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German Pages 228 Year 2015
Arlena Jung Identität und Differenz
Arlena Jung hat an der Universität Bielefeld promoviert. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Systemtheorie, Öffentlichkeits- und Medientheorien sowie Wissenschaftssoziologie.
Arlena Jung
Identität und Differenz Sinnprobleme der differenzlogischen Systemtheorie
Die vorliegende Publikation wurde 2006 von der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Arlena Jung Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1002-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
I N H AL T
Danksagung I.
Einleitung
9 11
DIFFERENZLOGIK UND GESELLSCHAFTSTHEORIE II. 1. 2.
Teilsysteme differenzlogisch betrachtet – eine empirische Operationalisierung Identitäts- und Differenzlogik Selbstreferentialität und strukturelle Kopplung Codes, Programme, Medien Ja/Nein-Codierung der Sprache Teilsystemspezifische Codes Medien Programme Strukturelle Kopplung: Identität der Elemente oder analoge Differenzschemata? Identität der Elemente Mehrsystemereignisse Operative Kopplung Analoge Differenzschemata Empirische Konsequenz
III. Methode und Material 1. Objektive Hermeneutik im Spannungsfeld zwischen Identitäts- und Differenzlogik 2. »The President’s Council on Bioethics« Eine multi-referentielle Organisation Die Sitzungen als Kommunikation unter Anwesenden Differenz setzen, um Differenz zu prüfen – eine begriffliche Anmerkung
27 27 35 37 38 41 43 45 47 50 51 53 54 59 61 61 71 75 78 80
IV. Ein Bioethikrat zwischen Wissenschaft, Politik und Moral 1. Eröffnung 2. Die Hybridisierung von Wissenschaft und Moral Wahre moralische Urteile Zwischenergebnis Bioethikrat und Politik im Kontext moralischer Komplexität Die Hybridisierung wissenschaftlicher und moralischer Selektionskriterien Wahre moralische Urteile als verfahrensbasierte Erkenntnisleistung 3. Zur-Verfügung-Stellen fremder Komplexität 4. Ersetzen 5. Zusammenfassung V. 1.
2.
Die theoretische Bedeutung der Hybridisierung Drei Integrationsformen – eine begriffliche Präzisierung Zur-Verfügung-Stellen fremder Komplexität Ersetzen Hybridisierung Hybridisierung und Differenzlogik Hybridisierung – eine Form struktureller Kopplung? Hybridisierung – eine emergente Struktur? Hybridisierung – ein Entdifferenzierungsfall? Moralische Selektionskriterien als »fremde« Erwartungsstrukturen? Hybridisierung von Wissenschaft und Moral – eine Idiosynkrasie?
83 86 91 91 103 104 105 106 111 115 119 123 125 126 127 128 130 130 137 144 146 148
DIFFERENZLOGIK UND SOZIALE SYSTEME VI. Sinn und Differenzlogik 1. Sinn als Unterscheidung zwischen aktuellem und potentiellem Sinn Negierter Sinn als interner Möglichkeitshorizont Negierter Sinn als jenseits des Systems gegebener Möglichkeitshorizont
153 156 159 161
2.
3.
4. 5. 6.
Sinn als instabile Zwei-Seiten-Form Basale Instabilität als Offenheit für einen systeminternen Möglichkeitshorizont Basale Instabilität als Offenheit für Irritationen der Umwelt Sinn als Unterscheidung zwischen Bezeichnetem und vom Bezeichneten Unterschiedenem Paradoxiekonzept Entparadoxierung durch Oszillation Entparadoxierung durch re-entry Sinn als Medium/Form-Unterscheidung Weltbegriff Zusammenfassung
164 166 167 172 175 176 180 182 187 195
VII. Zusammenfassung und Ausblick
201
Literatur
219
Da nk sa gung
Mein besonderer Dank gilt Prof. Alfons Bora und Prof. Ilja Srubar für die exzellente Betreuung. Bei Marc Torka möchte ich mich für die vielen und intensiven Diskussionen zu den hermeneutischen Analysen bedanken. Zahlreiche Anregungen sowohl in methodischer als auch in theoretischer Hinsicht habe ich aus den vielen Gesprächen und Veranstaltungen im Kontext des Graduiertenkollegs »Auf dem Weg in die Wissensgesellschaft« an der Universität Bielefeld erhalten. Ohne die Finanzierung durch das Kolleg wäre diese Arbeit gar nicht erst möglich gewesen. Prof. Hans Peter Peters danke ich für seine Unterstützung und die interessanten Diskussionen in der Endphase der Arbeit. Hilfreiche Kommentare und Anregungen habe ich insbesondere von Kai Buchholz, David Kaldewey, Matthias Klemm und Malte Schophaus erhalten. Monika Kallfass investierte viel Zeit und Mühe beim Korrekturlesen der Arbeit. Auch ihr gilt mein herzlicher Dank. Meinem Lebenspartner Torger Möller danke ich nicht nur für die inhaltlichen Anregungen, sondern ebenso für seine Unterstützung in dieser Zeit.
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I. Einle itung
Mit seiner mehr als 30-jährigen Theoriearbeit verfolgte Luhmann das Ziel, eine allgemeine Theorie des Sozialen zu entwickeln. Somit setzte er die Arbeit an einer, wenn nicht der zentralen Fragestellung soziologischer Theorie fort: die Beantwortung der Frage, wie soziale Ordnung möglich ist – dies allerdings aus einer sehr spezifischen Perspektive. Sein Ziel war es, die emergenten Eigenschaften des Sozialen, d.h. das Soziale als Realität sui generis zu erklären. So ist eine zentrale Errungenschaft von Luhmanns Systemtheorie, dass sie das Soziale nicht auf die Intentionen oder Handlungen einzelner Akteure reduziert. In der traditionellen Gesellschaftstheorie übernimmt der Akteur die Rolle des Architekten der sozialen Welt. Er ist nicht nur Konstrukteur der wirtschaftlichen Produktionsweisen und somit der technischen Beherrschung der Natur, sondern auch seines eigenen sozialen Umfelds. In Luhmanns Theorie sozialer Systeme hingegen werden »die Menschen« in die Umwelt des Systems verbannt. Das Soziale erscheint als Kommunikationssystem, das sich selbst kontinuierlich produziert, reproduziert und transformiert. Diese Errungenschaft führt Luhmann auf einem radikalen Bruch mit den Altlasten klassischer Sozialtheorien, den er bekanntlich als Paradigmenwechsel von einer Identitätslogik zu einer Differenzlogik charakterisiert. Verhaftet in einem ontologischen Weltbild prallt die klassische Sozialtheorie – so Luhmann – immer wieder gegen die selbstgebauten Wände der eigenen Deutungsmuster. Die Grenzen traditioneller Erklärungsansätze zeigen sich an der Problematik einer substanzontologischen Konzeptualisierung von Einheit bzw. Identität. Die Einheit des Sozialen wird entlang des Schemas Teil/Ganzes als Zusammensetzung der Teile verstanden. Das Ganze als Einheit aller Teile besitzt aber Eigenschaften, die nicht auf die einzelnen Teile zurückgeführt 11
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
erden können. Demnach ist die Einheit eines Gegenstandes die Summe aller Einzelteile und zugleich »mehr als die bloße Summe aller Teile«.1 Die gleiche Problematik spiegelt sich in dem Versuch, soziale Phänomene aggregationstheoretisch auf die Handlungen einzelner Menschen zurückzuführen. Die Lösung von Luhmanns Systemtheorie ist die Differenzlogik. Können aber soziale Systeme tatsächlich differenzlogisch verstanden werden? Mit dieser Fragestellung setzt sich diese Arbeit – theoriearchitektonisch betrachtet – mit einer der zentralsten Aspekte von Luhmanns Systemtheorie auseinander. Im ersten Teil der Arbeit (»Differenzlogik und Gesellschaftstheorie«) wird sie als empirisch zu beantwortende Frage behandelt. Eine empirische Prüfung theoretischer Annahmen wirft allerdings grundlegende Fragen bezüglich des Verhältnisses von Theorie und Empirie auf. Kann an eine konstruktivistische Theorie überhaupt der Anspruch gestellt werden, eine »realitätsgetreue« Beschreibung der sozialen Wirklichkeit zu liefern? Um diese Frage zu beantworten, ist es wichtig, sich die spezifische konstruktivistische Position von Luhmann in Erinnerung zu rufen. Luhmann beginnt das zentrale Werk seiner Theorie sozialer Systeme mit einem Satz, der für viel Aufregung gesorgt hat: »Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, dass es soziale Systeme gibt.«2 Mit diesem Satz geht Luhmann entgegen aller Kritik keineswegs hinter die konstruktivistische Grundlage seiner Theorie zurück. Vielmehr markiert er gleich zu Anfang die zentrale Annahme, auf der seine Theorie sozialer Systeme beruht. Die Aussage lautet nämlich nicht »Es gibt soziale Systeme«, sondern »Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, dass es soziale Systeme gibt [Hervorhebung von mir, A.J.].« Inwiefern ist aber die Annahme, dass es soziale Systeme gibt, aus einer konstruktivistischen Position heraus haltbar? Luhmanns Systemtheorie ist bekanntlich eine konstruktivistische Theorie, die in Abgrenzung etwa zum radikalen Konstruktivismus sich als operativen Realismus versteht. Ausgehend von einem operativen Realismus werden die Realitätsannahmen der Systemtheorie in zweierlei Hinsicht begründet: (1) Die Konstrukte eines Systems sind nicht im Sinne einer Entsprechung einer wie auch immer gearteten Umwelt real, sondern dahingehend, dass sie als Konstrukte eines konstruierenden Systems existieren. »Das, was als Realität behandelt wird, ist emergentes Produkt von Systemoperationen. Jede System-
1 2 12
Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1984, S. 20. Ebd., S. 30.
EINLEITUNG
perspektive produziert also eine […] eigene Realität.«3 (2) Bedingungen der Möglichkeit von »x« werden, unter der Annahme, dass es »x« gibt, als real angenommen. Sofern es beispielsweise soziale Systeme gibt, sind sie auf die Existenz einer jenseits des Systems gegebenen Welt bzw. Realität angewiesen, um die eigene Selbstreferentialität zu unterbrechen. Insofern muss eine Theorie sozialer Systeme annehmen, dass es eine Realität bzw. Welt jenseits der Realität sozialer Konstrukte gibt.4 Mit dieser zweiten Begründung unterscheiden sich die Realitätsannahmen des konstruktivistischen Realismus von denen, die üblicherweise konstruktivistischen Theorien zugrunde liegen, in einer entscheidenden Hinsicht. In der Regel basiert die Grundannahme konstruktivistischer Theorien auf der »empirischen« Erfahrung der Gegebenheit des eigenen Bewusstseins. Ausgehend von dieser Erfahrung werden Subjekte und ihre Konstrukte als »real« gesetzt. Oder wie Nassehi es formuliert: »als Restontologie bleibt die Reifzierung des menschlichen Bewußtseins zum Weltzentrum«.5 Ausgehend von dieser empirischen Erfahrung werden Bedingungen der Möglichkeit subjektiver Realitätskonstrukte theoretisch begründet. Indem Luhmann aber die Subjekt/ObjektUnterscheidung durch die System/Umwelt-Unterscheidung ersetzt, wird nicht das Bewusstsein, sondern das (soziale) System ontologisiert. Ausgehend von der Annahme der Gegebenheit sozialer Systeme werden »Bedingungen der Möglichkeit« (sozialer) Systeme theoretisch begründet. Während also konstruktivistische Theorien in der Regel mit der empirisch feststellbaren Gegebenheit subjektiver Konstrukte anfangen, werden die Realitätsannahmen von Luhmanns Systemtheorie mit der theoretischen Formel »sofern ›x‹ muss davon ausgegangen werden, dass ›y‹« begründet. Gleichzeitig beansprucht die Theorie, als Theorie, welche die konstruktivistische Position des konstruktivistischen Realismus einnimmt, nicht lediglich eine mögliche analytische Perspektive auf die soziale Wirklichkeit zu geben, sondern die reale Operationsweise sozialer Systeme zu beschreiben. Somit stellt sie an sich nicht nur die Forderung der internen Kohärenz, sondern auch die der empirischen Haltbarkeit. Seit der konstruktivistischen Wende gilt es allerdings als Weisheit, dass die »Wirklichkeit« nicht theorieunabhängig beobachtet werden 3
4 5
Armin Nassehi: »Wie wirklich sind Systeme? Zum ontologischen und epistemoligschen Status von Luhmanns Theorie selbstreferentieller Systeme«, in: Werner Krawietz/Michael Welker (Hg.), Kritik der Theorie sozialer Systeme. Auseinandersetzung mit Luhmanns Hauptwerk, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1992, S. 43-71, hier S. 56. Vgl. ebd. Ebd., S. 47. 13
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
kann. Jede empirische Methode basiert auf Annahmen über die »Wirklichkeit«, die wiederum bestimmen, wie die »Welt« wahrgenommen wird. So stellt sich die Frage, inwiefern theoretische Annahmen aufgrund empirischer Forschung geprüft werden können. In dieser Arbeit wird die Position eingenommen, dass auch vor dem Hintergrund dieser Einsicht eine Kopplung zwischen Theorie und Empirie unproblematisch ist. Dies allerdings unter einer Bedingung: Es muss zwischen den theoretischen Annahmen, die nicht in Frage gestellt, und solchen, die durch die Empirie irritiert werden sollen, klar differenziert werden. So muss eine Methode gewählt werden, die mit den Grundannahmen der Systemtheorie kompatibel ist, gleichzeitig aber gegenüber der zu prüfenden Frage neutral ist. Das Interpretationsverfahren der objektiven Hermeneutik erfüllt beide Kriterien. Zum einen stimmen beide Theorien dahingehend überein, dass sozialer Sinn als emergente Realität verstanden wird, die in selbstreferentiellen Kommunikationssequenzen konstituiert wird – und nicht mit dem von Subjekten bzw. psychischen Systemen intendierten Sinn gleichzusetzen ist. Zum anderen bleibt die objektive Hermeneutik als Methode gegenüber den hier zu hinterfragenden differenzlogischen Annahmen neutral. Obwohl einige theoretische Annahmen, mit denen die objektive Hermeneutik das sequenzanalytische Verfahren begründet, in Luhmanns Terminologie identitätslogische Annahmen sind, kann es ebenso mit differenzlogischen Annahmen begründet werden. Die Kompatibilität von objektiver Hermeneutik und Systemtheorie wird in Kapitel III., Abschnitt 1 erläutert. Nun stellt sich die Frage nach einem angemessen Material für dieses Vorhaben. An welchem »Ort« können differenzlogische Sinnkonstitutionsprozesse beobachtet werden? Luhmanns Systemtheorie macht uns die Suche nach angemessenem Material relativ leicht. Sie beansprucht nämlich als Universaltheorie alle sozialen Sinnkonstitutionsprozesse differenzlogisch erklären zu können. Es ist allerdings davon auszugehen, dass gerade in Kommunikationsprozessen, in denen unterschiedliche gesellschaftliche Teilsysteme »aufeinander treffen«, die differenzlogische Operationsweise sozialer Sinnkonstitutionsprozesse besonders plastisch zu beobachten sein wird. Dementsprechend wird die Fragestellung dieser Arbeit für eine empirische Operationalisierung geöffnet, indem sie folgendermaßen präzisiert wird: Inwiefern können Sinnkonstitutionsprozesse, an denen mehrere Teilsysteme beteiligt sind, differenzlogisch verstanden werden? Als Beispiel für solche Kommunikationsprozesse, dienen die Transkripte der Sitzungen des amerikanischen Bioethikrats »The President’s Council on Bioethics«. Dieser ist eine politische Beratungsinstanz, die das Mandat hat, sowohl ein Forum für die Diskussion bioethischer Fragen zu sein, als auch den Präsidenten in konkreten Regulie14
EINLEITUNG
rungsfragen zu beraten. Die Mitglieder des Rats stammen aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen. Als aus Wissenschaftlern bestehende Organisation, welche die Aufgabe hat die Politik in bioethischen Fragen zu beraten, war davon auszugehen, dass in den Kommunikationsprozessen des Rats die Relevanz- und Gültigkeitskriterien unterschiedlicher Funktionssysteme wirksam sein würden. Diese Annahme konnte bereits durch eine Analyse des Gründungsdokuments bestätigt werden (siehe hierzu Kapitel III, Abschnitt 2). Mit der Ausrichtung auf das Aufeinandertreffen unterschiedlicher gesellschaftlicher Teilsysteme greift die Arbeit eines der einschlägigsten Motive der soziologischen Gesellschaftsforschung auf: Trotz aller begrifflichen und konzeptuellen Differenzen sind sich die soziologischen Theorien moderner Gesellschaften darin einig, dass diese durch zunehmende Differenzierung und Komplexität ein zentrales Merkmal gekennzeichnet sind. Genau in diesem Sinne können sie als Differenzierungstheorien verstanden werden. Dabei findet eine anhaltende Debatte darüber statt, wie die Grenzen zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen, Diskursen oder eben Teilsystemen zu verstehen sind. So bilden beispielsweise Fragen danach, ob die Grenzen zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilsystemen oder Diskursen lediglich als analytische Perspektive oder als »real« zu verstehen sind, zentrale Aspekte der diskurstheoretischen Forschung. Bei Habermas spielt etwa die Frage, wie die Systemlogiken der Funktionssysteme in einer gemeinsamen Lebenswelt bzw. Umgangssprache verankert werden können, eine zentrale Rolle. Dies ist allerdings nicht nur eine zentrale gesellschaftstheoretische Fragestellung der Soziologie im Allgemeinen, sondern auch eine Fragestellung, die ganz konkret bei der Rezeption von Luhmanns Systemtheorie schon seit ihren Anfängen eine wichtige Rolle spielte. Seit Luhmann in den 1970er Jahren sein Konzept moderner Gesellschaften als funktional differenzierte Gesellschaft formuliert hat, wird unter den Begriffen Entdifferenzierung und Differenzierung die Möglichkeit diskutiert, die Gesellschaft als in unterschiedlichen Teilsystemen differenziert zu konzeptualisieren. Charakteristisch für diese Debatte ist, dass die Kritik an der Systemtheorie aus einer der Systemtheorie externen Theorieperspektive erfolgt. Die Erwiderung der Systemtheoretiker besteht im Verweis auf den differenzierten konzeptuellen begrifflichen Apparat der eigenen Theorie sowie der Weiterentwicklung der entsprechenden systemtheoretischen Konzepte. So kritisiert beispielsweise Knorr Cetina Luhmanns Differenzierungstheorie als unterkomplex in Bezug auf »das interne Funktionieren der in Frage stehenden Funktionsbereiche« und belegt diese Kritik mit dem »real-zeitlichen Funktionieren moderner In15
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
stitutionen«.6 Hier stellt sich die Frage, wie »real-zeitliches Funktionieren« systemtheoretisch zu verstehen ist. Münch – um ein weiteres prominentes Beispiel zu nennen – behauptet, dass im Gegensatz zu den Annahmen von Luhmann die Ökonomie, das Recht, die Politik usw. im konkreten gesellschaftlichen Handeln vielfach miteinander verflochten seien. Weiter schreibt er: »Je mehr diese Kommunikation stattfindet, um so mehr bleibt eine gemeinsame Umgangssprache erhalten, die keinem Teilsystem zugeordnet ist«.7 Aus systemtheoretischer Perspektive stellt sich nun die Frage, inwiefern diese »gemeinsame Umgangssprache, die keinem Teilsystem zugeordnet ist«, als Kommunikation eines Interaktionssystems oder als nicht-codierte Kommunikation verstanden werden könnte. Weiter schreibt Münch: »Empirisch ist jedoch Politik zugleich von nicht-politischen Elementen durchdrungen und geprägt […]. Was wir dann als real gegebenes politisches Funktionssystem bezeichnen, ist zwar immer noch durch die letztendliche Orientierung an der Selektion, Durchsetzung und Durchführung kollektiv verbindlicher Entscheidungen und ein darauf bezogenes Rollengefüge von anderen empirischen Funktionssystemen […] abgegrenzt; es ist aber kein vollkommen autopoietisch, nach einer reinen Machtlogik operierendes System«.8
Auch hier stellt sich für die Systemtheorie eine von der Anlage her ähnliche Frage: Ist nicht das, was hier beschrieben wird und als Argument gegen die Systemtheorie verstanden werden soll, systemtheoretisch gelesen eine Ausformulierung des Konzepts von Zur-Verfügung-Stellen fremder Komplexität? Gleich wie analytisch wertvoll oder empirisch gehaltvoll eine von außen an die Systemtheorie gerichtete Kritik auch sein mag, bleibt also im Hinblick auf Begriffe wie »real-zeitliches Funktionieren« oder »verflochten« die Frage, wie diese in eine systemtheoretische Sprache zu übersetzen sind. So ist die gängige Replik von Systemtheoretikern wenig überraschend. Auf diese Kritik kontern Systemtheoretiker zum einen mit einer Präzisierung und Differenzierung der eigenen Konzepte, zum anderen aber auch mit dem Vorwurf der Ungenauigkeit der Kritik.9 Halfmann 6
7
8 9
16
Vgl. Karin Knorr Cetina: »Zur Unterkomplexität der Differenzierungstheorie. Empirische Anfragen an die Systemtheorie«, in:Zeitschrift für Soziologie Bd. 21 (1992), S. 406-419. Richard Münch: »Elemente einer Theorie der Integration moderner Gesellschaften. Eine Bestandsaufnahme«, in: Berliner Journal für Soziologie (1995), S. 5-24, hier S. 14. Ebd., S. 15. Vgl. Jost Halfmann/Klaus Peter Japp: »Grenzen sozialer Differenzierung – Grenzen des Wachstums öffentlicher Sozialdienste«, in: Zeitschrift für
EINLEITUNG
und Japp schreiben 1981 in Reaktion auf die Entdifferenzierungsthese von Buß und Schöps:10 »Als Problem der wechselseitigen Abstimmung differenzierter Strukturelemente ist das Thema denn auch keineswegs neu. […] Entdifferenzierung i.S. von Fremdthematisierung signalisiert Kompatibilitäts- und/oder Interdependenzprobleme, die immer schon […] mitgedacht worden sind.«11 Bora schreibt 2001: »Diese Kontroverse um die Frage gesellschaftlicher Differenzierung […] beruht jedoch vielfach auf einer Vermischung von organisationstypischen Phänomenen einerseits und gesellschaftsbezogenen Aussagen andererseits. Sie kann deshalb, jedenfalls aus der systemtheoretischen Perspektive, in manchen Punkten durch terminologische Klarstellung neutralisiert werden.«12 Weiter schreibt er: »In Erwiderung auf diese Argumente kann man nun auf theoriekonstruktive Ungereimtheiten aufmerksam machen, die mit der Entdifferenzierungsthese verbunden sind […]«.13 Als neuere Beiträge zur dieser Debatte sind Nassehis Artikel »Die Theorie funktionaler Differenzierung im Horizont ihrer Kritik«14 und der Artikel von Schmidt »Die Systeme der Systemtheorie. Stärken, Schwächen und ein Lösungsvorschlag«15 sowie die Replik darauf zu erwähnen. Die Antwort von Systemtheoretikern auf die Behauptung, dass in »realen« sozialen Prozessen die Logiken unterschiedlicher gesellschaftlicher Bereiche »Hand in Hand Gehen«, kann in den folgenden, am Beispiel des Wissenschaftssystems durchdeklinierten drei Punkten zusammengefasst werden: (1) Zu unterscheiden ist zwischen Wissenschaft als Organisation bzw. als Handlungsfeld und dem systemtheoretischen Verständnis von Wissenschaft als Kommunikationssystem. Demzufolge sind alle Kommunikationsofferten, auch wenn sie auf den Fluren oder in den Seminaren einer Universität oder aus dem Mund eines noch so gelehrten Akademikers stammen, nur Teil des Wissenschaftssystems, so-
10 11 12 13 14 15
Soziologie Jg. 10 (1981), S. 244-255; Vgl. Alfons Bora: »Öffentliche Verwaltung zwischen Recht und Politik. Die Multireferentialität organisatorischer Kommunikation«, in: Veronika Tacke (Hg.), Organisaton und gesellschaftliche Differenzierung, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2001, S. 170-191. Vgl. Eugen Buß/Martina Schöps: »Die gesellschaftliche Entdifferenzierung«, in: Zeitschrift für Soziologie Bd. 8 (1979), S. 315-329. J. Halfmann/K. P. Japp: »Grenzen sozialer Differenzierung«, S. 247. A. Bora: »Öffentliche Verwaltung zwischen Recht und Politik. Die Multireferentialität organisatorischer Kommunikation«, S. 173. Ebd., S. 176. Vgl. Armin Nassehi: «Die Theorei funktionaler Diferenzierung im Horizont ihrer Kritik«, in: Zeitschrift für Soziologie Bd. 33 (2004), S. 98-118. Vgl. Volker Schmidt »Die Systeme der Systemtheorie. Stärken, Schwächen und ein Lösungsvorschlag«, in: Zeitschrift für Soziologie Jg. 34, Heft 6 (2005), S. 406-424. 17
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
fern diese sich an dem Code des Wissenschaftssystems (wahr/unwahr) orientieren. (2) Auch aus der Perspektive der Systemtheorie erscheinen gesellschaftliche Teilsysteme als Systeme, die in Wechselwirkung mit einer Umwelt existieren. So geht die Systemtheorie von einer strukturellen Kopplung bzw. Co-Evolution von gesellschaftlichen Teilsystemen und ihrer gesellschaftsinternen wie gesellschaftsexternen (psychische Systeme) Umwelt aus. Das »Hand in Hand Gehen« ökonomischer, politischer und beispielsweise wissenschaftlicher Prozesse wird in systemtheoretischen Konzepten wie strukturelle Kopplung, Co-Evolution, Mehrsystemereignisse usw. erfasst. (3) Organisationen sind multi-referentielle Systeme. Als solche können sie die Relevanz- und Gültigkeitskriterien unterschiedlicher Funktionssysteme integrieren, ohne ihre eigene Selbstreferentialität zu unterminieren. Insofern ist die Strukturwirksamkeit unterschiedlicher Funktionssysteme in ein und derselben Organisation durchaus kompatibel mit den Annahmen der Systemtheorie. Obwohl diese Arbeit sich als Fortsetzung dieser Debatte versteht, verspricht sie mit diesem Muster zu brechen. Die Auseinandersetzung mit Luhmanns differenzlogischem Verständnis gesellschaftlicher Teilsysteme erfolgt nämlich nicht aus einer theorieexternen Perspektive. Vielmehr bleibt sie im konzeptuellen und begrifflichen Rahmen der Systemtheorie und übernimmt somit selbst die Aufgabe der Übersetzung der Kritik in die systemtheoretische Sprache. Oder genauer: Eine Übersetzung ist gar nicht erst nötig. Diese Arbeit bewegt sich nicht nur im Rahmen einer die Rezeption von Luhmanns Gesellschaftstheorie prägenden Debatte, sondern greift eine Frage auf, die Luhmann selbst stellt: »Passen Begriffe wie ›operative (selbstreferentielle, rekursive) Geschlossenheit‹, ›Selbstorganisation‹, ›Autopoiesis‹ auf die Gesellschaft, nur auf die Gesellschaft oder auch auf [beispielsweise: A.J.] ihr politisches System?«16 Was sind aber im begrifflich-konzeptuellen Rahmen von Luhmanns Systemtheorie die Kriterien eines solchen »Passungsverhältnisses«? Zwar besagt das Konzept der Selbstreferentialität und operativen Geschlossenheit, dass Systeme sich kontinuierlich selbst produzieren, reproduzieren und transformieren. Gleichzeitig geht aber auch die Systemtheorie davon aus, dass Teilsysteme nicht unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Umwelt existieren können. Bedingung eines differenzlogischen Verständnisses der Selbstreferentialität gesellschaftlicher Teilsysteme ist also, dass die Wechselwirkung mit der gesellschaftlichen Umwelt die Selbstreferentia16 Niklas Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002, S. 17. 18
EINLEITUNG
lität der jeweiligen Teilsysteme nicht unterminiert. So schreibt Luhmann als Antwort auf seine eigene Frage in »Politik der Gesellschaft«: »Im Staat treffen sich, könnte man sagen, laufend Politik und Recht – aber in einer Weise, die die Unterscheidbarkeit der jeweiligen Systeme, ihrer Funktionen und ihrer Codes nicht beeinträchtigt. Jede einzelne Kommunikation vermag Relevanz in beiden gekoppelten Systemen zu beanspruchen, also zugleich politisch und juristisch bedeutsam sein. Aber wenn man ihren Sinn identifizieren will, muß man sich an ein rekursives Netzwerk halten, das Voraussetzungen und Folgen beschränkt; und in dieser Hinsicht unterscheiden sich Politik und Recht radikal.«17
Somit bleibt allerdings zu beantworten, wie zwischen einer Wechselwirkung unterschieden werden kann, welche die »Unterscheidbarkeit der jeweiligen Systeme« beeinträchtigt, und einer Wechselwirkung, welche dies nicht tut. Es stellt sich, mit anderen Worten, die Frage, wie die System/Umwelt-Wechselwirkung trotz operativer Geschlossenheit konzeptualisiert werden kann. Zur Beantwortung dieser Frage führt Luhmann den Begriff struktureller Kopplung ein. Das Kopplungskonzept bleibt in Luhmanns Arbeiten allerdings relativ ambivalent. Nicht nur ist dies eines der weniger präzise ausgearbeiteten Konzepte. Zudem finden sich in seinen Schriften unterschiedliche, sich teils widersprechende Ausformulierungen des Kopplungskonzepts. So steht diese Arbeit vor der Aufgabe, eines mit einer differenzlogischen Lesart von Luhmanns Systemtheorie kompatibles Kopplungskonzept zu entwickeln. Kapitel II dient dementsprechend der Beantwortung der Frage, wie Kopplung differenzlogisch verstanden werden kann. Um diese Frage zu beantworten, ist es in einem ersten Schritt notwendig, die Unterscheidung zwischen Identitäts- und Differenzlogik zu präzisieren. Diese Begriffe werden nämlich sowohl von Luhmann selbst als auch in der kritischen Rezeption eher zur Bezeichnung eines allgemeinen Paradigmas verwendet als zur Bezeichnung klar umrissener Konzepte. Aus Luhmanns Verwendung von Differenzlogik als kritischen Gegenbegriff zur Identitätslogik kann allerdings folgende Definition abgeleitet werden: Als identitätslogisch werden Konzepte verstanden, die Systemeigenschaften (1) auf ontologisch gegebene Eigenschaften der Elemente oder der Strukturen eines Systems zurückführen und (2) als Realisierung von Allgemeinem im Besonderen erklären (siehe hierzu Kapitel II, Abschnitt 1). Daran anschließend kann gezeigt werden, dass weder eine Definition von Kopplung, die auf der Annahme der Identität der Elemente der gekoppelten Systeme noch auf einem Kon17 Ebd., S. 392. 19
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
zept von Mehrsystemereignissen beruht, sich halten lässt. Allein ein Verständnis von Kopplung als die Stabilisierung analoger Differenzschemata auf der innen Seite der jeweils gekoppelten Systeme ist mit Luhmanns differenzlogischem Verständnis gesellschaftlicher Teilsysteme kompatibel. Voraussetzung eines solchen Kopplungskonzepts ist allerdings die Einführung einer Unterscheidung zwischen Element und Ereignis (Kapitel II, Abschnitt 2). Festzuhalten bleibt, dass Luhmanns differenzlogischem Verständnis gesellschaftlicher Teilsysteme zufolge trotz struktureller Kopplung die Selbstreferentialität und operative Geschlossenheit erzeugende Wirkung von teilsystemspezifischen Codes in zweierlei Hinsicht empirisch zu beobachten sein müsste: (1) in ihrer strukturierenden Wirkung auf die Kommunikationsprozesse eines Teilsystems und (2) als Grenze der Anschlussfähigkeit. Bereits im ersten Satz der ersten Sitzung zeigt sich, dass der Rat in der Tat mit dem Problem konfrontiert ist, die Erwartungsstrukturen unterschiedlicher gesellschaftlicher Kontexte zu integrieren. Zum einen besteht das für wissenschaftliche Beratungsgremien charakteristische Problem der Integration wissenschaftlicher und politischer Relevanz- und Gültigkeitskriterien (Kapitel IV, Abschnitt 1). Zum anderen kommt die für Ethikräte typische Komplikation der Vermischung dieser Erwartungsstrukturen mit moralischer Kommunikation hinzu – und dies in der spezifischen Situation des durch die Terroranschläge auf das World Trade Center dominierten politischen Landschaft. Der Vorsitzende des Rats leitet seine Eröffnungsrede mit der Beschreibung eines Konkurrenzverhältnisses zwischen dem Rat und den Ereignissen des 11. September um politische und öffentliche Aufmerksamkeit ein. Dieses Konkurrenzverhältnis wird allerdings positiv konnotiert, indem der Präsident und der Bioethikrat als Alliierte in einem gemeinsamen Kampf gegen »evil« dargestellt werden. Die Tätigkeit des Rats wird als eine der Tätigkeit der Politik im Kampf gegen »evil« notwendig vorausgehende Erkenntnisleistung beschrieben. Somit werden sowohl politische Komplexität als auch die Tätigkeit des Rats im Kontext moralischer Relevanz- und Gültigkeitskriterien wahrgenommen. Die Aufgabe des Rats wird als das Gewinnen von Erkenntnissen über die Gegebenheit von »evil« im biotechnologischen Bereich dargestellt. Hierbei handelt es sich um wahre Erkenntnisse bzw. moralische Urteile im Sinne einer Korrelation zwischen Aussage und Wirklichkeit. Als »empirisches Material« für das Fällen wahrer Urteile über die Gegebenheit von »evil« dienen die emotionalen Reaktionen der Ratsmitglieder auf biotechnologische Entwicklungen. Anders als in moralischer Kommunikation wird die in einer emotionalen Reaktion enthaltene Bewertung aber nicht mit einem moralischen Urteil gleichgesetzt. So dient 20
EINLEITUNG
die Diskussion in den Sitzungen des Rats dazu, zwischen wahren und unwahren moralischen Urteilen zu unterschieden. Geprüft werden soll zum einen, ob es sich bei einer emotionalen Reaktion um eine persönliche oder um eine universelle, allen Menschen gemeinsame handelt. Sofern sie als allen Menschen gemeinsam verstanden wird, wird sie verobjektiviert. Eine moralische Bewertung wird mit einer emotionalen Reaktion gleichgesetzt und die Ursache für dieses Erlebnis der Umwelt zugeschrieben. Zum anderen soll sodann die Ursache für dieses Erlebnis ergründet werden. Erst die Antwort auf die Frage nach der Ursache für die so objektivierte emotionale Reaktion dient als Basis für das Fällen wahrer moralischer Urteile. Die Diskussionen des Rats dienen also als Verfahren, um wahre Urteile über die Gegebenheit von »evil« zu fällen. Insofern beinhaltet die in der Eröffnungsrede des Ratsvorsitzenden zugrunde liegende und in den weiteren Sitzungen wirksame Kommunikationsstruktur eine Hybridisierung wissenschaftlicher und moralischer Relevanz- und Gültigkeitskriterien. Diese als Hybridisierung bezeichnete Kommunikationsstruktur wird in Kapitel IV, Abschnitt 2 dargestellt. Hybridisierung spielt in den folgenden Sitzungen des Rats weiterhin eine zentrale Rolle. Gleichzeitig sind aber auch andere Kommunikationsstrukturen wirksam. Beispielsweise kann die Unterordnung politischer Komplexität unter religiöse Relevanz- und Gültigkeitskriterien sowie das Ersetzen der die Eröffnungsrede zugrunde liegende Kommunikationsstruktur durch eine moralische Kommunikationsform beobachtet werden. In Kapitel IV, Abschnitt 3 und 4 werden zwei Bedeutungsstrukturen – »Zur-Verfügung-Stellen fremder Komplexität« und »Ersetzen« – dargestellt. Diese dienen als Beispiele für Formen der Integration, die mit der systemtheoretisch postulierten Differenz zwischen teilsystemspezfischen und teilsystemfremden Relevanz- und Gültigkeitskriterien kompatibel sind. Die Arbeit beschränkt sich allerdings nicht darauf zu konstatieren, dass Hybridisierung eine Integrationsform ist, in der die systemtheoretisch postulierte Differenz zwischen Teilsystemen nicht strukturwirksam ist. Gerade für eine Arbeit, die im begrifflich-konzeptuellen Rahmen von Luhmanns Systemtheorie zu bleiben beansprucht, ist zu fragen, ob Hybridisierung als organisations- oder interaktionssystemspezifische Struktur verstanden werden kann. Zu beachten ist nämlich, dass »The President’s Council on Bioethics« eine Organisation ist und die Sitzung des Rats Interaktionssysteme bilden. Organisationen wie Interaktionssysteme sind Systeme, welche die besondere Eigenschaft besitzen, als multi-referentielle Systeme die Relevanz- und Gültigkeitskriterien von mehreren gesellschaftlichen Funktionssystemen integrieren zu können, ohne die eigene Selbstreferentialität zu unterminieren. Des Weiteren 21
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
stellt sich die Frage, ob Hybridisierung nicht als Kopplungsstruktur oder als Fall von Entdifferenzierung verstanden werden kann. Entscheidend für die Beantwortung dieser Frage sind zwei differenzlogische Prinzipien: (1) Strukturen können nicht quer zu den Grenzen von Teilsystemen liegen. (2) Die Entdifferenzierung von Teilsystemen kann nicht punktuell gegeben sein. Handelt es sich im konkreten Fall aberüberhaupt um eine Form der Integration teilsystemspezifischer und teilsystemfremder Komplexität? Hier werden nämlich wissenschaftliche und moralische Relevanz- und Gültigkeitskriterien integriert. Moralische Kommunikation ist aber Luhmann zufolge nicht als Funktionssystem zu verstehen. Vielmehr spielt sie eine wichtige Rolle in der Strukturierung der Kommunikationsprozesse aller gesellschaftlichen Funktionssysteme. Der moralische Code Achtung/Missachtung bzw. gut/böse ist allerdings nur als Zweitcodierung mit der Selbstreferentialität von Funktionssystemen kompatibel. Nach funktionaler Ausdifferenzierung kann eine Seite eines Codes nicht auf die andere Seite eines anderen Codes verweisen, ohne die Stabilität des jeweiligen Codes zu unterminieren. Dies gilt ebenso für die Codes von Funktionssystemen, wie für den Code moralischer Kommunikation. Bei Hybridisierung besteht aber weder eine zeitliche noch eine hierarchische Differenzierung zwischen moralischen und wissenschaftlichen Kriterien. Insofern kann in diesem Fall Moral nicht als Zweitcodierung verstanden werden. Im Kapitel V wird gezeigt, dass bei einer strikt differenzlogischen Lesart keines dieser Konzepte eine Möglichkeit liefert, Hybridisierung zu erklären. Im Anschluss an dieses Ergebnis stellt sich natürlich die Frage, was die Implikationen für Luhmanns Systemtheorie und konkret für Luhmanns differenzlogisches Verständnis sozialer Sinnkonstitutionsprozesse sind. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus, dass Hybridisierung eine Form struktureller Kopplung ist, die nicht differenzlogisch erklärt werden kann? Ist dies als Beleg zu verstehen, dass ein strikt differenzlogisches Verständnis der Selbstreferentialität gesellschaftlicher Teilsysteme nicht haltbar ist? Oder beruht die Unmöglichkeit einer differenzlogischen Erklärung dieses Phänomens darüber hinaus auf einem grundlegenderen theoriearchitektonischen Problem? Der zweite Teil dieser Arbeit (»Differenzlogik und soziale Systeme«) dient dazu, die Annahme zu begründen, dass die Unmöglichkeit einer differenzlogischen Erklärung von Hybridisierung nicht allein als Problem einer differenzlogischen Konzeptualisierung der Selbstreferentialität gesellschaftlicher Teilsysteme zu verstehen ist. Vielmehr besteht das Problem darin, soziale Sinnkonstitutionsprozesse jeglicher Art differenzlogisch zu erklären. Unabhängig davon also, ob es sich um Sinnkonstitutionsprozesse handelt, die »zwischen« Teilsystemen, innerhalb von Teilsystemen oder als nicht22
EINLEITUNG
codierte Kommunikationsprozesse ablaufen, besteht ein systematisches Problem darin, diese Sinnkonstitutionsprozesse differenzlogisch zu erklären. Um diese These zu begründen, werden die unterschiedlichen Ausformulierungen von Luhmanns Sinnkonzept über seine verschiedenen Theorieetappen hinweg analysiert: Sinn als Unterscheidung zwischen aktuellem und potentiellem Sinn, Sinn als instabile Zwei-SeitenForm, Sinn als Unterscheidung zwischen Bezeichnetem und vom Bezeichnetem Unterschiedenem, Sinn als Medium/Form-Unterscheidung und Sinn in Zusammenhang mit Luhmanns Weltbegriff. Theoriearchitektonisch betrachtet dienen all diese Versuche, ein differenzlogisches Sinnkonzept zu entwickeln, zum einen dazu, den Sinnbegriff vom Subjektbezug zu lösen. Zum anderen und damit einhergehend soll mithilfe eines differenzlogischen Sinnbegriffs die Eigendynamik des Sozialen als selbstreferentielles operativ geschlossenes System erklärt werden. Gezeigt wird, dass Luhmanns Sinnkonzept aber entweder (1) implizit ontologische Annahmen beinhaltet, die im Widerspruch zu konstruktivistischen Grundannahmen seiner Theorie stehen, (2) die Offenheit bzw. Dynamik sozialer Sinnkonstitutionsprozesse nicht erklären kann oder (3) in identitätstheoretische Beschreibungen sozialer Sinnkonstitutionsprozesse mündet, die zwar nicht mit den konstruktivistischen Grundannahmen der Theorie, sehr wohl aber mit der differenzlogischen Beschreibung von Sinn in Widerspruch stehen. Auffällig ist dabei die Systematik, mit der sich dieses Problem über die verschiedenen Ausformulierungen des Sinnkonzeptes hinweg durchzieht. Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten, die andere Seite des je aktuellen Sinns zu verstehen: als systeminterner oder als jenseits des Systems gegebener Möglichkeitsraum. Als jenseits des Systems gegebener Möglichkeitsraum wird Sinn ontologisiert. Als systeminterner Möglichkeitsraum ist der Sinnbegriff zwar mit den konstruktivistischen Grundannahmen der Theorie kompatibel. Das Entstehen vom Neuen kann aber nur durch die Einführung identitätslogischer Figuren erklärt werden. Die Schlussfolgerung ist also: Mit einem Paradigmenwechsel von einer Identitäts- zu einer Differenzlogik beabsichtigt Luhmann ein zentrales Problem traditioneller Sozialtheorien zu lösen: das Soziale als Emergente Realität zu erklären. Im Rahmen einer differenzlogischen Theorie kehrt das Problem, Emergenz zu erklären, aber im anderen Gewand wieder. Die Offenheit eines Systems für Neues muss trotz Selbstreferentialität und operativer Geschlossenheit begründet werden. Am Sinnbegriff wird gezeigt, dass dieses Problem bei einer strikt differenzlogischen Lesart von Luhmanns Theorie als bisher ungelöst gelten muss.
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D IFFERENZLOGIK UND G ESELLSCHAFTSTHEORIE
II. T E I L S Y S T E M E D I F F E R E N Z L O G I S C H B E T R AC H T E T – E I N E E M P I R I S C H E O P E R AT I O N A L I S I E R U N G
1. Identitäts- und Differenzlogik Die dieser Arbeit zugrunde liegende Fragestellung ist: Inwiefern können soziale Sinnkonstitutionsprozesse differenzlogisch verstanden werden. Insofern baut der ganze Argumentationsgang dieser Arbeit auf der Unterscheidung zwischen Identitätslogik und Differenzlogik auf. So ist eine Präzisierung dessen, was mit »differenzlogisch« und »identitätslogisch« genau gemeint ist, Bedingung einer stringenten Argumentation. Hierbei geht es nicht darum, den theoretisch-philosophischen Wurzeln dieser Begriffe auf den Grund zu gehen. Zentral für diese Arbeit ist allein, welche jeweilige Bedeutung »Differenzlogik« und »Identitätstheorie« im begrifflich-konzeptuellen Rahmen von Luhmanns Theorie einnehmen.1 Dies zu bestimmen ist aber kein unproblematisches Unterfangen. »Differenzlogik« dient nämlich im Rahmen von Luhmanns Systemtheorie eher als einen Verweis auf ein Paradigmenwechsel, denn als ein Begriff.2 Ziel der folgenden Überlegungen ist es also, eine in Bezug auf die
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So nimmt beispielsweise das Konzept von Identitätslogik bei Dux eine andere Bedeutung ein als bei Luhmann, da es Dux zwar auch um die Überwindung von einer Identitätslogik geht, dies aber nicht hin zu einem differenzlogischen, sondern zu einem entwicklungslogischen Begriff von Gesellschaft. Vgl. Günter Dux: Historisch-Genetische Theorie der Kultur, Instabile Welten. Zur prozessualen Logik im kulturellen Wandel. Weilerswist: Velbrück Verlag 2000, S. 91f. »Das seit Kuhn geläufige, den gegenwärtigen bombastischen Wissenschaften sehr entgegenkommende Wort ›Paradigma‹ […] kann man sich also ganz einfach als ›(Zeit-)Stil‹ verdeutlichen: so, wie es in der Kunst 27
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
Fragestellung dieser Arbeit stichhaltige Lesart der Bedeutung von »Differenzlogik« und »Identitätslogik« in Luhmanns Schriften zu entwickeln. Mit einem Paradigmenwechsel hin zu einer »Differenzlogik« beansprucht Luhmann die Probleme zu lösen, an denen »Identitätstheorien« scheitern. Insofern bildet »Identitätslogik« für Luhmann einen Gegenbegriff zu »Differenzlogik«. Dementsprechend kann die Bezeichnung eines Konzepts als »identitätstheoretisch« als Verweis auf einen Problemkomplex verstanden und die Probleme, die Luhmann mit seiner Differenzlogik zu lösen beansprucht, an seiner Kritik der »Identitätstheorien« abgelesen werden. Kern von Luhmanns Kritik an »Identitätstheorien« ist gerade ihre Unfähigkeit, »Identität« zu erklären. Das identitätstheoretische Paradigma wird als Tradition beschrieben, in der substanzontologisch von Ganzheiten, die aus Teilen bestehen, ausgegangen wird. So sind Identitätstheorien mit dem Problem konfrontiert, das Ganze zugleich als die Summe seiner Teile und als mehr als die Summe seiner Teile zu erklären. Das Problem dieser Tradition war, Luhmann zufolge, dass das Ganze doppelt gedacht werden musste: als Einheit und als Gesamtheit der Teile. »Man konnte dann zwar sagen, das Ganze sei die Gesamtheit der Teile oder sei mehr als die bloße Summe der Teile, aber damit war nicht geklärt, wie das Ganze, wenn es nur aus Teilen plus Surplus besteht, auf der Ebene der Teile als Einheit zur Geltung gebracht werden könne.«3 Die Denkfigur der Realisierung des Allgemeinen im Besonderen bot, im Rahmen der Identitätstheorie, eine Lösung, die aber Luhmann zufolge keine wirkliche Lösung, sondern lediglich eine Verschiebung des Problems beinhaltete. »Im Paradigma vom Ganzen und seinen Teilen mußte man irgendwo unerklärbare Eigenschaften unterbringen – sei es als Eigenschaften des Ganzen, das mehr ist als die Summe seiner Teile, sei es als Eigenschaft einer hierarchischen Spitze, die das Ganze repräsentiert.«4 Im konzeptuell-begrifflichen Rahmen von Luhmanns Theorie kann dieses Problem unter der Problemformel Emergenz zusammengefasst werden.5 Gebunden an eine Substanzontologie sind Identitätstheorien,
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verschiedenartige, aber einander gleichwertige ›Stile‹ gibt, gibt es in der Wissenschaft im Laufe der Geschichte jeweils eigentümliche Denkstile«. Helmut Seiffert: Handlexikon der Wissenschaftstheorie, München: Deutsche Taschenbuch Verlag 1992, S. 412. N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 20. Ebd., S. 27. Vgl. Alfons Bora: »Whatever it causes‹ – Emergenz, Koevolution und strukturelle Kopplung«, in: Ulrich Wenzel/Bettina Bretzinger/Klaus Holz (Hg.), Subjekte und Gesellschaft. Zur Konstitution von Sozialität, Weilerswist: Velbrück Verlag 2003, S. 117-138.
TEILSYSTEME DIFFERENZLOGISCH BETRACHTET
Luhmann zufolge, nicht in der Lage, die neuen emergenten Eigenschaften des Ganzen zu erklären. Im Ganzes/Teil-Schema bleibt das »Mehr« eine mystische Figur. In der Denkfigur der Realisierung von Allgemeinem im Besonderen gehen die Eigenschaften des Besonderen emanistisch aus den Eigenschaften des Allgemeinen hervor. Dementsprechend behauptet Sutter, dass »Identitätslogik« als Gegenbegriff zur systemtheoretischen »Differenzlogik« fungiert. Die »identitätslogische Theorieanlage der sozialen Konstitutionstheorie« wird dabei als »regelontologische Grundlegung« verstanden, die aus »ontologisierten konstitutionslogischen Anfangsmomente gesetzt [wird], aus denen alles weitere hervorgeht.«6 Luhmanns Lösung besteht darin, Identität bzw. die Einheit des Ganzen – und bei Luhmann handelt es sich immer um die Identität eines Systems – über die System/Umwelt-Differenz zu erklären. Die Ordnung eines Systems wird als System/Umwelt-Komplexitätsgefälle definiert. Bedingung der Erhaltung einer wie auch immer gearteten Ordnung ist die Reduktion von Komplexität. Funktionalistisch gedeutet wird diese System/Umwelt-Differenz mit der Notwendigkeit der Erhaltung eines Komplexitätsgefälles zwischen dem System und seiner jeweiligen Umwelt verstanden. Analytisch kann zwischen drei basalen Mechanismen der Konstitution bzw. der Produktion und Reproduktion einer System/Umwelt-Grenze unterschieden werden.7 (1) Auf der Ebene der Operationen des Systems wird eine System/Umwelt-Grenze durch die Selektion von bestimmten Möglichkeiten unter Ausschluss aller anderen Möglichkeiten erzeugt bzw. erhalten. Die System/Umwelt-Grenze wird, so gesehen, durch das System selbst konstituiert. Die Elemente eines Systems werden als Operationen, die Operationen als Selektionsweise des Systems definiert. Konstitutiv für die Identität des Systems ist somit nicht die Identität konkreter Elemente oder Relationen zwischen den Elementen, sondern die Operations- bzw. Selektionsweise des Systems. Die für das System spezifische Form der Konstitution einer Differenz zwischen System und Umwelt ist also konstitutiv für die Identität des Systems. So werden Systeme, die mit Sinn
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Vgl. Tilmann Sutter: Systeme und Subjektstrukturen. Zur Konstitutionstheorie des interaktionistischen Konstruktivismus, Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1999, S. 89f. Analytisch können auch andere Mechanismen der Schließung identifiziert werden, wie etwa die Unterscheidung zwischen Selbst- und Fremdreferenz oder die Reflexivität eines Systems. Weil es hier lediglich darum geht, das Problem, das mit »Identitätslogik« bezeichnet wird, und die Lösung, die mit »Differenzlogik« bezeichnet wird, zu erläutern, gehe ich nur auf die basalen Mechanismen der Selbstreferentialität ein. 29
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
operieren, Sinnsysteme, Systeme die mit Kommunikationen operieren, Kommunikationssysteme genannt. (2) Auch auf der Ebene der Operationen eines Systems wird eine System/Umwelt-Grenze über die Selbstreferentialität der Operationsweise des Systems erzeugt und erhalten. Zum einen verweist beispielsweise eine in die Vergangenheit gerichtete Kommunikationsofferte, auf bereits getätigte Kommunikationen, und eine in die Zukunft gerichtete auf einen Raum möglicher weiterer Kommunikationen. So kann Kommunikation immer nur an weitere Kommunikation, Sinn immer nur an weiteren Sinn anschließen. Zum anderen ordnet sich eine Operation durch die Orientierung an dem für das jeweilige (Teil-)System spezifischen Code dem jeweiligen (Teil-)System zu. Ein System kann also nicht jenseits seiner eigenen Grenzen operieren. Dies nennt Luhmann die operative Geschlossenheit von Systemen. Somit entsteht eine für das System spezifische Sequentialität und somit wiederum eine systemspezifische Zeitlichkeit. (3) Ein weiterer Mechanismus der Schließung des Systems, d.h. der Erzeugung und Erhaltung einer System/Umwelt-Grenze ist die Wechselwirkung zwischen den Strukturen und den Operationen eines Systems. Auch hier handelt es sich um eine Form von Selbstreferentialität. Eine Kommunikationsofferte beispielsweise erlangt ihre für ein Kommunikationssystem spezifische Bedeutung erst im Kontext bereits bestehender Bedeutungszusammenhänge. Diese Bedeutungszusammenhänge werden systemtheoretisch als Kommunikationsstrukturen bezeichnet. Die Kommunikationsstrukturen eines Kommunikationssystems werden wiederum durch die Operationen (d.h. die Kommunikationen) des Systems kontinuierlich produziert, reproduziert und transformiert. Gleichzeitig strukturieren die bestehenden Bedeutungszusammenhänge die Anschlussfähigkeit möglicher weiterer Kommunikationen. Somit werden sowohl die Elemente des Systems als auch die Strukturen eines Systems durch das System selbst kontinuierlich produziert und transformiert – und zwar aufgrund einer selbstreferentiellen Wechselwirkung zwischen Operation und Struktur. Die Konstitution einer System/Umwelt-Differenz erscheint, im Rahmen von Luhmanns Systemtheorie, als der Mechanismus der Konstitution und Reproduktion der Identität des Systems. Von zentraler Bedeutung im Zusammenhang dieser Arbeit ist, dass die System/UmweltDifferenz nicht lediglich als Definition der Identität des Systems dient. Vielmehr wird sie als genetische Erklärung der Emergenz von einer auf das Vorhergehende nicht zurückdeduzierbaren Realität sui generis verstanden. In Ablösung von einer Substanzontologie und dem damit verbundenen Teil/Ganzes-Schema sowie der Denkfigur der Realisierung 30
TEILSYSTEME DIFFERENZLOGISCH BETRACHTET
von Allgemeinem im Besonderen wird es nunmehr möglich, die Eigenschaften des Systems als emergente Eigenschaften zu verstehen. Die Identität eines Systems sowie die Strukturen und die Elemente des Systems werden durch das System selbst konstituiert und gehen weder aus den Eigenschaften ontologisch gegebener Elemente noch eines dem System irgendwie vorgelagerten Allgemeinen emanistisch hervor. So gesehen stellt sich für eine Differenzlogik gar nicht erst das identitätstheoretische Problem der Erklärung, wie aus bereits Bestehendem Neues entstehen kann. Das Neue wird als sich in Differenz zu bereits Bestehendem selbst konstituierend beschrieben. Zugleich wird somit ein weiteres Problem »identitätstheoretischer« Theorien gelöst. Neben diesem statischen Problem stellt sich für »Identitätstheorien« das Problem, die Identität des Systems trotz Wandel zu erklären. Wie kann die Identität eines dynamischen Systems, das sich kontinuierlich verändert – und dies sowohl auf der Element- wie auf der Strukturebene – konzeptualisiert werden? Dieses Problem stellt sich in besonderer Weise für soziale Systeme. Anders als Lebewesen haben sie weder eine physikalische Grenze, noch kann das Ende des Fortbestehens mit dem Tod festgelegt werden. Für eine »differenzlogische« Theorie selbstreferentieller Systeme stellt sich diese emergenztheoretische Frage als Frage nach der Möglichkeit von Offenheit für Neues trotz operativer Geschlossenheit. Systeme werden demnach nicht anhand ontologisch gegebener Elemente oder eines Bestandes an Strukturen definiert, sondern als selbstreferentielle Systeme, die sich in rekursiven Prozessen kontinuierlich selbst produzieren. Somit wird Wandel konstitutiv in die Definition der Identität eines Systems eingeschrieben. Analytisch kann zwischen zwei für die Selbstreferentialität des Systems konstitutiven Mechanismen von Wandel unterschieden werden: (1) Über die Verortung beispielsweise eines Kommunikationsereignisses im Kontext der Bedeutungszusammenhänge bereits bestehender Kommunikationsstrukturen erlangt die jeweilige Kommunikation ihre für das System spezifische Bedeutung. Zugleich werden die bestehenden Kommunikationsstrukturen durch Kommunikationsereignisse kontinuierlich reproduziert und transformiert. So beinhaltet die Wechselwirkung zwischen der Struktur- und der Elementebene eines Systems einen kontinuierlichen Prozess der Produktion, Reproduktion und Transformation des Systems durch sich selbst. (2) Die Elemente eines Systems werden als temporalisierte Elemente verstanden, die mit ihrer Entstehung zugleich wieder vergehen. Bei sozialen Systemen beispielsweise wird die Temporalität der Elemente mit der Eigenschaft von Sinn als basal instabile Zwei-Seiten-Form begründet. Die Temporalität der Elemente dynamischer Systeme wird funktio31
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
nalistisch als Zwang zur kontinuierlichen Produktion und Reproduktion der eigenen Elemente gedeutet. In Bezug auf das Soziale besteht, Luhmann zufolge, für Identitätstheorien das spezifische Problem, die Identität des Ganzen auf einzelne Subjekte bzw. auf Handlungen und Intentionen zurückführen zu müssen. »Die Schwierigkeit, die die soziologische Theorie damit hat, die Gesellschaft aus den intentionalen Handlungen und Kommunikationen der Subjekte hervorgehen und gleichwohl eine nicht intentional hergestellte Realität gewinnen zu lassen, sind nicht in der Sache, sondern in der (metaphysischen) Identitätslogik begründet, mit der auch die soziologische Theorie noch operiert. Die nämlich muß in dem, woraus sich etwas bildet, schon angelegt sein lassen, was sich bildet. In den Handlungen der Subjekte liegt aber nicht auch schon die Ordnung der Gesellschaft. Die bildet sich als etwas Neues im Zusammenwirken der Handlungen und Kommunikationen.«8
Die differenzlogische Lösung von Luhmanns Theorie sozialer Systeme besteht darin, die Subjekte in die Umwelt der Gesellschaft zu verbannen und das Soziale als selbstreferentielles, operativ geschlossenes System zu konzeptualisieren. Sinn wird als Operationsweise sozialer (sowie psychischer) Systeme definiert. Über eine differenzlogische Definition von Sinn wird es für Luhmann möglich, Sinn als ein unabhängig von den Intentionen und Handlungen einzelner Subjekte Gegebenes zu konzeptualisieren. Sinn wird nicht als Intention oder Zweck einer Handlung, sondern als Unterschied zwischen aktualisiertem Sinn und einem Horizont anderer Sinnmöglichkeiten definiert. Die Selektion von bestimmtem Sinn unter Ausschluss allen anderen Sinns wird als Operation des Systems verstanden. Somit erscheint Sinn nicht als Resultat der Intentionen handelnder Subjekte, sondern als Eigenleistung des Systems. Zugleich tritt Differenz an die Stelle der Intentionen handelnder Subjekte als generatives Moment der Produktion von Sinn.9 Als basal instabile Zwei-Seiten-Form definiert, verweist Sinn im Moment seiner Entstehung bereits über sich hinaus auf andere Sinnmöglichkeiten. Die Vergänglichkeit von Sinn wird auch hier funktionalistisch als systeminterner Zwang zur Selektion weiteren Sinns gedeutet.10 8
Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung Bd. 6. Die Soziologie und der Mensch, Opladen: Westdeutscher Verlag 1995, S. 292. 9 Vgl. Niklas Luhmann: Die neuzeitliche Wissenschaften und die Phänomenologie, Wien: Picus 1996, S. 31ff. 10 Anzumerken bleibt, dass in Differenz zu den mit Gedanken operierenden psychischen Systemen, die spezifische sinnhafte Operationsweise sozialer Systeme nach Luhmann Kommunikationen sind. Auch hier ist eine differenzlogische Umformulierung des »identitätstheoretischen« Kommunika32
TEILSYSTEME DIFFERENZLOGISCH BETRACHTET
Die systemtheoretische Abgrenzung gegenüber Sozialtheorien, die bei der Erklärung von Gesellschaft an Subjekten ansetzen, spiegelt sich in der Kritik der sozialphänomenologischen Konzepte von Intersubjektivität und Lebenswelt. Diese werden als Versuche verstanden, die Einheit der Gesellschaft aus einer für verschiedene Subjekte gemeinsamen Welt zu erklären. Die emergenten Eigenschaften des Sozialen lassen sich nach Luhmann nicht aus den Eigenschaften der Subjekte erklären. Dementsprechend werden diese Konzepte verworfen als Konzepte, die versuchen, »in eine Theorie, die bei der Subjektivität des Bewußtseins ansetzt, etwas einzuführen, was von dieser Theorie aus nicht gedacht werden kann«.11 Die Metapher des Spiegels bzw. der Reziprozität der Perspektiven scheitert Luhmann zufolge daran, dass die an der Situation beteiligten Subjekte bzw. psychischen Systeme nicht identisch, sondern different sind und different bleiben. »Vor allem müssen wir uns von der traditionellen Behandlungsweise ablösen, die das Problem der doppelten Kontingenz (auch wenn sie es nicht so nannte) mit Begriffen wie ›Wechselwirkung‹, ›Spiegelung‹, ›Reziprozität der Perspektiven‹ […] zu lösen versuchte. Die gesuchte Einheit wurde damit als eine Art symmetrische Verklammerung des verschiedenen gesehen.«12 Um die generative Wirkung der doppelten Kontingenz für die Entstehung des Sozialen als emergente Bedeutungsebene zu verstehen, muss »auf jede substantialisierte Auffassung von Individuen oder Akteuren, die als Träger bestimmter Eigenschaften die Bildung sozialer Systeme ermöglichen«, verzichtet werden.13 Auch hier wird eine »identitätstheoretische« Denkfigur durch die generative Wirkung von Differenz ersetzt. Anstelle der Wechselseitigkeit der Perspektiven tritt die Begegnung zweier »black boxes«, die »getrennt bleiben«, »nicht ver-
tionsbegriffs Bedingung der Einordnung dieses Konzepts in Luhmanns allgemeine Systemtheorie. Kommunikation wird nicht als sinnhafte Interaktion zwischen verschiedenen Subjekten verstanden, sondern als eine systemintern konstituierte Differenz zwischen Mitteilung und Information. Mit der Anschlussoperation »Verstehen« wird zwischen der Mitteilung und der Information der vorherigen Operation unterschieden. Dementsprechend wird Verstehen nicht als die erfolgreiche Rezeption des von einem Subjekt intendierten Sinns definiert, sondern als systeminterne Operation des Anschließens an eine Kommunikationsofferte mit der Unterscheidung zwischen Mitteilung und Information. Vgl. Sybille Krämer: Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001, S.159ff. 11 N. Luhmann: Soziologische Aufklärung Bd. 6, S. 169. 12 N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 153. 13 Ebd., S. 155. 33
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
schmelzen« und einander »nicht besser verstehen als vorher«.14 Das generative Moment des Differenzbegriffs doppelte Kontingenz besteht darin, dass doppelte Kontingenz funktionalistisch als Komplexitätsproblem gedeutet wird, welches die kontinuierliche Reduktion von Komplexität (konkret: Kontingenz) über eine emergente Ordnung erzwingt.15 Anzumerken bleibt, dass auch das Lebensweltkonzept als »identitätstheoretischer« Versuch der Konzeptualisierung der Einheit einer Gesellschaft verstanden wird und dementsprechend analog zum Intersubjektivitätskonzept kritisiert wird. Demnach »[gleitet die] transzendentalphänomenologische These intersubjektiv originär evidenter Gegebenheit […] über und ab in die sozialphänomenologische These eines immer schon unterstellten Konsens«.16 Für diese Übertragung gibt es – es sei denn metaphysisch – Luhmann zufolge keine Begründung. Im Gegenteil: Vor dem Hintergrund der Selbstreferentialität psychischer Systeme kann Lebenswelt nicht als eine einheitliche, für alle Subjekte identische Welt verstanden werden. Vielmehr muss sie als eine subjektiv jeweils anders konstituierte Lebenswelt verstanden werden.17 Zusammengefasst werden diejenigen Konzepte als »identitätslogisch« bezeichnet, die Eigenschaften des Sozialen entweder (1) auf die ontologisch gegebenen Eigenschaften der Elemente oder Strukturen eines Systems zurückführen oder (2) als Realisierung von Allgemeinem im Besonderen verstanden werden. Insofern werden Konzepte als »identitätslogisch« bezeichnet, bei denen, im Sinne eines Stufenmodells, das generative Moment für Veränderungen im System in der Umwelt bzw. in einer der jeweiligen Stufe »vorgelagerten« Stufe verortet werden. Als »differenzlogisch« werden Konzepte bezeichnet, in denen »Differenz« dazu dient, (1) die Eigenschaften eines Systems als emergente Eigenschaften sowie (2) die Eigendynamik des Systems zu verstehen. Hierbei wird Differenz sowohl als System/Umwelt-Differenz als auch als Differenz auf der Ebene von Operationen (bei sinnhaft operierenden
14 Ebd., S. 156f. 15 Mit dieser Kritik verfehlt Luhmann das Intersubjektivitätskonzept von Schütz. Für Schütz ist die unüberwindbare Transzendenz der interagierenden Subjekte genauso Bedingung der Emergenz von Sprache und von einem gemeinsamen Dritten, wie die Differenz zweier psychischer Systeme Bedingung für die Emergenz des Sozialen bei Luhmann ist. Dies braucht hier aber nicht zu interessieren. Luhmanns Kritik ist in diesem Kontext allein als Hinweis auf die Bedeutung, welche der Begriff »identitätstheoretisch« im Rahmen seiner Theorie einnimmt, von Relevanz. 16 Niklas Luhmann: »Die Lebenswelt – nach Rücksprache mit den Phänomenologen«, in: Archiv für Rechts- und Sozialphiolosophie Bd. 72 1986, S. 176-194, hier S. 179. 17 Vgl. ebd., S. 176; N. Luhmann: Soziologische Aufklärung Bd. 6, S. 170. 34
TEILSYSTEME DIFFERENZLOGISCH BETRACHTET
Systemen beispielsweise als Unterscheidung zwischen aktualisiertem und negiertem Sinn) definiert.
2. Selbstreferentialität und strukturelle Kopplung Um die Frage nach der Übertragbarkeit von Luhmanns differenzlogischer Lösung des Emergenzproblems auf soziale Sinnkonstitutionsprozesse für eine empirische Untersuchung zu öffnen, wurde diese Arbeit auf folgende Fragestellung fokussiert: Inwiefern können soziale Sinnkonstitutionsprozesse, in denen unterschiedliche gesellschaftliche Teilsysteme aufeinandertreffen, differenzlogisch verstanden werden? Dass eine empirische Operationalisierung dieser Fragestellung möglich ist, basiert auf der für Luhmanns Theorie spezifischen konstruktivistischen Perspektive: die des konstruktivistischen Realismus. Diese Perspektive versteht Luhmann nicht als analytische Perspektive. Vielmehr beansprucht er mit seiner Theorie sozialer Systeme, eine Theorie zu entwickeln, welche es erlaubt, die reale Operationsweise sozialer Systeme zu verstehen.18 Ausgehend von dieser konstruktivistischen Position lässt sich folgender Imperativ formulieren: Sofern es Grenzen zwischen gesellschaftlichen Teilsystemen gibt, müssen diese operativ wirksam sein. Sofern die Grenzen zwischen gesellschaftlichen Teilsystemen operativ wirksam sind, muss diese Wirksamkeit empirisch erkennbar sein. Nun stellt sich allerdings die Frage, wie sich solche Grenzen der empirischen Beobachtung bemerkbar machen. Ziel des ersten Teils dieses Kapitels ist es dementsprechend, Luhmanns differenzlogische Konzeptualisierung gesellschaftlicher Teilsysteme als selbstreferentielle, operativ geschlossene Systeme soweit zu rekonstruieren, wie für eine empirische Operationalisierung der Fragestellung notwendig. Es gilt, mit anderen Worten, Luhmanns Konzept der Selbstreferentialität gesellschaftlicher Teilsysteme dahingehend zu präzisieren, dass Erwartungen an das Material formuliert werden können. Wie müsste sich die Selbstreferentialität und operative Geschlossenheit gesellschaftlicher Teilsysteme auf Kommunikationsprozesse, in denen mehrere Teilsysteme »aufeinandertreffen«, auswirken? Die Selbstreferentialität gesellschaftlicher Teilsysteme beruht auf der Stabilisierung teilsystemspezifischer Codes, Medien und Programme. Im ersten Teil des Kapitels werden diese drei Konzepte be18 Auf der Ebene von Theorien ist deren Fähigkeit, ein Phänomen zu erklären, gleichzusetzen mit der Fähigkeit einer Theorie, das Phänomen zu verstehen. Insofern sind in diesem Zusammenhang »verstehen« und »erklären« gleichbedeutend. 35
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
schrieben, um dann empirisch überprüfbare Erwartungen an das Material zu formulieren. Ausgehend von Luhmanns Konzept gesellschaftlicher Teilsysteme ist zu erwarten, dass die Selbstreferentialität der Teilsysteme als Grenze der Anschlussfähigkeit operativ wirksam ist. Nun existieren Systeme, wie Luhmann nicht müde wird zu betonen, trotz Selbstreferentialität und operativer Geschlossenheit nicht in einem Vakuum, sondern in einer systemspezifischen Umwelt. Oder genauer: System/Umwelt-Wechselwirkung ist Bedingung der Produktion und Reproduktion einer System/Umwelt-Grenze und somit der Selbstreferentialität eines Systems. So stellt sich die Frage, wie System/UmweltWechselwirkung trotz Selbstreferentialität und operativer Geschlossenheit möglich ist. Um diese Frage zu beantworten, ist es notwendig sich mit seinem Kopplungskonzept auseinander zusetzen. Ein spezifisches Merkmal der Kopplung gesellschaftlicher Teilsysteme gegenüber andere Formen der System/Umwelt-Wechselwirkung ist, Luhmann zufolge, dass Systeme einander strukturierte Komplexität für den Aufbau eigener Komplexität zur Verfügung stellen. So wird zu fragen sein, welche Formen von Zur-Verfügung-Stellen fremder Komplexität mit der Konzeptualisierung von gesellschaftlichen Teilsystemen als selbstreferentielle, operativ geschlossene Systeme kompatibel ist. Für die Beantwortung dieser Frage besteht allerdings die Problematik, dass das Kopplungskonzept nicht sonderlich ausführlich ausgearbeitet ist. Ferner finden sich in Luhmanns Schriften verschiedene, teilweise einander widersprechende Konzeptualisierungen. Ziel des zweiten Teils dieses Kapitels ist es, eine mit einem differenzlogischen Verständnis der Selbstreferentialität gesellschaftlicher Teilsysteme kompatible Lesart von Luhmanns Kopplungskonzept zu entwickeln. Die These, die hier begründet wird, ist, dass lediglich eine Konzeptualisierung von struktureller Kopplung als analoges Differenzschemata mit der Differenzlogik von Luhmanns Systemtheorie kompatibel ist – und dies nur sofern eine Unterscheidung zwischen Ereignis und Element eingeführt wird. Empirische Konsequenz ist, das auch wenn systemintern an fremde Kommunikationsofferten angeschlossen wird, die Orientierung an dem für das Teilsystem spezifischen Code in ihrer Strukturwirksamkeit in einer von zwei Hinsichten empirisch beobachtbar sein muss: Differenz muss entweder im Sinne einer Unterordnung fremder Komplexität unter teilsystemspezifische Relevanz- und Gültigkeitskriterien oder im Sinne eines Ersetzens fremder durch teilsystemspezifische Relevanz- und Gültigkeitskriterien erscheinen. Oder anders formuliert: Differenz muss entweder im Sinne eines hierarchischen Unterordnungsverhältnisses oder im Sinne einer zeitlichen Sequenzierung im Nacheinander beobachtbar sein. 36
TEILSYSTEME DIFFERENZLOGISCH BETRACHTET
Codes, Programme, Medien Gesellschaftliche Teilsysteme werden (wie der Begriff Teilsystem bereits zeigt) als selbstreferentielle, operativ geschlossene Systeme verstanden. Mit steigender Komplexität findet eine systeminterne Anwendung (re-entry) der Unterscheidung zwischen System und Umwelt statt, die zur Ausdifferenzierung des jeweiligen sozialen Systems in Teilsysteme führt. Voraussetzung der Entstehung und Reproduktion gesellschaftsinterner Selbstreferentialitäten ist die Stabilisierung teilsystemspezifischer Codes, Programme und Medien. Die Begriffe Code, Programm und Medium basieren auf Konzepten, die bereits für die Erklärung der Entstehung einer System/Umwelt-Differenz, oder genauer: der Differenz zwischen sozialem und psychischem System entwickelt wurden.19 Dies ist weder dem Zufall noch einem Mangel an Innovationsfähigkeit zuzuschreiben, sondern Resultat der Theoriearchitektonik von Luhmanns allgemeiner Systemtheorie. Die Begriffsbildung erfolgt aus der funktionalistischen Analyseperspektive. Ziel dieser Perspektive ist weder die Identifikation von kausalen Zusammenhängen noch die Bestimmung der Funktion konkreter Strukturen. Vielmehr dient diese Perspektive zur Formulierung von Vergleichbarkeit ermöglichenden funktionalen Äquivalenten. So geht Luhmann bei der Entwicklung theoretischer Begriffe auf folgender weise vor: Die Universalisierung des jeweiligen Begriffs oder Konzepts: Das Konzept bzw. der Begriff wird von seinem wissenschaftshistorischen Bezug entkoppelt und funktional als Lösung eines universellen Problems auf der abstraktesten Ebene der Reduktion von Komplexität gedeutet. Die Respezifizierung des jeweiligen Begriffs oder Konzepts: Das Konzept bzw. der Begriff wird nach spezifischen Mechanismen der Lösung des Komplexitätsproblems bzw. nach Mechanismen der Lösung spezifischer Komplexitätsprobleme differenziert. Diese Vorgehensweise ermöglicht Vergleichbarkeit in zweierlei Hinsicht: (1) Durch den Universalisierungsschritt kann der jeweilige Mechanismus als Mechanismus beobachtet werden, der die gleiche Funktion für mehrere Systeme erfüllt. (2) Durch Respezifizierung wird der jeweilige Mechanismus als spezifischer Mechanismus der Problem19 Der Begriff Programm wird zwar nur im Zusammenhang mit den Selbstreferentialitäten sozialer Teilsysteme verwendet, bezeichnet aber eine teilsystemspezifische Form der Konditionierung von Kommunikationsofferten über Erwartungsstrukturen. Insofern ist der Begriff Programm in gewisser Weise analog zum Strukturbegriff auf der Ebene des Gesamtsystems, zu verstehen. 37
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
lösung bzw. der Lösung eines spezifischen Problems von anderen unterschieden. Alle gesellschaftlichen Phänomene werden auf der abstraktesten Ebene im Sinne der funktionalen Äquivalenz als Mechanismen der Lösung des Grundproblems eines jeden Systems gesehen: der Reduktion von Komplexität. Somit wird eine Art universelle Vergleichbarkeit ermöglicht. Zugleich wird eine immer feingliedrigere Unterscheidung und Differenzierung zwischen diesen Lösungsmechanismen möglich.20 Zum anderen wird Ausdifferenzierung als systeminterne Anwendung einer bereits bestehenden System/Umwelt-Unterscheidung konzeptualisiert. So erscheinen die Mechanismen der Ausdifferenzierung selbstreferentieller Teilsysteme als interne, spezifizierte (und das heißt: differenzierte) Wiederholungen der Mechanismen der System/UmweltDifferenzierung. Im Folgenden wird die grundlegende Bedeutung dieser Konzepte zusammengefasst und deren Respezifizierung für die Beschreibung systeminterner Differenzierung skizziert, um dann die sich daraus ergebenden Erwartungen an das Material zu formulieren.
