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German Pages XX, 393 [407] Year 2020
Isabel Dean
Bildung – Heterogenität – Sprache Rassistische Differenz- und Diskriminierungsverhältnisse in Kita und Grundschule
Bildung – Heterogenität – Sprache
Isabel Dean
Bildung – Heterogenität – Sprache Rassistische Differenz- und Diskriminierungsverhältnisse in Kita und Grundschule
Isabel Dean Berlin, Deutschland
Gefördert durch die Hans-Böckler-Stiftung
ISBN 978-3-658-30855-1 ISBN 978-3-658-30856-8 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30856-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Eggert Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Danksagung
Die Arbeit an einer Dissertation ist zuweilen eine einsame Arbeit. Nichtsdestotrotz wäre die vorliegende Arbeit ohne das Zutun und die Unterstützung einer Vielzahl an Menschen undenkbar. Zuallererst möchte ich allen Interview- und Forschungspartner*innen in der Primel-Kita, der Ahorn-Grundschule und in den anderen Forschungskontexten danken. Sie haben mir ihr Vertrauen und ihre Zeit geschenkt und dazu beigetragen, dass ich unterschiedliche Perspektiven kennenlernen und verstehen durfte. Meiner Erstbetreuerin, Sabine Hess, und meiner Zweitbetreuerin, Christine Riegel, danke ich von ganzem Herzen für ihre jahrelange Unterstützung und Ermutigung. Sie haben mir aus ihren unterschiedlichen Disziplinen heraus hilfreiche Rückmeldungen gegeben. Sabine Hess danke ich insbesondere für ihre method(olog)ischen Anregungen – hier besonders zur Methodik der ethnographischen Regimeanalyse. Christine Riegel danke ich für ihre konstruktiven Anmerkungen in allen Phasen meines Schreibprozesses. Dank gilt auch dem Labor für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung an der Georg-August-Universität Göttingen, das mich durch produktive Debatten und Gespräche inspiriert hat. Dem Promotionskolloquium von Christine Riegel an der Pädagogischen Hochschule Freiburg bin ich ebenfalls zu großem Dank verpflichtet. Obwohl ich mit einem konzeptionell schon weit fortgeschrittenen Dissertationsvorhaben zu dem Kolloquium gestoßen bin, waren alle Beteiligten bereit, sich auf mein fast fertiges Projekt einzustellen. Die Rückmeldungen auf einzelne Kapitel(-ausschnitte) haben meine Analyse geschärft und mich in meinem Schreibprozess bestärkt. Der Hans-Böckler-Stiftung (HBS) möchte ich dafür danken, dass sie mein Projekt über einen langen Zeitraum materiell und ideell unterstützt und mir damit
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Danksagung
ermöglicht hat, mich voll und ganz auf meine Forschung zu konzentrieren. Die Teilnahme an einer Konferenz in Oxford und ein Türkischkurs in Istanbul wären ohne die HBS nicht denkbar gewesen. Dafür möchte ich insbesondere Werner Fiedler und Iris Henkel danken. Auch der Graduiertenschule Geisteswissenschaft Göttingen (GSGG) gilt mein Dank, neben anderem für ein Abschluss-Stipendium. In der Anfangsphase meiner Dissertation hat mich der Austausch mit der durch die Hans-Böckler-Stiftung ermöglichten „Mikro-AG“ zu „Frühkindlichen Bildungssettings“ sehr darin unterstützt, einen roten Faden in meiner Arbeit zu entwickeln. Darüber hinaus habe ich in den regelmäßigen Treffen meiner selbstorganisierten „Mini-AG“ mit Hanna Hoa Anh Mai und Regina Richter einen ermutigenden, kritischen und auch persönlich schönen Rückhalt in allen Phasen – Höhen, Tiefen, Krisen und Glücksmomenten – der Promotion erfahren. Hierfür danke ich euch von ganzem Herzen. Auch dem DFG-Projekt „Exzellenz im Primarbereich. Die ‚Beste Schule‘ als Gegenstand der Aushandlung im Entscheidungsdiskurs der Eltern“ der DFG-Forschergruppe „Mechanismen der Elitebildung im Deutschen Bildungssystem“ an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg danke ich für die gemeinsamen, kontrastierenden Interviewinterpretationen unseres Materials und die überaus produktiven Debatten. Ungeachtet unserer zum Teil unterschiedlichen Zugänge und theoretischen Bezüge haben wir unser Material und unsere Ideen zusammengebracht und gemeinsam zwei Artikel verfasst. Meinen Kolleg*innen aus meiner Bürogemeinschaft, dem „queer feminist office“, danke ich zudem für die konzentrierte Arbeitsatmosphäre sowie die erholsamen Kaffeepausen und gemütlichen Mittagsrunden. Bis kurz vor der Abgabe dieser Arbeit haben noch viele Freund*innen Teile dieser Arbeit gelesen, korrigiert und kommentiert. Mein besonderer Dank gilt hierbei Bianca Baßler, Jasmin Dean, Leonhard Flieger, Ursula Hofmann, Hanna Hoa Anh Mai, Birgit Niess, Karima Popal-Akhzarati, Lisa Riedner, Magdalene Schmid und Markus Textor. Ohne diese kompetenten und engagierten Korrekturleser*innen hätte diese Arbeit mehr Lücken, Redundanzen und Unschärfen. Schließlich danke ich allen Freund*innen, die mich in den letzten Jahren begleitet und mich auf ihre ganz eigene Weise im Entstehungsprozess dieser Arbeit unterstützt haben, sei es, indem sie mich in ihren WG’s beherbergt, mir Essen gekocht, sich mit mir zum Frühstücken verabredet oder mir ihre Balkone und Esstische als Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt haben. Ohne sie hätte ich wesentlich schwerer das nötige Durchhaltevermögen aufbringen können und um einiges weniger Freude an der Arbeit gehabt.
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1 Perspektivierungen des Übergangs zur Grundschule. . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Eine „Schule für alle Kinder“? – Ungleichheitstheoretische Perspektiven. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 Zwischen der Makro-Perspektive der institutionellen Diskriminierung…. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.3 …und der Mikro-Perspektive der elterlichen Schulwahl. . . . . . . . . . 12 1.4 Rassismustheoretische Perspektiven. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.5 Die Perspektive der intersektionellen Formation. . . . . . . . . . . . . . . . 22 1.6 Affekttheoretische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 1.7 Perspektive der Widerständigkeit und des Konflikts. . . . . . . . . . . . . 30 2 Den Übergang von Kita zu Grundschule erforschen. . . . . . . . . . . . . . . 35 2.1 Feldzugänge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 2.1.1 Feldforschung in der Berlin-Kreuzberger Primel-Kita . . . . . 36 2.1.2 Mental Maps und Kiezspaziergänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2.2 Ausweitung der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2.2.1 Vom Feld zur Assemblage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2.2.2 Der Übergang von Kita zu Grundschule als Aushandlungsraum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2.3 Grenzen des Forschens in Beziehungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2.4 Zwischen Kollaboration und Kritik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2.4.1 Paraethnografie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2.5 Die Schattenseiten ethnografischer Feldforschung . . . . . . . . . . . . . . 63 2.6 Das Ethnografieren von Differenz- und Ungleichheitsverhältnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 2.7 Bezeichnungspraxen und rassistisches Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
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2.8 Care-Verhältnisse – eine Forscherin unter Müttern, Erzieherinnen und Pädagoginnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 3 (Neo-)Linguizismus im Schulkontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 3.1 Neo-linguizistisches Sprachregime. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 3.2 Widersprüchliche pädagogische Praktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 3.3 Linguale Dominanzverhältnisse durchbrechen. . . . . . . . . . . . . . . . . 99 3.4 ‚Chancen‘ und ‚Potenziale‘ von Mehrsprachigkeit. . . . . . . . . . . . . . 102 3.5 Anerkennung sprachlicher Vielfalt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 4 Sprach- und Diversitätspolitiken in einer BerlinKreuzberger Kita . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 4.1 Programmatik und Konzeption der Primel-Kita . . . . . . . . . . . . . . . . 110 4.2 Steuerung der Gruppenzusammensetzung und elterliche Wahlpraxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 4.2.1 Aufnahmesteuerung durch die Kita-Leiterin. . . . . . . . . . . . . 114 4.2.2 Pädagogische Begründungen für die Aufnahmesteuerung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 4.3 Herausfordernde Heterogenität – bereichernde Diversität?. . . . . . . . 121 4.3.1 Deutsch-kompetente „Sprachvorbilder“ . . . . . . . . . . . . . . . . 125 4.4 Institutionelle „Sprachförderung“ in der Primel-Kita. . . . . . . . . . . . 138 4.4.1 Kommunikationssprache Deutsch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 4.4.2 Anknüpfung an der sprachlichen Situation eines Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 4.4.3 Institutionelle Rahmenvorgaben der Sprachförderung. . . . . 142 4.4.4 Sprachbildung im Kita-Alltag. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 5 Schulwahlpraktiken und -diskurse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 5.1 Heterogenes Wohnumfeld – heterogenes Schulumfeld?. . . . . . . . . . 167 5.1.1 Bereicherungsdiskurse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 5.1.2 Othering- und Rassismuserfahrungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 5.2 Schulwahl und ‚Bildungsnähe‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 5.2.1 Stellenwert von Schulwahl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 5.2.2 Ressourcen: Zeit, Geld, Wissen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 5.2.3 Bildungsferne vs. Bildungsinteresse als unscharfe Zuordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 5.3 Schulleistung und Sprache. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 5.3.1 „Kennst du nicht die Statistik?“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 5.3.2 Klassenfragen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 5.3.3 Bildungssprache Deutsch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
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5.3.4 Sozialräumliche Lage und Zusammensetzung von Schulen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 5.3.5 Abgrenzung nach ‚unten‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 5.4 Wertedebatten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 6 Gruppenanmeldungen und die Zusammensetzung von Schulklassen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 6.1 Wege der Initiierung von Gruppenanmeldungen. . . . . . . . . . . . . . . . 228 6.2 Motivationen für die Praxis der Gruppenanmeldung. . . . . . . . . . . . . 232 6.2.1 „Wir […] sind Eltern, die den ersten Schritt gewagt haben“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 6.3 Selbstschließungsprozesse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 6.3.1 Soziale Nähe der Gruppenanmeldungseltern untereinander. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 6.3.2 Zugangsbarrieren zu den Gruppen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 6.4 Orientierung am „Gemeinwohl“ als Entwicklungshilfediskurs. . . . . 245 6.4.1 Unterstützung bei der Verbesserung des schulischen Images . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 6.4.2 „Denn wir sind eigentlich die Eltern, die sie haben wollen.“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 6.4.3 „Am Miteinander […] lernen“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 6.4.4 Eine ‚Zivilisierungsmission in Problemvierteln‘. . . . . . . . . . 254 7 ‚Klasseneinteilungen nach Herkunft‘ als institutionelle Diskriminierungspraxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 7.1 Zur „Durchmischung“ beitragen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 7.1.1 Machtpotenzial der Gruppenanmeldungseltern. . . . . . . . . . . 264 7.2 Nach ‚Herkunft getrennte Klassen‘ an Berliner Grundschulen. . . . . 267 7.2.1 „Deutsch-Garantie-Klassen“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 7.2.2 Institutionelle Separation als Schärfung des Schulprofils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 7.3 „Leistungsspitzen“ und Schulvergleichsstudien . . . . . . . . . . . . . . . . 275 7.4 ‚Klasseneinteilungen nach Herkunft‘ vermeiden. . . . . . . . . . . . . . . . 279 8 Kämpfe um Anerkennung und Teilhabe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 8.1 Auseinandersetzungen um Eltern-Beteiligung an der Schule. . . . . . 288 8.1.1 Elterliches Engagement an einer Berlin-Neuköllner Grundschule. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 8.1.2 Gremienarbeit durch Elterninitiative. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294
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8.1.3 Vermeintlich fehlende Selbstverständlichkeit von Engagement. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 8.1.4 Rassismus- und Klassismusverhältnisse im Kontext von Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 8.2 Proteste gegen eine nach ‚Herkunft getrennte Klasse‘ . . . . . . . . . . . 308 8.2.1 Ausgangspunkte des Konflikts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 8.2.2 Affektive Intensitäten des Protests. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 8.2.3 Anerkennungskämpfe als acts of citizenship. . . . . . . . . . . . . 318 8.2.4 Effekte der Thematisierung von Diskriminierung. . . . . . . . . 323 8.2.5 Wie Diskriminierungsroutinen durchbrechen? . . . . . . . . . . . 336 Leerstellen und Ausblicke: Ein Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347
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Auf dem Weg zum „Tag der offenen Tür“ an der Berlin-Neuköllner RosenGrundschule1 sah ich an diesem Vormittag im Frühjahr 2014 bereits einige Straßenzüge von der Schule entfernt erste Hinweise auf das heute stattfindende Ereignis: In vielen, zum Teil neu eröffneten Cafés und auf den Spielplätzen der näheren Umgebung hatte eine an der Rosen-Grundschule aktive Elterninitiative Flugblätter ausgehängt, um auf diese Weise den „Tag der offenen Tür“ – und zugleich auch sich selbst – zu bewerben. Die Initiative setzt sich in der Hauptsache dafür ein, dass sich Eltern2, die ihr Kind eigentlich an einer anderen Grundschule einschulen wollen, zusammenschließen und ihre Kinder an der Rosen-Grundschule über eine sogenannte Gruppenanmeldung3 einschulen. Solche Elterninitiativen sind in den letzten Jahren vor dem Hintergrund verstärkter Schulwahlambitionen bestimmter Elterngruppen entstanden. Diese Eltern, die sich besonders für den bevorstehenden Schulbesuch ihres Kindes interessieren, wollen häufig ihr Kind nicht an der ihrem Wohnort zugeordneten Einzugsgebietsschule mit einem schlechten Ruf anmelden, sondern nach Möglichkeit an einer Schule außerhalb des Schulsprengels.
