtheit sozialer Systeme
drittens ein sekundäres System unter der Voraussetzung eines Entschlusses zur Voraussetzungslosigkeit. Denkt man diese Situationstypen auch als Phasen eines geschichtlichen Verlaufs, muß man sich die Übergänge jeweils sehr konfliktreich vorstellen, wie etwa zwischen Mittelalter und früher Neuzeit oder in der Zeit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Für den letzteren Situationstyp ist es wie gezeigt im Erfolgsfall äußerst schwierig, die Geplantheit und Entscheidungsgebundenheit dieses Zustandes noch aufzuzeigen. Zur „Gegenmacht zum Abendland“74, wie Freyer sagt, wird ein solcher „Plan“ dann, wenn dessen Durchsetzung als Machtanspruch mit einer geschichtlich gebundenen gesellschaftlichen Ordnung interferiert. Ebendies passiert aber in der Epoche der Weltkriege, worauf Freyer wie gesagt mit der Formel der „Selbstbegegnung des Abendlandes“ hinweisen will.75 Zugleich verweist unter diesen Vorzeichen die Selbstverwirklichung eines Planes, der so universal ist, daß er sich nicht mehr von anderen möglichen Plänen unterscheidet und also seinen Charakter als Plan aufhebt, auf den Gedanken gesellschaftlicher Autopoiesis. Denn diese zeichnet sich ebenfalls durch die selbstbezügliche Minimalisierung des Verwirklichungsproblems aus.76 Die politische Absicht, „eine ganze Gesellschaft in allen ihren Institutionen planmäßig so umzukonstruieren“, daß sie ihre geschichtlichen Voraussetzungen „abstößt“77, verwirklicht sich selbst, wenn es gelingt, die Idee geschichtlicher Voraussetzungslosigkeit als handlungsbestimmend zu institutionalisieren. Die damit einhergehende Kognitivierung jeglicher Orientierung bildet die sich selbst aufhebende institutionelle Voraussetzung für eine neue Form sozialer Operation: Kommunikation auf der Grundlage doppelter Kontingenz. Unter dieser Voraussetzung der institutionellen Leitidee geschichtlicher Voraussetzungslosigkeit steht doppelte Kontingenz für die Selbsterzeugung von Voraussetzungslosigkeit.78 Von den institutionellen Grundlagen kann 74
Freyer, Weltgeschichte, S. 977. dieser Stelle ist auch an die oben mit Franz-Xaver Kaufmann dargestellte universalistische institutionelle Leitidee der sozialen Sicherheit zu erinnern, die sich seit dem Zweiten Weltkrieg über das europäische Modell eines politisch konstituierten (Sozial-)Staates schob und dieses wohlfahrtsstaatlich mediatisierte (siehe oben Kap. I.1. u. I.2.). 76 Vgl. Lipp, Aussprache. 77 Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, S. 443. 78 Vgl. auch Schmitt, Politische Theologie II, S. 96 – 98, der diesen Vorgang der Entpolitisierung und Enthistorisierung als reflexiven „Prozeß-Progreß“ bezeichnet; dieser „produziert nicht nur sich selbst […], sondern auch die Bedingungen der Möglichkeit seiner eigenen Neuheits-Neuerungen; das bedeutet das Gegenteil einer Schöpfung aus dem Nichts, nämlich die Schöpfung des Nichts als der Bedingung der Möglichkeit der Selbst-Schöpfung einer stets Neuen Weltlichkeit“ (ebd., S. 97). Die Produkte dieses sich selbst produzierenden Prozeß-Progresses nennt Schmitt in Anlehnung an Hans Blumenbergs Anthropologie der Legitimität der Neuzeit den „Neuen Menschen“, der „das nicht-vorstrukturierte JeweilsProdukt des von ihm, d. h. von sich selbst in Funktion gesetzten und in Funktion gehaltenen Prozeß-Progresses“ (ebd., S. 97) ist. Ganz im Sinne Günthers (vgl. oben Kap. IX, Anm. 67) sieht auch Schmitt, Politische Theologie II, S. 98, daß dieser Prozeß-Progreß die Produktion des Raums selbst umfaßt: „Eripuit caelum deo, nova spatia struit.“ 75 An
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dann theoretisch abgesehen werden, denn was dann „entsteht, ist ohnehin neu und, was immer die Anlässe sein mögen, immer dasselbe: eine zirkulär geschlossene Einheit“79. In seinen frühen Schriften führt Luhmann für das Stattfinden von Kommunikation im Rahmen sozialer Systeme als institutionelle Bedingung an, „daß Kommunikationen hinreichend differenzierbar, spezifizierbar und generalisierbar sind, daß sie durch ‚sekundäre Systeme‘80, also indirekt, motivierbar sind, und daß die Disposition über Kommunikationen nicht durch allzu enge Sozialbindungen und Gefühlsfixierungen behindert wird […]. Die Einverseelung und Institutionalisierung der benötigten Kommunikationsweisen erfolgt durch Zivilisierung der Erwartungen.“81
In Freyers Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, die Luhmann hier zitiert, betreffen sekundäre Systeme den Einzelnen jeweils in funktional spezifischen Hinsichten: „Sekundäre Systeme nehmen den Menschen […] jeweils ‚als‘ etwas, und sie bestimmen von sich aus, als was sie ihn nehmen.“82 Freyer antizipiert die funktionsspezifische Inklusion in soziale Systeme, in denen das Individuum jeweils in bestimmten sachlichen Hinsichten zur Adresse der Kommunikation wird. Aber auch Luhmanns Idee, daß Menschen zur Umwelt sozialer Systeme gehören, wird ansatzweise vorweggenommen, wenn festgestellt wird, daß der Anteil des Menschen an den sekundären Systemen „auf ein Minimum reduziert [wird]. […] Was er etwa sonst noch sein sollte, fällt heraus“83. Die damit verbundene Behauptung Freyers ist, daß innerhalb sekundärer Systeme nur noch die sachlich bestimmten systemeigenen Erwartungen, jedoch nicht mehr die Kontinuität der Geschichte erwartet werden.84 Zivilisierung von Erwartungen meint somit „gesellschaftlich vorgeformte Bereitschaften, Rollen-in-Systemen zu übernehmen“85. Luhmann geht davon aus, daß die „umfassende Zivilisation86 der Erwartungen in Deutschland 79
Luhmann, Soziale Systeme, S. 167. Luhmann, Grundrechte, S. 94, Anm. 21, verweist hier auf Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. 81 Luhmann, Grundrechte, S. 94. 82 Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 122. 83 Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 83. 84 „Sekundäre Systeme verlassen sich nicht auf die gewachsene Erde; sie lehnen das ab oder sie bringen es nicht fertig. In der merkwürdigen Mischung von Wagemut und Sicherungsbedürfnis, die ihnen eigentümlich ist, legen sie sich ein künstliches Fundament und schneiden eben damit das ganze Geäder geschichtlicher Bildungen durch, das der Erde eingelegt ist.“ (Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 180). 85 Luhmann, Grundrechte, S. 95. Vgl. ebd., S. 21 f. 86 Freyer und Luhmann berufen sich beide auf Norbert Elias (vgl. Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 46 ff., bes. S. 54 ff., Luhmann, Grundrechte, S. 22 u. S. 56). Der Kern dieser Entwicklung ist nach Elias das Gewaltmonopol des absolutistischen französischen Staates, der die unmittelbare Gewaltanwendung sanktioniert und die Konkurrenzkämpfe des Adels an den Hof verlagert, wo diese fortan in gewaltlosen, zivilisierten Formen der Höflichkeit vonstatten gehen: „Höflichkeit, das heißt: man spart sich seinen Feind auf.“ 80
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C. Die institutionelle Bestimmtheit sozialer Systeme
im Nullpunkt 1945 vorhanden“87 und die Disposition über Kommunikationen geschichtlich nicht mehr eingeschränkt war.88 Sekundäre bzw. soziale Systeme sind daher, wie Freyer und Luhmann übereinstimmend sagen, „schwebende Formen“89 bzw. „eine freischwebend konsolidierte Realität“90, in denen sich der institutionelle Status der Handelnden zur kommunikativen Rolle verdünnt.91 In dieser Hinsicht erübrigt es sich, die existenzielle geschichtliche Einheit der jeweiligen sozialen Situationen zu berücksichtigen, weil die Erwartungen jeweils systemspezifisch vorbestimmt sind.
(Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 55, vgl. Luhmann, Grundrechte, S. 56) Sekundäre Systeme verlangen von ihren Teilnehmern Affektkontrolle, Selbstdisziplin, Individualisierung und die langfristige Planung von Handlungszielen. Besonders im Verkehr und im Umgang mit der modernen Technik wird diese Fähigkeit zur Notwendigkeit, weil sie zu sachgemäßem Verhalten zwingt (vgl. Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 59, Luhmann, Grundrechte, S. 22). 87 Luhmann, Grundrechte, S. 95. 88 Die umfassende Zivilisation der Erwartungen habe in Westdeutschland „das ‚Wirtschaftswunder‘ möglich gemacht. Daß sie in Entwicklungsländern weithin noch fehlt, vermag zu erklären, weshalb ein entsprechendes Entwicklungswunder ausbleibt […]“ (Luhmann, Grundrechte, S. 65 f.). 89 Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 180. 90 Luhmann, Soziale Systeme, S. 173. 91 Vgl. Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 173 mit Luhmann, Soziale Systeme, S. 173.
X. Systemtheoretische Transformationen handlungstheoretischer Begriffe
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X. Systemtheoretische Transformationen handlungstheoretischer Begriffe Die Kognitivierung, die im achten und neunten Kapitel auf politisch-geschichtlicher Ebene nachgewiesen wurde, schlägt sich auch in Luhmanns theoretischen Begriffen nieder. Die allgemeine Linie der systemtheoretischen Transformation besteht darin, daß Luhmann die handlungs- und institutionentheoretischen Begriffe „in die kybernetische und informationsverarbeitungstheoretische Sprache des Zwangs der Reduktion von Komplexität“1 übersetzt. Das an den Sinnbegriff gebundene Theorem der Reduktion von Komplexität ist in ganz grundsätzlicher Weise als kognitives Problem gedacht. Luhmanns Manöver läßt sich mit Blick auf die Leipziger Schule insgesamt als eine Kognitivierung der handlungstheoretischen Grundbegriffe bezeichnen. Dies hat zwei Konsequenzen. Zum einen fällt der über den Begriff des Willens laufende, insbesondere von Freyer in der Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft herausgearbeitete explizite Rückbezug der Gesellschaftstheorie auf eine bestimmte geschichtliche Lage weg. Luhmann schließt die Möglichkeit dazu aber nicht prinzipiell aus, sondern hält sie in seinem Reflexionsbegriff in der Schwebe.2 Im Gegensatz zu Freyer, für den die Bindung an einen auch geschichtlich wirklichen Willen die Bedingung der Möglichkeit soziologischer Beobachtung darstellt, sodaß eine in sich geschlossene Theorie der Gesellschaft einen zwar anzustrebenden, aber nicht zu erreichenden Grenzfall darstellt, weil sich die Wirklichkeit des Willens zwar theoretisch umformen, aber nicht eliminieren läßt, vertritt Luhmann eine sehr emphatische Auffassung von Theorie, die das Thema des Willens von Anfang an in das kognitive Verhältnis der Reduktion von Weltkomplexität übersetzt. Das Handeln erscheint so bei Luhmann an keiner Stelle als ein Du, sondern immer als ein Ich (als Ego bzw. alter Ego). Die handlungswissenschaftliche Frage der Leipziger Schule, was eine Handlung als Handlung und nicht als Thema des Erkennens bzw. Erlebens ausmacht, wird von Luhmann verabschiedet, indem er das Handeln lediglich als erlebtes Handeln in den Blick nimmt. Die zweite Konsequenz betrifft die institutionelle Rückbindung sozialer Systeme. Luhmann vertritt in seinen frühen Arbeiten die Ansicht, daß bestimmte institutionelle Voraussetzungen gegeben sein müssen, die die Möglichkeit der Differenzierung der Gesellschaft offenhalten, insbesondere die Institution der Grundrechte. Kommunikation aber wird als ein Erfordernis behandelt, das sich aus der Tatsache gesellschaftlicher Differenzierung ergibt.3 Später tritt an die Stelle dieser auch geschichtlich konkretisierbaren Bedingungsverhältnisse die implizit behauptete Deckungsgleichheit von funktionaler Differenzierung und selbstreferentieller Kommunikation im Begriff der Autopoiesis der Funktionssy1
Göbel, Institution, S. 187. Luhmann, Reflexive Mechanismen, S. 128. 3 Vgl. Luhmann, Grundrechte. 2 Vgl.
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steme.4 Deren Bedingungen der Möglichkeit werden dann anhand des Theorems der doppelten Kontingenz expliziert, welches aber gerade dazu dient, die Frage nach den möglicherweise vorhandenen geschichtlich-institutionellen Bedingungen des Zustandekommens von doppelter Kontingenz als Situation abzuhängen. Dies führt dazu, daß die von Luhmann seit dem Ende der 80er und verstärkt in den 90er Jahren beobachteten Selbstgefährdungstendenzen der funktional differenzierten Gesellschaft, die wir im ersten Teil unter den Begriffen Exklusion, Risiko und Ökologie behandelt haben, nicht angemessen thematisiert werden können. 1. Wille und System Das in seiner Bedeutung für das politische System oben5 ausführlich untersuchte Gleichheitsprinzip bildet in der frühen Systemtheorie die eine Seite einer übergreifenden Unterscheidung, welche offensichtlich auf einer sehr hohen Abstraktionsebene die Einheit der frühen Fassung der Systemtheorie organisiert und durch die sie die multidisziplinäre Reflexion des Politischen in eine soziologische Gesellschaftstheorie überführt. Dies ist die Unterscheidung von Gleichheit und Kausalität. Luhmann weist in seinen Monographien über die Grundrechte als Institution, Legitimation durch Verfahren und Zweckbegriff und Systemrationalität mehrfach auf die systematische Relevanz dieser Unterscheidung hin.6 Sowohl bei der Gleichheit als auch bei der Kausalität handelt es sich um Systemstrategien, also um funktional äquivalente Prinzipien und Grundsätze der Systemrationalität, die ein kognitives „Verständnispotential“ bieten.7 Nachdem wir das Gleichheitsprinzip bereits behandelt haben, wenden wir uns nun dem Prinzip der Zwecksetzung zu, weil es auf den Zusammenhang der Begriffe des Willens und des Systems führt. 4 Vgl.