Ja/Nein-Codierung der Sprache Auf der Ebene der System/Umwelt-Differenzierung sozialer Systeme begegnen wir der Figur des binären Codes als Ja/Nein-Codierung der Sprache. Diese differenzlogische Strukturierung der Sprache erscheint als Bedingung der Entstehung von Selbstreferentialität bzw. der Ausdifferenzierung eines Kommunikationssystems. »[D]ie Selbstreferenz sozialer Systeme [hat] zur Voraussetzung eine immanente Dualität, damit ein Zirkel entstehen kann, dessen Unterbrechung dann Strukturen entstehen läßt.«21 Analytisch lassen sich Luhmanns Schriften zwei Beschreibungen der Selbstreferentialität und somit Differenz erzeugenden Wirkung der Strukturierung von Kommunikation entlang der Ja/NeinCodierung von Sprache entnehmen: 1. die Erzeugung eines systeminternen Verweisungszusammenhangs als Horizont negierter bzw. potentialisierter Sinnmöglichkeiten und 2. die Erzeugung einer zirkulären Selbstreferentialität auf der operativen Ebene – und zwar indem die positive Seite des je aktualisierten Sinns immer auf die negative Seite, die negative Seite wiederum immer auf die positive zurückverweist.
20 Vgl. N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 15ff. 21 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 333. 38
TEILSYSTEME DIFFERENZLOGISCH BETRACHTET
Zu (1): Durch die Ja/Nein-Codierung der Sprache impliziert die Aktualisierung eines bestimmten Sinns als positive Selektion die Negation anderen Sinns. Indem der negierte Sinn nicht vernichtet wird, sondern als Horizont anderer, bis auf Weiteres ausgeschlossener Sinnmöglichkeiten mitgeführt wird, findet somit eine Doppelung allen Sinns statt. »Damit schafft das System sich zusätzlich eine Negativfassung allen Sinnes, für die es in der Umwelt keine Entsprechung gibt, über die also nur im Wege der Selbstbeschreibung des Systems verfügt werden kann.«22 Diese Doppelung erzeugt Luhmann zufolge die selbstreferentielle Geschlossenheit der Bedeutungszusammenhänge sozialer Systeme: Zum einen wird durch die binäre bzw. differenzlogische Struktur der Sprache eine Gleichzeitigkeit von aktualisiertem Sinn und negiertem Sinn erzeugt. Die jeweils aktualisierte Sinnmöglichkeit weist über sich hinaus auf andere negierte bzw. potentialisierte Sinnmöglichkeiten, die aber ihrerseits auch systeminterne Sinnmöglichkeiten sind. Somit wird Sinn selbstreferentiell. Die Ja/Nein-Codierung von Sprache erzeugt Selbstreferentialität, indem sie eine systeminterne Welt negierten bzw. potentialisierten Sinns produziert, auf die der jeweils aktuell bezeichnete Sinn als Horizont anderer Sinnmöglichkeiten verweist. Zum anderen wird mit dieser Doppelung Sinn reflexiv und somit wiederum kontingent. Indem Sinn immer über sich hinaus auf einen Horizont negierten bzw. potentialisierten Sinns verweist, verweist sie wiederum auf sich selbst zurück als eine Möglichkeit unter anderen. Als Resultat wird der jeweils aktualisierte Sinn systemintern als kontingent wahrgenommen. Die Doppelung der Sinnmöglichkeiten erzeugt also einen systeminternen Kontingenzraum. Der so erzeugte Kontingenzraum macht wiederum die Stabilisierung von systeminternen Strukturen möglich bzw. notwendig. Durch das Kontingentwerden allen Sinns wird das System von einer Determination durch die Umwelt entkoppelt und erlangt somit einen Autonomieraum, in dem die Annahme und Ablehnung von Kommunikation gleich wahrscheinlich oder genauer: gleich unwahrscheinlich ist. In diesem Kontext können sich systeminterne Erwartungsstrukturen stabilisieren, welche die systemintern erzeugte Komplexität in Form von Kontingenz reduzieren. Systeminterne Erwartungsstrukturen konditionieren Kommunikationsofferten über Kriterien der Annahme bzw. Ablehnung von Sinn.23 22 N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 602. 23 Anzumerken bleibt, dass die Ja/Nein-Codierung der Sprache wiederum die Stabilisierung von Identitäten voraussetzt, denn nur Bestimmtes kann negiert oder bejaht werden. Vgl. N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 222. Diese Identitäten basieren wiederum auf einer anderen Differenz: der zwischen »realer« Realität und semiotischer Realität. Vgl. ebd., S. 218. 39
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
Zu (2): Die Ja/Nein-Codierung der Sprache erzeugt die Selbstreferentialität des Sozialen, indem die jeweils aktualisierte Seite des Codes immer zugleich auf die andere Seite zurückverweist. Die positive Bezeichnung von etwas (z.B. »Tisch«) verweist immer auf die negative Seite des Bezeichneten (z.B. »Nicht-Tisch«). Selektion wird hier als das Äquivalent zur Negation der Negation gedeutet.24 Selbstreferentialität ist dann gegeben im Sinne eines zirkulären Verweisungszusammenhangs zwischen dem jeweils gegebenen Sinn und der Negation eben dieses Sinns. Auch hier ist Identität ebenso Voraussetzung wie Resultat der Ja/Nein-Codierung. Die Annahme oder Ablehnung bestimmten Sinns ist nur möglich, sofern der Sinn bei der Oszillation zwischen der positiven und der negativen Seite des Codes erhalten bleibt. Mit anderen Worten: Der bezeichnete Sinn muss gleich bleiben, unabhängig davon, ob er bejaht oder negiert wird. Auch bei dieser Auffassung der Selbstreferentialität erzeugenden Wirkung der Ja/Nein-Codierung führt die binäre Codierung von Kommunikation zur Entwicklung von systeminternen Strukturen. Hier geht es allerdings nicht um die Schließung eines intern erzeugten Kontingenzraums, sondern um die Unterbrechung eines tautologischen Zirkels. Durch diese Selbstreferentialität auf der operativen Ebene des Bezeichnens werden Tautologien erzeugt, die, soll das System weiter operieren, unterbrochen werden müssen. Das System wird sensibel für Tautologieunterbrechungen, die sich dann stabilisieren können und zu einer Asymmetrisierung der zwei Seiten der Ja/Nein-Codierung führen. Erwartungsstrukturen, die Präferenzwerte oder Kriterien zur Entscheidung für die eine oder andere Seite des Codes angeben, werden gebildet. In dieser Implikation stimmt die Beschreibung der Ja/Nein-Codierung von Sprache als jeden aktualisierten Sinn begleitender Horizont negierter Sinnmöglichkeiten mit der Beschreibung der Ja/Nein-Codierung als tautologische Oszillation zwischen der positiven und negativen Seite einer Bezeichnung überein. In beiden Fällen führt Selbstreferentialität zu einer Unterbrechung eben dieser Selbstreferentialität und somit zu der Entstehung systeminterner Strukturen. Die asymmetrisierende Konditionierung der Entscheidung für die eine oder andere Seite der Ja/NeinCodierung, der wir unter Punkt 1) als Schließung eines selbsterzeugten Kontingenzraums begegnet sind, erscheint hier als Entfaltung der Tautologie der Ja/Nein-Codierung.
24 Vgl. ebd., S. 224. 40
TEILSYSTEME DIFFERENZLOGISCH BETRACHTET
Teilsystemspezifische Codes Auch bei gesellschaftlichen Teilsystemen ist die Stabilisierung von Codes Bedingung von Schließung. Und auch hier sind die (Teil-)Systeme konfrontiert mit der Problematik, die so erzeugte Kontingenz zu strukturieren bzw. die so erzeugte Tautologie durch Präferenzwerte für die eine oder andere Seite des Codes zu unterbrechen. Die Stabilisierung teilsystemspezifischer Codes erscheint als Wiederholung des Grundmechanismus der Schließung in einer für das jeweilige Teilsystem spezifischen Form. Durch die Entwicklung von Verbreitungsmedien (Schrift, Buchdruck usw.) wird das Kommunikationssystem mit erhöhten Komplexitätsproblemen konfrontiert. Die Annahme von Kommunikationsofferten wird unwahrscheinlicher. Das System antwortet auf diese selbsterzeugte Komplexitätsproblematik mit einer Spezifizierung der Annahme- und Ablehnungsmöglichkeiten, d.h. mit einer Spezifizierung der Ja/NeinCodierung der Sprache. Neben der Ja/Nein-Codierung, die alle sprachliche Kommunikation strukturierend durchzieht, stabilisieren sich nunmehr unter anderem die Differenzierungen wahr/unwahr, zahlen/nichtzahlen usw. zu binären Codes, die innerhalb spezifischer sozialer Kontexte alle Kommunikationen strukturieren.25 Wie bei der Ja/Nein-Codierung der Sprache erzeugen die Codes der gesellschaftlichen Teilsysteme eine Duplikation aller Sinnmöglichkeiten. Durch teilsystemspezifische Codes werden die diffusen Annahme- und Ablehnungsmöglichkeiten binär strukturiert. Oder genauer: Durch teilsystemspezifische Codes werden Kommunikationsprozesse – zusätzlich zu der binären Strukturierung von Annahme und Ablehnung durch die Ja/Nein-Codierung der Sprache – einer weiteren teilsystemspezifischen binären Strukturierung unterzogen. Die Reduktion von Komplexität über teilsystemspezifische Codes fungiert wiederum als Mechanismus der Stabilisierung von teilsysteminternen, selbstreferentiellen Verweisungszusammenhängen. Wie bei der Ja/Nein-Codierung der Sprache ist die Stabilisierung der Identität von teilsystemspezifischen Codes als Zwei-Seiten-Form sowohl die Bedingung als auch das Resultat der Ausdifferenzierung von Teilsystemen.26 Die eine Seite der Unterscheidung muss beim Kreuzen zur anderen Seite identisch bleiben. Nur so ist es möglich, von einer Seite zur anderen Seite zurückzukehren. Im Unterschied zu der Ja/NeinCodierung der Sprache handelt es sich allerdings bei teilsystemspezifischen Codes um Unterscheidungen, die von bereits bestehenden Bedeu25 Neben der internen Ausdifferenzierung in Funktionssysteme entsteht mit zunehmender Komplexität eine Ausdifferenzierung von Interaktionssystemen und Organisationen innerhalb des Gesellschaftssystems. 26 Vgl. N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 364f. 41
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
tungszusammenhängen ausdifferenziert werden müssen. Bei teilsystemspezifischen Codierungen müssen die Identitätswerte beider Seiten des Codes also von dem Verweis auf andere Identitäten bzw. Unterscheidungen entkoppelt bzw. gelöst oder differenziert werden. Nur so kann sich die Unterscheidung stabilisieren. Nur so erfolgt das Kreuzen von »wahr« zu »unwahr« und nicht von »wahr« zu beispielsweise »schlecht«. Und nur so wird die Entstehung eines internen, selbstreferentiellen von anderen Zusammenhängen entkoppelten Verweisungshorizonts möglich. Mit anderen Worten: Es muss etwas als wahr bezeichnet werden können unabhängig von moralischen, wirtschaftlichen oder politischen Kriterien. Allein unter dieser Bedingung ist es möglich, etwas als wahr und in einer anschließenden Operation etwas anderes als unwahr zu bezeichnen, ohne dass die Bedeutung der Unterscheidung zwischen wahr/unwahr verändert wird.27 Empirische Konsequenz: Empirische Konsequenz dieser Konzeptualisierung der Schließung bzw. Selbstreferentialität gesellschaftlicher Teilsysteme ist zum einen, dass ein System nicht jenseits seiner Grenzen operieren kann. Über die Orientierung an einer spezifischen Unterscheidung ordnen sich Kommunikationen ihrem jeweiligen Funktionssystem zu. Dementsprechend ist auch die Orientierung einer Kommunikation beispielsweise an der Unterscheidung wahr/unwahr empirisches Kriterium der Definition einer Kommunikation als Kommunikation des Wissenschaftssystems – und nicht beispielsweise, ob die Kommunikation in der Universität, in der Kneipe oder im Bioethikrat stattfindet. Jede an der Unterscheidung wahr/unwahr orientierte Kommunikation produziert, reproduziert und transformiert die Bedeutungsstrukturen des Wissenschaftssystems. Damit einhergehend wird mit jeder an der Unterscheidung zwischen wahr/unwahr orientierten Kommunikation die Selbstreferentialität bedingende Grenze zwischen dem Wissenschaftssystem und ihrer Umwelt produziert und reproduziert. Als Resultat ist ein Operieren eines Systems jenseits seiner Grenzen nicht möglich. Immer wenn eine Kommunikation sich an der Unterscheidung wahr/unwahr orientiert, reproduziert sie das Wissenschaftssystem und ist somit Teil desselben. Empirische Konsequenz ist zum anderen, dass die Grenze zwischen einem System und seiner gesellschaftlichen Umwelt auf operativer Ebene als Grenze der Anschlussfähigkeit zu beobachten sein müsste – und zwar als Grenze der Anschlussfähigkeit zwischen an systemspezifischen und an systemfremden Codes orientierten Kommunikationsofferten. Bedingung einer teilsystemspezifischen Selbstreferentialität ist die Stabilisierung eines teilsystemspezifischen Codes. Somit wird das Kreuzen von 27 Vgl. ebd., S. 361. 42
TEILSYSTEME DIFFERENZLOGISCH BETRACHTET
einer Seite des Codes zum anderen erleichtert. Kehrseite dieser Stabilisierung und der damit einhergehenden Selbstreferentialität ist, dass das Kreuzen von einer Seite des teilsystemspezifischen Codes zu einer anderen Seite eines anderen Codes nunmehr nicht möglich ist. Nur so kann, wie bereits gesagt, die Unterscheidung wahr/unwahr sich stabilisieren und beispielsweise von der Erwartung, dass das Wahre immer auch gut sein muss, entkoppeln. »Die Systemgrenzen der innergesellschaftlichen Funktionssysteme gewinnen ihre Distinktheit dadurch, daß als Kommunikation im System nur dasjenige gilt, was sich auf einen von zwei Codewerten beziehen läßt. Kommunikationen ohne einen solchen Codebezug gehören in der Perspektive des Funktionssystems zur innergesellschaftlichen Umwelt.«28
Medien Die Stabilisierung von teilsystemspezifischen Codes ist lediglich eine Bedingung der operativen Schließung gesellschaftlicher Teilsysteme. Die Ausdifferenzierung selbstreferentieller Teilsysteme ist ein voraussetzungsvoller und historisch kontingenter Prozess, der neben Stabilisierung von teilsystemspezifischen Codierungen und Programmen die Entwicklung von teilsystemspezifischen Medien zur Bedingung hat. Medien fungieren als Substrat, aus denen die für das System spezifischen Operationen ihr Material speisen. Innerhalb der Sprache, welche das allgemeine oder grundlegende Medium des sozialen Systems ist, bilden sich teilsystemspezifische Medien: Wahrheit, Macht, Geld usw. Durch die mit den neuen Verbreitungsmedien einhergehende Zunahme an Kommunikation und Information wird das System instabiler und somit offener für Zufälle. Zugleich wird es aber auch offener für die Stabilisierung von Komplexität reduzierenden Strukturen. Durch die wiederholte Annahme eines Sinnvorschlags entsteht »eine positive Semantik des akzeptierten Sinnes«.29 Diese Semantiken entstehen lokal und kontextabhängig und bilden so um unterschiedliche gesellschaftliche Kontexte bzw. Problemkonstellationen spezifizierte Konditionierungen von Annahme- und Ablehnungswahrscheinlichkeiten. Bei einer ausreichenden Wiederholung und Abstraktion können sie sich zu symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien verdichten. Bedingung einer solchen Verdichtung ist die Konvergenz von Bezugsproblemen und Zurechnungskonstellationen. Ferner ist die Stabilisierung eines für den gesamten Medienbereich einheitlichen Codes notwendig. Zum einen wird 28 André Kieserling: Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssyteme, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999, S. 79. 29 N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 317. 43
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
durch die Schließung des Referenzzusammenhangs durch einen Code die Einheit eines Mediums definiert. Zum anderen wird mit der Doppelung der Sinnzusammenhänge durch einen Code ein Überschuss an Sinnmöglichkeiten erzeugt, der dann als mediales Substrat des Teilsystems fungiert. Kommunikationsmedien fungieren als ein lose gekoppeltes mediales Substrat, das durch die für das Medium spezifischen Erwartungsstrukturen (z.B. für das Medium Wahrheit: Theorien, für das Medium Recht: Gesetze) strikt gekoppelt werden kann. Auch in dieser Hinsicht erscheint systeminterne Differenzierung formgleich mit der System/Umwelt-Differenzierung. Wie mit den Wörtern einer Sprache, die in Sätze fest gekoppelt werden, ohne verbraucht zu werden, werden aus dem medialen Substrat symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien temporale Formen gebildet, die weiterhin als Medium zur Verfügung stehen. Die Bezeichnung dieser Medien als generalisiert besagt, dass sie für mehr als eine Situation zutreffen. Die Bezeichnung als symbolisch besagt, dass »diese Medien eine Differenz überbrücken und Kommunikation mit Annahmechancen ausstatten«.30 Die Erhöhung der Annahmechancen erfolgt durch eine unwahrscheinliche Kopplung von Selektion und Motivation, d.h. durch Konditionierung. Weil Codes als Unterscheidungen eine Grenze erzeugen, sind codierte Medien temporalisierte Medien, die mit jeder Neuverortung auf der einen oder anderen Seite des Codes erneut in Formen strikt gekoppelt werden.31 Empirische Konsequenz: Die Stabilisierung teilsystemspezifischer Medien ist zwar ebenso Bedingung der Schließung bzw. Selbstreferentialität eines Teilsystems wie die Stabilisierung eines teilsystemspezifischen Codes. Medien können aber nicht beobachtet werden. Als lose gekoppelte Elemente bzw. als mediales Substrat bilden sie einen strukturierten Möglichkeitshorizont. Ein System kann aber nur in der temporal strikt gekoppelten Form von Operationen und der sich daraus ergebenden Prozessen beobachtet werden. Nur über Kommunikation und Kommunikationsprozesse sind gesellschaftliche Teilsysteme dem Beobachter zugänglich. Die Zugehörigkeit konkreter Kommunikationen bzw. Kommunikationsprozesse zu einem Teilsystem ist wiederum über die Orientierung der Kommunikationen an teilsystemspezifischen Codes zu erkennen. Insofern ist für eine empirische Operationalisierung der Fragestellung das Konzept von teilsystemspezifischen Medien nicht relevant.
30 Ebd., S. 319. 31 Vgl. ebd., S. 374. 44
TEILSYSTEME DIFFERENZLOGISCH BETRACHTET
Programme Mit der Reduktion von Komplexität über teilsystemspezifische Codierungen wird ein teilsysteminterner Freiraum bzw. Kontingenz erzeugt, die teilsysteminterne Strukturbildung möglich bzw. notwendig macht. »In dem Maße, in dem der Übergang zum anderen Wert erleichtert wird, entsteht Kontextfreiheit der Operation und damit zu viel Spielraum, der dann wieder eingeschränkt werden muß.«32 Auch hier begegnen wir wieder einer uns von der Ja/Nein-Codierung der Sprache bereits bekannten Figur. Differenzierung funktioniert als ein Mechanismus der Komplexitätsreduktion, der aber zugleich eine systeminterne Komplexität erzeugt.33 Diese selbsterzeugte Komplexitätsproblematik wird wiederum durch interne Strukturbildung gelöst. Auch hier ist die Reduktion von systemintern erzeugter Komplexität durch die Stabilisierung von Kriterien für die richtige Zuordnung von Kommunikationen zu der positiven wie der negativen Seite des Codes notwendig. Die Bedingungen des Kreuzens von einer Seite des Codes zur anderen müssen, anders gesagt, spezifiziert werden. Die resultierenden Erwartungsstrukturen nennt Luhmann Programme.34 Programme sind für das jeweilige Teilsystem spezifische Semantiken, die Anschlussmöglichkeiten strukturieren. »Sie müssen […] garantieren können, daß beide Werte im System benutzbar sind – daß man also nicht nur Recht, sondern auch Unrecht erhalten kann und daß es im Prozeß der Spezifikation von Annahmezumutungen zu einem ständigen Kreuzen zwischen den Codewerten kommt.«35 Im Unterschied zu Codes, die auf Konstanz angewiesen sind, sind Programme variabel, d.h. sie können sich verändern oder auch dem Vergessen anheim fallen. Programme als Strukturen der Konditionierung des Kreuzens von einer Seite zur anderen Seite eines Codes, d.h. beispielsweise des Unterscheidens zwischen wahr/unwahr oder zahlen/ nicht-zahlen können immer nur teilsystemspezifisch sein. »Codierung sichert die Ausdifferenzierung und Spezifikation eines Mediums im Unterschied zu anderen, und Programmierung kann deshalb nur codespezifisch erfolgen.«36 Es gibt in Folge der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Funktionssysteme demnach keine Programme, die beispielsweise das Unterscheiden zwischen wahr/nicht-zahlen, wahr/hässlich oder wahr/schlecht konditionieren. Solche Programme würden die Selbstrefe32 Ebd., S. 362. 33 Hier handelt es sich um Kontingenzreduktion. Kontingenz ist allerdings eine für Sinnsysteme spezifische Form der Komplexität. 34 Vgl. N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 377f. und S. 750. 35 Ebd., S. 376. 36 Ebd., S. 377. 45
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
rentialität der jeweiligen Teilsysteme aufheben. Im Gegensatz zu Codes aber können Programme sich verändern und durch die Umwelt irritiert werden. Dementsprechend können auch Unterscheidungen, im Zuge der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme durch die Selbstreferentialität von Codes ausgeschlossen werden, wieder eingeführt werden. Dies allerdings nur, sofern sie der teilsystemspezifischen Komplexität untergeordnet sind. Das Wirtschaftssystem kann sich beispielsweise an der Unterscheidung schön/hässlich ebenso wie an die Unterscheidung wahr/unwahr orientieren. In beiden Fällen wird aber die Unterscheidung im Kontext des für das Wirtschaftssystem spezifischen Codes zahlen/nicht-zahlen wahrgenommen. Sind die Unterscheidungen der Wissenschaft oder der Kunst nicht von Relevanz für die Unterscheidung zahlen/nicht-zahlen existieren sie für das Wirtschaftssystem nicht.37 Empirische Konsequenz: Im Gegensatz zu Medien sind Programme durchaus Momente der Autopoiesis eines Teilsystems, die der empirischen Beobachtung zugänglich sind. Des Weiteren können gesellschaftliche Teilsysteme auf der Ebene von Programmen sich an systemfremde Codes orientieren. Dennoch ist zu erwarten, dass auch in den Programmen eines Teilsystems die differenzlogisch postulierte Selbstreferentialität bzw. System/Umwelt-Grenze operativ wirksam ist – und dies in zweierlei Hinsicht. Zum einen sind Programme immer Programme eines Teilsystems. Insofern kann es keine Programme geben, welche die Kommunikationsprozesse von mehreren gesellschaftlichen Teilsystemen zugleich konditionieren. Die empirische Konsequenz ist, dass Programme sich (ebenso wie einzelne Kommunikationen) selbst ihrem jeweiligen Teilsystem zuordnen – und zwar über die Orientierung an dem teilsystemspezifischen Code. Aus der Beobachterperspektive können sie über diese Orientierung als Programme des jeweiligen Teilsystems definiert werden. Kriterien der Relevanz- und Gültigkeit von Methoden und Theorien sind beispielsweise immer nur im Kontext einer Orientierung an der Unterscheidung zwischen wahr/unwahr wissenschaftliche Kriterien. Zum anderen muss die Orientierung eines Programms an einem teilsystemspezifischen Code immer operativ wirksam und insofern empirisch beobachtbar sein. Obwohl sich Programme an den Codes mehrerer Teilsysteme orientieren können, muss der Unterschied zwischen der Primär- und Sekundärorientierung der Programme in ihrer operativen Wirksamkeit erkennbar sein. Die Bedeutung der Unterscheidung zwischen schön/hässlich muss z.B. in einem Programm des Wirtschaftssystems der Orientierung an der Unterscheidung zahlen/nicht-zahlen untergeordnet werden. Die Grenzen gesellschaftlicher Teilsysteme müssen, 37 Vgl. ebd., S. 377f. 46
TEILSYSTEME DIFFERENZLOGISCH BETRACHTET
mit anderen Worten, auf der Ebene von Programmen im Sinne einer Primärorientierung am Code eines Teilsystems empirisch erkennbar sein.
Strukturelle Kopplung: Identität der Elemente oder analoge Differenzschemata? Das Konzept der Selbstreferentialität von Sinnsystemen schließt keineswegs die Möglichkeit einer System/Umwelt-Wechselwirkung aus. Vielmehr setzt es diese geradezu als Bedingung der Erhaltung und Reproduktion der Selbstreferentialität voraus. Operativ geschlossene Systeme sind auf Irritationen der Umwelt angewiesen, so Luhmann, um den tautologischen Zirkel eines selbstreferentiellen Verweisungszusammenhangs zu unterbrechen und die Produktion neuen Sinns zu ermöglichen. Dementsprechend ist die Kehrseite der Frage danach, ob die empirisch beobachteten Prozesse des »Aufeinandertreffens« gesellschaftlicher Teilsysteme mit Luhmanns differenzlogischer Konzeptualisierung ihrer Selbstreferentialität kompatibel sind, folgende: Inwiefern ist dieses »Aufeinandertreffen« mit dem Konzept einer Wechselwirkung zwischen gesellschaftlichen Teilsystemen kompatibel? Die Antwort lautet: nur sofern die Teilsysteme durch die Umwelt in einer Form irritiert werden, welche die Selbstreferentialität der Systeme nicht unterminiert: »In den System-zu-System-Beziehungen, die eine gesellschaftliche Ordnung der Differenzierung zuläßt, kann es nur strukturelle Kopplungen geben, die die Autopoiesis der Teilsysteme nicht aufheben.«38 Zentral für die Erklärung, wie System/Umwelt-Wechselwirkung trotz Selbstreferentialität und operativer Geschlossenheit möglich ist, ist die Unterscheidung zwischen Irritation und Information. Das System wird durch die Umwelt irritiert. Die Information oder Bedeutung der Irritation wird allerdings erst im Kontext systeminterner Bedeutungszusammenhänge durch das System selbst konstituiert. Obwohl das System durch die Umwelt irritiert wird, bleibt also die selbstreferentielle Konstitution von Sinn erhalten. Bei der Wechselwirkung zwischen gesellschaftlichen Teilsystemen handelt es sich allerdings um eine spezifische Form der System/UmweltWechselwirkung. Das spezifische Merkmal dieser Form der System/ Umwelt-Wechselwirkung ist, dass sie einander strukturierte Komplexität zur Verfügung stellen.39 Die strukturierte Komplexität des penetrieren38 Ebd., S. 601. 39 Vgl. Alfons Bora: Differenzierung und Inklusion. Partizipative Öffentlichkeit im Rechtssystem moderner Gesellschaften, Baden Baden: Nomos 1999, S. 16; Gunther Teubner: Recht als autopoietisches System, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989. 47
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
den Systems fungiert im penetrierten System als strukturierte Offenheit, oder mit anderen Worten: als strukturierte Variationsmöglichkeit. Vorstrukturierte Fremdkomplexität wird benutzt, um Eigenkomplexität aufzubauen. Insofern kann die Fragestellung der Arbeit auch folgendermaßen formuliert werden: Wie können gesellschaftliche Teilsysteme gekoppelt sein, ohne die je eigene Selbstreferentialität zu unterminieren? Was ist eine mit der Differenzlogik von Luhmanns Systemtheorie kompatible Form, in der Systeme einander gegenseitig irritieren bzw. vorstrukturierte Fremdkomplexität für den Aufbau von Eigenkomplexität zur Verfügung stellen können? Dem Konzept der Selbstreferentialität gesellschaftlicher Teilsysteme folgend, müsste, so scheint es zumindest auf den ersten Blick, die strukturierte Komplexität eines fremden Systems für das aufnehmende System unfassbare Komplexität bzw. Unordnung bedeuten – so auch Luhmann.40 Wie ist es also dennoch möglich, dass selbstreferentielle Systeme einander nicht lediglich irritieren, sondern vorkonstituierte Komplexität für den Aufbau von Eigenkomplexität zur Verfügung stellen? In Luhmanns Schriften können im Wesentlichen vier Antworten auf diese Frage identifiziert werden: (1) über die Identität der Elemente gekoppelter Systeme, (2) über Mehrsystemereignisse, (3) als operative Kopplung oder (4) über die Identität bzw. Strukturähnlichkeit der Differenzschemata gekoppelter Systeme. Ziel dieses Teils des Kapitels ist es zum einen, die in Luhmanns Schriften nicht klar voneinander unterschiedenen Kopplungskonzepte analytisch zu unterscheiden. Zum anderen werden diese Konzepte auf ihre Kompatibilität mit seinem differenzlogischen Verständnis gesellschaftlicher Teilsysteme hin geprüft. In diesem Zusammenhang ist zu fragen, inwiefern das jeweilige Kopplungskonzept in der Lage ist, Folgendes zu erklären: Wie können gesellschaftliche Teilsysteme einander strukturierte Komplexität zur Verfügung stellen, ohne die Selbstreferentialität des jeweils anderen Systems aufzuheben? Die These, die hier ausgearbeitet werden soll, ist die, dass alle Kopplungskonzepte, die auf eine Identität der Elemente der gekoppelten Systeme abheben, nicht haltbar sind. Lediglich eine Interpretation von struktureller Kopplung als die Ausbildung analoger Differenzschemata ist mit Luhmanns differenzlogischer Gesellschaftstheorie kompatibel. Eine solche Interpretation erfordert allerdings die Einführung einer Unterscheidung zwischen Elementen und Ereignissen. Zum Schluss werden die empirischen Konsequenzen eines solchen Kopplungskonzepts ausgearbeitet. Der Rekonstruktion der verschiedenen Formen der Konzeptualisierung von struktureller Kopplung sind einige begriffstechnische Anmer40 Vgl. N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 291. 48
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kungen vorauszuschicken. In »Soziale Systeme« verwendet Luhmann weitgehend den Begriff Interpenetration für die Bezeichnung von System-zu-System-Beziehungen. Der Begriff strukturelle Kopplung nimmt erst in »Die Gesellschaft der Gesellschaft« eine dominante Rolle ein – und zwar bei der Beschreibung von System-zu-System-Beziehungen. Entgegen gängigen Missverständnissen ist dies nicht als eine durch einen Begriffswechsel markierte konzeptuelle Verschiebung zu verstehen. Bei einer genauen Lektüre ist zu erkennen, dass die Beschreibung von System-zu-System-Beziehungen über beide Werke hinweg durch eine starke begriffliche und konzeptuelle Kontinuität gekennzeichnet ist. Nur der Kontext der Auseinandersetzung mit der Wechselwirkung zwischen Systemen ist ein jeweils anderer. In »Soziale Systeme« finden sie im Zusammenhang mit dem Versuch statt, das Verhältnis zwischen psychischen und sozialen Systemen systemtheoretisch zu fassen. So beginnt das Kapitel »Interpenetration« mit folgendem Satz: »Dieses Kapitel handelt von einer besonderen Umwelt sozialer Systeme: von Menschen und ihren Beziehungen zu sozialen Systemen.«41 In »Die Gesellschaft der Gesellschaft« hingegen wird die Wechselwirkung zwischen Systemen, der Thematik des Buches entsprechend, weitgehend im Kontext des Verhältnisses zwischen gesellschaftlichen Teilsystemen betrachtet. Es ist zwar richtig, dass von struktureller Kopplung weitgehend im Kontext der Kopplung gesellschaftlicher Teilsysteme gesprochen wird. Der Begriff struktureller Kopplung bezeichnet aber jegliche Form von System-zu-System-Beziehung, während Interpenetration für eine spezifische Form struktureller Kopplung reserviert wird: »Für den Fall, daß sich solche Verhältnisse wechselseitig koevolutiv entwickeln und keines der in dieser Weise strukturell gekoppelten Systeme ohne sie existieren könnte, kann man auch von Interpenetration sprechen.«42 Anzumerken bleibt, dass im Zusammenhang dieser Arbeit das Kriterium für die Ent-
41 Ebd., S. 286. 42 N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 108. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels wird argumentiert, dass das, was Luhmann als strukturelle Kopplung bezeichnet, nicht anders als Co-Evolution zweier oder mehrerer selbstreferentieller Systeme verstanden werden kann, d.h. als Systeme, die über die Zeit analoge Differenzschemata entwickeln. Dieser Auslegung folgend wären die Begriffe Interpenetration und strukturelle Kopplung gleichzusetzen. Die Beziehungen zwischen psychischen Systemen werden unter dem Begriff »Intimität« thematisiert (Vgl. N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 304ff.). Somit bewegt sich Luhmann auf interessante Weise in der Nähe zu der Schütz’schen Beschreibung von face-to-faceBeziehungen als Grundlage von Intersubjektivität und somit von sozialer Kommunikation. Auf Überlegungen zur Implikation dieser Nähe muss leider an dieser Stelle verzichtet werden. 49
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
wicklung einer kohärenten Lesart von Luhmanns Konzept struktureller Kopplung nicht davon abhängt, wann welche Begriffsdefinition im Verlauf der Theoriearbeit auftaucht. Ausschlaggebend ist allein, inwiefern es eine mit Luhmanns differenzlogischem Ansatz kompatible Konzeptualisierung von struktureller Kopplung ermöglicht.
Identität der Elemente In Luhmanns Arbeiten findet sich eine Beschreibung von Kopplung als ein Sich-Überschneiden der Elemente von gekoppelten Systemen.43 Dieses Kopplungskonzept muss allerdings kritisch hinterfragt werden. Inwiefern kann im Rahmen von Luhmanns differenzlogischem Verständnis gesellschaftlicher Teilsysteme von einer Identität der Elemente ausgegangen werden? Für dynamische Systeme ist nämlich der Elementbegriff mit dem Operationsbegriff gleichzusetzen. Die Elemente eines dynamischen Systems sind seine Operationen. Selbstreferentialität wiederum ist sowohl Produkt als auch Mechanismus der operativen Schließung von (Teil-)Systemen. Mit anderen Worten: Operative Schließung ist Bedingung von Selbstreferentialität. Wie kann also trotz des SichÜberschneidens der Elemente die Selbstreferentialität der gekoppelten Systeme erhalten bleiben? Luhmanns Antwort lautet: Weil die Elemente in je unterschiedlichen teilsystemspezifischen Verweisungszusammenhängen und Sequentialitäten eingebunden bleiben: »Es bleibt zwar richtig, daß interpenetrierende Systeme in einzelnen Elementen konvergieren, nämlich dieselben Elemente benutzen, aber sie geben ihnen jeweils unterschiedliche Selektivität und unterschiedliche Anschlußfähigkeit, unterschiedliche Vergangenheiten und unterschiedliche Zukünfte. Die Konvergenz ist, da es sich um temporalisierte Elemente (Ereignisse) handelt, nur je gegenwärtig möglich [meine Hervorhebung: A.J.].«44
Unklar bleibt dabei aber, wie Elemente jenseits von den spezifischen Verweisungszusammenhängen und Sequentialitäten der jeweiligen (Teil-)Systemen gegeben sein können. Ein zentrales Moment von Luhmanns Systemtheorie ist gerade, dass die Elemente von Sinnsystemen, d.h. Sinnoperationen als nicht ontologisch gegeben konzeptualisiert werden. Sie werden erst durch ihre Kontextuierung in systeminternen Verweisungszusammenhängen durch das System selbst erzeugt. Elemente, die unabhängig oder jenseits von systemspezifischen Sequentialitäten existieren, kann es in diesem begrifflich-konzeptuellen Rahmen ebenso 43 Vgl. N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 292. 44 Ebd., S. 293. 50
TEILSYSTEME DIFFERENZLOGISCH BETRACHTET
wenig geben wie ein Operieren jenseits der Grenzen von Systemen. Zwar betont Luhmann auch in diesem Zusammenhang, dass die Autopoiesis der Teilsysteme nicht durch Kopplung unterminiert wird. Das Konzept einer Identität der Elemente steht allerdings im Widerspruch zu einem differenzlogischen Verständnis gesellschaftlicher Teilsysteme als operativ geschlossene, selbstreferentielle Systeme.
Mehrsystemereignisse Zuweilen wird diese Überschneidung nicht als der Identität der Elemente zugeordnet, sondern mit dem Begriff Mehrsystemereignis als ein Sich-Überschneiden der Ereignisse gekoppelter Systeme beschrieben. »Auch innerhalb des Kommunikationssystems Gesellschaft sind ja Mehrsystemzugehörigkeiten von Ereignissen (zum Beispiel eine Zahlung als Änderung eines Rechtszustandes) zu beobachten.«45 Mehrsystemereignisse sind Ereignisse, die von mehreren gesellschaftlichen Teilsystemen zugleich wahrgenommen werden. Und wahrnehmen heißt in diesem Kontext nichts anderes, als dass in mehreren Teilsystemen an ein und demselben Kommunikationsereignis angeschlossen wird.46 Diese Überschneidung bleibt jedoch temporär. »Solche Mehrsystemereignisse haben jedoch nicht nur eine Geschichte, sondern mehrere Geschichten und je nach System verschiedene.«47 Im Kontext unterschiedlicher Verweisungszusammenhänge erlangt das gemeinsame Element/Ereignis in den jeweiligen gekoppelten Systemen eine je unterschiedliche Bedeutung. Das gegenseitige Zur-Verfügung-Stellen von Komplexität auf der Element- oder Ereignisebene wird als ein Konstitutionszusammenhang verstanden. Bei dem Konzept von Mehrsystemereignissen als Form struktureller Kopplung stellt sich allerdings die gleiche Frage wie bei der Beschreibung von struktureller Kopplung als ein Sich-Überschneiden der Elemente. Soziale Systeme werden von Luhmann als Kommunikationssysteme definiert. Kommunikation ist also die für soziale Systeme spezifische Operationsweise. Oder mit anderen Worten: Wenn Kommunikationen die Elemente sozialer Systeme sind, wie kann es dann für unterschiedliche Systeme identische Kommunikationsereignisse geben? Teubner schlägt folgende Erklärung vor: Nur in sozialen Systemen – und nicht etwa zwischen sozialen und psychischen Systemen – kann es 45 Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990, S. 32. 46 Vgl. ebd., S. 32; N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 753; A. Bora: Differenzierung und Inklusion, S. 62f. sowie G. Teubner: Recht als autopoietisches System. 47 N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 32. 51
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
Mehrsystemereignisse geben. Während die Elemente psychischer Systeme Gedanken sind, sind die Elemente sozialer Systeme Kommunikationen. So können nur auf der Innenseite eines sozialen Systems die gesellschaftlichen Teilsysteme an ein und dasselbe Ereignis gekoppelt sein. Denn nur soziale Systeme benutzen die gleichen Elemente: Kommunikationen. So produziert und reproduziert jede teilsystemspezifische Operation sich selbst als Teilsystem. Als Kommunikation produziert und reproduziert sie aber zugleich auch die Gesellschaft als Ganzes. Während also die Operationen psychischer Systeme (Gedanken) für das soziale System Umwelt bleiben, können sich die Elemente gesellschaftlicher Teilsysteme in Form von Mehrsystemereignissen demnach überschneiden bzw. identisch sein. Um diesen Unterschied zu markieren, schlägt Teubner vor, die Kopplung sozialer Systeme anhand von Mehrsystemereignissen als Interferenz, die Kopplung von psychischen und sozialen Systemen hingegen als Interpenetration zu bezeichnen. Einer solchen Erklärung ist allerdings Folgendes entgegen zu halten: Unabhängig davon, ob es sich um die Selbstreferentialität gesellschaftlicher Teilsysteme oder um die Differenz zwischen sozialen Systemen und ihrer psychischen Umwelt handelt, gibt es im begrifflich-konzeptuellen Rahmen einer differenzlogischen Systemtheorie nur zwei Möglichkeiten, Schließung zu erklären. Bedingung einer Selbstreferentialität ermöglichenden Schließung ist (1) eine auf der Ebene von Elementen gegebene systemspezifische Sequentialität und (2) eine systeminterne Wechselwirkung von Elementen und Strukturen. Da Kommunikationsereignisse die Elemente sozialer Systeme sind, kann es ebenso wenig Mehrsystemereignisse geben wie eine Überschneidung oder Identität der Elemente unterschiedlicher Teilsysteme. Da die Kommunikationsereignisse die Operationen gesellschaftlicher Teilsysteme bilden, impliziert das Konzept von Mehrsystemereignissen, dass Teilsysteme jenseits ihrer Grenzen operieren können. Und dies ist differenzlogisch betrachtet auch über teilsysteminterne Grenzen hinweg nicht möglich. Im konzeptuellbegrifflichen Rahmen einer differenzlogischen Systemtheorie können Elemente nur auf der Innenseite eines Systems verortet werden. Hiermit soll nicht gesagt werden, dass eine Wechselwirkung zwischen gesellschaftlichen Teilsystemen aufgrund von Interferenz nicht möglich ist. Die Aussage lautet lediglich, dass dies bei einem differenzlogischen Verständnis der Selbstreferentialität gesellschaftlicher Teilsysteme nicht möglich ist. Teubner platziert nämlich seine Überlegungen im Kontext der Beobachtung einer gewissen Inkonsistenz in Luhmanns Systemtheorie. Die Behauptung, dass Systeme mit ihren Operationen nicht in die Umwelt eingreifen können, wird von Luhmann »zwar im
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TEILSYSTEME DIFFERENZLOGISCH BETRACHTET
allgemeinen akzeptiert, aber im besonderen nicht beachtet«.48 Dementsprechend ist Teubners Interferenzkonzept ein Versuch, eine Antwort auf die Frage zu finden, ob nicht doch ein »Weg aus den je in sich geschlossenen (Selbst-)Beobachtungszirkeln hinaus [führt]?«.49 Der von Teubner vorgeschlagene Ausweg über das Konzept von Mehrsystemereignissen bzw. Interferenz setzt allerdings die Entwicklung einer Alternative zu der bestehenden systemtheoretischen Konzeptualisierung von Selbstreferentialität voraus. Nur sofern eine Möglichkeit gefunden wird, die Selbstreferentialität gesellschaftlicher Teilsysteme anders als mit operativer Schließung zu erklären, ist auch die Unterscheidung zwischen Interferenz und Interpenetration haltbar.
Operative Kopplung Der Vollständigkeit halber ist darauf aufmerksam zu machen, dass Luhmann stellenweise behauptet, dass zwischen den Teilsystemen einer Gesellschaft nicht nur strukturelle, sondern auch operative Kopplung möglich ist.50 Demnach gibt es zahllose ereignishafte operative Kopplungen, d.h. Kommunikationen, die ein ständiges Herstellen und Wiederauflösen von Teilsystemen bewirken. Selbstreferentialität wird dabei, Luhmann zufolge, aber nicht unterminiert. Geldzahlungen etwa sind und bleiben stets Operationen des Wirtschaftssystems. Sie sind in den rekursiven Verweisungszusammenhang vorheriger und späterer Zahlungen eingebettet. Gleichzeitig können sie aber als Fremdreferenz die Kommunikation anderer Referenzsysteme konditionieren. Wissenschaftliche Forschungen müssen finanzierbar sein, politische Programme die »Realität« des Wirtschaftssystems beachten.51 Punktuell geht Luhmann davon aus, dass nicht nur zwischen Kommunikationssystemen, sondern zwischen Sinnsystemen im Allgemeinen, d.h. zwischen psychischen und sozialen Systemen neben struktureller Kopplung operative Kopplung möglich ist.52 Gegen die Möglichkeit der operativen Kopplung sind allerdings die gleichen Argumente vorzubringen wie gegen die Möglichkeit, strukturelle Kopplung als ein Sich-Überschneiden der Elemente der Ereignisse der so gekoppelten Systeme zu verstehen. Dementsprechend wird in diesem Zusammenhang nicht zwischen der Bedeutung von Mehrsystemereignissen und operativer Kopplung unterschieden. So schreibt Luhmann 48 49 50 51 52
G. Teubner: Recht als autopoietisches System, S. 113. Ebd., S. 106. Vgl. N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 606f. Vgl. ebd., S. 608. Vgl. ebd., S. 211. 53
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
(in Bezug auf Integration) in einem Abschnitt: »Die Vorlage eines Haushaltsplans im Parlament kann ein Ereignis im politischen System, im Rechtssystem, im System der Massenmedien und im Wirtschaftssystem sein. Dadurch findet ständig Integration statt im Sinne einer wechselseitigen Einschränkung der Freiheitsgrade der Systeme. Aber dieser Integrationseffekt bleibt auf die Einzelereignisse begrenzt.«53 Im nächsten Abschnitt wird die gleiche Art Phänomen (wieder in Bezug auf Integration) nicht als Ereignis mehrerer Systeme, sondern als operative Kopplung mehrerer Systeme bezeichnet: »Integration ist also ein mit der Autopoiesis der Teilsysteme voll kompatibler Sachverhalt. So gibt es zahllose ereignishafte operative Kopplungen, die ein ständiges Herstellen und Wiederauflösen von Systemzusammenhängen bewirken.«54
Analoge Differenzschemata Einer anderen Beschreibung folgend werden gesellschaftliche Teilsysteme nicht durch identische Elemente, sondern durch identische Differenzschemata gekoppelt. Die Möglichkeit einer Identität der Elemente wird in dieser Fassung explizit abgelehnt. »Die Integration liegt nicht in einer letztlich zu Grunde liegenden (substantiellen, subjekthaften) Identität und auch nicht (wie meistens gesagt) in einem partiellen Sich-Überschneiden der Systeme. Sie liegt darin, daß verschiedene Systeme in der Reproduktion ihrer Elemente dasselbe Differenzschema verwenden, um Information zu verarbeiten, die sich aus den komplexen Operationen des jeweils anderen Systems ergeben. Nicht Einheit, sondern Differenz ist die Interpenetrationsformel, und sie bezieht sich nicht auf das ›Sein‹ der Systeme, sondern auf ihre operative Reproduktion.«55
An Stelle der Identität bzw. des Sich-Überschneidens der Elemente tritt also das Konzept einer Identität der Differenzschemata, die verschiedene Systeme in der Reproduktion ihrer Elemente verwenden. Die spezifische Form der strukturellen Kopplung von Systemen ist Luhmann zufolge die Sprache. Aufgrund ihrer binären Codierung kann sie psychische wie soziale Systeme mit Differenzschemata ausstatten, die von beiden Seiten
53 Ebd., S. 605. 54 Ebd., S. 606. 55 N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 315. 54
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aus als dieselben wahrgenommen werden, an die aber im jeweiligen System anders angeschlossen werden kann.56 Auch hier ist die Kompatibilität dieses Konzepts mit der differenzlogischen Grundlage von Luhmanns Systemtheorie zu hinterfragen. Können die Differenzschemata zweier oder mehrerer gekoppelter Teilsysteme wirklich identisch sein? Zum einen kann es im Rahmen von Luhmanns Differenzlogik ebenso wenig ein Sich-Überschneiden der Differenzschemata geben wie ein Sich-Überschneiden der Elemente. Neben der sequentiellen Geschlossenheit auf der Ebene von Elementen ist nämlich die selbstreferentielle Wechselwirkung zwischen systeminternen Elementen und systeminternen Strukturen Bedingung wie Mechanismus von Selbstreferentialität. Eine Kommunikationsofferte hat für ein Kommunikationssystem nicht an und für sich, sondern nur im Kontext bestehender Bedeutungsstrukturen einen Sinn. Mit jeder Kommunikationsofferte werden wiederum die Bedeutungsstrukturen des jeweiligen (Kommunikations-)Systems verändert. So konstituiert ein System seine eigenen Elemente und Strukturen durch die selbstreferentielle Wechselwirkung zwischen systeminternen Elementen und systeminternen Strukturen. Insofern würden Strukturen, die über die Grenzen von Systemen hinausreichen, ebenso die Selbstreferentialität der Systeme unterbrechen, wie ein Operieren mit Elementen, die nicht systemintern konstituiert sind. Solche Strukturen kann es also einer differenzlogischen Definition gesellschaftlicher Teilsysteme zufolge nicht geben. Zum anderen kann auch nicht von einer Identität zweier jeweils systemintern gegebener Differenzschemata ausgegangen werden. Wie eine Operation erlangt ein Differenzschemata erst im Kontext systeminterner Bedeutungsstrukturen einen Sinn. Da diese Bedeutungsstrukturen immer systemspezifisch sind, haben Differenzschemata für das jeweilige System immer eine andere Bedeutung. Oder genauer: Weil die Differenzschemata abhängig vom jeweils systemspezifischen Kontext jeweils etwas anderes bedeuten, sind es auch unterschiedliche und nicht identische Differenzschemata. So kann allenfalls von einer Strukturähnlichkeit der verwendeten Differenzschemata gekoppelter Systeme ausgegangen werden. Die Differenzschemata sind also nicht identisch, sondern analog. 56 Anzumerken ist, dass die gleiche Eigenschaft von Sprache zur Erklärung der Schließung sozialer Systeme benutzt wird wie zur Erklärung der Kopplung von psychischen und sozialen Systemen. Dementsprechend wird Sprache im Kontext der ersten Verwendung des Sprachkonzepts innerhalb von sozialen Systemen verortet, im Kontext dieser Verwendung hingegen zwischen sozialen und psychischen Systemen verortet. Vgl. Ilja Srubar: »Sprache und strukturelle Kopplung. Das Problem der Sprache in Luhmanns Theorie« in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Jg. 75 (2005), S. 599-623. 55
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
Die für strukturell gekoppelte Systeme spezifische Form der System/Umwelt-Wechselwirkung erscheint in diesem Kontext nicht lediglich als eine strukturierte, geordnete Form der gegenseitigen Irritation. Vielmehr ist sie als eine Co-Evolution ermöglichende Form der gegenseitigen Irritation zu verstehen. Strukturelle Kopplung ermöglicht CoEvolution, ohne die Selbstreferentialität der Systeme zu unterbrechen, weil an Umweltirritationen mit analogen Differenzschemata angeschlossen wird. Die Struktur des Geschehens ist, mit anderen Worten, auf beiden Seiten analog. Ein Umweltereignis hat also in den gekoppelten Systemen eine ähnliche Bedeutung, weil es im Rahmen analoger Differenzschemata kontextuiert wird. Verschiedene psychische Systeme können an das kommunikative Ereignis des Aufrufs »Brötchen!« gekoppelt sein. Obwohl dieser Aufruf für jedes psychische System aufgrund seiner je spezifischen Zustände und Verweisungszusammenhänge nicht identisch sein kann, ist anzunehmen, dass dieses kommunikative Ereignis eine ähnliche Bedeutung für die gekoppelten Systeme hat. Somit wäre eine, wie es scheint, mit Luhmanns Differenzlogik kompatible Konzeptualisierung von struktureller Kopplung gefunden. Nun stellt sich allerdings die Frage, wie es trotz operativer Schließung zu einer strukturellen Kopplung ermöglichender Strukturähnlichkeit der Differenzschemata zweier oder mehrerer Teilsysteme kommen kann. Um diese Frage zu beantworten, muss (1) der Faktor Zeit mit in Betracht gezogen werden und (2) eine Unterscheidung zwischen Ereignis und Element eingeführt werden. Zu (1): Bedingung der Entwicklung analoger Strukturen, d.h. der Co-Evolution gesellschaftlicher Teilsysteme sind stabile Kontexte der Wechselwirkung. Die sich gegenseitig irritierenden Systeme müssen, mit anderen Worten, sich auf eine gewissermaßen stabile bzw. konstante Form irritieren. Es ist davon auszugehen – so auch Luhmann –, dass Regelmäßigkeiten in den Irritationen der Umwelt nur vorkommen, sofern die Umwelt irgendwie geordnet, d.h. gegenüber Zufällen oder beliebiger Komplexität geschlossen ist. Die strukturelle Stabilisierung von Umweltirritationen kann nur in Systemumwelten vorkommen, die ihrerseits aufgrund von stabilen Strukturen operieren. So stellen sich strukturelle Kopplungen mit der Umwelt eines Systems nur ein, sofern es sich bei dieser Umwelt um ein anderes System handelt. Durch die kanalisierte und strukturierte Wiederholung gegenseitiger Irritationszusammenhänge wird die Strukturentwicklung der beteiligten Systeme beeinflusst. Zu (2): Bedingung der Entwicklung analoger Differenzschemata ist, wie bereits schon mehrfach gesagt, die Irritation der gekoppelten Systeme durch die gleichen Umweltereignisse – und zwar in einer über die Zeit gewissermaßen stabilen bzw. konstanten Form. Strukturelle Kopp56
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lung setzt also, so gesehen, entweder die Ko-Orientierung der gekoppelten Systeme an einer gemeinsamen Umwelt oder die gegenseitige Orientierung aneinander voraus. Unabhängig davon aber, ob die Umweltereignisse, an deren sich beide Systeme orientieren, Umweltereignisse sind oder Kommunikationsofferten des je anderen Systems, ist die Orientierung an den gleichen Ereignissen Bedingung der Stabilisierung analoger Differenzschemata. Somit wird zwar weder von einer Identität der Elemente noch von einer Identität der Differenzschemata der gekoppelten Systeme ausgegangen. Allerdings basiert auch hier das Kopplungskonzept auf einer Identitätsannahme: die Identität der die Systeme gegenseitig irritierenden Ereignisse. Nun stellt sich die Frage, wie die Annahme der Identität der beobachteten Ereignisse mit der Selbstreferentialität gesellschaftlicher Teilsysteme in Einklang gebracht werden kann. Das Konzept einer über die Ko-Orientierung an den gleichen Umweltereignissen ermöglichten strukturellen Kopplung setzt eine Unterscheidung zwischen Element und Ereignis voraus. Grundlage dieser Unterscheidung ist Luhmanns Konzept (1) der Gleichzeitigkeit von System und Umwelt sowie (2) eines Materialitätskontinuums zwischen System und Umwelt. Nur im Rahmen einer so begründeten Unterscheidung zwischen Ereignis und Element wird auch folgende Beschreibung von struktureller Kopplung verständlich: »Es wird also nicht behauptet (um das Gegenkonzept zu nennen und auszuschließen), die Systeme des Bewußtseins und der Kommunikation existieren substantiell getrennt. […] Ihre Trennung beruht vielmehr allein darauf, daß die rekursiven Netzwerke, mit deren Hilfe die Operationen, aus denen diese Systeme bestehen, reproduziert und identifiziert werden, verschieden sind und nicht überlappen. Selbst wenn daher Systeme Ereignisse teilen, zum Beispiel eine sprachliche Kommunikation immer auch Ereignis in einer Mehrheit von teilnehmenden Bewußtseinen ist, ändert das nichts an einer vollständigen Trennung der Systeme, weil das Ereignis von den jeweiligen Systemen im Hinblick auf jeweils andere eigene Ereignisse anders identifiziert wird. Jedes System hat, auch wenn ein Beobachter Ereignisse quer durch die Systeme identifizieren kann (zum Beispiel sehen kann, daß mehrere Teilnehmer ein Plakat lesen, ein Wort hören, durch ein und denselben Knall erschreckt werden), ein eigenes Gedächtnis und organisiert eigene Vorgriffe auf eigene anschlußfähige Operationen. Ohne diese Eigenheit käme kein das System reproduzierendes Ereignis zustande. Und nur durch diese ereignisförmige Selbstfundierung wird die Trennung der Systeme ermöglicht – und zugleich erzwungen.«57
57 N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 37f. 57
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Aufgrund der Gleichzeitigkeit sowie eines Materialitätskontinuums zwischen System und Umwelt können verschiedene Systeme durch identische Ereignisse irritiert werden – dies aber immer nur für den Moment, d.h. als Einzelereignis. »Im Pulsieren der Ereignisse integrieren und desintegrieren die Systeme sich von Augenblick zu Augenblick.«58 Quer zu dieser Gleichzeitigkeit der Ereignisse liegt eine systemspezifische Zeitlichkeit, die als die operative Ungleichzeitigkeit unterschiedlicher Sequentialitäten beschrieben werden kann. Diese operative Ungleichzeitigkeit ist Bedingung wie Mechanismus der Schließung und Selbstreferentialität von (Teil-)Systemen. Demnach wird strukturelle Kopplung durch eine ereignishafte Gleichzeitigkeit von System und Umwelt ermöglicht. Durch die operative Ungleichzeitigkeit der Teilsysteme bleibt wiederum die Selbstreferentialität der (Teil-)Systeme erhalten. Festzuhalten ist: Aufgrund der Gleichzeitigkeit zwischen System und Umwelt sowie des Materialitätskontinuums zwischen System und Umwelt können verschiedene Systeme durch identische Ereignisse irritiert werden – dies aber immer nur für den Moment, d.h. als Einzelereignis. Sofern Systeme einander irritieren bzw. über die Ko-Orientierung an einer gemeinsamen Umwelt über die Zeit auf eine gewissermaßen stabile bzw. konstante Form irritiert werden, können sich auf beiden Seiten der gekoppelten Systeme analoge Differenzschemata stabilisieren. Genau in diesem Sinne ist die Beschreibung von struktureller Kopplung als kanalisierte Form der Irritation zu verstehen. Anschließend an diese Element/Ereignis-Unterscheidung kann jetzt auch eine mit Luhmanns Verständnis der Selbstreferentialität gesellschaftlicher Teilsysteme kompatible Interpretation von Mehrsystemereignissen gewagt werden. An ein Kommunikationsereignis im Sinne eines für mehrere Systeme gleichzeitig gegebenen Ereignisses können mehrere Systeme zugleich anschließen. Das jeweilige Kommunikationsereignis erlangt allerdings durch die unterschiedlichen Formen des Anschließens daran in unterschiedlichen Teilsystemen eine unterschiedliche Bedeutung. Erst im Zusammenhang vorheriger und einem Horizont möglicher weiterer Kommunikationsofferten erhält das jeweilige Kommunikationsereignis einen – und zwar stets einen teilsystemspezifischen – Sinn. Erst im teilsysteminternen Verweisungszusammenhang wird das Kommunikationsereignis zum sinnhaften Ereignis. Die Identität des Ereignisses für mehrere Teilsysteme ist lediglich aus einer Beobachterperspektive gegeben. Der Sinn des Ereignisses ist hingegen nicht ontologisch gegeben, sondern wird erst durch das jeweilige beobachtende Teilsystem selbst konstituiert. Es handelt sich also bei Mehrsystemereignis58 N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 605. 58
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sen – auch dies aber immer nur aus einer auch anders möglichen Beobachterperspektive – um eine auf der Ebene des zeitlichen und materiellen Realitätskontinuums zwischen System und Umwelt gegebene Identität des kommunikativen Ereignisses. Auf der Ebene der systeminternen »Realität«, d.h. als Element (bzw. Operation) des Systems hingegen handelt es sich um unterschiedliche Kommunikationen.
Empirische Konsequenz Trotz struktureller Kopplung ist die empirische Konsequenz einer differenzlogischen Konzeptualisierung gesellschaftlicher Teilsysteme, dass ihre Selbstreferentialität und operative Geschlossenheit als System/Umwelt-Grenze im Sinne einer Grenze der Anschlussfähigkeit operativ wirksam sein muss – und zwar sowohl auf der Ebene von Operationen wie auch auf der Ebene von Strukturen. Trotz struktureller Kopplung kann es keine Operationen jenseits der Grenzen von Systemen und keine die Grenzen von Systemen überschreitenden Strukturen geben. Darüber hinaus kann der Imperativ einer Grenze der Anschlussfähigkeit vor dem Hintergrund des oben geschilderten Kopplungskonzepts weiter präzisiert werden. Eine Grenze der Anschlussfähigkeit heißt nicht, dass an eine Kommunikation beispielsweise des Wissenschaftssystems mit einer Kommunikation des politischen Systems nicht angeschlossen werden kann. Wissenschaft und Politik können sich sehr wohl an den gleichen Kommunikationsereignissen orientieren und diese können ebenso Kommunikationen des Wissenschaftssystems wie Kommunikationen des politischen Systems sein. Die Grenze der Anschlussfähigkeit bedeutet aber, dass eine Kommunikation des Wissenschaftssystems im politischen System eine andere Bedeutung erhält – und zwar indem sie im Kontext politischer Relevanz- und Gültigkeitskriterien verstanden wird. Genau in diesem Sinn wird das politische System durch eine Kommunikation des Wissenschaftssystems irritiert. Die Bedeutung dieser Kommunikation wird aber erst durch das politische System konstituiert und zwar im Kontext systeminterner Bedeutungszusammenhänge. Sofern es sich also um eine mit der Annahme der Selbstreferentialität und der operativen Geschlossenheit gesellschaftlicher Teilsysteme kompatible Form der Wechselwirkung zwischen gesellschaftlichen Teilsystemen handelt, wird die systemfremde Komplexität der systemspezifischen Komplexität untergeordnet. Nur so kann systemfremde in systemspezifische Komplexität integriert werden, ohne die Selbstreferentialität des Systems aufzuheben. Die empirische Konsequenz ist: Sofern die systemtheoretisch postulierte Differenz zwischen Teilsystemen wirksam ist, muss die Primärorientierung einer Operation sowie einer Kommuni59
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kationsstruktur (bzw. eines Programms) an einem teilsystemspezifischen Code stets erkennbar sein.
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III. Methode und Ma terial
Die Fragestellung dieser Arbeit lautet: Inwiefern können Kommunikationsprozesse, in denen unterschiedliche gesellschaftliche Teilsysteme aufeinandertreffen, differenzlogisch erklärt werden? Die theoretische Ausrichtung dieser Frage diktiert gewisse Kriterien der Material- sowie der Methodenauswahl: Die Methode muss mit den konstruktivistischen Annahmen der Systemtheorie kompatibel sein. Zugleich muss sie gegenüber der hier zu prüfenden Differenzlogik neutral sein. Im Material müssen unterschiedliche gesellschaftliche Teilsysteme kommunikativ aufeinandertreffen. Darüber hinaus muss das Material die Kriterien der Methode erfüllen. Bei einer objektiv hermeneutischen Sequenzanalyse heißt dies, dass das empirische Material als Text vorliegen muss. In diesem Kapitel wird die Kompatibilität der objektiven Hermeneutik mit den konstruktivistischen Annahmen der Systemtheorie bei einer gleichzeitigen Neutralität gegenüber der zu hinterfragenden Differenzlogik sozialer Sinnkonstitutionsprozesse aufgezeigt. Des Weiteren wird die Materialauswahl begründet und der Untersuchungsgegenstand, »The President’s Council on Bioethics« beschrieben.
1 . O b j e k t i ve H e r m e n e u t i k i m S p a n n u n g s f e l d zwischen Identitäts- und Differenzlogik Imperative der Methodenauswahl sind im Kontext der theoretischen Fragestellung (1) die Kompatibilität mit den konstruktivistischen Annahmen der Systemtheorie und (2) die Neutralität gegenüber den hier zu prüfenden differenzlogischen Annahmen. Vor diesem Hintergrund bietet sich das Verfahren einer Sequenzanalyse nach den Regeln der objekti61
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ven Hermeneutik an. Mittels eines detaillierten, textnahen Interpretationsverfahrens ist die objektive Hermeneutik, in Abgrenzung zu subsumptionslogischen Methoden, bestrebt, das soziale Phänomen selbst sprechen zu lassen. Anstelle einer Einordnung des Untersuchungsobjekts in vordefinierte Kategorien soll das Analyseverfahren sich an das Untersuchungsobjekt »anschmiegen«.1 Eine objektiv hermeneutische Sequenzanalyse beginnt am Anfang des Textes. Der Sequentialität der Produktion des Textes folgend, werden die einzelnen »Sequenzen« nacheinander analysiert – ohne im Text vor oder zurück zu springen. Bei jeder »Sequenz« ist nach möglichen Bedeutungszusammenhängen zu fragen. Es stellt sich, anders formuliert, bei jeder Sequenz die Frage, im Kontext welcher Bedeutungszusammenhänge die Selektion genau dieser Kommunikation einen Sinn ergeben würde. Ziel dabei ist nicht die plausibelste Erklärung zu finden, sondern so viele Erklärungen wie möglich zu generieren. Bei der Analyse der darauffolgenden Sequenzen wird erneut nach möglichen Erklärungen für die Selektion genau dieser Kommunikation gefragt. Nun fließt allerdings die vorhergehende Sequenz in die Analyse mit ein. So können, im Verlauf der Analyse, nach und nach immer mehr mögliche Bedeutungszusammenhänge ausgeschlossen werden, bis sich Strukturhypothesen, d.h. Hypothesen über die den Fall charakterisierenden Strukturmerkmale bilden lassen. Diese Strukturhypothesen werden im weiteren Verlauf der Interpretation des Textes bestätigt oder widerlegt. Die Interpretation ist dann beendet, wenn in der Analyse einzelner Sequenzen sich wenig neue Strukturmerkmale bzw. Aspekte der Strukturmerkmale erkennen lassen und sich eine Reproduktion der bereits erkannten Merkmale beobachten lässt. Mit diesem Verfahren soll der Sinn einer Kommunikation aus dem Kommunikationsprozess selbst erschlossen werden – und nicht unter Verweis auf jenseits des Kommunikationsprozesses liegende Annahmen. Der Forscher gibt sich bei dieser Methode nicht mit »standardisiert erhobenen Daten bei der Hypothesenüberprüfung zufrieden«.2 Indem er mit den »natürlichen Protokollen der gesellschaftlichen Wirklichkeit«3 unmittelbar konfrontiert wird, erhält 1
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3 62
Vgl. Ulrich Oevermann/Tilman Allert/Elisabeth Konau/Jürgen Krambeck: »Die Methodologie einer ›objektiven Hermeneutik‹ und ihre allgemeine forschungslogische Bedeutung in de Sozialwissenschaften, in: HansGeorg Soeffner (Hg.), Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften, Stuttgart: Metzler 1979, S. 352-434, hier S 391f. Ulrich Oevermann: »Genetischer Strukturalismus und das sozialwissenschaftliche Problem der Erklärung der Entstehung des Neuen«, in: Stefan Müller-Doohm (Hg.), Jenseits der Utopie: Theoriekritik der Gegenwart, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991, S. 267-336, hier S. 270. Ebd., S. 270.