1Die
Namen der Einrichtungen, in und zu denen ich geforscht habe, habe ich abgeändert und verfremdet. Eine Ausnahme bilden lediglich einzelne Einrichtungen, die in öffentlichen oder medialen Debatten mit ihrem Klarnamen in Erscheinung traten. 2Unter ,Eltern‘ und ,Familie‘ verstehe ich nicht allein ein traditionelles, heteronormatives ,Familien‘-Modell, sondern alle Formen fester Care-Verhältnisse bezüglich Kindern. 3Bei Gruppenanmeldungen handelt es sich um die Einschulung mehrerer Kinder, deren Eltern sich als Gruppe oder Elterninitiative zusammenschließen und ihr Kind nur gemeinsam an der eigentlich vorgesehenen Einzugsgebietsschule anmelden wollen (vgl. Kapitel 6 der vorliegenden Studie). XI
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Bis zu diesem „Tag der offenen Tür“ war mir die Rosen-Grundschule lediglich aufgrund der in meinem Wohnumfeld allgegenwärtigen Flugblätter der Initiative bekannt. Daneben hatte auch ein kurz zuvor veröffentlichter Zeitungsartikel4 meine Neugierde geweckt, in dem ein Konflikt beleuchtet wurde, der zwischen der Initiative und Mitgliedern eines schon zuvor an der Rosen-Grundschule bestehenden offenen Elterncafés entstanden war. Dabei war es um die Frage gegangen, wessen Engagement in- und außerhalb der Schulgremien für die Schule und die dortigen Kinder von größerem Belang sei – und nicht zuletzt auch darum, wer die Regeln an der Schule bestimmt (vgl. Unterkapitel 8.1). Nun hoffte ich mehr von der Rosen-Grundschule und den dort präsenten Akteur*innengruppen5 zu erfahren: Mich interessierten die Perspektiven von Vertreter*innen der Schule ebenso wie von Mitgliedern der Elterninitiative und von den – in den Medien als „türkische“ und „arabische“ Eltern dargestellten – Familien aus dem Elterncafé auf die konfliktbeladene Situation an ihrer Schule. Im Eingangsbereich des Schulgebäudes fiel mir als Erstes ein von den Besucher*innen des „Tags der offenen Tür“ gut besuchter Stand der Elterninitiative zur Gruppenanmeldung auf. Auch hier warb die Initiative mit – auf dem Tisch ausliegenden – Flugblättern; darüber hinaus hatte sie rund um den Infotisch einige Plakate angebracht. In meinen Feldnotizen notierte ich, dass mir Flyer und Plakate sofort ins Auge gesprungen waren. Möglicherweise waren beide aber auch gar nicht so auffällig wie damals herausgestrichen, denn schließlich sieht das gemeinsame Erkennungsmerkmal von Plakat und Flyern – ein von einem Kind gemaltes Schulgebäude – eher dezent und unauffällig aus. Im Nachhinein vermute ich daher auch eher, dass ich selbst von vornherein sensibilisiert war für die Initiative und ihre sichtbaren Spuren im Raum.
4Aus
Gründen der Anonymisierung habe ich darauf verzichtet, den Medienbericht direkt zu zitieren. 5Ich verwende die Schreibweise des „ Gender-Sternchens“. Auf diese Weise möchte ich vermeiden, eine maskulin gegenderte Sprache oder eine binäre Schreibweise (bspw. die Nennung zweier Geschlechter oder das Binnen-I) zu reproduzieren, da beide Menschen diskriminieren, die sich nicht in eine binäre Geschlechternorm einsortieren (lassen). Ich möchte vielmehr auch Menschen inkludieren, die sich weder ,männlich‘ noch ,weiblich‘ verorten. Eine Ausnahme besteht für die Kontexte und Situationsbeschreibungen, in denen ich auf genderbezogene Ungleichheitsverhältnisse hinweisen möchte und in denen ich aus diesem Grund genderspezifische Zuordnungen vorgenommen habe.
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Zuerst gesellte ich mich zu den um den Infotisch der Elterninitiative herum stehenden Müttern6 sowie vereinzelten Paaren, die ich alle als tendenziell mittelschichtsangehörig und weiß7 positioniert las.8 Eine Vertreterin der Initiative erklärte den Ablauf des Tages: Neben der Option, in einzelnen Schulklassen beim Unterricht zu „hospitieren“, bestand die Möglichkeit, an Führungen von Schüler*innen durch das Schulgebäude und die Außenanlagen teilzunehmen. Indem sie interessierte Eltern über die Aktivitäten am „Tag der offenen Tür“ informierte, übernahm die Vertreterin der Initiative eine Aufgabe, die eigentlich der Rosen-Grundschule selbst zugekommen wäre. Zugleich präsentierte sich die Elterninitiative auf diese Weise als besonders verbunden mit der Institution Schule. Nach einiger Zeit löste ich mich vom prominent im Eingangsbereich aufgebauten Infotisch der Elterninitiative und machte mich auf die Suche nach dem Elterncafé. Dieses befand sich in einem vom Eingangsbereich abzweigenden Seitengang in einem separaten Raum. An diesem Treffpunkt, der – laut Medienbericht – von insbesondere „türkischen“ und „arabischen“ Eltern initiiert worden war, saßen eine handvoll Mütter sowie ein einzelner Vater rund um einen Tisch versammelt und tranken Çai. Eine der Frauen lud mich sogleich ein, mich zu ihnen zu setzen und bot mir Tee und Gebäck an. Der einzige Mann am Tisch stellte sich mir namentlich als Herr Berk9 und als der Gesamtelternsprecher der
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den Bezeichnungen ,Mütter‘ und ,Väter‘ möchte ich ebenfalls keine binäre Geschlechternorm reproduzieren. Vielmehr gehe ich bei dieser Schreibweise von meiner subjektiven Wahrnehmung aus, ohne dabei eine Aussage über die jeweilige geschlechtliche (Nicht-)Verortung(en) der so benannten Personen treffen zu wollen. Zur besseren Lesbarkeit setze ich diese beiden Begriffe ebenso wie ,weiblich‘ und ,männlich‘ jedoch in der Regel nicht in Anführungszeichen. 7Den Begriff weiß verstehe ich als kritische Analysekategorie und setze ihn kursiv, um seinen gesellschaftlichen und diskursiven Konstruktionscharakter hervorzuheben. Zugleich ist weiß als gesellschaftliche Positionierung mit soziostruktureller normativer Dominanz in einer hierarchisch rassialisierten Gesellschaftsordnung verknüpft (vgl. Eggers u. a. 2005b: 13). 8Nicht nur hier, sondern während des gesamten „Tags der offenen Tür“, war ich verwundert, dass dieser ausschließlich von Erwachsenen besucht wurde. Er fungierte also als Entscheidungshilfe für Eltern, die für ihr Kind und nicht mit ihm zusammen auf der Suche nach der ,passenden‘ Schule waren. 9Zum Schutz der Identität habe ich nach Absprache die Namen meiner Forschungsgegenüber geändert und Pseudonyme vergeben. Üblicherweise verwende ich den ganzen Namen, also Vor- und Nachnamen, da dies im Deutschen den Höflichkeitsregeln entspricht. Im konkreten Fall habe ich jedoch ausschließlich den pseudonymisierten Nachnamen gewählt, um damit zu kennzeichnen, dass mich der Genannte siezte und sich mir gegenüber nur mit seinem Nachnamen vorstellte.
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Schule vor. Auch im Café selbst übernahm er so etwas wie eine Sprecher*innenrolle. Er berichtete, dass das Elterncafé bereits seit gut fünf Jahren an der Schule existiere und schon Einiges erreicht habe. Dazu gehörte u. a. eine erfolgreiche Unterschriftensammlung für einen Zebrastreifen an der vielbefahrenen Straße direkt vor der Schule ebenso wie der Bau eines Zauns zum angrenzenden Park, in dem Dealer*innen Drogen verkauften. Eines der neuesten Projekte sei der kürzlich angelegte Schulgarten, den das Elterncafé zusammen mit verschiedenen Schulklassen betreut. Während also sowohl die Vertreter*innen der eingangs vorgestellten Elterninitiative als auch Herr Berk und die anderen Mitglieder des Elterncafés an diesem „Tag der offenen Tür“ als überaus engagierte und an Schule und Bildung interessierte Eltern in Erscheinung traten, so bestanden doch zentrale Unterschiede zwischen den beiden Elterngruppen. Die Elterninitiative zur gemeinsamen Einschulung der Kinder zeigte aktiv ihre Nähe zur Institution Schule, sie bezog sich ausdrücklich auf den gerade stattfindenden „Tag der offenen Tür“ und bewarb diesen. Die Initiative wirkte somit mit ihren Tätigkeiten offensiv nach außen, sie richtete sich explizit an Eltern, die sich einen Eindruck von der Rosen-Grundschule – oder vielleicht auch von der Elterninitiative selbst – verschaffen wollten, um u. a. auf dieser Basis eine Schulwahlentscheidung zu treffen. Mit ihrem Infotisch im Eingangsbereich der Schule hatte die Initiative zudem einen zentralen Platz gewählt, auf den alle Ankommenden stoßen mussten und der diese gleichsam willkommen hieß. Im Gegensatz dazu zeigten sich die Eltern aus dem Elterncafé der Schule gegenüber distanzierter: sie hatten nur wenig mit der Organisation des Tages zu tun. Außerdem hatten sie mir gegenüber deutlich gemacht, dass einige ihrer Aktivitäten unabhängig von der Institution Schule stattgefunden hatten oder sie vielmehr einige davon erst der Schule gegenüber hatten durchsetzen müssen. So sei auch das Elterncafé an der Schule Herrn Berk zufolge von einigen Eltern in Eigenregie initiiert und erstritten worden. Dieser separate Raum, der diesen Eltern mehrere Jahre lang als Ort und Mittelpunkt ihrer Selbstermächtigung an der Schule gedient hatte, wirkte am „Tag der offenen Tür“ wie eine Barriere, mit der sie sich selbst ins Abseits stellten: Auf den kaum beworbenen und nicht ausgeschilderten Raum musste ein interessiertes Publikum nicht zwangsläufig stoßen. Darüber hinaus konnte meines Erachtens auch der Kreis von ‚alteingesessenen‘ Eltern für viele Neuankömmlinge abschreckend wirken: Hier wurde nicht die zukünftige, gemeinsame Gestaltung der Schule besprochen, sondern auf eine fast trotzige Weise das bereits Erreichte an der Schule beschworen. Nicht übersehen werden darf dabei allerdings, dass – bevor die neue Initiative
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an die Schule kam –, es für das Elterncafé nicht notwendig gewesen war, sich in besonderer Weise nach außen hin zu präsentieren. In jedem Fall wurden die vielfältigen Aktivitäten des Elterncafés durch die starke Präsenz der neuen Initiative (nicht nur) am „Tag der offenen Tür“ überdeckt. Der kurz zuvor veröffentlichte Medienbericht über den Konflikt zwischen Elterninitiative und Elterncafé trug jedoch möglicherweise dazu bei, dass immer wieder Besucher*innen des „Tags der offenen Tür“ im Elterncafé vorbeischauten, einen Tee tranken und sich über die Aktivitäten des Elterncafés informierten. Mein Eindruck war, die Eltern der zukünftigen Erstklässler*innen wollten ganz bewusst nicht denselben Fehler wie ihre Vorgänger*innen machen und suchten gerade deshalb von Beginn an den Kontakt zum Elterncafé. Trotz der von allen Seiten spürbaren Bemühung, aufeinander zu zu gehen und miteinander in Kontakt zu kommen, fand sich die Mehrzahl der Besucher*innen des „Tags der offenen Tür“ dann doch sehr bald wieder in ihrem eigenen Sozialmilieu wieder; sie tauschten sich bevorzugt untereinander und mit der Elterninitiative sowie darüber hinaus mit den Schulvertreter*innen über die sich ihnen als Eltern bietenden Gestaltungsmöglichkeiten an der Schule aus. Die Elterninitiative zur gemeinsamen Einschulung war somit für die explizit Schulwahl praktizierenden Eltern, an die sich der „Tag der offenen Tür“ richtete, der hauptsächliche Bezugspunkt. An den hier in aller Kürze skizzierten Eindrücken zeigt sich, wie hochgradig affektiv aufgeladen der Übergang zur Grundschule ist, den der „Tag der offenen Tür“ an der Rosen-Grundschule zum Gegenstand hatte. Zudem lassen sich hier auch vielfältige, im Grundschulkontext und bereits schon im Übergang zur Grundschule wirksam werdende, sich teilweise sehr subtil äußernde Machtverhältnisse ablesen. Dabei stellen insbesondere neue Formationen des Rassismus, die nicht von absoluten Ausschlüssen gekennzeichnet sind, den zentralen Analysefokus der vorliegenden Arbeit dar. Konkret untersuche ich solche dynamischen und flexiblen Grenzziehungen anhand einzelner neuralgischer Punkte im Übergang von der Kita zur Grundschule. Diese Zeitphase im Bildungsverlauf von Kindern – Kita und Grundschule – habe ich gewählt, weil sie im Allgemeinen und im Unterschied zum Sekundarschulbereich als ein Bildungsabschnitt gilt, in dem alle Kinder gemeinsam, also unabhängig von Herkunft und diverser sozialer und natio-ethnokulturell codierter Hintergründe zusammen lernen. Dabei zeichne ich in dieser Arbeit potenziell diskriminierende und segregierende Situationen nach, die sich auf der Ebene verschiedener Akteur*innengruppen,
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Diskurse10, Konfliktlinien und Praktiken vollziehen: Sie reichen von (neo-) linguizistischen Praktiken wie Sprachverboten und als ambivalent zu bewertenden Sprachfördermaßnahmen (der deutschen Sprache) in Kita und Grundschule bis hin zu elterlichen Schulwahlpraktiken. Zudem befasse ich mich mit den vielfältigen Widerständen und Protesten gegen diskriminierende (institutionelle) Routinen, durch die diese beständig herausgefordert werden und sich wiederum neu konfigurieren und verändern. Aufbau des Buches und der zugrundeliegenden Forschung In dieser Arbeit befasse ich mich mit (insbesondere rassistischen) Diskriminierungsdynamiken im Übergang von der Kita zur Grundschule, die jeweils auf unterschiedlichen Ebenen, in unterschiedlichen Zeiträumen und an unterschiedlichen Orten – oder kurz: an verschiedenen neuralgischen Punkten – angesiedelt sind. Diskriminierende und segregierende Praktiken stellen allerdings kein durchgehendes Organisationsprinzip auf institutioneller Ebene dar, weshalb ich in der vorliegenden Untersuchung nicht allein institutionelle Barrieren fokussiere. Auch würde es zu kurz greifen, diskriminierende und segregierende Routinen im Übergangsbereich von Kita zu Grundschule allein auf individueller Ebene bei privilegierten, Schulwahl praktizierenden Eltern zu verorten. Vielmehr bietet für meine Analyse der Ansatz der biopolitischen Assemblage als einem Kräfte- und Aushandlungsraum (Deleuze/Guattari 1992: 12; Marcus/Saka 2006; Pieper/Panagiotidis/Tsianos 2011; Tsianos/Pieper 2011) eine Möglichkeit, verschiedene, miteinander verknüpfte Diskriminierungsformen auf verschiedenen Ebenen zu erfassen und darzustellen (vgl. Elle 2016: 215). Vassilis Tsianos und Marianne Pieper schlagen vor, mit der Figur der Assemblage die „Verbindungen zwischen Wissensproduktionen und Machttechnologien, juridischen Regelungen, institutionellen Strukturierungen, situativen Gelegenheiten, Affekten und einer Vielheit der menschlichen und nicht-menschlichen Akteur_innen und deren sich wandelnde[n] mikrosoziale[n] Praxen“ (Tsianos/Pieper 2011: 124 f.) – kurz: die „emergenten Gefüge heterogener Kräfte“ (Pieper/Panagiotidis/Tsianos 2011: 200) – in den Blick zu nehmen. Zu diesen lassen
10Als
Diskurs verstehe ich mit Michel Foucault einen Macht-Wissen-Komplex, der nicht nur einschränkt und begrenzt, sondern auch mit konstituiert, was sag- und denkbar ist und der damit in die Aushandlung von Wirklichkeit eingebunden ist. Auch wenn Denken und Handeln, Praxis und Sprache eng miteinander verwoben sind, so stimme ich doch Lisa Riedner zu, die die Vorstellung zurückweist, Sprache würde in direkter Weise Realität schaffen (vgl. Riedner 2018: 8).