Luhmann, Soziale Systeme u. Luhmann, Gesellschaft. Vgl. oben Kap. VIII. 6 Vgl. z. B. Luhmann, Grundrechte, S. 173, Luhmann, Legitimation, S. 159 f., Luhmann, Zweckbegriff, S. 25. 7 „Gleichheitsprinzip und Kausalprinzip sind formal ähnliche, funktional äquivalente und komplementäre Systemstrategien. Ihre Funktion liegt, in schärfster Abstraktion formuliert, darin, die Komplexität der Systemumwelt als eine in bestimmter Weise schematisierte Unendlichkeit abzubilden und so dem System Ansatzpunkte für die Bewältigung des Komplexitätsproblems zu bieten. Beim Kausalprinzip wird die Komplexität der Umwelt als Unendlichkeit zusammenhängender Ursachen und Wirkungen dargestellt, beim Gleichheitsprinzip als Unendlichkeit möglicher Vergleichsbeziehungen. Beide Umweltdeutungen sind für sich selbst noch keine Ordnung, sondern nur ein Schema möglicher Ordnung. Sie sind nicht anwendungsreif, geben keine sichere Entscheidungsgrundlage, sondern nur ein Verständnispotential, auf dessen Basis die jeweilige Ordnung dann konstituiert und mit der Umwelt ‚ausgehandelt‘ werden kann: im Falle des Kausalprinzips durch Zwecksetzung, im Falle des Gleichheitsprinzips durch Institutionalisierung von Gründen für relevante Vergleichshinsichten.“ (Luhmann, Grundrechte, S. 173). 5
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Der Grundbegriff von Luhmanns früher Systemtheorie ist der Handlungsbegriff. Soziale Systeme sind demnach Handlungssysteme.8 Luhmann gibt folgende Definitionen des Handlungs- und des Systembegriffs: „Unter Handlung soll jedes sinnhaft orientierte, außenwirksame menschliche Verhalten verstanden werden, unter System jedes Wirklich-Seiende, das sich, teilweise auf Grund der eigenen Ordnung, teilweise auf Grund von Umweltbedingungen, in einer äußerst komplexen, veränderlichen, im ganzen nicht beherrschbaren Umwelt identisch hält. Diesen weiten Systembegriff engen wir für die Zwecke unserer Untersuchung ein und sprechen im folgenden, wo nichts anderes vermerkt ist, nur von Handlungssystemen, das heißt von Systemen, die aus konkreten Handlungen eines oder mehrerer Menschen gebildet sind und sich durch Sinnbeziehungen zwischen diesen Handlungen von einer Umwelt abgrenzen.“9
In dem von Luhmann analysierten klassischen Rahmen der Handlungslehre steht der Begriff des Zwecks für die sinnhafte Einheit im Geschehen einer durch Handeln zu bewirkenden Wirkung. Wird hingegen der „Zweckbegriff aus der Handlungslehre in die Systemtheorie verlegt“, verliert er „seine Stellung als nicht weiter begründbarer Grundbegriff der Handlungswissenschaften“10. Zwecksetzung wird dann als „eine besondere Art der Systemrationalisierung neben anderen“11 sichtbar. Man kann so nach der systemrelativen Funktion von Zwecken im Vergleich mit anderen systemrationalen Strategien der Reduktion von Komplexität fragen. Luhmann analysiert die klassische Vorstellung des Handelns anhand der Unterscheidung von Schematismus und Regulation, die er aber nicht bestimmungstheoretisch, sondern phänomenologisch als „zwei […] Interpretationen der Komplexität der Welt“ versteht, sodaß man „mit einer schematischen und einer regulativen“12 Auffassung arbeiten könne. Das Kausalschema rubriziert Luhmann unter den Begriff des Schematismus, weil es die „Verlauftypik“13 des Handelns betrifft: „Die Auslegung des Handelns als Bewirken einer Wirkung postuliert, daß zwei (oder mehr) Stationen des Handlungsgeschehens gegeneinander invariant gesetzt und so verselbständigt werden. Das bedeutet, daß einzelne Stationen des Prozesses festgehalten werden und Wert haben können, auch wenn andere sich ändern oder ausgetauscht werden.“14
8 Göbel, Theoriegenese, S. 201, zufolge argumentiert Luhmann bis etwa Ende der 70er Jahre im Rahmen einer „Handlungssystemtheorie. In ihrem grundbegrifflichen Zentrum steht damit ein nicht näher ausgewiesener und auf Diffusverständnis mit der soziologischen Tradition beruhender Handlungsbegriff, der sich zum Begriff des Handlungssystems verdichten läßt, sobald sich mehrere Handlungen sinnhaft aufeinander beziehen.“ 9 Luhmann, Zweckbegriff, S. 7 f. 10 Luhmann, Zweckbegriff, S. 10 u. 11. 11 Luhmann, Zweckbegriff, S. 11. 12 Luhmann, Zweckbegriff, S. 25. 13 Luhmann, Zweckbegriff, S. 27 f. 14 Luhmann, Zweckbegriff, S. 25.
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Denn das traditionelle Verständnis der Kausalität als Verknüpfung von genau einer Ursache mit genau einer Wirkung bilde lediglich „einen äußersten Grenzfall“ des Kausaldenkens, während „in der Wirklichkeit“15 niemals nur eine „Ursache allein zur Bewirkung einer Wirkung ausreicht, so wie auch keine Ursache oder Ursachenvielfalt nur eine einzige Wirkung hat. Die Vorstellung einer Ursache bzw. einer Wirkung ist jeweils eine Abstraktion, die eine bestimmte Ordnungsfunktion erfüllt“16. Mit Blick auf die Handlungswirklichkeit liegt die „Funktion des Kausalschemas“ vielmehr in der „Erkenntnis einer bestimmt strukturierten Abänderungsfähigkeit solcher Ursache-Wirkung-Beziehungen, die stets nur möglich, nie aber notwendig sind. Die Kausalauslegung des Handelns befreit, mit anderen Worten, von der Bindung an eine naturhaft vorgestellte Verlauftypik. Sie konstituiert eine Handlungsstruktur, die es ermöglicht, von einer Station des Prozesses aus andere zu analysieren, die eine konstant zu setzen, um im Hinblick auf sie andere verändern zu können. Ein Geschehen braucht dann nicht als Gesamtkomplex akzeptiert oder verworfen, geschätzt oder abgelehnt zu werden […]; sondern man kann das Geschehen zerlegen und es von innen heraus durch Variation einzelner Komponenten im Hinblick auf spezifische Konstanten modifizieren.“17
Luhmann benutzt hier also Gehlens Begriffe der Bejahung und Verwerfung, die sich wie bei Gehlen auf den Gesamtkomplex des zweckrationalen Handelns beziehen. Wir kommen unten auf diese Unterscheidung zurück. Deren „Regulierung“ erfolgt „durch Werte und Zwecke“18. Sinnhafte Werte dienen im Rahmen der „Handlungsplanung“19 der Bevorzugung bestimmter Ursachen und Wirkungen und der Zurücksetzung anderer. Nicht nur das Kausalschema, sondern auch Zwecke und Werte haben also eine Funktion im Handlungszusammenhang des sozialen Systems. Planung hebt nach Luhmann durch „Entscheiden“20 aus der Unendlichkeit kausaler Verweisungen „bestimmte Punkte als Wirkungen oder als Ursachen“ heraus; wie Luhmann hinzufügt, müsse allerdings deren „Identität […] erst konstituiert werden“21, was auf Systembildung verweise.22 Der Grundgedanke ist also ähnlich wie in Freyers Theorie der Planung,23 wo unter einer konstitutiv vorausgesetzten politischen Einheit im Bereich der planbaren Handlungswirklichkeit bestimmte Handlungsstellen ausgewählt werden, um sie in ihrem Verlauf umzuordnen. Eine geschichtlich gegebene primäre Ordnung wird
15
Luhmann, Zweckbegriff, S. 27. Luhmann, Zweckbegriff, S. 26. 17 Luhmann, Zweckbegriff, S. 27 f. 18 Luhmann, Zweckbegriff, S. 33. 19 Luhmann, Zweckbegriff, S. 33. 20 Luhmann, Zweckbegriff, S. 35. 21 Luhmann, Zweckbegriff, S. 34. 22 Vgl. Luhmann, Zweckbegriff, S. 171 ff., bes. 175. 23 Vgl. oben Kap. IX. 16
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in ein sekundäres System transformiert.24 Die Funktion des Zweckbegriffs liegt, so faßt Luhmann seine Analyse zusammen, „in seiner vermittelnden Doppelstellung im Kausalkontext und im Wertkontext. Der Zweck bildet den Übergang“25. Der Zweckbegriff steht aber nicht nur mit der Regulation (Wertbeziehungen), sondern auch, und das ist Luhmanns Pointe, als Element einer Systemstrategie mit der Konstitution im Zusammenhang. Denn die Entscheidung über Zwecke setzt „eine Begrenzung voraus. Grenzen können aber […] nur durch Systembildung gezogen und stabil gehalten werden“26. Ähnlich wie Freyer, der mit einer individuell-bürgerlichen und einer politischstaatlichen Linie der Aufklärung zwei Formen der Rationalität unterscheidet,27 differenziert Luhmann die an der einzelnen Handlung orientierte Zweckrationalität von einer näher aufzuklärenden Systemrationalität auf der Ebene sozialer Systeme, sodaß man von einer „Verschiedenartigkeit der Rationalität“28 ausgehen müsse. Luhmann will den Zweckbegriff aus seiner Verknüpfung mit der individuellen Einzelhandlung lösen und ihn als Strukturmoment der Systemrationalität reformulieren. Diese Überlegungen beziehen sich mithin auch auf eine ganz ähnliche Problemkonstellation, wie sie in Gehlens Theorie der Willensfreiheit als Frage nach dem Verhältnis des Handelns als rationaler Wahl und freier Entscheidung29 oder auch in der Neufassung des Schlußkapitels von Der Mensch und in Urmensch und Spätkultur als Frage nach dem Verhältnis zwischen individueller Zwecksetzung und objektiven (bzw. ontologischen) Naturzwecken behandelt wird.30 In großer 24
Vgl. auch Luhmann, Grundrechte, S. 94. Luhmann, Zweckbegriff, S. 49 f. 26 Luhmann, Zweckbegriff, S. 49. 27 Vgl. Freyer, Preußentum, S. 16 u. Freyer, Machiavelli und die Lehre vom Handeln, S. 160. 28 Luhmann, Zweckbegriff, S. 7. 29 Siehe oben Kap. V.4. 30 Vgl. oben Kap. VI.1.b). Luhmann, Zweckbegriff, S. 8, nimmt jedoch nicht diese, letztlich auf Kants Unterscheidung von subjektiven und objektiven Zwecken zurückgehende Einordnung vor, sondern geht vor die Transzendentaltheorie zur klassischen Ontologie zurück und bezieht sein Thema auf den „Bereich eines sehr alten Dilemmas […], nämlich des Problems der nicht aufeinander zurückführbaren Grundbegriffe von Bewegung und Substanz. Unter den Denkvoraussetzungen der ontologischen Metaphysik, die postulierte, daß das Seiende in seinem Sein beständig, also nicht nicht sei, mußte dieses Dilemma einen zentralen Rang erhalten. In ihm scheiterten die Prämissen der Ontologie. Der Zweckbegriff hatte den Sinn, dieses Scheitern zu verdecken, indem er dem Vergänglichen einer Handlung, die ist und doch nicht ist, das Bleibende des Zweckes als ihr eigentliches Wesen aufprägte. Im Zweck konnte die Handlung, konnte die Bewegung als Substanz vorgestellt werden. Das aber war die Bedingung, unter der sie unter jenen Denkvoraussetzungen als rational begriffen werden konnte.“ Luhmann überspringt also den epochalen Neuansatz des Denkens bei Kant. Bei Kant ist der Zweckbegriff zwar auch „Schlußstein“ für einen „Denkzusammenhang“, aber es werden nicht mehr wie in der von Luhmann diskutierten Ontologie die „Zwecke als ‚Natur‘“ (ebd., S. 9) behandelt! Sondern Kant will gerade die einheitsstiftende Funktion des Zweckbegriffs als Reflexionsbegriff zeigen. Während die Ontologie den Zu25
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gedanklicher Nähe zur Theorie der Willensfreiheit und Der Mensch setzt Luhmann den Begriff des Willens zu den Begriffen der Reflexion, des Handelns, des Zwecks und des Systems ins Verhältnis. Es werden folgende Zuordnungen vorgenommen: „Zwecke sind nicht bloße Erwartungen, auch nicht bloße Wünsche; sie werden erst Zweck durch Bereitschaft zum Einsatz, und das heißt: durch Bereitschaft zum Verzicht. Zwecksetzung wird daher zumeist als Willensakt dargestellt. Der Willensbegriff aber bezeichnet eine – wenn auch unzulängliche und abgekürzte – Reflexion auf die Totalität der Person. Es muß zunächst etwas da sein, das sich solche Einsatz- und Verzichtsbereitschaft zumuten kann, das genügend gefestigt ist und genügend Zeit hat, um sich gegenwartsferne Zwecke leisten zu können. Das, was sich auf diese Weise einsetzt und bindet – ein Organismus, eine Person, eine Gruppe, eine Organisation –, steht jedoch als System außerhalb der Zweck-Mittel-Kalkulation. Es ist ihr ‚Subjekt‘, liegt ihr zugrunde.“31
Damit ist eine konstitutionstheoretische Fragehaltung eingenommen. Luhmann zielt aber nicht auf eine Institutionen-, sondern auf eine Systemtheorie. Ausgehend von den oben dargestellten Überlegungen über den Zusammenhang von doppelter Reflexion und Wille32 kann der Begriff des Subjekts hier nurmehr metaphorisch gemeint sein, weshalb er von Luhmann denn auch in Anführungszeichen gesetzt ist. Denn wie wir gesehen haben, wird die Reflexion in der Reflexion auf die Reflexion entsubjektiviert. Luhmann schlägt deswegen den Willen zurecht nicht mehr der klassischen Zweckrationalität des individuellen Handelnden, sondern bereits dem Bereich der von ihm als neu inaugurierten „Systemrationalität“ zu, indem er statt metaphorisch vom Willen als ‚Subjekt‘ vom „Subjekt-System“33 spricht, welches „nun ausdrücklicher zum Thema gemacht werden muß. Der Begriff des Rationalen wäre dann aus der einfachen, zweckgerichteten Handlungsrationalität umzudenken in eine komplexere, umfassende Systemrationalität“34. fall aufgrund des Substanzbegriffs ausschließt, schließt Kant, Kritik der Urteilskraft, in der ersten Fassung der Einleitung den Zufall in dem von ihm gefundenden Reflexionsbegriff der „Technik der Natur“ gerade ein. 31 Luhmann, Zweckbegriff, S. 13. 32 Siehe oben Kap. V. 33 Luhmann, Zweckbegriff, S. 14. 34 Luhmann, Zweckbegriff, S. 15. Der Bezug zu Gehlen wird bekanntlich anfangs noch deutlich gemacht: „Der Grundgedanke besagt: Wenn die Welt für ein organisches System infolge seiner Wahrnehmungsausrüstung und Instinktverunsicherung übermäßig komplex wird, muß das System neuartige interne Mechanismen der Reduktion, nämlich eine eigene, nicht unmittelbar auf Umweltauslösern beruhende Motivationsstruktur entwickeln. Intern müssen diese Mechanismen deshalb sein und bleiben, weil die Welt übermäßig komplex ist und als solche auch erhalten bleiben soll. Externe Reduktion würde die Komplexität der Welt und damit auch die Möglichkeit selektiven Verhaltens für das System aufheben und die damit verbundenen Vorteile annullieren. Dieser Gedankengang berührt sich in mancher Hinsicht mit der Anthropologie Gehlens, zeigt aber deutlich die Vorteile einer systemtheoretischen gegenüber einer handlungstheoretischen Ausrichtung.“ (Luhmann, Soziologie als Theorie sozialer Systeme, S. 168, Anm. 18).