METHODE UND MATERIAL
»diese in ihrer ungefilterten Konkretion eine maximale Chance, theoretische Vermutungen zu Fall zu bringen, wohingegen doch die standardisierten Verfahren der Datenerhebung schon immer, da sie im Lichte der zu prüfenden Theorien selbst konstruiert worden sind, einen Filter abgeben, der gezielt nur das hindurchläßt, was von den vorher gefaßten Konzeptualisierungen, also den vorhergehenden Abstraktionen auch ›verdaut‹ werden kann«.4
Trotz ihres Bemühens um theoretische Neutralität ist allerdings auch die objektive Hermeneutik nicht in der Lage, einen von jeglichen theoretischen Annahmen bereinigten Zugang zur sozialen Wirklichkeit zu ermöglichen. Das Verfahren wird im Gegenteil durch konstruktivistische Annahmen über die soziale Wirklichkeit begründet.5 Dennoch bleibt die objektive Hermeneutik gegenüber der hier zu prüfenden differenzlogischen Operationsweise gesellschaftlicher Teilsysteme neutral6 – und zwar aus zwei Gründen. (1) Sowohl die Systemtheorie als auch die objektive Hermeneutik verstehen sozialen Sinn als emergente Realität, die in einem selbstreferentiellen Verweisungszusammenhang kontinuierlich produziert, reproduziert und transformiert wird. Insofern teilen sie die gleichen konstitutionstheoretischen Grundannahmen. (2) Jenseits dieser Übereinstimmungen besteht eine grundlegende Differenz zwischen der objektiven Hermeneutik und der Systemtheorie. Die objektive Hermeneutik begründet ihr Interpretationsverfahren mit einer Reihe von (in Luhmanns Terminologie) identitätslogischen Annahmen, die im Widerspruch zu den differenzlogischen Annahmen der Systemtheorie stehen. Das Verfahren kann allerdings ebenso mit Annahmen begründet werden, die mit Luhmanns Differenzlogik kompatibel sind. Insofern bleibt die objektive Hermeneutik gegenüber den hier zu prüfenden differenzlogischen Annahmen der Systemtheorie neutral. 4 5
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Ebd., S. 270 Vgl. Tilmann Sutter: »Rekonstruktion und doppelte Kontingenz. Konstitutionstheoretische Überlegungen zu einer konstruktivistischen Hermeneutik«, in: Tilmann Sutter (Hg.), Beobachtung verstehen, Verstehen beobachten. Perspektiven einer konstruktivistischen Hermeneutik, Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 303-336; Vgl. Alfons Bora: »Sachhaltigkeit versus Verfahren? Einige methodologische Konsequenzen konstruktivistischer Wissenschaftssoziologie«, in: Tilmann Sutter (Hg.), Beobachtung verstehen, Verstehen beobachten. Perspektiven einer konstruktivistischen Hermeneutik, Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 282-330. Vgl. Wolfgang Ludwig Schneider: »Hermeneutik sozialer Systeme. Konvergenzen zwischen Systemtheorie und philosophischer Hermeneutik«, in: Zeitschrift für Soziologie Bd. 21 (1992), S. 420-439; Vgl. Wolfgang Ludwig Schneider: »Objektive Hermeneutik als Forschungsmethode der Systemtheorie«, in: Soziale Systeme Bd.1 (1995), S. 129-152; Vgl. A. Bora: »Sachhaltigkeit versus Verfahren?«. 63
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
(1) Zur Übereinstimmung der konstruktivistischen Annahmen der objektiven Hermeneutik und der Systemtheorie: Die Methode der objektiven Hermeneutik wird durch die Übereinstimmung der Regeln der Interpretation von Sinn mit den Regeln der Konstitution von Sinn begründet. Insofern hängt die Kompatibilität der Systemtheorie mit der Methode der objektiven Hermeneutik von der Übereinstimmung der konstitutionstheoretischen Annahmen beider Ansätze ab. Wie für Luhmann bildet sozialer Sinn auch für Oevermann eine emergente Ebene objektiver Bedeutungen, die nicht mit der Intentionalität individueller Subjekte äquivalent zu setzen ist.7 Dies bedeutet, dass einzelne Akte sozialer Subjekte und die dahinter liegenden Intentionen nicht unabhängig von den Interaktionsprozessen verstanden werden können, in denen sie produziert wird. Die Intentionen, die in Interaktionsprozessen beobachtet werden, sind nicht die Intentionen eines Einzelnen, sondern diejenigen »des idealisierten, transzendental konstruierten verallgemeinerten Subjekts des universe of discourse«.8 Somit zielt der methodologische Apparat auf die Erforschung der objektiven Regeln, welche die Kommunikationsprozesse strukturieren.9 Als Resultat dieser empirischen Überlegung – die auch als differenzlogisches Postulat der Intransparenz subjektiver Intentionen oder in der Sprache von Luhmanns Systemtheorie als die jeglicher sozialer Interaktion zugrundeliegende doppelte Kontingenz beschrieben werden kann – kommt die objektive Hermeneutik zur gleichen Gegenstandsdefinition wie die Systemtheorie. Gegenstand ist für beide die emergente Ebene sozialen Sinns. Als methodologische Konsequenz sind Interaktionsprozesse nicht als Kette einzelner, auf subjektive Intentionen hinweisender Handlungen zu verstehen. Vielmehr sind sie als Prozess der Konstitution von Bedeutungsrelationen bzw. als Manifestationen bereits bestehender Bedeutungsrelationen zu betrachten. Des Weiteren versteht die objektive Hermeneutik und die Systemtheorie Sinn als ein in selbstreferentiellen Sequenzen von Kommunikation Konstituiertes. Sinn wird rückblickend im Kontext vorhergehender Kommunikationen und zugleich vorausblickend auf einen Horizont weiterer Sinnmöglichkeiten erzeugt. »Die Identität des vorausgegangenen Äußerungsereignisses, sein sozialer Sinn, wird so durch sequentielle
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Auf diese emergente Bedeutungsebene verweist auch die Bezeichnung dieser Art von Hermeneutik als »objektiv«. Vgl. U. Oevermann/A. Tilman/E. Konau/J. Krambeck: »Die Methodologie einer ›objektiven Hermeneutik‹ und ihre allgemeine forschungslogische Bedeutung in den Sozialwissenschaften«, S 381f. Ebd., S. 381. Vgl. ebd., S. 380.
METHODE UND MATERIAL
Bedeutungszuweisung in der Kommunikation konstituiert.«10 Ferner ist der Prozess der Konstitution von Sinn nicht beliebig, sondern regelgeleitet bzw. strukturiert. Auch in dieser Annahme konvergiert die objektive Hermeneutik mit der konstruktivistischen Position von Luhmann. Ein Kommunikationsablauf wird als Sequenz von Selektionen verstanden, in der an jeder Selektionsstelle ein Entscheidungszwang zur Selektion einer anschließenden Kommunikation besteht.11 Welche Entscheidung getroffen wird, d.h. welcher Sinn selegiert wird, hängt von bestehenden Sinnstrukturen ab. Von diesen grundlegenden Annahmen werden die Regeln eines interpretativen Verfahrens abgeleitet.12 Der Anschluss einer Kommunikation an eine vorhergehende Kommunikation dient – vor der Kontrastfolie anderer möglicher Anschlüsse – als Verweis auf die Struktur, die dieser konkreten Selektion bzw. Entscheidung zugrunde liegt.13 So ist an jeder Selektionsstelle nach den möglichen Kontexten zu fragen, in denen vor dem Spektrum anderer Anschlussmöglichkeiten genau dieser Anschluss sinnvoll wäre. Es wird davon ausgegangen, dass an jeder Selektionsstelle tendenziell mehrere Interpretationsmöglichkeiten nebeneinander bestehen. Erst mit der Interpretation weiterer Sequenzen beginnen sich die Deutungsmöglichkeiten zu schließen, so dass am Ende nur eine konsistente Deutungsmöglichkeit bestehen bleibt. Hieraus folgt ein Imperativ an das Analyseverfahren. Die Analyse sozialer Sinnkonstitutionsprozesse muss der natürlichen Sequentialität dieser Prozesse folgen. Die Bedeutung eines Kommunikationsereignisses kann nur unter Verweis auf die jeweils vorhergehenden Kommunikationsereignisse geprüft werden und nicht unter Verweis auf Äußerungen, die erst später im Text erfolgen. Mit der Erschließung einer konsistenten, in sich geschlossenen Lesart ist die Fallrekonstruktion beendet und die fallspezifische Sinnstruktur aufgedeckt.14 10 W.L. Schneider: »Objektive Hermeneutik als Forschungsmethode der Systemtheorie« S. 134. 11 Vgl. ebd., S. 132f. 12 Schneider fasst die Übereinstimmung der objektiv hermeneutischen mit den systemtheoretischen Annahmen in ihren methodischen Konsequenzen in fünf Punkten zusammen, »an denen die systemtheoretische Charakterisierung sozialer Systeme […] in die Projektion methodologischer Empfehlungen« umschlägt. Vgl. W.L. Schneider: »Objektive Hermeneutik als Forschungsmethode der Systemtheorie«, S. 136f. 13 Vgl. A. Bora: »Sachhaltigkeit versus Verfahren?«, S. 239. 14 Die Ergebnisse des rekonstruktiven Analyseverfahrens sind allerdings immer nur »bis auf Weiteres« gültig. Es kann nie ausgeschlossen werden, dass Brüche im Text oder neue Auslegungsmöglichkeiten entdeckt werden. Vgl. U. Oevermann/T. Allert/E. Konau/J. Krambeck: Die Methodologie einer ›objektiven Hermeneutik‹«, S 390. 65
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
(2) Zur Neutralität der inkompatiblen Annahmen gegenüber der Methode: So überzeugend diese Übereinstimmungen sein mögen, sind doch die Divergenzen zwischen den Konstruktivismen der objektiven Hermeneutik und der Systemtheorie nicht zu übersehen. So bleibt zu begründen, warum diese Unterschiede die Neutralität der objektiven Hermeneutik gegenüber den differenzlogischen Annahmen von Luhmanns Systemtheorie nicht unterminieren. Entscheidend für die Begründung ist die Unterscheidung zwischen den theoretischen Annahmen der objektiven Hermeneutik und dem objektiv hermeneutischen Verfahren der Sequenzanalyse. In den folgenden Punkten werden zum einen die Unterschiede zwischen den konstruktivistischen Annahmen der objektiven Hermeneutik und deren der Systemtheorie skizziert. Zum anderen wird gezeigt, dass das Interpretationsverfahren der objektiven Hermeneutik auch mit Annahmen begründet werden kann, die mit der Differenzlogik von Luhmanns Systemtheorie kompatibel sind. Bei Oevermann und bei Luhmann erscheint Sinn als dynamischer Prozess, in dem die Emergenz neuen Sinns konstitutiv in jegliche Prozesse der Sinnkonstitution eingeschrieben ist. Im rekursiven Prozess der Produktion und Reproduktion von Sinn, d.h. an jeder Entscheidungsbzw. Selektionsstelle, wird Sinn transformiert bzw. neu konstituiert. Bei Luhmann werden psychische Systeme in die Umwelt des Systems verbannt und Selektion erscheint als eine Leistung des sozialen Systems. Bei Oevermann hingegen spielen die Entscheidungen handelnder, denkender Menschen eine konstitutive Rolle. Die Genese der konkreten Bedeutungsstruktur eines Textes ist bei Oevermann Resultat eines Wechselspiels zwischen dem Möglichkeitsraum universeller sowie historischer Regeln und den Entscheidungen der am Interaktions- bzw. Kommunikationsprozess beteiligten Individuen.15 Das Neue wird letztlich auf die Spontanitätsinstanz »I« zurückgerechnet. »Die Spontanitätsinstanz des ›I‹ läßt in der gegenwärtigen Konkretion zukunftsoffener Entscheidungssituationen praktisches Handeln emergieren. Das ›I‹ ist die Quelle möglicher Emergenz, die zugleich immer in eins fällt mit der Gegenwärtigkeit der sich vollziehenden Praxis.«16
15 Vgl. U. Oevermann/T. Allert/ E. Konau/ J. Krambeck: »Die Methodologie einer ›objektiven Hermeneutik‹ und ihre allgemeine forschungslogische Bedeutung in den Sozialwissenschaften«, S 380f. 16 U. Oevermann: »Genetischer Strukturalismus und das sozialwissenschaftliche Problem der Erklärung der Entstehung des Neuen«, S. 298. 66
METHODE UND MATERIAL
Bei Luhmann hingegen entsteht das Neue durch die basale Instabilität der Sinnform und ist insofern Resultat bzw. Produkt des sozialen Systems selbst.17 Gleich ob die kontinuierliche Produktion, Reproduktion und Transformation von Sinn im Interaktions- bzw. Kommunikationsprozess genetisch (1) der Spontanitätsinstanz »I«, (2) dem Wechselspiel zwischen Entscheidungen handelnder und denkender Individuen oder (3) der basalen Instabilität der Sinnform zugerechnet wird, bleibt die methodische Konsequenz gleich. Die Selektion bestimmten Sinns dient vor dem Hintergrund eines Horizonts möglichen Sinns als Verweis auf die Regeln (oder in Luhmann’scher Terminologie: die Relevanz- und Gültigkeitskriterien), die den jeweiligen konkreten Kommunikationsprozess strukturieren. ii) Bei Oevermann realisiert sich das Konkrete als Auswahl von Bestimmtem vor dem Hintergrund einer Welt objektiver Möglichkeiten. Empirisch wird wiederum das Konkrete des Falls erst im Kontrast zu dieser Welt objektiver Möglichkeiten als Konkretes sichtbar. Wichtig ist hierbei, dass diese Welt objektiver Möglichkeiten, aus denen dann etwas Bestimmtes gewählt wird, Oevermann zufolge als strukturierte Potentialität zu verstehen ist. Strukturiert wird dieser Möglichkeitsraum einerseits durch historische, andererseits aber durch universale Regeln. Das Zusammenspiel dieser beiden Arten von Regeln funktioniert »wie ein Algorithmus bezüglich einer Menge von infiniten Elementen: In einer endlichen Zahl von Operationsschritten läßt sich eindeutig bestimmen, welche Elemente zu einer bestimmten Menge – hier: der Menge sinnvoller Anschlüsse bzw. Vorgaben – gehören und welche nicht«.18 Anders gesagt: Als strukturierte Potentialität fungieren diese Regeln, weil sie bestimmte Möglichkeiten zulassen, andere aber (im Sinne von Zwängen) ausschließen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist die Differenz zwischen historischen und universellen Regeln. Universelle Regeln sind deshalb universell, weil soziale Interaktion bzw. Kommunikation ohne die Anwendung dieser Regeln nicht möglich ist. So gesehen sind sie diejenigen Regeln, die in jedem Interaktionsprozess, in jedem Kommunikationsprozess (wenn auch auf je spezifische Weise) verwendet bzw. reali17 Dies ist eine strikt differenzlogische Lesart der Luhmann’schen Systemtheorie. Zwar ist auch eine andere Lesart möglich. Hier, sowie bei der empirischen Untersuchung, steht allerdings Luhmanns differenzlogische Konzeptualisierung sozialer Sinnkonstitutionsprozesse zur Diskussion. So ist allein die Kompatibilität mit oder genauer: die Neutralität der Methode gegenüber den differenzlogischen Annahmen der Systemtheorie von Relevanz. 18 U. Oevermann: »Genetischer Strukturalismus und das sozialwissenschaftliche Problem der Erklärung der Entstehung des Neuen«, S. 271. 67
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
siert werden.19 Im Sprachgebrauch der Systemtheorie handelt es sich beim Oevermann’schen Ansatz somit um eine Identitätstheorie, die auf ontologischen Annahmen über die Wirklichkeit beruht.20 Im Gegensatz dazu ist der Möglichkeitshorizont systemtheoretisch als systemintern konstituierte Welt zu verstehen, die sich an jeder Selektionsstelle mitverändert, d.h. neu konstituiert wird.21 Es gibt, mit anderen Worten, in der Systemtheorie keinen infiniten Regress verhindernden Letzthorizont aller Möglichkeiten.22 Unabhängig davon, ob Sinn aus einer Welt objektiver Möglichkeiten oder aus einer systemintern konstituierten Welt selektiert wird, ist aber für die Methode eine Annahme ausschlaggebend, die der objektiven Hermeneutik wie der Systemtheorie gemeinsam ist. Sinnkonstitutionsprozesse sind als rekursive Prozesse zu verstehen, in denen die Selektion bestimmten Sinns durch die Verortung im Horizont bereits bestehender Verweisungszusammenhänge ihre konkrete Bedeutung erlangt. Der Kontrast zwischen der Möglichkeitswelt und der konkreten Selektion dient als Verweis auf die Regeln, die den konkreten Kommunikationsprozess strukturieren. Diese methodische Konsequenz gilt sowohl, wenn Sinn als Selektion aus einer Welt objektiver Möglichkeiten als auch wenn Sinn als Selektion aus einer systemintern konstituierten Welt von Möglichkeiten verstanden wird. iii) Ziel einer objektiv hermeneutischen Sequenzanalyse ist es, die objektive, d.h. emergente oder soziale Bedeutung eines Textes zu ver19 Vgl. U. Oevermann/T. Allert/E. Konau/J. Krambeck: »Die Methodologie einer ›objektiven Hermeneutik‹ und ihre allgemeine forschungslogische Bedeutung in den Sozialwissenschaften«, S 387f.; vgl. U. Oevermann »Genetischer Strukturalismus und das sozialwissenschaftliche Problem der Erklärung der Entstehung des Neuen«, S. 283f. 20 Vgl. N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 21. 21 Auch hier ist anzumerken, dass sich bei Luhmann Aussagen finden, die auf ein ontologisches Verständnis von Welt als das woraus aller Möglichkeiten, schließen lassen. In diesem Kontext ist allerdings, wie gesagt, allein die Kompatibilität der Methode der objektiven Hermeneutik mit bzw. die Neutralität gegenüber einem differenzlogischen Verständnis von Sinnkonstitution von Relevanz. 22 So bestimmt Oevermann die entscheidende Differenz der objektiven Hermeneutik zu der Systemtheorie folgendermaßen: »daß in Luhmanns konstitutionstheoretischer Grundlegung gerade nicht der systematische kategoriale Unterschied zwischen den beiden Parametern festgehalten, sondern reduktionistisch auf der Ebene der subjektiven Dispositionsfaktoren, also der Ebene des zweiten Parameters eingedampft wird«. Ulrich Oevermann: »Die Methode der Fallrekonstruktion in der Grundlagenforschung sowie der klinischen und pädagogischen Praxis«, in: Klaus Kraimer (Hg.), Die Fallrekonstruktion; Sinnverstehen in der sozialwissenschaftlichen Forschung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000, S. 58-156, hier S. 67. 68
METHODE UND MATERIAL
stehen. Die Fähigkeit des Interpreten, die objektive Bedeutung eines Textes zu verstehen, beruht nach Oevermann zum einen auf seiner Sozialisation in der entsprechenden Kultur, d.h. auf seiner Kenntnis der historischen Regeln. Zum anderen (und noch grundlegender) beruht, so Oevermann, die Fähigkeit des Interpreten, diese objektive Bedeutung sinnadäquat zu verstehen, auf einer allgemeinen, anthropologisch begründeten, sprachlichen Kompetenz. Auch hierin schreiben sich die identitätstheoretischen Annahmen der objektiven Hermeneutik fort. Die Systemtheorie kann zwar diese anthropologischen bzw. identitätstheoretischen Annahmen nicht mittragen. Diese Kompetenzzuschreibung jedoch trotzdem im Rahmen der differenzlogischen Verstehensund Sozialisationskonzepte der Systemtheorie haltbar. Verstehen bezeichnet in der Systemtheorie die Antwort auf ein Bezugsproblem: das Problem der Intransparenz psychischer und sozialer Systeme füreinander.23 Dabei ist Selbstreferentialität, d.h. Differenz, die Bedingung von Beobachtung und somit auch von Verstehen. So ist Verstehen immer systemrelativ. Allein selbstreferentielle Systeme lassen sich verstehen. Und sie werden verstanden, indem sie von anderen ebenfalls selbstreferentiell operierenden Systemen daraufhin beobachtet werden, wie sie mit ihrer eigenen Selbstreferenz verfahren. Verstehen ist also eine spezifische Form der Beobachtung – nämlich der Beobachtung davon, wie ein anderes System die Unterscheidung von System und Umwelt intern prozessiert. Beim Verstehen geht es darum, dass ein verstehendes System den Gebrauch bestimmter Unterscheidungen beim anderen, verstandenen System unterstellt.24 »Verstehen als Merkmal von Kommunikationssystemen bezieht sich hier auf die Sequentialität von Kommunikationen, in welcher der Sinn einer Information/Mitteilung überhaupt erst entsteht. Aus dem Anschlußzusammenhang zeitlich nachfolgender Kommunikationsbeiträge erschließt sich erst die Relation, in der die einzelnen Akte zueinander stehen und die den Sinn des Kommunikationsgeschehens ausmacht.«25
23 Vgl. Woflgang Ludwig Schneider: »Hermeneutik sozialer Systeme. Konvergenzen zwiscehn Systemtheorie und philosophischer Hermeneutik«, in: Zeitschrift für Soziologie Bd. 21, S. 420-439. 24 Vgl. Georg Kneer: »Beobachten, Verstehen und Verständigung. Zur Reformulierung hermeneutischer Grundkonzepte in der Diskursanalyse der Systemtheorie«, in: Tilmann Sutter (Hg.), Beobachtung verstehen, Verstehen beobachten. Perspektiven einer konstruktivistischen Hermeneutik, Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 50-69, hier S. 62f. 25 Alfons Bora: »Konstruktion und Rekonstruktion. Zum Verhältnis von Systemtheorie und objektiver Hermeneutik«, in: G. Rusch/S.G. Schmidt (Hg.), Konstruktivismus und Sozialtheorie (1994), S. 282-330, hier S. 289. 69
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
Auch in der Systemtheorie wird die Kompetenz einer für ein adäquates Verstehen notwendigen Interpretationsleistung durch die Sozialisationstheorie begründet. Allerdings handelt es sich hier um eine differenzlogische Sozialisationstheorie. Nicht durch gemeinsames Wissen, Deutungsmuster oder eine gemeinsame Lebenswelt wird das Verstehen sozialer Bedeutungsstrukturen möglich. Allein die Entwicklung analoger Differenzschemata über die Zeit aufgrund der strukturellen Kopplung von psychischen und sozialen Systemen (mit anderen Worten: der CoEvolution von psychischen und sozialen Systemen) ermöglicht richtiges, oder genauer: adäquates Verstehen.26 Sofern Verstehen ein systemrelativer Beobachtungsvorgang ist, kann es kein systemexternes Kriterium für richtiges Verstehen geben. Dies heißt allerdings nicht, dass es kein Kriterium für richtiges Verstehen gibt. In der sozialen Praxis lässt sich richtiges Verstehen letztlich nur evolutionär beurteilen. Richtig verstanden ist etwas dann, wenn sich das Verstehen im entsprechenden Kontext bewährt. Gleich ob objektiv hermeneutisch oder systemtheoretisch begründet, bleibt die empirische Konsequenz die gleiche. Beim Beobachten bzw. bei der Sequenzanalyse eines Textes ist eine Interpretation richtig, sofern sie sich durch den ganzen Text durchhalten lässt.27 Theoretisch könnten mehrere Interpretationen am Ende eines Textes nebeneinander bestehen. In der Regel kann sich in der sequenzanalytischen Praxis allerdings nur eine Interpretationsmöglichkeit bis zum Ende des Textes bewähren.28 Fazit: Die Regeln einer objektiv hermeneutischen Sequenzanalyse sind entweder mit den konstruktivistischen Annahmen der Systemtheorie kompatibel oder bleiben gegenüber dem spezifisch differenzlogischen Konstruktivismus der Systemtheorie neutral. Zum einen stimmen 26 Vgl. T. Sutter: »Rekonstruktion und doppelte Kontingenz«, S. 307f. Auch hier ist anzumerken, dass in der Ausformulierung des Sprachkonzepts der Systemtheorie implizite identitätstheoretische Annahmen untergeschoben werden könnten. So spielt eine nur als anthropologisch zu begründende Funktion der Sprache eine zentrale Rolle in der Erklärung ihrer von Sprache für die Kopplung von psychischen und sozialen Systemen. 27 Schneider vergleicht die Situation des Interpreten mit der Situation der doppelten Kontingenz, indem, genetisch betrachtet, der Status einer Äußerung erst durch den Anschluss an diese Äußerung bestimmt wird und – beobachtungstheoretisch betrachtet – bestimmbar wird. Vgl. W.L. Schneider: »Objektive Hermeneutik als Forschungsmehtode der Systemtheorie«, S. 134f. 28 Nassehi unterscheidet zwischen zwei systemtheoretischen Möglichkeiten, Verstehen zu definieren. Vgl. Armin Nassehi: »Kommunikation Verstehen. Einige Überlegungen zur emirischen Anwendbarkeit einer systemtheoretisch informierte Hermeneutik«, in: T. Sutter (Hg.), Beobachtung verstehen, Verstehen beobachten« (1997), S. 134-163. 70
METHODE UND MATERIAL
die Systemtheorie und die objektive Hermeneutik in ihrer Gegenstandsdefinition überein. Beide verstehen soziale Sinnkonstitutionsprozesse als rekursive Prozesse der Produktion und Reproduktion von Sinn und sozialen Sinn als emergente Realität, die nicht mit dem intendierten Sinn einzelner Subjekte (oder psychischer Systeme) gleichzusetzen ist. Zum anderen sind in den Punkten, in denen die Systemtheorie ein von den Annahmen der objektiven Hermeneutik divergierendes Verständnis sozialer Sinnkonstitutionsprozesse hat, äquivalente, differenzlogische Begründungen des sequenzanalytischen Verfahrens möglich. Insofern bleibt die Methode der objektiven Hermeneutik gegenüber den zu prüfenden differenzlogischen Annahmen der Systemtheorie neutral. Gemäß der Methode soll die Sequenzanalyse – um unvermeidbare Verzerrungen der spezifischen Wahrnehmung des Interpreten möglichst zu reduzieren – in einer Gruppe durchgeführt werden. Ein Teil des Materials wurde in der Methodenwerkstatt des Graduiertenkollegs »Auf dem Weg in die Wissensgesellschaft« diskutiert. Zusätzlich würde über ein Jahr lang in wöchentlich stattfindenden Sitzungen einer kleinen Gruppe hermeneutisch ausgebildeter KollegInnen interpretiert.
2. »The President’s Council on Bioethics« Als Material dienen die Transkripte der Sitzungen des amerikanischen Bioethikrats »The President’s Council on Bioethics«. Der Bioethikrat wurde im November 2001 gegründet und tagte zum ersten Mal im Januar 2002. Er findet also seinen Anfang in einer politisch wie medial durch die Ereignisse des 11. September geprägten Landschaft. Der Rat findet alle ein bis zwei Monate in der Regel für zwei Tage zusammen. Er ist vom Präsidenten eingesetzt und mit einem Mandat für die Dauer von zwei Jahren ausgestattet. Wie bereits im Gründungsdokument als Möglichkeit vorgesehen, ist dieses Mandat seitdem vom Präsidenten verlängert worden. Der Rat besteht, einschließlich des Vorsitzenden, aus insgesamt 18 Mitgliedern. Mit Ausnahme eines Journalisten sind sämtliche Mitglieder WissenschaftlerInnen aus unterschiedlichen geistes- und naturwissenschaftlichen Disziplinen (darunter Theologen, Politologen, Juristen, Mediziner, Bioethiker, Biologen usw.), die vom Präsidenten ernannt werden. Die Aufgabe des Rats, wie sie im Gründungsdokument beschrieben wird, besteht darin, den Präsidenten »on bioethical issues that may emerge as a consequence of advances in biomedical science and technology« zu beraten. Im Gründungsdokument erscheinen folgende Aufgaben als Teil dieser präsidialen Beratungsfunktion:
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IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
»1. to undertake fundamental inquiry into the human and moral significance of developments in biomedical and behavioral science and technology; 2. to explore specific ethical and policy questions related to these developments; 3. to provide a forum for a national discussion of bioethical issues; 4. to facilitate a greater understanding of bioethical issues; and 5. to explore possibilities for useful international collaboration on bioethical issues«.
Bereits diese Funktionsbestimmung macht deutlich, dass der Rat mit dem Problem konfrontiert ist, sehr unterschiedliche Erwartungen zu integrieren. So sieht der Auftrag, neben einer »fundamental inquiry«, eine Beratung in konkreten Regulierungsfragen vor. Darüber hinaus soll der Rat zugleich eine Art pädagogischen oder aufklärerischen Auftrag erfüllen (»to facilitate a greater understanding of bioethical issues«). Den Kriterien der Mitgliederauswahl zufolge handelt es sich hier um einen Expertenrat. Zugleich soll er aber als »forum for a national discussion« dienen, also öffentlich wirksam sein. Anzumerken bleibt, dass der Rat nicht beauftragt ist, im Konsens einen gemeinsamen Standpunkt zu den zur Diskussion stehenden Themen zu erarbeiten. Vielmehr kann er sich auch entscheiden, lediglich die unterschiedlichen, für das Thema relevanten Gesichtspunkte darzustellen. Das kommunikative Aufeinandertreffen unterschiedlicher Funktionssysteme in den Kommunikationsprozessen des Rats war allerdings nicht erst aufgrund der spezifischen, im Gründungsdokument erkennbaren Eigenschaften zu erwarten. Allein die Tatsache, dass es sich hier um eine politische Beratungsinstanz handelt, die aus Experten unterschiedlicher wissenschaftlicher Fachdisziplinen zusammengesetzt ist, gibt schon Grund zu dieser Annahme. Die für wissenschaftliche Politikberatungsinstanzen geradezu konstitutive Problematik der Integration unterschiedlicher Rationalitäten (oder in systemtheoretischer Sprache: unterschiedlicher Relevanz- und Gültigkeitskriterien) ist ein in der Fachliteratur bekanntes Phänomen.29 Ethikräte sehen sich zudem oft mit der Problema29 Vgl. Harald Heinrichs: Politikberatung in der Wissensgesellschaft. Eine Analyse umweltpolitischer Beratungssysteme, Wiesbaden: Deutsche Universitäts Verlag 2002; Scheila Jasanoff: The fifth branch. Science advisers as policymakers, Cambridge, Mass. [u.a].: Harvard University Press 1990; Hans Jürgen Kleinsteuber: »Technologiepolitische Kommunikation«, in: Otfried Jarren/ Ulrich Sarcinelli (Hg.), Politische Kommunikation in der demokratischen Gesellschaft. Ein Handbuch, Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002, S. 608-615; Gerhard Vowe: »Forschungspolitische Kommunikation«, in: Otfried Jarren/ Ulrich Sarcinelli (Hg.), Politische Kommunikation in der demokratischen Gesellschaft. Ein Handbuch, Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002, S. 595-607; Peter Wein72
METHODE UND MATERIAL
tik konfrontiert, neben wissenschaftlichen und politischen Relevanz- und Gültigkeitskriterien auch Kommunikationsformen zu integrieren, die moralischen oder religiösen Anschlussregeln folgen. Bei der Auswahl des Untersuchungsmaterials muss auch den Bedingungen einer objektiv hermeneutischen Sequenzanalyse Rechnung getragen werden. Die objektive Hermeneutik ist ein qualitatives Interpretationsverfahren. Als Verfahren, das den Anspruch erhebt, methodisch kontrolliert vorzugehen, ist es auf die Übersetzung sozialer Wirklichkeit in schriftlich verfasste Texte angewiesen. Bedingung einer objektiv hermeneutischen Analyse ist also die Gegebenheit »natürlicher Protokolle«. Nur so ist eine detaillierte, intersubjektiv nachvollziehbare Analyse möglich. Diese Bedingung ist beim »President’s Council on Bioethics« erfüllt. Wie im »public information act« vorgeschrieben, wurden die Sitzungen protokolliert und die Aufzeichnungen transkribiert. Diese Transkriptionen sind im Internet erhältlich.30 Im Idealfall liegen die Protokolle und Transkripte von den Kommunikationsprozessen, die einer Sequenzanalyse unterzogen werden sollen, nicht nur als Wortprotokolle vor. Vielmehr sollte das Protokoll auch alle Formen verbaler und nonverbaler Kommunikation dokumentieren. Dies umfasst beispielsweise Variationen in Intonation und Lautstärke, Gesprächspausen, Gestik usw. Die Forderung nach einer dermaßen detaillierten Transkription wird damit begründet, dass auch diese Kommunikationsformen interpretationsbedürftige Sinnselektionen enthalten. In dieser Hinsicht weichen die Protokolle der Sitzungen des amerikanischen Bioethikrats von den idealen Anforderungen an das Material ab. Zwar handelt es sich um wörtliche Protokolle der Sitzungen, alle anderen Bedeutungsnuancierungen sind jedoch im Text nicht mehr sichtbar. Obwohl nicht ideal, stellt dies für eine Sequenzanalyse kein grundlegendes Problem dar. Nach den Prinzipien der objektiven Hermeneutik sollten die an solchen Nuancierungen erkennbaren Selektionsregeln auch an anderen Stellen des Textes sichtbar werden. Gegenstand der empirischen Untersuchung ist nicht der Rat als Ganzes, sondern lediglich die Sitzungen des Rats. Insofern handelt es sich um sowohl organisations- wie auch interaktionssystemspezifische Kommunikationsprozesse. Die Kommunikationsprozesse des Rats reproduzieren, mit anderen Worten, nicht nur die Relevanz- und Gültigkeitskriterien unterschiedlicher Funktionssysteme, sondern auch die Relevanz- und Gültigkeitskriterien des Rats als Organisation sowie als Ingart: Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, Weilerswist: Velbrück Wiss 2001. 30 Vgl. http://www.bioethics.gov. 73
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
teraktionssystem. Nun ist es, Luhmann zufolge, ein charakteristisches Merkmal sowohl von Organisationen als auch von Interaktionssystemen, dass sie multi-referentiell sind. Organisationen und Interaktionssysteme können die Relevanz- und Gültigkeitskriterien mehrerer Funktionssysteme integrieren, ohne die eigene Selbstreferentialität aufzuheben. Insofern stellt sich die Frage, inwiefern die zuvor ausgearbeiteten Kriterien der Kompatibilität von System/Umwelt-Wechselwirkung mit Luhmanns differenzlogischem Verständnis der Selbstreferentialität gesellschaftlicher Teilsystemen auch im spezifischen Fall von Organisationen und Interaktionssystemen gelten. Gezeigt werden soll, dass in organisationsund interaktionssystemspezifischen Kommunikationsprozessen analytisch zwischen der Reproduktion von organisations- und interaktionssystemspezifischer Selbstreferentialität und von der Selbstreferentialität von Funktionssystemen unterschieden werden kann. Organisationen und Interaktionssysteme sind nur insofern in der Lage die Selbstreferentialität gesellschaftlicher Teilsysteme zu integrieren, wie die Differenz zwischen den Funktionssystemen strukturwirksam ist. Insofern muss, Luhmanns Differenzlogik zu folge, die Differenz von operativ geschlossenen, selbstreferentiellen Funktionssystemen auch in den Kommunikationsprozessen von multi-referentiellen Organisationen und Interaktionssytemen strukturwirksam sein. Schließlich muss bei der Operationalisierung dieser Fragestellung beantwortet werden, wie Differenz geprüft werden kann, ohne Differenz vorauszusetzen. Um zu fragen, ob das »Aufeinandertreffen« von beispielsweise Wissenschaft und Politik mit Luhmanns differenzlogischem Verständnis von der Selbstreferentialität gesellschaftlicher Funktionssysteme kompatibel ist, muss vorausgesetzt werden, dass es eine Differenz zwischen Politik und Wissenschaft gibt. Bei genauerer Betrachtung stellt sich allerdings heraus, dass dies lediglich ein begriffliches Problem ist. Zu unterscheiden ist nämlich zwischen einer analytischen Perspektive und dem Anspruch von Luhmanns operativem Realismus, die reale Operationsweise sozialer Systeme zu beschreiben. So wird Luhmanns Konzept von gesellschaftlichen Funktionssystemen benutzt, um analytisch zwischen beispielsweise Politik und Wissenschaft zu unterscheiden. Ausgehend von dieser analytischen Unterscheidung kann gefragt werden, inwiefern sich die empirisch beobachtbare Wechselwirkung zwischen diesen beiden Funktionssystemen tatsächlich differenzlogisch verstehen lässt, d.h. inwiefern die unterstellte Differenz tatsächlich wirksam ist.
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METHODE UND MATERIAL
Eine multi-referentielle Organisation Nach Luhmanns Definition gesellschaftlicher Teilsysteme ist der Bioethikrat eine Organisation. Wie alle Systeme fungieren Organisationen als Form der Reduktion von Komplexität – und als Teilsysteme als Form der Reduktion von Kontingenz. Eine Organisation differenziert sich gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt über Entscheidung und Mitgliedschaft aus. Die für Organisationen spezifische Selektionsweise ist nach Luhmann die Selektion von Kommunikation über Entscheidungen.31 Durch jede Entscheidung wird ein Möglichkeitsraum erzeugt, der durch weitere Entscheidungen reduziert werden muss. Als Grundlage weiterer Entscheidungen fungieren bereits getroffene Entscheidungen sowie auf der Meta-Ebene Entscheidungsprämissen. Die Selbstreferentialität der Entscheidungsprozesse von Organisationen beruht, so Luhmann, auf der Unterscheidung zwischen Mitglied/Nicht-Mitglied. Die Mitgliedschaft in einer Organisation verpflichtet die Mitglieder zur Akzeptanz der organisationsspezifischen Entscheidungen.32 Erst unter der Bedingung der Unterscheidung Mitglied/Nicht-Mitglied können sich bereits getroffene Entscheidungen stabilisieren und als Grundlage weiterer Entscheidungen fungieren. »The President’s Council on Bioethics« ist nach dieser Definition eine Organisation, weil die Kommunikationsbeiträge der an den Kommunikationsprozessen des Rats Beteiligten über ihren Mitgliedsstatus konditioniert werden. Als Mitglieder der Organisation haben sich die Kommunikationsteilnehmer demnach an die Entscheidungen und Entscheidungsprämissen der Organisation zu halten. Dass der Rat ein Kommunikationssystem ist, das sich über Entscheidungen organisiert, kann zum einen daran erkannt werden, dass er mit einem Gründungsdokument konstituiert wurde. Mit diesem Dokument werden die die Identität der Organisation bestimmenden Ziele und Aufgaben festgelegt sowie grundlegende organisatorische Bestimmungen getroffen (beispielsweise Mitgliedschaftsbestimmungen festgelegt, Befugnisse erteilt usw.). Das Gründungsdokument fungiert als eine für die Mitglieder der Organisation verbindliche, alle weiteren Prozesse strukturierende Entscheidungsprämisse. Zum anderen werden die »Treffen« des Rats zeitlich sowie thematisch organisiert. Diese den Treffen vorhergehenden Entscheidungen fungieren als für die Mitglieder der Organisation verbindliche Entscheidungen. 31 Vgl. N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 830f. 32 Vgl. Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung Bd.2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Köln [u.a.]: Westdeutscher Verlag 1975, S.12; N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 829f. 75
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
Von zentraler Bedeutung für diese Untersuchung ist die Eigenschaft von Organisationen als multi-referentielle Systeme.33 Erst in modernen – und d.h. funktional differenzierten – Gesellschaften entstehen Organisationen.34 Über ihr Leistungsverhältnis zu anderen Systemen definiert, haben Organisationen eine besondere Funktion. Aufgrund ihrer Entscheidungsfähigkeit spielen Organisationen eine besondere Rolle bei der Entwicklung funktionssystemspezifischer Programme.35 Des Weiteren unterhalten sie oft Leistungsbeziehungen zu mehreren Systemen.36 Kehrseite dessen ist, dass sie auf die Leistungen mehrerer Systeme angewiesen sind. So werden sie mit den Erwartungsstrukturen unterschiedlicher Funktionssysteme konfrontiert. Als Resultat fungieren für Organisationen oft mehrere Systeme als Fremdreferenz. Anders als Funktionssysteme, die sich über die Unterscheidung zwischen Selbst- und Fremdreferenz von der Umwelt abgrenzen, können sich bei Organisationen mehrere Funktionssysteme »einnisten«.37 Es ist nämlich für Organisationen möglich, die Codes und Erwartungsstrukturen fremder Systeme zur Grundlage eigener Entscheidungen zu machen.38 Bedingt durch (1) die spezifische Operationsweise von Organisationen (die Kommunikation von Entscheidungen) sowie (2) die spezifische Art der gesellschaftlichen Verortung (funktionale Leistungsbeziehungen zu mehreren gesellschaftlichen Funktionssystemen) können in Organisationen – anders als in Funktionssystemen – die Codes und Erwartungsstrukturen mehrerer fremder Systeme eine konstitutive Rolle in der Strukturierung organisationsspezifischer Kommunikationsprozesse spielen. Die Umweltanforderungen unterschiedlicher Funktionssysteme werden in multi-referentiellen Organisationen über organisationsspezifische Programme integ-
33 Vgl. A. Bora: »Öffentliche Verwaltung zwschen Recht und Politik«; Tanja Lieckweg: »Strukturelle Kopplung von Funktionssystemen ›über‹ Organisation«, in: Soziale Systeme Bd. 7 (2001), S. 267-289; Niklas Luhmann: Die Politik der Gesellschaft Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002, S. 398; Christof Wehrsig/Veronika Tacke: »Funktionen und Folgen informatisierter Organisationen«, in: Thomas Malsch/Ulrich Mill (Hg.), ArBYTE. Modernisierung der Industriesoziologie? Berlin: Ed. Sigma 1992, S. 219-239. 34 Vgl. N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 827. 35 Vgl. T. Lieckweg:«Strukturelle Kopplung von Funktionssystemen ›über‹ Organisationen«, S. 272f. 36 Vgl. Ingo Bode/Hanns-Georg Brose: »Zwischen den Grenzen. Intersystemische Organisationen im Spannungsfeld funktionaler Differenzierung«, in: Veronika Tacke (Hg.), Organisation und gesellschaftliche Differenzierung, Wiesbaden: Westdeutscherverlag 2001, S. 112-140, hier S. 116. 37 Vgl. N. Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, S. 398f. 38 Weick charakterisiert die Kopplung über Entscheidungen als »lose coupling«. Vgl. Karl Weick: Der Prozess des Organisierens, Frankfurt/Main:Suhrkamp 1985. 76
METHODE UND MATERIAL
riert. Und dies bedeutet wiederum, dass die Codes und Erwartungsstrukturen unterschiedlicher Funktionssysteme als Prämissen eigener, organisationsspezifischer Entscheidungen bei der Strukturierung von organisationsspezifischen Kommunikationsprozessen konstitutiv wirksam sind. Hieraus ergeben sich für die Operationalisierung der theoretischen Fragestellung zwei Konsequenzen. Zum einen ist es möglich, analytisch zwischen den Kommunikationsprozessen der Organisation und den daran beteiligten Kommunikationsprozessen unterschiedlicher Funktionssysteme zu unterscheiden.39 Insofern sind Organisationen gerade aufgrund ihrer Multireferentialität Kontexte, die es erlauben, das kommunikative »Aufeinandertreffen« unterschiedlicher Referenzsysteme zu beobachten. Organisationsspezifische Strukturen garantieren nämlich die Kontinuität des Kommunikationsprozesses trotz eines Wechselns der Referenzsysteme. Die empirische Konsequenz ist, dass auf der Ebene von Funktionssystemen das Fehlen von Anschluss beobachtet werden kann, während auf der Ebene der Organisation die Kommunikation fortgesetzt wird. Das Fehlen von Anschlussmöglichkeiten ist also unter diesen besonderen Bedingungen in Kommunikationsprozessen sichtbar. Auf den Punkte gebracht: Gerade weil es sich um Kommunikationsprozesse einer Organisation handelt, kann das »Aufeinandertreffen« unterschiedlicher Funktionssysteme beobachtet werden. Des Weiteren soll nicht die Kompatibilität der Rolle funktionssystemspezifischer Codes in den Kommunikationsprozessen der Sitzungen mit der Selbstreferentialität des Rats als Organisation hinterfragt werden. Vielmehr ist zu fragen, inwiefern die Wechselwirkung zwischen Funktionssystemen mit Luhmann differenzlogischem Verständnis der Selbstreferentialität von Funktionssystemen kompatibel ist. Auch in den Kommunikationsprozessen einer Organisation ist nämlich davon auszugehen, dass die Grenze, d.h. die Differenz zwischen der Selbstreferentialität unterschiedlicher Funktionssysteme bestehen bleibt. Nur dann macht es überhaupt Sinn, von einem Einnisten unterschiedlicher Funktionssysteme in Organisationen zu sprechen. So ist auch von den Kommunikationsprozessen einer Organisation zu erwarten, dass die funktionssystemspezifische Selbstreferentialität als Grenze der Anschlussfähigkeit operativ wirksam ist. Die Frage ist also, inwiefern die systemtheoretisch postulierte Differenz zwischen Funktionssystemen trotz der organisationsspezifischen Form der Integration besteht bzw. trotz Integration erhalten bleibt.40 39 Vgl. A. Bora: Differenzierung und Inklusion S. 178 und A. Bora: »Öffentliche Verwaltung zwischen Recht und Politik«. 40 Integration bedeutet bei Luhmann Reduktion der Freiheitsgrade der integrierten Teilsysteme. Insofern ist Integration im Rahmen von Luhmanns 77
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
Die Sitzungen als Kommunikation unter Anwesenden Ziel dieser Arbeit ist nicht, den Bioethikrat als Organisation zu untersuchen, sondern diese Organisation als Material zu nutzen, um Kommunikationsprozesse, in denen unterschiedliche Funktionssysteme aufeinandertreffen, zu beobachten. Dem theoretischen Ziel sowie der methodischen Herangehensweise entsprechend wird nur ein »Ausschnitt« des Bioethikrats beobachtet: die Transkripte der Sitzungen des Rats. Neben der Selbstreferentialität einer Organisation realisieren diese Kommunikationsprozesse die Selbstreferentialität eines Interaktionssystems. Luhmann definiert Interaktionssysteme als Systeme, welche sich über die Unterscheidung zwischen anwesend/abwesend definieren. So bilden alle Kommunikationsprozesse, die als Kommunikation unter Anwesenden charakterisiert werden können, Interaktionssysteme. Entscheidend ist hierbei, dass die die Schließung bedingende Unterscheidung zwischen Anwesenheit und Abwesenheit nicht als physikalische Realität zu verstehen ist, sondern als sozial konstruierte (und somit konstituierte) Realität. Physikalisch Anwesende fungieren ebenso wie physikalisch Abwesende nur insofern als anwesend bzw. abwesend, als sie in der Kommunikation als Teilnehmer oder genauer: als anwesend bzw. abwesend behandelt werden.41 Auch als Interaktionssystem weist der Bioethikrat besondere Merkmale auf. Die Sitzungen des Rats werden transkribiert und sind der Öffentlichkeit zugänglich. Insofern sind die Kommunikationsprozesse nicht nur als Kommunikation unter Anwesenden, sondern zugleich als öffentliche Kommunikation strukturiert. Dieser zweifachen Strukturierung der Kommunikationsprozesse entsprechend gibt es eine differenzierte, nicht lediglich auf unterschiedliche Mitgliedschaftsrollen zurückzuführende Zuschreibung von Teilnehmerrollen. Die Öffentlichkeit wird als anwesend behandelt. Als solche wird die Öffentlichkeit zum Teil als Adressat und zum Teil als Publikum der Kommunikation konstruiert.42 Differenzlogik als Form der Wechselwirkung zwischen gesellschaftlichen Teilsystemen zu verstehen, welche die Grenzen der Teilsysteme respektiert bzw. die Selbstreferentialität der Teilsysteme nicht aufhebt. Vgl. N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 603f. 41 Vgl. A. Kieserling: Kommunikation unter Anwesenden, S. 65f. 42 Dies zeigt sich beispielsweise an folgenden Stellen: »I was going to make that comment that is, all right, so we are on CNN or one hopes we are in a situation where we could actually deliberate with people who are convinced or at least very interested in these kinds of things and think they are positive, and we want to have a dialogue that is not just about regulations but about morality and a more rich discussion. How do we communicate? How do we speak without sounding, you know, paternalistic? You know, 78
METHODE UND MATERIAL
Für die Fragestellung dieser Arbeit ist der Rat allerdings ebensowenig in seiner Spezifität als Organisation wie als Interaktionssystem von Interesse. Der Rat ist hier lediglich als »Ort«, an dem unterschiedliche Funktionssysteme kommunikativ aufeinandertreffen, von Relevanz. Zu fragen bleibt allerdings, inwiefern die Systemtheorie an das »Aufeinandertreffen« unterschiedlicher Funktionssysteme im Kontext von Interaktionssystemen andere Erwartungen stellt als an solche in anderen gesellschaftlichen Kontexten. Die Antwort ähnelt der der Frage nach der Bedeutung der Tatsache, dass der Bioethikrat eine Organisation ist. Sowohl Interaktionssysteme als auch Organisationen sind Systeme, die dadurch charakterisiert sind, dass sie Referenzen anderer Systeme benutzen können, um die eigene Selbstreferentialität zu reproduzieren. Interaktionssysteme können funktionssystemspezifische Codes wählen, um ihre Kommunikationsprozesse zu strukturieren.43 So werden beispielsweise die Kommunikationsprozesse in einem Seminar üblicherweise durch die Unterscheidung wahr/unwahr strukturiert. Zugleich können aber Kommunikationsprozesse in Interaktionssystemen den Code wechseln bzw. ohne Identitätsverslust bzw. Selbstreferentialitätsunterbrechung »aus der Enge einer codierten in die Weite einer decodierten Kommunikation« zurückkehren.44 Ein wissenschaftliches Thema kann also durch ein politisches bzw. die wissenschaftliche Thematisierung eines Sachverhalts durch eine politische Diskussion darüber ersetzt werden, ohne dass der Kommunikationsprozess als Kommunikation unter Anwesenden unterbrochen wird. In dieser Hinsicht fungiert die Orientierung an funktionssystemspezifischen Codes als variables Relevanzkriterium, das verändert werden kann, ohne die Selbstreferentialität bedingende Unterscheidung zwischen anwesend/abwesend zu unterminieren. Für die Fragestellung dieser Arbeit ist von zentraler Bedeutung, dass es aufgrund dieser Eigenschaft von Interaktionssystemen möglich ist, das kommunikative Aufeinandertreffen unterschiedlicher Funktionssysteme in den Kommunikationsprozessen eines Interaktionssystems zu beobachten. Sofern die Kommunikationsprozesse eines Interaktionssyswe know what is best for you and so forth. I think that is a major challenge for us.« (First meeting, Session 3 »How to do Bioethics«) »I think that would enable us all to agree and I think it might also be a contribution in the sense that if we were to issue a paper whose title were this formulation that might actually have an effect on what terminology is used in the future. We may or may not succeed if we invent new terminology but we will be ready and we will have something that will be in the public eye and we might actually have an influence over the terminology. « (Second Meeting Session 1 »Proper use of language«). 43 Vgl. A. Kieserling: Kommunikation unter Anwesenden, S. 79ff. 44 Vgl. ebd., S. 80f. 79
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
tems funktionssystemspezifische Unterscheidungen zur Reproduktion der eigenen Selbstreferentialität »benutzen«, reproduzieren die gleichen Kommunikationsprozesse zugleich sowohl das Interaktionssystem als auch die jeweils »benutzten« Funktionssysteme. Die empirische Konsequenz ist, dass ein und derselbe Kommunikationsprozess daraufhin beobachtet werden kann, wie er zur Reproduktion der Selbstreferentialität eines Interaktionssystems, einer Organisation bzw. unterschiedlicher Funktionssysteme beiträgt. Bedingung einer solchen Beobachtung ist die Möglichkeit, analytisch zwischen der Reproduktion eines Funktionssystems und einer Organisation bzw. eines Interaktionssystems zu trennen. Und dies ist im Rahmen von Luhmanns Systemtheorie durchaus möglich. Während beispielsweise die Unterscheidung zwischen wahr/unwahr aus der Perspektive des Interaktionssystems (bzw. gegebenenfalls der Organisation) als Strukturwahl erscheint, ist die Orientierung an dieser Unterscheidung Bedingung der Reproduktion der Selbstreferentialität des Funktionssystems Wissenschaft. Kommunikationsofferten eines Interaktionssystems, die sich an dieser Unterscheidung orientieren, sind demnach als Kommunikationsofferten, welche das Wissenschaftssystem produzieren, reproduzieren und transformieren, zu verstehen. Diese Kommunikationsofferten können auf ihre Bedeutung für die Reproduktion und Transformation des Wissenschaftssystems hin beobachtet werden ebenso wie auf ihre Auswirkung auf die Reproduktion und Transformation des Interaktionssystems. Im ersteren Fall ist beispielsweise die Bedeutung für die Transformation von Theorien, im letzteren Fall beispielsweise für die Verteilung von Sprecher und Zuhörerrollen bzw. von Zugehörigkeits- und Statusfragen von Interesse. Festzuhalten ist auch hier: Im Kontext der Fragestellung dieser Arbeit ist nicht relevant, ob die Form der Wechselwirkung zwischen unterschiedlichen Funktionssystemen mit der Selbstreferentialität des Interaktionssystems kompatibel ist. Vielmehr ist zu fragen, ob die Wechselwirkung mit der systemtheoretisch postulierten Differenz zwischen Funktionssystemen kompatibel ist.
Differenz setzen, um Differenz zu prüfen – eine begriffliche Anmerkung In diesem Kontext ist auf eine weitere Schwierigkeit der Operationalisierung der Fragestellung hinzuweisen. Ziel der Arbeit ist es, die Möglichkeit empirisch zu prüfen, Kommunikationsprozesse, in denen verschiedene gesellschaftliche Teilsysteme aufeinandertreffen, differenzlogisch zu erklären. Hiermit ist eine begriffliche Problematik verbunden. Es gilt nämlich zu prüfen, ob bzw. inwiefern die involvierten Teilsyste80
METHODE UND MATERIAL
me im Rahmen der Luhmann’schen Begrifflichkeiten tatsächlich als Systeme zu verstehen sind. Luhmanns Unterscheidung zwischen Wissenschaft, Politik usw. wird als analytische Unterscheidung benutzt, um zu prüfen, ob die Differenz zwischen Wissenschaft, Politik usw. im Sinne des konstruktivistischen Realismus strukturwirksam ist.
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IV. Ein Bioe thik rat zw isc he n Wissenschaft, Politik und Moral
Im Folgenden werden die Ergebnisse der objektiv hermeneutischen Sequenzanalyse der ersten Sitzungen des US-amerikanischen Bioethikrats »The President’s Council on Bioethics« dargestellt. Konkret geht es darum, drei Formen der Integration fremder und eigener Relevanz- und Gültigkeitskriterien zu unterscheiden1: (1) Hybridisierung, (2) ZurVerfügung-Stellen fremder Komplexität und (3) Ersetzen. ZurVerfügung-Stellen fremder Komplexität und Ersetzen dienen als Beispiele, in denen Differenz im Sinne einer Grenze der Anschlussfähigkeit empirisch beobachtet werden kann. Hybridisierung ist hingegen eine Kommunikationsstruktur, in der die systemtheoretisch postulierte Differenz zwischen teilsystemspezifischen und -fremden Relevanz- und Gültigkeitskriterien nicht strukturwirksam ist. Insofern kommt Hybridisierung für die Fragestellung dieser Arbeit eine zentrale argumentative Bedeutung zu. Mit dem Begriff der Hybridisierung wird eine Kommunikationsstruktur bezeichnet, in der wissenschaftliche und moralische Relevanzund Gültigkeitskriterien integriert werden. In der Eröffnungsrede des Ratsvorsitzenden wird die Tätigkeit des Rats dahingehend legitimiert, dass sie dazu dient, Erkenntnisse über die Gegebenheit von »evil« im biotechnologischen Bereich zu erlangen. Dabei wird »evil« als etwas ontologisch bzw. transzendental Gegebenes verstanden. Die angestrebten Erkenntnisse sollen also im wissenschaftlichen Sinne einer Korrelation 1
Der Begriff Integration wird hier im Luhmannschen Sinne einer Reduktion der gegenseitigen Freiheitsgrade verwendet. Vgl. N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 603f. 83
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
zwischen Aussage und Wirklichkeit wahr sein. Die Diskussionen des Rats dienen also dazu, wahre moralische Urteile zu fällen. Gleichzeitig ist aber »evil« eine moralische Kategorie. Insofern handelt es sich um eine Integration wissenschaftlicher und moralischer Relevanz- und Gültigkeitskriterien. Im weiteren Verlauf der Eröffnungsrede sowie in den darauffolgenden Sitzungen zeigt sich, dass das Fällen wahrer moralischer Urteile als verfahrensbasierter Erkenntnisprozess verstanden wird. Ausgehend von der Annahme, dass allen Menschen ein intuitives Wissen um die Gegebenheit von »evil« gemeinsam ist, dienen die emotionale Reaktionen der Ratsmitglieder als »empirisches Material«, um zu solchen wahren Urteilen zu gelangen. Im Gegensatz zu einer rein moralischen Kommunikationsform erscheint die in einer emotionalen Reaktion beinhaltete Bewertung nicht als Selbstzweck. Sie dient lediglich als Grundlage, um zu einem wahren moralischen Urteil zu kommen. Geprüft werden muss, ob es sich um eine subjektive oder um eine allen Menschen gemeinsame Reaktion handelt. Während »abweichende« Reaktionen der verzerrenden Wirkung einer bestimmten – beispielsweise kulturellen oder wissenschaftlichen – Perspektive zugerechnet werden, wird die natürliche Reaktion verobjektiviert, d.h. dem Erleben und somit der Umwelt kausal zugerechnet. Die Diskussionen im Rat dienen dazu, Annahmen über die Ursachen der jeweiligen emotionalen Reaktionen zu prüfen und in intersubjektiv gültige Argumente zu übersetzen. Auch in dieser Hinsicht handelt es sich um eine Integration wissenschaftlicher und moralischer Relevanz- und Gültigkeitskriterien. Im Gegensatz zu den Kommunikationsstrukturen »Zur-Verfügung-Stellen fremder Komplexität« und »Ersetzen« ist dabei eine Differenz zwischen »eigenen« und »fremden« Selektionskriterien weder im Sinn einer hierarchischen Unterordnung noch im Sinne einer zeitlichen Sequenzierung wirksam. Die Orientierung an wissenschaftlichen und moralischen Erwartungsstrukturen ist zugleich und gleichermaßen wirksam. Genau dies ist auch das Spezifische an der als Hybridisierung bezeichneten Form der Integration von Wissenschaft und Moral. Im begrifflich-konzeptuellen Instrumentarium der Systemtheorie gibt es eine Reihe von Konzepten, die eine mit einem differenzlogischen Verständnis der Selbstreferentialität gesellschaftlicher Funktionssysteme kompatible Form der Integration fremder und eigener Relevanz- und Gültigkeitskriterien beschreiben. Neben Zur-Verfügung-Stellen fremder Komplexität und Ersetzen ist strukturelle Kopplung, die Multi-Referentialität organisations- und interaktionssystemspezifischer Strukturen und Entdifferenzierung zu nennen. Im anschließenden Kapitel (Kapitel V) wird gezeigt, dass bei einer strikt differenzlogischen Lesart von Luhmanns Systemtheorie Hybridisierung nicht mit diesen Konzepten 84
EIN BIOETHIKRAT ZWISCHEN W ISSENSCHAFT, POLITIK UND MORAL
erklärt werden kann. Weder kann es »quer« zu den Grenzen von Funktionssystemen liegende Strukturen noch kann es eine punktuelle Entdifferenzierung von Funktionssystemen geben. Zwar ist die als »Hybridisierung« bezeichnete Struktur eine Struktur, die ein organisationsspezifisches Problem löst und insofern eine emergente Struktur des Bioethikrats. Mit der Eigenschaft von Organisationen als multi-referentielle Systeme kann allerdings nicht die gleichzeitige und gleichwertige Wirksamkeit von moralischen Erwartungsstrukturen und Relevanz- und Gültigkeitskriterien, die dem Wissenschaftssystem essentialistisch zuzuordnen sind, erklärt werden. Des Weiteren wird im anschließenden Kapitel die Frage gestellt, ob bei einer Integration moralischer und wissenschaftlicher Erwartungsstrukturen überhaupt von einer Hybridisierung eigener und fremder Kriterien gesprochen werden kann. Moralische Kommunikation bildet nämlich Luhmann zufolge kein eigenes Funktionssystem. Vielmehr ist es geradezu eine charakteristische Eigenschaft moralischer Kommunikation, dass sie die Orientierung an teilsystemspezifischen Erwartungsstrukturen konditioniert. Gezeigt wird, dass die Orientierung an moralischen Relevanz- und Gültigkeitskriterien nur sofern die Selbstreferentialität des jeweiligen Teilsystems nicht unterminiert, wie sie als Zweitcodierung funktioniert, d.h. als Codierung, die den teilsystemspezifischen Relevanz- und Gültigkeitskriterien untergeordnet ist. Die moralischen Relevanz- und Gültigkeitskriterien der als Hybridisierung bezeichneten Kommunikationsstruktur können allerdings nicht als eine mit der Selbstreferentialität wissenschaftlicher Kommunikation kompatiblen Zweitcodierung verstanden werden können. In diesem Kapitel geht es allerdings zuerst darum, die drei erwähnten Formen der Integration unterschiedlicher Relevanz- und Gültigkeitskriterien am Material zu rekonstruieren. Der Darstellung wird – dem objektiv hermeneutischen Imperativ, bei einer Sequenzanalyse am »Anfang« zu beginnen, entsprechend – eine Zusammenfassung der Ergebnisse der Analyse der Eröffnung der ersten Sitzung vorgeschoben.2 Hier zeigt sich, dass sich bereits in der Eröffnung, ja bereits im ersten Satz der ersten Sitzung die im Gründungsdokument erkenntliche Problematik der Integration unterschiedlicher Erwartungsstrukturen fortschreibt.
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Zwar ist jeder »Anfang« immer ein gesetzter – jede Organisation, jede Interaktion wird in eine bereits existierende Welt hineingeboren. So ist auch in der Eröffnung der ersten Sitzung des Rats zu erkennen, dass es sich nicht um einen absoluten Anfang handelt. Der Ratsvorsitzende übernimmt beispielsweise die Eröffnung, ohne sich selbst vorzustellen – ein Verweis darauf, dass den Ratsmitgliedern bereits bekannt ist, wer er ist. Für die Kommunikationsprozesse einer Organisation kann allerdings ein relativ natürlicher Anfang gesetzt werden: die Eröffnung der ersten Sitzung. 85
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
1. Eröffnung Der Ratsvorsitzende eröffnet die erste Sitzung mit folgender Begrüßung: »First of all, I would like to welcome members of the council and members of the public to the first meeting of the President’s Council on Bioethics.«
Dieser Anfang dient wie jeder Anfang dazu, einen Kommunikationsraum zu eröffnen und zu strukturieren. Mit der Begrüßung wird der Gegenüber nicht nur als physisch Anwesender konstruiert. Durch die Begrüßungshandlung werden die Begrüßten in einen Kommunikationszusammenhang inkludiert, der zugleich durch die Begrüßung konstituiert wird. »Durch ihn werden Individuen von potentiellen Subjekten zu manifesten insofern, als sie ihre Subjektivität immer erst dadurch gewinnen, daß sie sie in einer konkreten, durch Regeln der Reziprozität geleiteten und damit Intersubjektivität verbürgenden Handlungssequenz verpflichtend wahrnehmen müssen.«3 Mit der Begrüßung wird das Publikum auf eine formelle, feierliche Art in den Kommunikationsprozess des Rats und konkret dieses Treffens inkludiert. Darüber hinaus ist dieser erste Sprechakt in mehrerlei Hinsicht auffällig. Zum einen wird das Publikum bei der Begrüßung in zwei Gruppen gegliedert: Mitglieder des Rats und Mitglieder der Öffentlichkeit. Auffällig hier ist, dass Mitglieder der Öffentlichkeit begrüßt werden. Mitgliedschaft ist ein Status, der die Zugehörigkeit zu einer Organisation markiert. Durch die Begrüßung von Mitgliedern der Öffentlichkeit wird die Öffentlichkeit implizit als Organisation behandelt. Die Öffentlichkeit erscheint somit als fremde Organisation, die – repräsentiert durch anwesende Mitglieder – in der Eröffnungssitzung dieser Organisation inkludiert wird. Des Weiteren dient die Begrüßung von Mitgliedern der Öffentlichkeit dazu, die Öffentlichkeit mit einer Adresse zu versehen. Indem die Öffentlichkeit als Organisation konstruiert wird, fungieren die »Mitglieder« der Öffentlichkeit als Adresse, an die die Kommunikation mit der Öffentlichkeit gerichtet werden kann. Auch dies ist Bedingung der Inklusion der Öffentlichkeit in die Kommunikation unter Anwesenden. Auffällig ist zudem die Willkommensheißung von Ratsmitgliedern in dem Rat. Die Mitglieder einer Organisation in der Organisation selbst willkommen zu heißen, ist ebenso widersprüchlich wie einen Deutschen
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Jürgen Habermas: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983, S. 235.
EIN BIOETHIKRAT ZWISCHEN W ISSENSCHAFT, POLITIK UND MORAL
in Deutschland oder einen Familienangehörigen in seiner Familie willkommen zu heißen. Durch eine Willkommensheißung werden nicht bzw. noch nicht Dazugehörige in einen fremden Zusammenhang inkludiert. Diese Widersprüchlichkeit ist auf das Paradox einer konstituierenden Sitzung zurückzuführen. Erst mit dieser Sitzung nimmt der Rat seine Tätigkeit auf und beginnt somit seine Existenz als Organisation. Gleichzeitig ist eine vorgelagerte Institutionalisierung der Organisation Bedingung des Beginns der organisationellen Tätigkeit. Mit der Formulierung »welcome […] to the first meeting of the President’s Council on Bioethics« wird also in diesem Begrüßungsakt auf eine der Tätigkeit des Rats vorgelagerte Existenz bzw. Identität des Rats verwiesen. Bezeichnend ist hierbei, um was für eine Identität es sich handelt. Diese die Tätigkeit des Rats vorgelagerte Identität wird durch den Namen des Rats, »President’s Council on Bioethics«, symbolisiert. Mit diesem Namen wird der Rat im politischen Raum verortet. Er erscheint als dem Präsidenten zugehörig bzw. untergeordnet und der Ratsvorsitzende als Repräsentant des Präsidenten. In diesem Sinne wird den Ratsmitgliedern mit der Begrüßung gesagt, dass sie im Rat des Präsidenten willkommen sind. Bereits die erste Kommunikationsofferte der ersten Sitzung des Rats ist also als Lösung des organisationsspezifischen Problems der Integration unterschiedlicher Erwartungsstrukturen zu verstehen. Mit dieser recht auffälligen Begrüßungsform werden die Kommunikationsprozesse des Rats in vier verschiedenen Kontexten verortet. Erstens handelt es sich um einen Interaktionszusammenhang. Durch die Begrüßungshandlung wird der Kommunikationsraum als Kommunikation unter Anwesenden eröffnet. Zweitens handelt es sich um die Kommunikationsprozesse einer Organisation. Die Mitglieder des Rats werden durch den Ratsvorsitzenden zum ersten Treffen des Rats begrüßt. Drittens handelt es sich um einen Kommunikationsprozess mit bzw. vor einer Öffentlichkeit. Die Öffentlichkeit wird begrüßt und somit als Teil des Kommunikationsprozesses konstruiert. Viertens wird der Rat im politischen Raum verortet. Durch die Willkommensheißung der Mitglieder des Rats im »President’s Council on Bioethics« erscheint der Vorsitzende als Repräsentant des Präsidenten. Die Problematik der Integration dieser unterschiedlichen Situationsdeutungen prägt den weiteren Verlauf der Eröffnungssitzung in mehrfacher Hinsicht. Zum einen wird wiederholt »begonnen«. Auf die Willkommensheißung durch den Vorsitzenden erfolgt eine »offizielle« Eröffnung durch den »Executive Director of the council and designated fe-
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IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
deral officer«.4 Allein die Tatsache, dass eine zweifache Eröffnung notwendig ist, verweist auf die Problematik, unterschiedliche Relevanzund Erwartungsstrukturen zu integrieren. Diese Spannung wird in der Form, in der diese Eröffnung eingeleitet wird, wie auch in der zweiten Eröffnung selbst reproduziert. Im Anschluss an die Begrüßung wendet sich der Vorsitzende an den »designated federal officer« und fordert ihn auf, die Sitzung zu eröffnen: »Dean Clancy, if I might call on you officially to open this meeting as the designated federal officer.« Unabhängig davon, ob die Sitzung erst durch den »designated federal officer« offiziell eröffnet werden soll oder ob die Aufforderung als offizielle Aufforderung markiert wird, wird das Folgende als etwas Offizielles gekennzeichnet. Somit erscheint wiederum die Begrüßung des Ratsvorsitzenden als »unoffiziel« bzw. als keine wirkliche Eröffnung. Diese Aufforderung wird allerdings nicht an Dean Clancy als Person, sondern an Dean Clancy in seiner Rolle als »designated federal officer« gerichtet. Somit wird präzisiert, in welchem Kontext die Autorität des Ratsvorsitzenden nicht ausreicht, um die Sitzung zu eröffnen, bzw. wie der offizielle Kontext des Rats zu verstehen ist: Der offizielle Kontext, der die formalen Regeln der Eröffnung vorgibt, ist ein rechtlich-politischer. Diese offizielle, rechtlich-politische Situationsdefinition steht allerdings im Widerspruch zu anderen wirksamen Situationsdefinitionen. Dies ist daran zu erkennen, dass der Vorsitzende als erstes das Wort ergriffen hat und mit seiner Begrüßung die Sitzung faktisch bereits eröffnet hat. Auch die Form der Aufforderung an den »executive director« steht in diesem Sinne im Widerspruch zu der eigenen Unfähigkeit, die Sitzung offiziell zu eröffnen. »If I might« ist einerseits eine höfliche und formale Floskel. Mit der Formulierung »if I might« wird um Erlaubnis gebeten, dass zu tun, was mit dem Sprechakt bereits getan wird. »Call on you« ist hingegen eine Aufforderungsform, die beispielsweise für eine Lehrer/SchülerBeziehung charakteristisch ist. Sie impliziert, dass der Aufgeforderte nicht die Möglichkeit hat, die Aufforderung abzulehnen. Es ist mit anderen Worten ein höfflich formulierter Befehl. Die in dieser Einleitung sichtbare Spannung wird durch die Eröffnung des »federal officer« reproduziert: »Thank you, Dr. Kass. I am Dean Clancy, the Executive Director of the Council and designated officer. As I understand it, my duties are a combination of justice of the peace, part-time baby sitter and potential sacrificial victim. And I just want to say as an editorial note I am very honoured and humbled to be able to serve with Dr. Kass and such a distinguished panel of Americans. The 4
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Zu der historischen Entstehung und Funktion eines »executive directors« vgl. S. Jasanoff : The fifth branch, S. 46f.