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sich im vorliegenden Fall neben institutionellen und juridischen Anordnungen und Vorgaben auch diskursive Integrationsforderungen, schulische ‚Durchmarktung‘ im Sinne eines New Public Management, vergeschlechtlichte und rassialisierte Logiken des „Helfens“ und dynamische Prozesse der Subjektivierung zwischen hegemonialer Anrufung und dem Begehren nach anderen Verhältnissen zählen (vgl. Elle 2016: 215). Direkte, kausale Verbindungen zwischen den einzelnen Aushandlungszonen im Übergangsbereich von der Kita zur Grundschule gibt es jedoch nicht, auch wenn immer wieder Verschränkungen und Wechselbeziehungen deutlich werden (vgl. Riedner 2018: 43). Trotzdem bin ich aus analytischen Gründen bei der Verschriftlichung überwiegend, aber nicht durchgehend, chronologisch vorgegangen: Damit arbeite ich den Übergang zur Grundschule an verschiedenen neuralgischen Punkten heraus, die in der Bildungskarriere von Kindern zeitlich aufeinander folgen. All diese Stationen entfalten erst in ihrem Zusammenspiel und in ihren Wechselwirkungen ihre diskriminierende Wirkung; für sich gesehen stehen sie in einem anderen Bedeutungszusammenhang. Im Ersten Kapitel lege ich zunächst – ausgehend vom „Tag der offenen Tür“ an der Rosen-Grundschule – meine Analyseperspektive und den theoretischen Rahmen der vorliegenden Arbeit offen und diskutiere diesen.11 Darauf folgend gehe ich im Zweiten Kapitel auf die Methoden und die Methodologie meines Forschungsprojekts ein. Dabei zeichne ich meinen Forschungseinstieg nach (2.1) und stelle den Prozess dar, durch den ich meinen anfänglich eng gefassten Fokus auf eine einzelne Kita zugunsten einer weiter und komplexer gefassten Forschung im Sinne einer Assemblage bzw. der ethnografischen Regimeanalyse aufgab (2.2). Dabei zeige ich, wie die radikale Konstruktivität des Feldes in der ethnografischen Regimeanalyse in meiner Forschung nicht zuletzt auch durch meine Forschungspartner*innen mitgestaltet und eingeschränkt wurde (2.3). In einem weiteren Schritt beleuchte ich das Spannungsverhältnis zwischen Kollaboration und Kritik, das sich in meiner Forschung ergab (2.4) und gehe auf die häufig unthematisierten Schattenseiten ethnografischer Forschung ein (2.5). Während ich mich bis zu diesem Punkt insbesondere mit kulturanthropologischen
11Die Anregung dazu, in meiner Einleitung die eingangs beschriebene Situation aus verschiedenen, für meine Arbeit relevanten theoretischen Perspektiven zu analysieren, stammt aus der im Jahr 2016 von Lisa Riedner an der Georg-August-Universität Göttingen eingereichten Dissertationsschrift „Zwischen Aktivierung und Ausschluss. Wie EU-interne Migration in München regiert wird: Eine ethnografische Regimeanalyse“ (vgl. Riedner 2018).
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Method(ologi)en auseinandersetze, befasse ich mich daran anschließend auch mit dem interdisziplinären Vorgehen der Arbeit zwischen Kulturanthropologie und Erziehungswissenschaft und hier insbesondere mit dem Ethnografieren von Differenz- und Ungleichheitsverhältnissen, das vonseiten der Erziehungswissenschaft intensiv diskutiert wird (2.6). Zuletzt gehe ich auf Bezeichnungspraxen und das Sprechen über Diskriminierungsverhältnisse ein (2.7) und zeichne eine konkrete Spezifik meiner Forschung nach: das stark weiblich geprägte Aushandlungsfeld des Übergangs von der Kita zur Grundschule (2.8). Im Dritten Kapitel analysiere ich (Neo-)Linguizismus im Schulkontext. Dabei zeichne ich als Erstes das monolinguale bzw. neo-linguizistische Sprachregime im Bildungskontext nach (3.1). Hier stellt sich die Frage, wie an einem solchen Sprachregime auch pädagogische Fachkräfte und Lehrer*innen mitwirken können, deren Zielsetzung eigentlich gerade die Verringerung sprachbezogener Diskriminierung und die Anerkennung sprachlicher und ‚kultureller‘ Diversität darstellt (3.2). Am Beispiel der in der Schulsozialarbeit tätigen Erzieherin Sevda Yılmaz untersuche ich, wie ein solches Sprachregime durch widerständige, pädagogische ebenso wie alltägliche Praktiken nichtsdestotrotz auch immer wieder herausgefordert und unterlaufen wird (3.3). Im Verlauf der letzten Jahre haben dabei verschiedene politische und politiknahe Institutionen und unternehmensverbundene Stiftungen zunehmend die Chancen und Potenziale von Mehrsprachigkeit ‚entdeckt‘ (3.4). Dies wirkt sich auch auf den Elementarbereich – als einer der Schule zeitlich vorgelagerten Institution – aus: Von Kitas wird nun zunehmend erwartet und gefordert, Kindern gute Sprachkenntnisse des Deutschen zu vermitteln (3.5). Dem Kapitel sind zwei Exkurse zur Seite gestellt, die historische sowie aktuelle, integrationspolitisch relevante Rahmenkontexte des Linguizismus im Übergang von Kita zu Grundschule darstellen. Das Vierte Kapitel hat eine konkrete pädagogische Institution zum Gegenstand: die Berlin-Kreuzberger Primel-Kita. Die Programmatik der Einrichtung sah eine Orientierung an der Interkulturellen Pädagogik mitsamt ihren auf eine ‚kulturelle Bereicherung‘ hin angelegten Fallstricken vor (4.1). Dabei wurden bei der Aufnahmepolitik der Kita-Leiterin versteckte Diskriminierungsmechanismen wirksam (4.2) und die pädagogischen Fachkräfte befragten die Zusammensetzung von Lerngruppen – im Hinblick auf die Vorbereitung auf die Schule – hinsichtlich deren Effekte für ein gutes Lern- und Entwicklungsklima für die Kinder (4.3). Mit und in ihren konkreten pädagogischen Praktiken (re-)produzierten die pädagogischen Fachkräfte allerdings auch hier nicht nur gesellschaftlich machtvolle Differenz- und Dominanzverhältnisse, sondern waren auch vielfach bestrebt, diskriminierende Routinen abzubauen (4.4). Den Abschluss des Kapitels
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bildet wiederum ein Exkurs, der sich mit einer Einschulungspraxis in den Schulsekretariaten befasst: der Zuordnung zur Kategorie „nichtdeutsche Herkunftssprache“. Das Fünfte Kapitel widmet sich der Perspektive von Eltern, deren Kind vor der Einschulung steht. Hier arbeite ich zunächst heraus, wie sich die überwiegend als links oder linksliberal verstehenden Eltern aus dem Umfeld der Primel-Kita positiv auf die migrationsgesellschaftliche Realität ihres Wohnumfelds bezogen und wie sie diese – abhängig von ihrer Positionalität hinsichtlich Rassismus – als ‚Bereicherung‘ oder als Schutz vor Othering- und Rassismuserfahrungen konzeptionalisierten (5.1). Diese relativ eindeutige Trennung von Eltern mit und ohne Rassismuserfahrungen wurde mit dem Schuleintritt des Kindes zu einem guten Teil aufgehoben: Die Wahl der ‚passenden‘ Schule für das eigene Kind wurde für fast alle mittelschichtsorientierte Eltern zu einem zentralen Thema (5.2). Sie koppelten die Dimensionen Mehrsprachigkeit, Klassenzugehörigkeit und Schulleistung miteinander und sprachen diesem Konglomerat eine zentrale Bedeutung für die Qualität von Schule zu (5.3). Aus einer intersektional informierten Perspektive lässt sich daran anschließend feststellen, dass Eltern ihr Kind vor sehr verschieden gelagerten Diskriminierungsverhältnissen seitens (zukünftiger) Mitschüler*innen zu schützen versuchten (5.4). Auch in diesem Kapitel kontextualisiert ein Exkurs historische Dimensionen und Entwicklungen, hier der ‚Segregation nach Herkunft‘ an Schulen. Im Sechsten Kapitel behandele ich Gruppenanmeldungen an der Einzugsgebietsschule. Dabei befasse ich mich zuerst damit, auf welchen Wegen sich die diesbezüglichen Elterngruppen zusammenfinden (6.1) und welche Motivationen dafür ausschlaggebend sind (6.2). Dann zeige ich auf, welche Ausschlüsse die damit verbundenen Gruppenbildungen und die subtilen Zugangsbarrieren zu den Gruppenanmeldungen nach sich ziehen können (6.3). Viele der Eltern, besonders aber die Mütter aus den Gruppenanmeldungen, verstehen es dabei als eine Art Gemeinwohlorientierung, wenn sie ihr Kind an einer Schule in sozialräumlich benachteiligter Lage anmelden (6.4). Im Siebten Kapitel gehe ich auf institutionelle Praktiken der schulischen ‚Segregation nach Herkunft‘ ein. Dazu beleuchte ich insbesondere die Intentionen von Schulleitungen, die häufig mit der Etablierung von Gruppenanmeldungen zu einer „besseren Durchmischung“ beitragen wollen (7.1). Dann gehe ich auf die verschiedenen Spielarten von ‚segregierten Klassen‘ im Kontext Berlins ein und frage, wie diese der Schärfung von Schulprofilen dienen können (7.2). Anschließend befasse ich mich mit der Rolle gestiegener Wettbewerbslogiken zwischen Schulen im Zuge der Einführung performanzorientierter Steuerungsformen im Sinne von
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New-Public-Management-Strategien im Bildungsbereich (7.3). Nicht zuletzt frage ich in diesem Kapitel aber auch nach Handlungsmöglichkeiten von Schulleitungen und Lehrkräften, die einer ‚Trennung nach Herkunft‘ entgegenwirken wollen (7.4). Das Achte Kapitel handelt – wiederum mehrheitlich aus der Perspektive von Eltern – von zwei exemplarischen Konflikten an Grundschulen in Berliner Innenstadtbezirken. Zunächst greife ich die eingangs dargestellte Auseinandersetzung an der Rosen-Grundschule auf und zeichne den dortigen Konflikt nach (8.1). Mein zweites Beispiel behandelt eine Grundschule, der vor einigen Jahren vorgeworfen wurde, nach ‚Herkunft segregierte Klassen‘ eingerichtet zu haben (8.2). Hier wehrten sich die negativ betroffenen Eltern, indem sie ihre Wut über die bestehende Benachteiligung ihrer Kinder aktiv auf die Straße trugen und so zugleich ihre Hoffnung auf Änderung der bestehenden Verhältnisse ausdrückten. Dabei darf nicht übersehen werden, dass eine für alle Beteiligten angemessene Thematisierung von Rassismus und Diskriminierung seitens pädagogischer Institutionen ebenso wie seitens der Diskriminierungsausübenden häufig ausbleibt, da beide in der Regel mit Abwehr und Unverständnis reagieren. Die Suche nach möglichen Wegen, nichtsdestotrotz diskriminierende Verhältnisse im Kontext von Schule zum Thema zu machen, stellt den Endpunkt dieses Kapitels dar. Insgesamt frage ich somit nach dem Zusammenwirken von heterogenen Kräften in den neuralgischen Punkten des Übergangsbereichs von der Kita zur Grundschule. Dazu gehören individuelle, diskursive, juridische und institutionelle Praktiken, die – zu einem guten Teil nicht intendiert – segregierendes und diskriminierendes Potenzial besitzen. Nichtsdestotrotz sind die hierbei zum Tragen kommenden rassistischen Anrufungen und Adressierungen auch weiterhin überaus wirkmächtig. In der vorliegenden Arbeit nehme ich daher sowohl die Persistenz dieser Machtverhältnisse als auch die hierin wirksam werdenden Brüche, Diskontinuitäten und Widerstände – und damit Überschüsse und Fluchtpunkte des Begehrens nach anderen, besseren Lebensbedingungen – in den Blick.