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In diesem Zusammenhang wird anhand des Begriffs des Systems eine „Umdefinition“35 des Begriffs des Willens vorgeschlagen. Diese Umdefinition gilt der gängigen „Vorstellung eines Willens, der […] der Einzelhandlung abgelesen“36 ist. Denn die Einzelhandlung sei nicht sein richtiger Bezugspunkt, sondern der „Willensbegriff […] gehört in die Systemtheorie“37. Der in der Leipziger Schule zentrale Begriff des Willens wird also auf der Höhe des Begriffs des Systems angesiedelt: die Systemtheorie „[e]rsetzt […] den Willensbegriff durch den Systembegriff “38. 2. Sinn und Handlung Soziale Systeme sind nach Luhmann „sinnkonstituierende Systeme“39. Im Begriff der „Konstitution“ soll das „Verhältnis[] von Sinn und System“40 erfaßt werden. Sinn ist einerseits an Systeme gebunden, andererseits übersteigen die sinnhaft gegebenen Möglichkeiten die Grenzen des Systems.41 Luhmanns Begriff des Sinnsystems trägt Züge einer Vereinseitigung in Richtung auf Kognition, denn Sinn wird phänomenologisch als „die Ordnungsform menschlichen Erlebens“42 und nicht des Handelns eingeführt. Dieser primäre sinntheoretische Begriff des Erlebens wird nicht von dem des Handelns unterschieden. Sondern der Handlungsbegriff kommt bei Luhmann erst innerhalb des Bereichs sozialer Systeme in Form 35
Luhmann, Legitimation, S. 154. Luhmann, Legitimation, S. 153 f. 37 Luhmann, Theorie der Verwaltungswissenschaft, S. 70. 38 Luhmann, Legitimation, S. 142 f. Er fügt an anderer Stelle hinzu: Der Willensbegriff „könnte beibehalten werden, wenn man damit die Tatsache bezeichnet, daß ein System auf Grund eines strukturierten Gedächtnisses in der Lage sein kann, unzureichende Informationen durch intern gespeicherte Informationen, durch generalisierende Schlüsse aus Informationen und durch gelernte Entscheidungsregeln zu ergänzen und so trotz unzulänglicher Information zu einer Entscheidung zu kommen. In dem Maße, als das geschieht, handelt ein System auf Grund seines eigenen Charakters. Der Wille ist also nicht etwa eine frei tanzende irrationale Kraft, sondern eher etwas, was Gesetzen und Registraturen verwandt ist – eine rationale Funktion der Absorption von Unsicherheit auf Grund systemintern geordneter Entscheidungsprämissen.“ (Luhmann, Theorie der Verwaltungswissenschaft, S. 70) Luhmanns „Uminterpretation“ des Willens als „Bevorzugung interner gegenüber externer Information“ in sozialen Systemen aufgrund eines systemeigenen, invarianten Charakters bedeutet in politischer Hinsicht, daß der Begriff des Willens sich nicht mehr „auf ‚das Volk‘, sondern nur noch auf das politische System als Träger von Willen beziehen“ (Luhmann, Legitimation, S. 154, Anm. 5) läßt. 39 Luhmann, Sinn als Grundbegriff, S. 28. 40 Luhmann, Sinn als Grundbegriff, S. 30. 41 Luhmann, Sinn als Grundbegriff, S. 30, formuliert, daß „Sinn immer in abgrenzbaren Zusammenhängen auftritt und daß er zugleich über den Zusammenhang, dem er angehört, hinausverweist: andere Möglichkeiten vorstellbar macht“. 42 Luhmann, Sinn als Grundbegriff, S. 31 (Hervorh. hinzugefügt). 36
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der für die Zurechnungsprozesse des Systems grundlegenden Unterscheidung von Erleben und Handeln vor.43 Der Begriff des Erlebens kommt somit eigentlich, wie Jürgen Habermas zurecht feststellt, zweimal vor.44 Erleben ist zum einen die basale Zugangsweise zu Sinn überhaupt, zum anderen bezeichnet Erleben die Zurechnung von Selektionen auf die Umwelt im Unterschied zum Handeln als Zurechnung auf das System. Diese Dopplung gilt für den Begriff der Handlung nicht, sondern Handeln wird allein unter der kognitiven Vorbedingung des als Form des Erlebens bestimmten Sinns relevant. Handeln ist für Luhmann immer schon „sinnhaft identifiziert“45, also erlebt. Das Handeln ist damit, um eine weitere treffende Formulierung von Habermas aufzugreifen, unter die „Quarantäne des Erlebens“46 gestellt. Dieser Vorrang des Erlebens bzw. der Kognition vor der Volition hält sich bis in Soziale Systeme durch, wo die unter der Bedingung doppelter Kontingenz anlaufende Strukturbildung sozialer Systeme „am Erleben von Handlung festgemacht“47 wird. Legt man die Unterscheidung von Konstitution, Regulation und Schematismus an, sind überdies im Begriff des sinnkonstituierenden Systems Konstitution und Regulation nicht klar voneinander unterschieden. Denn soziale Systeme sollen nach Luhmann als sinnhafter Zusammenhang von Handlungen die sinnhaft-konstitutive Grenze von System und Umwelt stabilisieren.48 Die Unklarheit über das Verhältnis des Handelns als Grenzziehung zu einer Umwelt und als interner Zusammenhang wird durch den Begriff der sinnhaften Komplexität bzw. des Komplexitätsgefälles überdeckt, nach dem die sinnhaft erlebbare Komplexität der Umwelt die sinnhaft erlebbare Komplexität des Systems übersteige.49 So wird zwar begrifflich die Verbindung von System und Umwelt erfaßt – denn sowohl System als auch Umwelt werden als komplex bestimmt –,50 deren bestimmungslogisch ebenso notwendige Trennung jedoch lediglich als Gradualität, das heißt aber in regulativer und gerade nicht, wie es der Anspruch ist, in konstitutiver Hinsicht gedacht. Dies wird ähnlich auch und völlig zurecht von Wolfgang Lipp moniert: „An die Stelle von ‚Grenzen‘ […] tritt […] am Ende ein bloßer Übergang: ein ‚Gefälle‘
43 Vgl.
Luhmann, Sinn als Grundbegriff, S. 75 ff. Habermas, Theorie der Gesellschaft, S. 202 f. 45 Luhmann, Sinn als Grundbegriff, S. 80. Vgl. ebd., S. 90. 46 Habermas, Theorie der Gesellschaft, S. 203. 47 Luhmann, Soziale Systeme, S. 159. 48 „Unter sozialem System soll hier ein Sinnzusammenhang von sozialen Handlungen verstanden werden, die aufeinander verweisen und sich von einer Umwelt nicht dazugehöriger Handlungen abgrenzen lassen.“ (Luhmann, Soziologie als Theorie sozialer Systeme, S. 145). 49 Vgl. z. B. Luhmann, Sinn als Grundbegriff, S. 72 f. 50 „Weltkomplexität“ und „Systemkomplexität“ bilden nach Luhmann, Soziologie als Theorie sozialer Systeme, S. 147, ein „Verhältnis der Entsprechung“. 44 Vgl.
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von Komplexität. […] Komplexität […] erscheint als Leerformel“51, die das von Lipp existenziell verstandene Handlungsproblem überdeckt.52 Diese Unklarheit geht letztlich auf die Auswechslung bzw. Umformulierung des handlungstheoretischen Letztproblems der geschichtlich-politischen Ersetzbarkeit bzw. der Selbsterhaltung durch das phänomenologische Problem der Welt zurück.53 Die Welt bildet das letzte Problem der funktionalen Analyse der Systemtheorie: „Weil die Welt keine Umwelt hat, kann sie auch nicht bedroht werden. Anders als im Falle von Systemen ist ihr Bestand nie gefährdet und daher auch nicht problematisch. […] Alle Bestandsgefährdung muß daher als Möglichkeit in der Welt gedacht werden, alle Bestandsvernichtung ereignet sich in der Welt. Zum Problem wird die Welt nicht unter dem Gesichtspunkt ihres Seins, sondern unter dem Gesichtspunkt ihrer Komplexität.“54
Die Bestandsgefährdung stellt sich unter diesen Vorzeichen nicht als existenzielle Gefahr, sondern für ein System als kognitive „Gefahr“ der Auflösung der Grenze zwischen System und Umwelt dar, welche die Rückkehr zu unbestimmbarer Komplexität, das heißt von „‚Differenzlosigkeit‘“55, bedeuten würde. Luhmanns Umstellung der theoretischen Grundbegriffe in Richtung auf eine Kognitivierung des Handlungsproblems läßt sich auch anhand des Begriffs der „Systemstrategie der Subjektivierung“56 zeigen, welche als grenzbildende Operation sozialer Systeme auf das Grundproblem der ‚Reduktion von Komplexität‘ reagiert. Die Strategie der Subjektivierung bezieht sich auf eine gegebene Lage als solche. Es ist zu beachten, daß die Subjektivierung nicht an die individuelle Einzelhandlung gebunden, sondern auf der Ebene der Systemrationalität angesiedelt ist: „Grundlegend vereinfacht sich das System seine Umweltlage dadurch, daß es die objektive Situation durch eine subjektive ersetzt, das heißt sein Handeln nicht unmittelbar durch die Wirklichkeit bestimmen läßt, sondern es nach seiner Vorstellung der Wirklichkeit ausrichtet. Die unfaßbare Komplexität der Welt wird dadurch in eine Perspektive gefaßt, kann in Ausschnitten Erlebnisthema werden in der Form einer immer schon bestimmten und weiter bestimmbaren Unbestimmtheit.“57
Nach Freyer und Gehlen sind Handlungssituationen so strukturiert, daß sich das Handeln als bestimmte Unbestimmtheit der unbestimmten Bestimmtheit einer situativen Herausforderung ausgesetzt sieht. Die Einheit dieser beiden Momente ist die einzunehmende Situation als solche. Lagebezogenes Handeln findet statt, wenn man sich selbst handelnd als durch die unbestimmte Verpflichtung der Lage
51
Lipp, Anomie, S. 360, Anm. 59. Lipp, Anomie, S. 359. 53 Vgl. Luhmann, Soziologie als Theorie sozialer Systeme, S. 145 ff. 54 Luhmann, Soziologie als Theorie sozialer Systeme, S. 146. 55 Göbel, Theoriegenese, S. 47. 56 Luhmann, Zweckbegriff, S. 182. 57 Luhmann, Zweckbegriff, S. 182. Vgl. Luhmann, Legitimation, S. 41. 52 Vgl.
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bestimmt – das heißt als deren bestimmte Unbestimmtheit – auffaßt.58 Mit Freyer und Gehlen wird sichtbar, daß Luhmann das eigentliche Handlungsproblem umgeht. Denn die Situation wird bei Luhmann nicht als geschichtliche Wirklichkeit, sondern als systemrelative („subjektive“) Vorstellung und damit als kognitives Problem qualifiziert. Dadurch wird es zugleich und völlig folgerichtig unmöglich, „daß ich meine Lage und die Zugänglichkeit für mich als ermöglichende Bedingung der Möglichkeit setze“, sondern gerade dies „muß aufgegeben werden“59. An die Stelle einer ursprünglichen Situationsbestimmung treten in der Systemtheorie die generalisierten Medien der Problemlösung. 3. Generalisierte Medien der Problemlösung Generalisierte Medien der Problemlösung wie Geld, Macht, Wahrheit, Liebe oder persönliche Freude am Einsatz für bestimmte Zwecke60 vermitteln sozialen Systemen die „gegenwärtig[e] Sicherheit, innerhalb der Reichweite dieser Medien künftige Probleme noch unbekannter, ja unvorhersehbarer Art bewältigen zu können. Der Besitz solcher Medien ist mithin […] ein Gewißheitsäquivalent“61, das als „rational verläßliche Sicherung“ gesellschaftlicher Situationen an die Stelle des „Festigkeit des Bodens“62 der Geschichte tritt. Luhmann bezeichnet die generalisierten Medien der Problemlösung deshalb auch „Technik der Systeme“63. Die Vermutung liegt nahe, daß Luhmann mit diesem weiten Begriff von Technik als Medium der Problemlösung an Freyers Begriff der Technik als „ein Können überhaupt“ und „für freibleibende Zwecke“64 anknüpft.65 Der Vergleichsgesichtspunkt besteht in der Dekontextualisierungsfunktion von Technik und Medien, durch die Problemlösungen zeitlich, räumlich und sozial objektiviert und generalisiert werden, so daß sie mehr oder weniger gleichgültig dagegen sind, wer sie wann und wo benutzt. Technik in diesem erweiterten Sinn als „Schema des Denkens“ und „Schema des Wollens“66 ist Inbegriff einer bestimmten sozialen Erwartungshaltung im Zusammenhang sekundärer Systeme, für die primär die zukünftigen Mög-
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Auf diese Weise reflektiert sich der Wille. Luhmann, Sinn als Grundbegriff, S. 47. 60 Vgl. Luhmann, Zweckbegriff, S. 201 – 211. 61 Luhmann, Zweckbegriff, S. 204. 62 Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 205. 63 Luhmann, Grundrechte, S. 181. 64 Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 167. 65 Eine ähnliche Parallele zwischen Technik und generalisierten Medien der Problemlösung ist mit Blick auf Gehlen festgestellt worden. Nach Wöhrle, Metamorphosen, S. 311, entfaltet Gehlens „Analyse des Werkzeuggebrauchs eine ähnliche Sichtweise auf ‚generalisierte Medien der Problemlösung‘“. 66 Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 167. 59
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lichkeiten in Betracht kommen, während der Rückbezug des Handelns auf seine Geschichtlichkeit und Situativität zurücktritt.67 Funktionsspezifische Medien der Problemlösung schränken den Bereich künftiger Probleme sachlich ein. Beispielsweise stellt Geld die spezifische „Lösung wirtschaftlicher Probleme“68 dar, indem es sich generalisierend auf eine unbestimmte wirtschaftliche Zukunft bezieht, weil man bereits gegenwärtig wisse, daß man auch zukünftig Geld für Zahlungen einsetzen könne. Geld ist sachlich generalisierend, weil es unbestimmte Güter vergleichbar macht, und es generalisiert die Sozialdimension, weil es als Zahlungsmittel gegenüber unbestimmten Partnern dient.69 Wie am Beispiel des Mediums der Macht deutlich wird, greift Luhmann zur Explikation der bestimmungslogischen Verhältnisse auf Gehlens Begriff der unbestimmten Verpflichtung zurück: legitime Macht kann den Machtunterworfenen „unbestimmt verpflichten“, stellt also ein „vielfältig verwendbares Potential der Situationsbestimmung“70 dar, das „als generalisierter Einfluß [besteht], andere zu einem im voraus nicht genau festgelegten, aber bestimmbaren Verhalten zu veranlassen, das sie von sich aus nicht wählen würden“71. Im Bereich der Macht repräsentiert also das Medium bestimmungslogisch die unbestimmte Bestimmtheit,72 während das Kollektiv der Machtunterworfenen (als Träger eines noch nicht festgelegten, aber bestimmbaren Verhaltens) eine bestimmte Unbestimmtheit bildet. Der Unterschied zu Freyer ist, daß die Situativität als solche in der funktionalen Spezifikation der generalisierten Medien durch soziale Systeme verschwindet.73
67 Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 167, bezeichnet Technik in diesem Sinn auch als „das Symbol und die konzentrierte Essenz des gegenwärtigen Zeitalters“. 68 Luhmann, Zweckbegriff, S. 205. 69 Vgl. Luhmann, Zweckbegriff, S. 205. 70 Luhmann, Zweckbegriff, S. 207. 71 Luhmann, Zweckbegriff, S. 206 f. 72 Luhmann, Institutionalisierung, S. 31, verwendet den Terminus der „unbestimmten Bestimmtheit“ an anderer Stelle wörtlich, um das Anlaufen von Strukturbildung (als Institutionalisierung) zu beschreiben. 73 Lipp, Mimesis oder Drama, S. 361, Anm. 2, zufolge rückt die Systemtheorie durch diese Wendung tendenziell von einer wirklichkeitswissenschaftlichen Theorieanlage ab und entfaltet „zunehmend ein ‚möglichkeitswissenschaftliches‘ Programm“.