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job of the designated federal officer is to be a proclaimer that the law has been conformed to in terms of the requirement for holding public business in this council and, therefore, it is with pleasure and a bit of enthusiasm, anticipation and humility that I proclaim this meeting in session.«
Zunächst kommt Dean Clancy der Aufforderung des Vorsitzenden nicht nach. Er bedankt sich für die Wortübergabe und nutzt sie, um sich selbst vorzustellen und seine Funktion zu beschreiben. Auffällig daran ist, dass er seine Funktion als rechtlich-politische Funktion und in diesem Zusammenhang die Ratsmitglieder als »babies« bezeichnet. Gleichzeitig stilisiert er sich selbst mit der Formulierung »I am very honoured and humbled to be able to serve with Dr. Kass and such a distinguished panel of Americans« als im organisationsinternen bzw. öffentlich-nationalen Kontext den Ratsmitgliedern hierarchisch wie an Bedeutsamkeit und Prestige untergeordnet. Erst dann eröffnet er die Sitzung. Die bereits konstatierte mehrfache Verortung der Kommunikationsprozesse des Rats wird in dieser zweifachen Eröffnung als Spannung bzw. als Konflikt zwischen unterschiedlichen Erwartungen sichtbar. Die Ratsmitglieder erscheinen im rechtlich-politischen Kontext als »babies« und der Ratsvorsitzende als nicht befugt, die Sitzung offiziell zu eröffnen. Gleichzeitig wird der »executive director« wie in einem Schüler/LehrerVerhältnis vom Ratvorsitzenden aufgefordert (»call on you«) die Sitzung zu eröffnen und er behauptet »honoured and humbled« zu sein, weil er in diesem Kontext dienen darf. Festzuhalten ist also, dass die zweifache Eröffnung als Form der Integration organisationsspezifischer und politisch-rechtlicher Relevanz- und Gültigkeitskriterien fungiert. Während im Kontext organisationsspezifischer Kriterien Dr. Kass in seiner Rolle als Vorsitzender die Kommunikationsprozesse zu leiten hat, ist er aus rechtlich-politischer Perspektive nicht dazu befugt, die Sitzung zu eröffnen. Auf die zweifache Eröffnung folgt eine Vorstellungsrunde. Auch diese ist durch die Spannung zwischen unterschiedlichen Relevanz- und Gültigkeitskriterien geprägt. Die Vorstellungsrunde wird vom Ratsvorsitzenden wie folgt eingeleitet: »We will shortly go around the room and ask council members to identify themselves. This time just name and institutional affiliation. You will have opportunities later in this session to speak substantively about your own thoughts and concerns for our group.« Diese Vorstellungsrunde wird also als erste von zwei Vorstellungsrunden gekennzeichnet (»this time«) und die Relevanzkriterien der beiden Vorstellungsrunden inhaltlich unterschieden. Während die zweite Vorstellungsrunde zur sachlich-thematischen Verortung der Ratsmit-
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glieder in der Gruppe, d.h. im Rat dient, geht es hier lediglich darum, sich zu identifizieren. Die Aufforderung, sich zu identifizieren, verweist auf einen Kontext, in dem durch die Bekanntgabe der eigenen Identität die Verantwortung der Person für das, was sie im Folgenden tut oder sagt, gekennzeichnet wird. Im Gegensatz zu »introduce yourself« werden die Ratsmitglieder mit dieser Aufforderung nicht als Personen, sondern als rechtliche Subjekte in den Kommunikationsraum inkludiert. Auffällig ist, dass neben der Selbstidentifikation als rechtliches Subjekt die Identität der Personen anhand ihrer institutionellen Zugehörigkeit bestimmt wird. Die Ratsmitglieder werden also aufgefordert sich über ihre Mitgliedschaft in einer fremden Organisation zu identifizieren. Diese Auffälligkeit ist damit zu erklären, dass die Ratsmitglieder für das, was sie sagen, nicht nur eine Verantwortung im ratsinternen Kontext tragen, sondern auch in einem rechtlich-politischen, öffentlichen Kontext. Diese erste Vorstellungsrunde dient also weniger der Selbstverortung in einer sozialen, interaktiven, organisationsspezifischen Situation als der Selbstidentifikation in einem öffentlichen, rechtlich-politischen Kontext. Die Eigenschaft des Treffens als Kommunikation zwischen Anwesenden, und zwar zwischen den Mitgliedern einer Organisation, wird erst in der zweiten, an die Eröffnungsrede des Ratsvorsitzenden anschließenden Vorstellungsrunde bedient. Auch hier wird also der Konflikt zwischen unterschiedlichen Situationsdefinitionen durch eine Wiederholung der Eröffnungsrituale gelöst. Des Weiteren werden die Anwesenden nicht gleichermaßen im Kommunikationsprozess inkludiert. Nur die Ratsmitglieder stellen sich vor, während »the staff of the council« durch den Ratsvorsitzenden vorgestellt wird und die Mitglieder der Öffentlichkeit gar nicht vorgestellt werden. Während die Öffentlichkeit lediglich im Sinne eines passiven Zuhörers als anwesend erscheint, werden allein die Mitglieder des Rats als aktive Teilnehmer des Kommunikationsprozesses inkludiert. 5
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Zu graduellen bzw. modularen Inklusionsformen vgl. A. Bora: Differenzierung und Inklusion, S. 66f.
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2 . D i e H yb r i d i s i e r u n g v o n Wissenschaft und Moral Im Folgenden wird die als Hybridisierung bezeichnete Kommunikationsstruktur rekonstruiert. Hierbei handelt es sich um eine zentrale Kommunikationsstruktur der Eröffnungsrede des Ratsvorsitzenden. Wie zu zeigen sein wird, ist diese Kommunikationsstruktur nicht nur im Rahmen der Eröffnungsrede, sondern auch in den weiteren Kommunikationsprozessen der Sitzungen des Rats strukturwirksam.
Wahre moralische Urteile Wie die Eröffnung ist auch die Eröffnungsrede durch die Integration unterschiedlicher Erwartungsstrukturen geprägt. Nach den organisatorischen Anmerkungen wird erneut begonnen: »I would like to begin with a semi-coherent statement having – saying something about my view of the council’s work.« In der Stilisierung des eigenen Redebeitrags als »semi-coherent statement« wird der uns bereits bekannte, öffentlich-rechtliche Verweisungszusammenhang reproduziert. Durch ein »statement« wird ein verbindlicher, auf Dauer gestellter Zusammenhang zwischen der im »statement« gemachten Aussage und der Person, die dieses »statement« macht, hergestellt. Im öffentlich-politischen Raum bezieht eine Person mit einem »statement« Stellung und wird zugleich zum personifizierten Repräsentanten des sachlichen Gehalts der Aussage. Ein Politiker beispielsweise steht für die Position »x«. Neben dem impliziten Verweis durch die Beschreibung der Eröffnungsrede als »semi-coherent« auf einen Kontext, in dem Kohärenz zu erwarten wäre, stilisiert der Ratsvorsitzende seine Rede also als verbindliche Selbstpositionierung. Durch diese Einleitung wird der Kommunikationszusammenhang als öffentlich-politischer Raum konstruiert. Im Anschluss an die Eröffnungsrede wird diese Situationsdefinition reproduziert und stabilisiert, indem der Ratsvorsitzende die Ratsmitglieder in einem zuvor als zweite Vorstellungsrunde stilisierten Teil der Eröffnung auffordert, ihrerseits »statements« abzugeben. Der eingeleitete Redebeitrag ist allerdings nicht nur durch seine Eigenschaft als öffentlich-politisches »statement« charakterisiert. Gleichzeitig folgt er der Pragmatik einer Eröffnungsrede – und zwar der Eröffnungsrede einer Organisation. Die Eröffnungsrede einer Organisation dient primär der Konstitution einer organisationsspezifischen Identität und der Legitimation der Tätigkeit der Organisation. Dementsprechend folgt ein längerer Redebeitrag, in dem der Ratsvorsitzende den Rat im 91
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politisch-öffentlichen Feld verortet, die Ziele bzw. Aufgaben des Rats definiert und zum Schluss das Verfahren des Rats und die Agenda für das erste Treffen festlegt. Der erste Teil dieser Rede dient der Verortung des Rats in einer durch die Ereignisse des 11. Septembers geprägten öffentlich-politischen Landschaft. Auch hierin spiegelt sich die Problematik der Integration öffentlich-politischer mit ratsspezifischen Erwartungsstrukturen. Der Ratsvorsitzende beginnt seine Rede mit einer Beschreibung der Veränderungen »unserer« Welt, die, seitdem der Präsident seine Intention, den Rat zu gründen, bekannt gegeben hat, eingetreten sind. »It is over five months since President Bush announced his intention to create this President’s Council on Bioethics. Our world has changed drastically since that time and with it the nations mood and attention. The council and its business have not been immune to these changes. For one thing, the events of September 11. pushed stem cells off the daily front pages where it had been ensconced for months. More importantly, the needs of war and homeland security understandably slowed efforts to get this council organized.«
Unter Verweis auf die drastischen Veränderungen »unserer« Welt werden die Auswirkungen der terroristischen Anschläge auf das World Trade Center auf den Rat beschrieben. Bezeichnend ist, dass diesen Ereignissen vor allem im Sinne eines Bedeutungsverlustes des Rats Relevanz zugeschrieben wird. Zum einen haben sie sich schädlich auf die mediale Aufmerksamkeit für eines der zentralen Themenbereiche des Rats ausgewirkt (Stammzellforschung). Zum anderen haben sie die politische Bedeutsamkeit des Rats beeinträchtigt und somit den Beginn seiner Tätigkeit verlangsamt. Somit erscheinen die Ereignisse des 11. September als Konkurrent um politisch-öffentliche Aufmerksamkeit und Bedeutsamkeit. Mit der Formulierung »has not been immune« werden die Auswirkungen als schädlich gekennzeichnet. »Immune« bzw. »not immune« kann man nur gegenüber einer Krankheit sein. Mit der Formulierung »the events of September 11. pushed stemm cells off the daily front pages [Hervorhebung von mir: A.J.]« erscheinen die Ereignisse wie eine intendierte, aggressive Handlung gegenüber dem Rat im Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit zugeschrieben. Auffällig ist, dass die durch diese Ereignisse verursachte Verlangsamung der Organisation des Rats zwar als noch wichtiger (»more importantly«) – und dass heißt in diesem Kontext noch schädlicher – beschrieben wird. Mit »understandably« und »needs« wird aber gleichzeitig die politische Reaktion auf diese Ereignisse anerkannt bzw. Verständnis dafür ausgedrückt. Dies verweist auf eine Spannung zwischen 92
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unterschiedlichen Kriterien, mit denen die Reaktion auf die Ereignisse des 11. September bewertet wird. Für das Anliegen des Rats ist sie schädlich, für die Sicherheit der Nation notwendig. Dass die Sicherheit der Nation Vorrang hat, ist wiederum verständlich. Im hieran anschließenden Teil der Eröffnungsrede wird die Verortung des Rats im Verhältnis zu den Ereignissen des 11. September weiter entfaltet und damit einhergehend die Struktur des Verhältnisses beider Relevanzkriterien zueinander erkennbar. Nach der Beschreibung des 11. September als Konkurrent erfolgt nun eine neue Situationsdeutung, in der diese Ereignisse als potentiell nützlich für den Rat gedeutet werden. »But if the aftermath of September 11. has hampered our getting started, paradoxically, it may assist us in performing the council’s task. In numerous, if subtle ways one feels a palpable increase in America’s moral seriousness well beyond the expected defence of our values und institutions so viciously under attack. A fresh breeze of sensible moral judgement clearing away the fog of unthinking and easygoing relativism has enabled us to see evil for what it is. […] It has been a long time since the climate and mood of the country was this hospitable to serious moral reflection.«
Die Ereignisse des 11. September haben die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit bzw. der Nation für moralische Fragestellungen im Allgemeinen erhöht. Als Resultat könnten sie der Aufgabe des Rats dahingehend nützlich sein, dass sie die öffentliche Aufmerksamkeit für die Fragestellungen des Rats erhöhen. Somit wird die Tätigkeit des Rats zugleich in einem öffentlich-politischen Raum und im Kontext moralischer Relevanz- und Gültigkeitskriterien verortet. Die Tätigkeit des Rats erscheint als »serious moral reflection« und ihre Bedeutsamkeit bzw. Wirksamkeit als abhängig von der Offenheit im öffentlich-politischen Raum der Nation für diese Art von »moral reflection«. Bezeichnend für das hier wirksame Moralverständnis ist die Kontrastierung von »easygoing relativism« und »serious moral reflection« bzw. die Fähigkeit »to see evil for what it is«. Somit wird auf »evil« als etwas ontologisch bzw. transzendental Gegebenes verwiesen. Zugleich wird ein Moralverständnis, das moralische Werturteile als gesetzt, d.h. abhängig von der subjektiven oder kulturellen Perspektive versteht, mit der Formulierung »easygoing relativism« moralisch abgewertet. Auffällig hierbei ist, dass der Redner kontinuierlich zwischen der Perspektive eines distanzierten Beobachters und der Perspektive einer Wir-Gruppe changiert. Einerseits wird die moralische Entwicklung der Nation aus der Perspektive eines Beobachters beurteilt und bewertet. 93
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Andererseits nimmt der Redner die Wir-Perspektive eines Zugehörigen ein, der die Wertvorstellungen der Nation teilt und ebenfalls die beschriebene moralische Entwicklung durchgemacht hat. Mit der Formulierung »one feels a palpable increase in America’s moral seriousness« sowie »It has been a long time since the climate and mood of the country was this hopitable to serious moral reflection« nimmt der Redner die Perspektive eines verallgemeinerten Subjekts ein (»one«), das die moralische Ernsthaftigkeit von Amerika beobachtet und bewertet. »One« erscheint als Beobachter und Amerika als Beobachtungsobjekt. Mit der Formulierung »our values and institutions so viciously under attack« bekennt sich der Redner mit einem affektiven Pathos (»so viciously under attack«) zu den nationalen Werten. Mit den Formulierungen »has enabled us to see evil for what it is« erscheint der Redner als jemand, der wie alle anderen diese positive moralische Entwicklung vollzogen hat. Das Changieren zwischen diesen Perspektiven dient also als rhetorisches Mittel. Es löst das Problem, die Moral der Nation zu bewerten und somit implizit ein privilegiertes Wissen um die Gegebenheit von »evil« in einem Kontext zu beanspruchen, in dem der Redner auf die öffentliche sowie die ratsinterne Anerkennung seiner Urteile angewiesen ist. Festzuhalten ist: (1) Bei der Verortung des Rats im politischöffentlichen Raum wird seine Tätigkeit als eine moralische Tätigkeit (serious moral reflection) definiert. (2) Dabei kommt ein Moralverständnis zum Tragen, in dem »evil« als etwas ontologisch bzw. transzendental, .d.h. real Gegebenes verstanden wird und nicht als etwas Gesetztes, d.h. als etwas, dass von einem subjektiven oder kulturellen Urteil abhängig ist. »Yet the moral challenges the council faces are very different from the ones confronting the President of the nation as a result of September 11.«
Wie bisher geht es auch hier um die Verortung des Rats in einer durch den 11. September dominierten politisch-öffentlichen Landschaft. An dieser Stelle wird allerdings die Schilderung der potentiellen Nützlichkeit abgebrochen und ein Vergleich der moralischen Herausforderungen des Rats mit denen des Präsidenten eingeleitet. Auffällig ist, dass dieser Vergleich mit »yet« eingeleitet wird. Im Unterschied zu »und« oder gar »deshalb« verweist »yet« – wie »allerdings« – auf einen Konflikt oder einen Widerspruch zwischen zwei Aussagen. Des Weiteren wird ein Vergleich der moralischen Herausforderungen eingeleitet, ohne dass vorher gesagt würde, dass Rat und Präsident überhaupt moralischen Herausforderungen ausgesetzt sind. Somit wird dies zwar als Anfang einer Beschreibung der Differenzen markiert, 94
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gleichzeitig aber implizit eine Gemeinsamkeit von Rat und Präsident kommuniziert: Ebenso wie die Ereignisse des 11. September erzeugen die biotechnologischen Entwicklungen moralische (und nicht etwa politische oder militärische) Herausforderungen. Während es Aufgabe des Rats ist, sich mit den moralischen Herausforderungen der biotechnologischen Entwicklungen auseinanderzusetzen, sieht sich der Präsident mit den moralischen Herausforderungen, die sich aus den Ereignissen des 11. September ergeben, konfrontiert. Die Einleitung des Vergleichs mit »yet« impliziert, dass es sich aus dem vorher Gesagten bereits als Selbstverständlichkeit ergibt, dass Präsident und Rat mit moralischen Herausforderungen konfrontiert sind. »In the case of terrorism, as with slavery or despotism, it is easy to identify evil as evil«
Der Vergleich der unterschiedlichen moralischen Herausforderungen beginnt mit einer Beschreibung der moralischen Herausforderungen von Terrorismus als »Fall« – und nicht etwa mit einer Beschreibung der konkreten moralischen Herausforderung, die sich aus den spezifischen Ereignissen des 11. September ergeben. Somit werden die Ereignisse des 11. September einer übergeordneten Kategorie (Terrorismus) zugeordnet. Mit der Bezeichnung von Terrorismus als Fall wird nicht auf Terrorismus in seiner ganzheitlichen Gegebenheitsweise verwiesen, sondern auf eine diesem Phänomen zugrunde liegende, d.h. jeder konkreten Realisierungsform zugrunde liegenden Regelhaftigkeit. Insofern beinhaltet sowohl die Zuordnung der Ereignisse des 11. September zur Kategorie Terrorismus als auch die Bezeichnung von Terrorismus als Fall eine Generalisierungs- und Abstraktionsleistung. Der Vergleich der moralischen Herausforderungen von Präsident und Rat beginnt mit der für professionelle Kommunikationskontexte charakteristischen, analytisch-distanzierten Perspektive eines Fallvergleichs. Auffällig ist des Weiteren, dass neben Terrorismus zwei weitere Fälle aufgeführt werden: Sklaverei und Despotismus. Mit der Erwähnung von Sklaverei und Despotismus als weitere übergeordnete Kategorien wird die Generalisierung von Terrorismus als Fall fortgeführt. Dabei wird auch in den nachfolgenden Sequenzen nicht weiter erläutert, warum es gerade in diesen drei Fällen leicht ist, »evil« als solches zu identifizieren. Es stellt sich hier die Frage nach denjenigen Bedeutungszusammenhängen, vor deren Hintergrund es nicht weiter erläuterungsbedürftig ist, was die Gemeinsamkeiten sind und warum es in diesen Fällen leicht ist, »evil« als solches zu erkennen. Terrorismus ist ein politischer Akt, oder genauer eine politische Form der Gewalt, die sich gegen 95
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die Ordnung der bestehenden Herrschaftsform richtet. Despotismus hingegen ist eine Herrschaftsform und Sklaverei schließlich eine Form des Autonomieentzugs gegenüber einem Individuum oder einer Gruppe von Individuen. Alle drei Formen der Ausübung von Macht stehen im Widerspruch zu den für demokratische Gesellschaftsordnungen grundlegenden Normen von Rechtssicherheit und Autonomie, auf denen der Subjektstatus vom Individuum als Bürger aufbaut. Die Implikation ist, dass es in diesen Fällen leicht ist, »evil« als solches zu erkennen, weil sie in Widerspruch zu demokratischen Normen stehen. Insofern wird auf Beispiele verwiesen, in deren der Konflikt mit den grundlegenden Werten demokratischer Gesellschaftsordnungen intuitiv erkennbar oder selbstverständlich und die Identifikation von »evil« deswegen unproblematisch ist. Mit der Formulierung »easy to identify evil as evil« wird zunächst gekennzeichnet, worin die moralische Herausforderung im Fall von Terrorismus nicht besteht. Die Implikation ist, dass es bei biotechnologischen Entwicklungen hingegen schwierig ist, »evil« als solches zu identifizieren. Weiterhin enthält aber die Formulierung »identify evil as evil« eine Reihe von weitreichenden Implikationen. Ähnlich wie »in the case of« verweist »identify« auf die distanzierte, analytische Beobachtungsform eines professionellen Kontextes. »To identify x as y« verweist auf ein analytisches oder empirisches Verfahren, dass der Prüfung der Zugehörigkeit eines konkreten Objekts oder Phänomens zu einer Kategorie dient. Gleichzeitig ist die Bezeichnung von etwas als »evil« eine moralische, eventuell religiöse Bewertung. Im Gegensatz zu der Bezeichnung von etwas als schlecht, die zwar auch eine Bewertung enthält, aber nicht notwendig moralisch konnotiert ist, kann etwas nur im moralischen Sinne »evil« sein. So kann das Wetter ebenso wenig wie ein Auto »evil« sein. Während also »identify« auf ein analytisch, distanziertes Verfahren verweist, das der Erkenntnis dient, verweist »evil« auf eine moralischreligiöse Bewertung. Mit der Formulierung »identify evil as evil« wird also das Fällen eines moralischen Urteils mit dem epistemologischen Akt des Erkennens gleichgesetzt. So stellt sich die Frage, in welchem Kontext diese Gleichsetzung Sinn macht. Es gibt zwei Bedeutungszusammenhänge, in denen moralische Bewertung und Erkenntnis in eins gesetzt werden können. (1) Die Formulierung »identify evil as evil« könnte auf einen Kontext verweisen, in dem es eine bereits bekannte und anerkannte Definition von »evil« gibt. Im Sinne einer regelgeleiteten Ethik würde das Verfahren der Identifikation von »evil« demnach darin bestehen, die empirischen Phänomene den bereits definierten Kategorien zuzuordnen. Die epistemolo96
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gische Leistung der Identifikation würde in diesem Fall dahingehend mit der Bewertung zusammenfallen, dass das Urteil ebenso wie das Erkennen in der richtigen Anwendung der Regeln besteht. (2) Eine weitere Möglichkeit ist, dass »evil« als etwas ontologisch oder transzendental Gegebenes verstanden wird. Im Gegensatz zu dem Verständnis von einem moralischen Urteil als etwas kulturell oder subjektiv Gesetztem erscheinen Gut und Böse dann als ebenso real wie die Realität, auf die sich wissenschaftliche Kommunikationsformen beziehen. Die Bezeichnung von etwas als »evil« ist demnach ebenso wahr oder unwahr wie die Beschreibung einer chemischen Reaktion. Somit wird die Differenz zwischen einer an der Unterscheidung wahr/unwahr und einer an der Unterscheidung gut/böse orientierten Kommunikationsform hinfällig. Auffällig an der Formulierung »identify evil as evil« ist des Weiteren, dass sie – zumindest auf den ersten Blick – eine Tautologie zu enthalten scheint. Im Gegensatz etwa zu »to identify the use of force as evil« soll »x« als »x« identifiziert werden. In folgendem Zusammenhang ergibt sich dies einen Sinn: wenn das erste »evil« auf ein empirisches Phänomen und das zweite »evil« auf »evil« im oben beschriebenen Sinn einer Kategorie bzw. etwas real Gegebenes verweist. Die Formulierung »identify evil as evil« bezieht sich also entweder darauf, dass ein empirisches Phänomen dem Akt der Identifikation der bereits bestehenden Kategorie »evil« zugeordnet wird oder das empirische Phänomen als richtig erkannt wird. Da aber bereits aus den bisherigen Sequenzen hervorgeht, dass »evil« als ontologisch bzw. transzendental gegeben verstanden wird und kulturell gesetzte Werturteile als »easy-going relativism« abgewertet werden, kommt nur die zweite Möglichkeit in Frage. Die in dieser Formulierung enthaltene Invisibilisierung der Differenz zwischen »evil« als Kategorie bzw. als real gegebenes, empirisches Phänomen impliziert, dass die Gegebenheit von »evil« nicht hinterfragt werden kann. Die der Formulierung »identify evil as evil« zugrunde liegende Annahme ist, dass »evil« gegeben ist und dass das epistemologische Problem darin besteht, es zu identifizieren. Insofern zeigt die Formulierung »identify evil as evil« implizit auf die Möglichkeit bzw. Gefahr, dass »evil« als etwas anderes als »evil« identifiziert wird. Die Möglichkeit, dass »evil« nicht gegeben ist, wird wiederum rhetorisch ausgeschlossen. Mit dieser Formulierung wird also im Endeffekt gesagt, dass sofern »evil« nicht identifiziert wird, dies nicht als Hinweis verstanden werden kann, dass »evil« nicht gegeben ist. Vielmehr würde dies immer und notwendig auf einen Irrtum in dem Verfahren des Identifizierens von »evil as evil« hinweisen. Schließlich geht es nicht darum, zu fragen, ob »evil« gegeben ist, sondern darum, es als solches zu identifizieren. Die Annahme der Gegebenheit von »evil« ist anders gesagt 97
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nicht durch das Verfahren des Identifizierens irritierbar. Insofern wird mit dieser Formulierung implizit ein privilegiertes, unabhängig von dem Verfahren des Identifizierens vorhandenes Wissen um die Gegebenheit von »evil« beansprucht. In Anlehnung an Luhmanns Definition von transzendentalen Theorien kann dies als transzendentale Wissens- bzw. Erkenntnisform bezeichnet werden. Es handelt sich um eine Wissensform, in der die dem Verfahren des Erkennens vorgelagerten Annahmen nicht durch die Ergebnisse der Erkenntnis in Frage gestellt werden können.6 Dies ist allerdings auch typisch für Aufklärung als Kommunikationsform. Da der Aufklärer die Wahrheit auf seiner Seite weiß, können die Aufzuklärenden in »ergebnisoffenen« Diskussionen zu den »richtigen« Erkenntnissen geführt werden. Mit der Formulierung »identify evil as evil« wird also die Annahme der Gegebenheit von »evil« gegen eine Irritation durch das Verfahren des Identifizierens abgesichert. Insofern sehen wir in dieser Sequenz die für wissenschaftliche Kommunikation charakteristische Orientierung an der Unterscheidung wahr/unwahr. Zugleich handelt es sich aber zum einen um eine an der moralischen Unterscheidung gut/böse orientierte Kommunikationsform. Zum anderen zeigt die Sequenz, dass sie – im Gegensatz zu dem ergebnisoffenen bzw. geradezu auf Falsifizierung bestehenden Wissens angelegten Erkenntnisverfahren der Wissenschaft – gegenüber der Möglichkeit immunisiert ist, dass »evil« im biotechnologischen Bereich nicht gegeben sein könnte. »and the challenge is rather to figure out how best to combat it«
Nachdem gesagt wurde, worin die moralische Herausforderung des Falls Terrorismus nicht besteht, wird nun gesagt, worin sie besteht. Nicht die Identifikation, sondern die Bekämpfung von »evil« ist das Problem. Hierbei erscheint die Identifikation von »evil« als Bedingung der Bekämpfung von »evil« – und insofern die Identifikation von »evil« nicht an und für sich, sondern um »evil« zu bekämpfen – von Relevanz. Dabei erfüllt der Vergleich der moralischen Herausforderung des Präsidenten mit denjenigen des Rats eine Legitimationsfunktion – und zwar in zweierlei Hinsicht. Einerseits werden das Tätigkeitsfeld des Rats und das Tätigkeitsfeld des Präsidenten differenziert. Während der Präsident für die Bekämpfung von »evil« zuständig ist, ist es der Rat für die Identifikation von »evil«. Dementsprechend hat die Bezeichnung der Erkenntnisleistung, die mit der Bekämpfung von »evil« verbunden ist (»figure out«), eine andere Konnotation als »identify«. Im Gegensatz zu 6 98
Vgl. N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 13.
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dem analytischen, systematischen Erkenntnisverfahren von »identify« verweist »figure out« auf eine pragmatische, handlungsnahe Erkenntnisform. Insofern wird die Tätigkeit des Rats als eine dem politischen Handeln notwendig vorgelagerte Erkenntnisleistung legitimiert.7 Andererseits wird der Rat zugleich dahingehend legitimiert, dass er als mit dem Präsidenten an einem gemeinsamen Kampf gegen »evil« beteiligt erscheint. Die Tätigkeit des Rats erscheint als legitime und bedeutsame Tätigkeit, weil die Identifikation von »evil« letztlich der Bekämpfung von »evil« dient. Und dies ist ein Ziel, das im Kontext moralischreligiöser Relevanz- und Gültigkeitskriterien an Bedeutsamkeit nicht übertroffen werden kann. Insofern ist der Vergleich der moralischen Herausforderungen von Präsident und Rat als weiterer Schritt in der neuen Situationsdeutung des Rats im Verhältnis zu dem 11. September zu verstehen. Der Rat scheint nunmehr nicht in einem Konkurrenzverhältnis zu diesen Ereignissen zu stehen, sondern mit dem Präsidenten an einem gemeinsamen Kampf gegen »evil« beteiligt zu sein. Festzuhalten ist, dass über diese Selbstverortung als Kriterium für Legitimität seine Leistung für die Identifikation von »evil« erscheint. Somit werden zugleich die Relevanz- und Gültigkeitskriterien des Rats der politischen Relevanz der Bekämpfung von »evil« untergeordnet. Die Identifikation von »evil« erscheint nicht als Zweck an und für sich. Die Identifikation von »evil« ist nur legitim bzw. relevant, weil sie letztendlich dem politischen Ziel der Bekämpfung von »evil« dient. Indem die Bekämpfung von »evil« als Tätigkeitsfelds des Präsidenten konstruiert wird, wird allerdings zugleich das Politische im Kontext von moralischen Erwartungsstrukturen konstruiert. Das Ziel des Politischen erscheint nicht als das Treffen kollektiv verbindlicher Entscheidungen, sondern als Bekämpfung von »evil«. Die Bekämpfung von »evil« ist allerdings eine an die moralische Unterscheidung zwischen Gut und Böse orientierte Tätigkeitsform. Sowohl die für den Rat als auch die für die Politik spezifische Komplexität wird also in dieser Sequenz moralischen Relevanzkriterien untergeordnet. »but in the realm of bioethics the evils we face, if indeed they are evils, are intertwined with the goods we so keenly seek cures for disease, relief of suffering and preservation of life. Distinguishing good and bad thus intermixed is often extremely difficult.«
7
Insofern basiert die Legitimation des Rats auf eine für politische Beratungsinstanzen übliche Unterscheidung zwischen Rat und Tat. Vgl. Peter Fuchs/Enrico Mahler: »Form und Funktion von Beratung«, in: Soziale Systeme Bd. 6 (2000), S. 349-368. 99
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Nun wird der bisher implizit mitgeführte Vergleich von Terrorismus mit den moralischen Herausforderungen des Rats expliziert. Die Struktur des Vergleichs wird allerdings an dieser Sequenzstelle in mehrfacher Hinsicht brüchig. Zwar wird in der Tat auf eine im Tätigkeitsfeld des Rats gegebene Problematik des Erkennens von »evil« verwiesen. Während aber Terrorismus als Fall (»case«) bezeichnet wird, ist hier nicht von »the case of biotechnology« die Rede, sondern von »the realm of bioethics [Hervorhebung von mir: A.J.]«. »Realm« ist eine relativ offene Beschreibung eines Bereichs. Mit Bioethik wird des Weiteren die ethische Reflexion über biotechnologische Entwicklungen angesprochen, und nicht Biotechnologie selbst. Ferner wird die moralische Herausforderung nicht als die Identifikation von »evil« beschrieben. Vielmehr ist von »the evils we face« die Rede. Zudem wird die Geschlossenheit der Formulierung »identify evils as evils« dahingehend aufgebrochen, dass in Frage gestellt wird, ob es sich in diesem Bereich überhaupt um »evils« handelt. Zentral bei der hiermit einhergehenden Bedeutungsverschiebung ist das erneute Changieren von der analytisch, distanzierten Perspektive eines Beobachters zu der Perspektive des Zugehörigen einer Wir-Gruppe. Hier stellt sich erneut die Frage, um welche Wir-Gruppe es sich handelt: die Wir-Perspektive der Mitglieder des Rats, der amerikanischen Öffentlichkeit oder der Menschheit. Zwar könnte es sich allein aufgrund der Formulierung »the evils we face« um jede der drei Wir-Gruppen handeln. Mit der Formulierung »the goods we so keenly seek« und der Beschreibung dieser »goods« wird allerdings klar, dass es sich nur entweder um die Wir-Perspektive der amerikanischen Öffentlichkeit oder der Menschheit handeln kann. Während der Rat als Organisation verstanden werden kann, der im Kampf gegen »evil« mit »evil« konfrontiert wird, ist kaum davon auszugehen, dass es sich um eine Organisation handelt, die nach »cures for disease, relief of suffering and preservation of life« strebt. Im Gegensatz zu dem, was die bisherige Struktur des Vergleichs erwarten lässt, werden nicht die moralischen Herausforderungen, mit denen der Rat konfrontiert ist, beschrieben. Vielmehr ist dies als Beschreibung der moralischen Herausforderungen zu verstehen, mit denen die amerikanische Öffentlichkeit bzw. die Menschheit im Bereich der Bioethik konfrontiert ist. Da mit der Eröffnungsrede nur zwei Publikumsgruppen adressiert werden – eine nationale Öffentlichkeit und die Ratsmitglieder – kann davon ausgegangen werden, dass der Redner hier die Perspektive der nationalen Öffentlichkeit einnimmt. Dabei erscheint das Problem des Erkennens von »evil« nicht als ein epistemologisches Problem, sondern als ein moralisches Problem. Weil die »evils« mit »the goods«, die so begehrt sind, verwoben sind, besteht 100
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die moralische Herausforderung, zu erkennen, dass es sich um »evils« handelt. »The goods we so keenly seek« erscheinen somit als Verführung, die unsere Fähigkeit trübt, »evils« als das zu sehen, was sie sind. In diesem Zusammenhang ist auch der Kontrast mit Terrorismus zu verstehen. Weil Terrorismus im Konflikt mit den kulturellen Werten steht, ist es, wie bei Sklaverei und Despotismus, leicht, »evil« als solches zu erkennen. Weil »evil« im Bereich biotechnologischer Entwicklungen hingegen mit »the goods we so keenly seek« verwoben ist, ist es schwierig, »evil« als solches zu erkennen. Dementsprechend ist auch die Formulierung »if indeed they are evils« zu verstehen. Mit dieser Formulierung wird die durch »identify evil as evil« abgesicherte Annahme der Gegebenheit von »evil« in Frage gestellt. Die Frage »if indeed they are evils« wird allerdings nicht aus der objektiven, analytischen Perspektive des Rats gestellt. Sie wird aus der Perspektive der nationalen Öffentlichkeit gestellt. Dabei erscheint die Nation als mit der moralischen Herausforderung konfrontiert, sich nicht von den »goods«, nach denen sie strebt, dazu verleiten zu lassen, »evil« nicht als das zu sehen, was es ist. Nun stellt sich die Frage, in welchem Kontext das Changieren von der objektiv, analytischen Perspektive eines distanzierten Beobachters zu der teilnehmenden Perspektive des Angehörigen einer Wir-Gruppe einen Sinn ergibt. Warum wird genau an dieser Stelle des Redebeitrags die teilnehmende Perspektive des Angehörigen einer Wir-Gruppe eingenommen? Wie bei dem bereits beschriebenen Perspektivenwechsel verweist dies auf einen Kontext, in dem ein Konflikt zwischen zwei Relevanz- und Gültigkeitskriterien besteht: die Objektivität beanspruchende Perspektive eines distanzierten Beobachters und die teilnehmende Perspektive der Angehörigen einer Wir-Gruppe. Auch hier findet das Wechseln zwischen der distanzierten zu der teilnehmenden Perspektive an einer Stelle statt, an der es um die nationale Moral geht. Die Einnahme der Wir-Perspektive ermöglicht es, die nationale Moral zu bewerten bzw. zu analysieren, ohne in Gefahr zu geraten, die nationalen Werte nicht zu teilen. Mit der Formulierung »the goods we so keenly seek« behauptet der Redner, dass auch für ihn »cures for disease, relief of suffering and the preservation of life« einen Wert darstellen. Somit erlaubt es ihm, die moralischen Probleme oder Herausforderungen der Nation zu bewerten bzw. analysieren, ohne zugleich seinem Publikum gegenüber – die amerikanische Öffentlichkeit – eine überhebliche, bewertende Position einzunehmen. Insofern markiert dieses Changieren einen Konflikt zwischen einem öffentlichen Kommunikationskontext, in dem Bekenntnis zu den nationalen Werten und Normen erwartet wird, und der Rats-
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perspektive, aus der heraus die nationale Moral als Beobachtungsobjekt erscheint. »As modern Americans we face an additional difficulty. The greatest dangers we confront in connection with the biological revolution arise not from principles alien to our way of life but rather from those that are central to our selfdefinition and well-being. Devotion to life and its preservation, freedom to inquire, invent or invest in whatever we want, a commitment to compassionate humanitarianism and the confident pursuit of progress through the mastery of nature fuelled by unbridled technological advance. Yet the burgeoning technological powers to intervene in the human body and mind justly celebrated for their contributions to human welfare are also available for uses that could slide us down the dehumanizing path toward a brave new world or what C.S. Lewis called in a powerful little book by that name ›the abolition of man‹. Thus just as we must do battle with the antimodern fanaticism and barbaric disregard for human life, so we must avoid runaway scientists and the utopian project to remake humankind in our own image. Safeguarding the human future rests on our ability to steer a prudent middle course avoiding the inhuman Osama Bin Ladens on the one side and the post-human Mustafa Mond, Aldous Huxley’s spokesman for the brave new world, on the other.«
In dieser Sequenz werden die Bedeutungszusammenhänge der vorherigen Sequenz reproduziert, expliziert und weiter ausgeführt. Der Redner bleibt in der teilnehmenden Perspektive eines Zugehörigen der nationalen Öffentlichkeit, während die moralischen Probleme der Nation im bioethischen Bereich analysiert werden. Auch hier fungiert die Auflistung der Werte, die mit den biotechnologischen Entwicklungen angestrebt werden als Bekenntnis zu den nationalen Werten. Einhergehend mit diesem Bekenntnis werden allerdings diese Werte als Gefahr gekennzeichnet (»the greatest dangers we confront arise from principles central to our self-definition and well-being«). Die moralischen Herausforderungen des 11. September und die biotechnologischen Entwicklungen werden miteinander verglichen und dies dient weiterhin der Legitimation des Rats. Die Gefahr des 11. Septembers erscheint als fundamentalistische, die Gefahr der biotechnologischen Entwicklungen als progressive Gefahr. Es besteht ein moralischer Imperativ, ebenso gegen die Gefahren der biotechnologischen Entwicklungen wie gegen diejenigen des Terrorismus anzukämpfen. Und bei diesem Kampf geht es um nichts weniger als das »safeguarding the human future«. Darüber hinaus enthält dieser Teil der Eröffnungsrede viele weitere interessante Verweisungszusammenhänge. Beispielsweise beinhaltet die Wir-Perspektive hier einen appellativen Aufruf an das Publikum. Mit »we must do battle« und »we must avoid« wird der Zuhörer aufgefor102
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dert, am Kampf gegen »evil« teilzunehmen. Diese Aufforderung wird in der Form eines moralischen Imperativs (»must«) formuliert. Aus der Perspektive eines Zugehörigen der angesprochenen Wertegemeinschaft ist es dem Redner möglich, eine moralische Aufforderung an das Publikum zu richten, ohne selbst als derjenige zu erscheinen, der den moralischen Zeigefinger hebt. An dieser Stelle dient die Wir-Perspektive also nicht nur der Inklusion des Redners in eine Wertegemeinschaft. Sie dient zugleich dazu, einen auf die Zugehörigkeit zu dieser Wertgemeinschaft gründenden moralischen Imperativ an den Zuhörer zu richten, sich aktiv an der Verhinderung der Gefahren der biotechnologischen Entwicklungen zu beteiligen. Dabei ist in diesem Fall der Adressat, d.h. das Publikum die amerikanische Öffentlichkeit. Des Weiteren wird zwischen der moralischen Herausforderung, die für die amerikanische Öffentlichkeit besteht, und derjenigen, welche für eine breitere, nicht weiter spezifizierte Gruppe (evtl. westliche Gesellschaften oder gar die Menschheit) besteht, unterschieden. Obwohl es sicherlich interessant wäre, diese Verweisungszusammenhänge weiter auszuführen, sind sie nicht von unmittelbarer Relevanz für die Analyse der Formen der Integration unterschiedlicher Relevanz- und Gültigkeitskriterien in den Kommunikationsprozessen des Rats. So breche ich an diese Stelle die detailliertere Wiedergabe der Ergebnisse der Sequenzanalyse ab. Im Folgenden werden die Ergebnisse der bisherigen Analyse zusammengefasst.
Zwischenergebnis In diesem Teil der Eröffnungsrede wird der Rat in einer politischöffentlichen Landschaft verortet, die durch den 11. September dominiert ist. Nachdem die Terroranschläge als Ursache eines Verlusts an medialer und politischer Aufmerksamkeit für den Rat und seine Thematik problematisiert wurden, werden sie als potentiell nützlich für das Anliegen des Rats gedeutet: Weil sie eine erhöhte Aufmerksamkeit für moralische Fragen im Allgemeinen mit sich bringen, könnten sie auch einer Offenheit für das moralische Anliegen des Rats zuträglich sein. Nun erfolgt ein weiterer Schritt in diese neue Situationsdeutung. Das Verhältnis zwischen dem Rat und dem 11. September erscheint nicht mehr als Konkurrenzverhältnis um öffentliche und politische Bedeutsamkeit. Vielmehr werden der Rat und der Präsident als gemeinsam Handelnde in einem Kampf gegen »evil« konstruiert – der Präsident in Reaktion auf die Terroranschläge, der Rat in Reaktion auf die biotechnologische Entwicklungen. Gleichzeitig wird das Tätigkeitsfeld des Rats in Abgrenzung zum Tätigkeitsfeld des Präsidenten als eine der Intervention notwendig vorgeschobene Erkenntnisleistung beschrieben. Während es im Fall von 103
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Terrorismus leicht ist, »evil« als solches zu erkennen, ist dies im Bereich der Bioethik schwierig. Insofern ist im Fall biotechnologischer Entwicklungen die Tätigkeit des Rats Bedingung der Bekämpfung von »evil«. Somit wird die Tätigkeit des Rats in zweierlei Hinsicht legitimiert. Zum einen ist die Bedeutsamkeit des Rats mindestens genau so hoch zu bewerten wie die politische Reaktion auf den 11. September. Beide dienen der Bekämpfung von »evil« – ein Ziel, das im Kontext moralischer Relevanz- und Gültigkeitskriterien nicht zu übertreffen ist. Zum anderen wird die Tätigkeit des Rats durch eine Differenzierung gegenüber dem Tätigkeitsfeld des Präsidenten legitimiert. Während das Tätigkeitsfeld des Präsidenten als Intervention beschrieben wird, wird das Tätigkeitsfeld des Rats als das Erkennen von »evil« beschrieben. Da es im Fall biotechnologischer Entwicklungen schwierig ist, »evil« als solches zu erkennen, ist der Präsident für die Bekämpfung von »evil« auf die Hilfe des Rats angewiesen. An dieser Stelle muss eine Besonderheit der Kommunikationsprozesse des Rats in Erinnerung gerufen werden. Diese sind nicht lediglich Kommunikationsprozesse einer Organisation, sondern zugleich öffentliche Kommunikationsprozesse oder zumindest Kommunikationsprozesse vor einer Öffentlichkeit. In diesem Zusammenhang könnte man fragen, ob die Verortung des Rats in der politisch-öffentlichen Landschaft sowie die damit einhergehende Konstruktion des Politischen wirklich eine für den Rat gültige Selbst- und Fremdbeschreibung ist. Ist dies nicht vielmehr als Selbstdarstellung vor einer Öffentlichkeit zu verstehen? Die Antwort einer konstruktivistisch informierten Kommunikationstheorie und insofern auch der Systemtheorie muss lauten: Sofern diese Selbstund Fremdbeschreibungen die Kommunikationsprozesse des Rats strukturieren, sind sie konstitutiv für die Identität des Rats. Von zentraler Bedeutung für die Fragestellung dieser Arbeit ist, welche Relevanz- und Gültigkeitskriterien im Rahmen dieser neuen Situationsdeutung integriert werden und wie sie integriert werden. Im Folgenden werden zwei Strukturhypothesen formuliert: (1) Ratsspezifische und politische Komplexität werden moralischen Relevanz- und Gültigkeitskriterien untergeordnet, und (2) moralische und wissenschaftliche Relevanz- und Gültigkeitskriterien werden vermengt.
Bioethikrat und Politik im Kontext moralischer Komplexität Im Zuge der Verortung des Rats in der vom 11. September dominierten politisch-öffentlichen Landschaft wird das Tätigkeitsfeld des Rats als das Erkennen von »evil« im Bereich biotechnologischer Entwicklungen konstruiert (»to identify evil as evil« bzw. »distinguishing good from 104
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bad«). Insofern ist die Kommunikation des Rats an einem Erkenntnisproblem orientiert. Kriterium der Relevanz bzw. Gültigkeit von Kommunikationsofferten ist deren Relevanz für die Lösung dieses Erkenntnisproblems. Gleichzeitig erscheint diese Erkenntnisleistung nur als relevant, sofern es dem politischen Ziel der Bekämpfung von »evil« dient. Aufgabe des Rats ist es also, das Erkennen von »evil« bzw. die Unterscheidung von Gut und Böse im bioethischen Bereich zu ermöglichen, damit der Präsident seine Aufgabe – »evil« zu bekämpfen – erfüllen kann. In diesem Sinne werden die ratsspezifischen Erwartungsstrukturen politischer Komplexität untergeordnet. Die Bekämpfung von »evil« ist allerdings im Kontext von Luhmanns Definition von Politik als Teilsystem der Gesellschaft nicht als politisches Relevanzkriterium zu verstehen. Politische Kommunikation ist, Luhmann zufolge, an das Treffen kollektiv verbindlicher Entscheidungen orientiert. An der Unterscheidung Achtung/Missachtung orientierte Kommunikation ist hingegen moralische Kommunikation. »[D]ie Gesamtheit der faktisch praktizierten Bedingungen wechselseitiger Achtung und Missachtung [macht] die Moral einer Gesellschaft aus«.8 Die Unterscheidung gut/böse dient hierbei zur Stabilisierung generalisierter Kriterien wechselseitiger Achtung und Mißachtung.9 Insofern ist, im Rahmen von Luhmanns Begrifflichkeit, eine an der Unterscheidung gut/böse orientierte Kommunikation als moralische Kommunikationsform zu verstehen. Die ratsspezifischen Ziele werden also den vom Rat als politisch konstruierten Zielen untergeordnet. Hierbei wird politische Komplexität im Kontext einer moralischen Unterscheidung wahrgenommen. Aus ratsspezifischer Perspektive erscheint das Politische als Ort, an dem moralische Relevanzkriterien handlungsleitend sind. So wird ratsspezifische Komplexität ebenso wie politische Komplexität moralischen Relevanz- und Gültigkeitskriterien untergeordnet.
Die Hybridisierung wissenschaftlicher und moralischer Selektionskriterien Die Aufgabe des Rats wird als eine Erkenntnisleistung beschrieben: »evil« im Bereich biotechnologischer Entwicklungen als solches zu identifizieren. Biotechnologie erscheint dabei als Bereich, in dem es trotz der Zunahme an »moral seriousness« schwierig ist, »evil« zu erkennen (»to see evil for what it is«).Dies wird darauf zurückgeführt, dass die Werte 8
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Niklas Luhmann: »Soziologie der Moral«, in: Niklas Luhmann/Stefan Hübert Pfürtner (Hg.), Theorietechnik und Moral, Frankfurt/Main: Suhrkamp (1978), S. 8-116, hier S. 51. Vgl. ebd., S. 58f. und N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 311f. 105
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insbesondere der amerikanischen Kultur eine Verführung sind, die das Erkennen von »evil« in diesem speziellen Bereich erschweren. Zentral hierbei ist, dass diese Tätigkeitsdefinition auf einem Moralverständnis basiert, in dem »evil« als ontologisch bzw. transzendental gegeben erscheint. Das Erkennen von »evil« wird dementsprechend nicht als richtige Zuordnung von Phänomenen zu kulturell gesetzten Kategorien von Gut und Böse, sondern als das Fällen wahrer moralischer Urteile verstanden. Dementsprechend können moralische Urteile über die Gegebenheit von »evil« ebenso wahr bzw. unwahr sein wie wissenschaftliche Aussagen. Zugleich wird von einem privilegierten Wissen über die Gegebenheit von »evil« ausgegangen. Dies drückt sich in der in den Formulierungen »to see evil for what it is« sowie »to identify evil as evil« enthaltenen Immunisierung gegen eine Möglichkeit aus, dass im biotechnologischen Bereich »evil« nicht gegeben sein könnte.
Wahre moralische Urteile als verfahrensbasierte Erkenntnisleistung Mit folgender Aussage beginnt der Ratsvorsitzende mit einem neuen Teil der Eröffnungsrede, in der es darum geht, die Tätigkeit des Rats zu definieren: »President Bush has given us the opportunity and obligation of helping him plot and navigate his course. Duly mindful of the daunting task before us, we humbly accept this service.«
Diese Einleitung dient der Einschwörung einer Wir-Gemeinschaft. Repräsentativ für die Ratsmitglieder vollführt der Vorsitzende das Ritual einer feierlichen Annahme des dem Rat zugewiesenen Auftrags (»we humply accept this service«). Der Rat erscheint dabei als Gemeinschaft, die nicht nur eine Aufgabe, sondern auch eine gewisse Einstellung oder Haltung dieser Aufgabe gegenüber teilt. Mit der in diesem Sprechakt enthaltenen Demutsgeste (»opportunity«, »obligation«, »duly mindful«, »humbly«) sowie mit der Formulierung »daunting task« (gewaltige/bedrohliche Aufgabe) wird die Bedeutsamkeit der Tätigkeit des Rats betont. Des Weiteren wird die Verortung des Rats in der politischen Landschaft reproduziert. Die Tätigkeit des Rats erscheint als vom Präsidenten erteilte Aufgabe und Verpflichtung – und zwar als Aufgabe bzw. Verpflichtung, dem Präsidenten zu helfen »to plot and navigat his course«. Auch hier werden also ratsspezifische Relevanz- und Gültigkeitskriterien politischer Komplexität untergeordnet. Zu erinnern ist allerdings
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daran, dass es sich dabei, wie gezeigt, um eine im Kontext moralischer Erwartungsstrukturen konstruierte politische Komplexität handelt. Daraufhin liest der Vorsitzende die Beschreibung des Aufgabenbereichs des Rats (oder genauer: »the council’s mission«) aus dem Gründungsdokument vor. Anschließend stellt er sein Verständnis des Tätigkeitsbereichs des Rats dar (»Permit me a few words on what I think this means and how I suggest we construe it«). Diese Darstellung beginnt er mit einer Schilderung der Geschichte von Bioethik. Darin gibt er sich als einer der Gründungsväter zu erkennen, unternimmt ferner eine historisch-etymologische Exkursion in die Bedeutung des Wortes und beschreibt schließlich die Etablierung von Bioethik als akademischen Fachbereich. Die Beschreibung dessen, was Bioethik für den Rat bedeutet, erfolgt in Abgrenzung zu der soeben genannten Institutionalisierung von Bioethik als akademischer Disziplin: »It is my understanding that for this council ›bioethics‹ refers to the broad domain or subject matter rather than to a specialized methodological or academic approach. This is a council on bioethics, not a council of bioethicists. In fact, very few of us are trained bioethicists. We come to the domain of bioethics not as experts but as thoughtful human beings who recognize the supreme importance of the issues that may arise at the many junctions between biology, biotechnology and life as humanly lived.«
Auffällig ist, dass die Ratsmitglieder in Abgrenzung zu Experten anhand ihrer Eigenschaft als »thoughtful human beings« qualifiziert werden. Jeder ist schließlich ein »human being« und die Zusatzeigenschaft als »thoughtful human beings« reicht – zumindest auf den ersten Blick – wohl kaum aus für die Qualifizierung einer Person als Mitglied einer politischen Beratungsinstanz. Erst im weiteren Verlauf der Sitzungen wird klar, warum gerade diese Eigenschaft im Gegensatz zum Expertenstatus die Ratsmitglieder für das Fällen wahrer moralischer Urteile qualifiziert. Im darauffolgenden Teil beschreibt der Vorsitzende die Vorgehensweise des Rats. Entsprechend der Abgrenzung zur Wissenschaft sind hier Alltagskriterien der Relevanz und Gültigkeit wirksam. Im Gegensatz zur Beschreibung von Bioethik als akademischer Disziplin als »specialized method« und »judging weather deed X or Y is moral or immoral« wird zum einen die Offenheit der Vorgehensweise des Rats betont. Zum anderen und damit einhergehend fungieren »wisdom« and »prudence« als zentrale Kriterien:
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»We are seekers for wisdom and prudence regarding these deep human matters and we are willing to take help from wherever we can find it. […] If our scope is to be broad our manner of inquiry must be searching and open.«
So beschreibt der Ratsvorsitzende das Langzeitprojekt des Rats folgendermaßen: »to develop the attitudes, ideas and approaches for a richer and deeper public bioethics, one that does justice to the full human meaning of biomedical advance […] The wisdom seeking and prudential approach begins by developing the terms of discourse and modes of inquiry best suited to this task and the first part of this meeting is all about how we should approach and do bioethics.«
Im Gegensatz zu Begriffen und Methoden sind Einstellungen (»attitudes«), Ideen und Herangehensweisen (»approaches«) durch ihre Offenheit, d.h. ihre Situations- und Perspektivenabhängigkeit gekennzeichnet. Weisheit ist eine Art von Wissen über die Welt bzw. eine dadurch bedingte Urteilsfähigkeit. Im Gegensatz zu dem spezialisierten, verfahrensbasierten Wissen von Wissenschaft ist Weisheit erfahrungsbasiert. Dementsprechend kann diese Art von Urteilsfähigkeit weder systematisch erlernt werden noch kann das ihr zugrunde liegende, auf einem diffusen und reichhaltigen Erfahrungsschatz beruhende Wissen systematisch vermittelt werden. Zudem ist Weisheit an die charismatische Figur des Weisen gekoppelt. Auch »prudence« meint eine Art Urteilsfähigkeit. Diese basiert aber auf einer Alltagsvernunft, die weder einer besonderen intellektuellen Fähigkeit noch einer besonderen Bildung oder eines Erfahrungsschatzes bedarf. Gemeinsam ist beiden, dass sie im Gegensatz zu wissenschaftlichen Erkenntnisleistungen sie weder systematisch erlernt, erlangt oder vermittelt werden können. Vielmehr sind sie an Alltagsfähigkeiten und Erfahrungen gebunden. Neben der Bedeutsamkeit, die der Tätigkeit des Rats mit diesen Formulierungen zugeschrieben wird, verweist die Beschreibung der Herangehensweise des Rats also an Alltagskriterien der Relevanz und Gültigkeit. Gleichzeitig handelt es sich hierbei allerdings um eine Herangehensweise, die dazu dient, wahre Urteile über die Gegebenheit von »evil« zu erlangen. Schließlich sind die Ratsvorsitzenden »seekers for wisdom and truth in these deep human matters«. Wie mit dieser Herangehensweise wahre Urteile über die Gegebenheit von »evil« erlangt werden sollen, wird in den nächsten Sitzungen deutlich. Die zweite Sitzung des Rats dient der Diskussion einer Kurzgeschichte von Nathaniel Hawthorne – »The Birth-Mark«. Die Geschichte
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handelt von einem »Wissenschaftler«, der versucht den einzigen Makel seiner sonst makellosen Frau – ein Muttermal – zu entfernen und sie dabei umbringt. In der Eröffnung dieser Sitzung wird die Qualifikation der Ratsmitglieder als »thoughtful human beings« in Abgrenzung zu einem wissenschaftlichen Verständnis als Experten reproduziert: »I hope as a matter of process that we can start conversing at this table not as scientists or humanists but as fellow human beings thoughtful about these matters and reacting responsively to the story.«
In der darauf folgenden Diskussion zeigt sich, was »reacting responsively to the story« bedeutet. Die Diskussion verläuft weitgehend als eine Diskussion der emotionalen Reaktion der Ratsmitglieder auf die Kurzgeschichte. Oder genauer: In der Diskussion wird versucht zu erklären, was genau an dieser Geschichte das Gefühl von »repulsion« oder »revulsion« hervorruft: »The question is, is that a worthy aspiration or is there something that necessarily gives rise to shuddering as a result of our efforts to do that?«
Mit der Formulierung »is there something that necessarily gives rise to shuddering [Hervorhebung von mir: A.J.]« wird die Ursache für diese emotionale Reaktion nicht im erlebenden Subjekt verortet, sondern in der Umwelt (»something«). Oder genauer: Die Frage ist, ob diese emotionale Reaktion der Umwelt zugeschrieben werden kann und, wenn ja, was die Ursache für die Reaktion ist. Als durch die Umwelt bedingte Reaktion würde sie nicht als persönlich bzw. an einer subjektiven Wahrnehmung oder Perspektive gebunden erscheinen. Vielmehr wäre sie als allen Menschen gemeinsame Reaktion verobjektiviert. Als solches würde sie als Mittel dienen, um ein moralisches Urteil zu fällen: »is that a worthy aspiration?«. Entscheidend dabei ist allerdings, dass die emotionale Reaktion nicht mit dem Fällen eines moralischen Urteils gleichgesetzt wird. Es gilt erst herauszufinden, ob die emotionale Reaktion umweltbedingt ist und was dieses »something« ist. Die emotionale Reaktion reicht, mit anderen Worten, nicht aus, um wahre moralische Urteile zu fällen. Es muss gezeigt werden, dass dies keine persönliche, subjektabhängige Reaktion ist, sondern eine notwendige und somit der Umwelt zuzuschreibende Reaktion. Des Weiteren muss die Reaktion begründet werden. Ziel ist es also, die Ursachen für die Reaktion herauszufinden. Erst dann wird ersichtlich, was an einer Tatsache gut oder »evil« ist. Erst dann kann »evil as evil« identifiziert werden.
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Im Gegensatz zu moralischer Kommunikation wird also eine emotionale Reaktion bzw. eine damit verbundene Bewertung nicht mit dem Fällen wahrer moralischer Urteile gleichgesetzt. Dies wird insbesondere daran ersichtlich, dass diese Form moralischer Kommunikation zwar immer wieder vorkommt, sich aber stets als nicht anschlussfähig erweist: »Look this is partly what it means to fumble with our intuitions and our thoughts not as experts but as people. When the public worries about these things, this is – they do not have the terms very often for expressing it but it is these kinds of things and we do people a service if we struggle to articulate what it is that we care about in these matters so that at least the debate can be conducted properly to say on the one hand there is this but on the other hand there is that. If you simply say, Ugh‹, you are not really being terribly helpful.«
In diesem Zusammenhang wird auch klar, wie die Eigenschaft der Ratsmitglieder als »thoughtful human beings« das Fällen wahrer moralischer Urteile ermöglichen soll. Davon ausgehend, dass alle Menschen ein intuitives bzw. instinktives Wissen über die Gegebenheit von »evil« haben, erscheinen alle Menschen als befähigt, wahre moralische Urteile über die Gegebenheit von »evil« zu fällen. Kehrseite dessen ist, dass die moralischen Urteile der Ratsmitglieder somit eine Repräsentativität für die moralischen Urteile eines jeden Menschen beanspruchen können. Als »thoughtful human beings« besitzen sie aber zugleich gegenüber der Öffentlichkeit sowie der Politik eine besondere Fähigkeit, diese Urteile zu formulieren und zu begründen. Die moralischen Urteile sind nämlich nur insofern wahr, wie sie nicht subjektabhängig, sondern der Umwelt zuzuschreiben sind. Zwar sind alle Menschen in der Lage wahre moralische Urteile zu fällen. Der Rat aber dient dazu, zu prüfen, ob es sich um ein wahres moralisches Urteil handelt, und dieses Urteil zu begründen, d.h. herauszufinden, was genau die Ursache für die ein moralisches Urteil enthaltende emotionale Reaktion ist. Die Fähigkeit des Rats, diese Funktion zu erfüllen, wird einerseits auf die Eigenschaft der Ratsmitglieder als »thoughtful human beings« und andererseits auf die Herangehensweise bzw. das Verfahren des Rats zurückgeführt: »the wisdom seeking and prudential approach«.
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3. Zur-Verfügung-Stellen fremder Komplexität In diesem Abschnitt werden die Ergebnisse der Sequenzanalyse des Redebeitrags eines Ratsmitglieds in der ersten Sitzung des Rats zusammengefasst. Ziel dieser Zusammenfassung ist es, ein Beispiel zu geben für die als Zur-Verfügung-Stellen fremder Komplexität bezeichnete Form der Integration eigener und fremder Relevanz- und Gültigkeitskriterien. Dies ist eine Form der Integration »fremder« Komplexität in die Kommunikationsprozesse eines anderen Systems, indem sie dessen den Relevanz- und Gültigkeitskriterien untergeordnet wird. Insofern ist es eine Integrationsform, in der die systemtheoretisch postulierte Differenz zwischen Funktionssystemen strukturwirksam ist. Wie angekündigt, wurden die Ratsmitglieder dazu aufgefordert, »to weigh in with some statements if they wish about their own interests and concerns in this field […]«. Dies ist der zweite dieser Aufforderung folgende Redebeitrag. Der Redner beginnt, indem er sich bei dem Ratsvorsitzenden für die Wortübergabe bedankt (»Thank you, Dr. Kass«). Mit einer feierlichen Höflichkeitsfloskel markiert er seine Akzeptanz der Autorität des Ratsvorsitzenden. »Let me begin by saying what an honor it is for me to serve with such a distinguished group under your leadership«. Im Anschluss an diese einleitende Höflichkeitsfloskel kündigt er einen (Neu-)Beginn der Kommunikationsprozesse des Rats an und positioniert sich selbst zugleich als Diskussionsleiter: »I hope it will not be considered trite, I certainly never consider it trite to begin our reflections […]«. Die Bezeichnung seines Redebeitrags als Beginn verweist implizit darauf, dass der Redebeitrag die Funktion hat, den somit eröffneten Kommunikationsraum zu strukturieren. Als ein der Eröffnungsrede des Ratsvorsitzenden folgender Redebeitrag verweist dieser Neubeginn implizit darauf, dass die Eröffnung des Ratsvorsitzenden nicht anschlussfähig ist. Der Redner fasst den Inhalt seines Redebeitrags als »some reflections on the nature of the political order in which we function« zusammen. Bezeichnend ist die Formulierung »nature of the political order«. Indem auf die Natur der politischen Ordnung verwiesen wird, und nicht etwa auf die Struktur oder bestimmte Eigenschaften dieser Ordnung, erscheint sie als eine grundlegende, unveränderbare Ordnung. Mit »in which we function« erscheint die politische Ordnung darüber hinaus als pragmatischer Handlungsrahmen als von Relevanz. Diese »Überlegungen« werden als ein In- Erinnerung-Rufen der Prinzipien einer allen bekannten und selbstverständlichen Ordnung kontextualisiert. Mit der Einleitung des eigenen Redebeitrags mit »so I would simply recall« wird implizit gesagt, dass der Redebeitrag nicht dazu dient, den Ratsmitgliedern neue Information oder Einsichten zu vermitteln, sondern bereits 111
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vorhandenes Wissen in Erinnerung zu rufen. Mit der wiederholten Verwendung von »of course« werden die eigenen Aussagen als Selbstverständlichkeit gekennzeichnet. Somit wird zum einen wie bereits mit »nature of the political order« markiert, dass diese Ordnung nicht hinterfragbar ist. Zum anderen erscheint das Wissen um diese »Natur« als kollektives, selbstverständliches Wissen der adressierten Wir-Gruppe. Der Redner zitiert folgenden bekannten Passus aus der Unabhängigkeitserklärung und kündigt an, einige darin relevante Prinzipien in Erinnerung zu rufen: »we hold these truths to be self-evident that all men are created equal and endowed by their creator with certain unalienable rights and among these are life, liberty and the pursuit of happiness«. Die Formulierung »we hold these truths to be self-evident« hat den programmatischen Charakter einer dogmatischen Selbstbeschreibung einer ideologischen Wertegemeinschaft. Diese proklamative Äußerung des Selbstverständnisses einer Wir-Gruppe beinhaltet eine implizite Verpflichtung, sich zu einem bestimmten Weltbild bzw. zu bestimmten Prinzipien und Rechten zu bekennen. Insofern werden Inklusions- und Exklusionsregeln formuliert. Dieses Weltbild bzw. diese Prinzipien oder Rechte erscheinen als nicht hinterfragbar. Wer sie hinterfragt, ist per Definition nicht Mitglied der Gruppe. Dem entspricht die Bezeichnung dieser Prinzipien als Wahrheiten (»truths«) – und zwar als Wahrheiten, die keiner Begründung bedürfen (»self-evident«). Die Bezeichnung dieser Prinzipien oder Rechte als Wahrheiten verweist auf eine Identität – oder zumindest eine Korrelation – zwischen Aussage und einer objektiv, d.h. unabhängig von der Aussage bzw. vom Betrachter, gegebenen Wirklichkeit. Im Gegensatz zu kulturell gesetzten Rechten und Prinzipien erscheinen diese als unveränderlich und nicht hinterfragbar. Mit »endowed by their creator« wird des Weiteren die unveränderliche und nicht hinterfragbare Geltung dieser Prinzipien und Rechte religiös begründet. Die Geltung dieser Prinzipien wird also im Rahmen dreier verschiedener Legitimationszusammenhänge abgesichert: (1) auf der Ebene einer Wahrheitssemantik (»self-evident truths«), (2) auf der Ebene einer religiösen Begründung (»endowed by God«) und (3) als Kriterium der Zugehörigkeit zu einer Wir-Gruppe (»we hold«). Ferner impliziert die Formulierung »all men are created equal«, dass diese Prinzipien und Rechte nur von Mitgliedern dieser Wir-Gruppe anerkannt bzw. erkannt werden, prinzipiell aber für alle Menschen gelten. Als Zitat aus der Unabhängigkeitserklärung könnte dies lediglich eine rhetorische Bedeutung haben bzw. als anachronistisches Rudiment eines historischen Dokuments verstanden werden. Die hierin enthaltenen Verweisungszusammenhänge sind aber, wie zu sehen sein wird, auch im weiteren Verlauf dieses Redebeitrags strukturwirksam. 112
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Die politische Ordnung erscheint nicht nur als pragmatischer Handlungsrahmen (»in which we function«), sondern als handlungsleitende normative Ordnung einer ideologischen Wir-Gemeinschaft: »In the last century, of course, we fought and prevailed against an ideology that quite explicitly treated the human being as a mere cog in the social wheel and we fought that struggle in the name of the principle of human equalities articulated in the Declaration of Independence.«
Hier wird auf ein national-geschichtliches Ereignis verwiesen: ein gemeinsamer Kampf und Sieg. Somit dient diese Sequenz zur Reproduktion und Stabilisierung einer positiv konnotierten gemeinsamen Identität. Darüber hinaus erscheint die nationale Wir-Gruppe als nicht nur durch gemeinsame Werte und Prinzipien gekennzeichnet, sondern auch durch gemeinsame Zwecke und Ziele, die strategisch umgesetzt werden können. Insofern wird die Nation als zu gemeinsamem Handeln fähige Gemeinschaft dargestellt. Des Weiteren wird hier auf einen ideologischen, und nicht einen politischen Herrschaftskampf verwiesen. Die nationale Identität wird somit als die einer ideologischen Gemeinschaft gekennzeichnet, die bereit und fähig ist, für ihre Werte und Prinzipien zu kämpfen. Konstitutiv für die nationale Identität als Wertegemeinschaft erscheint nicht die Übereinstimmung zwischen faktischer und normativer Ordnung, sondern das Bestreben, die normative Ordnung zu verwirklichen. Mit »of course, it is not a principle that our country has always been able to live up to faithfully« wird zwischen der Verwirklichung dieser Prinzipien und der Geltung dieser Prinzipien unterschieden. »Faithfully« verweist auf eine Treueverpflichtung der Nation als Wertegemeinschaft zu den in der Unabhängigkeitserklärung artikulierten Prinzipien. Im weiteren Verlauf des Redebeitrags zeigt sich, dass diese normative Ordnung als göttliche Ordnung verstanden wird: »And the second thing that I would observe about it, the principle of the Declaration of Independence, is the idea of life and liberty as gifts. Not as something that it is within our human power to create. It is certainly within our human power to destroy them but they are not things that we make and can, therefore, simply cast aside on the basis of our own judgement«. Indem »life and liberty« als Geschenke bezeichnet werden und nicht als »something that it is within our human power to create«, wird zum einen auf eine normative Grenze der menschlichen Handlungsfähigkeit und zum anderen auf eine höhere Macht (»Not within our human power«) und zwar eine Schöpfungsmacht verwiesen. Dementsprechend ist auch »on the basis of our own judgement« als Verweis auf eine höhere Ur113
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teilsinstanz zu verstehen, dessen Urteil sich der Mensch zu fügen hat. Die Notwendigkeit sich dieser Urteilsinstanz zu fügen, wird mit der Eigenschaft dieser Instanz als Schöpfer begründet: »but they are not things that we can make and can, therefore, simply cast aside on the basis of our own judgement«. Die Unabhängigkeitserklärung wird in einer Reihe mit der Bibel als Autorität über diese politische bzw. normative, göttliche Ordnung genannt: »That, of course, recalls the biblical proposition that man is made in the image and likeness of God and in the Declaration, of course, we are told that our basic rights and liberties, our most fundamental rights and liberties, come as gifts endowed by the creator.«
Insofern ist die Unabhängigkeitserklärung als Offenbarungstext zu verstehen, in dem die göttlichen Prinzipien artikuliert sind. Das InErinnerung-Rufen dieser Prinzipien erscheint somit als In-ErinnerungRufen der göttlichen Gebote. Die nationale Wir-Gemeinschaft erscheint als religiöse Gemeinschaft, für deren Identität das Bestreben, die göttliche Ordnung im Diesseits zu realisieren, konstitutiv ist. In dieser Kommunikationsstruktur wird politische Komplexität im Kontext religiöser Relevanz- und Gültigkeitskriterien wahrgenommen.10 Die politische Ordnung erscheint nicht als eine faktische, sondern als eine normative Ordnung. Die Nation wird als Wertegemeinschaft konstruiert, für deren Identität das Bestreben, die Prinzipien dieser normativen Ordnung zu verwirklichen, konstitutiv ist. Diese normative Ordnung wird nicht als kulturell gesetzte, sondern als göttliche Ordnung verstanden, die – auch wenn nur von dieser Nation anerkannt bzw. erkannt – für alle Menschen gilt. Sowohl die Unabhängigkeitserklärung wie die Bibel erscheinen als Offenbarungstexte, d.h. als Artikulation dieser göttlichen Ordnung. Es handelt sich hier um politische Komplexität, nicht nur weil auf die Ordnung einer politischen Größe, der Nation, sondern auch auf
10 Diese Form der Integration von religiösen und politischen Relevanz- und Gültigkeitskriterien ist keineswegs einmalig. Luhmann selbst schreibt in Bezug auf die Zeit bis weit in die Neuzeit hinein: »Es gibt, trotz Freiheit, in der geschaffenen Natur keine nicht ordnungsfähige Sphäre. So gesehen versteht es sich von selbst, daß die Schaffung einer moralischen Ordnung unter den Menschen (und damit die Moral selbst) gut und nicht schlecht ist. Die Differenz von gut und schlecht wird ganz naiv über ihren positiven Wert der Schöpfung zugeordnet. Und dann kann man in einer Art natürlicher Kenntnis der Moral zurückschließen auf das, was Gott lieber sieht«. N. Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, S. 175. 114
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ein politisches Dokument, die Unabhängigkeitserklärung, verwiesen wird. Diese Form der Integration systemfremder Komplexität in systemeigene Komplexität wird im Rahmen von Luhmanns Systemtheorie als Zur-Verfügung-Stellen fremder Komplexität konzeptualisiert. Systemfremde Komplexität ist zwar strukturwirksam, der Code des fremden Systems aber nicht. Von Relevanz ist die systemfremde Komplexität »politische Ordnung« oder »Unabhängigkeitserklärung« im Kontext dieser Kommunikationsstruktur nur vor dem Hintergrund religiöser Relevanz- und Gültigkeitskriterien. Insofern ist sie mit der systemtheoretisch postulierten Differenz zwischen gesellschaftlichen Teilsystemen kompatibel, weil die systemfremde Komplexität der systemeigenen Komplexität untergeordnet wird.