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Perspektivierungen des Übergangs zur Grundschule
1.1 Eine „Schule für alle Kinder“? – Ungleichheitstheoretische Perspektiven Der Zugang zu öffentlichen Grundschulen erfolgt im Kontext der BRD formalgesetzlich unabhängig von den jeweiligen Bildungsvoraussetzungen; erst mit Beginn der Sekundarstufe wird in unterschiedliche Bildungsgänge differenziert. In Berlin sind daher genau wie in den meisten anderen Bundesländern einzelne Straßenzüge festgelegten Schuleinzugsgebieten zugeordnet, wodurch der Wohnort – und eben nicht die Bildungsvoraussetzungen – eines Kindes entscheidend ist für die Zuordnung zu einer Grundschule (vgl. Breidenstein/Krüger/ Roch 2014: 166).1 Die sogenannte Sprengelregelung soll allen Kindern eine vergleichbare Schul- und Bildungsumgebung garantieren und Chancengleichheit gewährleisten. Das Idealbild einer Schule, in der Kinder ungeachtet ihres Milieus, ihrer Schicht, Klasse und natio-ethno-kulturell codierten Herkunft gemeinsam unterrichtet werden und in deren Lokalraum ganz unterschiedliche Familien aufeinandertreffen, spielte im Verlauf meiner Forschung eine zentrale Rolle für die Mehrzahl der Eltern. Nicht nur an der Rosen-Grundschule, sondern auch an anderen Grundschulen in Berliner Innenstadtbezirken sowie an der Kreuzberger Primel-Kita wünschten sie sich für das eigene Kind eine nahegelegene, fußläufig erreichbare Grundschule, die von allen
1In Berlin weist allein der Bezirk Mitte eine teilweise liberalisierte Regelung auf (vgl. SVR 2013: 5).
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Dean, Bildung – Heterogenität – Sprache, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30856-8_1
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1 Perspektivierungen des Übergangs zur Grundschule
Kindern im Kiez2 unabhängig von deren sozialer und ethnischer Positionierung besucht wird.3 Die Vorstellung der Grundschule als einer „Schule für alle Kinder“ ist eng verknüpft mit der Idee der ‚Chancengleichheit‘ und der „soziale[n] Indifferenz jenseits von Klassen, Schichten und Milieus“ (ebd.). Auch in der öffentlichen Wahrnehmung gilt der Primarbereich bezüglich seiner Zugänglichkeit zumeist „als egalitäres Fundament eines Schulwesens […], dessen Selektivität mit der Sekundarstufe einsetzt“ (ebd.). Laut Georg Breidenstein, Jens-Oliver Krüger und Anna Roch dient die Grundschule als „eine Art institutioneller Gegenentwurf zum stark segregierenden Bereich der weiterführenden Schulen“ (ebd.), der hierarchisch organisiert ist hinsichtlich der Schulformen und der damit verbundenen Curricula. Im Sinne einer „Schule für alle Kinder“ soll der Primarbereich bis heute in den ersten vier – im Kontext Berlins in den ersten sechs – Schuljahren allen Kindern dieselbe Bildung bzw. dieselben Bildungschancen garantieren. Aus diesem Grund spielten ungleiche Bildungschancen im Primarschulbereich lange Zeit für die Erziehungswissenschaft keine Rolle. Dies bringen Breidenstein, Krüger und Roch „genealogisch mit der Idee von der Grundschule als einer ‚für alle gemeinsame[n] Grundschule‘ in Verbindung […], wie sie in der Weimarer Verfassung formuliert wurde“ (ebd.).4 Verschiedene erziehungswissenschaftliche und fachdidaktische Studien verorten dabei die Herausbildung des theoretischen Ideals allgemeiner ‚Bildung für alle‘ zu einem noch früheren Zeitpunkt: im Zeitalter der ‚Aufklärung‘ (vgl. Lemmermöhle 2005; Liedtke 1992; Nyssen 2005; Tenorth 2000). Elke Nyssen zählt bspw. zu den Wegbereitern dieser Idee Martin
2„Kiez“
ist eine norddeutsche Bezeichnung für einen kleinen Stadtbereich als sozialem Bezugssystem, der unabhängig von Verwaltungsgrenzen ist und die „‚gefühlte‘ sozialräumliche, alltagsweltliche“ (Schnur 2008: 34) Dimension einer städtischen Einheit umfasst (vgl. ebd.). 3Zugleich nahmen viele der hier angesprochenen Eltern dieses Ideal keineswegs als unproblematisch und konfliktfrei wahr, sondern fühlten sich vielmehr durch die Vorstellung bedroht, ihr Kind könne an der Schule auf ‚türkische‘ oder ‚arabische‘ Kinder aus sozial deprivilegierten Schichten treffen (vgl. Kapitel 5 und 6). 4Historisch haben sich im Zuge sich wandelnder gesellschaftlicher und funktionaler Differenzierungen (die Vorläufer von) Kindergärten respektive Kitas und Grundschulen herausgebildet, wobei sie sich weitgehend unabhängig voneinander entwickelt haben und die Anfänge der Volksschule zeitlich vor denen des Kindergartens liegen (vgl. Diehm 2008: 558 f.). Der Fokus der vorliegenden Genealogie liegt hierbei auf Entwicklungslinien und -brüchen der Grundschule. Ergänzt habe ich sie um einzelne Aspekte, die Kindergärten in ihrer historischen Entwicklung betreffen.
1.1 Eine „Schule für alle Kinder“? – Ungleichheitstheoretische Perspektiven
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Luther (1483–1546), der – religiös motiviert – Bildung für das ‚einfache Volk‘ forderte, damit dieses eigenständig, also von der Geistlichkeit unabhängig, die Bibel in der deutschen Übersetzung studieren könne. Als ein weiterer Vordenker dieser Vorstellung gilt auch Johann Amos Comenius (1592–1670), der „die Vision einer allgemeinen Bildung für alle: für Nicht-Adelige und Adelige, Reiche und Arme, Jungen und Mädchen [entwickelte]“ (Nyssen 2005: 105; vgl. Lemmermöhle 2005: 266–269; Tenorth 2000). Der von Luther und Comenius vertretenen Idee einer erweiterten Schulbildung bedurfte es jedoch in der feudalen Ständegesellschaft des 16. und 17. Jahrhunderts nicht. Faktisch gab es daher von der Antike bis ins 19. Jahrhundert nur sehr vereinzelt Schulen, wobei diese „Stätten der Bildung und des Unterrichts für einzelne wenige privilegierte Angehörige der sozialen Oberschichten“ (Nyssen 2005: 104) waren. Lernen und „die Weitergabe von Wissen, Fähigkeiten und Werten von einer Generation zur nächsten [erfolgten] hauptsächlich durch Eltern, Gemeinden und Kirche“ (Gomolla 2009: 23). Auch der Ausgangspunkt der Kleinkinderziehung im Kindergarten zu Beginn des 19. Jahrhunderts bestand vielmehr darin, die bestehende soziale Ordnung zu reproduzieren: „Bewahranstalten für die Armen hier, pädagogisch ambitionierte Einrichtungen für das Bürgertum mit dem Anspruch, eine umfassende Förderung des individuellen kindlichen Entwicklungspotenzials zu garantieren, dort.“ (Diehm 2008: 561). Die von Friedrich Fröbel kurze Zeit später eingerichteten Anstalten der frühkindlichen Erziehung, schon damals Kindergarten genannt, waren hierbei Eliteeinrichtungen: Sie richteten sich explizit an den gehobenen Mittelstand, also Adel und Bürgertum (vgl. ebd.). Erst im Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus im 18. und 19. Jahrhundert entwickelte allmählich „[d]er moderne Staat […] ein starkes Interesse an der Schule“ (Nyssen 2005: 106), da nach und nach Geburtsprivilegien durch das Leistungsprinzip abgelöst wurden: Noten und schulische Zertifikate, somit also die Leistung eines jeweiligen Individuums, sollten über den Beruf, die gesellschaftliche Position und die damit verbundenen Entscheidungskompetenzen entscheiden (ebd.). In diesem Sinne betont Annedore Prengel, die „Gründung der Grundschule als Schule für alle Kinder (mit Ausnahme eines Teils der behinderten Kinder)“ im Jahr 1920 habe explizit auf das Leistungsprinzip gezielt, um über die „Freiheit zur Leistungsfähigkeit und Anstrengung“ einen „individuellen Statuserwerb in der Gesellschaft [zu] ermöglichen“ (Prengel 2005: 24). Eine wissenschaftliche Begründung dafür, dass die Schule ihr System nach dem Prinzip altershomogener Jahrgangsklassen organisiert, stellte zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Kinder- und Entwicklungspsychologie mit ihren Reifungstheorien bereit. Sie unterschied „Phasen voranschreitende[r] Entwicklung von ‚Entwicklungsgleichen‘“ (Diehm 2008: 566): „Mit der Gleichsetzung von Alter,
4
1 Perspektivierungen des Übergangs zur Grundschule
psychischer Entwicklung und Lernvermögen war es nun auch möglich, die Leistungen der Schüler untereinander zu vergleichen und durch Selektion immer erneut leistungshomogene Gruppen herzustellen.“ (ebd.). Günther Schorch zufolge habe die Grundschule mit dem Leistungsprinzip dazu beitragen wollen, „schichtspezifisch bedingte Bildungsnachteile zu überwinden“ (vgl. Schorch 2007: 80). Allerdings wurden hierüber bestehende soziale Ungleichheiten begründet und legitimiert, denn in der Konsequenz wurden diejenigen Familien des Adels oder des Bürgertums privilegiert, „die über Mittel und Wege verfügten, um ihren Kindern die angemessene Bildung zukommen zu lassen“ (Krüger-Potratz 2014: 42). Die Überwindung von Bildungsnachteilen sah daher so aus, dass „die Schule zunehmend als Ausgleich der wahrgenommenen Schwächen der Erziehung im Elternhaus verstanden wurde. Eltern wurden in Schulen nicht gern gesehen; ihre häusliche Lebenswelt, Sprache und Kultur abgewertet.“ (Gomolla 2009: 23). Wie Mechtild Gomolla herausarbeitet, war daher im 18. und 19. Jahrhundert die allmähliche Einführung der allgemeinen Schulpflicht5 keineswegs im Interesse der Eltern aus den niederen Volksschichten, die auf das Zusatzeinkommen ihrer Kinder angewiesen waren: „Da Kinder oft mit ihrer Arbeit zum Familieneinkommen beitrugen, wurde die Unterrichts- und Schulpflicht gegen den Widerstand vieler Eltern durchgesetzt.“ (ebd.). Entgegen der postulierten Ideale der ,Aufklärung‘ galten Eltern aus den niederen Volksschichten, darunter Bauern* und Bäuerinnen*, kleine Handwerker*innen, Arbeiter*innen und Tagelöhner*innen (vgl. Krüger-Potratz 2014: 42) in dieser Zeit als „unwissend, rückständig, in ihren egoistischen, kurzsichtigen Interessen befangen“ (Krumm 2001: 1016). Allein „[d]ie regelmäßige Anwesenheit der Kinder in der Schule wurde zu einem Merkmal ‚guter Eltern‘. Eltern aus den ärmsten Schichten erhielten das zusätzliche Stigma, sich nicht um die Schulbildung ihrer Kinder zu kümmern.“ (Gomolla 2009: 23). Ihnen wurde somit individuell die Verantwortung dafür zugeschrieben, dass sich die strukturelle Ausweitung der Schulbildung auf alle Schichten schwierig gestaltete. Marianne Krüger-Potratz kommt daher zu dem Schluss, die Eltern aus den niederen Ständen seien ab dem beginnenden 18. Jahrhundert als „‚Bildungsverhinderer‘ bzw. als Personen, die kontrolliert werden müssen, ob sie die ‚Bildungshilfe‘ annehmen oder ob sie zu bestrafen sind“ (Krüger-Potratz 2014: 43) adressiert worden. Daher stellt sie fest:
5Marianne K rüger-Potratz betont, die ab dem 18. Jahrhundert eingeführte Schulpflicht habe sich zunächst lediglich darauf bezogen, „dass die Eltern nachzuweisen hatten, dass ihre Kinder – wie und wo auch immer – Bildung erhielten“ (Krüger-Potratz 2014: 41).