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XI. System und Institution In seiner begriffsgeschichtlichen Rekonstruktion der Systemtheorie mit Blick auf Gehlen zeigt Andreas Göbel, daß Luhmann für seine Theorie der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien und deren Codierung auch auf Gehlens institutionentheoretischen Begriff der Gewohnheitsbildung zurückgreift. Göbel stellt fest, daß Luhmanns Aneignung von Gehlens Theorie „nicht handlungstheoretisch angeleitet“1 ist, sondern daß er die von Gehlen bezogenen institutionentheoretischen Begriffe „in die kybernetische und informationsverabeitungstheoretische Sprache des Zwangs zur Reduktion zur Komplexität“2 übersetzt. Die Kontinuität zwischen Gehlen und Luhmann liegt auf der Ebene des Strukturbegriffs.3 Nicht der Autopoiesisbegriff tritt die Nachfolge des Institutionenbegriffs an, sondern der Begriff der Institution wird als dynamisch verstandener Mechanismus der Institutionalisierung, das heißt der Erwartungsbildung, funktional auf die „Strukturierung von Handlungen“4 in Systemen bezogen. Damit geht Göbel zufolge zugleich eine Klärung der Gehlenschen Begriffsverwendung einher.5 Luhmann nehme also zwar zunehmend vom Terminus Institution Abstand, „nicht aber von den theoretisch partiell durchaus haltbaren und plausiblen Prämissen“6, auf denen der mit dieser Bezeichnung verbundene Begriff beruht. Luhmann interessiert sich wie Gehlen für das Phänomen der Gewohnheitsbildung, die systemtheoretisch anhand der generalisierten Kommunikationsmedien beschrieben wird: „Es ist geradezu die Funktion dieser Medien im Verständnis Luhmanns, als Motiversatz im Sinne ihres erwartbaren und gewohnheitsmäßigen Gebrauchs zu fungieren […]“7. Luhmann nimmt damit Gehlens Gedanken der „Motivauslöschung durch Gewohnheitsbildung“ bzw. der „Trennung von Motiv und Zweck“8 auf. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien führen nach Luhmann den Erfolg von Kommunikation herbei, indem sie die Übertragung von Selektionen unter der Bedingung doppelter Kontingenz, das heißt doppelter Selektivität, sicherstellen. Dies geschieht dadurch, daß die Kontingenz des Selektionsprozesses als solche reflektiert und zum Motiv der Annahme der Kommunikation wird. Es geht also um die Selektion von Selektivität. Göbel stellt nun instruktiv fest, daß Luhmann im Gegensatz zur Institutionenlehre Gehlens dem von Gehlen gefürchteten „Subjektivismus […] die kommunikationstheoretische Form des Nein-Sagens gibt“ und „in einem zweiten Schritt 1
Göbel, Institution, S. 187. Göbel, Institution, S. 187. 3 Vgl. Göbel, Institution, S. 190. 4 Göbel, Institution, S. 187. Vgl. Luhmann, Institutionalisierung. 5 Vgl. Göbel, Institution, S. 187. 6 Göbel, Institution, S. 186. Vgl. auch Wöhrle, Metamorphosen, S. 319. 7 Göbel, Institution, S. 189. 8 Göbel, Institution, S. 188. 2
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aber dieses Nein-Sagen-Können als konditioniert, also: als institutionell gehegt, weil immer schon an die Formen codierter Kommunikationen gebunden, rekonstruiert“, wodurch „die Medien der Funktionssysteme […] als Institutionen qualifiziert werden“9 können. Auf diese Weise wird die „Gewohnheit, mit der man sich in den Bezugshorizont des Medienensembles der Moderne stellt, nur einfach in terms der Kybernetik (1 – 0, an-aus) als ein Automatismus reformuliert“10. Dem nach Gehlen für die Stabilität der Institutionen „gefährlichsten aller Medien, der Reflexion“11, wird so die Sprengkraft genommen. Mehr noch: indem die Reflexion in die Zweiseitenform des Codes gezwungen wird, trägt sie nunmehr selbst zur Stabilisierung der als Institutionen verstandenen Funktionssysteme bei, weil jeder Wert „immer nur den Gegenwert […] provoziert und so die (prinzipiellen) Ablehnungsmöglichkeiten auf diesen Gegen-Wert hin orientiert“12. Dies wäre also der gesellschaftstheoretische Begriff der Gewohnheit, bei dem „lediglich eine Theoriesprache […], nicht ineins damit aber auch die Einsichten“13 der Handlungs- und Institutionenlehre, ausgetauscht werden: die Antizipation der Kontingenz des Selektionsprozesses, die nach Luhmann das Motiv für die Akzeption der durch symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien vermittelten Kommunikation liefert, habe infolge der Codierung der Medienbereiche „motivauslö schende[] Effekte der Etablierung von Gewohnheiten“, die sich somit zu „motivlosen Automatismen“14 verdichten können. Göbels Analyse der Verbindung von Gehlens Institutionen- mit Luhmanns Funktionsmedienbegriff liegt zugleich jene oben diskutierte Problemverschiebung in der Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien von einem kommunikationstheoretischen zu einem gesellschaftstheoretischen Bezugsproblem zugrunde.15 Mit Luhmanns Schwerpunktverlagerung zwischen der Kommunikationstheorie und der Theorie der funktional differenzierten Gesellschaft geht noch eine weitere, oben noch nicht erwähnte begriffliche Veränderung einher. Denn interpretiert man diese Verschiebung der Problemschwerpunkte selbst wieder kommunikationstheoretisch, wird sichtbar, daß „alle älteren Funktionsangaben dieser Medien auf der Informationsseite angesiedelt sind“16, weil kommunikativer Erfolg darüber definiert wird, daß „Ego den selektiven Inhalt der Kommunikation (die Information) als Prämisse eigenen Verhaltens übernimmt“17. Die spätere Funkti9
Göbel, Institution, S. 189. Göbel, Institution, S. 189. 11 Gehlen, Urmensch, S. 301. 12 Göbel, Institution, S. 189. 13 Göbel, Institution, S. 189. 14 Göbel, Institution, S. 190. 15 Vgl. Göbel, Theoriegenese, S. 79 ff., 179 ff., 207 ff. u. 240 ff. sowie oben Kap. II.3. u. III.2. 16 Göbel, Theoriegenese, S. 250. 17 Luhmann, Soziale Systeme, S. 218, zit. nach Göbel, Theoriegenese, S. 250 (Hervorh. ebd.). 10
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onsangabe setze demgegenüber an der „Mitteilungsseite von Kommunikation“18 an. Es ist zu beachten, daß damit implizit die Unterscheidungen von Selbst- und Fremdreferenz sowie von Sozial- und Sachdimension angesprochen sind, denn die Mitteilung steht als Mitteilungshandlung für die in der Sozialdimension angesiedelte Selbstreferenz der elementaren kommunikativen Einheit,19 während die Information in der Sachdimension liegt und fremdreferentiell orientiert ist. So wird erklärlich, daß die nach Göbel ‚neue‘ Medienfunktion darin besteht, einen „Raum jeweils spezifischer Kommunikationsformen, nicht aber Annahmewahrscheinlichkeiten bezüglich des informationellen Gehalts von Kommunikation“20, zu bestimmen. Das Problem ist also nunmehr, über kommunikative Ereignisse als Einheiten zu disponieren, sodaß sich der Erfolg einer Kommunikation daran zeige, daß die folgende Kommunikation „die Strukturvorgabe, die sich in ihrem Bezug auf ein Medium artikuliert, fortsetzt“21. Erfolg heißt dann, daß ein kommunikatives Ereignis aufgrund des Bezugs auf ein vorhergehendes sich dem von diesem benutzten Strukturbereich zuordnet, wobei es sich bei diesen Strukturbereichen um die „Codierung des Mediums“22 handelt. Mitgeteilt in diesem Sinne wird also die implizit bleibende (Selbst-)Zuordnung eines Kommunikationsereignisses zu einem codierten Medienbereich. Dies löst nach Göbel eine Unklarheit der ‚frühen‘ Medientheorie auf. Deren „Schwierigkeit ist ganz offenbar die, daß die Begriffe der Annahme und Ablehnung sofort die Rückfrage nahelegen, wer annimmt oder ablehnt“23. Weil diese Frage auf einen Bereich außerhalb der Einheit der Kommunikation verweist, bleibt systemtheoretisch nur die Antwort: psychische Systeme. Die andere naheliegende Antwort: kommunikative Adressen, ist hier nicht möglich, weil Adressen kommunikationsinterne Strukturen sind. Allerdings widerspricht auch die erste Antwort, wie Göbel zurecht feststellt, der systemtheoretischen „Emergenzthese“24 von Kommunikation, die eben zur Folge hat, daß auch die Unterscheidung von Annahme und Ablehnung sozial bestimmbar sein muß. Diese Unklarheit resultiert aus 18
Göbel, Theoriegenese, S. 250. der Unterscheidung von Information und Mitteilung wird Handeln in zwei verschiedenen Kontexten sozial konstituiert: als Information bzw. als Thema einer Kommunikation oder als Mitteilungshandeln. Es gibt, anders gesagt, sehr wohl nichtkommunikatives Handeln, über das die Kommunikation sich nur informiert. Auch dessen soziale Relevanz wird jedoch durch Kommunikation vermittelt. Kommunikationssystemen steht es frei, über Handlungen oder über etwas anderes zu kommunizieren; sie müssen jedoch das Mitteilen selbst als Handeln auffassen, und nur in diesem Sinne wird Handeln zur notwendigen Komponente der Selbstreproduktion des Systems von Moment zu Moment.“ (Luhmann, Soziale Systeme, S. 227). 20 Göbel, Theoriegenese, S. 250. 21 Göbel, Institution, S. 250. 22 Göbel, Institution, S. 251. 23 Göbel, Theoriegenese, S. 192. 24 Göbel, Theoriegenese, S. 192. 19 „Entsprechend
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der von Alois Hahn aufgewiesenen Recartesianisierung auf dem Weg von Gehlens Handlungslehre zu Luhmanns systemtheoretischer Leitunterscheidung von organischen, psychischen und sozialen Systemen.25 Dies stellt in theoretisch abstrahierter Form ebenjenes Problem dar, das bereits anhand des Verschwindens der Adressabilität beim institutionellen Warnen vor Katastrophen diskutiert wurde, die, um es metaphorisch zu formulieren, einen reflexiven Zwischenbereich zwischen den psychischen Systemen und den kommunikativen Adressen nahelegen, der zu dieser Unterscheidung quer steht, dem aber gleichwohl Bestimmtheit zukommt. Die systemtheoretische Unklarheit verweist überdies zurück auf Kapitel I.3, wo ausgehend von der Feststellung Luhmanns, daß es sich bei der Technik um einen „ökologische[n] Sachverhalt“26 handele, das Problem des Unbestimmt-Werdens kommunikativer Adressabilität angesichts der Computertechnologie erörtert wurde. Das Fazit oben war, daß aufgrund der Eigenschaft von Computern und insbesondere von Rechnernetzwerken, Informationen produzieren zu können, denen keine Mitteilungsabsicht mehr zugeordnet werden kann, eine „Suche nach einer kontingenten Begrenzung der Kontingenz“27 der kommunikativ (aufgrund der Auflösung der zurechenbaren Mitteilungsabsicht) nicht mehr bestimmbaren informationalen Überlast provoziert. Dirk Baecker spitzt dieses Problem der Unbestimmbarkeit der Mitteilungsadresse dahingehend zu, daß nunmehr damit zu rechnen sei, „[w]ith the machine“ in „a two-way, an interactive communication […] complete with double contingency“28 einzutreten. Wie wir nun sehen können, würde damit die von Göbel nachvollzogene Akzentverschiebung in den systemtheoretischen Grundbegriffen zu einem Abschluß gebracht: die Konstituierung der Funktionssysteme durch Paradoxien und deren Entfaltung, welche die Frage nach dem Status des ebenfalls als konstitutiv eingeführten Theorems der doppelten Kontingenz aufwirft, wird mit der These einer doppelten Kontingenz mit Computern so radikal beantwortet, daß man die Frage nach der präkatastrophischen Situation der doppelten Kontingenz zwischen Ego und alter Ego gar nicht mehr stellen braucht, denn „[t]he grid is running anyhow“29. Baecker sieht vor diesem Hintergrund eine zunehmende Überformung der funktional differenzierten Kommunikation durch sogenannte „cultural forms“, welche den netzinduzierten „catastrophic overflow of meaning“30 irgendwie zu handhaben vermögen. Diese Überformung ist der von Freyer beschriebenen Möglichkeit der politischen Überformung der Funktionssysteme nicht unähnlich.31 Der grundlegende Unterschied liegt freilich darin, daß Baecker in seiner 25 Vgl.
Hahn, Der Mensch u. oben Kap. I.1. Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 105. 27 Esposito, Soziales Vergessen, S. 323. 28 Baecker, Communication with Computers, S. 412. 29 Baecker, Toward Next Society, S. 22. 30 Baecker, Communication with Computers, S. 414. 31 Vgl. oben Kap. VII.2. 26
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Theorie des „Rechnens“ das Reflexionsproblem sowie das Problem des Politischen ausblendet.32 Gegen diese Ansicht ist einzuwenden, daß das Problem der informativen Entgrenzung kein kognitives Problem sein kann, weil es nicht darin besteht, daß bestimmte Erwartungen überfordert werden, sondern daß keine Erwartungen gebildet werden können. Es handelt sich um ein Reflexionsproblem. Denn der in Rechnernetzen generierte Informations- und Sinnüberschuß bringt eine Form der Kontingenz hervor, in der der Benutzer „seine eigene Kontingenz vor[findet] und […] sie nicht mehr erkennen [kann]“33. Daraus folgt kein kognitives, sondern ein volitives Problem, welches es mit der Entscheidung darüber zu tun hat, „wann man eine Wahl treffen muß und wann man diese Entscheidung anderen (selbst dem Computer) überlassen sollte“34. Diese Unterscheidung ist nun aber ganz offensichtlich exakt jene von Gehlen als Grundlage seiner Handlungslehre in der Theorie der Willensfreiheit eingeführte und ausgearbeitete Unterscheidung von Wahlhandeln und freier Entscheidung. Denn es geht um die Entscheidung, wann Wahlhandeln sinnvoll ist und wann nicht. Die Unbestimmtheit der eigenen Kontingenz aber entspricht der von Gehlen anthropologisch zu konturieren versuchten Unbestimmtheit „des Menschen“ als Handelnden. Göbels Frage, „wer annimmt oder ablehnt“35 verweist auf ein Adressabilitätsproblem, das jenseits der Kommunikation angesiedelt ist, aber mit dieser in Beziehung steht. Eben dies ist die Einsatzstelle für die Handlungs- und Institutionenlehre der Leipziger Schule. Die beobachtete grundbegriffliche Verschiebung der konstitutiven Basis sozialer Systeme von doppelter Kontingenz zwischen Ego und Alter über die Paradoxien der Funktionssysteme zur doppelten Kontingenz mit Computern ist keine Verschiebung, sondern verweist auf die potentielle Ersetzbarkeit der Kommunikation als Lösung des Problems der doppelten Kontingenz als Situation.36 Doppelte Kontingenz ist als Situation selbst eine entscheidungsabhängige Option. Man kann sich auf sie einlassen (Akzeption) oder nicht (Rejektion). Die Verbindung zwischen Kommunikation und Handlung bzw. System und Institution leistet der Begriff der Reflexion. Luhmann hat exakt diese Verbindung anfangs auch selbst noch markiert, wenn er feststellt, daß der „Willensbegriff […] eine […] Reflexion auf die Totalität der Person“ bzw. auf einen „Organismus, eine Person, eine Gruppe, eine Organisation [bezeichnet]“37. Diese bestehenden Ein-
32 Gleichwohl hat Baeckers Theorie politische Implikationen, verlegt er doch ganz im Gegensatz zu Freyer das Entscheidungsproblem wie auch die Bedingungen der Möglichkeit sozialer Systeme in die Technik selbst. Wir halten das für eine Mythisierung, der wir uns nicht anschließen wollen. 33 Esposito, Computer, S. 351 (Hervorh. hinzugefügt). 34 Esposito, Soziales Vergessen, S. 345. 35 Göbel, Theoriegenese, S. 192. 36 Vgl. oben Kap. I.3. Es wurde deshalb in dem angegebenen Kapitel Espositos Begriff der virtuellen Kontingenz als Reflexionsbegriff der doppelten Kontingenz bezeichnet. 37 Luhmann, Zweckbegriff, S. 13.