4. Ersetzen Die folgende Sequenz ist aus der bereits erwähnten Sitzung des ersten Treffens entnommen. In dieser Sitzung wird über die Bedeutung einer Kurzgeschichte, »The Birth-Mark«, diskutiert. Die Diskussion dieser Geschichte wurde mit einer an die Öffentlichkeit gerichteten (»council members know but I would like the public to know«) Begründung der Relevanz dieser Diskussion eingeleitet: »It enables us to start talking about bioethics by locating our current concerns in relation to certain enduring matters and questions […]. We can start conversing at this table not as scientists or humanists but as fellow human beings thoughtful about these matters and reacting responsively to the story.«
Der Autor der Kurzgeschichte »The Birth-Mark« ist Nathaniel Hawthorn, ein bekannter amerikanischer Schriftsteller aus dem 19. Jahrhundert. Die Geschichte handelt von einem Mann bzw. »Wissenschaftler«, der darauf fixiert ist, den einzigen Makel seiner sonst makellos schönen Frau, ein Muttermal (Birth-Mark), zu entfernen, und sie dabei umbringt. Die Diskussion ist über weite Strecken als Diskussion der emotionalen Reaktion der Ratsmitglieder auf die Geschichte strukturiert. Diese Reaktion – »repulsion« oder »revulsion« gegenüber dem Protagonisten und seinem Handeln – erscheint nicht als eine für die einzelnen Mitglieder spezifische Reaktion, sondern als menschliche, d.h. allen Menschen gemeinsame, natürliche Reaktion und wird als intuitives bzw. instinktives Wissen über Gut und Böse gedeutet. Das Ziel der Diskussion besteht in der Übersetzung dieser Reaktionen bzw. dieses instinktiven, intuitiven 115
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Wissens in intersubjektiv nachvollziehbare Argumente. Insofern ist die Diskussion der Kurzgeschichte über weite Strecken durch die Kommunikationsstruktur strukturiert, der wir in der Eröffnungsrede des Rats bereits begegnet sind. In dieser Sequenz kann eine Integrationsform beobachtet werden, die sich sowohl von der Hybridisierung funktionssystemspezifischer und funktionssystemfremder Relevanz- und Gültigkeitskriterien als auch vom Zur-Verfügung-Stellen fremder Komplexität unterscheidet. Der Redner beginnt seinen Redebeitrag, indem er seine Reaktion auf die Geschichte von der Reaktion der anderen Ratsmitglieder abgrenzt: »Well, I had some very personal reactions to this story […].« Der Verweis auf »some very personal reactions« impliziert, dass seine Reaktion irgendwie einmalig war und mit seiner ganz privaten Geschichte oder seinen Eigenschaften als Person zu tun hat. Der Unterschied seiner Reaktion gegenüber der Reaktion der anderen Ratsmitglieder wird allerdings daraufhin mit dem Alter begründet, in dem er die Geschichte las. Oder genauer: Er erklärt seine Reaktion damit, dass er die Geschichte zum ersten Mal als Teenager las und sich nun als Psychiater beim Lesen an seine Reaktion als Teenager erinnern konnte. Die »persönliche« Reaktion erscheint demnach dahingehend als eine gegenüber der der anderen Ratsmitglieder einmalige Reaktion, weil sie es erlaubt, zwei Wahrnehmungen der Geschichte zu vergleichen. Die Tatsache, dass diese zwei Perspektiven als die Perspektiven eines Teenagers und eines Psychiaters dargestellt werden, impliziert allerdings, dass sie keine für seine Person spezifischen Reaktionen sind, sondern als repräsentativ für die Kategorie Teenager bzw. Psychiater gelten können. Der Unterschied zwischen der Perspektive des Teenagers und der des Psychiaters erscheint als Unterschied zwischen einer unmittelbaren, emotionalen Reaktion (»it made me shudder. I mean, it was just awful«) und der ein Verstehen ermöglichenden, analytisch distanzierten Reaktion eines Psychiaters. Die Perspektive des Teenagers wird gegenüber der Perspektive des Psychiaters als die bessere bewertet: »and I think the teenager was better. He saw this story more correctly and we could lose the shudder aspect of it as we begin to know more about human – more that human psychological science brings us – takes us away from the ability to really shudder at this awful thing that this man did […]«
Die Tat des Ehemanns wird als »awful thing« bewertet und »shudder« als angemessene emotionale Reaktion. Die emotionale Reaktion erscheint als moralische Bewertung – und zwar als »richtige« moralische Bewertung. Das Verstehen eines Psychiaters wird demgegenüber als 116
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Hindernis für eine emotionale Reaktion konstruiert. Die distanzierte, analytische Perspektive eines Psychiaters erscheint des Weiteren im Zusammenhang der Kommunikationsprozesse des Rats als repräsentativ für eine wissenschaftliche Perspektive. Somit reproduziert dieser Redebeitrag die der Eröffnungsrede zugrunde liegende Struktur, bei der die wissenschaftliche Perspektive als eine das intuitive bzw. instinktive Wissen um Gut und Böse verzerrende Perspektive erscheint. Es folgt ein weiterer Redebeitrag, in dem ein anderes Ratsmitglied etwas aus seinen persönlichen, familiären Verhältnissen öffentlich bekannt gibt: »My daughter was born with a birth-mark.« Hiermit nimmt er die Rolle eines Betroffenen ein: Ein Mitglied seiner Familie ist von dem gleichen »Makel« betroffen wie die Ehefrau des Protagonisten der Kurzgeschichte. Daraufhin schildert der Redner seinem Umgang sowie den Umgang seiner Familie mit dieser Tatsache: »It has not in the slightest degree affected how I or her mother care for her. It does not affect in the slightest how her husband cares for her or how her children care for her.« Im Kontext der bisherigen Diskussion markiert der Redner somit seine Reaktion sowie die Reaktion seiner Familie gegenüber der Reaktion des Protagonisten der Kurzgeschichte als die moralisch richtige Reaktion. Durch die Selbstbeschreibung als Betroffener und als jemand, der moralisch richtig gehandelt hat, qualifiziert sich der Redner nach moralischen Relevanz- und Gültigkeitskriterien (1) als jemand, der berechtigt ist, moralische Urteile in Bezug auf diese Thematik zu fällen, und (2) als jemand, dessen moralische Urteile richtig bzw. legitim sind. Daraufhin drückt der Redner seine Missachtung über das Handeln des Protagonisten aus: »I regard Alymer’s behaviour as absolutely outrageous. I am a perpetual teenager on this subject. I do not know whether she identified with the aggressor or not. I am somewhat at a loss to explain her behaviour but I find Hawthorne’s story unsettling and in a degree appalling.«
Im Anschluss an den vorherigen Redebeitrag muss dies zum einen als Bestätigung der Behauptung aufgefasst werden, dass die emotionale Reaktion der Missachtung als richtiges moralisches Urteil zu verstehen ist. Zum anderen impliziert es, dass »Verstehen« entweder eine moralisch falsche Reaktion ist bzw. die richtige moralische Reaktion verhindert. Es erscheint als moralischer Imperativ, nicht verstehen zu können. Dieser Redebeitrag ist als Wechsel von einer an den Relevanz- und Gültigkeitskriterien der Eröffnungsrede zu einer an moralischen Erwartungsstrukturen orientierten Kommunikation zu verstehen. Wie die Eröffnungsrede ist auch dieser Redebeitrag an dem Fällen moralischer Ur117
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teile orientiert. Aber anders als in der Eröffnungsrede sowie im vorhergehenden Redebeitrag ist die Orientierung an moralischen Urteilen nicht an wissenschaftliche Relevanz- und Gültigkeitskriterien gekoppelt. Wie in der bisherigen Diskussion der Kurzgeschichte erschien im vorherigen Redebeitrag die emotionale Reaktion des Redners als relevant, weil repräsentativ für eine universell menschliche Reaktion. Diese allen Menschen gemeinsame Reaktion erschien wiederum als relevant, weil sie als Mittel dient, um verallgemeinerbare Aussagen über die Gegebenheit von »evil« zu erzielen. In diesem Redebeitrag hingegen erscheint die emotionale Reaktion der Missachtung, d.h. das moralische Urteil, das diese Reaktion impliziert, als an und für sich relevant. Legitimiert wird dieses Urteil nicht über den Verweis auf ein allen Menschen gemeinsames, intuitives Wissen um Gut und Böse. Vielmehr wird der Status des Redners als Betroffener und als jemand, der selbst moralisch richtig gehandelt hat, als entscheidend für die Legitimität des Urteils gerahmt. Im Anschluss folgt ein weiterer Redebeitrag von einem dritten Ratsmitglied. Dieser Redner leitet seinen Beitrag ein mit folgendem Satz: »I do too, but the question is what is it that is appalling.« Mit diesem Redebeitrag wird die Ersetzung der Orientierung an moralischen Erwartungsstrukturen durch eine Orientierung an den Kriterien der Eröffnungsrede eingeleitet. Mit »I do too« markiert der Redner den Gehalt des Redebeitrags seines Vorredners als anschlussfähig. Das moralische Urteil des Vorredners wird als legitim gekennzeichnet. Zugleich wird der Redebeitrag mit »but the question is« als in diesem Kontext irrelevant markiert. Die Tatsache, dass es »appalling« ist, wird zum Konsens bzw. zur Selbstverständlichkeit erklärt. Die Frage »what is it that is appalling« hingegen ist das Erkenntnisziel der Diskussion. Im Rahmen dieses Erkenntnisziels erscheint die emotionale Reaktion als Hinweis auf das richtige moralische Urteil, das aber einer argumentativen Begründung bedarf. Das Kriterium der Relevanz eines moralischen Urteils ist die Einbindung in eine argumentative Analyse der moralischen Bedeutung der Reaktion, um zu verallgemeinerbaren Erkenntnissen über Gut und Böse zu gelangen. In diesem Kommunikationsprozess wird die Differenz zwischen der Kommunikationsstruktur der Eröffnungsrede und einer moralische Kommunikationsstruktur als Grenze der Anschlussfähigkeit bemerkbar. Mit dem zweiten Redebeitrag wird von einem durch die Kriterien der als Hybridisierung bezeichneten Kommunikationsstruktur strukturierten Kommunikationsprozess zu einem durch moralische Erwartungsstrukturen strukturierten Kommunikationsprozess gewechselt. Mit dem dritten Beitrag wird wieder zu einem durch die Relevanz- und Gültigkeitskriterien der Eröffnungsrede strukturierten Kommunikationsprozess zurück118
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gewechselt. Moralische Kommunikation wird als im Rat nicht anschlussfähig und die Orientierung an einer Begründung des mit einer emotionalen Reaktion einhergehenden moralischen Urteils als wirksames Relevanz- und Gültigkeitskriterium markiert. In dieser Sequenz kann also die Strukturwirksamkeit von Differenz im Sinne einer Grenze der Anschlussfähigkeit beobachtet werden. Die Relevanz- und Gültigkeitskriterien der Eröffnungsrede werden durch moralische Erwartungsstrukturen und dann wiederum durch die Kriterien der Eröffnungsrede ersetzt.
5. Zusammenfassung Wie erwartet zeigt sich, dass der Rat ein Ort ist, an dem sich unterschiedliche Systemlogiken und Kommunikationsformen treffen. Die Problematik, unterschiedliche Erwartungsstrukturen zu bedienen, macht sich in Form mehrerer Strukturbrüche bereits in der Eröffnung der ersten Sitzung bemerkbar. Auch die darauffolgende Eröffnungsrede ist durch diese Problematik geprägt. Zum einen wird das Problem bearbeitet, den Rat in einer politischen Landschaft zu verorten, die durch den 11. September dominiert ist. Hierbei erscheinen die Ereignisse des 11. September als Konkurrenz um öffentliche Aufmerksamkeit und politische Bedeutsamkeit. Dieses Konkurrenzverhältnis wird dann positiv konnotiert, indem Rat und Präsident als in einem gemeinsamen Kampf gegen »evil« befindlich dargestellt werden. Gleichzeitig wird das Tätigkeitsfeld des Rats von dem des Präsidenten unterschieden. Die Tätigkeit des Rats erscheint als eine Erkenntnisleistung, die der Bekämpfung von »evil« im Bereich biotechnologischer Entwicklungen notwendig vorgeschoben ist. Diese für politische Beratungsgremien recht typische Trennung von wissenschaftlichem Rat und politischer Tat findet eine spezifische Wendung, indem das Tätigkeitsfeld des Präsidenten moralisch gedeutet wird: Aufgabe des Präsidenten ist die Bekämpfung von »evil«. Insofern wird sowohl politische Komplexität als auch die Erkenntnisleistung des Rats im Kontext moralischer Relevanz- und Gültigkeitskriterien wahrgenommen. Oder anders formuliert: Sowohl politische als auch die organisationsspezifische Komplexität des Rats wird moralischen Erwartungsstrukturen im Sinne von Zur-Verfügung-Stellen fremder Komplexität untergeordnet. Zum anderen wird in der Eröffnungsrede das Problem der Legitimation eines für den Rat spezifischen Bioethikverständnisses bearbeitet. Ziel des Rats ist es, Erkenntnisse über die Gegebenheit von »evil« zu erlangen. Dabei sind die angestrebten Erkenntnisse im wissenschaftlichen Sinne wahre Erkenntnisse. »Evil« gilt als etwas transzen119
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dental bzw. ontologisch Gegebenes. Dementsprechend ist es Ziel des Rats, wahre moralische Urteile über die Gegebenheit von »evil« im Sinne einer Korrelation zwischen Aussage und Wirklichkeit zu erlangen. Die Diskussionen in den Sitzungen des Rats dienen als Verfahren, um den Wahrheitswert moralischer Urteile zu prüfen. Ausgehend von einem jedem Menschen intuitiv bzw. instinktiv innewohnendes Wissen um die Gegebenheit von »evil« erscheinen die Reaktionen nicht als subjektabhängig, sondern als natürliche, d.h. allen Menschen gemeinsame Reaktionen. Somit werden sie verobjektiviert, d.h. dem Erleben und somit der Umwelt kausal zugerechnet. Die Diskussionen dienen dazu, Annahmen über die Ursachen dieser Reaktionen zu prüfen bzw. in intersubjektiv gültige Argumente zu übersetzen. Insofern werden die emotionalen Reaktionen der Ratsmitglieder auf biotechnologische Entwicklungen zum »empirischem Material« bei der Suche nach wahren Erkenntnisse über die Gegebenheit von »evil«. Wissenschaftliche Relevanz- und Gültigkeitskriterien sind in der als Hybridisierung bezeichneten Struktur in mehrfacher Hinsicht wirksam. (1) Die angestrebten Erkenntnisse werden dahingehend als wahr verstanden, dass sie dem Erleben, d.h. der Umwelt kausal zugerechnet werden. (2) Zudem sollen sie durch ein in dem Rat entwickeltes und ausgeübtes Verfahren geprüfte Erkenntnisse sein. Gleichzeitig handelt es sich aber um Erkenntnisse über die Gegebenheit von »evil«. Insofern sind auch moralische Relevanz- und Gültigkeitskriterien wirksam. Die Kommunikationsprozesse sind also zugleich durch die Orientierung an der wissenschaftlichen Unterscheidung wahr/unwahr und an der moralischen Unterscheidung gut/böse strukturiert. Dabei handelt es sich um eine Form der Integration unterschiedlicher Relevanz- und Gültigkeitskriterien, die als »Hybridisierung« bezeichnet werden muss: Keine der beiden Unterscheidungen wird dem anderen hierarchisch untergeordnet noch zeitlich nachgeordnet. Beide Unterscheidungen sind gleichzeitig und gleichwertig strukturwirksam. Die systemtheoretisch postulierte Differenz zwischen funktionssystemspezifischen und funktionssystemfremden Codes ist also nicht strukturwirksam.11 Diese als Hybridisierung bezeichnete Kommunikationsstruktur ist nicht nur in der Eröffnungsrede wirksam. Auch im weiteren Verlauf der Sitzungen werden die Kommunikationsprozesse des Rats über weite Strecken durch »Hybridisierung« strukturiert. Gleichzeitig sind aber auch andere Erwartungsstrukturen wirksam. So können zwei weitere 11 Bei dieser Art der Hybridisierung handelt es sich keineswegs um eine Idiosynkrasie dieses Bioethikrats. Vielmehr werden in der in der Bioethik anerkannten Position des moralischen Realismus wissenschaftliche und moralische Erwartungsstrukturen auf eine ähnliche Weise integriert. 120
EIN BIOETHIKRAT ZWISCHEN W ISSENSCHAFT, POLITIK UND MORAL
Formen der Integration eigener und fremder Relevanz- und Gültigkeitskriterien beobachtet werden: Zur-Verfügung-Stellen fremder Komplexität und Ersetzen. In der als Zur-Verfügung-Stellen fremder Komplexität bezeichneten Kommunikationsstruktur wird politische Komplexität im Kontext religiöser Relevanz- und Gültigkeitskriterien wahrgenommen. Hier ist die systemtheoretisch postulierte Differenz zwischen teilsystemspezifischen und teilsystemfremden Kriterien im Sinne eine Grenze der Relevanz wirksam. Politische Komplexität wird religiöser Komplexität untergeordnet. Oder anders formuliert: politische Komplexität erscheint nur im Kontext von religiösen Verweisungszusammenhängen relevant. Beim »Ersetzen« trifft die als Hybridisierung bezeichnete Kommunikationsstruktur auf moralische Kommunikation. Ein Ratsmitglied bringt seine Empörung über das Verhalten des Protagonisten einer Kurzgeschichte, die in dieser Sitzung diskutiert wird, zum Ausdruck. Im Anschluss an diese an moralischen Relevanz- und Gültigkeitskriterien orientierte Kommunikationsofferte stellt ein weiteres Ratsmitglied die Relevanz dessen, was sein Vorredner gesagt hat, in Frage. Das moralische Urteil des Vorredners wird als nur sofern von Relevanz markiert, wie es zu einer intersubjektiv gültigen Begründung der diesem Urteil zugrunde liegenden emotionalen Reaktion beiträgt. Insofern kann auch bei der als Ersetzen bezeichneten Kommunikationsstruktur Differenz im Sinne einer Grenze der Anschlussfähigkeit beobachtet werden. Die für »Hybridisierung« spezifischen Relevanz- und Gültigkeitskriterien werden durch moralische und dann erneut durch die für »Hybridisierung« spezifischen Kriterien ersetzt. Oder anders formuliert: Unterschiedliche Relevanz- und Gültigkeitskriterien werden einander zeitlich nachgeordnet. Anhand der Kommunikationsstrukturen »Zur-Verfügung-Stellen fremder Komplexität« und »Ersetzen« konnte gezeigt werden, dass es zwar in der Tat möglich ist, die Wirksamkeit von Differenz empirisch zu beobachten. Insofern nimmt Hybridisierung einen für die Fragestellung dieser Arbeit zentralen Stellenwert ein. Gibt es aber tatsächlich keine Möglichkeit, Hybridisierung im Rahmen von Luhmanns Systemtheorie zu erklären? Zu denken ist beispielsweise an das Konzept struktureller Kopplung, Entdifferenzierung, die Multi-Referentialität von Organisationen sowie die Eigenschaft von Moral als Zweitcodierung von Funktionssystemen. Der Beantwortung dieser Frage widmet sich das nächste Kapitel.
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V. Die the oretische Be de utung de r H ybridis ierung
Es stellt sich nun die Frage, welche Bedeutung die empirischen Ergebnisse für die theoretische Frage dieser Arbeit haben. Welche Implikationen besitzt das als Hybridisierung bezeichnete Phänomen für die Möglichkeit, Kommunikationsprozesse, in denen unterschiedliche Referenzsysteme aufeinandertreffen, differenzlogisch zu erklären bzw. zu verstehen? Um diese Frage zu beantworten, ist es notwendig, die empirisch erhobenen Formen der Integration der Relevanz- und Gültigkeitskriterien unterschiedlicher Referenzsysteme in den begrifflich-konzeptuellen Rahmen von Luhmanns Systemtheorie einzuordnen. Ersetzen und ZurVerfügung-Stellen fremder Komplexität sind bereits feststehende Begriffe der Systemtheorie. Sie bezeichnen Phänomene, die mit den Erwartungen der Systemtheorie kompatibel sind. Hybridisierung hingegen ist eine begriffliche Neuschöpfung. Des Weiteren bezeichnet Hybridisierung, wie zu zeigen sein wird, ein empirisches Phänomen, in dem die systemtheoretisch postulierte Differenz zwischen teilsystemspezifischen und -fremden Relevanz- und Gültigkeitskriterien nicht strukturwirksam ist. So stellt sich gerade bei Hybridisierung mit besonderer Brisanz die Frage, wie diese Kommunikationsstruktur im begrifflich-konzeptuellen Rahmen der Systemtheorie definiert werden kann. In der als Hybridisierung bezeichneten Kommunikationsstruktur sind sowohl wissenschaftliche als auch moralische Relevanz- und Gültigkeitskriterien wirksam. Dabei findet anders als bei Zur-VerfügungStellen fremder Komplexität und Ersetzen weder eine hierarchische Unterordnung noch eine sequentielle Ordnung der unterschiedlichen Referenzen im Nacheinander statt. Es handelt sich also um eine Form der In123
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
tegration, in der die systemtheoretisch postulierte Differenz zwischen teilsystemspezifischen (konkret: wissenschaftlichen) und teilsystemfremden (konkret: moralischen) Kriterien nicht strukturwirksam ist. Hybridisierung ist demnach durch zwei Definitionsmerkmale charakterisiert: (1) Sie ist eine Kommunikationsstruktur, in der (2) die systemtheoretisch postulierte Differenz zwischen teilsystemspezifischen und teilsystemfremden Relevanz- und Gültigkeitskriterien nicht strukturwirksam ist. Jenseits der Definition als Kommunikationsstruktur erhält also dieses für die Argumentation dieser Arbeit so zentrale Phänomen lediglich eine negative Bestimmung. Die Unmöglichkeit, die Definitionsmerkmale von Hybridisierung positiv zu bestimmen, ergibt sich zwangsläufig aus dem Anspruch dieser Arbeit, im begrifflich-konzeptuellen Rahmen von Luhmanns Systemtheorie zu bleiben. Empirische Phänomene können nämlich nur insofern im begrifflichen Rahmen einer Theorie verortet werden, wie sie auch mit den konzeptuellen Grundlagen der Theorie kompatibel sind. So fällt die Erklärungslast nicht darauf, zu erklären, was Hybridisierung ist, sondern zu zeigen, dass sie bei einer differenzlogischen Lesart von Luhmanns Systemtheorie nicht verstanden bzw. erklärt werden kann. Damit stellt sich zum einen die Frage, ob sie tatsächlich als Kommunikationsstruktur verstanden werden muss, und nicht etwa als Kommunikationsereignis oder Form der Oszillation zwischen unterschiedlichen Relevanz- und Gültigkeitskriterien. Zum anderen stellt sich die Frage, ob die als Hybridisierung bezeichnete Kommunikationsstruktur (1) als Form struktureller Kopplung unterschiedlicher Referenzsysteme, (2) als jenseits von den Relevanz- und Gültigkeitskriterien eines Funktionssystems gegebene organisations- oder interaktionssystemspezifische Struktur oder (3) als Fall von Entdifferenzierung konzeptuell aufgefangen werden kann. Ferner stellt sich die Frage, (4) ob es sich im konkreten Fall der Integration wissenschaftlicher und moralischer Relevanz- und Gültigkeitskriterien überhaupt um die Integration teilsystemspezifischer und teilsystemfremder Relevanz- und Gültigkeitskriterien handelt. Es wird gezeigt, dass bei einer strikt differenzlogischen Lesart der Systemtheorie keines dieser Konzepte eine Möglichkeit bietet, Hybridisierung zu erklären. Zum Schluss wird noch darauf hingewiesen, dass diese Form der Integration von Moral und Wissenschaft keineswegs eine Idiosynkrasie des Rats ist. Vielmehr ist sie charakteristisch für die im bioethischen Fachgebiet als moralischer Realismus bezeichnete Position. Als Fazit bleibt, dass Hybridisierung ein Phänomen ist, das im Rahmen der Differenzlogik von Luhmanns Systemtheorie nicht verstanden werden kann.
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DIE THEORETISCHE BEDEUTUNG DER HYBRIDISIERUNG
1. Drei Integrationsformen – eine begriffliche Präzisierung Hybridisierung, Ersetzen und Zur-Verfügung-Stellen fremder Komplexität sind Beschreibungen unterschiedlicher Formen des ›Aufeinandertreffens‹ von »eigenen« und »fremden« Relevanz- und Gültigkeitskriterien. Insofern handelt es sich in allen drei Fällen um die Beobachtung von Kommunikationsprozessen. Nun ist es eine kommunikationstheoretische Grundannahme von sowohl der Systemtheorie als auch der objektiven Hermeneutik, dass Kommunikationsprozesse durch Bedeutungsstrukturen strukturiert werden. Bedeutungsstrukturen lassen sich allerdings nicht direkt beobachten, sondern nur über die Beobachtung von Kommunikationsprozessen rekonstruieren. Dies ist die empirische Konsequenz des Abschieds von einem ontologischen Elementbegriff.1 Erst durch die Beobachtung eines Kommunikationsereignisses, in dem an dieses Ereignis mit einer weiteren Kommunikation angeschlossen wird, konstituiert sich die Bedeutung des vorhergegangen Ereignisses. In diesem Sinne fallen Beobachtung und Konstitution von Sinn in eins. Oder anders formuliert: Die Konstitution von Bedeutung findet in Kommunikationsprozessen statt, indem ein Kommunikationsereignis durch die Einbettung in eine Sequenz vorheriger und anschließender Kommunikationsereignisse eine Bedeutung gewinnt.2 So beobachtet die Beobachtung von Kommunikationsprozessen Prozesse der Konstitution von Sinn. Insofern ist Bedeutung nur in Prozessen bzw. im Kontext eines Verweisungszusammenhangs und somit wiederum als Bedeutungsstruktur beobachtbar. Die empirische Konsequenz ist, dass Kommunikationsstrukturen nur über die Beobachtung von Kommunikationsprozessen beobachtet werden können. So schreibt Oevermann: »Von Struktur können wir nämlich in dieser Betrachtung nicht mehr als eine Menge von Elementen reden, die in einer zu spezifizierenden Relation zueinander stehen […] sondern erst dann, wenn wir die Fallstrukturiertheit eines konkreten Gebildes oder Typik von Gebilden meinen. Wir rekonstruieren sie, indem wir mindestens eine vollständige Phase ihrer Reproduktion sequenzanalytisch rekonstruieren. Struktur läßt sich also in diesem Modell von Prozeß gar nicht mehr unterscheiden oder dazu in Gegensatz bringen, denn Struktur zeigt sich nur als Strukturiertheit von konkreten Gebilden, und dies wiederum läßt sich nur nachweisen als Verlauf, d.h. als Prozeß ihrer Reproduktion.«3
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Vgl. N. Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, S. 65f. Vgl. N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 72f. U. Oevermann: »Genetischer Strukturalismus und das sozialwissenschaftliche Problem der Erklärung der Entstehung des Neuen«, S. 274. Ohne den 125
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
Die Methode der objektiven Hermeneutik dient dazu, die den Kommunikationsprozessen zugrunde liegenden Kommunikationsstrukturen zu rekonstruieren. Bei jeder Kommunikationsofferte wird gefragt, vor dem Hintergrund welcher Bedeutungszusammenhänge die Wahl genau dieser Kommunikationsofferte Sinn macht. Die Selektion einer Kommunikationsofferte dient also als Verweis auf die jeweilige Selektion konditionierender Bedeutungsstrukturen. Insofern handelt es sich bei allen drei empirisch erhobenen Formen der Integration fremder und eigener Relevanz- und Gültigkeitskriterien um Kommunikationsstrukturen des amerikanischen Bioethikrats »The President’s Council on Bioethics«.
Zur-Verfügung-Stellen fremder Komplexität Zur-Verfügung-Stellen fremder Komplexität ist, wie gesagt, eine Kommunikationsstruktur, in der die Komplexität unterschiedlicher Funktionssysteme integriert wird. Hierbei handelt es sich um eine Form der Integration, die mit den differenzlogischen Annahmen der Systemtheorie kompatibel ist. Die politische Ordnung der Vereinigten Staaten wird im Kontext religiöser Vorstellungen von Gott und Schöpfung wahrgenommen. Insofern wird politische und religiöse Komplexität integriert, indem politische Wirklichkeitskonstrukte religiösen Relevanz- und Gültigkeitskriterien untergeordnet werden. Somit bilden teilsystemspezifische (konkret: religiöse) Verweisungszusammenhänge eine Grenze der Anschlussfähigkeit. Politische Komplexität ist nur im Kontext religiöser Erwartungsstrukturen relevant. Oder anders formuliert: Die systemtheoretisch postulierte Differenz zwischen teilsystemspezifischer und teilsystemfremder Komplexität ist bei dieser Form der Integration im Sinne einer Grenze der Relevanz strukturwirksam.
Plausibilisierungseffekt von Zitaten überstrapazieren zu wollen, soll eine weitere Stelle aus Oevermanns Schriften zitiert werden, um diese ebenso grundlegende wie wichtige empirische Konsequenz des Verständnisses von Sinn als in selbstreferentiellen Prozessen kontinuierlich Produziertes und Reproduziertes zu belegen: »Struktur und Prozeß lassen sich also gar nicht mehr unterscheiden, sie fallen ineins.« Auf der gleichen Seite in der Fußnote heißt es weiter: »Deshalb sind auch selbst im Strukturalismus noch verbreitete Bestimmungen von Struktur als etwas Statischem, als »long dureé« (F. Braudel), und eine darauf dann auffußende vordergründige Unterscheidung von Struktur und Ereignis nur irreführend. Als ob es strukturlose Ereignisse oder ereignislose Strukturen gäbe.« U. Oevermann: »Die Methode der Fallrekonstruktion in der Grundlagenforschung sowie der klinischen und pädagogischen Praxis«, S. 71. 126
DIE THEORETISCHE BEDEUTUNG DER HYBRIDISIERUNG
Ersetzen Mit Ersetzen werden Prozesse beschrieben, in denen zwischen »eigenen« und »fremden« Relevanz- und Gültigkeitskriterien gewechselt wird. Die der Eröffnungsrede zugrunde liegende Kommunikationsstruktur wird durch eine moralische Kommunikation ersetzt. Moralische Kommunikation wird dann wiederum in einem weiteren Redebeitrag als nicht anschlussfähig im Kontext der Kommunikationsprozesse des Rats markiert und durch die Kommunikationsstruktur der Eröffnungsrede ersetzt. Bedingung der Beobachtung von Ersetzen ist Kontinuität auf der Ebene des Kommunikationsprozesses. Dementsprechend wird im Fall von Ersetzen fehlende Anschlussfähigkeit bei einer gleichzeitigen Kontinuität des Kommunikationsprozesses konstatiert. Dies scheint auf den ersten Blick eine paradoxe empirische Beobachtung zu sein. Im Kontext der Sequentialitätsannahme der Systemtheorie müsste nämlich fehlende Anschlussfähigkeit ein Abbruch des Kommunikationsprozesses bedeuten. Dass Ersetzen beobachtet werden kann, d.h. dass der Kommunikationsprozess weiterläuft trotz fehlender Anschlussfähigkeit, steht allerdings nicht im Widerspruch zur konstitutionstheoretischen Sequentialitätsannahme.4 Dass der Wechsel auf der Strukturebene und die Kontinuität auf der Prozessebene zugleich beobachtet werden können, ist darauf zurückzuführen, dass sich die Kommunikationsprozesse unterschiedlicher Referenzsysteme durchaus am gleichen Material – und das heißt über eine Gleichzeitigkeit auf der Ebene von Kommunikationsereignissen gekoppelt – beobachten lassen. So ist es möglich, den Abbruch eines Kommunikationsprozesses auf der Ebene der Strukturen von Funktionssystemen zu beobachten, während sich der Kommunikationsprozess auf der Ebene der Organisation – und zwar aufgrund organisationsspezifischer Strukturen – fortsetzt.5 Diese organisationsspezifischen Strukturen orientieren sich wiederum an organisationsspezifischen Relevanz- und Gültigkeitskriterien. Insofern sind Programme des Ersetzens als Form von struktureller Kopplung im Sinne einer spezifischen Form von ZurVerfügung-Stellen fremder Komplexität zu verstehen. Auch im Fall von Ersetzen bedarf also der Kommunikationsprozess einer Kommunikationsstruktur, welche Komplexität bzw. Kontingenz soweit reduziert, dass die Selektion einer Kommunikationsofferte möglich ist.
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Dies steht auch nicht im Widerspruch zu der differenzlogischen Grundlage des systemtheoretischen Verständnisses gesellschaftlicher Teilsysteme als selbstreferentielle Systeme. Eine weitere Ebene der Kontinuität des Kommunikationsprozesses, die analytisch unterschieden werden kann, ist die des Interaktionssystems. 127
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
Festzuhalten bleibt, dass beim Ersetzen die Grenzen der Anschlussfähigkeit als Widerstand gegen fremde Relevanz- und Gültigkeitskriterien beobachtet werden können. Insofern sind sowohl Zur-VerfügungStellen fremder Komplexität als auch Ersetzen empirische Phänomene, die im konzeptuellen Rahmen der Systemtheorie von Luhmann erklärt werden können bzw. in der die Strukturwirksamkeit von Differenz beobachtet werden kann.
Hybridisierung Auch das mit Hybridisierung bezeichnete Phänomen muss als Kommunikationsstruktur verstanden werden. Mit dieser Behauptung wird eine Definition von Hybridisierung als Kommunikationsereignis ausgeschlossen. Hybridisierung kann weder als (1) gleichzeitiger Verweis auf noch als (2) Oszillation zwischen die Relevanz- und Gültigkeitskriterien unterschiedlicher Referenzsysteme bzw. Strukturen verstanden werden. Sowohl die Beschreibung von Hybridisierung als Kommunikationsereignis, in dem gleichzeitig auf die Kriterien mehrerer Referenzsysteme verwiesen wird, als auch als Aneinanderkettung von Kommunikationsereignissen, in der nacheinander auf unterschiedliche Kriterien verwiesen wird, steht im Widerspruch zu einer grundlegenden konstitutionstheoretischen Annahme der Systemtheorie: der Sequentialität von Sinnkonstitutionsprozessen – hier konkret von Kommunikationsprozessen. Zu (1): Die Begründung des Verständnisses von Sinnkonstitutionsprozessen als notwendig Gleichzeitigkeit ausschließende, sequentielle Prozesse, wurde oben bereits zusammengefasst. Die Bedeutung eines Kommunikationsereignisses erschließt sich bzw. konstituiert sich erst in der Kommunikationssequenz, d.h. im Kontext eines rekursiven Verweisungszusammenhangs. Demnach kann ein Kommunikationsereignis nicht auf die Relevanz- und Gültigkeitskriterien mehrerer Systeme zugleich verweisen. Die konkrete Bedeutung bzw. der Verweisungszusammenhang eines Kommunikationsereignisses, erschließt sich erst rekursiv bzw. wird erst rekursiv in der Anschlusskommunikation konstituiert. »Ereignis ist danach das (sozial kleinstmögliche) Temporalatom […] Für sich selbst bleibt danach das Ereignis, und ebenso die Handlung, uncharakterisiert wie der Punkt. Nicht einmal über die zeitliche Mindestausdehnung läßt sich etwas ausmachen – es sei denn relativ auf selektive strukturelle Verknüpfung.«6
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N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 389.
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DIE THEORETISCHE BEDEUTUNG DER HYBRIDISIERUNG
Die Bedeutung eines Kommunikationsereignisses ergibt sich demnach nur im Kontext eines Kommunikationsprozesses. Erst indem eine Kommunikationsofferte im Zusammenhang mit vorhergehenden Kommunikationsofferten kontextuiert wird, wird ihre Bedeutung konstituiert. Zu (2): Das mit Hybridisierung bezeichnete Phänomen kann nicht als Oszillation zwischen den Relevanz- und Gültigkeitskriterien unterschiedlicher Referenzsysteme interpretiert werden. Die Begründung schließt an das soeben beschriebene konstitutionstheoretische Verständnis von Sinnkonstitutionsprozessen als sequenzielle Prozesse an. Bei der Deutung von Hybridisierung als Oszillation zwischen unterschiedlichen Erwartungsstrukturen wird die These der Gleichzeitigkeit durch die These der Sequentialität der Verweisungszusammenhänge ersetzt. Im konstitutionstheoretischen Kontext des systemtheoretischen Sinnkonzepts kann aber der beobachtete Kommunikationsprozess nicht als beliebige Aneinanderkettung von Kommunikationsereignissen verstanden werden. Dass genau die beobachteten Kommunikationsofferten aus dem Horizont aller anderen möglichen Kommunikationsofferten selegiert würden, verweist – so die konstitutionstheoretische Annahme – auf die bei der Selektion wirksamen Relevanz- und Gültigkeitskriterien. Die beobachtete Aneinanderkettung von Kommunikationsereignissen, verweist mit anderen Worten auf die den Kommunikationsprozess determinierende Kommunikationsstruktur.7 Festzuhalten bleibt, dass Hybridisierung weder als Kommunikationsereignis noch als Oszillation zwischen »eigener« und »fremder« Relevanz- und Gültigkeitskriterien ist. Vielmehr ist sie als stabilisierter Verweisungszusammenhang eine Kommunikationsstruktur. Das heißt, sie ist ein stabilisierter Verweisungszusammenhang. Nun bleibt zu fragen, inwiefern Hybridisierung, als Struktur verstanden, im begrifflichkonzeptuellen Rahmen von Luhmanns Systemtheorie erklärt werden kann.
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Diese Behauptung ist in Zusammenhang von Luhmanns Definition von Determination zu verstehen: »Der Begriff ›determiniert‹ besagt also nicht, daß alle Ursachen für Veränderungen durch das System selbst ausgewählt und bestimmt werden können; er besagt nur, daß die Abfolge der Benutzung und Veränderung von Strukturen auf eben diese Strukturen angewiesen ist«. N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 279. 129
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
2 . H yb r i d i s i e r u n g u n d D i f f e r e n z l o g i k Oben wurde gezeigt, dass Zur-Verfügung-Stellen fremder Komplexität, Ersetzen und Hybridisierung (1) Kommunikationsstrukturen sind, die (2) fremde und eigene Komplexität integrieren. Bei Zur-VerfügungStellen fremder Komplexität und Ersetzen handelt es sich um Integrationsformen, die mit dem konzeptuellen Rahmen von Luhmanns Systemtheorie und insbesondere mit Luhmanns differenzlogischem Verständnis der Selbstreferentialität gesellschaftlicher Teilsysteme kompatibel sind. Im Folgenden wird zu prüfen sein, inwiefern Hybridisierung als Struktur verstanden systemtheoretisch erklärt werden kann. Dafür ist es notwendig, einen weiteren Schritt in der Verortung dieses Phänomens im Begriffsapparat bzw. konzeptuellen Rahmen von Luhmanns Theorie zu wagen. Konkret geht es um drei Fragen: Inwiefern kann Hybridisierung (1) als strukturelle Kopplung unterschiedlicher Funktionssysteme, (2) als Entdifferenzierung unterschiedlicher Funktionssysteme oder (3) als organisations- oder interaktionssystemspezifische Struktur verstanden werden? Zentral ist dabei, inwiefern diese Konzepte bei einer strikt differenzlogischen Lesart von Luhmanns Systemtheorie in der Lage sind, das als Hybridisierung bezeichnete empirische Phänomen zu erklären. Gezeigt wird, dass sich Hybridisierung in allen drei Fällen gegen ein solches Verständnis sperrt. Um Hybridisierung mit diesen Konzepten erklären zu können, müssten sie nämlich auf eine Art interpretiert werden, mit der man sich in Widersprüche zu grundlegenden konstruktivistischen und differenzlogischen Annahmen von Luhmanns Systemtheorie verstricken würde. Bei dieser spezifischen Form der Integration fremder und eigener Komplexität stellt sich zudem eine vierte Frage: Handelt es sich im konkreten Fall der Integration wissenschaftlicher und moralischer Relevanz- und Gültigkeitskriterien tatsächlich um eine Integration teilsystemspezifischer und teilsystemfremder Relevanz- und Gültigkeitskriterien?
Hybridisierung – eine Form struktureller Kopplung? Eine Möglichkeit, Hybridisierung im konzeptuellen Rahmen von Luhmanns differenzlogischem Verständnis der Selbstreferentialität gesellschaftlicher Teilsysteme zu deuten, ist, sie als Kopplungsstruktur zu beschreiben. Die entsprechende Behauptung müsste lauten: Hybridisierung ist zwar eine Struktur, aber als Kopplungsstruktur ist sie eine mit der Systemtheorie kompatible Form der Integration fremder und eigener Relevanz- und Gültigkeitskriterien. So gesehen, wäre Hybridisierung als Struktur, d.h. als stabilisierte Form der Integration eigener und fremder 130
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Relevanz- und Gültigkeitskriterien zu verstehen, welche quer zu teilsystemspezifischen Grenzen liegt. Während Programme als teilsysteminterne Strukturen Kriterien für die Oszillation zwischen beiden Seiten des teilsystemspezifischen Codes angeben, würde Hybridisierung als Kopplungsstruktur Kriterien für die Oszillation zwischen den Seiten eigener und fremder Codes angeben. Gegen eine solche Interpretation sind folgende Einwände zu erörtern: (1) Sofern das Konzept von Kopplungsstrukturen so gedeutet wird, kann zwischen systeminternen Strukturen und Kopplungsstrukturen als empirische Phänomene allenfalls subsumptionslogisch, aufgrund theoretisch vorgegebener Kategorien unterschieden werden. (2) Strukturen können – Luhmanns Differenzlogik folgend – nicht quer zu den Grenzen eines Systems liegen. Zu fragen bleibt allerdings, ob, sofern Hybridisierung eine organisations- oder interaktionssystemspezifische Struktur bildet, eine Ausnahme zu dieser Regel besteht. Es ist nämlich eine besondere Eigenschaft von Organisationen und Interaktionssystemen, dass sie multi-referentielle Systeme sind. So könnte behauptet werden, dass als organisationsinterne Struktur Hybridisierung doch eine mit der systemtheoretisch postulierten Differenz zwischen gesellschaftlichen Teilsystemen kompatible Form der Integration funktionsystemspezifischer und -fremder Selektionskriterien beinhaltet. Gegen diese Interpretation von Hybridisierung als Kopplungsstruktur ist allerdings folgender Einwand zu machen: 3) Multireferentielle Systeme können zwar Meta-Strukturen entwickeln, die Regeln für das Ersetzen der Orientierung an den Relevanz- und Gültigkeitskriterien eines Funktionssystems durch die eines anderen Funktionssystems beinhalten. Solche Strukturen liegen aber nicht quer zu funktionssystemspezifisch Grenzen. Von Multi-Referentialität kann nämlich nur sofern gesprochen werden, als die Differenz zwischen den unterschiedlichen Referenzsystemen erhalten bleibt. Aus der Perspektive von Funktionssystemen wiederum erzeugen solche Meta-Strukturen stabile Kontexte der Wechselwirkung zwischen Funktionssystemen und ermöglichen somit strukturelle Kopplung im Sinne der Ausbildung analoger Differenzschemata auf der Innenseite der gekoppelten Systeme. Zu (1): Die Definition von Hybridisierung als Kopplungsstruktur würde den Unterschied zwischen teilsysteminternen Strukturen und Kopplungsstrukturen nivellieren bzw. der Subsumption unter theoretisch gebildeten Kategorien überlassen. Sofern ein empirisch beobachteter Kommunikationsprozess durch Selektionskriterien strukturiert ist, welche dem Begriffsapparat der Theorie zufolge spezifisch für den Code und die Programme eines gesellschaftlichen Teilsystems sind, wäre diese Struktur als Struktur der jeweiligen Teilsysteme zu verstehen. Sofern ein empirisch beobachteter Kommunikationsprozess durch Selektions131
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
kriterien strukturiert ist, welche dem Begriffsapparat der Theorie zufolge sowohl teilsystemspezifische als auch teilsystemfremde Kriterien sind, wäre diese Struktur als Kopplungsstruktur zu verstehen. Im Kontext einer solchen Auslegung des Kopplungskonzepts wäre eine empirische Widerlegung der theoretischen Kategorien unmöglich. Die Theorie wäre, mit anderen Worten, gegenüber dem Unterschied zwischen einer mit der Selbstreferentialität der Teilsysteme kompatibeln Kopplung und beispielsweise der auch Luhmann zufolge möglichen Entdifferenzierung von (Teil-)Systemen blind. Die mit Subsumptionslogik stets einhergehende theoretische Indifferenz gegenüber gewissen empirischen Irritationen bildet zwar an und für sich keine ausreichende Grundlage für eine Theoriekritik. Sie ist ein notwendiges Moment jeglicher Beobachterperspektive. So könnte eine theoretisch ermöglichte analytische Unterscheidung zwischen einer Kopplungsstruktur und einer systeminternen Struktur gerade als Leistung der spezifischen Perspektive der Systemtheorie betrachtet werden. Sofern aber gerade dies der blinde Fleck der Systemtheorie wäre, hätte es gravierende Folgen für den Status der Theorie. Wenn sie nämlich nicht in der Lage wäre, die Grenzen bzw. Selbstreferentialität eines Systems zu erkennen, wäre sie zu einem analytischen Kategoriensystem degradiert. Trotz aller Zugeständnisse an den Konstruktivismus beansprucht Luhmann aber mit seiner Theorie die »reale« Operationsweise von Systemen zu beschreiben. Die Systemtheorie behauptet die »reale« Selbstreferentialität gesellschaftlicher Teilsysteme beschreiben zu können und nicht eine mögliche neben vielen anderen Beschreibungen gesellschaftsinterner Ausdifferenzierung zu produzieren. So schreibt Luhmann am Anfang von »Soziale Systeme«: »Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, daß es Systeme gibt. Sie beginnen also nicht mit einem erkenntnistheoretischen Zweifel. Sie beziehen auch nicht die Rückzugsposition einer ›lediglich analytischen Relevanz‹ der Systemtheorie. Erst recht soll die Engstinterpretation der Systemtheorie als eine bloße Methode der Wirklichkeitsanalyse vermieden werden.«8 Zu (2): Der Degradierung zu einem analytischen Kategoriensystem entsprechend würde sich die Systemtheorie mit einer Definition von Hybridisierung als Kopplungsstruktur in Widersprüche zu der eigenen Differenzlogik verstricken. Um dies zu verstehen, ist es notwendig, sich die differenzlogische Grundlage der systemtheoretischen Definition von gesellschaftlichen Teilsystemen als selbstreferentielle, operativ geschlossene Systeme in Erinnerung zu rufen. Bedingung der Entstehung einer Selbstreferentialität ermöglichenden Differenz zwischen (Teil-) 8
N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 30.
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System und Umwelt ist die Stabilisierung einer systemeigenen, von der Umwelt entkoppelten Zeitlichkeit oder genauer: die Stabilisierung einer systeminternen Sequentialität. »Das System ist nicht nur auf struktureller, es ist auch auf operativer Ebene autonom. Das ist mit dem Begriff der Autopoiesis gesagt. Das System kann eigene Operationen nur im Anschluß an eigene Operationen und im Vorgriff auf weitere Operationen desselben Systems konstituieren.«9 Durch die Stabilisierung einer systeminternen Sequentialität – und das heißt nichts anders als durch die Stabilisierung von (teil-)systemspezifischen Kriterien der Determination von Anschlussmöglichkeiten – entkoppelt sich das (Teil-)System von der Umwelt bzw. wird das Teilsystem selbstreferentiell. »Die Notwendigkeit zeitlicher Sequenzierung, so können wir zusammenfassen, zwingt zur Differenzierung von System und Umwelt und im System zur operativen Schließung der Rekursionen.«10 Die (teil-)systemspezifischen Kriterien der Relevanz und Gültigkeit von Kommunikationsofferten determinieren, was im Kommunikationsprozess anschlussfähig ist, und produzieren somit eine Grenze der Anschlussfähigkeit gegenüber der Umwelt. »[D]ie Rekursion selbst wird zur Form, in der das System Grenzziehungen und Strukturbildungen ermöglicht.«11 Die Grenze zwischen (Teil-)System und Umwelt wird wiederum durch die Orientierung an systeminternen Selektionskriterien kontinuierlich produziert und reproduziert. Oder anders ausgedrückt: Die Erwartungsstrukturen als selbstreferentieller Verweisungszusammenhang eines gesellschaftlichen Teilsystems werden durch die Selektion von diesen Strukturen entsprechenden Kommunikationsofferten produziert und reproduziert. Die theoretische Konsequenz ist: Die Selbstreferentialität gesellschaftlicher Teilsysteme realisiert sich in Kommunikationsprozessen und nirgendwo sonst. Die diese Prozesse bedingenden Kommunikationsstrukturen können nicht quer zu den Grenzen der Referenzsysteme liegen. Es ist vielmehr gerade die selbstreferentielle Wechselwirkung zwischen Operation und Struktur, welche die Schließung des Systems bzw. die Produktion und Reproduktion der System/Umwelt-Grenze bedingt. Strukturen, welche »zwischen« bzw. »quer« zu den Grenzen gesellschaftlicher Referenzsysteme liegen, sind im konzeptuellen Rahmen der Systemtheorie genauso wenig möglich, wie es für ein System möglich ist, jenseits der eigenen Grenzen zu operieren.12 9 10 11 12
N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 67. Ebd., S. 75. Ebd., S. 139. Hiermit soll nicht behauptet werden, dass es keine gesellschaftlichen Strukturen jenseits ausdifferenzierter Teilsysteme geben kann. Die Be133
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
Nun ist nach Luhmann die Stabilisierung einer teilsystemeigenen Sequentialität bzw. Eigendynamik nur eine Bedingung der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme. Darüber hinaus ist die Stabilisierung teilsystemspezifischer Codes Bedingung der Selbstreferentialität. Dies steht allerdings nicht im Widerspruch zu der bisher verfolgten Argumentationslinie. Auch nach dem Konzept teilsystemspezifischer Codes ist es für Kommunikationsstrukturen unmöglich, zwischen bzw. quer zu den Grenzen gesellschaftlicher Referenzsysteme zu liegen. Mit der Stabilisierung eines solchen Codes wird das Kreuzen von einer Seite des Codes zu einer anderen erleichtert. Zugleich wird es somit unmöglich, von der einen Seite des Codes auf eine (andere) Seite eines anderen Codes zu wechseln.13 Relevant und gültig sind im Wissenschaftssystem nur Kommunikationsofferten, welche sich an der Unterscheidung wahr/ unwahr orientieren. Kommunikationsofferten, welche sich beispielsweise an der Konsensfähigkeit einer Aussage orientieren, werden demnach in wissenschaftlichen Kommunikationsprozessen durch die fehlende Anschlussfähigkeit bestraft. In der Negation solcher Kommunikationsofferten behauptet das jeweilige Teilsystem seine Selbstreferentialität bzw. reproduziert ihre System/Umwelt-Grenze. Oszillation ist nunmehr nur zwischen den beiden Seiten des Codes möglich. Resultat der Stabilisierung der Identität des jeweiligen teilsystemspezifischen Codes als ZweiSeiten-Form ist also die Entkopplung der Kriterien der Bezeichnung beider Seiten des Codes von den Kriterien der Bezeichnung der positiven oder negativen Seite anderer Codes. Die Programme eines Teilsystems entkoppeln sich von den Programmen anderer Teilsysteme. Die Selbstreferentialität der teilsystemspezifischen Codes müsste sich daher gegen die Stabilisierung von Strukturen, in denen die Relevanz- und Gültigkeitskriterien unterschiedlicher gesellschaftlicher Teilsysteme gekoppelt werden, sperren.14 Die theoretische Konsequenz ist, dass Kommunikationsstrukturen, welche quer zu gesellschaftlichen Referenzsystemen liegen, im Widerspruch zu den Annahmen der Differenzlogik der Systemtheorie stehen. hauptung, es könne keine Strukturen geben, die zwischen bzw. quer zu den Grenzen gesellschaftlicher Referenzsysteme liegen, beschränkt sich darauf, zu sagen, dass die Anschlusskriterien unterschiedlicher Referenzsysteme nicht in ein und derselben Struktur »gekoppelt« sein können. Die räumliche Metaphorik von »zwischen« bzw. »quer« verweist, mit anderen Worten, darauf, dass Strukturen nicht zum Teil innerhalb eines Teilsystems und zum Teil innerhalb eines anderen Teilsystems liegen können. 13 Vgl. ebd., S. 749f. 14 In ähnlicher Weise sperren sich, so Kieserling, Interaktionssysteme gegen die Codes und Programme von Organisationen und Funktionssystemen. Vgl. A. Kieserling: Interaktion unter Anwesenden. 134
DIE THEORETISCHE BEDEUTUNG DER HYBRIDISIERUNG
Zu fragen bleibt allerdings, ob Hybridisierung in der Tat eine quer zu gesellschaftlichen Referenzsystemen liegende Struktur ist. Kann Hybridisierung im konzeptuellen Rahmen der Systemtheorie Luhmanns nicht vielmehr als Entdifferenzierungsphänomen verstanden werden? Oder ist Hybridisierung etwa eine jenseits von Funktionssystemgrenzen verortete organisations- oder interaktionssystemspezifische Struktur? Zu 3): Organisationen als multi-referentielle Systeme sind in der Regel dadurch gekennzeichnet, dass sie die Relevanz- und Gültigkeitskriterien unterschiedlicher Referenzsysteme integrieren. Sofern es sich bei Hybridisierung um eine organisationsspezifische Struktur handelt, ist zu fragen, ob gerade Organisationen eine dahingehende Ausnahme zu der oben geschilderten Regel bilden, als dass sie als multi-referentielle Systeme Strukturen haben können, die quer zu den Grenzen von Teilsystemen liegen. Könnte Hybridisierung, mit anderen Worten, als Struktur einer Organisation nicht doch eine quer zu funktionssystemspezifischen Grenzen liegende Kopplungsstruktur sein? Strukturen, welche die Erwartungsstrukturen unterschiedlicher gesellschaftlicher Funktionssysteme integrieren, können als Meta-Strukturen bezeichnet werden. Dies steht allerdings nicht im Widerspruch zu der Behauptung des letzten Abschnittes, dass Strukturen, der Differenzlogik der Systemtheorie Luhmanns folgend, nicht zwischen verschiedenen Systemen liegen können.15 Strukturen – so war die Aussage – stabilisieren sich immer nur auf der Innenseite von Systemen. Als MetaStrukturen sind Programme des Ersetzens allerdings nicht als Strukturen, welche zwischen oder über den jeweiligen Referenzsystemen liegen, zu verstehen. Programme sind in dem Sinne Meta-Strukturen, als dass sie die Prozesse des Ersetzens strukturieren. Insofern sind sie als systeminterne Strukturen zu verstehen – und zwar als systeminterne Kopplungsstrukturen – und nicht als Strukturen, die zwischen oder über den Funktionssystemen liegen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, zwischen der Kopplungsfunktion solcher Meta-Strukturen bzw. Ersetzungsprogramme (1) als systeminterne Strukturen und (2) als eine durch das organisatorische Setting produzierte Regelmäßigkeit der Kopplung verschiedener Funktionssysteme über Mehrsystemereignisse zu unterscheiden. Auf der Ebene der Funktionssysteme wird, indem die Relevanz- und Gültigkeitskrite15 Hierzu Kneer: »Bei Organisationen und Funktionssystemen handelt es sich […] um getrennt operierende Systeme, die sich nicht überlappen oder überschneiden«. Georg Kneer: »Organisation und Gesellschaft. Zum ungeklärten Verhältnis von Organisations- und Funktionssystemen in Luhmanns Theorie sozialer Systeme«, in: Zeitschrift für Soziologie Jg. 30 (2001), S. 407-42, hier S. 415. 135
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
rien eines Funktionssystems durch die eines anderen ersetzt werden, der Kommunikationsprozess unterbrochen. Insofern fungieren die Programme des Ersetzens zwar auf der Ebene der Organisation als Mechanismen der Integration der Relevanz- und Gültigkeitskriterien unterschiedlicher Referenzsysteme. Auf der Ebene der Funktionssysteme können diese Meta-Strukturen allerdings nicht als Strukturen, welche quer zu den Funktionssystemen liegen, verstanden werden. Dennoch führen Programme des Ersetzens auf der Ebene von Funktionssystemen bzw. genauer auf der Ebene des kommunikativen Aufeinandertreffens von Funktionssystemen zu einem stabilisierten Kontext der Wechselwirkung zwischen einzelnen Funktionssystemen. Sie ermöglichen, mit anderen Worten, eine Stabilisierung von System-zu-System-Beziehungen. Wichtig ist aber, dass, sofern die so gekoppelten Funktionssysteme Kopplungsstrukturen entwickeln, diese – der Differenzlogik von Luhmanns Systemtheorie folgend – immer nur als analoge Differenzschemata auf der Innenseite der jeweiligen Systeme entstehen können. Auch hier gilt die Behauptung, dass Kopplung nur mit der differenzlogschen Konzeptualisierung der Selbstreferentialität gesellschaftlicher Teilsysteme kompatibel ist, sofern die Differenz zwischen den Systemen durch Kopplung nicht unterminiert wird. Noch einmal anders formuliert: Die Programme des Ersetzens fungieren auf der Ebene von Organisationen als Meta-Strukturen, welche den Wechsel zwischen den Selektionskriterien unterschiedlicher Funktionssysteme regeln. In diesem Sinne integrieren sie die Relevanz- und Gültigkeitskriterien unterschiedlicher Funktionssysteme. Auf der Ebene von Funktionssystemen koppeln also die organisationsspezifischen Programme des Ersetzens die jeweiligen Funktionssysteme. Dies tun sie allerdings nicht als Meta-Strukturen, welche oberhalb oder jenseits von einzelnen Referenzsystemen wirksam sind. Vielmehr geschieht dies durch ihre Funktion als Strukturen, welche stabilisierte Kontexte oder genauer: eine Regelmäßigkeit der Mehrsystemereignisse erzeugen. Ob diese so »strukturierten« System-zuSystem-Beziehungen dann tatsächlich in die Entwicklung analoger Differenzierungsschemata bzw. Kopplungsstrukturen münden, ist eine empirische Frage. Nun war bisher in der Beschreibung von organisationsspezifischen Kopplungsstrukturen in der Regel von Ersetzungsprogrammen die Rede. In diesem Zusammenhang ist es aber notwendig, auf einen grundlegenden Unterschied zwischen Strukturen des Ersetzens und Hybridisierung hinzuweisen. In Prozessen des Ersetzens werden die Relevanz- und Gültigkeitskriterien eines Referenzsystems durch die eines anderen ersetzt. Bei Hybridisierung stehen die Relevanz- und Gültigkeitskriterien unterschiedlicher Referenzsysteme undifferenziert nebeneinander oder ge136
DIE THEORETISCHE BEDEUTUNG DER HYBRIDISIERUNG
nauer: verweisen notwendig aufeinander. Die Meta-Strukturen einer Organisation fungieren aber nur als Kopplungsstrukturen, sofern die Differenz zwischen den Relevanz- und Gültigkeitskriterien dieser Systeme erhalten bleibt. Auch hier gilt: Strukturelle Kopplung ist nur möglich, wenn die Selbstreferentialität der gekoppelten Systeme nicht unterminiert wird. Anders gesagt: strukturelle Kopplung gibt es nur insofern, als dass die gekoppelten Systeme selbstreferentiell geschlossen sind. Die Komplexität der gekoppelten Systeme bleibt in durch Ersetzungsprogramme strukturierten Kommunikationsprozessen erhalten. So stellt Hybridisierung eine vom Ersetzen zu unterscheidende Form der Integration der Anschlusskriterien eigener und fremder Referenzsysteme dar. Bereits im vorherigen Abschnitt wurde gezeigt, dass Meta-Strukturen als organisationsspezifische Strukturen der Kopplung unterschiedlicher Funktionssysteme nicht quer zu oder zwischen diesen Systemen liegen. Nun kann darüber hinaus konstatiert werden, dass das mit Hybridisierung bezeichnete Phänomen auch nicht als organisationsspezifische Kopplungsstruktur verstanden werden kann. Zu fragen bleibt allerdings, inwiefern Hybridisierung überhaupt teilsystemspezifische und teilsystemfremde Relevanz- und Gültigkeitskriterien integriert. Ist sie nicht vielmehr eine organisations- oder interaktionssystemspezifische Erwartungsstruktur? Als solche würde Hybridisierung nicht notwendigerweise einen Verlust an Eigenkomplexität auf der Ebene von Funktionssystemen beinhalten. Sie wäre nämlich – so zumindest auf den ersten Blick – ein jenseits von Funktionssystemen gegebener emergenter Bedeutungszusammenhang.16
Hybridisierung – eine emergente Struktur? Es ist eine charakteristische Eigenschaft von Organisationen, dass in ihnen über Mehrsystemereignisse gekoppelt die Kommunikationsprozesse mehrerer Referenzsysteme zeitgleich verlaufen. Während diese besondere Eigenschaft es ermöglicht, das kommunikative Aufeinandertreffen unterschiedlicher Referenzsysteme zu beobachten, bringt sie die zusätzliche empirische Problematik mit, festzustellen, auf welcher Systemebene das beobachtete Phänomen zu verorten ist. Bei der Beobachtung organisatorischer Kommunikationsprozesse ist also zu fragen, ob die jeweils beobachtete Struktur die Struktur eines Funktionssystems, der Organisation oder des Interaktionssystems ist. Im konkreten Kontext des 16 Bisher wurde behauptet, dass Strukturen auch im Sinne von struktureller Kopplung nicht zwischen Systemen liegen können. Bei Luhmann ist aber auch die Rede von operativer Kopplung. Dass diese Möglichkeit im Widerspruch zu der eigenen Differenzlogik steht, wurde bereits gezeigt. 137
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
theoretischen Interesses daran, ob sich das als Hybridisierung bezeichnete Phänomen im differenzlogischen Begriffsapparat der Systemtheorie einordnen lässt, stellen sich folgende Fragen: (1) Ist Hybridisierung eine Struktur, in der funktionssystemspezifische und funktionssystemfremde Relevanz- und Gültigkeitskriterien notwendig aufeinander verweisen? (2) Oder ist Hybridisierung eine Struktur, die eine von den Relevanzund Gültigkeitskriterien gesellschaftlicher Funktionssysteme unabhängige Existenz beansprucht – und zwar als organisationsspezifische bzw. als interaktionssystemspezifische Struktur? Wie der Begriff Hybridisierung bereits suggeriert, wäre im ersten Fall die Schlussfolgerung, dass das als Hybridisierung bezeichnete Phänomen nicht der systemtheoretisch postulierten Differenz (im Sinne einer Grenze) zwischen gesellschaftlichen Funktionssystemen entspricht. Im zweiten Fall wäre das Phänomen systemtheoretisch wenig überraschend. Als organisationsspezifische bzw. interaktionssystemspezifische Struktur verstanden, würde es sich nicht um die Hybridisierung funktionssystemspezifischer und funktionssystemfremder Selektionskriterien handeln. Vielmehr stabilisiere sie eine für die jeweilige Organisation bzw. für das jeweilige Interaktionssystem spezifische Erwartungsstruktur. Um diese Fragen zu beantworten, ist es notwendig, die abstrakt-begriffliche Ebene der Analyse zu verlassen und die konkreten Verweisungszusammenhänge der empirisch beobachteten Hybridisierungsstrukturen zu betrachten. Die Kommunikationsstruktur der Eröffnungsrede des Bioethikrats kann als Bearbeitung des Problems der Selbstverortung in einer politisch-öffentlichen Landschaft verstanden werden – und zwar in einer durch die Ereignisse des 11. September 2001 dominierten politischöffentlichen Landschaft. Diese Ereignisse erscheinen als Konkurrent für öffentliche Aufmerksamkeit und politische Bedeutsamkeit. Des Weiteren wird der politisch-öffentliche Raum als ein patriotischer Kontext konstruiert. Das Bekenntnis zu der Bedeutsamkeit des 11. September, zu der Notwendigkeit und Richtigkeit der politischen Reaktion darauf als auch zu den nationalen Werten und Normen im Allgemeinen erscheint als Bedingung der Legitimität von Personen und Aussagen. So steht der Rat vor der zusätzlichen Problematik, in einem Konkurrenzverhältnis zu stehen, in dem es nicht legitim ist, sich als Konkurrent zu präsentieren. Vor diesem Hintergrund erfolgt eine Situationsumdeutung, nach der sich der Rat als »Alliierter« des Präsidenten in einem gemeinsamen Kampf gegen »evil« verortet. Sowohl die Reaktion des Präsidenten auf die Terroranschläge als auch die Auseinandersetzung des Rats mit den biotechnologischen Entwicklungen erscheinen somit als zwei »Orte« der Bekämpfung von »evil«. Diese neue Situationsdeutung bringt eine zweifache Legitimation des Rats mit sich. Zum einen wird der Rat legitimiert 138
DIE THEORETISCHE BEDEUTUNG DER HYBRIDISIERUNG
als Instanz, welche gemeinsam mit dem Präsidenten »evil« bekämpft. Zum anderen wird das Tätigkeitsfeld des Rats gegenüber dem des Präsidenten in Reaktion auf den 11. September abgegrenzt. Terrorismus wird als Fall definiert, in dem es leicht sei, »evil« als solches zu erkennen, Bioethik hingegen als Feld, indem dies schwierig sei. Auch dies hat eine Legitimationsfunktion: Der Rat erbringt eine dem politischen Handeln notwendig vorgeschobene Erkenntnisleistung. Bevor der Präsident »evil« im biotechnologischen Bereich bekämpfen kann, muss der Rat sie identifizieren. So gesehen ist die diese Sequenz strukturierende Kommunikationsstruktur ohne Zweifel als organisationsspezifische Struktur zu verstehen. Die Kommunikationsstruktur fungiert als Lösung eines organisationsspezifischen Problems: Der Selbstverortung des Rats im Verhältnis zu den Ereignissen des 11. September und somit der Legitimation der Tätigkeit des Rats. Die als Hybridisierung bezeichneten Strukturen können also als Mechanismen der Lösung zu einer für den Rat als Organisation spezifischen Problematik verstanden werden – und somit als organisationsspezifische Struktur. Insofern scheint auf den ersten Blick eine systemtheoretische Antwort auf das Phänomen Hybridisierung auf der Hand zu liegen: Ja, Strukturen können weder zwischen noch quer zu Systemgrenzen liegen, sondern stets nur systemintern gegeben sein. Und im Falle des als Hybridisierung bezeichneten Phänomens handelt es sich um eine systeminterne Struktur des Rats als Organisation. Auf der Ebene von Operationen ließe sich die gleiche Behauptung mit folgender Argumentation begründen. Der konstruktivistischen Grundannahme der Systemtheorie folgend, sind Operationen sowie Elemente nicht ontologisch oder essentialistisch gegeben, sondern werden erst systemintern konstituiert. Demzufolge – so die nahe liegende Schlussfolgerung – sind die Operationen, welche die als Hybridisierung bezeichneten Strukturen produzieren und reproduzieren, nicht Elemente von Funktionssystemen, sondern Elemente des Bioethikrats als Organisation. Sie produzieren und reproduzieren einen organisationsspezifischen Bedeutungszusammenhang bzw. werden durch die Kontextuierung in einem organisationsspezifischen Bedeutungszusammenhang als Elemente des Systems konstituiert. Demnach produzieren und reproduzieren Organisationen eine Grenze zu ihrer gesellschaftlichen Umwelt gerade dadurch, dass diese organisationsspezifischen Strukturen Selektionskriterien auf eine Art vermengen, die im Widerspruch zu der Eigenlogik unterschiedlicher Funktionssysteme stehen. Die Stabilisierung von organisationsspezifischen, mit den Relevanz- und Gültigkeitskriterien anderer Referenzsysteme nicht verträglichen Anschlusskriterien ist ein geradezu konstitutives Moment der selbstreferentiellen Schließung eines Systems. Demnach wäre das empi139
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
rische Phänomen nicht als die Hybridisierung der funktionsystemspezifischen und -fremden Selektionskriterien zu verstehen, sondern als Konstitution einer für die Organisation spezifischen Erwartungsstruktur. Gegen eine solche Auslegung sind zwei Einwände zu erheben: (1) Die Selektionskriterien, die in der als Hybridisierung bezeichneten Struktur vermengt werden, sind nicht nur charakteristisch oder typisch für Wissenschaft und Moral. Vielmehr sind es solche, die den jeweiligen Kommunikationsformen essentialistisch zuzuordnen sind. Insofern handelt es sich um eine organisationsspezifische Struktur, welche funktionssystemspezifische und funktionssystemfremde Kriterien integriert. (2) Neben diesem auf den konkreten Eigenschaften der empirisch beobachteten Phänomene gründenden Einwand ist zweitens auf die pragmatischen (oder vielleicht eher: analytischen) Konsequenzen einer Auslegung von Hybridisierung als organisationsspezifische Struktur zu verweisen. Hier handelt es sich um das gleiche Argument, dem wir bereits bei der Möglichkeit, Hybridisierung als strukturelle Kopplung zu verstehen, begegnet sind. Sofern die Selbstreferentialität gesellschaftlicher Teilsysteme so definiert wird, dass nur solche Strukturen, Operationen und Relevanzkriterien als dem System zugehörig verstanden werden können, welche der Definition der Selbstreferentialität entsprechen, wird die Theorie blind für Irritationen der Empirie. Es reicht, eine einzige Struktur zu finden, welche diesen Kriterien entspricht, um zu behaupten, es gäbe das entsprechende Referenzsystem. Eine solche Definition würde Luhmanns Systemtheorie zu einer analytischen Perspektive degradieren. Die tatsächliche bzw. »reale« Operationsweise bzw. Selbstreferentialität wäre nicht bestimmend für die Zuordnung von Strukturen zu Referenzsystemen.17 Zu (1): Bereits mit dem Begriff der »Hybridisierung« wird die Vermutung nahegelegt, dass die systemtheoretisch postulierte Differenz zwischen fremden und eigenen Selektionskriterien in dieser Kommunikationsstruktur nicht wirksam ist. Postuliert die Systemtheorie hier aber wirklich eine Differenz? Nur, wenn die Orientierung an der Unterscheidung wahr/unwahr dem Wissenschaftssystem essentialistisch zugehörig ist. Kann aber von einer essentialistischen Zugehörigkeit gesprochen werden, wenn dieses Selektionskriterium mit moralischen Erwartungs17 Mit seiner Theorie beansprucht Luhmann aber, »reale« Systeme zu beschreiben: »Die Realität ist mit dem Vollzug der Operation gegeben, und insofern sind alle beobachtenden Systeme reale Systeme mit entsprechenden Realabhängigkeiten.« N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 78. »Alles Beobachten findet real in der Realität statt«. Ebd., S. 92. »Alles Unterscheiden und Bezeichnen ist also zunächst: faktisches Operieren.« Ebd., S. 305f. 140
DIE THEORETISCHE BEDEUTUNG DER HYBRIDISIERUNG
strukturen gekoppelt ist, und zwar auf eine Weise, die in Widerspruch zu der Eigenlogik von Wissenschaft steht? Im Folgenden wird gezeigt, dass in der Tat von einer essentialistischen Zugehörigkeit ausgegangen werden muss. Oder genauer: Die Annahme einer essentialistischen Zugehörigkeit steht nur insofern in Widerspruch zu der Systemtheorie, wie die differenzlogische Beschreibung der Selbstreferentialität gesellschaftlicher Teilsysteme selbst den eigenen konstruktivistischen Annahmen widerspricht. Bedingung der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme ist, Luhmann zufolge, die Stabilisierung eines systemspezifischen Codes. Codes sind binäre Strukturen bzw. Zwei-Seiten-Formen. Die Stabilisierung eines solchen Codes erleichtert das Kreuzen der Grenze vom Wert zum Gegenwert. Insofern lässt sich die Operationsweise eines Teilsystems als Oszillation zwischen beiden Seiten des systemspezifischen Codes verstehen. Des Weiteren wird dadurch, dass für jede Aussage teilsystemintern ein Gegenwert bereitgehalten wird, Selbstreferentialität erzeugt. Wie bei der Ja/Nein-Codierung der Sprache erzeugen Codes für jeden Wert einen Gegenwert und somit eine systeminterne Welt anderer Möglichkeiten. So entsteht eine teilsystemspezifische Selbstreferentialität: Die Operationen eines Teilsystems verweisen über sich hinaus auf eine systeminterne Welt anderer Möglichkeiten. Das Kreuzen von einer Seite des Codes zur anderen erfordert Zeit. Auch in dieser Hinsicht bedingt die Stabilisierung eines systemspezifischen Codes die Ausdifferenzierung eines Teilsystems. Es ist nicht möglich, auf beiden Seiten eines Codes zugleich zu operieren. Durch das Kreuzen von einer Seite des Codes zur anderen entsteht zum einen eine systemspezifische Sequentialität. Zum anderen entsteht somit andererseits eine systemspezifische Zeitlichkeit.18 Ferner können Systeme durch die Orientierung an dem eigenen Code die eigenen Operationen von Operationen der Umwelt unterscheiden und so eine Grenze der Anschlussfähigkeit produzieren. »[D]er Code definiert die Einheit des Systems, er macht erkennbar, welche Operationen das System reproduzieren und welche nicht.«19 Unter der Bedingung funktional differenzierter Gesellschaften findet, Luhmann zufolge, alle Kommunikation, die sich an der Unterscheidung wahr/unwahr orientiert, im Wissenschaftssystem statt. Oder anders formuliert: Jede Operation, die auf die Unterscheidung wahr/unwahr orientiert ist, ist eine Kommunikation des Wissenschaftssystems. »Das System reproduziert sich durch Zuordnung von Kommu-
18 Vgl. N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 368; Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 195. 19 N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 401. 141
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nikationen zu diesem Code. Alle Operationen und nur Operationen, für die dies gilt, sind interne Operationen des Systems«.20 »Immer wenn mit Hilfe [der Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit] […] Beobachten beobachtet wird, ordnet die entsprechende Operation sich dem durch sie erzeugten System Wissenschaft zu.«21 Bedingung der Stabilisierung eines solchen binären Codes ist die Rejektion anderer, dritter Werte. Eine positive Operation des Systems – beispielsweise für die Wissenschaft »wahr« – verweist immer auf die andere Seite des Codes, den negativen Gegenwert »unwahr«. Der negative Gegenwert (»unwahr«) verweist wiederum auf den positiven Wert »wahr«. Die Oszillation zwischen beiden Seiten ein und desselben Codes ist Bedingung der selbstreferentiellen Zirkularität der Sinnoperationen eines Teilsystems und somit der Schließung dieses Systems. Von einer Seite des Codes zu der anderen Seite eines anderen Codes zu wechseln, ist nach Luhmann unter der Bedingung moderner funktional differenzierter Gesellschaften nicht möglich. »Die Endstufe dieser Ausdifferenzierung, an der nur noch wenige Medien teilnehmen, wird erreicht, wenn zum Kreuzen der Grenze, zum Umformen des Wertes in den Gegenwert, eine Negation ausreicht. Innerhalb des Codes ist der Übergang zum Gegenteil erleichtert – aber unter Verzicht auf jede Implikation für die Werte anderer Codes.«22 Zu unterscheiden ist dementsprechend bei der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme zwischen Programmen und Codes. Während die Programme eines Systems variabel sind, ist die Stabilisierung eines systemspezifischen Codes Bedingung der Schließung einer systemspezifischen Selbstreferentialität. So unterscheiden sich beispielsweise Operationen des Wissenschaftssystems durch die Orientierung an der Unterscheidung wahr/unwahr von Operationen anderer Referenzsysteme. Mit dem Begriff der »Hybridisierung« wird behauptet, dass in dieser Struktur funktionssystemspezifische und funktionssystemfremde Selektionskriterien in einer stabilisierten Form aufeinander verweisen. Dies impliziert, wie bereits gesagt, dass die Relevanz- und Gültigkeitskriterien die Luhmann zufolge einem Funktionssystem essentialistisch zugehören, mit dem Funktionssystem fremden Kriterien »vermengt« werden. Diese Aussage kann nun präzisiert werden. Hybridisierung ist eine Kommunikationsstruktur, in der die gleichzeitige Orientierung an den wissenschaftlichen und den moralischen Codes als Kriterium der Rele-
20 Ebd., S. 309. 21 Ebd., S. 174. 22 N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 366f. 142
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vanz und Gültigkeit von Kommunikationsofferten fungiert. Die Orientierung an der Unterscheidung wahr/unwahr fungiert gleichermaßen als Anschlusskriterium wie die Orientierung an der Unterscheidung gut/ böse. Die Kommunikationsprozesse werden nämlich durch die Orientierung an der Produktion von wahren Aussagen über die Existenz von »evil« strukturiert. So ist es im Kontext dieser Kommunikationsstruktur möglich, von einer Seite eines Codes zu der anderen Seite eines anderen Codes zu wechseln. Eine derartige Verleimung wissenschaftlicher und moralischer Komplexität dürfte aber, der Differenzlogik der Systemtheorie folgend, in funktional differenzierten Gesellschaften nicht möglich sein. Zu (2): Oben wurde gezeigt, dass im Bioethikrat wissenschaftliche und moralische Komplexität in einer Form integriert wird, die mit der systemtheoretisch postulierten Differenz zwischen teilsystemspezifischen und teilsystemfremden Codes nicht kompatibel ist. Es bleibt allerdings noch ein argumentativer Fluchtpunkt, um sich gegen die Hybridisierungsthese zu wehren. Man könnte achselzuckend antworten: Die Unterscheidung wahr/unwahr ist eben nur eine wissenschaftliche Unterscheidung und insofern Teil oder Operation des Wissenschaftssystems, als sie nicht mit anderen Kriterien vermengt wird.23 Dann könnten Relevanz- und Gültigkeitskriterien per Definition allenfalls im Sinne von Zur-Verfügung-Stellen fremder Komplexität im Rahmen des Wissenschaftssystems als untergeordnete Unterscheidungen vorkommen. Alles andere wäre ein Hinweis darauf, dass die Unterscheidung keine Unterscheidung des Wissenschaftssystems sei. Demnach wäre eine an der Unterscheidung wahr/unwahr orientierte Kommunikationsofferte nur insofern Teil des Wissenschaftssystems, als an ihr mit weiteren an diese Unterscheidung orientierten Kommunikationsofferten angeschlossen wird. Sind Unterscheidungen angeschlossen, die nicht wissenschaftliche sind, d.h. wird zu einer (anderen) Seite eines anderen Codes gewechselt, ist es demnach keine wissenschaftliche Kommunikation. Dies ist sicherlich eine mögliche und auch eine empirisch fruchtbare Perspektive. Allerdings hat sie im Hinblick auf die Frage nach der Rolle von Differenz in sozialen Sinnkonstitutionsprozessen große Nachteile. Sie setzt Differenz 23 Hierzu Bühl: »[…] [D]urch den Begriff des ›selbstreferentiell-geschlossenen Reproduktionszusammenhangs‹ […] [können] […] alle Elemente (auch wenn sie als vorkonstituierte Bestandteile aus der Umwelt kommen) nur insoweit als Systemelemente fungieren […], als sie der Selbstreferenz unterworfen sind […].« Walter Ludwig Bühl: »Luhmanns Flucht in die Paradoxie«, in: Peter-Ulrich Merz-Benz/Gerhard Wagner (Hg.), Die Logik der Systeme. Zur Kritik der systemtheoretischen Soziologie Niklas Luhmanns, Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 2000, S. 225-257, hier S. 213. 143
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so, dass diese empirisch nicht widerlegt bzw. ihr Fehlen gar nicht erst beobachtet werden könnte. Oder anders formuliert: Es wäre nicht möglich, empirisch zwischen dem stabilisierten Verweisungszusammenhang einer Kommunikationsstruktur und eines selbstreferentiellen, operativ geschlossenen Teilsystems zu unterscheiden. Die als »real« postulierte Selbstreferentialität von gesellschaftlichen Teilsystemen würde sich auch hier unter der Hand in eine analytische verwandeln. Die differenzlogisch begründete Behauptung, dass mit der Ausdifferenzierung eines Funktionssystems bzw. der Stabilisierung eines funktionssystemspezifischen Codes alle an dieser Unterscheidung orientierten Kommunikationsofferten Teil des entsprechenden Funktionssystems sind, müsste aufgegeben werden. Mit diesen Überlegungen soll keineswegs bestritten werden, dass eine Operation nur wissenschaftlich ist, sofern sie im Netzwerk weiterer wissenschaftlicher Operationen verortet wird. So tautologisch diese Definition klingt, so sehr leuchtet sie im Kontext einer differenzlogischen Definition der Selbstreferentialität gesellschaftlicher Teilsysteme als zirkulärer Prozess der Produktion und Reproduktion der eigenen Elemente aufgrund eigener Operationen ein. Systemtheoretisch betrachtet kann es genauso wenig wissenschaftliche Kommunikation vor der Ausdifferenzierung bzw. nach einer Entdifferenzierung des Wissenschaftssystems wie jenseits der Grenzen eines wissenschaftlichen Systems geben. Dementsprechend besagt die Feststellung, dass die hier als Hybridisierung bezeichnete Kommunikationsstruktur funktionssystemspezifische und funktionssystemfremde Selektionskriterien vermengt, dass Hybridisierung im Rahmen von Luhmanns Differenzlogik nicht verstanden bzw. nicht erklärt werden kann. Weder ist es Ziel der Argumentation, Hybridisierung zu definieren noch sie zu erklären. Es geht im Gegenteil darum zu zeigen, dass eine Erklärung bzw. Definition von dem als Hybridisierung bezeichneten Phänomen im konzeptuellen Rahmen von Luhmanns Theorie nicht möglich ist.