1.2 Zwischen der Makro-Perspektive der institutionellen Diskriminierung…
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Die staatliche ‚Schule für alle‘ tritt somit in Gestalt der Elementarschule (später Volksschule) und zugleich als Schule für die Armen auf den Plan, die sich gegen Bildungsverweigerer durchsetzen muss. Diese Adressierung ist bis in die aktuellen Diskussionen und Konflikte tradiert worden. Sie ist weiterhin präsent im Argumentationshaushalt der Bildungspolitik und -administration, der Lehrkräfte […] bis hinein in wissenschaftliche Argumentationszusammenhänge. (ebd.)
Das hier skizzierte Ideal einer „Schule für alle“, das bis heute Gültigkeit besitzt, verweist dabei zugleich auch auf seinen Gegenpol: die institutionelle Diskriminierung, die ebenfalls eine zentrale Forschungsperspektive meiner Studie darstellt.
1.2 Zwischen der Makro-Perspektive der institutionellen Diskriminierung… Während ich den „Tag der offenen Tür“ an der Rosen-Grundschule in der Einleitung bislang nur aus der Perspektive verschiedener Elterngruppen erzählt habe, lässt dieser sich natürlich auch aus Sicht der Schule rekonstruieren: Die Rosen-Grundschule ist eine offene Ganztagsschule mit jahrgangsübergreifendem Lernen. Sie gilt als ‚Problemschule‘, da sie in einem vom lokalen „Quartiersmanagement“6 betreuten Einzugsgebiet in einem innenstädtischen Bezirk Berlins liegt. Der Anteil von Kindern „nichtdeutscher Herkunftssprache“ liegt bei ca. 85 Prozent, fast ebenso viele Kinder sind von der Zahlung des Eigenanteils an Lernmitteln7 befreit. Das Einzugsgebiet der Schule ist darüber hinaus – wie an vielen Grundschulen in Berliner Teilbezirken wie bspw. Kreuzberg, Neukölln, Tiergarten oder Wedding – durch vielfältige Gentrifizierungsprozesse8 gekennzeichnet. In den letzten Jahren zogen zumeist soziostrukturell
6Die
einzelnen Fördergebiete des Bund-Länder-Programms „Soziale Stadt“ heißen in Berlin Quartiersmanagementgebiete (QM), vgl. dazu auch Kapitel 6 dieser Arbeit. 7Die „Lernmittelbefreiung“ korreliert mit der Zahlung von Transferleistungen an Familien, wozu Folgendes zählt: Hilfe zum Lebensunterhalt, Arbeitslosengeld II, Wohngeld, BAföGLeistungen oder Leistungen für Asylbewerber*innen (vgl. Senatsverwaltung o. J.e). 8Der Terminus gentrification stammt aus dem englischsprachigen Raum. Andrej Holm definiert als einen „Minimalkonsens“ der Beschreibung von Gentrifizierung für den deutschsprachigen Kontext diese als Verdrängung einer „statusniedrigen Bevölkerung durch eine statushöhere in einem Wohngebiet“ (Friedrichs 1996: 14), in deren Zuge das betreffende Wohngebiet eine generelle Wertsteigerung erfährt und sich sein Charakter und Flair grundlegend verändern (vgl. Holm 2012: 662).
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privilegierte und häufig auch weiß positionierte und/oder binationale Paare in das Einzugsgebiet der R osen-Grundschule. An der Schule sanken um das Jahr 2010 herum die Anmeldezahlen, da einige dieser Eltern ihr Kind nicht dort, sondern nach Möglichkeit an einer anderen Schule außerhalb des vorgesehenen Schulsprengels einschulen wollten.9 Um diese Elternklientel und deren als besonders ‚leistungsstark‘ antizipierte Kinder an der Schule zu halten, etablierte die RosenGrundschule Gruppenanmeldungen – dabei handelt es sich um die organisierte Einschulung einer Gruppe von Kindern, deren Eltern sich kennen bzw. sich miteinander vernetzen, um gemeinsam den Schritt an eine eigentlich verpönte und zugleich auch als bedrohlich für das eigene Kind erscheinende Grundschule im Einzugsgebiet zu ‚wagen‘ (vgl. Kapitel 6). Vor dem Hintergrund einer zunehmenden schulischen ‚Durchmarktung‘, die sich seit Mitte der 1990er Jahre im Zuge der Einführung neuer Steuerungsformen im Sinne eines New Public Management etabliert hat, steigt die Konkurrenz zwischen einzelnen Schulen. Diese Entwicklung wird zusätzlich darüber verstärkt, dass die Qualität der Schulentwicklung mittels externer Kontrollen überprüft und vergleichend dokumentiert wird (vgl. Wittmann 2009: 201). Gerade durch schulische Praktiken wie die Einführung von Gruppenanmeldungen besitzen Schulen Mittel und Wege, nicht allein besonders leistungsstarke Kinder an die Schule zu holen, sondern diese darüber hinaus in einzelnen Klassen zu bündeln. So werden innerhalb von Schulen Klassen nach ‚Herkunft‘ separiert, was als institutionelle Diskriminierung in der Tradition von ‚Ausländerregelklassen‘ bezeichnet werden kann (vgl. Exkurs: ‚Segregation nach Herkunft‘ an Grundschulen in Kapitel 4). In diesem Zusammenhang lässt sich feststellen, dass sich die Organisation der Institution Schule als Ganzes tendenziell am Prinzip der Homogenisierung nach Alter, Leistung und Ethnizität ausrichtet (vgl. Diehm 2008: 566), wohingegen der Elementarbereich als ein Bildungsabschnitt gilt, in dem Kinder mit sehr heterogenen Hintergründen aufeinandertreffen.10 Kindergärten bzw. K indertagesstätten
9Die
mit der Umgehung der Einzugsgebietsschule verbundenen Schulwahlpraktiken greife ich in Unterkapitel 1.3 und insbesondere in Kapitel 5 und 6 wieder auf. 10Seit den 1970er Jahren hatten sowohl sozialisations- und lerntheoretische Befunde, die den frühkindlichen Erziehungsbereich aufwerteten, als auch das wirtschafts- und beschäftigungspolitische Interesse, mehr Frauen in den Arbeitsmarkt zu integrieren (vgl. dazu auch Unterkapitel 2.8), zu einer Reihe bildungsreformerischer Bestrebungen geführt. Dazu gehörte auch die „quantitative und qualitative Expansion des Kindergartens“ (Diehm 2008: 563). Isabell Diehm legt hierbei dar, dass die Zahl der 3- bis 6-Jährigen, die einen Kindergarten besucht, seit den 1960er Jahren enorm gestiegen ist: von nurmehr einem
1.2 Zwischen der Makro-Perspektive der institutionellen Diskriminierung…
7
(Kitas) verfolgen als sozialpädagogische Einrichtungen11 nicht das primäre Ziel, homogene Lern-/Leistungs- und Altersgruppen herzustellen. Im Gegensatz zur Institution Schule streben sie laut Diehm folgende pädagogische Organisationsform an: „Mit Heterogenität in den Dimensionen: Alter, Geschlecht, soziale Herkunft und Leistungsvermögen wird in vor- und außerschulischen Kindergruppen (inzwischen) mithin konzeptionell gerechnet.“ (ebd.: 560). Inwiefern jedoch auch im Elementarbereich subtile und flexible Praktiken der pädagogisch-institutionellen Steuerung von Gruppenzusammensetzungen relevant sind, die als institutionelle Diskriminierung bezeichnet werden können, diskutiere ich in Kapitel 4 am konkreten Beispiel der Primel-Kita im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Im Schulkontext wird der Heterogenität von Schüler*innen ungeachtet zumeist „davon abstrahiert, dass nicht alle Schüler*innen die gleichen sozialen Voraussetzungen und Hintergründe haben, die erwarteten Lernziele zu erreichen und sich die normierten Bildungsinhalte der Schule anzueignen“ (Riegel 2016: 88; vgl. Luhmann/Schorr 1979). Die Schule erwartet also – in Bourdieuschen Termini – sowohl einen „ober- oder mittelschichtsbezogene[n] Habitus12“ als auch damit verbundene „Kenntnisse[ ] und kulturelle[s] Kapital, wie z. B. […] sogenannte[s] Allgemeinwissen und/oder Fähigkeiten in der anerkannten Bildungssprache“ (Riegel 2016: 88). Allerdings führen diese „impliziten Normalitätserwartungen […] zu Benachteiligungen derjenigen Schüler_innen, die über diese Kenntnisse qua Herkunft nicht selbstverständlich verfügen“ (ebd.: 89). Diesbezüglich haben in den 1960er Jahren Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron in Bezug auf formale Leistungsgerechtigkeit und die ungleichen Startchancen von Studienanfänger*innen aus bürgerlichen und aus Arbeiter*innenhaushalten von einer „Illusion der Chancengleichheit“ (Bourdieu/ Passeron 1971) gesprochen. Leistungsgerechtigkeit, so ihre Kritik, sei nicht in der
knappen Drittel der Kinder dieser Altersphase in Westdeutschland auf mehr als 90 Prozent sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland. Diehm kommt daher zu dem Schluss, dass im Kindergarten von sozialer Homogenität nicht die Rede sein könne (vgl. ebd.). 11Kindergärten und Kitas gehören dem Sozialbereich an; ihre rechtliche Grundlage stellen das 1991 in Kraft getretene Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) und die jeweiligen länderspezifischen Kindergartengesetze dar. Als Einrichtungen der institutionalisierten Kleinkindererziehung erfüllen sie nichtsdestotrotz grundlegende Bildungsaufgaben (vgl. Diehm 2008: 557). 12Pierre Bourdieu und Loïc J.D. Wacquant (2006: 160) verstehen unter Habitus ein verinnerlichtes Set von „Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata“.
8
1 Perspektivierungen des Übergangs zur Grundschule
Lage, „soziale Ungleichheit [zu] kompensieren, vielmehr wird sie dadurch verschleiert und tradiert“ (Riegel 2016: 89). Es lässt sich daher feststellen, dass die Grundschule, aber auch insgesamt „das […] Schulsystem und die Organisation von Schule strukturell nur unzureichend auf soziale Vielfalt und Diversität sowie auf unterschiedliche Lebenslagen der Schüler_innen eingestellt“ (ebd.: 83 f.) sind, wodurch der Anspruch der Institution Grundschule, schichtspezifische Bildungsungleichheiten zu kompensieren (vgl. Schorch 2007: 80), nur sehr bedingt eingelöst wird. Indem die Schule implizite Normerwartungen an Schüler*innen und Eltern stellt – diese werden tendenziell als weiß, christlich, ‚bildungsnah‘, normsprachig13 und mittelschichtszugehörig gedacht – trägt sie zu einer institutionellen Diskriminierung derjenigen bei, die diesen Kriterien nicht entsprechen (vgl. Thomauske 2017a: 13; Mecheril 2004: 141). Dadurch, dass Bildungsinstitutionen „die Werte- und Verhaltenssysteme der sozialen Mittel- und Oberschicht bzw. der Mehrheitsgesellschaft inkorporiert“ haben, wird zeitgleich „Angehörigen marginalisierter Gruppen […] ein Mangel an bildungsrelevanten Ressourcen zugeschrieben“ (Gomolla 2009: 35). Das Problem hierbei ist allerdings nicht, dass Letzteren generell Ressourcen fehlen, sondern vielmehr, dass ihre vorhandenen Ressourcen nur in geringem Maß dazu beitragen, die Anforderungen zu bewältigen, die die Institution Schule an sie stellt (vgl. Mecheril 2004: 141), woraus sich eine fehlende Passung zwischen beiden ergibt (ebd.; Gomolla 2009: 34 ff.; Hawighorst 2009: 52).14 Aus den unterschiedlichen Passungsverhältnissen zwischen Elternhaus und Schule leitet dabei eine ganze Reihe an bildungswissenschaftlichen Studien ab, diese Eltern seien generell ‚bildungsfern‘ und verbinden dies darüber hinaus mit der (zugeschriebenen) Migrationserfahrung dieser Familien. So werden bspw. in einer Studie des „Sachverständigenrats für Integration und Migration“ (SVR) mehrmals ‚bildungsnahe‘ Eltern denjenigen ‚mit Migrationshintergrund‘ gegenübergestellt
13Mit Nathalie Thomauske spreche ich von „Normsprachig im Unterschied zu ‚Deutschsprachig‘“ (Thomauske 2017a: 12). Die Autorin geht – in Anlehnung an Georges Lüdi und Bernard Py (1984: 87) – davon aus, dass gerade das Wissen um Verhaltensnormen sowie Regeln der verbalen und non-verbalen Interaktion den anerkannten Gebrauch einer Sprache und somit die Verwendung der Normsprache ausmachen (vgl. Thomauske 2017a: 12). 14Die schulische Passungsthese geht von der Prämisse aus, dass Bildungsinstitutionen „die Werte- und Verhaltenssysteme der sozialen Mittel- und Oberschicht bzw. der Mehrheitsgesellschaft inkorporiert“ haben. Darüber wird zeitgleich „Angehörigen marginalisierter Gruppen […] ein Mangel an bildungsrelevanten Ressourcen zugeschrieben“ (Gomolla 2009: 35). Die damit verknüpften Implikationen beleuchte ich in Unterkapitel 8.1.3 näher.