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heiten werden von Luhmann „als System“38 reformuliert, sie können aber auch als institutionell bestimmte Handlungspositionen rekonstruiert werden. Daß die Verabschiedung dieses Theoriestrangs vielleicht doch voreilig war, zeigen aber erst die Probleme der späten Systemtheorie. Dieser Befund legt es aus der hier vertretenen Sicht nahe, den Vergleich der Systemtheorie mit der Institutionenlehre nicht nur mit Gehlens relativ später, das Reflexionsproblem nur in negativer Weise thematisierender Institutionenlehre, sondern zuerst mit der Theorie der Willensfreiheit zu ziehen.39 Zum einen wird dort die Kontingenz dessen, was später als Subjektivismus oder als Dauerreflexion bezeichnet wird, der einfachen Reflexion zugeordnet, die von der doppelten Reflexion zu unterscheiden ist. Die doppelte Reflexion verschwindet allerdings mit der Anthropologisierung seiner Handlungstheorie zunehmend aus Gehlens Denken. Zum anderen führt Gehlen in der Theorie der Willensfreiheit die Unterscheidung von Akzeption und Rejektion in einem handlungstheoretischen Sinn ein, der noch einen ausdrücklichen Bezug zur Reflexionstheorie aufweist, geht es doch um die Abstoßung des einfach-reflexiven Zusammenhangs des bloßen Wahlhandelns und um die Bejahung der situativen Kontingenz des Handelns als solcher. Für ein volles Verständnis des Problems muß man sich außerdem Gehlens Kommunikationsbegriff aus Der Mensch vergegenwärtigen.40 In dieser Sache ist festgehalten worden, daß es durch Kommunikation im Sinne Gehlens möglich wird, die „Einstellungen und Erfahrungen anderer“41 – das heißt anderer Handelnder – mitteilbar zu machen. Der Inhalt solcher Mitteilungen sind die Bedeutungen der Dinge, welche nach Gehlen immer Handlungsmöglichkeiten bzw. -ansätze sind. Diese Dimension der Mitteilung kommt in der kognitiv orientierten Systemtheorie nicht vor. Gleichwohl haben wir es hier mit dem Gedanken der Selektionsübertragung zu tun, und zwar, mit Göbel gesprochen, unter Konzentration „auf die Mitteilungsseite von Kommunikation“42, jedoch wie gesagt in einer im Sinne der Leipziger Schule handlungstheoretischen Ausrichtung des Kommunikationsbegriffs. Dies läßt sich auf die von Göbel aufgezeigte Funktionsbestimmung des Medienbegriffs nicht als Selektionsübertragung bezüglich der „Informationsseite“43, sondern der Mitteilungsseite der Kommunikation beziehen. Der Aspekt der Mitteilung steht im systemtheoretischen Kommunikationsbegriff für den Handlungs aspekt der Kommunikation: Mitteilungen sind Handlungen, als solche müssen sie auf unterstellte Selbstreferenzen zugerechnet werden. Knüpft man nun hieran Gehlens Handlungskommunikationsbegriff, hat dies zwei Konsequenzen: zum einen erfährt Luhmanns auf kommunikativer Zurechnung beruhender Handlungsbegriff eine handlungstheoretische Überdeterminierung. Zum anderen ergibt sich eine 38
Luhmann, Zweckbegriff, S. 13. Vgl. dazu oben Kap. V.4. 40 Vgl. oben Kap. VI.5. 41 Gehlen, Mensch, S. 362. 42 Göbel, Theoriegenese, S. 250. 43 Göbel, Theoriegenese, S. 250. 39
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Anknüpfungsmöglichkeit im Hinblick auf das Bezugsproblem der „späten“ Medientheorie Luhmanns, das heißt auf die (Selbst-)Zuordnung von Kommunikationen zu bestimmten Funktionssystemkontexten. Damit zeigt sich aber, daß der systemtheoretisch rekonstruierte Automatismus des Gebrauchs der generalisierten Medien sich nicht mit Gehlens Figur der Bejahung dessen, was sowieso geschieht, sondern mit dem ebenfalls aus der Theorie der Willensfreiheit stammenden Begriff des Verzichts auf Verwerfungsfreiheit deckt. Der Unterschied ist, ob dem Bejahen eine totale Verwerfung vorangeht oder ob es als „Unterlassen des Verwerfens“ und damit als „Verzicht auf eigentliche Entscheidung“44 vollzogen wird.45 Eine Gewohnheit als blanken Automatismus des Mediengebrauchs kann es jedenfalls nicht geben, ebensowenig wie es nach Gehlen ein rein gewohnheitsmäßiges, automatisches Handeln geben kann. Anläßlich der Diskussion von Gehlens Kommunikationsbegriff wurde oben festgestellt, daß es bei dem unter dem Schutz einer Institution stattfindenden Aufbau von Handlungsgewohnheiten hinsichtlich der abschließenden Ausbildung eines Charakters als einer zurechnungsfähigen Handlungsadresse einen letzten Schritt gibt, der in dem vorreflexiven und unproblematischen, das heißt naiven Prozeß des Annehmens und Ablehnens empirischer Handlungsbestimmungen gerade nicht aufgeht.46 Dabei handelt es sich, so sagten wir mit Gehlen, um die bewußte „Gründung“47 eines Charakters dergestalt, daß die im Schutz der Institution bis dato latent gebliebene Situativität und existenzielle Riskiertheit des Handelns als solche explizit bejaht wird. Geschieht dies, verwandelt sich der Status der Gewohnheiten. Wie Gehlen bereits in Wirklicher und unwirklicher Geist feststellt,48 ist es möglich, durch eine solche Entscheidung „ein anderes Verhältnis zum Alltäglichen“ zu gewinnen, welches von Gehlen zu diesem Zeitpunkt „die intensiv empirische Haltung“49 genannt wird. So wie es in sozialen Systemen eine Beobachtung zweiter Ordnung gibt, gibt es in Institutionen eine „zweite Objektivität“50, welche auf der Reflexion auf die institutionelle Bestimmtheit des Handelns beruht und naiv erworbene Gewohnheiten in autonom führbare Handlungserfahrung transformiert. Anders als es Gehlen oft unterstellt wird, entspricht dies nicht einer Furcht vor der Kontingenz der Moderne oder ähnlichem, sondern ganz im Gegenteil einer Bejahung der Kontingenz als ihrer Steigerung und existenziellen Formung, wodurch das empirische Alltagshandeln eine Überdeterminierung erfährt. Wie Gehlen immer wieder betont, ändert
44
Gehlen, Willensfreiheit, S. 39. der Ebene empirisch beobachteten Verhaltens ist ja beides äußerlich gar nicht voneinander zu unterscheiden, und das sich im Bereich der Resignation abspielende rationale Wahlhandeln wird tatsächlich oft mit Freiheit verwechselt. 46 Vgl. oben Kap. VI.3. 47 Gehlen, Mensch, S. 443. 48 Vgl. oben Kap. V.5. 49 Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, S. 251. 50 Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, S. 224. 45 Auf
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sich daraufhin das Handeln dem äußeren Anschein nach, das heißt für eine empirische Beobachtung von außen, gar nicht. Indem die Handelnden ihre eigene existenzielle Kontingenz, ihre Riskiertheit, bejahen, müssen sie zugleich über die Fähigkeit der Verwerfung der kognitiven Kontingenz der einfachen Reflexion verfügen, das heißt, von dieser Abstand nehmen können. Wenn nun die Theorie der codierten Kommunikationsmedien die einfache Reflexion in Gestalt des Reflexionswerts in den Rahmen der Codes zu integrieren vermag, weil Luhmann von institutionellen „‚idées directrices‘ zu ‚distinctions directrices‘“51 der Funktionssystemcodes übergeht, dann läßt sich genau hier über den Begriff der doppelten Reflexion der Handlungsbegriff der Leipziger Schule anschließen. Der auf die vermeintlich konstitutive Fundierung von Funktionssystemen durch Paradoxien zugespitzte52 Differenzierungstheorie Luhmanns entspricht also wirklich ein Konstitutionsproblem, es ist allerdings das des Handelns. Wie im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit gezeigt wurde, vollzieht sich die Konstitution des Handelns sowohl nach Freyer als auch nach Gehlen in der Bejahung existenzbedrohender Situationen, weil diese nur so bestimmbar werden. Wird die bedrohliche Situation nicht als solche angenommen (bejaht), bestimmt nicht der Handelnde die Situation, sondern diese den Handelnden. Solche konstitutiven Handlungen gewinnen Form, Stabilität und Vereinzelungsfähigkeit in Institutionen (Schematismus), welche einen Schutzbereich etablieren und so empirisches Handeln und Kommunizieren ermöglichen (Regulation). Luhmann paßt demgegenüber die handlungstheoretische Unterscheidung von Akzeption und Rejektion dem Automatismus der motivlosen Akzeption der Mediencodes an, wenn er deren Verhältnis zueinander mittels dieser Unterscheidung beschreibt. Er bezieht diese Unterscheidung nicht aus Gehlens Theorie der Willensfreiheit, sondern von Gotthard Günther, der sie aus dem handlungstheoretischen in einen logischen Kontext überführt. Günthers Grundgedanke ist auch ohne spezielle Logikkenntnisse nachvollziehbar.53 Die Unterscheidung von Akzeption und Rejektion wird anhand der Interpretation der folgenden einfachen logischen Wertfolgen eingeführt:54 51
Luhmann, Distinctions directrices, S. 18. dieser konstitutionstheoretischen Zuspitzung der Differenzierungstheorie wird mit der hier vorgenommenen Interpretation der Medien unter der bestimmungstheoretischen Funktion des Schematismus widersprochen. Damit bleibt der Bezug auf die Konstitution des Sozialen in der doppelten Kontingenz erhalten. Die doppelte Kontingenz enthält allerdings aufgrund des in ihr implizierten Verzichts auf Verwerfungsfreiheit das Handlungsproblem im Sinne der Leipziger Schule. 53 Vgl. zu einer Erläuterung im Hinblick auf eine soziologische Auswertung auch Clausen/Dombrowsky, Warnpraxis, S. 302 ff. u. Luhmann, Codierung des Rechtssystems, S. 181 ff. Zum Bezug auf die Handlungstheorie Gehlen/von Weizsäcker, Quantenmechanik. Zum Bezug zur Erkenntnistheorie vgl. Flach, Rez. v. Idee und Grundriß u. Flach, Rez. v. Beiträge zur Grundlegung. 54 Vgl. Günther, Das metaphysische Problem, S. 228. 52 Eben
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Die erste und die zweite Spalte dieser Tabelle enthalten die möglichen Kombinationen der logischen Werte wahr (W) und falsch (F). Die dritte und vierte Spalte enthalten die Werte, die sich ergeben, wenn man die logischen Funktionen der Und-Verbindung bzw. Konjunktion (˄) und der Oder-Verbindung bzw. Disjunktion (˅) auf die Wertkombinationen anwendet. So ist im Rahmen der zweiwertigen Logik die Konjunktion zweier wahrer Aussagen wahr, während die Und-Verbindung einer wahren mit einer falschen Aussage falsch ist. Die Oder-Verbindung einer wahren mit einer falschen Aussage hingegen ergibt eine wahre Aussage. Sowohl die Konjunktion als auch die Disjunktion zweier falscher Aussagen ist falsch. Günther faßt nun Konjunktion und Disjunktion als spezifische Selektionen der vorgegebenen logischen Wertkombinationen auf. In dieser allgemeineren Hinsicht, daß die logischen Funktionen als Selektionen gedacht werden, fällt trotz ihrer teilweise gegensätzlichen Wertwahl die Gemeinsamkeit auf, daß nur Werte gewählt werden, die auch vorgegeben sind. Dies macht die dritte und vierte Spalte einerseits mit der fünften andererseits vergleichbar: „Wenn wir jetzt Konjunktion und Disjunktion miteinander vergleichen, so fällt sofort eine gemeinsame Eigenschaft der beiden Funktionen auf: es werden nur Werte gewählt, die durch die Variablen angeboten werden. Für die erste und vierte Stelle besteht keine echte Wahl. Es ist nur ein Wert angeboten, also ist die Wertwahl der beiden Funktionen identisch. Im zweiten und dritten Fall zieht die eine Funktion den einen, die andere den alternativen Wert vor. Gemeinsam ist den derart entstehenden Wertserien also, daß sie bei unterschiedlicher Wahl die angebotene Alternative akzeptieren. Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt die letzte Wertfolge, so ergibt sich sofort folgendes: was immer der fremde, durch eine Ziffer bezeichnete Wert sonst sein mag, er drückt eine Rejektion der angebotenen Alternative aus. Dabei ist äußerst wichtig, sich klar zu machen, daß die Verwerfung nicht die Werte als solche betrifft, sondern eben die Alternativsituation.“55
Dies ist im Prinzip die Grundidee von Günthers mehrwertiger Logik. Denn aufgrund dieser Überlegung sieht man, daß die logischen Werte wahr und falsch jeweils bestimmte Plätze oder Leerstellen besetzen, von denen sie unterscheidbar sind. Während die Werte wahr und falsch den logischen Wert der Aussage unmittelbar wiedergeben, bezieht sich der Rejektionswert auf den Platz oder die Stelle, die von den klassischen Wahrheitswerten eingenommen werden können. Der Rejektionswert lehnt daher nicht den wahren oder falschen Gehalt einer Aussage ab, sondern setzt sich von dem angebotenen Wertbereich ab, in dem wahre und falsche Aussagen erst möglich werden. Denn es ist ein evidenter Unterschied, 55
Günther, Das metaphysische Problem, S. 229.
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ob ich im Rahmen einer bestimmten Fragestellung Antworten und Aussagen auf ihren Wahrheitsgehalt hin beurteile, oder ob ich eine Fragestellung als solche ablehne und mich einer ganz anderen Frage zuwende oder etwas ganz anderes tue. Im Umkehrschluß wird sichtbar, daß wahre oder falsche Aussagen stets die Akzeption eines solchen zweiwertigen Bereichs, das heißt einer Wertalternative als solcher, voraussetzen. Dieser Befund wird nun von Günther reflexionstheoretisch auf die von der klassischen zweiwertigen Logik erfaßte empirische Erkenntnissituation bezogen. Der neben wahr und falsch dritte logische Wert, den Günther zunächst heuristisch einführt, stellt eine Verwerfung der Wertalternative von wahr und falsch dar, auf der die klassische Logik beruht. Die klassische Logik aber bezieht sich auf das Denken des Seins.56 Weil er die Alternative (und nicht die Werte) zurückweist, enthält er einen „Reflexionsüberschuß“57. Deshalb verweist die Rejektion zugleich auf die Möglichkeit einer Operation, die Günther Transjunktion nennt.58 Die Transjunktion wäre der Übergang von einem zweiwertigen Wertbereich in einen anderen solchen Wertbereich. Daraus ergibt sich die Anschlußfrage, aus welchen Werten dieser andere Bereich zusammengesetzt ist, der ja neben der Alternative von wahr und falsch stehen würde. Wir brauchen diesem Problem hier 56 Vgl.
Günther, Grundzüge. Günther, Das metaphysische Problem, S. 231. 58 „Wir rufen uns nun in Erinnerung, daß […] die zweiwertige Logik völlig genügt, um das Universum als objektiven, nur mit sich selbst identischen, irreflexiven Seinszusammenhang darzustellen. Dieser Zusammenhang legt sich für das reflektierende theoretische Bewußtsein in formalen Alternativsituationen auseinander und eine Begriffsbildung, die sich in diesem Rahmen bewegt, begreift radikale Objektivität und nichts weiter. Konjunktion und Disjunktion sind in diesem Sinn also Vehikel des Seinsverständnisses. Wird aber in der letzten Funktion ein Rejektionswert eingeführt, so liegt darin eine noologische Verwerfung des ganzen irreflexiven Seinsbereichs. Derselbe wird in logischen Abstand gesetzt und erhält den Charakter einer Umwelt für etwas, das sich von ihr absetzt. Es erscheint uns nun, daß, wenn Subjektivität irgend einen formallogischen Sinn haben soll, der betreffende nur durch eine solche Absetzungsfunktion repräsentiert sein kann. […] Da eine Funktion, die Rejektionswerte enthält, den durch Konjunktion und Disjunktion umgriffenen irreflexiven Seinsbereich transzendiert, wollen wir das neue logische Motiv ‚Transjunktion‘ (T) nennen. Wem die Identifizierung von Konjunktivität und Disjunktivität mit reflexionslosen Seinsstrukturen (Objektivität) und von Transjunktion mit dem Reflexionscharakter der Subjektivität in diesem elementaren Stadium der Untersuchung vorschnell erscheint, oder wer überhaupt Bedenken gegen die Gleichsetzung formaler logischer Termini mit solchen von metaphysischer Natur hat, der sei daran erinnert, daß Subjekt und Objekt in dieser Untersuchung nur die Bedeutung haben sollen: System – mit und System ohne – Umwelt. Wenn wir von Transjunktions- bzw. von Rejektionswerten reden, so heißt das nur, daß wir eine Funktion besitzen, die eine logische Grenzlinie zieht zwischen einem O-System, das ohne Umwelt beschrieben werden muß und einer überschießenden Reflexionsstruktur (SSystem), die nicht ohne den Gegensatz von System und Umwelt begriffen werden kann. Die Theorie der Reflexion-in-sich ist auf allen Stufen die Lehre von jenen formalen Strukturen, in denen sich Rejektionen von beliebigen Wertalternativen manifestieren. Es scheint uns, daß man sich unter Subjektivität formal-logisch überhaupt nichts anderes denken kann.“ (Günther, Das metaphysische Problem, S. 229 f.). 57