Hybridisierung – ein Entdifferenzierungsfall? Es gibt Luhmann zufolge nicht nur die Möglichkeit der gesellschaftlichen Differenzierung, sondern auch die Möglichkeit gesellschaftlicher Entdifferenzierung. So stellt sich die Frage, inwiefern bzw. unter welchen Bedingungen das kommunikative Aufeinandertreffen unterschiedlicher gesellschaftlicher Teilsysteme als Prozess der Entdifferenzierung verstanden werden kann. Die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Funktionssysteme ist nach Luhmann ein voraussetzungsvoller und kontingenter Prozess. Eine Bedingung von Ausdifferenzierung ist die Stabi144
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lisierung teilsystemspezifischer von alltäglichen, moralischen Relevanzund Gültigkeitskriterien entkoppelte Codes.24 Doch gerade weil in der als Hybridisierung bezeichneten Kommunikationsstruktur wissenschaftliche und moralische Anschlusskriterien integriert werden, liegt die Vermutung nahe, dass es sich um ein Fall von Entdifferenzierung handelt. Um zu entscheiden, ob es sich bei Hybridisierung tatsächlich um ein Beispiel von Entdifferenzierung handelt, ist nach den Kriterien für die Beschreibung einer Kommunikationsstruktur als Resultat von Entdifferenzierung zu fragen. Hier ist an den differenzlogischen Grundsatz von Luhmanns Systemtheorie zu erinnern: Entweder es gibt Systeme oder es gibt sie nicht! Die Konsequenzen sind zweierlei: (1) Das Emergenzpostulat trifft mit der gleichen Konsequenz, aber in umgekehrter Form für die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme zu wie es für die Entdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme zutrifft. Es können dann Bedingungen der Ausdifferenzierung bzw. der Entdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme genannt und gegebenenfalls auch historisch beobachtet werden. Die eigentliche Ausdifferenzierung bzw. Entdifferenzierung kann aber nicht beobachtet werden. Dies resultiert daraus, dass es entweder gesellschaftliche Teilsysteme gibt oder nicht! Prozesse der Entdifferenzierung sind ebenso wie Prozesse der Ausdifferenzierung allenfalls als Stabilisierung der Bedingungen von Entdifferenzierung bzw. Ausdifferenzierung zu beobachten. (2) Von Entdifferenzierung kann im begrifflichen und konzeptuellen Rahmen einer Systemtheorie Luhmannscher Provenienz nur gesprochen werden, sofern gesell-
24 So schreibt Luhmann beispielsweise: »In älteren Gesellschaften, die sich noch nicht voll auf funktionale Differenzierung umgestellt haben, wird die Programmebene benutzt, um die abstraktere Extravaganz der binären Codierung in die Gesellschaft zurückzuintegrieren. […] Die Wissenschaft hat sich mit common sense und mit überliefertem Wissen zu arrangieren.« N. Luhmann: Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000, S. 94. In Gesellschaften hingegen, die sich voll auf funktionale Differenzierung umgestellt haben, werden die Programme »von gesellschaftlichen Integrationsansprüchen entlastet und auf je ihren Code zugeschnitten« (ebd., S. 95). Auch in »Die Wissenschaft der Gesellschaft« erscheint die Entkopplung von Relevanz- und Gültigkeitskriterien des Alltags als Bedingung der Ausdifferenzierung eines Wissenschaftssystems: »Die Ausdifferenzierung der Wissenschaft ist danach nicht nur durch die Eigenständigkeit und gesellschaftliche Unabhängigkeit der Konstruktionen gesichert, die sie als Programme verwendet; sie ist vielmehr schon auf der Ebene der codierten Operationen erreicht, und die Differenz von Alltagswissen und theoretisch und methodisch abgesichertem Wissen ist nur eine Folge der damit gewonnenen Autonomie.« N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 402f. 145
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schaftsweit keine Differenz mehr zwischen dem Funktionssystem und seiner gesellschaftlichen Umwelt besteht.25 Auch hier ist der Satz zu wiederholen: Entweder gibt es gesellschaftliche Teilsysteme oder es gibt sie nicht. Eine punktuelle oder graduelle Entdifferenzierung ist im Rahmen eines differenzlogischen Verständnisses der Selbstreferentialität gesellschaftlicher Teilsysteme nicht möglich. Zwar könnte ein Konzept von einer graduellen Entdifferenzierung entwickelt werden.26 Ein solches Entdifferenzierungskonzept ist aber nicht mit der Differenzlogik von Luhmanns Gesellschaftstheorie kompatibel. Es müsste nämlich davon ausgehen, dass System/Umwelt-Überschneidungen oder Überlappungen möglich sind. Hier ist aber nur zu klären, ob bei einer strikt differenzlogischen Lesart von Luhmanns Systemtheorie Hybridisierung erklärt werden kann. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass weder der Prozess der Entdifferenzierung beobachtet werden noch das Fehlen einer entsprechenden Selbstreferentialität gesellschaftsweit aufgewiesen werden kann.27 Bei dem konkreten Phänomen Hybridisierung handelt es sich zudem offensichtlich um einen Sonderfall, der der Lösung eines spezifischen, organisatorischen Problems dient. Als organisationsspezifische Lösung eines organisationsspezifischen Problems ist es, gelinde gesagt, unplausibel, Hybridisierung als Beweis von gesellschaftsweiter Entdifferenzierung aufzufassen.
Moralische Selektionskriterien als »fremde« Erwartungsstrukturen? Moralische Kommunikation ist nach Luhmann eine an der Unterscheidung Achtung/Missachtung orientierte Kommunikationsform. Die Un25 Vgl. A. Bora: Differenzierung und Inklusion, S. 94ff.; A. Bora: »Öffentliche Verwaltung zwischen Recht und Politik«, S. 178f. 26 Vgl. Wolfgang Krohn/Günter Küppers: »Zur Emergenz systemspezifischer Leistungen«, in: Wolfgang Krohn/Günter Küppers (Hg.), Emergenz. Die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1992, S. 161-188. 27 Zu fragen ist allerdings, ob es umgekehrt – einer strikten Differenzlogik folgend – reicht, einen einzigen empirischen Fall aufzuweisen, in dem der Code eines Funktionssystem nicht als stabilisierte Form von Relevanzkriterien anderer Codes entkoppelt ist, um zu belegen, dass Ausdifferenzierung nicht gegeben ist. In einem solchen Fall, wäre so eben – der Logik der Systemtheorie folgend – nachgewiesen, dass es gesellschaftsweit kein Wissenschaftssystem und kein politisches System (mehr) gibt! Dies könnte nun als gesellschaftsweite Entdifferenzierung interpretiert werden oder – eine vielleicht plausiblere Alternative – als Beleg für die Unzulänglichkeit einer differenzlogischen Beschreibung gesellschaftlicher Teilsysteme. 146
DIE THEORETISCHE BEDEUTUNG DER HYBRIDISIERUNG
terscheidung gut/böse fungiert dabei als Zweitcodierung. Über die Orientierung an der Unterscheidung gut/böse werden Kriterien für die Unterscheidung zwischen Achtung/Missachtung stabilisiert. Im Gegensatz zu wissenschaftlicher Kommunikation ist moralische Kommunikation, Luhmanns zufolge, keine funktionssystemspezifische Kommunikationsform. Zwar ist die Stabilisierung eines für eine Kommunikationsform charakteristischen Codes Bedingung der Entstehung eines teilsystemspezifischen Verweisungszusammenhangs. Die Stabilisierung eines solchen Codes mündet allerdings nicht zwangsläufig in der Entstehung eines selbstreferentiellen, operativ geschlossenen Systems. Moralische Kommunikation ist eine solche Kommunikationsform, bei der sich ein Code stabilisiert hat, ohne aber dass sich ein an diesem Code orientiertes Teilsystem ausdifferenziert hätte. Insofern handelt es sich bei Hybridisierung zwar um eine Kommunikationsstruktur, in der von einer Seite eines Codes zu einer Seite eines anderen Codes gewechselt wird. Der »andere« Code ist aber nicht derjenige eines anderen Funktionssystems. Ferner ist es, Luhmann zufolge, eine moralische Kommunikation charakterisierende Eigenschaft, dass sie eine Zweitcodierung gesellschaftlicher Funktionssystemen bilden kann und in der Regel auch bildet. So drängt sich die Frage auf, ob die Systemtheorie überhaupt eine Grenze der Anschlussfähigkeit zwischen an wissenschaftlichen und an moralischen Relevanz- und Gültigkeitskriterien orientierte Kommunikation postuliert. Diese Frage ist mit ja zu beantworten. Die Entkopplung des teilsystemspezifischen Codes von dem Code moralischer Kommunikation ist ebenso Bedingung der für Ausdifferenzierung notwendige Stabilisierung des Codes wie die Entkopplung von anderen nicht-codierten Verweisungszusammenhängen sowie von den Relevanz- und Gültigkeitskriterien anderer Funktionssystemen. So schreibt Luhmann etwa in »Die Wissenschaft der Gesellschaft«: »[D]ie Wissenschaft versucht, durch Ausdifferenzierung eines eigenen Systems, das autonom über Wahrheit und Unwahrheit befindet, dem moralischen Urteil zu entkommen.«28 Es ist also richtig, dass moralische Kommunikation eine Zweitcodierung eines jeden gesellschaftlichen Teilsystems bilden kann und in der Regel auch bildet. Moralische Kommunikation ist allerdings nur mit der Selbstreferentialität des jeweiligen Teilsystems kompatibel, sofern sie als Zweitcodierung fungiert, d.h. den teilsystemspezifischen Relevanz- und Gültigkeitskriterien untergeordnet wird. So wird beispielsweise anhand wissenschaftlicher Kriterien der Unterscheidung zwischen Achtung/Missachtung wissenschaftliche Kommunikation moralisch codiert. Es handelt sich allerdings nur um eine moralische Codierung wis28 N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 269. 147
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
senschaftlicher Kommunikation, sofern die Kriterien der Achtung bzw. der Missachtung im Kontext der Orientierung an der Unterscheidung wahr/unwahr von Relevanz sind.
Hybridisierung von Wissenschaft und Moral – eine Idiosynkrasie? Die Systemtheorie ist eine Universaltheorie und behauptet die reale Operationsweise sozialer Systeme beschreiben zu können. Ausgehend von diesem Selbstverständnis reicht es aus, ein einziges empirisches Beispiel sozialer Sinnkonstitutionsprozesse zu finden, das nicht differenzlogisch erklärt bzw. verstanden werden kann, um zu zeigen, dass eine differenzlogische Konzeptualisierung sozialer Sinnkonstitutionsprozesse nicht funktioniert. Die als Hybridisierung bezeichnete Kommunikationsstruktur ist allerdings keineswegs idiosynkratisch für den Rat oder gar der Eröffnungsrede des Ratsvorsitzenden. »The President’s Council of Bioethics« genießt nämlich große politische Bedeutung und öffentlicher Sichtbarkeit. Zu seinen Mitgliedern gehören renommierte Sozial- und Naturwissenschaftler der amerikanischen Wissenschaftsgemeinschaft. Sofern die Kommunikationsstruktur Hybridisierung wissenschaftliche und moralische Relevanz- und Gültigkeitskriterien auf eine Weise integrieren würde, die mit den Erwartungsstrukturen weiterer gesellschaftlicher Kontexte nicht kompatibel ist, wäre die Eröffnungsrede weder ratsintern noch in der politisch-öffentlichen Sphäre anschlussfähig. Dies ist aber nicht der Fall. Im Gegenteil, die Kommunikationsprozesse der weiteren Sitzungen sind über weite Strecken durch eine Orientierung an die Selektionskriterien dieser Kommunikationsstruktur strukturiert. Außerdem genießt der Rat eine anhaltende, breite öffentliche Resonanz. Man könnte aber weiterhin einwenden, dass diese Anschlussfähigkeit gewissermaßen auf eine idiosynkratische Situation zurückzuführen ist: eine auf die Terroranschläge auf das World Trade Center folgende allgemeine Konjunktur moralischer Argumente. In diesem Kontext – so würde die Vermutung lauten – konnte eine sonst nicht anschlussfähige Hybridisierung wissenschaftlicher und moralischer Relevanz- und Gültigkeitskriterien Akzeptanz finden. Eine solche Hybridisierung war sogar notwendig, um im politisch-öffentlichen Raum Gehör zu finden. Das Argument wäre also, dass es sich um eine vorübergehende durch eine Krisensituation ausgelöste Entdifferenzierung von Wissenschaft handelt. Dagegen spricht, dass diese Form der Integration von Moral und Wissenschaft auch jenseits der Kommunikationsprozesse des Bioethikrats sowie des spezifisch politisch-nationalen Kontexts des 11. Septem148
DIE THEORETISCHE BEDEUTUNG DER HYBRIDISIERUNG
ber einen stabilisierten Verweisungszusammenhang bildet. Einerseits sind zentrale Strukturmerkmale von Hybridisierung bereits in früheren Schriften des Vorsitzenden zu erkennen. Paradigmatisch dafür ist beispielsweise sein 1997 erschienener Artikel »The Wisdom of Repugnance«. Dort schreibt er: »We are repelled by the prospect of cloning human beings not because of the strangeness or novelty of the undertaking, but because we intuit and feel, immediately and without argument, the violation of things that we rightfully hold dear. Repugnance, here as elsewhere, revolts against the excesses of human wilfulness, warning us not to transgress what is unspeakably profound. Indeed, in this age in which everything is held to be permissible so long as it is freely done, in which our given human nature no longer commands respect, in which or bodies are regarded as mere instruments of our autonomous rational wills, repugnance may be the only voice left that speaks up to defend the central core of our humanity. Shallow are the souls that have forgotten how to shudder.«29
Hier ist zum einen die in der Eröffnungsrede wirksame rhetorische Verwendung der Wir-Perspektive, um ein Aufklärungsziel akzeptabel zu machen, wiederzuerkennen. Des Weiteren wird auch hier wie in der Eröffnungsrede und in den darauffolgenden Sitzungen Kultur insbesondere die gegenwärtige Kultur als Verzerrung einer ursprünglichen oder authentischen Intuition bzw. emotionalen Reaktion dargestellt. Damit einhergehend, und dies ist das zentrale Merkmal, erscheint hier wie in der Eröffnungsrede die Bedeutung dieser gefühlsmäßigen Reaktion als Kriterium für das Fällen richtiger moralischer Urteile. Hierbei ist daran zu erinnern, dass schon vor seiner Ernennung zum Bioethikrat der Vorsitzende ein renommierter, anerkannter Teilnehmer der amerikanischen Bioethikdebatte war. Zum anderen ist diese Form der Integration wissenschaftlicher und moralischer Kriterien im Fachbereich Ethik keineswegs exotisch. So besteht in der Metaethik seit den 1970er Jahren eine Debatte zwischen moralischen Realisten und moralischen Antirealisten.30 Kern der Position der moralischen Realisten ist, dass moralische Urteile einen Wahrheitswert haben, weil es moralische Tatsachen gibt: »Wenn man eine im weitesten Sinn realistische Wahrheitsauffassung vertritt, wenn man also annimmt, die Wahrheit von Überzeugungen oder Aussagen hängt von der Beschaffenheit der Welt ab, kann man moralischen Urteilen nur dann 29 Leon Kass: »The Wisdom of Repugnance«, in: New Republic Vol. 216 Issue 22 (1997), S. 17-26, hier S. 5 30 Vgl. Marcus Düwell/Christoph Hübenthal/Micha Werner: Handbuch der Ethik, Stuttgart, Weimar: Metzler 2002, S.31ff. 149
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
einen Wahrheitswert zuerkennen, wenn man auch annimmt, es gebe so etwas wie moralische Tatsachen.«31 Dabei sind die »moralischen Realisten« keine Randgruppe, sondern bilden die Mehrheit in der Debatte. Das Konzept wahrer moralischer Urteile bildet also einen stabilen Verweisungszusammenhang im Fachbereich Ethik.
31 Ebd., S. 32. 150
D IFFERENZLOGIK UND S OZI ALE S YSTEME
VI. Sinn und Differenzlogik
Ergebnis des ersten Teils der Arbeit ist: Bei einer strikt differenzlogischen Lesart kann die als Hybridisierung bezeichnete Kommunikationsstruktur nicht im begrifflich-konzeptuellen Rahmen von Luhmanns Systemtheorie verstanden werden. Als Theorie, die nicht lediglich behauptet eine mögliche analytische Perspektive zu sein, sondern die Position des operativen Realismus einnimmt, erhebt Luhmanns Systemtheorie den Anspruch, die reale Operationsweise sozialer Sinnkonstitutionsprozesse verstehen zu können. Als Universaltheorie beansprucht sie, alle sozialen Prozesse erklären zu können. Das Beispiel Hybridisierung zeigt aber, dass nicht alle sozialen Sinnkonstitutionsprozesse differenzlogisch verstanden werden können. Hybridisierung bezeichnet damit eine Kommunikationsstruktur, in der die systemtheoretisch postulierte Differenz zwischen teilsystemspezifischen und teilsystemfremden Relevanz- und Gültigkeitskriterien nicht wirksam ist. Die moralische Orientierung an der Unterscheidung gut/böse und die wissenschaftliche Orientierung an der Unterscheidung wahr/unwahr werden in dieser Kommunikationsstruktur integriert – und zwar ohne dass eine der beiden Unterscheidungen der anderen untergeordnet wird. So fungiert Moral weder als Zweitcodierung, d.h. als Konditionierung der Orientierung an der Unterscheidung wahr/unwahr noch als Objekt einer wissenschaftlichen Beobachtung. Vielmehr sind die so strukturierten Kommunikationsprozesse an einer wahren Unterscheidung zwischen Gut und Böse orientiert. Hybridisierung ist also eine Kommunikationsstruktur, die im Kontext eines differenzlogischen Verständnisses der Selbstreferentialität gesellschaftlicher Teilsysteme nicht verstanden bzw. erklärt werden kann. Damit ist allerdings noch längst nicht geklärt, was die theoretischen Implikationen der empirischen Ergebnisse sind. Es wurde gezeigt, dass 153
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
die Theorie nicht in der Lage ist, Hybridisierungsphänomene zu erklären, weil sie von empirisch nicht haltbaren Annahmen über die Selbstreferentialität erzeugende Wirkung von Codes ausgeht. Die Implikation ist also, dass – bei einer strikt differenzlogischen Lesart – Luhmanns Verständnis von gesellschaftlichen Teilsystemen als operativ geschlossene, selbstreferentielle Systeme nicht haltbar ist. Beruht die Unfähigkeit der Theorie, Hybridisierung zu erklären, aber lediglich auf einem Problem von Luhmanns Gesellschaftstheorie oder auf einem grundlegenderen Problem? Die These, die in diesem Kapitel begründet wird, ist, dass dies auf ein grundlegendes Problem in der theoriearchitektonischen Bedeutung von Differenz zurückzuführen ist. Luhmann gelingt es nämlich nicht, ein strikt differenzlogisches Verständnis sozialer Sinnkonstitutionsprozesse zu entwickeln, ohne sich entweder in Widersprüche zu verwickeln oder zentrale Systemeigenschaften unerklärt zu lassen. Um diese These zu begründen, werden die verschiedenen Ausformulierungen von Luhmanns Sinnbegriff rekonstruiert. Dabei wird der Sinnbegriff vor dem Hintergrund der Frage, was die theoriearchitektonische Bedeutung des differenzlogischen Sinnbegriffs für Luhmanns Theorie sozialer Systeme ist, analysiert. Gefragt wird: (1) Welche konzeptuellen Probleme sollen mit einem differenzlogischen Sinnkonzept gelöst werden? (2) Inwieweit gelingt es Luhmann, diese Probleme mit einem differenzlogischen Sinnkonzept zu lösen? Gezeigt wird, dass die differenzlogische Konzeptualisierung von Sinn einerseits dazu dient, den Sinnbegriff vom Subjektbezug zu lösen und damit einhergehend die Eigendynamik des Sozialen als selbstreferentielles, operativ geschlossenes System zu erklären. Andererseits dient die differenzlogische Konzeptualisierung von Sinn dazu, die Offenheit sozialer Sinnkonstitutionsprozesse bzw. ihre Fähigkeit, kontinuierlich neuen Sinn zu produzieren, zu erklären. Insofern fungiert das Sinnkonzept als Klammer zwischen Luhmanns allgemeiner Systemtheorie und seiner Theorie sozialer Systeme. Über die verschiedenen Theorieetappen und theoretischen Kontexte hinweg kann dabei allerdings ein systematisches Problem von Luhmanns Sinnbegriff beobachtet werden: Bei dem Versuch, Sinn strikt differenzlogisch zu verstehen, 1. mündet Luhmanns Sinnbegriff entweder in eine mit den konstruktivistischen Grundannahmen der Theorie inkompatible Ontologisierung von Sinn, 2. scheitert das Sinnkonzept an der Erklärung der Offenheit bzw. Dynamik von Sinn oder 3. werden unter der Hand identitätslogische Annahmen eingeführt, die zwar nicht im Widerspruch zu den konstruktivistischen Annahmen der Theorie stehen, sehr wohl aber zum differenzlogischen Ansatz. 154
SINN UND DIFFERENZLOGIK
Bei der Analyse von Luhmanns Sinnkonzept wird zwischen der Beschreibung von Sinn als Unterscheidung zwischen aktuellem und potentiellem Sinn, als instabile Zwei-Seiten-Form und als Unterscheidung zwischen Bezeichnetem und vom Bezeichneten Unterschiedenem differenziert. Zum Schluss wird Sinn im Zusammenhang mit der Medium/Form-Unterscheidung betrachtet und auf die Rolle des Weltbegriffs für die Konzeptualisierung sozialer Sinnkonstitutionsprozesse eingegangen. Auffällig ist die Systematik, mit der sich dieses Problem über die verschiedenen Formulierungen des Sinnkonzepts hinweg stellt. Gleich ob als Unterscheidung zwischen aktuellem und potentiellem Sinn, als instabile Zwei-Seiten-Form oder als Unterscheidung zwischen Bezeichnetem und vom Bezeichneten Unterschiedenem, gibt es zwei Möglichkeiten, die andere Seite von Sinn zu konzeptualisieren: als systemintern oder als jenseits des Systems gegebener Möglichkeitsraum. Sofern die andere Seite des je gegebenen Sinns jenseits des Systems verortet wird, wird der Sinnbegriff ontologisiert. Mit der Verortung der anderen Seite von Sinn auf der Innenseite des Systems ist zwar eine mit der konstruktivistischen Grundlage der Theorie kompatible Deutung gefunden. Unklar bleibt allerdings, wie Neues entstehen kann, d.h. wie die Selbstreferentialität des Systems unterbrochen werden kann. Oder genauer: Sofern die andere Seite einer Sinnoperation auf der Innenseite des Systems verortet wird, bedarf es der Einführung von identitätslogischen Konzepten, um die Entstehung neuen Sinns und somit die Dynamik des Sozialen zu erklären. Schlussfolgerung dieses Kapitels ist, dass Luhmanns differenzlogisches Verständnis sozialer Systeme es ermöglicht, zentrale Probleme identitätslogischer Theorien zu lösen: Die Identität bzw. die Einheit des Ganzen erscheint nunmehr weder als unerklärtes »Mehr« noch wird es emanistisch als Realisierung von Allgemeinem im Besonderen konzeptualisiert. Vielmehr wird die Identität des Sozialen durch das Soziale selbst konstituiert. Durch die kontinuierliche Produktion und Reproduktion einer System/Umwelt-Differenz produziert und reproduziert das jeweilige System zugleich seine eigene Selbstreferentialität, d.h. Identität bzw. Einheit. Gleichzeitig werden aber neue theoretische Probleme generiert. Eine differenzlogische Konzeptualisierung des Sozialen sieht sich nunmehr mit der Problematik konfrontiert, zu erklären, wie eine System/Umwelt-Wechselwirkung und damit einhergehend die Entstehung von Neuem trotz Selbstreferentialität und operativer Geschlossenheit möglich ist. Dynamische Systeme sind Luhmann zufolge konstitutiv auf eine Wechselwirkung mit ihrer Umwelt angewiesen. Um die Tautologie ihrer Selbstreferentialität zu unterbrechen und somit die kontinu155
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
ierliche Produktion, Reproduktion und Transformation von Sinn zu ermöglichen, müssen sie von ihrer jeweiligen Umwelt irritiert werden. Um diese System/Umwelt-Wechselwirkung bzw. die Entstehung neuen Sinns zu erklären, ist Luhmann aber gezwungen, auf identitätstheoretische Konzepte zurückzugreifen.
1. Sinn als Unterscheidung zwischen aktuellem und potentiellem Sinn Luhmann entwickelt sein Sinnkonzept unter Rückgriff auf Husserls Beschreibung von Sinn als ein Über-sich-Hinausweisendes: »Sinn [tritt] immer in abgrenzbaren Zusammenhängen auf und [verweist zugleich] über den Zusammenhang, dem er angehört, hinaus […]«.1 Mit der Einbettung im konzeptuellen Rahmen von Luhmanns Systemtheorie findet allerdings eine Umdeutung und differenzlogische Überformung des phänomenologischen Sinnkonzepts statt. Zum einen wird der Sinnbegriff vom Subjektbezug gelöst. Zum anderen und damit einhergehend wird die von Husserl beschriebene Eigenschaft von Sinn als ein Übersich-Hinausweisendes differenzlogisch gedeutet – und zwar als Unterscheidung zwischen aktuellem und potentiellem Sinn. Im Folgenden wird dieser differenzlogische Sinnbegriff näher erläutert. Dabei gilt es sowohl die Erklärungsleistung dieses Sinnbegriffs als auch die daraus resultierende Problematik aufzuzeigen. Gezeigt werden soll, dass eine solche Auslegung von Husserls Sinnbegriff es auf der einen Seite ermöglicht die Selbstreferentialität des Sozialen zu erklären.2 Gleichzeitig ist aber dieses Sinnkonzept nur in der Lage, die Entstehung von Neuem sowie die Konstitution einer System/Umwelt-Grenze durch Sinn als spezifische Selektionsweise des sozialen Systems zu erklären, sofern Sinn ontologisiert wird. Ein ontologisches Sinnverständnis würde aber im Widerspruch zu der konstruktivistischen Grundlage der eigenen Theorie stehen. Bei der differenzlogischen Interpretation von Husserls Sinnbegriff können analytisch zwei Weisen unterschieden werden, in denen die emergente Realität des Sozialen durch die Eigenschaft von Sinn als ein Über-sich-Hinausweisendes begründet wird. Zum einen wird die Selbstreferentialität des Sozialen damit erklärt, dass Sinn immer über sich hinaus auf anderen Sinn und nicht auf etwas anderes in der Umwelt 1 2
Niklas Luhmann: 1971, S. 30. Vgl. Andreas Göbel: Theoriegenese als Problemgenese. Eine problemgeschichtliche Rekonstruktion der soziologischen Systemtheorie Niklas Luhmanns, Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 2000, S. 58f.
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SINN UND DIFFERENZLOGIK
des Systems Vorfindbares verweist. Zum anderen erscheint funktionalistisch gewendet Sinn als Form der Reduktion von Komplexität. In diesem Zusammenhang wird Sinn als spezifische Selektionsweise des sozialen Systems beschrieben. Die Selektion von bestimmtem Sinn unter Ausschluss anderen Sinns erzeugt ein Komplexitätsgefälle zwischen einem System und seiner Umwelt. Mit anderen Worten: Mit jeder Operation der Selektion von aktuellem Sinn bzw. der Negation anderen Sinns produziert und reproduziert das System seine eigene System/UmweltGrenze. Entsprechend dieser zwei Erklärungen wird die andere Seite vom aktualisierten Sinn entweder als intern konstituierter oder als externer, d.h. jenseits der Grenzen des Systems gegebener Möglichkeitshorizont verstanden. Zentral für die These dieses Kapitels ist, dass, sofern der Horizont anderer Sinnmöglichkeiten als etwas jenseits des Systems Gegebenes verstanden wird, eine mit den konstruktivistischen Grundannahmen von Luhmanns Systemtheorie inkompatible Ontologisierung des Sinnbegriffs erfolgt. Sofern Sinn aber als systeminterner Möglichkeitshorizont verstanden wird, stellt sich zum einen die Frage, wie durch die spezifische Selektionsweise des Systems eine System/UmweltGrenze produziert und reproduziert wird und zum anderen wie neuer Sinn erzeugt werden kann. Das Einfügen von Husserls Sinnbegriff in den konzeptuellen Kontext der Systemtheorie erfordert eine Distanzierung von dem Subjektbezug eines transzendentalen Phänomenalismus. In dieser Tradition wird, Luhmann zufolge, Sinn mit den in reflexiver Hinwendung zu den eigenen Erlebnissen und zu den in die Zukunft projizierten Umwelteinwirkungen eigener Handlungen gebildeten subjektiven Intentionen gleichgesetzt. Hierbei wird davon ausgegangen, dass das Subjekt dem Prozess der Sinnkonstitution bereits vorgegeben ist. Bei der Eingliederung in den systemtheoretischen Kontext der Theorie sozialer Systeme wird zum einen das konstitutive Verhältnis von Subjekt und Intention bzw. von Subjekt und Sinnkonstitution relativiert. Das Subjekt wird als ein erst im Prozess der reflexiven Sinnkonstitution Selbstkonstituiertes gesehen. Das Subjekt als sinnhaft konstituierte Identität setzt also den Sinnbegriff schon voraus. Es erscheint nunmehr als psychisches System, dass die eigene Identität (bzw. Selbstreferentialität) in rekursiven Prozessen der Produktion und Reproduktion von Bedeutungszusammenhängen selbst konstituiert. Zum anderen wird Sinn nicht mehr allein dem Subjekt, sei es als Produkt oder als Eigenschaft seiner Intentionen, zugerechnet. Sinn wird als Operationsweise gesehen, die dem Bewusstsein beziehungsweise psychischen Systemen gleichermaßen eigen ist wie auch sozialen
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IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
Systemen.3 Sinn wird, mit anderen Worten, als ein sowohl durch Subjekte (oder in Luhmanns Terminologie: psychische Systeme) Erzeugtes als auch als ein durch die Selbstreferentialität des Sozialen Erzeugtes verstanden. Ebenso wie sich auf der Ebene von psychischen Systemen Bedeutungszusammenhänge stabilisieren, stabilisieren sich auf der Ebene sozialer Systeme Bedeutungszusammenhänge, die sich in selbstreferentiellen, rekursiven Prozessen produzieren und reproduzieren. Sinn erscheint somit nunmehr nicht als Produkt subjektiver Intentionen, sondern als selbstreferentieller Verweisungszusammenhang, der sich selbst produziert und reproduziert. Mit dem relationellen Konzept des Sein-für-Anderes liegt dem Husserl’schen Sinnkonzept und der Luhmann’schen Systemtheorie ein gemeinsamer, konstitutionstheoretischer Kern zugrunde.4 Unter Verweis auf Husserls Charakterisierung des Erlebnisses als ein in reflexiver Zuwendung Erzeugtes erscheint Selektion als Mechanismus der Konstitution von Sinn. Die Mannigfaltigkeit des Erlebnisstroms wird, Husserl zufolge, im Zuge der intentionalen Zuwendung zu einem Aspekt dieses Erlebnisstroms ausgeblendet. Durch die Pauschalabweisung allen anderen Erlebens kristallisiert sich ein Aktualitätskern heraus. Dies deutet Luhmann differenzlogisch. Die synthetisierende Konstitution von Identischem kann erst aufgrund einer Differenzierungsleistung erfolgen: der Reduktion des Erlebnisstroms auf einen Aktualitätskern bzw. der Pauschalabweisung allen anderen Sinns. Sinnkonstitution als reflexive Hervorhebung eines Erlebnisses aus dem Strom des Erlebens wird als Selektionsleistung »übersetzt« und unter dem funktionalen Primat der Negation gesehen. Ein Erlebnis wird von der Mannigfaltigkeit des Erlebnisstroms ausdifferenziert und synthetisierend auf ein Einheitliches reduziert. Sinn wird, mit anderen Worten, als »ein irgendwie Gegebenes, das seine Bestimmung durch Negation dieses irgendwie Gegebenen erfährt«, definiert.5 Analytisch kann hierbei zwischen zwei Formen, in denen der differenzlogische Sinnbegriff dazu dient, das Soziale als emergente Realität zu konzeptualisieren, unterschieden werden. Als ein Über-sichHinausweisendes wird Sinn einerseits als selbstreferentieller Verweisungszusammenhang verstanden. Sinn verweist immer auf anderen, weiteren Sinn. Die Bedeutung aktuellen Sinns wird erst im Kontext dieses 3 4
5
Vgl. A. Göbel: Theoriegenese als Problemgenese, S. 212. Vgl. Felicitas Englisch: »Strukturprobleme der Systemtheorie – Philosophische Reflexionen zu Niklas Luhmann«, in. Stefan Müller-Doohm (Hg.), Jenseits der Utopie. Theoriekritik der Gegenwart, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991, S. 196-235, hier S. 205. Ebd., S. 202.
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SINN UND DIFFERENZLOGIK
Verweisungshorizonts konstituiert. Funktionalistisch gewendet wird Sinn hingegen als Lösung des Problems der Komplexitätsreduktion verstanden. Entsprechend dieser zwei Erklärungen des Sozialen als emergente Realität muss die andere Seite vom aktualisierten Sinn je anders verstanden werden. Sofern die Beschreibung von Sinn als Unterscheidung zwischen aktuellem und negiertem herangezogen wird, um die Selbstreferentialität des sozialen Systems zu erklären, erscheint Sinn als systemintern konstituierter Möglichkeitshorizont. Sofern sie aber dazu dient, ein Komplexitätsgefälle zwischen einem System und seiner Umwelt zu konstituieren, erscheint die andere Seite von Sinn als jenseits des Systems gegebener Möglichkeitshorizont. Im Folgenden werden diese zwei Fassungen von Sinn als Unterscheidung zwischen aktuellem und potentiellem bzw. negiertem Sinn erläutert.
Negierter Sinn als interner Möglichkeitshorizont Weil Sinn eine reflexive Prozessform des Erlebens ist, ist für sinnhaft operierende Systeme die Möglichkeit der Negation gegeben. Als Potentialität wird das Nicht-Aktualisierte im Unterschied zu anderen Formen der Selektion demzufolge nicht ausgemerzt, sondern lediglich ausgeklammert bzw. als potentieller Sinn erhalten. Die andere Seite des Sinns, dieser mitgeführte Horizont nicht-aktualisierter Möglichkeiten, wird auch »Welt« genannt. Der so konstituierte Möglichkeitshorizont fungiert als interne »Doppelung« einer »äußeren« Welt, die die Selbstdetermination des Systems ermöglicht: Die Selektion von weiterem am aktuellen Sinn anschließendem Sinn wird in Referenz auf den vom System konstituierten Möglichkeitshorizont intern determiniert. Ferner erzeugt funktionalistisch gewendet die intern konstituierte Welt die doppelte Problematik (i) der Kontingenz und (ii) der intern erzeugten Komplexität. Funktionalistisch betrachtet beinhaltet Komplexität Selektionszwang, Kontingenz hingegen Enttäuschungsgefahr. Somit wird die funktionalistische Perspektive von Problem und Problem-Lösung auch mit dieser Form der Erklärung des Sozialen als emergente Realität verzahnt. Komplexität als Umweltproblem findet, mit anderen Worten, ein Korrelat als selbsterzeugtes Problem der intern konstituierten Welt. Zu (i): Das System setzt sich Luhmann zufolge durch Negation der Gefahr aus, dass die intern konstituierte Welt sich nicht mit der externen Welt realer Gegebenheiten deckt: »Dieser sinnhafte Aufbau der Welt als Verweisungshorizont des Bewußtseins impliziert hohe Risiken, denn der Mensch lebt auf der Basis eines physischen und organischen Systems unter realen Bedingungen, die er als Welt interpretiert, aber nicht belie159
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
big verändern kann – als sinnhaft-identifizierbar konstituiert, aber nicht herstellt«.6 Die Differenz zwischen »realer« Welt und selbstkonstituierter Welt erzeugt ein Risiko. Soziale Strukturen werden in Abgrenzung zu einer biologistischen Definition, die diese als Verhaltensweisen oder -erwartungen begreift, als reflexiv generierte Erwartungserwartungen aufgefasst. Sinn als Horizont enthält Erwartungen über andere Sinnmöglichkeiten, die als solche die Selektion weiteren Sinns steuern oder mit anderen Worten den Zugang zu anderen Möglichkeiten kontrollieren.7 Die hierin enthaltene Selbstreflexion ermöglicht die Wahrnehmung der Kontingenz der eigenen Erwartungsstrukturen und somit auch ein Lernen. Das Risiko der Inkongruenz der intern konstituierten Welt mit einer dem System jenseitigen Welt realer Gegebenheiten wird zwar nicht aufgehoben, aber in eine handhabbare Form gebracht. Durch einen reflexiven Umgang mit Erwartungen und gegebenenfalls Erwartungsenttäuschungen kann auch eine Reflexion über die Kontingenz eigener Selektionen bzw. Sinnkonstruktionen einsetzen, und einmal getroffene Entscheidungen können revidiert werden. Erwartungen können sich bewähren und in Form von Strukturen stabilisieren. Bei wiederholter Erwartungsenttäuschung können Alternativen gewählt werden. Zu (ii): Des Weiteren bildet die intern konstituierte Welt bzw. der intern konstituierte Möglichkeitshorizont eine intern erzeugte Komplexität, die als solche ihrerseits ein Selektionserfordernis enthält. Die intern erzeugte Komplexität bzw. »Selbstüberforderung« muss, soll sie die Selektion weiteren Sinns determinieren können, ihrerseits in eine handhabbare Form gebracht werden. Die Möglichkeiten weiteren Erlebens müssen (vor-)strukturiert werden. Diese Strukturierung erfolgt durch die Stabilisierung von Identitäten entlang zeitlich, sachlich und sozial differenzierter Sinndimensionen. Wie bei Sinnkonstitution überhaupt wird bei der Stabilisierung von Identitäten vom funktionalen Primat der Negation ausgegangen. Strukturierung durch Identitäten heißt für Luhmann: »Mögliches wird an etwas festgemacht, das identisch bleibt und seine Identität gerade dadurch hat, daß es Mögliches und Nichtmögliches zusammenhält.«8 Sinn fungiert hier als Zusammenhang von Möglichkeiten. Die Negation einer dieser drei Dimensionen setzt Luhmann zufolge die Erhaltung von Identität bei den anderen zwei Dimensionen voraus. Negation auf der Sachdimension setzt beispielsweise Konsens auf Dauer auf der Sozial- und Zeitdimension voraus. Nur so kann mit alternativem
6 7 8
N. Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, S. 61. Vgl. ebd., S. 70. Ebd., S. 48.
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SINN UND DIFFERENZLOGIK
Sinn operiert werden, ohne dass der Gegenstand als Ganzes negiert wird und verschwindet.9 Dieser durch Identitäten sowie entlang der sachlichen, zeitlichen und sozialen Dimensionen strukturierte Horizont potentiellen Sinns ist abhängig von je aktuellem Sinn immer unterschiedlich gelagert. Aus der »subjektiven« oder genauer: internen Perspektive erscheint er aber stets als Welt und somit als ein Ganzes der objektiven Möglichkeiten.
Negierter Sinn als jenseits des Systems gegebener Möglichkeitshorizont Komplexität als Überfülle von Möglichkeiten erfordert Selektion zur Erhaltung einer wie auch immer gearteten Ordnung und ist somit das basale Problem eines jeglichen Systems. Der Husserl’sche Begriff von Sinn erscheint in diesem Kontext als Mechanismus der Auswahl eines bestimmten Erlebnisses unter Ausschluss anderer Erlebnisse. Spezifisch für sinnhaft operierende Systeme ist, dieser Fassung des Sinnbegriffs zufolge, das funktionale Primat der Negation bei der Selektionsleistung. Negation wird als generalisierende und reflexive Prozessform definiert. Als generalisierende Prozessform des Erlebens erlaubt sie eine Pauschalabweisung des nicht-aktuell Erlebten und fungiert somit als Reduktion von Komplexität, d.h. als Selektionsleistung. Mit der Definition von Sinn als Selektion von aktuellem Sinn über die Negation allen anderen Sinns überträgt Luhmann also die Eigenschaft seiner selbstreferentiellen, operativ geschlossenen Systeme, die funktionalistisch als Mechanismen der Reduktion von Komplexität definiert werden, auf soziale Systeme. Das diese Ausführungen prägende Negationskonzept beinhaltet aber eine mit den konstruktivistischen Grundannahmen der Systemtheorie inkompatible Ontologisierung des Sinnbegriffs. Die Aktualisierung von Sinn, dessen Kehrseite die Negation allen anderen Sinns ist, setzt diesen anderen Sinn als jenseits des Systems Gegebenes voraus. Dies steht im Widerspruch zu der konstruktivistischen Grundannahme der Systemtheorie. Luhmanns Definition von operativ geschlossenen Systemen zufolge werden die Elemente des Systems durch das System selbst produziert. Sinn als Element des sozialen Systems ist diesem konstruktivistischen Ansatz zufolge nicht als ontologisch Gegebenes, sondern als ein systemintern erzeugtes Konstrukt zu verstehen. Die konstitutive Leistung von Sinn kann demnach nicht als Auswahl aus einer Mannigfaltigkeit im Sinne einer Negation von jenseits des Systems Gegebenen, son-
9
Vgl. ebd., S. 51. 161
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
dern muss als »freie Produktion« verstanden werden.10 Gleichzeitig ist die spezifische Operations- bzw. Selektionsweise eines Systems im begrifflich-konzeptuellen Rahmen von Luhmanns Systemtheorie konstitutiv für die Identität des Systems. Durch die Operationen bzw. Selektionen eines Systems wird die System/Umwelt-Grenze, d.h. das Komplexitätsgefälle zwischen System und Umwelt kontinuierlich produziert und reproduziert. Insofern stellt sich die Frage, wie Sinn als Form der Reduktion von systemspezifischer Komplexität gegenüber Umweltkomplexität verstanden werden kann. Festzuhalten ist, dass bei der ersten Form der Erklärung des Sozialen als emergente Realität die Konzeptualisierung der anderen Seite von Sinn mit den konstruktivistischen Grundannahmen des Systems kompatibel ist. Die Selektion von Bestimmtem im Sinne einer Negation von Anderem wird hier als ein Prozess verstanden, der in einer bereits konstituierten, systeminternen Welt vollzogen wird. Demnach wird nicht ein ontologisch gegebener Sinn negiert, sondern der im Verweisungshorizont des Systems selbst konstituierte und immer mitgeführte Sinn. Da es um einen rekursiven Prozess der selbstreferentiellen Produktion und Reproduktion geht, ist, sofern von System überhaupt gesprochen werden kann, bereits von der Existenz eines solchen Horizonts auszugehen. Hiernach wäre Negation wie auch Selektion eine Operation im rekursiven Raum eines selbstreferentiellen Systems. Dabei bleibt allerdings unklar, wie Sinn als Unterscheidung zwischen Aktuellem und Potentiellem sich kontinuierlich selbst produzieren, reproduzieren und transformieren kann. Es bleibt mit anderen Worten unklar, wie neuer Sinn konstituiert werden kann, wenn Sinn immer nur aus einem bereits existierenden, systemintern konstituierten Horizont selegiert wird. Schlussfolgerung ist: Sofern Sinn als »eine Auswahl unter Ausschluss von Anderem« verstanden wird, wird von einem bereits gegebenen Anderen ausgegangen. Dies ist als Mechanismus der systeminternen Komplexitätsreduktion, d.h. als Mechanismus der Strukturierung des intern konstituierten Sinnhorizonts mit den konstruktivistischen Annahmen der Theorie kompatibel. Problematisch wird das Sinnkonzept allerdings davon, wenn die konstitutive Leistung von Negation bei der Produktion von Sinn sich auf eine System/Umwelt-Grenze bezieht bzw. auf einen jenseits des Systems gegebenen Horizont anderer Möglichkeiten. Mit der Definition der Aktualisierung von Sinn als Negation allen anderen Sinns geht die funktionalistische Definition von Sinn in eine differenzlogische Beschreibung der Funktionsweise von Sinn über. Die komplexitätsreduzierende Leistung von Sinn wird differenzlogisch als Form 10 Vgl. ebd., S. 217. 162
SINN UND DIFFERENZLOGIK
der Selektion von aktuellem über die Negation anderen Sinns verstanden. Auf das Verhältnis von sozialen Systemen zu ihrer Umwelt bezogen beinhaltet dieses Konzept eine Ontologisierung von Sinn als jenseits des Systems gegebene Welt sinnhafter Möglichkeiten.11 Versteht man die andere Seite vom aktualisierten Sinn als systeminternen Möglichkeitshorizont, bleibt wiederum unklar, wie Neues konstituiert bzw. erzeugt werden kann.12 In der weiteren Ausarbeitung der Theorie sozialer Systeme rückt der Negationsbegriff von der zentralen Stelle des funktionalen Primats der Sinnkonstitution ab und wird zu einer spezifisch sprachlichen Form der Strukturierung des Anschlusses einer Kommunikation an weitere Kommunikationen. Die Annahme oder Ablehnung einer Kommunikationsoperation strukturiert die weiteren Anschlussmöglichkeiten des Kommunikationsprozesses. Negation wird als eine Möglichkeit des reflexiven Bezugs auf bereits konstituierten, systeminternen Sinn behandelt. Es setzt sich, mit anderen Worten, ein mit den konstruktivistischen Annahmen der Systemtheorie kompatibler Negationsbegriff durch. An der Stelle von Negation übernimmt die Beschreibung von Sinn als basal instabile Zwei-Seiten-Form sowie als Unterscheidung zwischen Bezeichnetem und vom Bezeichneten Unterschiedenem die Erklärungslast einer differenzlogischen Auffassung von Sinnkonstitutionsprozessen. Wie zu zeigen sein wird, wird auch in beiden Fällen die bereits in »Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie« angelegte Problematik mitgeführt. Bei der Konzeptualisierung von Sinn als instabile ZweiSeiten-Form wird die Offenheit sozialer Systeme über die Eigenschaft von Sinn als ein Über-sich-Hinausweisendes erklärt. Auch hier kann analytisch zwischen zwei Erklärungen unterschieden werden: eine nach innen gewendete Erklärung als Offenheit für einen systemintern konstituierten Horizont anderer Möglichkeiten und eine nach außen gewendete Offenheit als Offenheit für die Irritation der Umwelt. In diesem Fall enthält weder die eine noch die andere Erklärung ontologische Annahmen 11 Bühl spricht in diesem Zusammenhang von einer »unzulässigen Reifikation«: Indem Welt in Bezug zu der funktionalistischen Kategorie Komplexität gesetzt wird, wird die Substanzphilosophie von Subjekt und Objekt fortgesetzt. Welt als Komplexität beziehungsweise als Komplexitätsproblem bildet ein Außen; System ein Innen. Demzufolge geht Luhmann, nach Bühl, in dieser Hinsicht hinter Husserls Begriff vom Wesen als ein Bewusstseinsimmanentes zurück. Vgl. W.L. Bühl: »Luhmanns Flucht in die Paradoxie«, S. 229. 12 Vgl. Max Miller: »Selbstreferenz und Differenzerfahrung«, in: Hans Haferkamp/Michael Schmid (Hg.), Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung. Beiträge zu Luhmanns Theorie sozialer Systeme, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1987, S. 187-211. 163
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
bzw. einen Widerspruch zu der konstruktivistischen Grundlage von Luhmanns Systemtheorie. Verständlich wird allerdings die Offenheit des Systems für Neues erst vor dem Hintergrund der Einführung eines identitätstheoretischen Konzepts: das Konzept eines Realitätsunterbaus. Bei der Beschreibung von Sinn als Unterscheidung zwischen Bezeichnetem und vom Bezeichneten Unterschiedenem ist die Problematik ähnlich zu der Problematik bei der Beschreibung von Sinn als Unterscheidung zwischen aktuellem und negiertem bzw. potentiellem Sinn. Sofern auf das System/Umwelt-Verhältnis bezogen, beinhaltet auch diese Beschreibung ontologisierende, den konstruktivistischen Grundannahmen von Luhmanns Systemtheorie widersprechende Implikationen. Zwar lässt sich hier ebenfalls eine mit den konstruktivistischen Grundannahmen der Theorie kompatible Lesart finden. Bei einer solchen Lesart bleibt jedoch – ebenso wie bei der Beschreibung von Sinn als Unterscheidung zwischen aktuellem und potentiellem Sinn – unklar, wie Offenheit trotz Selbstreferentialität und operative Geschlossenheit möglich ist.
2 . S i n n a l s i n s t a b i l e Zw e i - S e i t e n - F o r m Im letzten Abschnitt wurde behauptet, dass, obwohl sich eine mit den konstruktivistischen Annahmen der Theorie kompatible Konzeptualisierung von Negation durchsetzt, sich die im letzten Abschnitt beschriebene Problematik systematisch reproduziert. Dies soll nun anhand der Konzeption von Sinn als basal instabile Zwei-Seiten-Form gezeigt werden. Soziale Systeme sind, Luhmann zufolge, selbstreferentielle, operativ geschlossene Systeme. Als selbstreferentielle Systeme werden soziale Systeme kontinuierlich durch sich selbst produziert, reproduziert und transformiert. Für die kontinuierliche Produktion und Reproduktion der eigenen Elemente sind dynamische Systeme auf eine die Selbstreferentialität unterbrechende Offenheit für Neues angewiesen. Die Systemtheorie steht also vor der Aufgabe, die Gleichzeitigkeit von Offenheit und Geschlossenheit zu erklären. Wie ist Offenheit trotz der Selbstreferentialität bzw. der operativen Geschlossenheit sozialer Systeme möglich? In Bezug auf Sinn dient auch hier die Husserl’sche Charakterisierung von Sinn als ein Über-sich-Hinausweisendes als Klammer zwischen der allgemeinen Systemtheorie und der Theorie sozialer Systeme. Die Dynamik des Sozialen wird auf die basale Instabilität von Sinn als ZweiSeiten-Form zurückgeführt, die basale Instabilität von Sinn als ZweiSeiten-Form mit der Eigenschaft von Sinn als ein Über-sich-Hinausweisendes begründet. Neben der Selbstreferentialität eines mit jedem 164
SINN UND DIFFERENZLOGIK
aktuellen Sinn gegebenen Verweises auf andere Sinnmöglichkeiten wird mit dem konstitutionstheoretischen Verständnis der Sinnform als ein Über-sich-Hinausweisendes eine durch diesen Verweisungshorizont gegebene Offenheit von Sinn betont. Vor dem Hintergrund der Problematik, Sinn als ein sich in kontinuierlichem Wandel Befindliches zu erklären, rückt also – neben der selbstreferentiellen Geschlossenheit von Sinn – die Offenheit von Sinn für Neues ins Augenmerk. Die Eigenschaft von Sinn als Verweisungshorizont, in dem aktueller Sinn immer im Horizont anderen Sinns kontextuiert ist, wird als Gleichzeitigkeit einer Differenz zwischen aktuell Gegebenem und einem Horizont möglichen Sinns definiert. Die Gleichzeitigkeit von aktuellem und möglichem Sinn wird als basale Instabilität der Sinnform ausgelegt. Indem Sinn schon immer über sich selbst auf anderen potentiellen Sinn hinausverweist, beinhaltet er bereits seine eigene Vergänglichkeit.13 Demnach ist Sinn ein kontinuierlicher Prozess der Konstitution, Auflösung und Rekonstitution seiner selbst. Die Konstitution und Rekonstitution von Sinn wird als durch den Verweisungshorizont determinierte Selektion weiteren Sinns dem System zugerechnet. Die Auflösung von Sinn resultiert demnach aus der basalen Instabilität der Sinnform und wird somit ebenfalls dem System zugerechnet. Die Prozesshaftigkeit sozialer Systeme wird, mit anderen Worten, mit der Vergänglichkeit bzw. Temporalität der Elemente des Systems erklärt. Mit diesem Verständnis von Sinn bleibt, trotz der angezeigten basalen Instabilität von Sinn, nach der Offenheit von Sinn im Sinne einer Offenheit für Neues zu fragen. Es bleibt zu erklären, wie die in der Geschlossenheit eines selbstreferentiellen Verweisungshorizonts angelegte Tautologie unterbrochen beziehungsweise für Anderes geöffnet wird. Bei der Erklärung der Bedeutung dieser Eigenschaft für die Dynamik bzw. Offenheit sozialer Systeme lassen sich zwei unterschiedliche Argumentationsstränge unterscheiden. Hierbei handelt es sich allerdings um zwei Argumentationsstränge, die in den Schriften Luhmanns nicht klar getrennt werden. Zuweilen erscheint die basale Instabilität von Sinn als Grundlage der Eigendynamik des Sozialen. Hier ist die Offenheit von Sinn eine Offenheit für einen Horizont systeminterner Sinnmöglichkeiten. Unklar bleibt dabei, wie diese Offenheit als Selbstreferentialität unterbrechende Offenheit für Neues verstanden werden kann. Zuweilen wird wiederum die Dynamik des Sozialen auf die Offenheit von Sinn als basal instabile Form für von der Umwelt kommende Irritationen zurückgeführt. Auch hier wird Sinn erst systemintern – und zwar als Information – konstituiert. Die Offenheit ist aber eine Offenheit für die 13 Vgl. N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 101. 165
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
Systemumwelt. Wie die Umwelt das System irritieren kann, wird allerdings erst vor dem Hintergrund des Konzepts eines Realitätsunterbaus verständlich. Mit dem Konzept eines Realitätsunterbaus wird das generative Moment für systeminterne Veränderungen jenseits des Systems verortet. Somit tritt an die Stelle einer differenzlogischen Erklärung von Dynamik bzw. Offenheit ein identitätslogisches Konzept.