1.2 Zwischen der Makro-Perspektive der institutionellen Diskriminierung…
9
(vgl. SVR 2012: 2, 12, 14 f.), während andere Studien ‚Migrationshintergrund‘ und ‚Bildungsferne‘ generell gleichsetzen (vgl. Brenner 2009: 208 ff.). Durch die wirkmächtige kategoriale Unterscheidung zwischen ‚Bildungsferne‘ und ‚Bildungsnähe‘ „verkehrt sich die tatsächlich vorhandene Benachteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund im deutschen Schulsystem in deren Stigmatisierung“ (Karakayalı/zur Nieden 2013: 70). Zwar wird diese Benachteiligung bereits seit den 1970er Jahren immer wieder kritisch diskutiert (vgl. Gogolin/Nauck 2000), aber erst mit der Veröffentlichung der Ergebnisse der ersten PISA-Studie im Jahr 2000 wurde der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft, sogenanntem Migrationshintergrund und schulischem Erfolg medial breit rezipiert. Der UN-Sonderberichterstatter Vernor Muñoz Villalobos kritisierte schließlich bei seinem Deutschlandbesuch im Jahr 2007 explizit das deutsche Bildungssystem, da in Deutschland im Vergleich zu anderen Industrieländern der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Schulleistung stark ausgeprägt sei (vgl. Muñoz Villalobos 2007) und somit von Armut betroffene Kinder ebenso wie solche mit einer sogenannten Behinderung oder einem sogenannten Migrationshintergrund stark benachteiligt und hierüber in besonderer Weise institutionell diskriminiert würden (vgl. Overwien/Prengel 2007: 26 f.). Doch was genau ist unter institutioneller Diskriminierung zu verstehen? Mechtild Gomolla und Frank-Olaf Radtke differenzieren zwischen interaktioneller und institutioneller Diskriminierung. Ihnen zufolge handelt es sich bei einer interaktionellen Diskriminierung um eine Unterscheidung zwischen Menschen(-gruppen), bei der „explizit oder implizit eine soziale Bewertung der Unterschiedenen mitkommuniziert wird“ (Gomolla/Radtke 2009: 15). Die dahinterliegende Absicht ist ihnen zufolge, eigene Vorrechte oder Vorteile zu sichern, wobei daraus meist komplementär dazu resultiert, „Rechte zu verweigern und Hierarchien zu begründen. Dafür werden Rechtfertigungen gebraucht“ (ebd.). Studien zur institutionellen Diskriminierung untersuchen dagegen explizit exkludierende Organisationslogiken, bspw. der Institution Schule (vgl. ebd.; Hormel/Scherr 2004; Hormel 2007).15 Birgit Rommelspacher erklärt dies wie folgt:
15Daneben
spricht Claus Melter auch von institutionellem Rassismus, um den rassistischen Gehalt vieler institutioneller Diskriminierungsroutinen zu verdeutlichen (vgl. Melter 2006: 27). Im deutschsprachigen Kontext steht dabei systematischer institutioneller Rassismus bei der Polizei im Fokus, bspw. Praktiken des racial profiling (vgl. Friedrich/Mohrfeldt 2013: 195; Cremer 2013: 7–10). Allerdings wird in Deutschland in öffentlichen Debatten sowie im Bereich der wissenschaftlichen Forschung insgesamt nur selten institutioneller Rassismus zum Thema gemacht (vgl. Melter 2006: 284; Terkessidis 2010: 88–93).
10
1 Perspektivierungen des Übergangs zur Grundschule Diskriminierung beinhaltet dabei nicht nur direkte Diskriminierung, also Handlungsweisen mit diskriminierender Intention, sondern auch indirekte Diskriminierungen, bei denen gerade die Gleichbehandlung zu Benachteiligungen führt. Ein klassisches Beispiel hierfür ist der Schulunterricht in Deutsch für Kinder nicht-deutscher Herkunftssprache. (Rommelspacher 2002: 213)
Im deutschsprachigen Kontext ist besonders die Studie von Gomolla und Radtke hervorzuheben, die anhand von schulischen Übergängen – der Einschulung und dem Wechsel von der Sekundarstufe I in die Sekundarstufe II – Selektionspraktiken der Institution Schule untersucht hat (vgl. Gomolla/Radtke 2009 [2002]). Sie nehmen diesbezüglich eine neue Betrachtungsperspektive ein, wenn sie davon ausgehen, dass [e]in nicht unbedeutender Teil der Ungleichheit in der Bildungsbeteiligung von deutschen im Vergleich mit nicht-deutschen Schülern […] sich […] nicht auf die Eigenschaften der Kinder und ihre migrationsbedingten Startnachteile zurechnen [läßt], sondern […] in der Organisation Schule selbst erzeugt [wird]. (ebd.: 20 f., Hervorheb. i. Orig.)
Dies widerspricht dem Selbstverständnis von Schule, als Bildungsinstitution alle Kinder gleichermaßen zu bilden. Wird allerdings nicht mehr die individuelle Leistung eines Kindes als entscheidend erachtet, sondern die Art und Weise, wie die Schule durch ihre Organisationsabläufe den Schulerfolg eines Kindes bestimmt, so wird dadurch die Statuszuweisung der Schule insgesamt in Frage gestellt (vgl. ebd.: 21). Wie die Organisation Schule in der Vergangenheit soziale Ungleichheit produzierte, machen Gomolla und Radtke an den Bildungsdebatten und -reformen der 1970er Jahre deutlich, die maßgeblich das „katholische Arbeitermädchen vom Lande“ zum Gegenstand hatten. Deren Bildungsbenachteiligung aufgrund von Konfession, sozialer Schicht, Geschlecht und geografischer Lage wurde nicht überwunden, weil Defizite bei Mädchen diagnostiziert und diese individuell gefördert wurden, sondern weil „es zu einer Reorganisation der Struktur des Bildungsangebots, einer Änderung der Selektionspraktiken in den Schulen und einer Delegitimation von Begründungshaushalten kam, die bis dahin die Entscheidungen gültig machten“ (ebd.: 22). Die bisherige genderbezogene ungleiche Bildungsbeteiligung verlor ihre Legitimations- und Überzeugungskraft, weil die veränderten Arbeitsmarkterfordernisse in den 1970er Jahren es nicht länger logisch und ‚natürlich‘ erscheinen ließen, die Hälfte der Bevölkerung vom Zugang zu höherer Bildung auszuschließen (ebd.).
1.2 Zwischen der Makro-Perspektive der institutionellen Diskriminierung…
11
In Bezug auf aktuelle Diskriminierungsdynamiken von Kindern ‚mit Migrationshintergrund‘ arbeiten Gomolla und Radtke heraus, dass nunmehr häufig die Feststellung eines „Sprachdefizits“ bei einem Kind als maßgebliches Kriterium dafür dient, dieses an eine Sonderschule zu überweisen oder ein Jahr von der Grundschule zurückstellen zu lassen (vgl. ebd.: 204 f.).16 Auch an der Kreuzberger Primel-Kita, an der ein Teil meiner Forschung stattfand, überlegten die Erzieherinnen über mehrere Wochen hinweg, ob sie Nurcan, ein fünfjähriges Mädchen mit mangelhaften Deutschkenntnissen, ein Jahr von der Schule zurückstellen lassen sollten. Ihre Entscheidung trafen sie dabei nicht leichtfertig, sondern wägten die daraus möglicherweise resultierenden Diskriminierungsroutinen – Rückstellung vs. frühzeitige Diagnose eines Sprachförderbedarfs – intensiv gegeneinander ab, wie ich in Unterkapitel 4.4 darlege. Das Beispiel der Rosen-Grundschule zeigt darüber hinaus, wie sich indirekte Formen der institutionellen Diskriminierung ereignen können, ohne dass diese von den jeweiligen Akteur*innen in genau dieser Weise intendiert sein müssen. Die Rosen-Grundschule profitierte so auch nicht allein durch steigende Anmeldezahlen von als ‚leistungsstark‘ antizipierten Schüler*innen, sondern auch auf ganz praktische Weise dadurch, dass die hier aktive Elterninitiative die Schule bewarb und sich für deren Interessen stark machte. Am „Tag der offenen Tür“ wurde die Elterninitiative zur gemeinsamen Einschulung zusätzlich dadurch privilegiert, dass sie von der Schule einen zentralen Ort für ihren Infotisch zur Verfügung gestellt bekam und ihr zudem organisatorische Aufgaben – den Ablauf des Tages betreffend – übertragen wurden. Indem sich die R osen-Grundschule – nicht nur an diesem an eine interessierte Öffentlichkeit gerichteten Tag – als mit den Gruppenanmeldungseltern in besonderer Weise kooperierend präsentierte, wurden zeitgleich die Eltern aus dem Elterncafé auf subtile Weise ausgegrenzt. Sie fühlten sich zurückgesetzt, zogen sich am „Tag der offenen Tür“ in ihr eigenes Refugium – das offene Elterncafé – zurück und zeigten somit (vermeintlich) nur wenig Interesse am „Tag der offenen Tür“. Ganz anders die Elterninitiative zur gemeinsamen Einschulung ihrer Kinder …
16Die
Legitimationspraxis, aufgrund von „Sprachdefiziten“ Schüler*innen an Sonderund Hauptschulen zu verweisen oder sie vom Schulbesuch zurückzustellen, widerspricht allerdings schulrechtlichen Bestimmungen. Aus diesem Grund müssen ihre „Sprachprobleme“ in der Regel anders argumentiert werden: bspw. mit Entwicklungsverzögerungen oder psychischen Belastungen durch die Migrationserfahrung (vgl. Gomolla/ Radtke 2009: 204 f.).
12
1 Perspektivierungen des Übergangs zur Grundschule
1.3 …und der Mikro-Perspektive der elterlichen Schulwahl … denn die Initiative nutzte den „Tag der offenen Tür“ ganz bewusst als eine Plattform, um andere Eltern davon zu überzeugen, ihrem ,Vorbild‘ nachzufolgen. Aber wieso gibt es überhaupt Initiativen, die sich dafür einsetzen, das eigene Kind auf die – eigentlich ja schon von vornherein – vorgesehene Einzugsgebietsschule zu schicken? Seit einigen Jahren lässt sich ein zunehmendes elterliches Schulwahlverhalten konstatieren, durch das die Sprengelregelung, die auf eine bestimmte Grundschule im Einzugsgebiet verpflichtet, durch manche mittelschichtsorientierten Eltern in Frage gestellt wird. Viele dieser Eltern unterlaufen auf der Suche nach einer guten Grundschule die Einzugsgebietsregelung, indem sie vor der Einschulung ihres Kindes umziehen, Meldeadressen im bevorzugten Einzugsgebiet fingieren, Anträge beim Schulamt auf Umschulung stellen oder ihr Kind auf einer frei wählbaren Privatschule anmelden (vgl. Baur 2013: 51; Breidenstein/Krüger/Roch 2014: 166). Darüber hinaus sind Elterninitiativen zur gemeinsamen Einschulung von Kindern an der Einzugsgebietsschule, wie diejenige an der Rosen-Grundschule, Ausdruck des gewachsenen Interesses dieser Elternklientel, die speziell für das eigene Kind ,passende‘ Schule für das eigene Kind zu finden (vgl. Breidenstein/Krüger/Roch 2014; Krüger/Roch/ Breidenstein 2020). In diesem Zusammenhang spielt der Diskurs um ,Bildungsferne‘ und ,Bildungsnähe‘ eine zentrale Rolle. Denn häufig wird ein vermeintliches ‚Bildungsinteresse‘ „in einer Art Zirkelschluss daraus abgeleitet, dass Eltern eine bewusste Schulwahl getroffen haben, statt ihre Kinder an der Einzugsgebietsschule anzumelden“ (Karakayalı/zur Nieden 2014: 79). Übersehen wird dabei, dass die zur Verfügung stehenden familialen Ressourcen die Möglichkeit zur Schulwahl bedingen. Damit hängt Schulwahl – als die bewusste Entscheidung für oder gegen die Einzugsgebietsschule – maßgeblich vom Vorhandensein „zeitliche[r], kulturelle[r] und materielle[r] Ressourcen für den Zugang zur Wunschschule“ (Baur 2013: 52) ab (vgl. Unterkapitel 5.2). Vielen dieser Studien geht es ganz zentral um die Frage der Subjektivierung17 von ‚bildungsprivilegierten‘ Eltern. Sie erfassen deren Selbstkonzepte und
17Subjektivierung
verstehe ich im Sinne Michel Foucaults als die Art und Weise, wie Menschen durch Problematisierungen, Rationalitäten und Techniken zu spezifischen Subjekten (gemacht), also subjektiviert werden. Parallel dazu fragt Foucault auch, wie Subjekte Einfluss auf ihre Subjektivierung nehmen können (vgl. Foucault 1983, 1992).
1.4 Rassismustheoretische Perspektiven
13
subjektiven Bedeutungszusammenhänge, häufig jedoch ohne sie explizit in ihrer jeweils spezifischen, historisch-politischen sowie (migrations-)gesellschaftlichen Situierung zu verorten. Ich versuche daher, diese Engführung zu vermeiden und begreife die Abgrenzung ‚nach unten‘ auch als Ausdruck einer postliberalen Spielart des modernen (institutionellen) Rassismus (vgl. Tsianos/Pieper 2011: 118), der nach Étienne Balibar auf zwei unterschiedlichen Vorstellungen beruht: zum einen auf der Ethnisierung sozialer Verhältnisse (Gutiérrez Rodríguez 2003), zum anderen auf einem Aktivierungsmodell, das eine „Selektion institutionalisiert, deren untere Grenze die soziale Eliminierung der ‚Unfähigen‘ und ‚Unnützen‘ darstellt“ (Balibar 2008: 23). Rassismus – als ein die gesamte Gesellschaft durchdringendes Machtverhältnis – spielte also in meiner Forschung eine sehr zentrale Rolle.