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nicht weiter nachgehen, sondern wenden uns Luhmanns Aneignung der Unterscheidung von Akzeption und Rejektion zu. In Luhmanns Begriffsverwendung bezieht sich die Unterscheidung von Akzeption und Rejektion nicht auf formale logische Reflexionsstrukturen, sondern auf das Verhältnis der Funktionssystemcodes zueinander. Damit findet die im Rahmen der Logik schwer zu beantwortende Frage nach der inhaltlichen Interpretation der neuen zweiwertigen Wertbereiche eine Antwort. Die zweiwertigen Bereiche sind bei Luhmann keine logischen Wertbereiche, sondern die binären Codes der Funktionssysteme, die er allerdings ähnlich formal als Verkopplung eines positiven mit einem negativen Wert beschreibt, also neben wahr und unwahr für die Wissenschaft recht/unrecht für das Recht, Regierung/Opposition für die Politik, Eigentum haben/nicht haben für die Wirtschaft usw. Luhmann soziologisiert also Günthers Versuch, mehrere zweiwertige logische Bereiche miteinander in Verbindung zu bringen. Die Unterscheidung von Akzeption und Rejektion dient Luhmann nun dazu, einerseits die Ausdifferenzierung und autopoietische Schließung von Funktionssystemen sowie andererseits deren Verhältnis zueinander näher zu klären. Aus der Perspektive eines bestimmten Funktionssystems und dessen Codierung ist die Unterscheidung von Akzeption und Rejektion die „Form des Umgangs mit anderen Codierungen“59. Luhmann betont, daß unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung „jeder Code […] zugleich einen Rejektionswert im Bezug auf alle anderen [realisiert]“60. Dabei werden, in Übereinstimmung mit Günthers logischer Überlegung, nicht die Werte der jeweils anderen Codes als Werte bestritten, sondern der aktuell benutzte Code weist als Unterscheidung die Unterscheidungen der anderen Werte (die anderen Codes) zurück, um autonom operieren zu können.61 Durch die Benutzung eines Codes wird also die jeweils „andere Form, nur die andere Unterscheidung […] rejiziert“62. Dies gehört deswegen wesentlich zu funktionaler Differenzierung, weil es erklärt, daß die Kommunikation im Bereich eines Funktionssystems unter normalen Umständen keine unmittelbaren Folgen für die Kommunikation in einem anderen Funktionssystem nach sich zieht.63 Die primäre Struktur der Gesellschaft „beruht […] auf Desintegration, auf Entkopp59
Luhmann, Wissenschaft, S. 301. Luhmann, Gesellschaft, S. 751. 61 Zum Beispiel: „Wenn es darauf ankommt, zwischen wahr und unwahr zu unterscheiden, kann zwar nicht vernachlässigt werden, ob die dazu notwendigen Operationen rechtmäßig oder rechtswidrig sind. Die Rejektion bezieht sich nicht auf die Werte der anderen Codes! Aber die Entscheidung kann nicht als Entscheidung zwischen Recht und Unrecht getroffen und auch nicht als determiniert durch eine solche Vorentscheidung angesehen werden. Sie muß als autonome Operation eines eigenständigen autopoietischen Systems durchgeführt werden. Rejiziert wird, mit anderen Worten, die Maßgeblichkeit (Code-Funktion) der Codes anderer Systeme für das eigene System, nicht die Relevanz ihrer Wertungen. Und darauf beruht die funktionale Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Subsysteme.“ (Luhmann, Codierung des Rechtssystems, S. 182). 62 Luhmann, Gesellschaft, S. 751. 63 Vgl. aber zu bestimmten Restproblemen oben Kap. I. 60
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lung der Funktionssysteme“64. Zugleich hat aber die Rejektion als Wert auch einen Gegenwert: die Akzeption; beide sind deshalb nach Luhmann selbst Momente einer Form. In diesem Sinn gilt nach Luhmann: der „Ausschließungseffekt ist das genaue Gegenstück zur Ausdifferenzierung der Sonderautopoiesis codespezifischer Operationen“65, und zwar deswegen, weil das Operieren im Bereich eines Codes die Akzeption von dessen Wertunterscheidung voraussetzt. Man kann nun fragen, welchen Status die Unterscheidung von Akzeption und Rejektion unter beobachtungstheoretischen Gesichtspunkten hat. Luhmann ist der Meinung, daß sie auf der Ebene des Beobachtens zweiter Ordnung angesiedelt ist.66 Es ist fraglich, ob dies auch hinsichtlich der Funktionssystemcodes gilt. Denn die negative Seite eines Codes bleibt nicht einfach im Dunkeln wie etwa die unbezeichnete Seite einer Unterscheidung unter den Bedingungen der Beobachtung erster Ordnung. Sondern die negative Seite eines Codes zeigt als „Reflexionswert“ die Kontingenz des positiven Wertes, des „Designationswertes“67, wie Luhmann auch hier mit Günther formuliert, an und macht dadurch auf Programmebene dessen Anschlußwert (= dessen Kontingenz) kontrollierbar. Damit ist aber das Operieren im Bereich des Codes, weil es sich stets an beiden Werten und insofern an der Einheit ihrer Unterscheidung orientiert, immer schon ein Beobachten zweiter Ordnung.68 Gleichwohl beruht es auf der Akzeption der Unterscheidung der Werte, das heißt des Codes. Dann aber trifft es nicht zu, daß man die Form des Codes „mit einer Beobachtung zweiter Ordnung der Akzeption und Rejektion aussetzen [kann]“69. Der Gebrauch der Unterscheidung von Akzeption und Rejektion muß mit Bezug auf die Codes implizit gewissermaßen eine Beobachtung dritter Ordnung voraussetzen, weil sie sich qua Zurückweisung der Unterscheidungen der jeweils anderen Codes ja auf die Einheit von deren Differenz richtet.70 Damit erweist sich die Annahme, daß der Rejektionswert immer direkt auf ein anderes Funktionssystem verweist und damit für „die Polykontexturalität der Gesellschaft“71 steht, als kurzschlüssig. Die Rejektion ist nach Günther nur möglich aufgrund eines Reflexionsüberschusses. Dieser Überschuß aber ist Selbstreflexion. Deshalb ist nicht einzusehen, weshalb die Rejektion eines Codes zugleich den „transjunktionalen“ Übergang zu einem anderen Code bedeuten soll. Dies wäre der Fall, wenn die Unterscheidung von Akzeption und Rejektion selbst geschlossen 64
Luhmann, Gesellschaft, S. 632. Luhmann, Wissenschaft, S. 301. 66 Vgl. Luhmann, Identität, S. 17. 67 Luhmann, Gesellschaft, S. 363. 68 Vgl. Luhmann, Wissenschaft, S. 175 f. u. 484 f. Vgl. auch Luhmann, Gesellschaft, S. 766 ff. 69 Luhmann, Identität, S. 17 (Hervorh. hinzugefügt). 70 Vgl. ähnlich auch Göbel, Theoriegenese, S. 234 ff. Vgl. Luhmann, Wissenschaft, S. 484. 71 Luhmann, Codierung des Rechtssystems, S. 183. 65
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C. Die institutionelle Bestimmtheit sozialer Systeme
wäre wie ein Code. Dies wäre das polykontexturale „System der Gesellschaft“72. Doch „Gesellschaft ist, jedenfalls aus der Perspektive soziologischer Epistemologie, kein System eigener Art, sondern nur eine mitlaufende Referenz der Kommunikation sozialer Systeme, die durch die operative Verwendung der Differenz von System und sozialer Umwelt entsteht. Nur deshalb kann die Soziologie aus der Perspektive wissenschaftlicher Beobachtung einen Begriff der Gesellschaft als Gesamtheit aktualisierbarer Kommunikationen konstruieren.“73
Wenn also Gesellschaft epistemologisch gesehen kein System eigener Art, sondern eine soziologisch konstruierte mitlaufende Referenz der Kommunikation sozialer Systeme auf andere soziale Systeme ist, dann ist Gesellschaft ein regulativer Reflexionsbegriff. Kommunikationstheoretisch kann von hier aus der Begriff von Gesellschaft als Gesamtheit erreichbarer Kommunikationen konstruiert werden. Wenn Kommunikation nur als System vorkommt und wenn „es Systeme gibt“74, liegt Luhmanns Schlußfolgerung nahe, daß es auch ein „System der Gesellschaft“75 gibt. Die Gesellschaft als Kommunikationssystem, von der Luhmann spricht, erweist sich so als eine Konstruktion der soziologischen Systemtheorie. Das heißt, das rejektive Kontingentsetzen eines Funktionssystems durch die Reflexion verweist nur für einen Beobachter, der sich über den Begriff der Gesellschaft der thematischen Einheit seines Gegenstandsbereichs versichert, direkt wieder auf ein anderes Funktionssystem. Indem auf diese Weise die Codes gedanklich in der soziologischen Konstruktion eines Begriffs von Gesellschaft miteinander verschränkt werden, verschwindet gewissermaßen das Potential zur Reflexion auf das Handlungsproblem, das der Begriff der Rejektion anzeigt. Zusammenfassend ist die Lage also wie folgt zu rekonstruieren: der Begriff der funktionalen Differenzierung impliziert aufgrund der Vielheit der Funktionscodes notwendigerweise die Unterscheidung von Akzeption und Rejektion.76 Das Operieren im Bereich eines Codes ist aufgrund von dessen Schließung über einen negativen Wert (Reflexionswert) immer schon ein Beobachten zweiter Ordnung. Der Code vermag deshalb doppelte Kontingenz (als doppeltes Beobachten von Beobachtern) jeweils unter einem bestimmten Funktionsgesichtspunkt zu ordnen. Die Unterscheidung von Akzeption und Rejektion steht quer zu den Codes, weil sie sich jeweils auf deren Einheit ihrer Unterscheidung bezieht: als Akzeption der Wertunterscheidung ‚von innen‘, ‚von außen‘ als deren Rejektion. Vom Gesichtspunkt der Differenzierung her gesehen impliziert deshalb das Operieren innerhalb der Funktionssysteme zugleich auch eine Beobachtung dritter Ordnung. Diese Möglichkeit 72
Luhmann, Codierung des Rechtssystems, S. 183. Halfmann, Reflexiver und evasiver Konstruktivismus, S. 126. Vgl. auch Firsching, Begriff „Gesellschaft“. 74 Luhmann, Soziale Systeme, S. 30. 75 Luhmann, Codierung des Rechtssystems, S. 183. 76 Luhmann, Wissenschaft, S. 301. formuliert auch, daß die Ausschließung der anderen Codes „ein Implikat der funktionalen Differenzierung des Gesellschaftssystems“ ist. 73
XI. System und Institution
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der Beobachtung dritter Ordnung ergibt sich also allein aus der Möglichkeit, den Funktionskontext auch wechseln zu können. Die Fähigkeit zur Beobachtung dritter Ordnung ist damit kein Privileg der Soziologie, sondern entstammt dem soziologischen Gegenstandsbereich. Gesellschaftstheoretisch gesehen, das heißt unter dem soziologischen Begriff von Gesellschaft, ist dieser Wechsel nur als Wechsel von einem Funktionssystem zu einem anderen rekonstruierbar. Damit wird das im soziologischen Gegenstandsbereich angesiedelte Potential Reflexion auf das Handlungsproblem in die Bedeutungslosigkeit abgedrängt. Wo dies nicht ohne weiteres möglich ist, wie im Bereich der Politik, muß Luhmann von einem expliziten Verbot der Rejektion ausgehen.77 Die These ist damit, daß die doppelte Reflexion im Sinne Gehlens als Grundlage der Zurückweisung der Reflexion und freiwillige Bejahung der geschichtlichsituativen Bindung des Handelns in der Lage ist, die Konstitutionsbedingungen sozialer Systeme zu thematisieren und situationsspezifisch zurückzuweisen. Das Verhältnis von doppelter Reflexion, Wille und darauf bezogener Handlung involviert auf diese Weise die Möglichkeit, zwischen sozialen Systemen und Institutionen einen Kontexturwechsel vorzunehmen. So wie sich einerseits institutionelle Voraussetzungen sozialer Systeme nachweisen lassen, wird das Sich-Einlassen auf soziale Systeme hervorbringende Situationen doppelter Kontingenz zu einer konkreten Entscheidungsmöglichkeit.
77 Vgl.
Luhmann, Theorie der politischen Opposition.
Schlußbetrachtung Schlußbetrachtung
Das Ziel der nun abgeschlossenen Untersuchung bestand darin, die Möglichkeit der Verknüpfung von Niklas Luhmanns Kommunikations- und Systemtheorie mit der Handlungs- und Institutionenlehre der Leipziger Schule aufzuzeigen. Es sollte deutlich werden, daß die Entstehung bzw. Etablierung sozialer Systeme institutionellen Bedingungen unterliegt, die sich auch in den Grundbegriffen der allgemeinen Theorie sozialer Systeme niederschlagen. Als methodologische Brücke dieser beiden Soziologien wurde die Unterscheidung von Konstitution, Regulation und Schematismus herangezogen. Das Vorbild für diese Soziologisierung ursprünglich transzendentaltheoretischer Begriffe ist Luhmann, der vor dem Hintergrund der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Sozialität die Begriffe der Konstitution und des Schematismus in seiner allgemeinen Theorie sozialer Systeme unterscheidet. Vor diesem Hintergrund wurde dem Problem der doppelten Kontingenz als dem „Grundproblem der Konstitution sozialer Systeme“1 ein zentraler Stellenwert zugewiesen. Doppelte Kontingenz konstituiert die Unterscheidung von System und Umwelt. Doch doppelte Kontingenz hat den Status eines soziologischen Theorems nur dann, wenn man von der handlungstheoretisch denkbaren Möglichkeit der Zurückweisung solcher Situationen absieht. Berücksichtigt man hingegen die Fähigkeit, „das Sich-Einlassen auf Situationen mit doppelter Kontingenz“2 auch verwerfen zu können, gelangt man in den Bereich des Institutionellen. Institutionen und das durch sie ermöglichte Handeln haben in der Institutionenlehre Arnold Gehlens ihren Ursprung in existenzbedrohenden Ausnahmesituationen. Institutionell bestimmtes Handeln ist konstitutiv auf solche Ausnahmesituationen bezogen. Daß solche Ernstfälle kein mögliches Thema für die Systemtheorie sind, ist insbesondere anhand des Begriffs der Katastrophe gezeigt worden. Der Begriff der Katastrophe markiert zwar aus der Innenperspektive sozialer Systeme deren Selbstgefährdung, diese kann aber systemtheoretisch nicht angemessen bestimmt werden. Reflexion ermöglicht gleichwohl eine Verbindung zwischen sozialen Systemen und institutionell bestimmtem Handeln. Von der Seite der Institutionen und des Handelns als der sozialen Formung existenzieller Gefährdungen her wird sichtbar, daß die von Situationen mit doppelter Kontingenz in Anspruch genommene Normalität und Alltäglichkeit eine letztlich institutionell bestimmte Normalität und Alltäglichkeit ist. In Übereinstimmung mit einem allgemeinen semantischen Trend ist die letztlich stets politisch begründete Dimension der Institu-
1 2
Luhmann, Soziale Systeme, S. 165. Luhmann, Soziale Systeme, S. 179.
Schlußbetrachtung
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tionalität zunehmend an den Rand der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung wie auch der systemtheoretischen Begriffsbildung gedrängt worden.3 Die Begriffe des Handelns und der Institutionen werden systemtheoretisch reformuliert, was einerseits durch Luhmanns Uminterpretation des Begriffs der Institution zu Strukturen sozialer Systeme als (Erwartungs-)Erwartungen, andererseits durch die Reduktion des Begriffs des Handelns auf Resultate systeminterner Zurechnungen geschieht. Die institutionelle Einbettung der sozialen Systeme ist schließlich aus der Innenperspektive sozialer Systeme nicht mehr reflektierbar. Insgesamt begibt sich Luhmann mit diesem Theoriemanöver der Möglichkeit, die Selbstgefährdungstendenzen der sozialen Systeme der modernen Gesellschaft systematisch zu berücksichtigen. In der Reflexion auf existenzielle Gefährdungslagen wird jedoch der durch die Akzeption von Situationen mit doppelter Kontingenz abgesteckte Bestimmungsbereich sozialer Systeme verlassen. Eine reflexionstheoretische Analyse des Theorems der doppelten Kontingenz vermag anhand der von Arnold Gehlen und Gotthard Günther entwickelten Unterscheidung von Akzeption (Bejahung) und Rejektion (Verwerfung) allerdings deren andere, institutionell bestimmte Seite offenzulegen. Aus diesem Grund wurde das Verhältnis von Reflexion und Wille, wie es sich in den frühen Schriften von Gotthard Günther, Arnold Gehlen und Helmut Schelsky darstellt, ausführlich rekonstruiert. In der Folge dieser Rekonstruktion läßt sich die Handlungs- und Institutionenlehre von ihrer anthropologischen Grundlegung, die Gehlen ihr später gibt, unterscheiden. Die Interpretation der Handlungslehre als Anthropologie ist nicht zwingend, sie kann vielmehr auch vom Problem und Begriff der Reflexion her erfolgen. So wird die Bezugnahme auf die Systemtheorie möglich. Luhmann kannte diese frühen Schriften der Leipziger Schule offensichtlich sehr gut, denn er ersetzt den Willensbegriff durch den des Systems bzw. genauer gesagt: der Begriff des Systems besetzt den Platz eines geschichtlich bestimmten Willens, dessen Bedeutung im Rahmen der Systemtheorie nicht mehr erschließbar ist. Um seine Relevanz für die Gegenwart zu demonstrieren, wurden anhand der Begriffe Exklusion, Risiko und Ökologie bestimmte Theorieprobleme der späten Systemtheorie aufgeworfen, welche die Bestimmtheit der Unterscheidung von System und Umwelt und in diesem Sinne den „Bestand“ sozialer Systeme gefährden. Die Position, auf welche die im Zusammenhang der Exklusion, des Risikos und der ökologischen Probleme auftretenden Unbestimmtheiten verweisen, ist durch eine am Begriff des Willens aufbauende Handlungs- und Institutionenlehre prinzipiell bestimmbar und bleibt zugleich über das Theorem der doppelten Kontingenz, das unter hochspezifischen geschichtlichen Bedingungen für die Selbstkonstitution sozialer Systeme als freischwebender Realität steht, auf die systemtheoretische Beschreibung der gesellschaftlichen Wirklichkeit beziehbar. Die damit einhergehende Möglichkeit einer geschichtlichen Rückbindung der Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft hat Hans Freyer als selbstreflexiven Aus3 Vgl.
Albrecht, Bundesrepublik.
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Schlußbetrachtung
gangspunkt soziologischer Begriffsbildung aufgewiesen. Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft impliziert ein durch den Willen bestimmtes Wissen um die Endlichkeit jeder denkbaren gesellschaftlichen Ordnung, impliziert also ein Wissen um ihre Geschichtlichkeit und prinzipielle politisch-institutionelle Bestimmtheit. Freyer weist in seiner wissenschaftstheoretischen Grundlagenschrift nach, daß das theoretische System der soziologischen Begriffe niemals zu völliger Selbstgenügsamkeit gelangen könne, sondern der Offenheit der Zukunft durch geschichtliche Rückbindung Rechnung tragen müsse. In diese offene Stelle des systemtheoretischen Begriffs der Reflexion sind die wirklichkeitsbezogenen Grundlagen des Handelns und der Institutionen zu placieren.