Basale Instabilität als Offenheit für einen systeminternen Möglichkeitshorizont Indem das aktuell Gegebene stets im Horizont anderer Möglichkeiten erschient, verweist Sinn zugleich über sich hinaus auf anderen Sinn als auch auf sich selbst zurück als eine Möglichkeit unter anderen. In jeglichem Sinn ist demnach sowohl ein Moment der Selbst- als auch der Fremdreferenz angelegt. Aufgrund dieses zweiseitigen Verweises fungiert Sinn als Konstituente von Geschlossenheit und Offenheit zugleich. Umwelt kann für das System immer nur sinnhaft und das heißt als intern konstituierte Umwelt erscheinen. So bleibt der Verweis auf Umwelt als sinnhafter Verweis auf der Innenseite des Systems verhaftet. »When turning to the outside one is never faced with something absolutely independent, but only with the reference to the outside (paralleled by the reference to the inside) i.e. with the way the system handles something as external.«14 Offenheit ist hier also nicht als Offenheit für Umwelt, sondern als Offenheit für den Möglichkeitshorizont einer intern konstituierten Welt zu verstehen: »Geschlossenheit der selbstreferentiellen Ordnung wird hier gleichbedeutend mit endloser Offenheit der Welt« verstanden.15 Bei einer durch die basale Instabilität von Sinn erzeugten Selbstreferentialität bleibt unklar, wie der Übergang von einer Möglichkeit zur nächsten erfolgt. Sinn verweist über sich hinaus auf anderen Sinn, aber immer auf einen Horizont anderen Sinns und nicht auf bestimmten Sinn. Unklar bleibt, wie eine systemintern erzeugte Entscheidung für bestimmten Sinn vor dem Hintergrund eines Horizontes möglichen Sinns erfolgen kann. In diesem Sinne ist dem Konzept von Offenheit als Offenheit für den intern konstituierten Verweisungshorizont entgegenzuhalten, dass Sinn als immer nur aktuell gegebene Einheit von Aktuellem und Möglichkeitshorizont nicht über sich selbst hinausverweisen kann. 14 Elena Esposito: »From self-reference to autology: how to operationalize a circular approach«, in: Salvino Salvaggio/Paolo Barberino (Hg.), The Autopoietic Theory and the System of Science. Collected Papers on Niklas Luhmann, Social Science Information 1996, S. 269-281hier S. 271. 15 N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 97. 166
SINN UND DIFFERENZLOGIK
Vom jeweiligen Sinn aus gesehen gibt es nur einen Verweisungshorizont. Erst eine Verschiebung des aktuellen Sinns bringt eine Perspektivenänderung und somit auch eine Verschiebung des Verweisungshorizonts. Durch Irritation wird der aktuelle Sinn unter Referenz auf den Verweisungshorizont neu konstituiert. Der Verweisungshorizont erfährt seinerseits angesichts des neuen Sinns eine Rekontextuierung. Die Verlagerung des Sinngehalts des aktuellen Sinns und des Verweisungshorizonts findet in Wechselwirkung zwischen diesen beiden konstitutiven Momenten der Selbstreferentialität von Sinn statt. Das Aktuelle wird erst im Verweisungshorizont konstituiert, wobei der Verweisungshorizont sich in Bezug auf das sich kontinuierlich verändernde Aktuelle auch immer verändert. Die unendliche Offenheit der internen Welt ist nur unendlich aus der subjektiven Perspektive des operierenden Systems. Aus der subjektiven Perspektive erscheint der systemintern konstituierte Möglichkeitshorizont als allumfassender Sinnhorizont (und gerade nicht als Sinngrenze) und auf der zeitlichen Ebene als immer wieder neu variierbarer Horizont von Sinnzusammenhängen. Aus der Beobachterperspektive handelt es sich um eine sich wechselseitig konstituierende Einheit. Die Konstitution »neuen« Sinns ist als eine andere, neue Einheit zwischen aktuellem Sinn und einem Möglichkeitshorizont zu verstehen, die eines Impulses der Verschiebung, d.h. einer Irritation, bedarf – und zwar durch ein dem System Jenseitiges.16
Basale Instabilität als Offenheit für Irritationen der Umwelt Neben diesem Verständnis von Offenheit als eine Offenheit für eine interne, ebenfalls selbstreferentiell konstituierte Welt kann von einer Offenheit für von der Umwelt ausgehende Irritationen gesprochen werden. »Der ambivalente Begriff der Irritation beschreibt immer eine Selbstirritation, die aber als von außen verursacht verstanden wird.«17 Information wird als Ereignis definiert, das Systemzustände auswählt. Durch die Umwelt ausgelöste Irritationen erringen systemintern einen Informationswert. Die Information besteht in der Determination beziehungsweise Strukturierung der weiteren Selektion von Sinn. Obwohl das System den Informationswert eines Ereignisses der Umwelt zurechnet, setzt Information Sinnstrukturen voraus. Erst im internen Kontext eines selbstreferentiellen Verweisungshorizonts kann ein Ereignis einen Informationswert und das heißt einen Selektionswert erlangen. Gleichwohl besteht
16 Vgl. M. Miller: »Selbstreferenz und Differenzerfahrung«. 17 Urs Stäheli: Sinnzusammenbrüche. Eine dekonstruktive Lektüre von Niklas Luhmann, Weilerwist: Velbrück Wissenschaft 2000, S. 42. 167
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
ein fundamentaler Unterschied zwischen sedimentierten Sinnstrukturen und Information. Sinn fungiert nur so lange als Information, wie er überrascht, d.h. ein Moment des Neuen beinhaltet. Mit dieser Differenz von Sinnstrukturen und Informationsereignissen und durch die Wechselwirkung zwischen beiden – wohlgemerkt internen – Momenten der Sinnkonstitution wird die kontinuierliche Neuformierung der Differenz von aktuell gegebenem Sinn und einem Horizont anderen Sinns erklärt.18 Information kann als auf der Innenseite des Systems verortetes Bindeglied zwischen der Umwelt als Irritationsquelle und der intern konstituierten Welt als Zusammenhang sedimentierter Sinnstrukturen gedeutet werden. Geschlossenheit ist demnach Selbstreferentialität, die aber durch die instabile Form von Sinn unterbrochen und über die systeminterne Konstitution von Information für aus der Umwelt kommende Irritationen und somit für Neues geöffnet wird. Die Offenheit des Systems für Neues wird also erst vor dem Hintergrund des Konzepts der Irritation des Systems durch die Umwelt verständlich. Zu fragen ist aber, wie die Umwelt trotz operativer Geschlossenheit und Selbstreferentialität das System irritieren kann. »Irritation setzt […] immer einen Übersetzungsprozeß voraus, der letztlich darüber im ungewissen ist, was eigentlich übersetzt werden soll. Mit Irritation wird die Umwelt einerseits registriert und vielleicht sogar ›gelesen‹, ohne als Umwelt in das System einzudringen. Ungeklärt bleibt dabei, wie eine derartige Lektüre funktionieren könnte […] Das theoretische Dilemma besteht in der Schwierigkeit, den Zwischenzustand der Irritation, welche die Gleichzeitigkeit von Anwesenheit und Abwesenheit bezeichnet, zu fassen […].«19
Wie die Umwelt – hier nicht als systemintern konstituiertes, sondern als jenseits des Systems Gegebenes verstanden – trotz der selbstreferentiellen, operativen Geschlossenheit des Systems als Irritationsquelle fungieren kann, wird erst vor dem Hintergrund des Konzepts eines Realitätsunterbaus verständlich. Luhmann beschreibt diesen Realitätsunterbau folgendermaßen: Die Genese und Reproduktion von Sinn setzt einen Realitätsunterbau voraus, »der seine Zustände ständig wechselt. Sinn entzieht diesem Unterbau dann Differenzen (die als Differenzen nur Sinn haben), um differenzorientierte Informationsverarbeitung zu ermöglichen. Allem Sinn ist dadurch temporalisierte Komplexität und Zwang zur laufenden Aktualitätsverlagerung aufgenötigt, ohne daß der Sinn selbst diesem Unterbau entsprechend vibriert«.20 18 Vgl. ebd., S. 104. 19 Ebd., S. 43f. 20 N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 97. 168
SINN UND DIFFERENZLOGIK
Das Konzept eines Realitätsunterbaus wird zum Konzept von System und vom System konstituierter Umwelt und zum Konzept von Welt, der als ausgeschlossenes Drittes die Einheit dieser Differenz konstituiert in Beziehung gesetzt. Der Zwang zur laufenden Aktualitätsverlagerung wird jetzt weder der Instabilität der Sinnform noch der intern konstituierten Komplexität im Sinne eines Verweisungshorizonts zugeschrieben, sondern dem Realitätsunterbau. Es ist dieser Realitätsunterbau, dem das System Differenzen entzieht, die dann aber selbstreferentiell zu Information umgearbeitet werden.21 Dieser Realitätsunterbau erscheint also als Bedingung der Offenheit dahingehend, dass das System durch die Inkongruenz zwischen systeminternen Erwartungen und Ereignissen der Umwelt irritiert wird. Die Umwelt leistet mit anderen Worten Widerstand gegen Unterscheidungen bzw. Konstrukte des Systems. »Die Welt oder der unmarked state wird durch die Irritation im System sichtbar: Es muß vorausgesetzt werden, daß die Welt (was immer das ist) das Unterscheiden toleriert und daß sie je nachdem, durch welche Unterscheidung sie verletzt wird, die dadurch angeleiteten Beobachtungen und Beschreibungen auf verschiedene Weise irritiert. Im System zeigt sich somit nicht einfach eine empirisch zu bestimmende Störung, sondern die durch das blinde Operieren verletzte Welt. Dies ist nicht nur eine Beobachtung eines Außen oder die Imagination einer Welt, sondern die Offenheit nistet sich hier ins operative Geschehen selbst ein als zögerliches Anschließen oder Bruch im Anschlußgeschehen.«22
Sowohl der Widerstand der Umwelt als auch die Deutung bzw. Wahrnehmung dieses Widerstands bleibt natürlich abhängig von den systeminternen Erwartungsstrukturen. Mit dem Konzept eines Realitätsunterbaus wird das generative Moment für die Dynamik bzw. die Veränderung des Systems jenseits des Systems verlagert. So tritt an die Stelle eines differenzlogischen Konzepts ein »vermittlungstheoretisches« Konzept.23 Als »vermittlungstheoretisch« ist dieses Konzept zu bezeichnen, weil es zwischen »einer Strukturkomponente und […] einer – je nach theoretischem Grundkonzept unterschiedlich gebauten – ›generativen‹ Komponente« unterscheidet.24 Im begrifflich-konzeptuellen Rahmen von Luhmanns Systemtheo21 Vgl. ebd., S. 97. 22 U. Stähli: Sinnzusammenbrüche, S. 46. 23 Hierbei beziehe ich mich auf die Begrifflichkeit, die Bora in seinem Artikel »›Whatever it causes‹ – Emergenz, Koevolution und strukturelle Kopplung« verwendet (A. Bora. »›Whatever it causes‹ – Emergenz, Koevolution und strukturelle Kopplung«). 24 Ebd., S. 123. 169
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
rie führt diese vermittlungstheoretische Erklärung allerdings nicht eine einfache Determinationsbeziehung zwischen »generativer« Komponente und Strukturebene ein. Die Bedeutung der durch den Realitätsunterbau ausgelösten Irritation wird auch im Kontext dieses Konzepts systemintern konstituiert. Wie bei den meisten vermittlungstheoretischen Konzepten bleibt die ›generative‹ Komponente – der Realitätsunterbau – »auffällig unterbestimmt«.25 Eine genauere Bestimmung des Realitätsunterbaus, der auch als eine System/Umwelt-Gleichzeitigkeit bzw. als ein Materialitätskontinuum verstanden werden kann, wird allerdings vor dem Hintergrund der Medium/Form-Unterscheidung möglich. Im Kontext der Medium/Form-Unterscheidung kann der Realitätsunterbau als eine sowohl dem System wie der Umwelt gemeinsam gegebene Realität verstanden werden. So gesehen erscheinen System wie Umwelt als emergente »Realitäten«, die aber beide gleichzeitig im gemeinsamen Realitätsunterbau verankert bleiben.26 So gesehen ist das Konzept eines Realitätsunterbaus bzw. eines System/Umwelt-Kontinuums im Sinne eines Stufenmodells zu verstehen und beruht somit auf einer identitätslogischen Erklärungsfigur. In »Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie« (1971) wird die Eigenschaft von Sinn als ein Über-sich-Hinausweisendes differenzlogisch gedeutet, um die Selbstreferentialität sozialer Systeme zu erklären. Hier wird auf diese Eigenschaft verwiesen, um die Dynamik bzw. die Offenheit sozialer Systeme zu begründen. Hierbei kann zwischen zwei Konzeptualisierungen der Offenheit sozialer Systeme unterschieden werden: (1) eine mit einer differenzlogischen Definition von Sinn begründete interne Dynamik oder genauer: Instabilität und (2) eine mit einer differenzlogischen Definition von Sinn begründete Offenheit für Irritationen, die von der Umwelt ausgehen. Zwar kann hier weder der einen noch der anderen Konzeptualisierung eine den konstruktivistischen Annahmen der Systemtheorie widersprechende Ontologisierung untergeschoben werden. Offenheit als Offenheit für Neues, das die Selbstreferentialität des Systems unterbricht, wird allerdings erst vor dem Hintergrund des identitätslogischen Konzepts eines als Irritationsquelle fungierenden Realitätsunterbaus verständlich. Somit besteht eine Ähnlichkeit zu der bei einer Beschreibung von Sinn als Unterscheidung zwischen aktuellem und potentiellem Sinn bestehenden Problematik. Sofern die Selektionsleistung von Sinn sich auf einen jenseits des Systems gegebenen Möglichkeitshorizont bezieht, beinhaltet sie eine unzu-
25 Ebd., S. 123. 26 N. Luhmann: »Die Lebenswelt – nach Rücksprache mit Phänomenologen«, S. 245. 170
SINN UND DIFFERENZLOGIK
lässige Ontologisierung des Sinnbegriffs. Sofern sich diese Selektionsleistung auf einen systemintern konstituierten Möglichkeitshorizont bezieht, ist sie mit der konstruktivistischen Grundlage von Luhmanns Systemtheorie kompatibel. Unklar bleibt dabei, wie das System ohne externen Impuls bestimmten Sinn aus dem Horizont möglichen Sinns selegieren können soll. Auch bei der Beschreibung von Sinn als basal instabile Zwei-Seiten-Form gibt es zwei Möglichkeiten, die damit einhergehende Offenheit von Sinn zu verstehen: 1) als Offenheit für eine systemintern konstituierte Möglichkeit oder 2) als Offenheit für Irritationen der Umwelt. Sofern sich die Offenheit auf einen systeminternen Möglichkeitshorizont bezieht, ist auch hier der Sinnbegriff zwar kompatibel mit der konstruktivistischen (und differenzlogischen) Grundlage der Systemtheorie, aber nicht in der Lage, die Entstehung neuen Sinns zu erklären. Die Offenheit des Systems für Irritationen der Umwelt wiederum birgt zwar keine ontologischen Implikationen, beinhaltet aber identitätslogische Annahmen. Festzuhalten ist: Die basale Instabilität allen Sinns als Zwei-SeitenForm kann zwar die Offenheit von Sinn für den Übergang zur anderen, nicht-aktualisierten Seite erklären. Diese andere Seite ist aber als systemintern konstituierter Horizont anderer Möglichkeiten genau genommen in keiner Weise neu. Mit jeder Operation des Systems, d.h. bei der Aktualisierung neuen Sinns, wird der Horizont anderer Sinnmöglichkeiten neu konstituiert. Des Weiteren bleibt unklar, wie die Auswahl bestimmten Sinns unter Verweis auf einen Horizont anderen Sinns determiniert wird. Die Offenheit des Systems für Neues wird also erst vor dem Hintergrund des Konzepts eines als Irritationsquelle fungierenden Realitätsunterbaus verständlich. Die Notwendigkeit, das Konzept eines Realitätsunterbaus einzuführen, um die Offenheit sinnhaft operierender Systeme zu erklären, ist von erheblicher Bedeutung. Das Konzept eines Realitätsunterbaus reicht nämlich über eine strikt differenzlogische Erklärung der Eigendynamik des Sozialen hinaus. Wie ein Realitätsunterbau bzw. ein System/Umwelt-Kontinuum im Kontext einer konstruktivistischen Theorie verstanden werden kann, wird erst im Kontext der Medium/Form-Unterscheidung ersichtlich. Die Medium/Form-Unterscheidung basiert wiederum auf ein Stufenmodell und somit auf ein identitätslogisches Konzept.
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3. Sinn als Unterscheidung z w i s c h e n B e z e i c h n e t e m u n d vo m Bezeichneten Unterschiedenem In »Die Gesellschaft der Gesellschaft« (1997) gewinnt ein bereits in »Soziale Systeme« (1984) eingeführtes Konzept ausschlaggebende Bedeutung für den Sinnbegriff: eine an Spencer Brown orientierte Definition von Sinn als Operation des Unterscheidens zwischen Bezeichnetem und vom Bezeichneten Unterschiedenem. Des Weiteren gewinnt eine Beschreibung von Sinn als Medium/Form-Unterscheidung an Bedeutung. Mit dem Verhältnis dieser verschiedenen Begriffe und Konzepte zueinander setzt sich Luhmann wenig dezidiert und systematisch auseinander. So wird beispielsweise die Differenz zwischen Aktualität und Potentialität oft gleichbedeutend mit der Differenz zwischen Bezeichnetem und Nicht-Bezeichnetem verwendet. »Das Mögliche wird als Differenz verschiedener Möglichkeiten aufgefaßt, und die zu aktualisierende Möglichkeit wird dann in ihrer Identität als dies-und-nicht-anderes bezeichnet.«27 Luhmann interpretiert Spencer Browns Unterscheidungen als Bezeichnungen für Elemente, die selbst auf anderes verweisen. Dabei kann die Definition von Sinn als Unterscheidung zwischen aktuellem und potentiellem Sinn mit der Beschreibung von Sinn als ein Über-sichHinausweisendes als formal verträglich erachtet werden.28 Die Unterscheidung zwischen Bezeichnetem und vom Bezeichneten Unterschiedenem wird aber auch als eine zur Aktualität/Möglichkeit-Differenz querliegende, quasi-reflexive kontrollierende Unterscheidung beschrieben. Ferner wird mit dem Begriff Welt abwechselnd auf einen intern konstituierten Möglichkeitshorizont und auf einen dem System jenseitigen unmarked state verwiesen. So bleibt es dem Rezipienten der Theorie überlassen, die theoriebautechnische Bedeutung dieser Konzepte auszuarbeiten. Diese bei einer sich genetisch entwickelnden Theorie wohl kaum vermeidbare Rezeptions- bzw. Deutungsproblematik wird hier auf unterschiedliche Weise angegangen. In diesem Abschnitt wird die Beschreibung von Sinn als Unterscheidung zwischen Bezeichnetem und vom
27 N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 101. 28 Vgl. A. Göbel: Theoriegenese als Problemgenese, S. 222f. Nach Hennig gebraucht Luhmann diesen an Spencer Brown »Laws of From« angelehnten Unterscheidungsbegriff, um »ein Zwischending zwischen Element und Relation« einzuführen. Vgl. Boris Hennig: »Luhmann und die formale Mathematik«, in: Peter-Ulrich Merz-Benz/Gerhard Wagner (Hg.), Die Logik der Systeme, Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 2000, S. 157-198, hier S. 167ff. 172
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Bezeichneten Unterschiedenem analysiert. Der Linie der bisherigen Überlegungen folgend wird auch dieser differenzlogische Sinnbegriff im Kontext seiner theoriearchitektonischen Funktion analysiert. Es stellt sich damit die Frage, welche Erklärungsleistung dieser Begriff bringen soll und inwiefern er diese Erklärungsleistung tatsächlich erfüllt bzw. inwiefern mit dieser Erklärung neue konzeptuelle Probleme aufgeworfen werden. Im nächsten Abschnitt (Abschnitt 4) wird die Bedeutung der Medium/Form-Unterscheidung für Luhmanns Sinnkonzept analysiert. Auch hier wird die Einführung der Medium/Form-Unterscheidung als Versuch verstanden, Probleme zu lösen, die sich aus einem differenzlogischen Sinnbegriff ergeben. Ebenfalls dem bisherigen Gang der Analyse entsprechend gilt es hier zu zeigen, dass diese Lösung auf unter der Hand eingeführten identitätslogischen Konzepten beruht. Der darauffolgende Abschnitt wird den Zusammenhang von Luhmanns Weltbegriff mit seinem Sinnbegriff gewidmet. Hier gilt es zu zeigen, dass der Weltbegriff dazu dient, eine durch die Differenzlogik problematisch gewordene Konzeptualisierung der Einheit der Sinnprozesse des sozialen Systems zu aufrechtzuerhalten. Auch hier scheint Luhmann auf identitätslogische Konzepte zurückzugreifen. Wie bereits in der Einführung geschildert, ist eine der zentralen Errungenschaften von Luhmanns Systemtheorie der Paradigmenwechsel von einer vom Identitätsbegriff ausgehenden zu einer vom Differenzbegriff ausgehenden Systemdefinition. Ein System wird demnach nicht mehr als ein aus der Zusammensetzung seiner Teile bestehendes Ganzes verstanden, sondern als ein durch die Selbstreferentialität bzw. durch die so erzeugte System/Umwelt-Differenz Konstituiertes verstanden. Die Erzeugung einer System/Umwelt-Differenz erscheint als ein und derselbe Mechanismus wie die selbstreferentielle Konstitution der Einheit des Systems. Mit der Anwendung des Spencer-Brown’schen Formbegriffs auf das Sinnkonzept wird diese Differenzlogik auf die operative Ebene verlagert. Das Brownsche Konzept kann, mit anderen Worten, als differenzlogische Präzisierung der Definition von Sinn als Zwei-SeitenForm, bestehend aus Aktualität und Potentialität, gesehen werden. Eine Form wird als etwas, das zwei voneinander unterschiedene Seiten hat, verstanden. Die Form entsteht durch die Fixierung der Grenze zwischen beiden Seiten. Die Fixierung einer Grenze ist die Operation des Unterscheidens – und zwar des Unterscheidens zwischen Bezeichnetem (indication) und vom Bezeichneten Unterschiedenem (distinction).29 Das Bezeichnete als Unterscheidung kann nur einen Inhalt, also eine Bestim29 Im Folgenden benutze ich die Abkürzung »B« für das Bezeichnete und »U« für das vom Bezeichneten Unterschiedene. 173
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
mung, in Differenz zum Nicht-Bezeichneten erringen. Insofern ist die andere Seite notwendig, damit das Bezeichnete Form beziehungsweise Inhalt haben kann. Diese statische Beschreibung von Unterscheiden als Sinnoperation findet eine zusätzliche Wendung, wenn es um den Prozess der Sinnkonstitution geht. Hiernach ist die Unterscheidung stets asymmetrisch angelegt. Die Außenseite des Bezeichneten ist der unmarked space alles Unbezeichneten. Demzufolge, so Luhmann, kann jeweils nur auf einer Seite der Unterscheidung operiert werden und nur auf einer Seite der Unterscheidung für weitere Formbildung angeknüpft werden: auf der Innenseite. Der Übergang von einer Unterscheidung zu einer anderen erfolgt aber durch das Überschreiten der Grenze zwischen B und U. In dieser Konstellation findet eine Verschiebung der Verortung von Operation statt. Zuerst wurde Operation als Grenzziehung, d.h. als Unterscheiden zwischen Bezeichnetem und Nicht-Bezeichnetem definiert. Im prozesslogischen Kontext wird Operation hingegen zum einen auf der Innenseite der Unterscheidung verortet und somit zugleich mit dem Bezeichneten gleichgesetzt. Zum anderen wird sie als Prozess des Überschreitens der Grenze zwischen Bezeichnetem und Nicht-Bezeichnetem behandelt. Hier ist die Außenseite des durch eine Operation konstituierten Sinns (also die andere Seite des Bezeichneten) nur differenz- und inhaltslos, d.h. als bloße andere Seite der Form gegeben. Erst als Unterscheidung – und zwar als Unterscheidung zwischen Bezeichnetem und Unbezeichnetem – kann der unmarked space markiert werden und somit Form und Inhalt erlangen. Nur durch das Überschreiten der Grenze zwischen B und U (also durch die Markierung von etwas im unmarked space) erhält das vom Bezeichneten Jenseitige einen Sinn.30 Operation wird also (1) auf der Innenseite der Unterscheidung als Bezeichnung, (2) als Operation des Überschreitens der Grenze zwischen B und U und (3) als Einheit der Unterscheidung zwischen B und U bzw. als Markierung dieser Grenzen und somit als Operation, die zugleich beide Seiten der Unterscheidung konstituiert, definiert. Diese dreifache Verortung der Operation wird als Paradoxie beschrieben.31 Die theorie30 Vgl. F. Englisch: »Strukturprobleme der Systemtheorie«, S. 220. 31 Nach Hennig unterscheiden sich bei Luhmann »drei Räume voneinander: (1) der unmarked state ohne eine Unterscheidung darin, (2) der unmarked space mit einer Unterscheidung darin, (3) der marked space – und zusätzlich zwei Operationen: (4) das Ziehen einer Grenze und (5) das Bezeichnen einer Seite. Indem er die Spencer Brownschen Formen derart fünftelt, gerät ihm sein Grundbegriff paradox. Mit der resultierenden Konfusion invisibilisiert er aber lediglich, dass er im Grunde mit zwei verschiedenen Operationen arbeitet: dem Unterscheiden und dem Bezeichnen«. B. Hennig: »Luhmann und die formale Mathematik«, S. 181f. 174
SINN UND DIFFERENZLOGIK
architektonische Bedeutung des Paradoxiebegriffs kann als Rettungsangebot der Systemtheorie für einen durch die Beschreibung von Sinn als Zwei-Seiten-Form verursachten logischen Widerspruch verstanden werden. Darüber hinaus ist sie ein Versuch – wie bereits die Beschreibung von Sinn als basal instabile Zwei-Seiten-Form – die Dynamik des sozialen Systems differenzlogisch als systeminterne Dynamik zu erklären. Im Folgenden wird dieser erneute Versuch, Sinn differenzlogisch zu beschreiben, untersucht.
Paradoxiekonzept Luhmann behauptet, dass »das ›Unterscheiden und Bezeichnen‹ eine einzige Operation ist; denn man kann nicht bezeichnen, was man nicht, indem man dies tut, unterscheidet, so wie das Unterscheiden seinen Sinn nur darin erfüllt, daß es zur Bezeichnung der einen oder der anderen Seite dient«.32 Unter Rückgriff auf die klassische Logik wird die Unterscheidung im Verhältnis zu den Seiten, die sie unterscheidet, als das ausgeschlossene Dritte definiert. Das Beobachten sowie der Beobachter selber sind in ihrem Vollzug das ausgeschlossene Dritte. Demnach muss eine Gleichzeitigkeit von Bezeichnetem und Nicht-Bezeichnetem angenommen werden. So stellt sich die Frage nach der Möglichkeit der »notwendigen« Gleichzeitigkeit von Bezeichnetem und Nicht-Bezeichnetem auf der operativen Ebene. Diese »notwendige« Gleichzeitigkeit wird als Paradoxie beschrieben. Die Paradoxie liegt darin, dass aktuell nur auf jeweils einer Seite operiert werden kann, Sinn als Unterscheidung aber aus der Einheit beziehungsweise Gleichzeitigkeit vom B und U besteht.33 Das Paradoxe dieser Denkfigur wendet Luhmann in der »logischen« Notwendigkeit der Entparadoxierung der mit jeder Beobachtungsoperation einhergehenden Paradoxie. Mit dem Paradoxiekonzept wird die Eigendynamik des Systems erklärt bzw. begründet. Oder
32 N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 69. 33 Vgl. ebd., S. 63. Diese Paradoxie, zuweilen als Paradoxie der Einheit des Differenten, zuweilen als Paradoxie der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen geschildert, findet auch eine Ausformulierung als zeitliche, sachliche und soziale Paradoxie mit entsprechend ausdifferenzierten Entparadoxierungsstrategien. Göbel unterscheidet drei verschiedene Formen der Paradoxalität bei Luhmann: eine logische, eine temporale und eine archetypische bzw. archelogische. A. Göbel: Theoriegenese als Problemgenese, S. 215. Da dies aber den Kern der hier verfolgten Argumentationslinie nicht weiter beeinflusst, wird es nicht weiter beachtet. Ferner erscheint Paradoxie zuweilen nicht als inhärente Eigenschaft jeglicher Sinnoperation, sondern als Ergebnis des Versuchs, Einheit und Differenz zugleich zu beobachten. 175
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
um einen Begriff von Göbel zu benutzen: Mit diesem Formbegriff wird der »Motivator« der Eigendynamik des Systems auf der Innenseite des Systems platziert.34 Luhmanns Ausführungen zu Entparadoxierungsmechanismen lassen sich in zwei divergierende Argumentationsstränge gliedern: (1) Dem einen Argumentationsstrang zufolge erfolgt die Auflösung der Paradoxie durch die Einbeziehung von Zeit, also durch das Oszillieren zwischen beiden Seiten der Unterscheidung. (2) Dem anderen Argumentationsstrang zufolge wird die Paradoxie durch ein re-entry der Unterscheidung in die Unterscheidung selbst aufgelöst. Als unterschiedliche Argumentationsstränge sind diese Beschreibungen zu verstehen, weil sie einen über die Lösung des durch eine differenzlogische Beschreibung von Sinn als Unterscheidung zwischen B und U erzeugten logischen Problems hinausgehenden Erklärungsanspruch erheben. Die Beschreibung der Sinnform als paradoxe Form – wie die Beschreibung als basale instabile Zwei-Seiten-Form – dient zur Erklärung der Eigendynamik des sozialen Systems. Sinn ist Luhmann zufolge inhärent dynamisch, weil er als paradoxe Form kontinuierlich gezwungen ist, zu anderem, neuem Sinn überzugehen, um die eigene Paradoxalität zu entfalten bzw. zu invisibilisieren.35 Im Folgenden bleibt zu fragen, inwiefern dies eine gelungene Lösung bzw. Erklärung ist. Auch hier zeigt sich, dass die Theorie bei dem Versuch einer strikt differenzlogischen Erklärung bzw. Beschreibung sozialer Sinnkonstitutionsprozesse scheitert. Sofern sich das Paradoxiekonzept nicht in Widersprüche zur konstruktivistischen Basis der Theorie verstrickt, mündet es in eine Beschreibung von Sinnkonstitutionsprozessen, die sich von den bereits geschilderten Sinnbeschreibungen nicht unterscheidet. So werden die Probleme einer differenzlogischen Konzeptualisierung sozialer Sinnkonstitutionsprozesse auch mit dem Paradoxiekonzept nicht gelöst, sondern lediglich reproduziert.
Entparadoxierung durch Oszillation Dem ersten Argumentationsstrang zufolge wird die Paradoxie der Gleichzeitigkeit von B und U durch eine kontinuierliche Oszillation zwischen beiden Seiten der Unterscheidung aufgelöst. Die Paradoxie der Gleichzeitigkeit zwingt zu einer kontinuierlichen Oszillation zwischen beiden Seiten der Grenze einer Unterscheidung. Hier erscheint der basa-
34 Vgl. A. Göbel: Theoriegenese als Problemgenese, S. 225. 35 Vgl. ebd., S. 223f.; N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 98f. 176
SINN UND DIFFERENZLOGIK
le Operationsmechanismus von Sinn also als stetiges Überschreiten der Grenze zwischen aktualisiertem Sinn und nicht-aktualisiertem Sinn. Vom Bezeichneten unterschiedener Sinn wird als jeweils andere Seite und insofern als nicht-aktualisiert, aber durch ein Überschreiten der Grenze aktualisierbar behandelt. Auch hier begegnen wir den uns bereits bekannten zwei Möglichkeiten, die andere Seite des Sinns zu verstehen – und auch hier handelt es sich um zwei Möglichkeiten, die in Luhmanns Schriften nicht systematisch getrennt werden: (1) Das vom Bezeichneten Unterschiedene kann als auf der Innenseite des Systems verortet verstanden werden. (2) Diese andere Seite kann als ein dem System Jenseitiges verstanden werden.36 Als Folge dieser begrifflichen Ungenauigkeit kann auch das Überschreiten der Grenze zwischen beiden Seiten der Unterscheidung unterschiedlich verstanden werden. Zu (1): In Luhmanns Schriften finden sich immer wieder Äußerungen, die pedantisch darauf achten, zu betonen, dass beide Seiten einer Unterscheidung als auf der Innenseite des Systems liegend gedacht werden müssen. Eine Unterscheidung ist eine als Beobachtungsoperation und somit eine sinnhafte Unterscheidung und »die Sinnwelt ist eine vollständige Welt, die das, was sie ausschließt nur in sich ausschließen kann.«37 Auch wenn auf der Innenseite des Systems verortet, gibt es aber zwei Möglichkeiten, die Unterscheidung zwischen B und U zu deuten. Zuweilen erscheint das vom Bezeichneten Unterschiedene lediglich als Nicht-Bezeichnetes. A wird von Nicht-A unterschieden. Sofern die Beschreibung von dieser Unterscheidung als systeminterne Unterscheidung verstanden wird, ist unklar, wie ein indifferenter, nicht-sinnhafter unmarked space die Funktion einer formgebenden anderen Seite von Bezeichnetem erfüllen kann. Nur in Differenz zu einer strukturierten Welt anderer Möglichkeiten kann das Bezeichnete Form und somit Inhalt erlangen. Des Weiteren ist auf Bühls Kritik am Paradoxiekonzept zu verweisen. Bühl zufolge gründet das Paradoxe des Beobachtens als Unterscheiden verstanden auf einer deplatzierten Generalisierung der Binarität von Unterscheidungen. Hierfür muss die andere Seite von A differenzlos als Nicht-A gegeben sein. Die Negation von A müsste kontextinsensitiv sein. Im systeminternen Horizont anderer Möglichkeiten könnte die Negation von A aber genauso gut zu einer Bezeichnung von B, C oder D führen.38 36 Vgl. B. Hennig: »Luhmann und die formale Mathematik« S. 170ff. 37 N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 49. 38 Vgl. W.L. Bühl: »Luhmanns Flucht in die Paradoxie«, S. 231. Hennig verweist in diesem Zusammenhang auf den Unterschied zwischen offenen Wertedualen und binären Schematismen. Vgl. B. Hennig: »Luhmann und die formale Mathematik«, S. 178f.. 177
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
Die andere Seite vom Bezeichneten wird allerdings von Luhmann genau in diesem Sinne oft nicht lediglich als indifferentes Anderes, sondern als aktuell spezifizierbares Anderes beschrieben: »Man muß aktuell schon sehen können, wie das crossing dieser Grenze möglich ist und welche nächsten Schritte in Betracht kommen.«39 Die andere Seite des Bezeichneten ist demnach nicht lediglich ein vom Bezeichneten Unterschiedenes, sondern ein durch Gedächtnis strukturierter Horizont alles Anderen. Durch diese strukturierte Komplexität wird der Übergang von einer Seite der Form zur anderen vororientiert oder genauer: vorstrukturiert. Es ist nach dieser Lesart möglich, das, was bezeichnet worden ist, festzuhalten. Das setzt zumindest voraus, dass es außer der Unterscheidung noch etwas gibt, das ohne es bestehen kann. Dieses etwas kann man festhalten, indem man es durch Generalisierung und Kondensierung als Identität bzw. als Erwartungsstruktur stabilisiert. Auch bei dieser Lesart ist das Konzept des Oszillierens als Oszillation zwischen als Bezeichnetes aktualisiertem Sinn und vom Bezeichneten Unterschiedenem zu verstehen. Wobei hier das vom Bezeichneten Unterschiedene durch ein Gedächtnis strukturiert als eine Reihe von Unterscheidungen zu begreifen ist. Diesem Verständnis von Sinnkonstitution als paradoxieauflösende Oszillation ist Zweierlei entgegen zu halten: (i) Sofern Oszillation in diesem Sinne verstanden wird, verflüchtigt sich das Spezifische am (das Problem der Paradoxie überhaupt aufwerfenden) Formbegriff sowie am Oszillationskonzept. »Eine Blockade entstünde […] nur, wenn non-A bloß negativ und monoton von A her definiert wird […].«40 Insofern wäre diese Beschreibung von Sinn nicht von der Beschreibung als Unterscheidung zwischen aktuellem Sinn und einem systemintern konstituierten Horizont anderer Sinnmöglichkeiten zu unterscheiden. Bei einer solchen Konzeptualisierung reproduzieren sich also die bereits beschriebenen Probleme der Erklärung der Eigendynamik bzw. der Offenheit des Sozialen. (ii) Ein an Spencer Browns Formbegriff orientierter, differenzlogischer Sinnbegriff ist mit dem in dieser Lesart implizierten Strukturkonzept nicht verträglich. Das Verständnis von Sinnkonstitution als kontinuierlicher Prozess des Überschreitens einer Grenze verlagert die ganze Last des Bezeichnens der Sinnkonstitution auf die operative Ebene des Unterscheidens. Die Oszillation zwischen beiden Seiten der Sinnform wird als durch die andere Seite des jeweils aktualisierten Sinns strukturiert gedacht. Das Überschreiten der Grenze zwischen durch Bezeichnen aktualisiertem Sinn und vom Bezeichneten Unterschiedenem 39 N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 58. 40 W.L. Bühl: »Luhmanns Flucht in die Paradoxie«, S. 235. 178
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erscheint, mit anderen Worten, als durch das vom Bezeichneten Unterschiedene strukturiert. Soll das Überschreiten einer Grenze aber vororientiert sein, muss auf der Innenseite der Grenze bereits ein Wissen über die Außenseite vorliegen. Auf der Innenseite einer Operation kann genauso wenig ein Wissen um die Welt jenseits der Operation bestehen, wie ein System jenseits seiner Grenzen operieren kann. Die Operation ist sozusagen bereits mit der Operation des Bezeichnens ausgefüllt. Auch in dieser Hinsicht tritt bei dieser Lesart im Endeffekt die ältere Konzeptualisierung von Sinn als sich im Verweisungshorizont systeminterner Erwartungsstrukturen Konstituierendes an die Stelle der Konzeptualisierung von Sinn als kontinuierliche Oszillation zwischen zwei Seiten einer Form. Zu (2): Einer zweiten Lesart folgend ist die andere Seite des Bezeichneten als eine jenseits des Systems gegebene Welt zu verstehen. Auch hier ist zwischen den zwei in Luhmanns Schriften miteinander verwobenen Beschreibungen der anderen Seite vom Bezeichneten zu differenzieren: (i) eine Beschreibung von der anderen Seite des Bezeichneten als differenzlos gegebener unmarked space und (ii) eine Beschreibung des vom Bezeichneten Unterschiedenen als jenseits des Systems gegebene Welt anderer Möglichkeiten. Zu (i): Dieser Beschreibung folgend ist die andere Seite von B bzw. U als unmarked space gegeben. Einen Inhalt oder Sinn kann der unmarked space erst durch die Einführung einer Markierung erhalten. Eine Markierung ist, dieser Konzeptualisierung zufolge, immer und nur durch eine Operation des Unterscheidens konstituiert und ist somit lediglich in und mit dieser Beobachtungsoperation gegeben. Dynamisch gesehen bleibt unklar, was Sinn beim Überschreiten der Grenze zu einem unmarked space finden kann. Wie kann das System die notwendige Differenz aus einer differenzlosen bzw. unstrukturierten Welt ziehen, um sich von einer Unterscheidung zur nächsten fortzubewegen?41 Nur einer strukturierten Welt kann Sinn genügend Differenz entnehmen, um die Selektion weiteren Sinns zu ermöglichen. Dass dies gerade im Rahmen einer Konzeptualisierung sozialer Systeme als dynamische, operativ geschlossene, selbstreferentielle Systeme notwendig ist, wird auch von Luhmann behauptet: »So ist zum Beispiel ein System, das sich selbst zwingt, seine Zustände laufend zu ändern, genötigt, seiner Umwelt Informationen zu entnehmen, die es ermöglichen, anschließende Zustände (intern anschließende Zustände!) zu bestimmen.«42 So stellt sich auch hier das Problem, dem wir im Kontext einer differenzlogischen Erklärung der 41 Vgl. F. Englisch: »Strukturprobleme der Systemtheorie«, S. 200f. 42 N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 80. 179
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Offenheit sinnhaft operierender Systeme mit der basalen Instabilität von Sinn als Zwei-Seiten-Form begegnet sind. Nur unter Verweis auf einen strukturierten Horizont anderer Möglichkeiten kann Kontingenz ausreichend reduziert werden, um die kontinuierliche Produktion und Reproduktion von Sinn zu ermöglichen. Der Beschreibung des vom Bezeichneten Unterschiedenen als unmarked space folgend müsste sich aber die andere Seite des Bezeichneten in einem indifferenten Horizont des nicht Sinnhaften verschwimmen. Zu (ii): Sofern U als eine jenseits des Systems gegebene Welt anderer Unterscheidungen gedacht wird, impliziert das Oszillationskonzept eine Ontologisierung der Welt. Potentieller Sinn wird als jeweils andere Seite der Form von Bezeichnetem und Nicht-Bezeichnetem und insofern als Welt nicht-aktualisierten Sinns, aber immer schon gegeben und durch ein Überschreiten der Grenze aktualisierbar gedacht.
Entparadoxierung durch re-entry Im Rahmen der zweiten Argumentationslinie wird die Paradoxie als jeder Operation immanente Gleichzeitigkeit von Aktualität und Potentialität gedeutet und mittels der re-entry-Figur entparadoxiert. Sinn als selbstreferentielle Beobachtungsform wird als Operationsweise zweiter Ordnung definiert. An anderer Stelle wird mit dieser Form der Begriffsbildung auf die operative Geschlossenheit jeglicher Sinnkonstitution verwiesen sowie auf die Notwendigkeit von Selbstreferentialität. Selbstreferentialität wird dort als Zusammenspiel von operativer und struktureller Ebene verstanden, die wiederum eine Dopplung der Umwelt eines Systems als intern konstituierter Verweisungshorizont voraussetzt. Unter dem Begriff re-entry wird Selbstreferentialität aber als Wiedereinführung einer Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene – und zwar als Einheit der Unterscheidung, also als Gleichzeitigkeit von Bezeichnetem und Nicht-Bezeichnetem – definiert. Hiernach wird Sinn erst auf der Basis eines re-entry des durch eine Sinnoperation Unterschiedenen in die Unterscheidung als selbstreferentielle Operationsweise konstituiert. Luhmann zufolge ist demnach Selbstreferentialität jeglicher Unterscheidung und somit jeglicher Operation immanent. Mit der re-entry-Figur wird aber die Paradoxie der Gleichzeitigkeit von B und U nicht aufgelöst, sondern vielmehr eine weitere Paradoxie erzeugt. Indem eine Unterscheidung auf sich selbst als Unterscheidung verweist, erscheint der aktualisierte Sinn als kontingent, d.h. aktualisierter Sinn wird als eine Möglichkeit unter anderen beobachtet: »Sinn ist also eine Form, die auf beiden Seiten eine Copie ihrer selbst in sich selbst enthält. Das führt zur Symmetrisierung des zunächst asymmet180
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risch gegebenen Unterschiedes von aktuell und möglich, und folglich erscheint Sinn als weltweit überall dasselbe.«43 Wie Englisch herausarbeitet ist diese Definition von Sinn aber paradox: »So müßte eine Differenz eine andere Differenz beobachten, die in diesem Falle dieselbe wäre. Dies führt dazu, daß ich die eine – indizierende – Seite der Differenz zur Bezeichnung der ganzen Differenz verwenden müßte, mit dem paradoxen Resultat, daß eine Differenz sich mit der Hälfte ihrer selbst als Ganze beobachtet und dies Selbstbeobachtung nennt.«44 Dies wird auch von Luhmann zugestanden.45 Die für Beobachten beziehungsweise für Unterscheiden erforderliche Re-Asymmetrisierung bedarf, nach Luhmann, einer Anreicherung durch Zusatzsinn.46 Da aber die aktuelle Operation als Unterscheidung zwischen aktuell und möglich oder gegebenenfalls zwischen selbst und fremd schon »aufgebraucht« ist, kann dies allein durch den Übergang zu einer anderen Unterscheidung erfolgen. Womit die Paradoxie nicht aufgelöst, sondern allenfalls auf die bereits skizzierte Problematik der Konzeptualisierung eines Oszillierens zwischen beiden Seiten der Unterscheidung zurückgeführt wird. Anzumerken bleibt, dass dieses Problem stellenweise nicht als Paradoxie der Gleichzeitigkeit oder Einheit des Differenten, sondern als Problem der tautologischen Operationsweise selbstreferentieller Systeme beschrieben wird. Indem ein selbstreferentielles System immer nur auf sich selbst zurückverweist, blockiert es sein eigenes Prozessieren. Die kontinuierliche Konstitution von Neuem, auf die temporalisierte Systeme angewiesen sind, wird unmöglich. Während im ParadoxieParadigma der Zwang zu Entparadoxierung als in der Operationsform angelegt gesehen wird, erscheint das systemimmanente Movens hier als 43 N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 50. 44 F. Englisch: »Strukturprobleme der Systemtheorie«, S. 222. 45 N. Luhmann: »Autopoiesis als soziologischer Begriff«, in: Hans Haferkamp/Michael Schmid (Hg.), Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung: Beiträge zu Luhmanns Theorie sozialer Systeme, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 307-324, hier S. 320. 46 Zu der Inkompatibilität eines Konzept von Zusatzsinn bzw. »Anschlusswissen« mit Spencer Browns »Laws of Form« vgl. B. Hennig: »Luhmann und die formale Mathematik«, S. 174. Diese Inkompatibilität wird von Luhmann selbst eingestanden: »Das System kann beobachten, dass es beobachtet. Es kann Beobachtungssequenzen auf die Umwelt, aber auch auf sich selber beziehen. Es kann auch ständig hin und her kreuzen also die Grenze Selbst/Fremd überschreiten und zurückkehren, ohne dabei die Orientierung zu verlieren. Spencer Browns ›law of crossing‹ gilt unter dieser Sonderbedingung also nicht« (N. Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, S. 27). Darüber, warum Spencer Browns ›law of crossing‹ in manchen Fällen gilt und in machen nicht, erfahren wir allerdings nichts. 181
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Notwendigkeit einer Unterbrechung der Selbstreferentialität – auch hier durch Zusatzsinn. Als Notwendigkeit der Selbstreferenzunterbrechung ist zuweilen nicht die Rede von Entparadoxierung, sondern von der Entfaltung der Paradoxie.47 In diesem Kontext wird die Paradoxie in Verbindung mit der differenzlogischen Konstitution von Sinn gesetzt und die Entfaltung der Paradoxie als Stabilisierung von Identitäten behandelt. Während es sich also bei Entparadoxierung entweder um ein re-entry der Unterscheidung in die Unterscheidung beziehungsweise um einen kontinuierlichen Oszillationsprozess handelt, geht es bei der Entfaltung einer Paradoxie um die Generierung und Stabilisierung von Identitäten. Somit verweist auch hier das Konzept der Entparadoxierung auf systeminterne Erwartungsstrukturen. Dass der somit implizit eingeführte Strukturbegriff mit der am Brown’schen Formbegriff orientierten differenzlogischen Definition von Sinn nicht verträglich ist, wurde bereits erörtert.
4 . S i n n a l s M e di u m / F o r m - U n t e r s c h e i d u n g Neben der Beschreibung der Sinnform als Unterscheidung zwischen Bezeichnetem und vom Bezeichneten Unterschiedenem führt Luhmann eine Beschreibung von Sinn entlang der Unterscheidung zwischen Medium und Form in seinen begrifflich-konzeptuellen Apparat ein. Hier erscheint Sinn als mediales Substrat sozialer (und psychischer) Systeme. Das Medium eines Systems wird als lose Kopplung, die Form als strikte Kopplung von Elementen verstanden. Die Umwandlung von Medium in Form erfolgt durch die Selektion bestimmter Verknüpfungen. Im Rahmen der bisherigen Analysen stellt sich die Frage, was das Spezifische an dieser neuen Fassung des Sinnkonzepts ist bzw. worin der konzeptuelle Mehrwert dieser Beschreibung liegt. Den bisherigen Beschreibungen folgend wird diese kontinuierliche Produktion und Reproduktion der eigenen Elemente durch die Strukturen des Systems ermöglicht. Erst im Kontext bestehender Erwartungsstrukturen erlangt ein Kommunikationsereignis Bedeutung oder Sinn. Des Weiteren wird die Selektion von anschlussfähigem Sinn durch die Erwartungsstrukturen des Systems konditioniert. Gleichzeitig werden die Strukturen eines Systems durch die Operationen des Systems kontinuierlich reproduziert und transformiert. Mit diesem Strukturkonzept wird es für Luhmann möglich, die Selbsterhaltung des Systems zu erklären, d.h. die kontinuierliche Produktion und Reproduktion der Elemente 47 Vgl. N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 193. 182
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eines Systems, und dies ohne einen eine statische Bestandserhaltung implizierenden Struktur- oder Systembegriff einzuführen. Ähnlich wie im Struktur/Operation-Verhältnis erscheint das Medium gegenüber der Form als das stabile, dauerhafte.48 Wie Strukturen werden Medien als komplexitätsreduzierende, systeminterne Strukturierung von Selektionsmöglichkeiten beschrieben: »Diese Unterscheidung geht davon aus, daß nicht jedes Element mit jedem anderen verknüpft werden kann; aber sie reformuliert das damit gestellte Selektionsproblem, bevor sie es behandelt, noch einmal durch eine weitere, vorgeschaltete Unterscheidung, um dann Formen (in diesem engeren Sinne strikter Kopplung) als Selektion im Bereich eines Mediums darstellen zu können.«49 Oder mit anderen Worten: »Die feste Kopplung ist das, was gegenwärtig […] realisiert ist. Die lose Kopplung liegt in den dadurch nicht festgelegten Möglichkeiten des Übergangs von einem zum anderen.«50 Wie im Verhältnis von Strukturen und Operationen wird das Medium des Systems, d.h. das mediale Substrat lose gekoppelter Elemente durch die strikte Kopplung als Form nicht verbraucht, sondern reproduziert.51 Der Mediumbegriff erklärt im Kontext der Medium/Form-Unterscheidung – wie der Strukturbegriff im Kontext der Struktur/Operation-Unterscheidung –, wie Autopoiesis fortgesetzt wird, ohne einen statischen, bestandserhaltenden Systembegriff einzuführen.52 Als solches ist auch dieser Sinnbegriff eine differenzlogische Lösung des Problems der Erklärung der Selbstreferentialität des Sozialen.53 Von Luhmann selbst wird mit den folgenden Beschreibungen die Medium/Form-Unterscheidung als kompatibel mit den bisherigen Sinnkonzepten ausgewiesen: »nur eine Unterscheidung«54, »eine Unterscheidung (also selbst eine Form!), auf deren Innenseite Elemente fest und auf deren Außenseite Elemente lose gekoppelt sind«55 sowie »Kehrseite der systemtheoretischen Einsicht, daß ein System nur mit eigenen Operationen operieren kann«56. Erst recht vor dem Hintergrund der Ähnlichkeit der Leistung dieses Sinnbegriffs mit den bisherigen differenzlogischen Sinnbegriffen drängt sich die Frage auf, wozu Luhmann eine neue Fassung des Sinnbegriffs 48 Vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995, S. 171; N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 200. 49 N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 196. 50 Ebd., S. 200. 51 Vgl. ebd., S. 197f. 52 Vgl. ebd., S. 199. 53 Vgl. ebd., S. 195, S. 197. 54 N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 185. 55 N. Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, S. 31. 56 N. Luhmann: Die Religion der Gesellschaft, S. 16. 183
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braucht. Nimmt man die Theorie ernst, ist davon auszugehen, dass diese Reformulierung nicht lediglich als Begriffsspielerei abgetan werden kann, sondern der Lösung eines theoretischen Problems dient. Zu fragen ist also, worin sich diese neue Fassung von den bisher beschriebenen Fassungen unterscheidet und nach dem theoretischen Problem, zu dessen Lösung sie dient. Von Luhmann erfahren wir einerseits, dass die Medium/FormUnterscheidung dazu dient, die Unterscheidung »Substanz/Akzidenz« oder »Ding/Eigenschaft« zu ersetzen.57 »An die Stelle der Frage, was (wenn überhaupt etwas) Gedanken intendieren oder Sätze bezeichnen, tritt die Frage, durch welche Formen sich etwas als Medium der Realisierung von Form konstituieren läßt.«58 Darüber, inwiefern das Problem der Referenz bzw. die Differenz Ding/Eigenschaft nicht bereits durch die bestehenden Sinnkonzepte ersetzt worden ist bzw. welches Problem von dieser Form der Ersetzung ungelöst bleibt, erhalten wir allerdings keine Auskunft. In der Beschreibung von Sinn als Medium/Form-Unterscheidung werden die als mediales Substrat lose gekoppelten Elemente eines Systems über die Operationen des Systems als Form fest gekoppelt. In den bisherigen Beschreibungen erschien die Operation hingegen als äquivalent mit den Elementen eines Systems. Die Elemente eines dynamischen Systems vergehen – den bisherigen Beschreibungen folgend – im Moment ihrer Konstitution sogleich wieder. Bei dieser Beschreibung erscheinen die Operationen eines Systems hingegen als äquivalent mit den Elementen eines Systems. Diese De-Ontologisierung von Sinnelementen als temporalisierte Elemente dient, theoriearchitektonisch gesehen, als Erklärung zur selbstreferentiellen Eigendynamik von Sinnsystemen. Die Eigenschaft von Elementen als temporalisierte Elemente wird als Notwendigkeit einer kontinuierlichen, systeminternen Produktion und Reproduktion der eigenen Elemente gelesen. Die Elemente eines Systems sind nicht ontologisch gegeben, sondern systemintern konstituiert. Auch in der Medium/Form-Unterscheidung haben wir es mit temporalisierten Operationen zu tun. Hier wird die Temporalität allerdings nicht auf die kontinuierliche Produktion und Reproduktion der Elemente eines Systems zurückgeführt, sondern auf die kontinuierliche Kopplung und Entkopplung von Systemelementen. Wichtig ist, dass das jeweils als Medium fungierende Substrat an Elementen einen Möglichkeitsraum der festen Kopplung dieser Elemente konstituiert. Über das Medium werden, mit anderen Worten, gewisse Kopplungsmöglichkeiten zugelassen, an57 N. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 165. 58 N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 183. 184
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dere aber ausgeschlossen. Diese strukturierende Einschränkung des Möglichen erfolgt durch die Eigenschaften der Elemente selbst. »Medien werden aus immer schon ausgeformten Elementen gebildet, denn anders könnte weder von loser noch von fester Kopplung die Rede sein.«59 So beschreibt Luhmann den durch ein mediales Substrat konstituierten Möglichkeitsraum als »eine offene Mehrheit möglicher Verbindungen, die mit der Einheit eines Elements noch kompatibel sind – also etwa die Zahl der sinnvollen Sätze, die mit einem sinnidentischen Wort gebildet werden können.«60 Wichtig an dieser Konzeptualisierung ist die identitätstheoretische Konnotation dieser Figur. Die Elemente des Systems werden zwar nicht als jenseits des Systems ontologisch gegeben beschrieben. Einer Substanzontologie entsprechend werden sie aber als immer schon ausgeformt beschrieben, und es werden ihnen Wesensmerkmale zugeschrieben, welche die Realisierung bestimmter Möglichkeiten zulassen, andere aber ausschließen. So beschreibt Luhmann die »ontologische Metaphysik der Tradition« als einen »›Ursprung‹ […], der bei allem Wechsel der laufend aktualisierten Unterscheidungen derselbe blieb«.61 Des Weiteren erscheint die Medium/Form-Unterscheidung – im Gegensatz zu der Unterscheidung zwischen aktuellem und potentiellem Sinn – als eine relative Unterscheidung. Was auf einer Ebene als Form funktioniert, d.h. als lose Kopplung von Elementen, funktioniert auf einer anderen Ebene als Medium, das erst über die Operationen des Systems fest gekoppelt wird bzw. für feste Kopplung zur Verfügung steht. »Im Medium der Geräusche werden durch starke Einschränkung auf kondensierbare (wiederholbare) Formen Worte gebildet, die im Medium der Sprache zur Satzbildung (und nur so: zur Kommunikation) verwendet werden können. Die Möglichkeit der Satzbildung kann ihrerseits wieder als Medium dienen – zum Beispiel zu Formen, die man als Mythen, Erzählungen oder später, wenn das Ganze sich im optischen Medium Schrift duplizieren läßt, auch als Textgattungen und als Theorien kennt. Theorien wiederum können im Medium des Wahrheitscodes zu unter einander konsistenten Wahrheiten gekoppelt werden,
59 N. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S.172. 60 Ebd., S. 168. 61 N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 56f. Hier kann man natürlich einwenden, dass es sich keineswegs um Wesensmerkmale handelt, sofern, wie Luhmann behauptet, die Eigenschaften eines medialen Substrats, beispielsweise die Bedeutung des Wortes, sich mit der Verwendung verändern. Allerdings wird, sofern man dies eingesteht, unklar, wie es sich dann noch um das gleiche Element handeln kann. 185
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zu Formen also, deren Außenseite der Bereich der untereinander nicht konsistenten Unwahrheiten wäre.«62
Der Medium/Form-Unterscheidung liegt also ein Konzept des »evolutionären Stufenbaus« zugrunde.63 Wichtig an diesem Konzept eines Stufenbaus ist, dass die jeweils nächsthöhere Stufe als Respezifizierung des als Medium bzw. Form gegebenen Möglichkeitsraums der darunterliegenden Stufe verstanden werden muss. Die darunterliegende Stufe fungiert somit als gemeinsamer Möglichkeitsraum unterschiedlicher Respezifizierungsformen – sei es im Sinne der Respezifizierung der Bedeutungsmöglichkeiten von Wörtern über Sätze, sei es im Sinne der Respezifizierung der Bedeutungsmöglichkeiten eines sozialen Systems in Form von in sich konsistenten Theorien. Die jeweils darunterliegende Stufe fungiert also als gemeinsame Ebene unterschiedlichster Spezifizierungsformen. »Die Logik der Unterscheidung von Medium und Form läßt hier keine Aussagen über letzte Grenzen des Möglichen zu, wohl aber Aussagen über Abhängigkeitsketten, die auf evolutionäre Errungenschaften der Formbildung verweisen, die vorliegen müssen, damit eine weitere, ins immer Unwahrscheinlichere treibende Konstellierung möglich ist.«64
Mit der Konzeptualisierung von Sinn als Medium/Form-Unterscheidung wird die identitätstheoretische Figur der Realisierung von Allgemeinem im Besonderen, von dem sich zu verabschieden es gerade dezidiertes Ziel der Theorie war, in Luhmanns konzeptuellen-begrifflichen Apparat eingeführt. Dramatischer werden die Implikationen einer solchen identitätstheoretischen Figur, wenn wir die Rolle von Sprache als Medium psychischer und sozialer Systeme beachten. Im Kontext der Medium/FormUnterscheidung wird die Funktion von Sprache als »das Bereithalten einer Vielzahl von ungekoppelten Möglichkeiten durch den Wortschatz und durch Verfügung über beschränkende Verknüpfungsregeln« bestimmt.65 »Jede operative Nutzung von Sprache im Kommunizieren oder Denken besteht also in einer laufenden Kopplung des lose gekoppelten Medienbestandes, der damit nicht verbraucht wird […], sondern für weitere Kopplungen zur Verfügung steht.«66 Gleichzeitig wird Sprache als
62 63 64 65 66
N. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 172. Ebd., S. 172. Ebd., S. 173. N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 183. Ebd., S. 54.
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»Nichtsystem« beschrieben, dass die strukturelle Kopplung psychischer und sozialer Systeme ermöglicht, d.h. als in der Umwelt sowohl psychischer als auch sozialer Systeme gegebene Struktur.67 Dies würde implizieren, dass Sprache ein jenseits beider Systeme gegebenes mediales Substrat bildet, das in den Systemen jeweils unterschiedlich respezifiziert wird. Eingestanden werden muss, dass Luhmann uns in dieser Hinsicht eine andere Lesart nahelegt. Die Medium/Form-Unterscheidung wird als fest auf der Innenseite des Systems verankert beschrieben. So schreibt Luhmann beispielsweise, dass ähnlich wie der Informationsbegriff »auch die (eng mit ihm zusammenhängende) Unterscheidung von Medium und Form stets ein systeminterner Sachverhalt ist«.68 Oder: »Ebenso wie im Falle der Wahrnehmungsmedien wird auch im Falle der Sprache […] das Medium von den Systemen, die es benutzen, erst erzeugt.«69 Nehmen wir diese Aussagen ernst, stellt sich allerdings die Frage, wie die Beschreibung von Sprache als Medium mit der Beschreibung von Sprache als strukturelle Kopplung psychischer und sozialer Systeme in Einklang gebracht werden kann. Die Antwort, die allerdings weder mit der Differenzlogik von Luhmann noch mit dem Konstruktivismus von Luhmann kompatibel ist, lautet: als mediales Substrat sowohl psychischer als auch sozialer Systeme. Sprache beinhaltet demnach die Elemente sowohl des psychischen als auch des sozialen Systems.70 So drängt sich die noch unbeantwortete Frage auf, was der konzeptuelle Mehrwert dieser Sinnbeschreibung ist bzw. zur Lösung welches bisher ungelöst gebliebenen theoretischen Problems dieses Konzept dient. Durch die Einführung dieser identitätstheoretischen Figur wird es möglich, eine systeminterne sowie eine System/Umwelt-Einheit (oder genauer: einen Überschneidungsbereich) zu konzeptualisieren!
5. Weltbegriff Wie aus den bisherigen Erläuterungen klar geworden sein dürfte, steht der Weltbegriff bei Luhmann in einem engen Zusammenhang mit dem Sinnkonzept. Dabei ist die Verwendung des Weltkonzepts mit begriffli-
67 68 69 70
Vgl. ebd., S. 51. N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 195. N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 54. Zu den paradoxalen Anforderungen, die Luhmann an die Sprache stellt, vgl. I. Srubar: »Sprache und strukturelle Kopplung«. 187
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chen Unklarheiten durchsetzt.71 Welt wird zum einen als die Einheit der System/Umwelt-Differenz und zum anderen als »woraus aller Möglichkeiten« beschrieben. Als System/Umwelt-Einheit erscheint Welt zuweilen als systeminterne Einheit bzw. als systeminterner Möglichkeitshorizont. Zuweilen erscheint sie auch als Begriff für eine Beschreibung einer dem System jenseitigen »realen« Einheit der System/Umwelt-Differenz bzw. als »realer« Möglichkeitsraum. Diese begrifflichen Komplikationen noch erschwerend wird Welt als systeminterne Einheit zuweilen als Begriff der Systemtheorie, zuweilen als systeminterner Begriff der Beschreibung der System/Umwelt-Differenz bezeichnet. Des Weiteren wird sie an manchen Stellen mit Umwelt gleichgesetzt. Ferner bleibt unklar, worin – wenn als systemintern konstituierte Welt verstanden – der Unterschied zwischen Sinn und Welt liegt. Als systemintern Konstituiertes erscheint Welt nämlich als Sinnhorizont bzw. als Letzthorizont und somit als Gesamtheit allen Sinns.72 Beide Begriffe tendieren dazu, differenzlos ineinander überzugleiten. Diese mehrfache konzeptuelle Besetzung könnte als eine nicht weiter problematische – ja, als eine bei einer sich in Genese befindlichen Theorie selbstverständliche – Begriffsverwirrung abgetan werden und durch eine strengere Differenzierung aufgelöst werden. Die hier zu begründende These ist aber, dass diese begriffliche Unklarheit auf die Problematik einer strikt differenzlogischen Beschreibung von Sinn zurückzuführen ist. Diese These ist keineswegs neu in der Landschaft der Luhmann-Rezeption. So haben beispielsweise bereits Thomas und Stäheli ähnliche Thesen entwickelt.73 Auch die Überlegungen von Georg Lohmann zu Luhmanns Begriff von Wirklichkeit 1 und Wirklichkeit 2 bewegen sich in eine ähnliche Richtung.74 Im Rahmen dieser Analyse 71 In den späteren Werken Luhmanns – mit der zunehmenden Bedeutung der an Spencer Browns Formbegriff orientierten Beschreibung von Sinn als Unterscheidung zwischen Bezeichnetem und vom Bezeichneten Unterschiedenem – wird an manchen Stellen der Weltbegriff durch den Begriff eines unmarked space bzw. unmarked state ersetzt. Auf diese begriffliche Verschiebung gehe ich aber nicht gesondert ein, da sich hier die gleiche Problematik, die am Weltbegriff aufgezeigt werden soll, lediglich reproduziert. 72 N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 105. 73 Vgl. U. Stähli: Sinnzusammenbrüche, S. 83ff.; Günter Thomas: »Welt als relative Einheit oder als Letzthorizont?«, in: Werner Krawietz/Michael Welker (Hg.), Kritik der Theorie sozialer Systeme, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1992, S. 327-354, hier S. 345. 74 Vgl. Georg Lohmann: »›Beobachtung‹ und Konstruktion von Wirklichkeit. Bemerkungen zum Luhmannschen Konstruktivismus«, in: Gebhard Rusch/Siegfried Schmidt (Hg.), Konstruktivismus und Sozialtheorie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994, S. 205-219. 188
SINN UND DIFFERENZLOGIK
findet diese Behauptung allerdings eine etwas andere Ausformulierung und birgt andere Implikationen. Im Folgenden soll der Weltbegriff, (1) der als systemintern konstruierte Welt verstanden und (2) als jenseits des Systems »real« gegebene Welt verstanden, analysiert werden. 1) Als systeminterne Welt verstanden erscheint Welt als Letzthorizont allen Sinns oder als systeminterne Beschreibung der Einheit von System und Umwelt. Das System verweist in internen Prozessen auf Umwelt. Hierbei handelt es sich allerdings nicht um eine reale, jenseits des Systems gegebene Umwelt, sondern um eine sinnhafte, intern konstituierte Umwelt. Diese System/Umwelt-Differenz bildet für das System die Weltform. Die Einheit der Differenz zwischen System und Umwelt ist, mit anderen Worten, Welt. Als Verweis auf eine systemintern konstituierte Welt verweist der Weltbegriff auf die Selbstreferentialität bzw. Geschlossenheit des Systems. Alles, was das soziale System wahrnehmen kann, nimmt es in der Form von Sinn wahr. Anders gesagt: Die Welt erscheint für das soziale System als sinnhafte Welt.75 Als »woraus aller Möglichkeiten« erklärt der Weltbegriff die Offenheit des Systems für Neues. »Die Geschlossenheit selbstreferentieller Systembildungen wird hier gleichbedeutend mit endloser Offenheit der Welt.«76 Hierbei handelt es sich um die uns bereits bekannte Offenheit für eine systemintern konstituierte Welt anderer Möglichkeiten. Sinn verweist immer über sich hinaus auf eine Welt anderer Möglichkeiten.77 Insofern erscheint Welt als intern konstituierter Möglichkeitsraum. Als solcher muss sie als ein strukturierter Raum, der bestimmte Selektionen ermöglicht, andere aber ausschließt, verstanden werden. »Das Sequenzieren der Operationen hält also das Gesamt von Potentialitäten co-präsent, führt es nur mit, regeneriert es dadurch als Welt, ohne welche es nie zu einer Selektion weiterer Operationen, nie zu einer Reproduktion des operierenden Systems kommen könnte. Sinn kann […] nur als Form reproduziert werden. Die Welt selbst bleibt als stets mitgeführte andere Seite aller Sinnformen beobachtbar.«78
Als systemintern konstituierte Welt ist dieser Weltbegriff sowohl mit der konstruktivistischen als auch mit der differenzlogischen Grundanlage der Theorie kompatibel. Allerdings bleibt bei dieser Beschreibung unklar, worin der Unterschied zwischen Welt und Sinn als systeminterner 75 Vgl. N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 96. 76 Ebd., S. 96. 77 Vgl. G. Thomas: «Welt als relative Einheit oder als Letzthorizont?«, S. 335f. 78 N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 54. 189
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
Verweisungshorizont besteht – es sei denn, Welt wird als systeminterne Beschreibung der Einheit von System und Umwelt verstanden. In diesem Fall verschwindet aber der konzeptuelle Mehrwert des Begriffs bzw. wird er auf die Bezeichnung einer systeminternen Semantik reduziert. Zu fragen ist sodann, wozu Luhmann einen Begriff von Welt als systemintern Konstituiertes braucht bzw. was das theoretische oder konzeptuelle Problem ist, das dieser Begriff lösen soll. Der Begriff von Welt als systemintern konstituierte Welt wird in Abgrenzung zu einem identitätstheoretischen Weltbegriff beschrieben: »Der Weltbegriff bezeichnet eine Einheit, die nur für Sinnsysteme aktuell wird, die sich von ihrer Umwelt zu unterscheiden vermögen und daraufhin die Einheit dieser Differenz reflektieren als Einheit, die zwei Unendlichkeiten, die innere und äußere umfaßt. Welt in diesem Sinne wird also durch die Ausdifferenzierung von Sinnsystemen, durch die Differenz von System und Umwelt konstituiert. Insofern ist sie (anders als die phänomenal gegebene Welt) nichts Ursprüngliches, nichts Archehaftes, sie ist eine Abschlußeinheit als Anschlußvorstellung an eine Differenz.«79
Dieser Weltbegriff wird als ein differenzlogischer definiert, dient aber zugleich dazu, die Einheit des Systems zu erklären: »Die traditionelle Zentrierung des Weltbegriffs auf eine ›Mitte‹ oder dann auf ein ›Subjekt‹ hin wird damit aufgegeben, aber nicht einfach ersatzlos gestrichen. An ihre Stelle tritt die Zentrierung auf Differenz hin, oder genauer: auf die System/Umwelt-Differenzen hin, die sich in der Welt ausdifferenzieren und damit die Welt konstituieren. Jede Differenz wird zur Differenz zum Weltzentrum, und gerade das macht die Welt nötig: Sie integriert für jede System/Umwelt-Differenz alle System/Umwelt-Differenzen, die jedes System in sich selbst und in seiner Umwelt vorfindet.«80
79 N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 283. 80 Ebd., S. 284. Auffällig ist, dass allein in diesem Zitat Welt konzeptuell doppelt besetzt ist. So wird Welt als systemintern Konstituiertes beschrieben. Im gleichen Atemzug erscheint Welt mit der Formulierung »die sich in der Welt ausdifferenzieren« als jenseits des Systems gegebene Welt bzw. Realität. Anzumerken ist, dass Luhmann gelegentlich begrifflich zwischen einer systemintern konstituierten Welt und einer jenseits des Systems gegebenen »Welt« unterscheidet. So wird beispielsweise an einer Stelle zwischen Welt als Weltverweisung, die immer in allem aktualisiertem Sinn als Weltverweisung »co-präsent« ist, und zwischen dem, was mit »der Sinnthese ausgeschlossen ist« als »absolut[e] Leere, Nichtheit, das Chaos«, unterschieden (N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 190
SINN UND DIFFERENZLOGIK
Mit dem Versuch, Welt als integrierende Einheit allen Sinns zu konzeptualisieren, wird die Theorie in zweierlei Hinsicht in die Nähe von identitätstheoretischen Konzepten gerückt. Zum einen erscheint das Weltkonzept – in manchen Formulierungen – als dem phänomenologischen Lebensweltkonzept sehr ähnlich. So wird Welt als »das momentan Unbezweifelte, das Vorverständigtsein, die unproblematische Hintergrundsüberzeugung und diese tragende Meta-Gewissheit, daß die Welt irgendwie alles Auflösen und alles Einführen von Unterscheidungen konvergieren läßt« beschrieben.81 Zum anderen erinnern andere Beschreibungen von Welt stark an die identitätstheoretische Figur der Realisierung vom Besonderen im Allgemeinen – eine Figur also, deren Überwindung gerade das Ziel von Luhmanns Differenzlogik ist: »Als Sinn ist Welt überall zugänglich: in jeder Situation, in beliebiger Detaillierung, in jedem Punkt auf der Skala von konkret zu abstrakt. Von jedem Ausgangspunkt kann man sich zu allen anderen Möglichkeiten der Welt fortbewegen, eben dies besagt die in allem Sinn angezeigte Welt. Dem entspricht ein azentrischer Weltbegriff. Zugleich ist die Welt aber auch mehr als die bloße Summe aller Möglichkeiten, sinnhafte Verweisungen nachzuvollziehen.«82
Hier könnte Welt als Begriff für die andere Seite vom Bezeichneten verstanden werden: Von jedem Ausgangspunkt kann man sich zu allen anderen Möglichkeiten der Welt fortbewegen. Wie aber ist denn das Besondere am Weltbegriff, wenn dieser nicht die Einheit von der »Welt« bezeichnet, zu verstehen? Wie Welt als systemintern Konstituiertes – sowohl als Letzthorizont als auch als systeminterne Semantik – alle Unterscheidungen des Systems integrieren kann, bleibt wiederum im Rahmen von Luhmanns differenzlogischem Sinnkonzept unklar. Im Kontext dieses Sinnkonzeptes müsste Welt (wie bereits die Selbstreferenz/Fremdreferenz-Unterscheidung) als andere Seite vom Bezeichneten nicht lediglich als systemrelativ, sondern als operationsrelativ verstanden werden.83 Ein alle Unterscheidungen integ-
49.). Diese Unterscheidung wird allerdings nicht konsequent durchgehalten. 81 N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 106. 82 Ebd., S.106. 83 Auch hier ist anzumerken, dass auch eine mit der Differenzlogik von Luhmanns Systemtheorie kompatible Lesart des Weltkonzepts möglich ist. Sie beschreibt Luhmann in Abgrenzung zu einem phänomenologischen Weltkonzept folgendermaßen: »Die Welt ist damit in jeder sinnhaften Aktualität mitgegeben, aber dies nur als Horizont, dem man sich nur durch Wahl eines Kontextes für spezifische Operationen nähern kann und der, wenn man dies tut, zurückweicht« (N. Luhmann: »Die Lebenswelt – nach 191
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
rierender Letzthorizont als systeminterne Einheit ist mit diesem Sinnverständnis nicht kompatibel.84 (2) Auch als ein dem System Jenseitiges wird Welt als die Einheit der System/Umwelt-Unterscheidung bzw. als »woraus aller Möglichkeiten« beschrieben. Zusätzlich zu dieser Beschreibung erscheint sie in diesem Kontext zuweilen als Realität, als differenzlos und strukturlos gegebener unmarked state oder als Weltkomplexität. Als unstrukturierte, differenzlos gegebene andere Seite vom Bezeichneten bleibt unklar, wie eine solche Welt das System irritieren kann. Mit der Beschreibung als einem jenseits des Systems gegebenen »woraus aller Möglichkeiten« wird ihr aber genau eine solche Leistung zugesprochen. »[D]ie Welt ist ein unermeßliches Potential für Überraschungen, sie ist virtuelle Information, die aber Systeme benötigt, um Information zu erzeugen, oder genauer: um ausgewählten Irritationen den Sinn von Information zu geben.«85, Auch in diesem Kontext kann sie als »woraus aller Möglichkeiten« nur als eine differenzierte, strukturierte Welt, die bestimmte Möglichkeiten einschließt und andere wiederum ausschließt, gedacht werden. Die Beschreibung als unstrukturierter und differenzloser unmarked state ist im Kontext der Notwendigkeit einer Selbstreferentialität unterbrechenden System/Umwelt-Wechselwirkung allenfalls im Sinne einer Sinngrenze zu denken. Sie erscheint für das System als struktur- und differenzlos gegeben. Denn das sinnhaft operierende System kann die Welt nur als sinnvolle Welt wahrnehmen. Sinnvoll wird sie aber erst durch die Unterscheidungen des Systems. Das heißt: Die in Bezug auf Sinn unstrukturierte und differenzlos gegebene Welt wird erst durch die Operationen des Systems als eine sinnhafte Welt konstituiert. So drängt sich die Frage auf: Wie, wenn nicht als unstrukturierter und differenzloser unmarked state, kann die jenseits des Systems gegebene Welt als »woraus aller Möglichkeiten« verstanden werden? Auch auf diese Frage lässt sich in Luhmanns Schriften eine Antwort finden. Welt wird als Weltkomplexität beschrieben. Als »woraus aller Möglichkeiten« erscheint sie als Möglichkeitsraum, der bestimmte MöglichkeiRücksprache mit Phänomenologen«, S. 180). Hier ist aber zu wiederholen, dass so verstanden sich kein Unterschied zwischen Welt und Verweisungshorizont feststellen lässt. 84 So kommt auch Thomas zu dem Schluss, »daß sich hinter der Konzeption eines integrierenden Letzthorizonts ein nicht befriedigend zu lösendes Problem der Theorie verbirgt: das der Abstimmung multipler systemrelativer Welten und der Sicherstellung universaler sinnhafter Anschlußfähigkeit« (G. Thomas: »Welt als relative Einheit oder als Letzthorizont«, S. 329). 85 N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 46; vgl. G. Thomas: »Welt als relative Einheit oder als Letzthorizont«, S. 340f. 192
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ten zulässt und andere ausschließt. Sofern diese dem System jenseitige Welt bzw. Weltkomplexität als ein sinnhaft Strukturiertes verstanden wird, beinhaltet der Weltbegriff eine unzulässige Reifikation bzw. Ontologisierung des Sinnbegriffs. Sofern er aber als eine irgendwie anders, wenngleich nicht eine sinnhafte strukturierte Welt bzw. Komplexität verstanden wird, wäre die Beschreibung von Welt gleichzusetzen mit der Beschreibung von Umwelt. Diese Welt existiert für das System nur, sofern sie für das System ein Problem ist oder anders formuliert: nur sofern sie das System irritiert. So stellt sich die Frage, wie diese Welt sich von der systemspezifischen Umwelt unterscheidet. In der Tat lassen sich Beschreibungen finden, in der, wie bereits in der Beschreibung von Welt als systemintern Konstituiertes, Welt und Sinn differenzlos ineinander übergehen, Welt und Umwelt gleichgesetzt werden. Wie bei ihrer Konzeptualisierung als systemintern Konstituiertes ist aber auch hier das Ziel, das Spezifische am Weltbegriff zu finden. Hier ist an die Definition von Welt als Einheit der System/Umwelt-Differenz zu erinnern. Diese Welt ist also genau genommen nicht als ein dem System Jenseitiges zu verstehen, sondern als Realitätsunterbau – und zwar als Realitätsunterbau, welcher dem System wie der Umwelt des Systems gemeinsam ist.86 Sofern dieser Möglichkeitsraum nicht als ein sinnhaft strukturierter verstanden wird, ist dies durchaus kompatibel mit der konstruktivistischen Grundanlage der Theorie. Allerdings erscheint die Welt als Realitätsunterbau verstanden in genau dem von Luhmann als identitätstheoretisch definierten Sinn als »woraus aller Möglichkeiten«. Als Möglichkeitsraum lässt diese Realität die Realisierung bestimmter Möglichkeiten zu, schließt aber andere aus. Die Realität erscheint als Möglichkeitsraum, der systeminterne Verweisungshorizont als sinnhaft spezifizierter Möglichkeitsraum – der aber durch die Struktur und das heißt durch den dem System wie der Umwelt gemeinsamen Möglichkeitsraum der Realität (bzw. Welt) vorstrukturiert ist. Das System erscheint mit anderen Worten als spezifische Form der Realisierung dieses Möglichkeitsraums – oder eben als diese für System wie Umwelt zwar unterschiedlich konstruierte, aber als Realitätsunterbau identisch gegebene Welt.