1.4 Rassismustheoretische Perspektiven Um zu verdeutlichen, wie sich Rassismus im Übergangsbereich von der Kita zur Grundschule häufig auf ganz banale Weise ausdrückte, komme ich noch einmal zurück zum „Tag der offenen Tür“ an der Rosen-Grundschule. Am Infotisch der Elterninitiative zur Gruppenanmeldung hatte ich mich mit verschiedenen Vertreter*innen unterhalten, u. a. auch darüber, wie sich die Gruppe zusammengefunden hatte. Eine Mutter, die Flugblätter der Initiative verteilte, berichtete mir bereitwillig, dass gerade die von vielen Eltern aus ihrem Umfeld geteilten Bedenken und Ängste gegenüber den zukünftigen Mitschüler*innen des eigenen Kindes ausschlaggebend für die Gründung der Initiative gewesen seien. Auch sie selbst habe befürchtet, ihre hellblonde, blauäugige Tochter werde von den „vielen dunkelhaarigen Schülern gemobbt“18 und insbesondere von den „türkischen und arabischen Jungs“ als „Opfer“ und „Schlampe“ bezeichnet, weswegen sie den Rückhalt durch eine Gruppe, deren Kinder gemeinsam an einer „Problemschule“ eingeschult wurden, als überaus erleichternd und Sicherheit gebend empfunden habe. Ihre anfänglichen Bedenken hätten sich allerdings später an der Schule als unbegründet herausgestellt. Trotzdem könne sie die diesbezüglichen Ängste von „den Eltern im Kiez“ verstehen, denn „so etwas“ komme doch sehr häufig vor. Das hier geschilderte Gespräch mit der Initiativ-Vertreterin lässt sich rassismustheoretisch auf unterschiedliche Weise fassen: als ein in der Gesellschaft
18Die
Aussagen dieser Mutter habe ich sinngemäß wiedergegeben und behandele sie wie transkribierte Originaltöne (vgl. Unterkapitel 2.6).
14
1 Perspektivierungen des Übergangs zur Grundschule
breit geteiltes und als ‚normal‘ anerkanntes „rassistische[s] Wissen“ (Terkessidis 1998: 83), als wirkmächtiger Otheringprozess (vgl. Riegel 2016: 52; Said 1978; Spivak 1985; Spivak u. a. 2008), als Ausdruck eines seitens Einzelpersonen subtil geäußerten Alltagsrassismus (vgl. Melter 2006: 25), als Artikulation eines „Neo-Rassismus“ (Balibar 1992a), der sich mit aller Wahrscheinlichkeit – und ohne dass dies hier konkret benannt zu werden brauchte – auf den Topos der vermeintlichen kulturellen Unvereinbarkeit mit dem Islam bezog (vgl. exemplarisch Shooman 2011: 64), und nicht zuletzt als Ausdruck der intersektionalen Verwobenheit von Rassismus mit anderen Differenzmarkierungen, im vorliegenden Fall mit Geschlechterverhältnissen und – von der Elterninitiativ-Vertreterin ebenfalls nur sehr implizit angedeutet – mit Klassenzugehörigkeiten (vgl. Tsianos/ Pieper 2011: 123). Die oben genannten wissenschaftlichen Ansätze haben mir dabei geholfen, den spezifischen „Assemblagen19 des Rassismus“ (Tsianos/Pieper 2011) in meiner Forschung näher zu kommen. Diese gingen weit über die hier dargestellte Situation hinaus: Sie manifestierten sich auf vielen Ebenen, in unterschiedlichen Erscheinungsformen und in verschiedenen, spezifischen Kontexten. Diskursiv, alltagspraktisch, institutionell und nicht zuletzt strukturell durchzog Rassismus den Übergangsbereich von der Kita zur Grundschule. Dabei verschränkte sich in den meisten Fällen die staatsrassistische Figur des*r ‚Ausländer*in‘ bzw. des ‚Fremden‘ oder auch des ‚Islam‘ (als einem Gegenpol zur weißen ‚liberalen‘ und ,aufgeklärten Wertegemeinschaft‘) mit der leistungsideologischen Figur der ‚Bildungsferne‘, der mangelnden schulischen Passung oder der deutschsprachlichen Defizite (vgl. Riedner 2018: 14) Rassismus setzt Menschen in ungleiche Verhältnisse zueinander und reguliert darüber den Zugang zu ökonomischen und symbolischen Ressourcen (vgl. Hall 2000, 2004b). Allerdings kann, wie Annita Kalpaka und Nora Räthzel feststellen, „[n]ur wenn die Gruppe, die eine andere als minderwertige ‚Rasse‘ konstruiert, auch die Macht hat, diese Konstruktion durchzusetzen, […] von
19Wenn
ich hier von Assemblagen des Rassismus spreche, so greife ich ein Konzept von Vassilis Tsianos und Marianne Pieper auf, mit dem diese die Vielfalt an (alten und neuen) Erscheinungsformen des Rassismus bezeichnen. Sie verdeutlichen damit, dass verschiedene Formationen des Rassismus nebeneinander bestehen, sich flexibel überlagern und gegeneinander oder wechselseitig verstärken (vgl. Tsianos/Pieper 2011). Auch der Übergangsbereich von der Kita zur Grundschule war durch unterschiedliche lokale, umkämpfte Assemblagen des Rassismus gekennzeichnet, in denen sich jeweils verschiedene Rassismen miteinander verbanden und/oder gegenseitig unterliefen.
1.4 Rassismustheoretische Perspektiven
15
Rassismus gesprochen werden“ (Kalpaka/Räthzel 1989: 13 f.). Theo Goldberg zeigt in diesem Zusammenhang in seinem Buch The racial state auf, wie die Entstehung und die heutigen Transformationen des modernen Staates nicht von Prozessen der Rassialisierung zu trennen sind (vgl. Goldberg 2002). Es handelt sich bei rassistischen Konstruktionen also um historisch gewachsene Machtverhältnisse, durch die definiert wird, was als normal und anormal, erwünscht und unerwünscht, fremd und eigen, innen und außen gilt (vgl. Riedner 2018: 14). Rassismus wirkt sich auf diese Weise auch auf die Materialität von Körpern aus; als soziales Verhältnis durchzieht er die Körper aller Menschen und subjektiviert diese (vgl. Namberger 2013; Papadopoulos/Sharma 2008). Rassismus ist weder eine individuelle Einstellung noch eine Ausnahmeerscheinung bzw. ein Extrem am rechten Rand der Gesellschaft. Vielmehr handelt es sich um ein wirkmächtiges, gesellschaftlich tief verankertes und als ‚normal‘ anerkanntes „rassistische[s] Wissen“ (Terkessidis 1998: 83) darüber, wer die ‚Anderen‘ vermeintlich sind, wie sie aussehen und welche Eigenschaften sie haben (vgl. Mai 2018: 177). Rassismus als Ausdruck sozialer (Macht-)Verhältnisse lässt sich zusammenfassend definieren als ein gesellschaftliches Verhältnis der Fremdmachung, das Menschen in hierarchische Beziehungen zueinander setzt. Dieses Verhältnis wird immer wieder durch die Aktualisierung eines rassistischen Wissens neu begründet, das durch staatliche Regulationen und Praktiken und in den Institutionen aller gesellschaftlichen Funktionssysteme koproduziert und realisiert wird. (Espahangizi u. a. 2016: 11)
Mit Anne Broden und Paul Mecheril gehe ich dabei von einer „Normalität rassistischer Ordnung“ (Broden/Mecheril 2010: 12) aus. Da diese Ordnung alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringt, besteht für durch Rassismus privilegierte Personen eine grundsätzliche „Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein“, worauf bereits in den 1980er Jahren Annita Kalpaka und Nora Räthzel hingewiesen haben (vgl. Kalpaka/Räthzel 1989). Nicht zuletzt ist rassistisches Wissen auch in pädagogischen Arbeitskontexten wirksam und dort institutionell und strukturell verankert (vgl. Melter 2006), was sich bspw. in (neo-)linguizistischen Normsetzungen im schulischen und vorschulischen Kontext widerspiegelt (vgl. Kapitel 3). Das Gespräch mit der Vertreterin der Elterninitiative stellt zudem Ausdruck eines wirkmächtigen Otheringprozesses dar, mit dem die „türkischen und arabischen Jungs“ als Gegenpol der eigenen, vermeintlich ‚aufgeklärten‘, ,westlichen‘ Wertegemeinschaft dargestellt wurden. Das im Kontext der Postcolonial Studies entstandene Konzept des Othering (vgl. Said 1978; Spivak 1985, 2008a) – bzw. der Veranderung – dient dazu zu analysieren, wie die Konstruktion des ‚Anderen‘ sich in und durch hierarchische/n und
16
1 Perspektivierungen des Übergangs zur Grundschule
asymmetrische/n Differenzordnungen realisiert und diese zugleich aufrechterhält.20 Othering basiert darauf, dass in einer wirkmächtigen Verschränkung und im Zusammenspiel von hegemonialen alltäglichen, fachlichen, wissenschaftlichen und politischen Diskursen und Bildern, mit Mitteln der Zuschreibung, Essentialisierung und Repräsentation eine bestimmte Gruppe erst als solche, dann als Andere diskursiv hervorgebracht und identitär festgeschrieben wird. (Riegel 2016: 52)
Das ‚Andere‘ wird als „komplementärer Gegenpart und in einer binären Opposition“ (ebd.) zu einem hegemonialen Eigenen konzipiert und stellt damit dessen ‚konstitutives Außen‘ (vgl. Gutiérrez Rodríguez/Steyerl 2003: 9) dar. So weist auch Stuart Hall darauf hin, dass binäre Codierungssysteme dazu tendieren „in ihrer rigiden dualen Struktur übervereinfachter Darstellung alle […] Variationen aufzusaugen und unkenntlich zu machen“ (Hall 2004b: 117). Das Andere wird dadurch zu einer Negativfolie und verkörpert symbolisch das von der (so konstruierten) Normalität Abweichende und mit Mängeln und Unzulänglichkeiten Behaftete. Durch solche, z. T. essentialistischen Zuschreibungen und stereotypen Bilder wird Subjekten ihre (untergeordnete) Position im gesellschaftlichen Raum zugewiesen und diese darauf festgeschrieben. (Riegel 2016: 52)
Christine Riegel fasst zusammen, dass sich Otheringprozesse vor dem Hintergrund intersektional verwobener Ungleichheits- und Machtverhältnisse realisieren und erst darüber ihre besondere Wirksamkeit entfalten, dass „bestimmte Differenzkonstruktionen hervorgehoben, andere in den Hintergrund geschoben oder ignoriert werden. Durch die jeweilige Mixtur […] erreicht die Konstruktion von Anderen erst ihre ausgrenzende und/oder normalisierende Wirkung.“ (ebd.: 59). Othering dient dabei der Stabilisierung und Reproduktion bestehender Ungleichheits- und Machtverhältnisse. Intersektional und rassismuskritisch (s. u.) informierte Analysen
20Gayatri
Ch. Spivak verwendet das Konzept des Othering für den Prozess, in dem in einem dialektischen Prozess das Selbst seinen ‚Anderen‘ herstellt (vgl. Spivak 2008a). Aus einer postkolonialen Perspektive analysiert sie, dass sich das kolonisierende ‚Other‘ der Metropole zur selben Zeit etabliert wie die kolonialisierte Subalterne, das ‚other‘– die Konstruktion des ‚O/other‘ ist damit ein fundamentaler Bestandteil der Konstruktion des eigenen Selbst. Ansätze zur Konstruktion des ‚Anderen‘ wurden dabei aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen heraus entwickelt (vgl. Ashcroft/Griffith/Tiffin 2000).
1.4 Rassismustheoretische Perspektiven
17
können dazu dienen, Otheringprozesse „hinsichtlich ihrer sozialen Funktionalität und ihrer Folgen zu befragen und als solche herauszuarbeiten“ (ebd.). Inwiefern sich Othering als funktional herausstellt, habe ich in meiner Studie im Besonderen in Bezug auf pädagogischen Praktiken der Erzieherinnen der Berlin-Kreuzberger Primel-Kita dargestellt. Die vorliegende Arbeit argumentiert dabei aus der Perspektive der Rassismuskritik. Deren Grundannahme ist zum einen, dass Rassismus alle Gesellschaftsmitglieder, wenn auch auf unterschiedliche Weise, betrifft und zum anderen – in Abgrenzung zu ‚antirassistischen‘ Ansätzen –, dass Rassismus nicht durch kurzfristige oder individuelle Handlungen zu beseitigen ist (vgl. Mecheril/Melter 2009: 14 f.). Vielmehr erscheint es als ein realistisches Bestreben und Unterfangen, „nicht dermaßen dem Ensemble rassistischer Deutungs- und Handlungsschemata unterworfen zu sein“ (ebd.: 15). Insofern Rassismuskritik „macht- und selbstreflexive Betrachtungsperspektiven auf Handlungen, Institutionen und Strukturen [beinhaltet]“ (ebd.: 14), ist sie auch durch Selbstreflexivität hinsichtlich der eigenen sozialen Positionierung gekennzeichnet, ohne diese dabei als absolut und deterministisch zu begreifen (vgl. ebd.: 15). Hier spielt wiederum die Perspektive der Migrationspädagogik (vgl. Mecheril 2004; ders. u. a. 2010; ders. 2016b) eine zentrale Rolle. Sie verspricht nicht zuletzt Wege aus der Kulturalisierungsfalle der Interkulturellen Pädagogik, die in meiner Studie die Erzieher*innen und die Kita-Leiterin der Primel-Kita, um die es im 4. Kapitel geht, stark prägte. Ausgehend von einem dezidiert rassismuskritischen Herangehen richtet dagegen die Migrationspädagogik ihren Blick auf formelle und informelle Bildungskontexte und auf die damit verbundenen Zugehörigkeitsordnungen in der Migrationsgesellschaft, auf die Macht der Unterscheidung, die von ihnen ausgeht sowie die damit ermöglichten und verhinderten Bildungsprozesse und zwar aller, wie auch immer ihre migrationsgesellschaftliche Position und Status sein mögen. (Mecheril 2019: 12 f., Hervorheb. i. Orig.)