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Personenregister Personenregister
Albrecht, C.
11, 58, 316, 324, 385
Baecker, D. 83, 85, 86, 87, 373, 374 Baier, H. 11 f., 54, 57 f., 147, 258 f. Balke, F. 58, 312 Beck, U. 70, 149 Bommes, M. 28, 30, 38 f. Bonß, W. 24, 51, 62 f., 149, 321 Braun, I. 6, 78 Clausen, L. 24, 69, 142 ff., 318 Conze, W. 58 f. Di Fabio, U. 54 ff. Dilthey, W. 12, 20, 159, 257 ff., 288, 293, 311 f., 324 Diner, D. 34, 147 f. Dombrowsky, W. R. 142, 144 Eberl, O. 28, 34 Esposito, E. 11, 13 f., 23, 82 ff., 374 Firsching, H. 194, 201, 205 f., 213, 222, 233 f., 248, 316, 382 Fischer, J. 208, 217, 279, 312, 324 Flach, W. 93, 97 ff., 106, 110 f., 115, 171, 175, 377 Forsthoff, E. 52, 54 ff., 64, 66, 312 ff., 324, 326 Foucault, M. 58, 276, 312 ff., 322, 331, 335 Freyer, H. 5, 11 f., 20 f., 66, 80 f., 132, 148 ff., 176, 180, 183, 185, 188, 201, 221, 232, 248 f., 253 ff., 316 ff., 330, 340 ff., 362 f., 367 f., 373 f., 377, 385 Fuchs, P. 12, 28, 30, 113, 115, 135 Gehlen, A. 5, 11 f., 14, 18 f., 45, 132, 142, 150 f., 158 f., 161 f., 165, 180,
182 f., 187 ff., 193 ff., 263, 267 f., 270, 273 f., 277, 285, 293, 314, 318, 324, 345, 347, 355, 362 ff., 367 ff., 370 ff., 383 ff. Göbel, A. 5, 12, 30, 46, 91, 94, 116, 118 f., 139 f., 245, 282, 317, 323, 338 f., 359, 361, 370 ff. Günther, G. 5, 12 f., 16, 18 f., 45, 75, 84 f., 93, 97 f., 100 f., 109 f., 113, 119, 143 ff., 158 ff., 190, 192 ff., 199 f., 204, 214, 216, 232, 235 f., 239, 248, 253, 320, 354 ff., 377 ff., 385 Habermas, J. 170, 233, 366 Hahn, A. 12, 29, 45 f., 257 ff., 262, 265, 267, 293, 311, 373 Halfmann, J. 5, 12, 30, 38 f., 44, 74, 77, 80 ff., 230 f., 346 f., 382 Hauriou, M. 212, 325 Hegel, G. W. F. 12, 20, 32, 53, 93, 97, 100 ff., 106, 108 ff., 119 f., 157 ff., 165, 167 ff., 171 ff., 182 ff., 189, 194 ff., 200, 205 f., 259 f., 267 f., 270 ff., 275, 295, 297, 303, 307 f., 317, 320, 324, 338 ff., 343, 354 Heidegger, M. 156, 202, 206, 324, 344 f. Henkel, M. 281, 304 Henrich, D. 96 ff., 108, 130 f., 184, 189 Hiller, P. 54 f., 61, 65 Hiltscher, R. 96 ff., 103, 107 f., 114, 127, 184 Hindrichs, G. 187, 189, 191 Iber, Ch.
185 f.
Jansen, P. 214, 218 Japp, K.P. 62, 64, 66, 67 ff., 77 f., 141, 310 Joas, H. 215 f. Jonas, F. 182 f.
414
Personenregister
Jünger, E. 147 f., 275, 279
Mommsen, W.
Kant, I. 49 f., 96 ff., 119 f., 130 f., 133, 136 f., 166 ff., 175, 189, 214, 228, 232, 239, 248, 259, 288, 320, 363 Kärtner, J. 122 ff., 126 ff., 130 Kastl, J. M. 45 f. Kaufmann, F.X. 31 ff., 47, 53, 60, 275, 314, 356 Kaufmann, S. 352, 353 Koselleck, R. 18, 148, 279, 346, 353 Krohn, W. 51, 60, 62 Kronauer, M. 26, 30, 33, 43 Krücken, G. 51, 60, 62 Kruse, V. 149, 294, 303 f. Kuchler, B. 13, 37, 318 f.
Nassehi, A.
164, 177
28 ff., 43, 48, 121, 131
Offe, C. 32, 71, 314 f., 335 Opitz, S. 13, 28 ff., 44 f., 60, 63 ff., 70 ff., 309 Parsons, T. 36, 123, 204, 258, 343 Perrow, Ch. 79 f. Plessner, H. 278, 323, 343 Polanyi, K. 146, 148 Rammert, W. 77, 84 f. Rehberg, K.S. 5, 11, 18, 46, 151 ff., 158, 164, 201, 217 ff., 223, 225, 231, 235 f., 239, 247, 267, 272 f., 295, 312, 314 Röd, W. 96, 184
Laclau, E. 279, 309 Landshut, S. 153, 156, 161 f., 164, 287, 295, 298, 305, 324 Lange, M. 270, 290 Lauermann, M. 202, 219 f., 311 Lehmann, M. 10, 25 ff., 29 ff., 41 f., 260, 311 Lepenies, W. 211, 217 Lessenich, S. 31, 33, 51, 313, 349 Lieckweg, T. 41, 262 Lipp, W. 221 ff., 230 ff., 240, 258, 273, 356, 366 f., 369 Litt, Th. 218, 323 Luhmann, N. 5, 9 f., 12 ff., 34, 36 ff., 110, 112 ff., 149, 152 ff., 158 ff., 176, 179, 181 ff., 199, 201, 204 ff., 214, 224, 235, 241, 244 ff., 253, 257 ff., 262, 264 f., 267, 274 f., 282 ff., 293, 302 f., 308, 310, 312, 314 ff., 347, 357, 359 ff., 380 ff.
Schelling, F. W. J. 182 ff., 186 ff., 216 Schelsky, H. 5, 12, 18, 24, 79, 97, 150 f., 158 f., 177 f., 180, 182 f., 186 ff., 190 ff., 200, 219, 235 f., 240, 273, 341, 356, 385 Schimank, U. 41, 175, 257 Schlögel, K. 352 ff. Schluchter, W. 162, 282, 324, 326 Schmidt, M. G. 30, 32, 44 Schmitt, C. 14, 71 f., 206, 212 f., 276 ff., 282 ff., 320, 323, 325 ff., 330, 332, 334, 337 ff., 356 Schneider, W. L. 116, 122 f., 165 Schulz, W. 84 f., 191 Schumpeter, J. 258, 283 Schütz, A. 164, 177, 205 Stäheli, U. 40, 144, 279, 309 f., 315, 317 Stichweh, R. 24, 27 f., 30, 34, 42 Streeck, W. 32, 39, 349
Mannheim, K. 303, 305, 323, 345 f. Marshall, T. H. 35 f., 56 Marx, K. 98, 156, 183, 185, 203, 216, 317 Mead, G. H. 202, 211, 215 ff., 239 Meinel, F. 57, 67 Meyer, J. W. 34, 70, 149, 291, 349
Tacke, V. 28, 30 Tenbruck, F. 162, 300, 355 Theunissen, M. 259, 271 Trotha, T. v. 53, 59, 61 f. Tyrell, H. 12, 21, 52, 153, 175, 257 ff., 267, 290, 311, 328
Personenregister Üner, E. 12, 290, 303 Wacquant, L. 26, 29, 36, 43 f. Wagner, G. 97, 162, 175 Weber, M. 14, 18, 20, 149, 151 ff., 160 ff., 175, 177, 178, 205, 219, 226, 257 f., 273,
415
276, 278, 295 ff., 307, 323 f., 327, 334, 340, 346, 353 Wehrsig, Ch. 41, 262 Werner, T. 28, 46, 184, 189 Wöhrle, P. 11, 217, 223, 231
Sachwortregister Sachwortregister
Abendland, abendländisch 61, 114, 146 ff., 157, 160, 163 f., 176, 223, 297, 351, 354, 356 Ablehnung siehe Akzeption/Rejektion Abnahmebereitschaft politischer Entscheidungen 38 f., 42, 335, 340 absolute Reflexion 97, 101, 104, 109 f., 160 f., 163, 171 ff., 180 ff., 200, 259 f., 271 f. Adäquation 106 ff., 131, 179, 200, 209, 217, 249, 273 f., 296, 322 f. Adresse, Adressabilität 14, 20, 28, 34, 42, 44 f., 73, 81, 87, 133 ff., 274, 313, 322 f., 326, 329, 338 ff., 357, 372 ff., 392 Akzeption/Rejektion 11, 16 f., 19, 21, 40, 64, 132 f., 137 ff., 159, 163, 175, 193, 196 ff., 200 f., 218 f., 222, 229, 234, 239 f., 243, 255, 292 f., 297, 315, 328, 332, 335, 362, 371 ff. Alltäglichkeit siehe Außeralltäglichkeit Annahme/Ablehnung einer Kommunika tion 17, 118, 137 ff., 370 ff. Anschauung 98 f., 103 ff., 111, 130, 136, 203 ff., 226 f., 232, 238 f., 249, 289 Anschlußfähigkeit 118, 126 ff., 137, 202 Ausdifferenzierung 13, 37, 52, 113, 116, 134, 181, 257 f., 261, 333 f., 380 Ausnahme, -situation, -zustand siehe Außeralltäglichkeit Außeralltäglichkeit 14 ff., 19, 55, 70 ff., 80, 205, 221 ff., 226, 231, 256, 280, 311, 315, 338, 384 Autonomie siehe Selbstbestimmung Bedingungen der Möglichkeit 13 ff., 18, 21, 24, 37, 53, 72, 94, 121, 152 f., 197, 273, 278, 281, 285, 292, 305, 328 ff., 356, 359 f., 368, 374
Begründungsreflexion 95, 112, 120 f. Bejahung siehe Akzeption/Rejektion Beobachtung, Beobachtungstheorie 13 ff., 41, 48 f., 63, 85, 88, 90 ff., 117 ff., 135, 147, 191, 376, 381 Beobachtung dritter Ordnung 13, 24, 88, 91 ff., 112, 120, 381 f. bestimmbare Bestimmtheit siehe Bestimmtheit, unbestimmte Bestimmbarkeit siehe Unbestimmtheit Bestimmtheit 10, 13, 16, 44, 76, 89, 97, 102, 105 f., 109 ff., 114, 125 f., 136 f., 141, 166 ff., 174, 178, 183, 185 f., 188, 192, 195 f., 198 f., 204, 208, 229, 249, 271, 287, 297, 301 f., 309, 343, 373, 385 f. – bestimmte 109, 185 – unbestimmte 105 ff., 109, 126, 238, 240, 250, 369 Bestimmung 46 f., 56, 68, 72, 87, 96, 99 ff., 105 ff., 123 ff., 132 f., 155, 159, 165, 169 f., 174, 184 f., 187 ff., 201, 217 ff., 228 f., 231, 234, 241, 249, 252 ff., 259 f., 279, 289, 310, 347, 354 Bestimmungsbereich 241, 282, 385 Bestimmungsgefälle 114 f. Bestimmungsprozeß 109, 127, 251 Bestimmungstheorie 16 f., 96 ff., 112 f., 122, 139 f., 144, 174, 183 f., 236, 240, 250 ff., 260, 288, 307, 350, 361, 366, 369, 377 Bestimmungsverzicht 144, 201 Betroffenheit 33, 42, 46 f., 66 ff., 73, 81, 143, 219, 228, 240, 329, 336, 345, 348, 351 Bewußtsein 11, 18, 37, 45, 83 ff., 92, 97, 148, 156, 210, 213, 255, 379
Sachwortregister Bundesrepublik Deutschland 33, 58, 312 ff. Charismatischer Führer 164, 176 f., 334, 340 Computertechnik 10, 82 ff., 374 Dekontextualisierung 83, 244, 347 Denken des Denkens siehe Reflexion, doppelte Doppelte Kontingenz 16 f., 47, 81, 85 f., 117 f., 122 ff., 132 f., 137, 139, 143 f., 182, 193, 201, 206, 224, 321, 330, 356, 360, 366, 370, 373 f., 377, 382 ff. Du 84 f., 145, 177 ff., 187 f., 193, 201 ff., 215 f., 224, 230, 236, 239 f., 244 f., 249 ff., 263, 359 Einheit 13 f., 40 f., 48, 63, 71 f., 75 f., 78, 83 ff., 89 ff., 98 ff., 105, 111 ff., 120 f., 124 ff., 129 ff., 134 ff., 138, 141, 144, 164, 166, 168, 170, 172 ff., 179, 191, 198 f., 210, 214, 221, 227, 236, 247, 254, 261 f., 265, 271, 274, 278, 282 f., 302, 305, 314, 322 ff., 338, 343 f., 347, 349, 355, 357 f., 360 f., 367, 372, 381 f. Endlichkeit 104, 196, 200, 229, 275, 386 Entdifferenzierung 14, 20, 283, 329, 332 f., 337, 340 f. Entgrenzung 68, 70, 374, 388 Entpolitisierung 20, 32 f., 58, 314, 316, 329, 332, 335, 340 f., 356 Entscheidung 21, 37 ff., 46 ff., 51, 59, 65 f., 68, 71 f., 81, 116, 132, 134, 142 ff., 154, 159, 175 f. 178, 180, 186, 193, 196 f., 210, 224, 229, 252, 268, 271 ff., 277, 287, 294, 297, 301 f., 307, 310, 315, 318, 324, 327 ff., 334 ff., 344 f., 347, 350 f., 355, 363 ff., 374 ff., 380 Entsubjektivierung 101, 158, 224, 364 Erkenntnistheorie 101, 131 f., 180, 186, 189, 200, 232, 238, 240, 260, 377 Erleben 22, 123, 134, 139, 143, 202, 262 f., 265 f., 292, 345, 365 f. Ernstfall siehe Außeralltäglichkeit
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Ersetzbarkeit 46, 87, 271, 274 f., 282, 320, 338, 340, 367, 374 Europa, europäisch 18, 33, 58, 61, 71, 147 ff., 223, 275, 277 ff., 282, 292, 300 f., 309, 338, 344, 351 f., 354 ff. Evolution 13, 15, 52 f., 118, 225, 231, 317 ff., 320 Existenzbedrohung 229, 232, 239 f., 256, 285, 377 Exklusion siehe Inklusion/Exklusion Feind, Feindschaft 58, 71, 212, 229, 250, 271, 278 ff., 309, 323, 330 f., 338, 343, 350, 357 Freiheit 28, 50, 54 f., 58 ff., 70, 99, 184 ff., 194 ff., 222 ff., 234, 248, 271, 281 ff., 292f., 313 f., 331 ff., 335, 340 f., 344, 376 Frieden 34, 43, 275 ff., 313 f. Führung 61, 246 f., 249, 276 Funktionale Differenzierung 13, 29, 42 f., 48, 52 f., 88, 93, 117, 139, 193, 310, 319, 324, 330, 332, 359, 380, 382 Funktionssystemcodes 16 f., 40 ff., 112 f., 118, 139, 315, 371, 377, 380 ff. Funktionssysteme 13 f., 16 f., 23, 28, 36, 37, 40 ff., 74 ff., 93, 114, 116 ff., 138 ff., 236, 257, 260, 262, 277, 309, 320, 324, 330, 333, 338, 360, 371, 373 f., 377, 380 ff. Gefahr 20, 23, 46 f., 54 f., 60, 62 ff., 69, 71 f., 210, 229, 255, 276, 283, 285, 290, 329, 332, 337 f., 340 f., 367 Gefahrenabwehr 54 f., 59, 64, 70 Gegenständlichkeit überhaupt 15, 99, 103 ff., 112 Gegenwart 49, 65 f., 128, 134, 155, 204 f., 221, 224, 239, 271, 276 f., 287, 294, 297 ff., 311, 316, 344 ff. Generation 237, 344 Gerechtigkeit 114, 149, 274 f., 287, 340 Geschichte, geschichtlich 11, 15, 18, 20 f., 53, 58, 96, 150 ff., 165, 169, 176, 183 f., 186, 204 f., 210, 223 ff., 230 ff., 237 ff., 256, 259 ff., 266, 268 f., 271 f.,
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Sachwortregister