86 In »Erkenntnis als Konstruktion« unterscheidet Luhmann zwischen Welt als die »Einheit der Differenz von System und Umwelt« und »Realität« als »die Einheit der Differenz von Erkenntnis und Gegenstand« (Niklas Luhmann: Erkenntnis als Konstrkution, Bern: Benteli 1988, S. 42f.). Auf diesen Realitätsbegriff kommt es im Zusammenhang meiner Argumentation sowie in dem Zusammenhang, in dem Luhmann von »Realitätsunterbau« redet, nicht an. So wird diese Differenzierung hier außer acht gelassen. 193
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Entsprechende Formulierungen lassen sich auch bei Luhmann finden. So beschreibt Luhmann Welt als »das Unbeobachtbare schlechthin, das mit jedem Wechsel der Unterscheidungen reproduziert wird«.87 Als Unbeobachtbares schlechthin kann Welt nur insofern verstanden werden, als es sich um eine jenseits der Grenzen des Systems nicht sinnhaft gegebene handelt. Sie ist dann im konstruktivistischen Sinne als solches nicht beobachtbar. Zugleich wird diese Welt – und nicht nur die systeminternen Strukturen bzw. der systeminterne Verweisungshorizont – durch die Operationen des Systems, d.h. die Unterscheidungen des Systems realisiert bzw. reproduziert. Die bereits in der Definition von Sinn als Medium/Form-Unterscheidung enthaltene »alteuropäische« Figur wird also unter der Hand auch im Weltbegriff mitgeführt.88 Bei der Rezeption von Luhmanns Weltkonzept stellt sich angesichts der wenigen und dazu inkonsistenten Beschreibungen in besonders brisanter Form die Problematik der Entwicklung einer konsistenten Deutung bzw. Kritik. Hier war ich nicht bemüht eine Lesart zu finden, die mit der differenzlogischen Anlage der Theorie kompatibel ist. Vielmehr ging es mir darum, eine solche zu finden, in welcher der Weltbegriff einen konzeptuellen Mehrwert gegenüber dem Konzept Sinn als systeminterner Verweisungshorizont bzw. von Umwelt als jenseits des Systems Gegebenes beinhaltet. Sofern man die Theorie ernst nimmt, ist nämlich davon auszugehen, dass der Weltbegriff nicht zufällig neben dem Sinnbegriff und Umweltbegriff eingeführt wird. Vielmehr muss angenommen werden, dass er dazu dient, ein konzeptuelles bzw. theoretisches Problem zu lösen. So erscheint Welt zum einen als Begriff, der Einheit erklären soll – und zwar sowohl eine systeminterne Einheit aller Sinnmöglichkeiten als auch eine systemexterne Einheit. Als systemexterne Einheit beschreibt sie einen, dem System wie der Umwelt des Systems gemeinsamen, als Realitätsunterbau beschriebenen, einheitlichen Möglichkeitsraum. »Die Welt […] garantiert eine Gemeinsamkeit für die Pluralität geschlossener Systeme.«89 Zum anderen erscheint sie als Begriff, der benutzt wird, um die Offenheit des Systems trotz selbstreferentieller Geschlossenheit zu erklären. Als solches behandelt er zwar ein im begrifflich-konzeptuellen Rahmen von Luhmanns Systemtheorie immer 87 N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 57. 88 Auch hier kommt bereits Thomas zu einem ähnlichen Ergebnis: »Die Theorie hat speziell im Fall von Sinn und Welt die Struktur: Bestimmtheitsgewinn durch die Entfaltung von differenzloser, unbestimmter Identität« (G. Thomas: »Welt als relative Einheit oder als Letzthorizont«, S. 345). Im Unterschied zu dieser Interpretation wird Welt als jenseits des Systems Gegebenes verstanden. Nur als ein solches ist Welt in der Lage, die Offenheit des Systems für Neues zu erklären. 89 U. Stählie: Sinnzusammenbrüche, S. 66. 194
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wiederkehrendes Problem. Als Begriff, welcher eine systeminterne Einheit aller Sinnmöglichkeiten bzw. eine gemeinsame Welt mehrerer Systeme beschreibt, stellt er einen anders gearteten Lösungsversuch dar – und zwar einen identitätstheoretischen. Der Linie der bisherigen Überlegungen entsprechend, ist die zugrundeliegende These, dass Luhmanns Weltkonzept als Versuch zu lesen ist, Probleme, die differenzlogisch nicht zu lösen sind, mit einem Konzept zu lösen, dass letztlich identitätslogisch ist. Als Hinweis auf die Problematik einer differenzlogischen Beschreibung von Sinn ist der Weltbegriff zu verstehen, weil die Konzeptualisierung von Welt auch hier entweder 1. als Bezeichnung einer auf der Innenseite des Systems konstituierten Welt verhaftet bleibt bzw. eine unstrukturierte, differenzlose Welt jenseits vom System bezeichnet und somit nicht in der Lage ist, die Offenheit des Systems für Neues zu erklären, 2. implizit eine mit den konstruktivistischen Grundannahmen der Theorie inkompatible Ontologisierung des Weltbegriffs beinhaltet oder 3. unter der Hand mit einer differenzlogischen Beschreibung von Sinn nicht kompatible identitätstheoretische Erklärungen einführt.
6. Zusammenfassung Zweck von Luhmanns Sinnbegriff ist es, das Soziale als selbstreferentielles System, d.h. als emergente Realität verstehen zu können. Soziale Systeme werden als sinnhaft operierende Systeme definiert. Eine differenzlogische Konzeptualisierung von Sinn dient dabei zum einen dazu, das Sinnkonzept von einem Subjektbezug abzulösen. Als Über-sichHinausverweisendes verweist Sinn auf eine intern konstituierte Welt anderer Möglichkeiten, für die es in der Umwelt des Systems kein Äquivalent gibt. Zum anderen dient sie dazu, die Eigendynamik des Sozialen zu erklären. Somit wird das »generative« Moment der Dynamik des Sozialen bzw. der Offenheit des Sozialen mit der Eigenschaft von Sinn als Unterscheidung, als inhärent paradox oder als basal instabile ZweiSeiten-Form erklärt. In diesem Kapitel wurde die These verfolgt, dass über die verschiedenen Theoriephasen hinweg eine Systematik in den Problemen einer differenzlogischen Konzeptualisierung sozialer Sinnkonstitutionsprozesse besteht. Es wurde gezeigt, dass der Versuch einer differenzlogischen Konzeptualisierung von Sinn entweder 1. zu einer den konstruktivistischen Grundannahmen der Theorie widersprechenden Ontologisierung des Sinnbegriffs führt, 195
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2. Offenheit bzw. Dynamik trotz Selbstreferentialität und operativer Geschlossenheit nicht zu erklären vermag 3. oder unter der Hand identitätstheoretische Erklärungsfiguren einführt, die zwar mit den konstruktivistischen Annahmen, nicht aber mit den differenzlogischen Annahmen der Theorie kompatibel sind. Diese Problematik wurde an der Konzeptualisierung von Sinn als Unterscheidung zwischen aktuellem und möglichem bzw. potentialisiertem Sinns, als basal instabile Zwei-Seiten-Form und als Unterscheidung zwischen Bezeichnetem (B) und vom Bezeichneten Unterschiedenem (U) gezeigt. Bei der Konzeptualisierung von Sinn als Unterscheidung zwischen aktuellem und dem Horizont möglichen Sinns erscheint die Selektion von aktuellem Sinn zugleich als Operation der Negation allen anderen Sinns. Sofern diese Selektionsleistung sich auf eine jenseits des Systems gegebene Welt anderer Sinnmöglichkeiten bezieht, beinhaltet dieses Konzept eine mit den konstruktivistischen Grundannahmen von Luhmanns Systemtheorie inkompatible Ontologisierung. Sinn als basales Element sozialer Systeme ist nicht in der Welt bereits ontologisch gegeben, sondern wird systemintern durch das soziale System selbst erst konstituiert. Sofern diese Selektionsleistung sich auf einen systemintern konstituierten Horizont anderer Möglichkeiten bezieht, ist dieses Konzept sowohl mit den konstruktivistischen als auch mit den differenzlogischen Annahmen von Luhmanns Theorie kompatibel. Wie aber in der Analyse von Luhmanns Konzeptualisierung von Sinn als basal instabile Zwei-Seiten-Form ersichtlich wird, bleibt dabei unklar, wie Dynamik bzw. Offenheit für Neues trotz Selbstreferentialität und operativer Geschlossenheit möglich ist. Mit der Beschreibung von Sinn als basal instabile Zwei-Seiten-Form versucht Luhmann eine Antwort auf die Frage zu geben, wie Veränderung bzw. Offenheit trotz operativer Geschlossenheit möglich ist. Auch in diesen Ausführungen können zwei unterschiedliche Beschreibungen der somit gegebenen Offenheit identifiziert werden: (1) eine Beschreibung der Offenheit von Sinn als Offenheit für eine systemintern konstituierte Welt anderer Möglichkeiten und (2) eine Beschreibung als Offenheit für die Irritationen einer jenseits der Systemgrenzen gegebenen Umwelt bzw. Realität. Als Offenheit für eine systemintern konstituierte Welt anderer Möglichkeit verstanden, bleibt zum einen unklar, wie diese Offenheit als eine Offenheit für Neues verstanden werden kann. Sofern Sinn als Einheit der Unterscheidung zwischen aktualisiertem Sinn und einem Horizont anderer Sinnmöglichkeiten verstanden wird, gibt es vom jeweils aktualisierten Sinn aus gesehen nur einen Horizont anderer 196
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Sinnmöglichkeiten. Erst mit dem Übergang zum anderen Sinn wird eine andere Einheit von aktualisiertem Sinn und einem Horizont anderer Möglichkeiten konstituiert. Bei einem Verständnis der Offenheit als Offenheit für einen systeminternen Horizont anderer Möglichkeiten bleibt zum anderen unklar, wie der Übergang vom aktualisierten Sinn zum anderen Sinn systemintern determiniert werden kann. Die andere Seite von aktualisiertem Sinn erscheint immer als Horizont anderer Möglichkeiten. Für die Selektion eines bestimmten Sinns aus diesem Horizont ist ein die Kontingenz der systemintern konstituierten Möglichkeiten reduzierender Zusatzsinn notwendig. Somit kommen wir zu der zweiten Beschreibung von Offenheit. Die Offenheit von Sinn wird zuweilen als Offenheit für die Irritationen der Umwelt des Systems beschrieben. Die Irritation des Systems durch die Umwelt wird im Kontext der Konzeptualisierung des Sozialen als selbstreferentielles, operativ geschlossenes System allerdings erst vor dem Hintergrund des Konzepts eines Realitätsunterbaus verständlich. Mit dem Konzept eines Realitätsunterbaus, dem das System Differenzen entzieht, wird die Ursächlichkeit für die Veränderungen des Systems in die Umwelt (oder zumindest jenseits) des Systems verlagert. Somit tritt eine »vermittlungstheoretische« Erklärung an die Stelle einer differenzlogischen Erklärung. Dabei bleibt relativ unklar, wie ein Realitätsunterbau trotz Selbstreferentialität und operativer Geschlossenheit ein System irritieren kann bzw. es der Umwelt des Systems ermöglichen kann, das System zu irritieren. Erst im Zusammenhang mit dem der Medium/Unterscheidung zugrunde liegendem Stufenmodell kann eine Erklärung gefunden werden. Der Realitätsunterbau erscheint sodann als gemeinsames Medium von System und Umwelt, d.h. als Möglichkeitsraum, der Bestimmtes zulässt, anderes wiederum ausschließt und es zugleich der Umwelt ermöglicht, dem System trotz Selbstreferentialität und operativer Geschlossenheit zu irritieren. Diese Erklärung beruht als Stufenmodell allerdings auf einer identitätslogischen Denkfigur. Mit der Beschreibung von Sinn als Unterscheidung zwischen Bezeichnetem (B) und vom Bezeichneten Unterschiedenem (U) wird die Operation des Unterscheidens an drei unterschiedlichen Stellen verortet: (1) auf der Innenseite der Unterscheidung, d.h. als Bezeichnung, (2) als Operation des Überschreitens der Grenze zwischen B und U sowie (3) als Einheit der Unterscheidung zwischen B und U. Um diesen logischen Widerspruch zu erklären, führt Luhmann das Paradoxiekonzept ein. Luhmann beschreibt die gleichzeitige Verortung einer Operation an drei verschiedenen Stellen als basale Paradoxalität der Sinnform. Aus der Beschreibung der Sinnform als paradoxe Form wird die Notwendigkeit der Entparadoxierung abgeleitet. Auch hier ist zwischen zwei in Luhmanns Schriften zu findenden Beschreibungen der Entparadoxierung des 197
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der Sinnform inhärenten Paradoxons zu unterscheiden: (1) als Oszillation zwischen beiden Seiten der Unterscheidung und (2) als re-entry der Unterscheidung in die Unterscheidung. Zu (1): Sofern die notwendige Entparadoxierung als Oszillation zwischen beiden Seiten einer Unterscheidung beschrieben wird, dient das Paradoxiekonzept (wie die Beschreibung von Sinn als basal instabile Zwei-Seiten-Form) zur Konzeptualisierung der Eigendynamik des Sozialen. Um die eigene Paradoxalität zu entfalten bzw. zu invisibilisieren ist Sinn kontinuierlich gezwungen, zu anderem, neuem Sinn überzugehen. Dabei stellt sich die Frage, wie die andere Seite des Bezeichneten verstanden wird. Und auch hier finden sich in Luhmanns Schriften sowohl Äußerungen, welche die andere Seite als eine systemintern gegebene andere Seite sowie als eine jenseits der Grenzen des Systems gegebene andere Seite beschreiben. Als auf der Innenseite des Systems gegebene andere Seite wird U zuweilen als unstrukturierte, differenzlos gegebene andere Seite beschrieben. Dabei bleibt unklar, wie die Unterscheidung bei einer unstrukturierten und differenzlos gegebenen anderen Seite eine Form bzw. Sinn gebende Funktion erfüllen kann. Es bleibt mit anderen Worten unklar, wie sich das Bezeichnete in Differenz zu einem strukturund differenzlos gegebenen Anderen bestimmen kann. Sofern die andere Seite als systemintern konstituierte Welt anderer Möglichkeiten verstanden wird, wird im Oszillationskonzept lediglich die bereits beschriebene Definition von Sinn als Unterscheidung zwischen aktualisiertem und dem Horizont möglichen Sinns reproduziert – und somit auch die bereits beschriebenen Probleme des Sinnkonzepts. Auch bei einer Beschreibung von U als jenseits des Systems Gegebenes kann U entweder als differenz- und strukturlos gegebener unmarked space oder als immer schon gegebene, beim Überschreiten der Grenze aktualisierte Welt anderer Möglichkeiten verstanden werden. Als unmarked space definiert, bleibt unklar, was B beim Überschreiten der Grenze zu U finden kann. Nur eine strukturierte Welt anderer Möglichkeiten beinhaltet genügend Komplexität, um die Konstitution von Neuem zu ermöglichen. Sofern U als jenseits des Systems Gegebenes, als strukturierte Welt anderen Sinns verstanden wird, wird der Sinnbegriff wiederum ontologisiert. Zu (2): Bei der Beschreibung der Entparadoxierung als re-entry der Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene wird das Paradox der dreifachen Verortung von Operation nicht aufgelöst, sondern vervielfacht. Auf der Innenseite der Operation wird nicht mehr allein das Bezeichnete bezeichnet. Nun wird auch mittels re-entry zugleich das Bezeichnete als Unterscheidung zwischen B und U genannt.
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Auch im Rahmen der Medium/Form-Unterscheidung sowie anhand des Weltbegriffs werden identitätstheoretische Konzepte unter der Hand eingeführt. Sie dienen dazu, sowohl die System/Umwelt-Wechselwirkung als auch die Einheit des Sozialen zu erklären. Gegenüber den festen Kopplungen von Formen fungiert das Medium eines Systems als Möglichkeitsraum, der bestimmte Möglichkeiten zulässt, andere wiederum ausschließt. Wichtig an diesem Konzept ist, dass sich die strukturierende Wirkung der Medien aus den Eigenschaften der »immer schon ausgeformten« Elemente eines Systems ergibt. Sofern die Medien im System verortet werden, werden die Elemente eines Systems zwar nicht als jenseits des Systems gegeben ontologisiert. Im Kontext der Definition der Medium/Form-Unterscheidung als relative Unterscheidung wird allerdings ein Konzept eines Stufenbaus eingeführt, in dem die allgemeinere Ebene als gemeinsamer Möglichkeitsraum für unterschiedliche Respezifizierungsformen fungiert. Somit wird auch hier eine identitätstheoretische Figur reproduziert: die Figur der Realisierung vom Allgemeinen im Besonderen. Die immer schon ausgeformten Elemente eines Systems bilden einen gemeinsamen Möglichkeitsraum für die unterschiedlichen Respezifizierungen des Systems in strikt gekoppelten Formen. Dass die Konsequenz dieser identitätstheoretischen Figur über einen systemintern gegebenen Möglichkeitsraum hinausreicht, zeigt sich an der Rolle von Sprache sowie von Sinn als Medium sowohl psychischer als auch sozialer Systeme. Auch beim Weltbegriff ist zwischen der Beschreibung von Welt als ein systemintern Konstituiertes und als ein jenseits des Systems Gegebenes zu unterscheiden. In den Beschreibungen von Welt als ein systemintern Konstituiertes erscheint Welt – sofern es nicht mit einem systemintern konstituierten Verweisungshorizont gleichgesetzt wird – als dem Lebensweltbegriff analog. Sie wird hier als ein die Differenzen des Systems Integrierendes bzw. als »das momentan Unbezweifelte« beschrieben. Sofern die Welt als ein jenseits des Systems Gegebenes verstanden wird, erscheint sie als ein dem System vorgelagerter Möglichkeitsraum. Sofern dieser Möglichkeitsraum nicht als sinnhaft strukturiert verstanden wird, steht der Weltbegriff nicht im Widerspruch zu den konstruktivistischen Annahmen der Systemtheorie. Sinn wird, mit anderen Worten, nicht ontologisiert. Als woraus aller Möglichkeiten beschrieben, reproduziert dieser Weltbegriff allerdings die identitätstheoretische Figur einer ontologisch gegebenen Welt, aus der emanistisch die Eigenschaften des Systems hervorgehen.
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VII. Zusammenfassung und Au sblick
Zentrales Anliegen der Systemtheorie ist es, durch den Paradigmenwechsel von einer Identitätslogik zu einer Differenzlogik grundlagentheoretische Probleme »alteuropäischer« Sozialtheorien zu lösen. Aufgrund eines differenzlogischen Verständnisses des Sozialen als operativ geschlossenes, selbstreferentielles System soll es ermöglicht werden, die emergenten Eigenschaften des Sozialen als Realität sui generis zu verstehen. Inwiefern können aber soziale Sinnkonstitutionsprozesse tatsächlich differenzlogisch verstanden werden? Als Universaltheorie, die die Position des konstruktivistischen Realismus einnimmt, erhebt Luhmanns Systemtheorie den Anspruch, alle sozialen Sinnkonstitutionsprozesse differenzlogisch erklären bzw. verstehen zu können. Insofern müsste, dem Postulat der Überprüfbarkeit folgend, die differenzlogische Operationsweise sozialer Sinnkonstitutionsprozesse überall und immer zu beobachten sein.1 Gerade an den Grenzen zwischen gesellschaftlichen Teilsystemen müsste die differenzlogische Operationsweise sozialer Sinnkonstitutionsprozesse aber besonders plastisch aufscheinen. Dementsprechend wurde die Frage, ob soziale Sinnkonstitutionsprozesse tatsächlich differenzlogisch konzeptualisiert werden können, für eine empirische Operationalisierung geöffnet, indem sie auf Sinnkonstitutionsprozesse, an denen mehrere gesellschaftliche Teilsysteme beteiligt sind, fokussiert wurde. Empirisch operationalisiert lautet die Fragestellung dieser Arbeit also: Inwiefern können Kommunikationsprozesse, in denen mehrere gesellschaftliche Funktionssysteme »aufeinandertreffen«, differenzlogisch verstanden werden? 1
Zum Postulat der Überprüfbarkeit vgl. N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft. 201
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Was aber bedeutet »differenzlogisch verstanden werden«? Luhmann konzeptualisiert Funktionssysteme als selbstreferentiell und operativ geschlossen. Dieses differenzlogische Verständnis von Funktionssystemen impliziert allerdings keineswegs, dass sie unabhängig von ihrer Umwelt existieren. Trotz Selbstreferentialität und operativer Geschlossenheit existieren sie, wie Luhmann immer wieder betont, in einer Umwelt. Ja, sie sind sogar konstitutiv für die Erhaltung ihrer eigenen Selbstreferentialität auf eine Wechselwirkung mit ihrer gesellschaftlichen Umwelt angewiesen. Als dynamische Systeme sind Funktionssysteme Systeme, die sich kontinuierlich selbst produzieren, reproduzieren und transformieren. Um sich aber kontinuierlich selbst zu produzieren und reproduzieren, sind sie auf eine die eigene Selbstreferentialität unterbrechende Irritation durch die Umwelt angewiesen. Nur so kann neuer Sinn erzeugt werden. Oder anders formuliert: Nur so können Funktionssysteme kontinuierlich die eigenen Elemente produzieren und zu reproduzieren. Inwiefern ist aber die Wechselwirkung zwischen Funktionssystemen und ihrer gesellschaftlichen Umwelt mit Luhmanns differenzlogischem Verständnis der Selbstreferentialität von gesellschaftlichen Funktionssystemen kompatibel? Zentral für die Ausdifferenzierung, d.h. die operative Schließung und die Stabilisierung einer teilsystemspezifischen Selbstreferentialität ist die Stabilisierung teilsystemspezifischer Codes. Mit der Stabilisierung eines teilsystemspezifischen Codes wird ein von seiner gesellschaftlichen Umwelt entkoppelte Verweisungszusammenhang erzeugt. Der Code des Wissenschaftssystems ist beispielsweise wahr/unwahr, des Wirtschaftssystems zahlen/nicht-zahlen. Luhmanns Schriften können zwei verschiedene Beschreibungen der Selbstreferentialität erzeugenden Wirkung der binären Struktur von Codes entnommen werden. (1) Durch die binäre Codierung von Sinn werden mit der positiven Fassung bestimmten Sinns zugleich alle anderen Sinnmöglichkeiten negiert. Dieser negierte bzw. bis auf Weiteres ausgeschlossene Sinn wird aber nicht vernichtet, sondern als Horizont weiterer Sinnmöglichkeiten mitgeführt. Somit wird eine systeminterne Welt möglichen Sinns produziert, für die es in der Umwelt des Systems kein Äquivalent gibt. Diese Doppelung erzeugt eine Zirkularität der Verweisungszusammenhänge und somit selbstreferentielle Geschlossenheit: Sinn verweist immer über sich hinaus auf anderen Sinn. Dieser andere Sinn ist aber nicht ein jenseits des Systems, ontologisch gegebener Sinn, sondern ein systemintern konstituierter Horizont anderen Sinns. (2) Durch die binäre Codierung beispielsweise von wahr/unwahr verweist die positive Bezeichnung von etwas (d.h. die Bezeichnung von x als wahr) zugleich auf die negative Fassung eben dieses Sinns (d.h. auf x als unwahr). Das Über-sich202
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Hinausweisen allen Sinns wird hier als eine kontinuierliche Oszillation zwischen beiden Seiten eines Codes verstanden. Somit entsteht eine systemspezifische, von der Umwelt des Systems entkoppelte Sequentialität bzw. Zeitlichkeit. Um eine Unterbrechung des tautologischen Zirkels dieser Selbstreferentialität zu ermöglichen, ist Zusatzsinn notwendig. So entwickeln die jeweiligen Teilsysteme Programme, welche eine Entscheidung für die eine oder andere Seite eines Codes ermöglichen. Auch so entstehen systeminterne Strukturen bzw. Verweisungszusammenhänge, für die es in der Umwelt des Systems kein Äquivalent gibt. Die Implikation beider Beschreibungen von teilsystemspezifischen Codes ist, dass das Kreuzen von einer Seite des Codes zu der anderen Seite eines anderen Codes nicht mehr möglich ist. Ob eine Aussage wahr oder unwahr ist, hängt in einer funktional differenzierten Gesellschaft ebenso wenig davon ab, ob sie gut oder schön ist, wie davon, ob sie politisch korrekt oder ökonomisch wünschenswert ist. Als Resultat kann an einer wissenschaftlichen Kommunikation nur mit einer weiteren wissenschaftlichen Kommunikation angeschlossen werden – zumindest sofern es sich um einen wissenschaftlichen Kommunikationsprozess handelt. So wird die Grenze zwischen dem jeweiligen Teilsystem und seiner gesellschaftsinternen Umwelt durch die Orientierung an einem systemspezifischen Code kontinuierlich durch das System selbst produziert und reproduziert. Für das Wissenschaftssystem beispielsweise ist Kommunikation lediglich von Relevanz, sofern sie sich an der Unterscheidung wahr/unwahr orientiert. Demnach ist jede an der Unterscheidung wahr/unwahr orientierte Kommunikation eine Operation des Wissenschaftssystems. Die Bezeichnung von x als wahr verweist nämlich nunmehr auch auf die Bezeichnung von x als unwahr bzw. auf systeminterne Programme der Bezeichnung von x als wahr oder unwahr. Die empirische Implikation von diesem differenzlogischen Verständnis gesellschaftlicher Funktionssysteme ist, dass sich die Zugehörigkeit einer Kommunikation zu einem bestimmten Funktionssystem über die Orientierung an den funktionssystemspezifischen Code, identifizieren lässt. Die Wechselwirkung zwischen Systemen wird in Luhmanns Gesellschaftstheorie mit dem Konzept struktureller Kopplung erklärt. Dies ist Luhmann zufolge eine Form der System/Umwelt-Wechselwirkung, welche die Selbstreferentialität der jeweiligen Systeme nicht unterminiert. Somit ist gesagt, was strukturelle Kopplung ist, nicht aber, wie Teilsysteme strukturell gekoppelt sein können. Luhmanns Schriften lassen sich im Wesentlichen zwei voneinander nicht klar unterschiedene Beschreibungen von struktureller Kopplung entnehmen: (1) als ein SichÜberschneiden der Elemente der gekoppelten Systeme oder (2) als analoge Differenzschemata auf der Innenseite der gekoppelten Systeme. Die 203
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These, die in dieser Arbeit begründet wird, ist, dass nur die zweite Möglichkeit kompatibel ist mit Luhmanns differenzlogischen Annahmen. Unklar bleibt bei der Konzeptualisierung von struktureller Kopplung als ein Sich-Überschneiden auf der Ebene der Elemente, wie bei einer gleichzeitigen Aufrechterhaltung der funktionssystemspezifischen Selbstreferentialitäten eine Identität der Elemente gekoppelter Systeme gegeben sein kann. Grundlage einer differenzlogischen Konzeptualisierung von Funktionssystemen ist nämlich eine Deontologisierung des Elementbegriffs. Die Elemente eines Systems werden mit der Kontextualisierung im systeminternen Verweisungshorizont durch das System selbst konstituiert. Genau dies bedeutet die Bezeichnung sozialer Systeme als operativ geschlossene Systeme. Um aber strukturelle Kopplung als die Entstehung analoger Differenzschemata auf der Innenseite der gekoppelten Systeme zu verstehen, muss eine Unterscheidung »Ereignis« und »Element« eingeführt werden. Empirische Konsequenz dieses Kopplungskonzepts ist, dass die System/Umwelt-Grenze als Grenze der Anschlussfähigkeit zu beobachten sein muss. An eine an der Unterscheidung wahr/unwahr orientierte Kommunikation kann nur eine weitere an der Unterscheidung wahr/ unwahr orientierte Kommunikation angeschlossen werden, und nicht etwa mit einer an der Unterscheidung zahlen/nicht-zahlen orientierten Kommunikation. Oder genauer: Sofern an die Unterscheidung wahr/ unwahr mit einer an die Unterscheidung zahlen/nicht-zahlen orientierten Kommunikation angeschlossen wird, müsste die Rekontextualisierung der Bedeutung der vorherigen Kommunikation im Zusammenhang wirtschaftlicher Relevanz- und Gültigkeitskriterien zu beobachten sein. Mit anderen Worten, die Wirksamkeit des funktionssystemspezifischen Codes müsste sich entweder in einer Grenze der Anschlussfähigkeit oder in einem Wechsel des Verweisungszusammenhangs empirisch bemerkbar machen. Im analysierten Material – die Protokolle der Sitzungen des amerikanischen Bioethikrats »The President’s Council on Bioethics« – konnten in der Tat »Grenzen« beobachtet werden. In der als »Zur-VerfügungStellen fremder Komplexität« bezeichneten Kommunikationsstruktur wird politische Komplexität religiöser Komplexität untergeordnet. In der als »Ersetzen« bezeichneten Kommunikationsstruktur werden moralische Relevanz- und Gültigkeitskriterien durch an die Anschlusskriterien der als »Hybridisierung« bezeichneten Kommunikationsstruktur ersetzt. Sowohl in der Kommunikationsstruktur Zur-Verfügung-Stellen fremder Komplexität als auch in der Kommunikationsstruktur Ersetzen ist die Differenz zwischen »fremden« und »eigenen« Relevanz- und Gültigkeitskriterien strukturwirksam – bei Zur-Verfügung-Stellen fremder 204
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Komplexität im Sinne einer hierarchischen Unterordnung fremder Komplexität unter teilsystemspezifische Relevanz- und Gültigkeitskriterien, beim Ersetzen im Sinne einer Grenze der Anschlussfähigkeit zwischen unterschiedlichen Relevanz- und Gültigkeitskriterien. Es konnte allerdings auch gezeigt werden, dass die systemtheoretisch postulierte Differenz zwischen »fremden« und »eigenen« Relevanz- und Gültigkeitskriterien nicht immer strukturwirksam ist: So nämlich bei der als »Hybridisierung« bezeichneten Kommunikationsstruktur. Diese Kommunikationsstruktur löst ein organisationsspezifisches Problem. Der Rat ist mit dem Problem konfrontiert, sich in einer durch die Terroranschläge auf das World Trade Center im September 2001 dominierten politisch-öffentlichen Landschaft zu verorten. In der Kommunikationsstruktur Hybridisierung werden die Ereignisse des 11. September als Konkurrent um die öffentlich-politische Aufmerksamkeit wahrgenommen – und dies in einer Situation, in der die Anerkennung der Tragik der Ereignisse sowie der politischen Reaktion darauf als Bedingung der eigenen Legitimität erscheint. Es handelt sich mit anderen Worten um einen patriotischen Kontext, indem das Bekenntnis zu den nationalen Werten und Normen sowie der nationalen Politik eine moralische Erwartungsstruktur bildet. Dieses Problem wird gelöst, indem der 11. September nicht nur als Konkurrent, sondern als auch potentiell nützlich für den Rat beschrieben wird. Das Konkurrenzverhältnis wird dahingehend umgedeutet, dass der Rat und der Präsident als in einem gemeinsamen Kampf gegen »evil« stehend dargestellt werden – der Rat im Bereich biotechnologischer Entwicklungen, der Präsident in Reaktion auf die Terroranschläge. Der Vergleich der moralischen Herausforderungen von Rat und Präsident fungiert als Legitimation des Tätigkeitsfelds des Rats. Auch die Tätigkeit des Rats erscheint als an der Bekämpfung von »evil« orientiert. Anders als im Fall von Terrorismus besteht allerdings im Bereich von Bioethik die Problematik darin, »evil« als solches überhaupt zu erkennen. Insofern erscheint die Tätigkeit des Rats als der politischen Intervention notwendig vorgeschobene Erkenntnisleistung. Die Legitimation des Rats basiert also auf der für politische Beratungsgremien üblichen Unterscheidung zwischen Beratung und politischem Handeln. Die Bekämpfung von »evil« erscheint als Aufgabe der Politik und somit auch des Rats – ein Ziel, das im Kontext moralischer Erwartungsstrukturen an Bedeutsamkeit kaum übertroffen werden kann. Somit wird politische Komplexität moralischen Relevanz- und Gültigkeitskriterien untergeordnet. Zwar ist bei dieser Form der Integration unterschiedlicher Relevanzund Gültigkeitskriterien die systemtheoretisch postulierte Differenz zwischen teilsystemspezifischen und teilsystemfremden Selektionskriterien 205
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im Sinne eines hierarchischen Unterordnungsverhältnisses strukturwirksam: Die Tätigkeit des Rats wird als an das Ziel der Politik orientiert legitimiert und politische Komplexität wiederum moralischen Relevanzund Gültigkeitskriterien untergeordnet. Die Aufgabe des Rats wird hierbei als eine der Bekämpfung von »evil« notwendig vorgeschobene Erkenntnisleistung legitimiert. Bei der Konstruktion dieser Erkenntnisleistung werden allerdings wissenschaftliche und moralische Relevanz- und Gültigkeitskriterien integriert – und zwar in einer Form, die nicht mit Luhmanns differenzlogischem Verständnis der Selbstreferentialität gesellschaftlicher Teilsysteme kompatibel ist. Es erscheint als Ziel des Rats, wahre Urteile über die Gegebenheit von »evil« im Bereich biotechnologischer Entwicklungen zu fällen. Die Bezeichnung von etwas als »evil« beinhaltet ein moralisch-religiöses Werturteil. Das im Rat angestrebte Werturteil soll allerdings zugleich im Sinne wissenschaftlicher Relevanz- und Gültigkeitskriterien wahr sein. Die Diskussionen in den Sitzungen des Rats basieren auf einem Verfahren, das dazu dient, zu argumentativ geprüften und somit intersubjektiv gültige Aussagen über die Gegebenheit von »evil« zu gelangen. Dabei wird »evil« als etwas ontologisch bzw. transzendental Gegebenes verstanden. Die emotionalen Reaktionen der Ratsmitglieder dienen als »empirisches Material«. Anders als in moralischer Kommunikation wird aber die in dieser Reaktionen enthaltene Bewertung nicht mit einem moralische Urteil (oder genauer: mit einem wahren moralischen Urteil) gleichgesetzt. Somit wird die Reaktion in zweierlei Hinsicht verobjektiviert. Zum einen erscheint sie als universelle Reaktion, d.h. als repräsentativ für alle Menschen. Zum anderen wird die Ursache für dieses Erlebnis der Umwelt zugeschrieben. Danach gilt es, diese Ursache zu ergründen. Erst die Antwort auf die Frage nach der Ursache für die so objektivierte emotionale Reaktion dient als Basis für das Fällen wahrer moralischer Urteile. Vor diesem Hintergrund erscheint ein moralisches Urteil über Gut und Böse nicht lediglich als subjektives und kulturell gesetztes Urteil. Ebenso wie eine Aussage als wahr zu bezeichnen ist, sofern sie mit der Wirklichkeit korreliert, erscheint in diesem Zusammenhang die Bewertung von etwas als »evil« als wahr oder unwahr. Diese Kommunikationsstruktur ist also sowohl durch die Orientierung an der Unterscheidung wahr/unwahr als auch an der Unterscheidung gut/böse charakterisiert. Das zentrale Ergebnis des empirischen Teils der Arbeit ist, dass die systemtheoretisch postulierte Differenz zwischen teilsystemspezifischen und teilsystemfremden Relevanz- und Gültigkeitskriterien bei der als Hybridisierung bezeichneten Kommunikationsstruktur nicht wirksam ist. Hybridisierung wird also definiert als (1) Kommunikationsstruktur, in der (2) die systemtheoretisch postulierte Differenz zwischen teilsys206
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temspezifischen und teilsystemfremden Relevanz- und Gültigkeitskriterien nicht strukturwirksam ist. Dass dieses für die Fragestellung der Arbeit zentrale empirische Phänomen jenseits des Definitionmerkmals als Struktur lediglich negativ definiert wird, ist durch das Design der Arbeit bedingt. Die zu begründende These ist, dass die Kommunikationsprozesse des Rats nicht rein differenzlogisch erklärt werden können. Es geht also nicht darum, zu erklären, was Hybridisierung ist, sondern im Gegenteil zu zeigen, dass Hybridisierung im Kontext einer strikt differenzlogischen Lesart von Luhmanns Gesellschaftstheorie nicht erklärt oder verstanden werden kann. So stellt sich die Frage, ob es im konzeptuellen-begrifflichen Rahmen von Luhmanns Theorie nicht doch eine Möglichkeit gibt, Hybridisierung zu erklären bzw. zu verstehen. Sie könnte entweder als Fall von struktureller Kopplung, Entdifferenzierung oder einer organisationsbzw. interaktionssystemspezifischen Struktur konzeptualisiert werden. Des Weiteren stellt sich die Frage, ob es sich bei der Integration von wissenschaftlichen mit moralischen Relevanz- und Gültigkeitskriterien überhaupt um eine Integration teilsystemspezifischer und teilsystemfremder Relevanz- und Gültigkeitskriterien handelt. Moralische Kommunikation bildet nämlich Luhmann zufolge kein selbstreferentielles System, sondern kann als Zweitcodierung unterschiedlichster Teilsysteme fungieren. Im Rahmen von Luhmanns Systemtheorie gibt es also vier Konzepte, die in Frage kommen, um die Hybridisierung teilsystemspezifischer und teilsystemfremder Relevanz- und Gültigkeitskriterien zu erklären: (1) strukturelle Kopplung, (2) Entdifferenzierung, (3) organisations- bzw. interaktionssystemspezifische Strukturen sowie (4) Moral als Zweitcodierung einer wissenschaftlichen Kommunikationsstruktur. Gezeigt wurde allerdings, dass bei einer strikt differenzlogischen Lesart von Luhmanns Systemtheorie Hybridisierung mit keinem dieser Konzepte erklärt werden kann. Oder anders formuliert: Um Hybridisierung mit diesen Konzepten zu erklären, müssten sie auf eine Art ausgelegt werden, die nicht kompatibel ist mit den konstruktivistischen und differenzlogischen Grundannahmen der Systemtheorie. Zu (1): Die Wechselwirkung zwischen Systemen wird bekanntlich mit dem Konzept struktureller Kopplung beschrieben. So könnte Hybridisierung als Kopplungsstruktur verstanden werden, d.h. als Struktur, in der teilsystemspezifische mit teilsystemfremden Relevanz- und Gültigkeitskriterien gekoppelt werden. Dem ist allerdings entgegen zu halten, dass Luhmanns differenzlogischem Verständnis von gesellschaftlichen Teilsystemen zufolge Strukturen nicht quer zu Systemgrenzen liegen können. Bedingung der Schließung eines Systems ist die Stabilisierung einer systemspezifischen Sequentialität bzw. Zeitlichkeit. Oder anders 207
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formuliert: Die Grenze zwischen einem Teilsystem und seiner Umwelt wird in den Kommunikationsprozessen des Teilsystems durch die Orientierung an teilsystemspezifischer Kriterien der Selektion von Kommunikationsofferten kontinuierlich produziert und reproduziert. Die Strukturen eines Teilsystems sind stabilisierte Erwartungszusammenhänge, welche die Selektion ebensolcher teilsystemspezifischen Kommunikationsofferten strukturieren. Erst durch die Kontextuierung im Zusammenhang teilsystemspezifischer Strukturen erhält ein Ereignis seinen für das Teilsystem spezifischen Sinn und wird somit als Element bzw. Operation des Teilsystems konstituiert. Eine Struktur, die über die Grenzen eines Teilsystems hinausreicht, ist demnach ebenso wenig möglich wie dass ein System jenseits seiner Grenzen operieren kann. Die Stabilisierung von Strukturen, die zwischen Systemen liegen, würde die Selbstreferentialität und operative Geschlossenheit der gekoppelten Teilsysteme unterminieren. Strukturelle Kopplung gibt es allerdings nur, sofern die Differenz zwischen den gekoppelten Systemen aufrechterhalten wird. Zu (2): Hybridisierung könnte im Rahmen der Systemtheorie als jenseits der Grenzen gesellschaftlicher Funktionssysteme gegebene, emergente Struktur verstanden werden. Gerade bei einer Struktur, die als Lösung eines organisationsspezifischen Problems verstanden werden kann, liegt die Vermutung nahe, dass Hybridisierung eine organisationsspezifische Struktur ist. Gegen eine solche Auslegung ist folgender Einwand vorzubringen: Die wissenschaftlichen Relevanz- und Gültigkeitskriterien, welche in den als Hybridisierung bezeichneten Kommunikationsstrukturen mit wissenschaftsfremden Kriterien integriert werden, sind nicht lediglich für das Funktionssystem Wissenschaft charakteristisch. Vielmehr handelt es sich um Kriterien, die, Luhmanns Theorie folgend, dem Wissenschaftssystem essentiell zuzuordnen sind. Bedingung der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Funktionssysteme ist Luhmann zufolge die Stabilisierung eines funktionssystemspezifischen Codes. Durch die Stabilisierung eines solchen Codes wird ein systeminterner Verweisungszusammenhang sowie eine systemspezifische, von der Umwelt entkoppelte Zeitlichkeit bzw. Sequentialität erzeugt. Diese systemspezifische Sequentialität fungiert als Grenze der Anschlussfähigkeit. Das Kreuzen von einer Seite eines Codes zu der anderen Seite eines anderen Codes ist nicht mehr möglich. So fungiert nach der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Funktionssysteme jede Operation, welche den für das jeweilige System spezifischen Code verwendet, als Mechanismus der Produktion und Reproduktion der Selbstreferentialität des jeweiligen Systems. Jede Operation, welche die Unterscheidung wahr/ unwahr verwendet, ist eine Operation des Wissenschaftssystems. In der als Hybridisierung bezeichneten Struktur ist der Kommunikationspro208
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zess gleichermaßen an dem Code wahr/unwahr und an dem Code gut/böse orientiert. Hier ist also das Wechseln von einer Seite eines Codes zu einer Seite eines anderen Codes möglich. Demnach kann Hybridisierung zwar als organisationsspezifische Struktur verstanden werden und Organisationen als multi-referentielle Teilsysteme, die sich an den Relevanz- und Gültigkeitskriterien mehrerer Funktionssysteme orientieren können. Sofern aber eine Kommunikationsofferte sich an einem für ein Funktionssystem spezifischen Code orientiert, reproduziert es zugleich die Selbstreferentialität des jeweiligen Funktionssystems. Dementsprechend müsste, der Differenzlogik von Luhmann folgend, die operative Geschlossenheit gesellschaftlicher Funktionssysteme auch in den Kommunikationsprozessen multireferentieller Organisationen strukturwirksam sein – beispielsweise wie beim Ersetzen im Sinne von organisationsspezifischen Regeln des Wechselns zwischen Systemreferenzen oder wie beim Zur-VerfügungStellen fremder Komplexität im Sinne eines hierarchischen Unterordnungsverhältnisses. Zu (3): Bei der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Funktionssysteme spielt in Luhmanns Beschreibungen insbesondere die Entkopplung des funktionsspezifischen Codes von moralischen und diffusen Alltagskriterien der Relevanz- und Gültigkeit eine zentrale Rolle. Des Weiteren ist Entdifferenzierung ebenso wie Ausdifferenzierung eine mögliche Entwicklung sozialer Systeme. So liegt die Vermutung nahe, dass gerade die als Hybridisierung bezeichnete Kommunikationsstruktur ein Beispiel von Endifferenzierung ist. Dort werden nämlich funktionssystemspezifische mit moralischen Relevanz- und Gültigkeitskriterien integriert. In diesem Zusammenhang ist allerdings an die Konsequenz von Luhmanns differenzlogischem Verständnis gesellschaftlicher Teilsysteme zu denken: Entweder es gibt Teilsysteme oder es gibt sie nicht. Dementsprechend kann nur dann von Entdifferenzierung gesprochen werden, wenn gesellschaftsweit keine Differenz mehr zwischen funktionssystemspezifischen und funktionssystemfremden Operationen und Strukturen besteht. Eine punktuelle oder graduelle Entdifferenzierung ist im Rahmen differenzlogisch betrachtet ebenso wenig möglich wie eine punktuelle oder graduelle Differenzierung. Die Behauptung, dass die als Hybridisierung bezeichnete Struktur als Beispiel von Entdifferenzierung zu verstehen ist, würde also der Behauptung gleichkommen, dass es gesellschaftsweit keine Differenz mehr zwischen Wissenschaft und ihrer gesellschaftlichen Umwelt gibt. Zu (4): Luhmann definiert moralische Kommunikation als Kommunikation, die an der Unterscheidung Achtung/Missachtung orientiert ist. Die Unterscheidung gut/böse bildet dabei eine Zweitcodierung, die die 209
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Unterscheidung zwischen Achtung/Missachtung konditioniert. Im Gegensatz zu den anderen Codes moderner Gesellschaften, die aufgrund ihrer binären Struktur zu einer Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Funktionssysteme führen, bilden Achtung/Missachtung bzw. gut/böse keinen teilsystemspezifischen Code. Moralische Relevanz- und Gültigkeitskriterien sind vielmehr dadurch charakterisiert, dass sie eine Zweitcodierung jegliches Teilsystems bilden können und in der Regel auch bilden. Insofern stellt sich die Frage, inwiefern im Fall von Hybridisierung von einer Integration systemspezifischer mit systemfremden Selektionskriterien gesprochen werden kann. Inwiefern ist die Unterscheidung Achtung/Missachtung bzw. gut/böse als ein dem Wissenschaftssystem fremder Code zu verstehen? Es ist zwar richtig, dass der für moralische Kommunikation spezifische Code in allen Teilsystemen eine wichtige Rolle spielt. Gleichzeitig ist gerade bei der Ausdifferenzierung von Funktionssystemen bzw. bei der Stabilisierung eines für das jeweilige Funktionssystem spezifischen Codes die Entkopplung von dem Verweis auf moralische Kriterien von Gut und Böse entscheidend. So schreibt Luhmann etwa in »Die Wissenschaft der Gesellschaft«: »[D]ie Wissenschaft versucht, durch Ausdifferenzierung eines eigenen Systems, das autonom über Wahrheit und Unwahrheit befindet, dem moralischen Urteil zu entkommen«.2 Insofern ist die moralische Unterscheidung gut/böse bzw. Achtung/Missachtung allenfalls im Sinne einer Zweitcodierung kompatibel mit dem Wissenschaftscode wahr/unwahr. So wird anhand wissenschaftssystemspezifischer Kriterien der Unterscheidung zwischen Achtung und Missachtung die wissenschaftliche Kommunikation moralisch codiert. Beispielsweise besteht eine moralische Codierung wissenschaftlicher Kommunikation darin, dass die Fälschung von Forschungsergebnissen missachtet wird. Als wissenschaftliche Kommunikation ist dies zu verstehen, weil die Kommunikation von Missachtung gegenüber der Fälschung von Forschungsergebnissen an der wissenschaftssystemspezifischen Unterscheidung zwischen wahr/unwahr orientiert bleibt. Insofern handelt es sich auch bei dieser Form der Integration von moralischen und wissenschaftlichen Selektionskriterien um ein Unterordnungsverhältnis. Genau dies meint auch die Bezeichnung von Moral als Zweitcodierung von funktionssystemspezifischen Kommunikationsprozessen. Bei der Kommunikationsstruktur Hybridisierung handelt es sich allerdings nicht um eine moralische Zweitcodierung. Die Unterscheidung zwischen gut/böse verweist dahingehend auf die wissenschaftliche Unterscheidung wahr/unwahr, als dass ein moralisches Urteil im wissenschaftlichen Sinne wahr bzw. unwahr sein kann. 2
N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 269.
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Die Systemtheorie ist eine Universaltheorie und behauptet als Theorie, welche die Position des konstruktivistischen Realismus einnimmt, die reale Operationsweise sozialer Systeme beschreiben zu können. Ausgehend von diesem Selbstverständnis reicht es aus, ein einziges empirisches Beispiel sozialer Sinnkonstitutionsprozesse zu finden, das nicht differenzlogisch erklärt bzw. verstanden werden kann, um zu zeigen, dass eine differenzlogische Konzeptualisierung sozialer Sinnkonstitutionsprozesse nicht funktioniert. Zudem ist die als Hybridisierung bezeichnete Kommunikationsstruktur keineswegs idiosynkratisch für den Rat oder gar die Eröffnungsrede des Ratsvorsitzenden. »The President’s Council of Bioethics« genießt große politische Bedeutung und öffentliche Sichtbarkeit. Sofern die Kommunikationsstruktur Hybridisierung wissenschaftliche und moralische Komplexität auf eine Weise integrieren würde, die mit den Erwartungsstrukturen weiterer gesellschaftlicher Kontexte nicht kompatibel ist, wäre die Eröffnungsrede weder ratsintern noch in der politisch-öffentlichen Sphäre anschlussfähig. Dies ist aber nicht der Fall. Im Gegenteil, die Kommunikationsprozesse der nachfolgenden Sitzungen sind über weite Strecken durch eine Orientierung an den Anschlusskriterien dieser Kommunikationsstruktur strukturiert. Des Weiteren genießt der Rat eine anhaltende, breite öffentliche Resonanz. Man könnte aber weiterhin einwenden, dass diese Anschlussfähigkeit gewissermaßen auf eine idiosynkratische Situation zurückzuführen ist: eine auf die Terroranschläge auf das World Trade Center folgende allgemeine Konjunktur der Moral. In diesem Kontext – so würde die Vermutung lauten – konnte eine sonst nicht anschlussfähige Hybridisierung wissenschaftlicher und moralischer Komplexität Akzeptanz finden. Ja, eine solche Hybridisierung wäre geradezu notwendig, um im politisch-öffentlichen Raum Gehör zu finden. Der Einwand wäre also, dass es sich um einen vorübergehenden durch eine Krisensituation ausgelösten Zusammenbruch der Differenz zwischen Moral und Wissenschaft handelt. Dagegen spricht, dass diese Form der Integration von Moral und Wissenschaft auch jenseits der Kommunikationsprozesse des Bioethikrats sowie des spezifisch politisch-nationalen Kontexts des 11. September einen stabilisierten Verweisungszusammenhang bildet. Einerseits sind zentrale Strukturmerkmale von Hybridisierung bereits in früheren Schriften des Vorsitzenden zu erkennen. Paradigmatisch dafür ist beispielsweise sein 1997 erschienener Artikel »The Wisdom of Repugnance«.3 Zum anderen ist diese Form der Integration wissenschaftlicher und moralischer Kriterien im Fachbereich Ethik keineswegs exotisch. So be3
Vgl. L. Kass: »The Wisdom of Repugnance«. 211
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
steht in der Metaethik seit den 1970er Jahren eine Debatte zwischen moralischen Realisten und moralischen Antirealisten.4 Kern der Position der moralischen Realisten, die in der Debatte überwiegen, ist, dass moralische Urteile einen Wahrheitswert haben, weil es moralische Tatsachen gibt. Insofern ist die Annahme, dass moralische Urteile im Sinne einer Korrelation zwischen Aussage und Wirklichkeit wahr sein können, eine anerkannte Position im Fachgebiet Ethik. Als Methode der Analyse der Kommunikationsprozesse des »President’s Council on Bioethics« diente die objektive Hermeneutik. Dieses Interpretationsverfahren ist eine angemessene Methode, weil sie die konstruktivistischen, kommunikationstheoretischen Grundannahmen der Systemtheorie teilt, gleichzeitig aber gegenüber dem in Frage stehenden, differenzlogischen Erklärungsansatz neutral ist. Sowohl die Systemtheorie als auch die objektive Hermeneutik gehen davon aus, dass die Bedeutung einer Kommunikation erst im Bedeutungszusammenhang des Kommunikationsprozesses konstituiert wird. Darüber hinaus wird allerdings das Verfahren der objektiven Hermeneutik mit einer Reihe von Annahmen, die nicht mit den differenzlogischen Annahmen von Luhmanns Theorie sozialer Systeme kompatibel sind, begründet: (1) Bei Luhmann können Menschen (oder genauer: psychische Systeme) die selbstreferentiellen Kommunikationsprozesse sozialer Systeme allenfalls irritieren. Bei Oevermann spielen sie hingegen als Entscheidungsinstanz eine konstitutive Rolle bei der Entstehung neuen Sinns. (2) In der objektiven Hermeneutik wird die Realisierung bestimmten Sinns als Selektion aus einem Horizont objektiv, d.h. ontologisch gegebener Möglichkeiten verstanden. In der Systemtheorie hingegen handelt es sich um einen systemintern konstituierten Möglichkeitshorizont. (3) Die Fähigkeit eines Interpreten, die objektive Bedeutung des Textes zu rekonstruieren, wird in der objektiven Hermeneutik mit der Sozialisation des Interpreten in der entsprechenden Kultur begründet. Der Systemtheorie zufolge ist aber ein Fremdverstehen nicht möglich. Das psychische System bleibt wie jedes andere System auch bei seinen Sinnkonstitutionsprozessen dem eigenen selbstreferentiellen Bedeutungshorizont verhaftet. Dennoch bleibt das Verfahren der objektiven Hermeneutik gegenüber identitätslogischen und differenzlogischen Annahmen neutral – und zwar deswegen, weil das Verfahren auch differenzlogisch begründet werden kann. Unabhängig davon, ob Menschen oder Funktionssysteme über die Selektion von bestimmten Möglichkeiten unter Ausschluss von anderen Möglichkeiten »entscheiden«, und unabhängig davon, ob der Möglichkeitshorizont systemintern konstituiert oder ontologisch gege4
Vgl. M. Düwell/C. Hübenthal/M. Werner: Handbuch der Ethik, S.31ff.
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ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK
ben ist, bleibt die methodische Implikation gleich: Jede konkrete Kommunikationsofferte ist als Verweis auf die Bedeutungsstrukturen, die den Kommunikationsprozess strukturieren, zu verstehen. Des Weiteren ist zwar ein Eins-zu-Eins-Verstehen der Bedeutung eines Textes der Systemtheorie zufolge nicht möglich. Aber auch die Systemtheorie geht davon aus, dass psychische Systeme sozialisiert werden, d.h. über Bedeutungsstrukturen verfügen, die ein adäquates Verstehen ermöglichen. Was aber sind die Implikationen des Ergebnisses des empirischen Teils der Arbeit? Ist die Unmöglichkeit, Hybridisierung differenzlogisch zu erklären, lediglich ein Problem von Luhmanns Definition der Selbstreferentialität gesellschaftlicher Teilsysteme oder reichen die Implikationen über seine Gesellschaftstheorie hinaus? Die These, die in dieser Arbeit vertreten wird, ist, dass dies auf ein grundlegendes theoriearchitektonisches Problem der Bedeutung von Differenzlogik in Luhmanns Theorie sozialer Systeme zurückzuführen ist. In der Semantik von Luhmanns Systemtheorie wird Identitätslogik vor allem benutzt, um die Probleme alteuropäischer Theorien zu bezeichnen. Differenzlogik wird dementsprechend verwendet, um den für Luhmanns Systemtheorie spezifischen Lösungsansatz zu beschreiben. Das Problem identitätslogischer Theorien besteht, Luhmann zufolge, gerade darin, Identität zu erklären. Dafür stehen diesem Paradigma – so Luhmann – zwei Konzepte zur Verfügung. Sie wird entweder damit erklärt, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, oder mit der Figur der Realisierung von Allgemeinem im Besonderen. Beide Erklärungsansätze sind problematisch. Im ersten Fall bleibt unklar, wie das »Mehr« des Ganzen gegenüber seiner Teile ist. Im zweiten Fall wird die Identität des Ganzen emanistisch erklärt, d.h. als Form der Realisierung vom Allgemeinen im Besonderen. Hier bleibt unklar, wie das Ganze als Spezifisches, d.h. als nicht auf das bereits Gegebene reduzierbares erklärt werden kann. Mit dem Wechsel zu einem differenzlogischen Paradigma wird die Einheit des Sozialen weder als Summe der Teile, noch als Realisierung vom Besonderen im Allgemeinen verstanden. Das Soziale erscheint vielmehr als selbstreferentielles, operativ geschlossenes System, das sich kontinuierlich selbst produziert und reproduziert – und zwar in Differenz zu einer systemspezifischen Umwelt. Die differenzlogische Lösung besteht also darin, Identität als Resultat von Differenz zu verstehen. Kern dieser Umstellung von Identitätslogik auf Differenzlogik ist eine Deontologisierung des Elementbegriffs. Die Elemente eines Systems sind nicht ontologisch gegeben, sondern werden durch das System selbst konstituiert. Die für soziale Systeme spezifischen Elemente bzw. die spezifische Operationsweise sozialer Systeme ist Kommunikation. Erst 213
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über die Verortung im Kontext systemspezifischer Kommunikationszusammenhänge erhält eine Kommunikationsofferte einen Sinn. Eine Kommunikation wird also als Element des sozialen Systems erst durch das soziale System selbst konstituiert. Gleichzeitig wird durch den somit erzeugten selbstreferentiellen Bedeutungszusammenhang eine System/Umwelt-Grenze produziert. Aktueller Sinn bzw. die aktuelle Kommunikation verweist immer auf systeminterne Bedeutungszusammenhänge sowie einen systeminternen Horizont weiterer möglicher Sinnbzw. Kommunikationsofferten. Insofern ist die differenzlogische Konzeptualisierung sozialer Systeme nicht dahingehend zu verstehen, dass von einem zeitlichen Primat von Differenz vor Identität ausgegangen wird. Die Identität des Sozialen wird erst in Differenz zu seiner Umwelt konstituiert und die Differenz zwischen dem Sozialen und seiner Umwelt erst mit der Entstehung des Sozialen als Realität sui generis. Identität und Differenz setzen einander gegenseitig voraus. Ein differenzlogisches Verständnis der Selbstreferentialität gesellschaftlicher Teilsysteme impliziert also keineswegs, dass Systeme bzw. Teilsysteme unabhängig von ihrer Umwelt existieren. Trotz Selbstreferentialität und operativer Geschlossenheit sind gesellschaftliche Teilsysteme bekanntlich für eine Unterbrechung der eigenen Selbstreferentialität auf eine Irritation durch die Umwelt angewiesen. Dies bedeutet aber wiederum, dass mit dem Wechsel von einer Identitäts- zu einer Differenzlogik Luhmann sich das Problem einhandelt, erklären zu müssen, wie System/Umwelt-Wechselwirkung trotz Selbstreferentialität und operativer Geschlossenheit möglich ist. Oder mit anderen Worten: Das Problem der Erklärung von Emergenz, d.h. der Entstehung vom Neuen kehrt, in einer neuen Form, wieder. Um dieses Problem zu lösen, so die zentrale These des zweiten Teils der Arbeit (»Differenzlogik und soziale Systeme«), ist Luhmann gezwungen (1) implizite mit der Differenzlogik seiner Systemtheorie nicht kompatible ontologische Annahmen mitzuführen oder (2) unter der Hand identitätslogische Konzepte einzuführen. Mit dieser Schlussfolgerung bewege ich mich in der Nähe einer Kritik, die bereits vielfach formuliert wurde. So mündet beispielsweise Englisch zufolge Luhmanns Selbstreferenzkonzept in eine Relationenontologie. Mit der Übersetzung des Husserl’schen Sinnkonzepts im systemtheoretischen Kontext wird Sinn, Englisch zufolge, ontologisiert. Demnach schlägt Luhmanns Systemtheorie – seinem Ziel, mit einer Differenzlogik Identitäts- sowie Ontologieannahmen zu vermeiden, zuwiderlaufend – in genau solche Annahmen um. »Die Unterschiede im Seienden werden vernichtet, indem alles unterschiedslos auf den externen Problempunkt Komplexität bezogen wird. […] So könnte 214
ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK
man es geradezu als List der Vernunft bezeichnen, daß im Gegensatz zur Metaphysik, die – auf die Einheit des Grundes bezogen – Differenz bestimmt, […] die Systemtheorie, die sich als differenztheoretischer Ansatz geriert, sich als nicht anders als eine radikale Reduktion auf ›einfach identisch‹ herausstellt.«5
Wagner und Zipprian behaupten, dass Luhmanns Selbstreferenzkonzept nur mit einem identitätslogischen Paradigma Sinn macht, denn »Bedingung der Möglichkeit aller Selbstreferenz ist die Identität des zugrunde liegenden Selbst«.6 Infolge dessen, so Wagner und Zipprian, bedient er sich »bewußtseinsphilosophischer Konstrukte«, die im Widerspruch zu seinem Anspruch, Differenz aus Differenz zu erklären, stehen.7 Im Gegensatz zu dieser Kritik ist aber die These dieser Arbeit, dass die theoriearchitektonische Notwendigkeit von identitätslogischen Konzepten in Luhmanns Systemtheorie nicht als Scheitern der Theorie verstanden werden muss. Vielmehr ist die Systematik der Notwendigkeit identitätslogischer Konzepte als Hinweis zu verstehen, dass Differenzlogik ebenso wenig ohne Identitätslogik, wie Identitätslogik ohne Differenzlogik möglich ist. So stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis Identitätsund Differenzlogik zueinander stehen. Sowohl die empirischen als auch die theoretischen Ergebnisse dieser Arbeit münden also gewissermaßen in der Frage, ob eine identitätslogische Lesart (oder Weiterentwicklung) von Luhmanns Systemtheorie möglich ist. Muss Differenzlogik notwendigerweise in Abgrenzung zur Identitätslogik im Sinne eines Paradigmenwechsels verstanden werden oder gibt es eine Möglichkeit, im begrifflich-konzeptuellen Rahmen von Luhmanns Systemtheorie Differenz- und Identitätslogik zusammenzudenken? Können die Leistungen von Luhmanns Differenzlogik trotz der Systematik mit der Luhmann gezwungen ist, identitätslogische Konzepte einzuführen, gerettet werden? Steht die in dieser Arbeit aufgezeigte identitätslogische Grundlage des Mediumkonzepts, des Kopplungskonzepts und des damit zusammenhängenden Konzepts eines Realitätsunterbaus notwendigerweise im Widerspruch zu einem differenzlogischen Verständnis der Selbstreferentialität von Systemen? In Bezug auf die interne Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme beispielsweise würde eine nicht strikt differenzlogische Lesart von Luhmanns Systemtheorie eine andere nicht auf Codes zurückgehen5 6
7
F. Englisch: »Strukturprobleme der Systemtheorie«, S. 205. Gerhard Wagner/Heinz Zipprian: »Identität oder Differenz? Bemerkungen zu einer Aporie in Niklas Luhmanns Theorie selbstreferentieller Systeme«, in: Zeitschrift für Soziologie Bd. 21 (1992), S. 394-405, hier S. 401. Vgl. ebd., S. 401. 215
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
de Konzeptualisierung von Selbstreferentialität erfordern. Auch hierzu finden wir sowohl bei Luhmann selbst als auch in darauf aufbauenden systemtheoretischen Arbeiten genügend Aussagen, um eine solche Lesart zu unterstützen. So definiert Luhmann beispielsweise Disziplinen als Teilsysteme der Wissenschaft, die aber ebenso wie das Wissenschaftssystem an dem Code wahr/unwahr orientiert sind.8 Offen bleibt dabei allerdings mithilfe welches Mechanismus diese Teilsysteme sich dann gegenüber dem Wissenschaftssystem ausdifferenzieren, d.h. operativ schließen. Zwar nennt Luhmann Faktoren, die zur Ausdifferenzierung einer Disziplin führen können – beispielsweise über »Theorieentscheidungen« oder »im engen Anschluß an die Reflexionstheorien einzelner Funktionssysteme«.9 Im Gegensatz zu dem Konzept von einem teilsystemspezifischen Code, der durch seine binäre Struktur immer nur das Wechseln von einer zur anderen Seite (und nicht etwa zur anderen Seite eines anderen Codes) ermöglicht, bleibt bei diesen Faktoren jedoch unklar, wie sie Selbstreferentialität im differenzlogischen Sinne einer operativen und damit einhergehend einer zeitlichen und strukturellen Entkopplung stabilisieren können. Eine ähnliche Frage ist an Görkes Definition von Journalismus als Teilsystem der Öffentlichkeit zu richten, das danach sich ebenso wie Öffentlichkeit an dem Code +/-aktuell orientiert.10 Wir erfahren zwar, dass »[d]er gesellschaftliche Synchronisationsbedarf, der zunächst die Ausdifferenzierung des Funktionssystems Öffentlichkeit ermöglicht hat […], [ihre] professionelle Entsprechung […] in der journalistischen Aktualitätskonstruktion« findet und dass Journalismus als Leistungssystem von Öffentlichkeit zu verstehen ist.11 Auch hier wird allerdings kein funktionales Äquivalent zu Codes bei der Stabilisierung und Schließung einer für Journalismus spezifischen Selbstreferentialität genannt. In eine ähnliche Richtung geht Kieserlings Lesart von Luhmanns Systemtheorie. Kieserling bestreitet, dass die Funktionssysteme der modernen Gesellschaft »ausschließlich aus codierten Operationen« bestehen und dass »[a]lles was nicht binär codiert sei […] eben darum der Systemumwelt zufallen« müsse.12 Demnach kann sich Luhmann »eine Inklusion von autopoietisch sterilen Operationen in das autopoietische
8 Vgl. N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 446. 9 Ebd., S. 447. 10 Vgl. Alexander Görke: Risikojournalismus und Risikogesellschaft: Sondierung und Theorieentwurf, Opladen [u.a.]: Westdeutscher Verlag 1999, S. 303. 11 Ebd., S. 301ff. 12 André Kieserling: »Drei Vorbehalte gegen ›Funktionssyteme‹« in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 34 (2005), S. 433-436, hier S. 434. 216
ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK
System […] ohne Schwierigkeit vorstellen«.13 In der Begrifflichkeit meiner Arbeit betrachtet, legt Kieserling im Endeffekt somit eine identitätstheoretische Lesart von Luhmanns Systemtheorie nahe. Begründet wird diese Lesart einerseits mit Luhmanns Behauptung, dass es auch in der Zelle »Komponenten [gebe], die zur Autopoiesis des organischen Lebens nicht beitragen und trotzdem dazugehören – und mit der Autopoiesis der sozialen Systeme verhalte es sich an diesem Punkt nicht anders«.14 Um eine räumliche Metaphorik zu bemühen, wird impliziert, dass ein Teilsystem vermutlich nicht jenseits seiner Grenzen operieren kann, dass aber Operationen, die nicht teilsystemspezifisch sind, Teil eines Teilsystems sein können, ohne die Selbstreferentialität des Systems zu unterminieren. Auch hier stellt sich natürlich die Frage, wie die Selbstreferentialität eines Teilsystems ohne die Schließung erzeugende Wirkung von Codes erklärt werden kann. Luhmann zufolge wird nämlich mit der Ausdifferenzierung eines teilsystemspezifischen Codes operative Schließung und Selbstreferentialität ermöglicht, indem nunmehr die für das Teilsystem spezifische Unterscheidung nicht auf die andere Seite einer anderen Unterscheidung verweisen kann, sondern immer nur auf die andere Seite der eigenen Unterscheidung. Demnach kann an einer an der Unterscheidung wahr/unwahr – sofern weiterhin im Wissenschaftssystem operiert wird – nur mit einer weiteren an der Unterscheidung wahr/unwahr orientierten Kommunikation angeschlossen werden, und nicht etwa mit einer an der Unterscheidung zahlen/nicht-zahlen orientierten Kommunikation. Genau dies ist Luhmann zufolge die Selbstreferentialität und operative Schließung bedingende Leistung der binären Struktur von Codes. Im Gegensatz dazu steht die Behauptung von Kieserling, dass ein System in jedem Fall »auch noch andere Kommunikationen [enthält], die ihm nicht aufgrund ihrer Codierung, sondern nur darum zugerechnet werden, weil sie mit den codierten Kommunikationen eine Funktionsgemeinschaft oder einen Sinnzusammenhang bilden«.15 Hier stellt sich jedoch die Frage, wie eine »Funktionsgemeinschaft« oder ein »Sinnzusammenhang« definiert werden. Es stellt sich also die Frage, ob sich eine Definition von diesen Begriffen finden lässt, die ein alternatives mit den in Luhmanns Systemtheorie wirksamen identitätslogischen Konzepten kompatibles Verständnis der Selbstreferentialität gesellschaftlicher Teilsysteme ermöglicht. Codes wären demnach entweder
13 Ebd., S 434. 14 Ebd., S. 434. 15 Ebd., S. 434. 217
IDENTITÄT, DIFFERENZ UND SINN
1. als eine unter anderen möglichen Formen der Schließung zu verstehen oder 2. als Unterscheidungen, die eine stabilisierende Funktion bei der Erzeugung einer teilsystemspezifischen Selbstreferentialität haben. Diese stabilisierende Funktion wäre allerdings nicht als operative Schließung zu verstehen im Sinne einer Grenze der Anschlussfähigkeit gegenüber Kommunikationen, die nicht an dem teilsystemspezifischen Code orientiert sind. Zwar sind also systemtheoretische Beschreibungen vorzufinden, welche die Ausdifferenzierung von Teilsystemen nicht auf die Stabilisierung eines teilsystemspezifischen Codes zurückführen. Die für eine alternative Konzeptualisierung von Selbstreferentialität notwendige theoretische Leistung ist aber, ein funktionales Äquivalent zu Codes zu formulieren. Diese Leistung ist bisher ausgeblieben. Oder um es noch mal auf dem Punkt zu bringen: Mit dem Verweis darauf, dass Luhmann sowie andere Systemtheoretiker Behauptungen machen, die eine nicht strikt differenzlogische Lesart nahelegen, ist noch längst keine identitätstheoretische Lesart von Luhmann entwickelt. Viel weitreichender als die Existenz sowohl differenzlogischer als auch identitätslogischer Konzepte – und der damit gegebene Widerspruch zu der Selbstbeschreibung der Systemtheorie als ein Paradigmenwechsel von einer Identitäts- zu einer Differenzlogik – ist nämlich die zentrale theoriearchitektonische Bedeutung der Differenzlogik. In der Systemtheorie steht bislang allein das Konzept von operativer Schließung zur Verfügung, um die Selbstreferentialität sozialer Systeme wie gesellschaftlicher Teilsysteme zu erklären. Zwar legt die Systematik, mit der identitätslogische Konzepte eingeführt werden, eine identitätslogische Lesart nahe. Die noch ausstehende theoretische Leistung besteht allerdings darin, ein Konzept von Selbstreferentialität zu entwickeln, das sowohl mit der Differenzlogik als auch mit der unter der Hand eingeführten Identitätslogik kompatibel wäre.
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