275, 277 f., 281 ff., 330, 332 f., 338 ff., 343, 345 ff., 362, 367 f., 383, 385 f. Gesellschaftstheorie 20, 44, 87, 89, 116 ff., 139, 230, 306, 324, 338, 346, 359 f., 371 Gewalt 30, 33, 37 f., 43 f., 58, 96, 116, 149, 231, 351, 357 Gewaltmonopol 38, 42, 53, 61 f., 357 Gewohnheit 233 ff., 241 ff., 254, 371, 376 Gleichheit 28 f., 34 f., 50, 60, 174, 276, 340, 360 Gleichheitssatz 325, 333 ff. Grenze 13, 23 ff., 44 f., 68, 70, 72 ff., 76 f., 80, 125, 161, 175, 219, 236, 240, 256, 259, 271 ff., 280 ff., 302 f., 322 f., 333 f., 346, 350 ff., 363, 365 ff. Grenzprobleme siehe Reflexionsprobleme Großtechnik 77, 406 Grundgesetz 33, 261, 313 ff., 332 Grundrechte 20 f., 51, 55 f., 59 ff., 63, 77, 274, 282 ff., 321 ff., 357 ff. Handeln 16, 19, 34, 45 f., 48, 50, 69 f., 85, 123, 133 f., 136, 139, 143, 145, 150, 152, 154, 158 f., 162, 176 f., 180, 182, 193 ff., 205 ff., 212 f., 216 f., 222 f., 227, 229 ff., 235 ff., 243 ff., 270 ff., 280 ff., 292 ff., 299, 302, 314, 318, 333, 336 f., 340, 344 f., 347, 351, 358 f., 361 ff., 374 ff., 384, Handlungslehre 19, 45, 159, 180, 184, 192, 201, 205, 208, 210, 215, 221, 223 ff., 233, 238, 245 f., 248, 252, 256, 293, 361, 374, 385 Handlungsproblem 69, 178, 184, 194, 201, 208, 225, 367 f., 377, 382 Herrschaft 117, 164, 219, 231, 249, 260, 274 f., 283, 305 ff., 346 ff., 350 f., 353, 355 Hiatus 49, 139, 233 f., 271, 287, 294, 297 Hochtechnologie 10, 62, 67, 77 ff., 88 Identität 29, 83, 86, 90, 101, 105, 117, 126, 161, 170 f., 178, 191, 223, 244, 254, 294, 296, 320, 322, 338, 362, 381
Identitätsreflexion 95 f., 102, 112 f., 116, 120 Indirektheit 167, 201, 223, 244, 248, 357 Informationsverarbeitung 84 f., 245 f. Inklusion/Exklusion 9 ff., 14, 23 ff., 34, 36 ff., 41 ff., 46, 56, 72, 88 f., 330, 341, 349, 357, 360 Institution, institutionell 9, 11, 14, 16 f., 19 f., 27, 33, 35, 46 f., 50, 58, 61, 63, 132, 142, 149, 194, 207, 210 ff., 217 ff., 221, 223 f., 229 ff., 233, 235, 237 ff., 247 ff., 252, 254, 256, 258, 271, 276, 283 f., 286, 312 ff., 318 f., 325 f., 330 ff., 341 f., 347, 349, 353, 356, 358 ff., 370 ff., 384 ff. Institutionelle Bestimmtheit 11, 132, 312, 376 Institutionenlehre 10, 22, 183, 211, 214, 217, 222, 225, 231, 235, 238, 241, 247 f., 251, 256, 261, 370 f., 374 f., 384 f. Interobjektivität 100, 164 ff., 173 Intersubjektivität 100, 164 ff., 215, 236 Inversion 70, 179 f., 230, 232 Katastrophe 13, 16, 18, 60, 62 ff., 66 ff., 70 ff., 80 ff., 88, 141 f., 147 ff., 157, 193, 230, 285, 302 ff., 310, 318, 373, 384 Kognition, kognitiv 27, 65, 67 ff., 99, 158, 182, 203, 206, 244 ff., 294, 302, 310 f., 321 ff., 329, 359 f., 366 ff., 374 ff. Kognitivierung 22, 67, 329, 356, 359 Kohärenz 108, 115, 274, 309, 323 Konstitution 15 ff., 19, 44, 89, 96 ff., 104 ff., 108 ff., 115 ff., 119 ff., 128 f., 131 ff., 138 ff., 144, 191, 196, 205, 213 f., 221, 225 f., 231, 236 ff., 241, 247, 254, 287 f., 310, 320, 323, 353, 363 ff., 377, 384 Kontextur 63, 73 Kontingenz 16, 22 f., 46, 49, 84, 86 f., 89, 112, 114 ff., 119, 121 ff., 136, 140 f., 144, 152 f., 155, 157, 160, 182, 198 f., 204 ff., 229, 241, 256, 317, 370 f., 373 ff., 381, 384
Sachwortregister Kontingenzschema 50, 133 Körper 44 f., 81, 216 Kreisprozesse der Handlung 233, 237, 249 ff. Krieg 33 f., 56 f., 61, 71, 148, 230, 256, 271, 276 ff., 351 ff. Kultursysteme 20, 257 f., 260 ff., 266 ff., 273, 280 ff., 286 ff., 290, 310 f., 324, 341 Lage siehe Situation Latenz, latent 15, 102, 218, 243, 276, 280, 292, 311, 376 Legitimation 21, 58, 312 ff., 326 ff., 334 f., 346 ff., 356, 360 Leitidee 27, 31 ff., 47, 61, 71, 149, 235, 299, 321, 356 Menschenrechte 25, 28, 39, 60, 70, 331, 340 Nachkriegszeit 15, 20, 32, 35, 57, 62 Nationalstaat 29 f., 34, 38 f., 44, 54, 57, 147, 275, 352 Norm, normativ 10, 27, 48 ff., 55, 64 f., 69 ff., 82, 241, 321 Normativismus 325 f., 334 Ökologie 9, 10 ff., 23 f., 27, 73 ff., 81, 88 f., 330, 360, 373, 385 Okzident, okzidental siehe Abendland, abendländisch Opposition siehe Regierung/Opposition Organisation 9, 28, 38, 41 f., 49, 57, 80, 83, 133, 195, 260 ff., 269, 331, 349, 352, 364, 374 Organismus 45, 214, 271, 364, 374 Paradoxie 41, 60, 76, 80, 116 f., 200, 331, 353, 373 f., 377 Pauschalakzeptierung siehe Akzeption/ Rejektion Planung 21, 36, 53, 192, 305, 346 ff., 353 ff., 358, 362 Politik 9, 13, 18 ff., 28, 35, 37 f., 40 ff., 44, 48, 52 f., 61, 114 ff., 209 ff., 236, 257, 276 ff., 283, 291, 302 ff., 309, 316,
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320, 323 f., 330 f., 333 ff., 337 f., 380, 383 Politische, das 20, 71, 231, 236, 270 ff., 276 ff., 284 f., 309 f., 315, 320 ff., 326, 329 f., 332, 338, 340, 343, 350 f., 360, 374 Politisierung 20, 61, 283 f., 315, 329 ff., 341 f. Polykontexturalität 41, 257, 381 f. Präventive Sicherheitsordnung 61 ff., 70 ff. Rationalisierung 18, 151 f., 156 f., 164, 176 f., 216, 236 Rechtsstaat 50 f., 59, 64, 70, 320, 333 Reflexion 11 ff., 18 ff., 31, 37, 40, 46, 72, 76, 80, 89 f., 93 ff, 101 f., 109, 121, 144, 155, 158 f., 167, 171 f., 177 ff., 187 ff., 193 ff., 202 f., 205 ff., 209, 216, 219 f., 222 ff., 229, 234 f., 239 f., 246 ff., 254, 262, 285, 293, 296, 303, 309, 316, 320, 323 f., 347, 360, 364, 371, 374 ff., 379, 382 ff. – doppelte 19, 93, 101, 109, 145, 157 ff., 163 ff., 169 ff., 177, 187 f., 191, 194, 198 ff., 209, 214, 217 f., 220 ff., 233 ff., 255 f., 364, 375 ff., 383 – einfache 187, 194, 214, 220, 234 f., 243, 255, 375 ff. Reflexionsprobleme 5, 10 f., 13 ff., 23 ff., 27, 38, 41 ff., 46, 60 ff., 66, 69, 75 f., 80 f., 85, 89, 97, 120, 141, 148 ff., 158, 165 ff., 180 ff., 193, 209, 223, 246, 255, 268, 310 f., 329, 374 f. Reflexionsverlust 40, 355 Reflexivität 84, 89 f., 102, 106, 136, 166 ff., 177, 194, 205, 233 Regierung/Opposition 9, 27, 30, 40, 56, 117, 236, 295, 315, 339, 380 Regulation 15 ff., 19, 67, 96, 103 f., 107 ff., 115, 119, 122, 128, 138 ff., 241, 252 ff., 285, 288, 298, 320, 322 f., 353, 361 ff., 366, 377, 382 ff. Rejektion siehe Akzeption/Rejektion Repräsentation 81, 95, 107, 114, 339
420
Sachwortregister
Restprobleme siehe Reflexionsprobleme Revolution 34, 150 f., 256, 274, 282, 288, 307 ff., 342, 351 Risiko 5, 9 f., 12 f., 23 f., 27, 35 f., 46 ff., 53 f., 57 ff., 62 ff., 66 ff., 72, 77 ff., 88 f., 204, 227, 231, 276, 281 ff., 309 f., 325, 330, 349, 360, 385 – evolutionäres 60 ff. – Normalrisiko/Katastrophenrisiko 62, 66, 71, 142 Ritual 151, 217, 229 ff. Robinson 211 f., 215, 220, 249 Rückbindung 20 f., 32, 154, 210, 320, 355, 359, 385 Schadenseintrittswahrscheinlichkeit 48, 63 Schematismus 15 ff., 104, 110 ff., 119, 122, 133 ff., 224, 237 ff., 241, 246, 249, 254, 287, 295, 306, 361 f, 349, 366, 377 Schließung 15, 37, 41, 74, 80 f., 284, 301, 329, 352, 380 ff. Sekundäre Systeme 21, 343 f., 349, 355 ff., 363 Selbstbestimmung 20, 91, 96, 198, 267, 283, 341 ff. Selbstreferenz 15, 18, 83, 87 ff., 96 f, 100, 102 ff., 106, 112, 116, 118, 120 f., 124 ff., 135 ff., 145, 155, 169, 229, 238, 244, 262, 295 ff., 309, 372 Selbstreflexion 100, 120, 149, 155 ff., 179, 303, 317, 321, 381 Sicherheit 27, 33 ff., 44, 47 f., 50, 54 f., 57 ff., 63 f., 70 f., 222, 275 f., 314, 321 f., 356, 368 Sichversetzen 239, 250 f. Situation 13 ff., 19, 30, 33, 47 ff., 56 ff., 71, 80 ff., 118, 126, 131 f., 141 f., 148 ff., 155, 169, 172 f., 195 f., 201, 204 ff., 209 ff., 217, 220 ff., 230, 240, 243 ff., 255, 263 ff., 269, 272, 275, 278 f., 283, 287, 293 ff., 300 f., 306, 310, 313, 316 f., 330, 332, 336, 339, 343 f., 346, 348 ff., 355, 358 ff., 365, 367, 369, 373 f., 376 f., 382 ff.
Souveränität 34, 40, 71, 313 ff., 319 f. Sowjetunion 149, 351 f., 355 Soziale Systeme 9 ff., 23 ff., 27 f., 44 ff., 77, 81, 85 f., 89, 114 f., 117, 121 f., 126, 132 f., 135, 140, 142, 147, 201, 214, 293, 312, 321, 323, 329, 331, 357 ff., 362 f., 365 ff., 373 f., 376, 382 ff. Sozialstaat 26, 32 f., 39, 50, 53, 57, 64 ff., 349 Staat 18, 20, 32 f,, 36 f., 42, 38 f., 51 ff., 66, 70 f., 153, 205, 210, 259, 270 ff., 276 ff., 284 ff., 303, 307, 312 ff., 319 f., 322 ff., 331, 337 ff., 349, 353, 356 f. Stabilisierung 48, 65, 232, 237, 242, 318, 323, 371 Symbolisch generalisierte Kommunika tionsmedien 17, 44, 138 ff., 370 f. Tat 186, 221, 231, 237 f., 240, 246, 270 ff., 276, 281 f., 287, 301 f., 304 f., 311, 343, 349, 355 Tautologie 326 Technik 12, 24, 59, 73 f., 76 ff., 84 f., 94, 149 f., 175, 231, 264, 277, 283, 346 ff., 352 ff., 358, 364, 373 f. Totemismus 215 ff., 221, 224, 237 f., 242 Transjunktion 75, 379, 381 Transzendental 98 ff., 102 ff., 111 ff., 130 f., 133, 136, 159, 166 ff., 185, 189 ff., 197, 204 f., 219, 222, 273, 288 Transzendentale Apperzeption 98 ff., 102, 105, 111, 166, 168 Transzendentaltheorie 15, 96 ff., 101 f., 108, 111 f., 115, 129 ff., 133, 288, 363 Transzendenz 24, 45 f., 84 f., 354 Umkehrung 71, 101, 145, 165, 179, 189 ff., 216, 233, 238, 320, 323, 336, 339 Unbeobachtbarkeit 135 Unbestimmbarkeit 17, 42, 64, 72, 81, 114, 123, 130, 373 Unbestimmte Verpflichtung 229 ff., 238, 240, 367
Sachwortregister Unbestimmtheit 11, 16 ff., 40, 45, 87, 99, 105 ff., 114, 122, 124 ff., 128 ff., 136, 171, 185 ff., 190, 193 ff., 226 f., 232 ff., 249 f., 282 f., 330, 367, 374 – bestimmte 17, 105 ff., 109, 133, 171, 185, 232, 240, 250, 259, 302, 368 f. Universalisierung 48, 59, 147 ff., 152, 312 Utopie, utopisch 21, 60, 80, 212, 220, 288, 298, 309, 346 ff., 355 Vereinigte Staaten von Amerika 27, 149, 292, 300, 314, 343, 353 f. Vereinzelung siehe Schematismus Verfassung 33 f., 71, 226, 259, 271, 281 ff., 331, 352 Verfassungsrecht 55, 59 ff. Verfassungsstaat 52 f., 270, 281, 319 f. Vergangenheit 39, 49, 65 f., 204 f., 268, 287, 294, 301 f., 309 ff., 320, 344 Verstehen 83, 86 f., 162, 165, 206, 213, 245, 262 ff., 269, 290 ff., 295 Verwerfen, Verwerfung siehe Akzeption/ Rejektion Verwerfungsfreiheit 197, 222, 234, 376 f. Verzicht 12, 40, 132, 144, 197, 201, 222, 333, 344 f., 364, 376 f. Volition, volitiv siehe Wille Volk 40, 57, 81, 275 ff., 304, 308 f., 311, 315 f., 320, 338 f., 343 ff., 365 Vollständigkeit 108, 112, 115, 140, 255 Vollzug 92 ff., 117, 124, 131, 182, 187, 198, 209, 227, 242, 248 ff.
421
Wahlhandeln 194 ff., 198 ff., 235, 256, 347, 374 ff. Wahrscheinlichkeitskalkül 47, 51, 62 ff., 67 f., 276 Weltgeschichte 149 f., 271, 281, 343 Weltkrieg 18, 31 f., 34, 47, 56 f., 60 ff., 70, 80, 147, 149 ff., 156 f., 231, 240, 256, 275, 291, 320, 338, 356 Wille 16, 18 f., 22, 154, 156 f., 163, 180 f., 186 ff., 207, 216, 219 f., 222 ff., 233 f., 238 ff., 244, 248 f., 251, 255, 260 f., 269 ff., 274 f., 287 f., 292 f., 296 ff., 307, 310 f., 313, 316, 320, 323, 332, 339, 359 f., 364 ff., 368, 374, 383 Wirklichkeitswissenschaft 11, 18 ff., 154 ff., 163, 183, 222, 258, 263, 268, 282, 285 f., 288 ff., 295 ff., 300, 303 ff., 310, 324, 359 Wissenschaftslehre, -theorie 97, 153 ff., 162, 258, 295, 297, 305, 307, 310, 324 Wohlfahrtsstaat 9, 13 ff., 25 ff., 31 ff., 42 f., 47, 51 ff., 56, 59, 61 ff., 66 f., 69 ff., 80, 310 ff., 314 f., 319 ff., 337 f., 356 Zukunft 42, 47 ff., 64 ff., 84, 128, 141 ff., 176, 183, 190, 204 f., 281, 287, 294, 297 f., 301 f., 304 ff., 309 ff., 344 ff., 369 Zurechnung 14, 66, 70, 84 f., 134 f., 138, 293, 366, 375 Zweck 59, 65, 77 f., 152 ff., 175, 218, 235, 238, 242 f., 261, 291, 318, 325, 330, 347, 360 ff., 367 ff., 374 f. Zwecksysteme siehe Kultursysteme