Dieses Anliegen teilt die vorliegende Studie, die danach fragt, wie der Übergang von der Kita zur Grundschule möglichst für alle Beteiligten zu einem ermöglichenden Handlungs- und Bildungsraum werden kann. Das Gespräch mit der Vertreterin der Elterninitiative lässt sich darüber hinaus auch als ein Beispiel für Alltagsrassismus durch Einzelpersonen und Gruppen lesen. Claus Melter hat in Anlehnung an Philomena Essed (1991) eine Konzeption des Alltagsrassismus auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen entwickelt, mit deren Hilfe sich Aussagen wie die der Mutter als regelmäßig
18
1 Perspektivierungen des Übergangs zur Grundschule
auftretende, sowohl offen als auch subtil rassistische Handlungspraxen von Einzelpersonen oder Gruppen analysieren lassen (vgl. Melter 2006: 25). Gerade weil die hier geschilderte Erzählung von den gewalttätigen ,türkischen‘ und ,arabischen‘ Jungen sich so oder so ähnlich bei einer Vielzahl an verschiedenen Elternteilen aus Gruppenanmeldungen wiederfand, spreche ich hier von Alltagsrassismus. Allerdings verstanden sich diese Eltern selbst meist als links oder linksliberal, Rassismus widersprach damit ihrem Selbstkonzept in aller Regel grundsätzlich. Jedoch haben verschiedene Studien in den vergangenen Jahren herausgearbeitet, dass auch Personen aus der linken oder linksliberalen Mittelschicht auf rassistische, alltägliche Wissensbestände zurückgreifen können und diese als flexibel mobilisierbare Ressource verwenden (vgl. Weiß 2013 [2001]; Scherschel 2006, 2009). Hier setze ich an und komme im Verlauf der vorliegenden Arbeit an verschiedenen Stellen darauf zurück, wie viele der insbesondere weiß positionierten, Schulwahl praktizierenden Eltern, aber auch Erzieher*innen, Lehrkräfte und Schulleitungen – in der Regel entgegen ihrer eigenen politischen Selbstverortung – rassistische und dabei insbesondere antimuslimische Wissensbestände (vgl. exemplarisch Attia 2009: 55, 2015: 17–29; Shooman 2014, 2015) offen oder zum Teil implizit kommunizierten. Einen solchen Rassismus, der sich auf wahrgenommene kulturelle Differenzen bezieht, beschreibt Étienne Balibar als „Kultur-Rassismus“, „Rassismus ohne Rassen“ oder auch „Neo-Rassismus“ (Balibar 1992a). Balibar zeichnet dabei nach, wie der bis ins 20. Jahrhundert dominierende biologistische Rassismus21 (vgl. ebd.: 28) zunehmend durch „kulturalistische Markierungen von Überlegenheit und Inferiorität“ (Tsianos/Pieper 2011: 120) abgelöst wurde.22 Dazu zählt die
21Der
sich im Zuge der westlichen Kolonialeroberungen ab dem 18. Jahrhundert herausbildende „universelle Rassismus“ basierte auf der Vorstellung eines „sich in Stufen vollziehenden Fortschritts der menschlichen Kultur als eines Ganzen“ (Bojadžijev 2008: 21) und erklärte die Kolonisierten zu einer primitiven Vorform europäischer Gesellschaften. Der „universelle“ ebenso wie der „superiore Rassismus“ des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, der die Überlegenheit der ‚weißen Rasse‘ postulierte, stellen dabei Artikulationen des biologistisch argumentierenden Rassismus dar. 22Auch wenn ich die Aufteilung in zeitlich klar voneinander abgrenzbare Phasen des Rassismus als zu vereinfachend empfinde, da rassistische Konjunkturen nicht auf eine einzelne Logik begrenzt sind, sie zudem über diese Phasen hinaus wirken und für jede gesellschaftliche Situation spezifisch sind, zeichne ich hier doch verschiedene rassistische Formationen nach, um so die Bandbreite an Artikulationen, Funktionsweisen und analytischen Zugängen darzustellen (vgl. Riedner 2018: 122 f.).
1.4 Rassismustheoretische Perspektiven
19
Vorstellung, dass verschiedene ‚Kulturen‘, die mit Religionen, Nationalstaaten oder geographischen Regionen gleich gesetzt werden, untereinander unvereinbar seien.23 Seit den 2000er Jahren artikuliert sich dieser Rassismus – parallel zum und verknüpft mit dem Aufstieg rechter und neofaschistischer Parteien in verschiedenen europäischen Ländern – insbesondere über die Problematisierung der Einwanderung von Muslim*innen (vgl. Solomos 2002). In jüngster Zeit haben verschiedene Autor*innen auf Rekonfigurationen rassistischer Formationen und Konjunkturen hingewiesen. Alana Lentin und Gavan Titley sprechen dabei von einem racial neoliberalism (vgl. Lentin/Titley 2011: 165–192), während im deutschsprachigen Raum der Begriff des postliberalen Rassismus stärker in die Debatte getreten ist (vgl. Tsianos/Pieper 2011; Pieper/Panagiotidis/Tsianos 2011). Beide, sich in weiten Teilen ähnelnde, Spielarten des Rassismus „[produzieren] systematisch Ausgrenzung und Diskriminierung […], ohne sich explizit und vorsätzlich rassistischer Begründungsund Deutungsmuster zu bedienen“ (ebd.: 195). Sie definieren sich dabei „über eine Rhetorik der ‚Emanzipation‘ und Aufklärung“ (Dietze 2009: 24) und haben so „das Erbe sowohl der Krise des ‚differentiellen Rassismus‘ als auch des gegen ihn artikulierten Antirassismus“ (Pieper/Panagiotidis/Tsianos 2011: 195) angetreten. Auf diese Weise transportieren sie die Idee einer post-rassistischen Gesellschaft, einer Gesellschaft, in der Rassismus überwunden zu sein scheint und für die Diversität und Chancengleichheit als konstitutiv gilt. Dieses Gesellschaftsideal orientiert und bemisst sich dabei an ‚westlichen Werten‘ und gibt so zugleich einen Maßstab vor für selbstverantwortliches, ‚rationales‘ und ‚emanzipiertes‘ Handeln. Indem hier entlang neoliberaler Argumentationen zwischen „good and bad diversity“ (Lentin/Titley 2011: 160–192) unterschieden wird, kann Diversität als gesellschaftliches und wirtschaftliches Potenzial gefeiert und parallel dazu ‚Rasse‘ privatisiert werden (vgl. Giroux/Goldberg 2006) – schließlich kann jedes Individuum sich von seiner ‚rückständigen Kultur‘ befreien und zu einem Teil der „economically profitable and morally harmless diversity“ (Lentin/Titley 2011: 175) machen. Nichtsdestotrotz bleiben die ‚Anderen‘ beständig dem Verdacht ausgesetzt, ‚westliche Werte‘ nicht (vollständig) inkorporiert zu haben und damit weniger emanzipiert, aufgeklärt, gebildet, fleißig, vernünftig, rechtschaffen etc.
23Prominentestes
Beispiel dieses Kultur-Rassismus stellt wohl das Mitte der 1990er Jahre veröffentlichte Buch „Kampf der Kulturen“ von Samuel P. Huntington dar (vgl. Huntington 1996).
20
1 Perspektivierungen des Übergangs zur Grundschule
zu sein (vgl. Riedner 2018: 123). Somit bleibt Diversität in einem vorgegebenen Rahmen und erscheint zugleich permanent bedroht, wie bspw. Jasbir Puar (2007), Jin Harritaworn (2010) und Vassilis Tsianos (2014, 2015a) am Beispiel von Homonationalismus aufzeigen. Die Ängste der Elterninitiativ-Vertreterin ebenso wie die anderer Eltern bezogen sich hierbei in vergleichbarer Weise auf eine wahrgenommene „bad diversity“ an den Schulen. Als machtvolle Zuschreibungen bewirkten sie zur selben Zeit auch etwas bei den Adressat*innen der ‚Botschaft‘. Vor diesem Hintergrund ist der Rückgriff auf Subjektivierungsprozesse und hier besonders auf das – auf Luis Althusser zurückgehende – theoretische Konzept der (rassistischen) Anrufung bzw. Adressierung – oder stärker psychologisch argumentierend: der Identifizierung – für meine Analyse bedeutsam. Dieses Konzept wurde in jüngerer Zeit insbesondere von der migrationspädagogisch orientierten Erziehungswissenschaft vielfach aufgegriffen und rezipiert (vgl. exemplarisch Broden/Mecheril 2010; Mecheril 2014a; Rose 2012; Rose 2016). Bezüglich der Anrufung von Subjekten hat Judith Butler in ihren gender- und subjekttheoretischen Überlegungen – in Anlehnung an Michel Foucaults Subjektivierungsverständnis – herausgearbeitet, wie durch ständiges diskursives Wiederholen Subjekte benannt und konstituiert werden (vgl. Butler 1997, 2001). Sie geht davon aus, dass die Anrufung – als Performativität24 und Verkörperung sprachlicher Akte – Subjektivierungsprozesse anleitet. Anrufungen gelängen ihr zufolge dadurch, dass sie eine beständige Wiederholung, „also zitatförmig seien und einen Diskurs anleiteten, der immer schon vor dem angerufenen Subjekt präsent war und es übersteigt“ (Rose 2016: 331).
24Der
Begriff der Performativität geht zurück auf John L. Austins Sprechakttheorie, die analysiert, wie mit einer Äußerung nicht allein Tatsachen beschrieben werden, sondern diese auch dazu beitragen, Handlungen zu vollziehen (vgl. Austin 2002 [1965]: 28 f.). Somit kann die Sprechakttheorie als Teil einer Handlungstheorie verstanden werden (vgl. Searle 1988 [1969]: 31). Insbesondere in den Sprach- und Literaturwissenschaften ebenso wie in den Gender Studies wurde seither das Konzept der Performativität intensiv diskutiert. Judith Butler definiert das Performative dabei folgendermaßen: „The performative is not merely an act used by a pregiven subject, but is one of the powerful and insidious ways in which subjects are called into social being, inaugurated into sociality by a variety of diffuse and powerful interpellations. In this sense the social performative is a crucial part not only of subject formation, but of the ongoing political contestation and reformulation of the subject as well. In this sense, the performative is not only a ritual practice: it is one of the influential rituals by which subjects are formed and reformulated.“ (Butler 1999: 125, Hervorheb. i. Orig.).
1.4 Rassismustheoretische Perspektiven
21
Butler stellt besonders die Möglichkeit des Scheiterns von Anrufungen heraus. Dies analysiert Nadine Rose dahingehend, dass dem performativen „Wiederholungsprozess eine Ungenauigkeit eingeschrieben ist, die sich politisch nutzen lässt“ (ebd.). Denn die Performativität des Sozialen als „Materialisierung von etwas, wovon vermeintlich ,nur‘ gesprochen wurde“ (ebd.), „situiert inmitten des Vorgangs der Subjektivierung ein partielles Scheitern: nämlich die Möglichkeit einer Wiederholung, die nicht im Sinne der Norm agiert, einer anderen Wiederholung, letztlich sogar die Möglichkeit der Veränderung der Norm selbst“ (ebd.; vgl. Butler 1998: 230). Butler setzt sich in ihrem Werk „Hass spricht“ (Butler 1998) mit der Wirkmacht von Rassismus auseinander und kommt diesbezüglich zu dem Schluss, dass auch verletzende rassistische Anrufungen Subjekte konstituieren. Auch wenn es gegen die Verletzungen und Traumata dieser Anrufungen keinen Schutz gibt, so stellt doch gerade der Akt der – verletzenden – Adressierung die Bedingung dafür dar, sozial handlungs- und anerkennungsfähig zu sein (vgl. ebd.: 60 f.; Rose 2016: 333). Rassistische Differenz- und Zugehörigkeitsordnungen „strukturieren und konstituieren Erfahrungen, sie normieren und subjektivieren, rufen, historisch aufklärbar, Individuen als Subjekte an“, wobei „[d]ie rassistische Ordnung […] auch in dem Sinne produktiv [ist], dass sie auf Selbstverhältnisse und -praxen einwirkt“ (Broden/Mecheril 2010: 17). Dies wirkt sich auf alle Personen innerhalb der rassistischen Matrix aus, wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise: Denn während die den Individuen vorgängige rassistische Unterscheidungslogik dominante Positionalitäten positiv bestärkt, werden zeitgleich deprivilegierte Positionen auf negative Weise behindert (vgl. ebd.: 7). Auch in meiner Forschung spielten rassistische Anrufungen eine zentrale Rolle. Sowohl von institutioneller Seite aus als auch von einigen weiß positionierten und/oder bildungsprivilegierten Eltern wurden von Rassismus betroffene Eltern wiederkehrend als ‚bildungsfern‘, ,sprachinkompetent‘, nicht an Schule interessiert und/oder kulturell ‚anders‘ und ‚rückständig‘ – und somit im Sinne einer „bad diversity“ – adressiert. Gerade diese Anrufungen, so verletzend sie auch waren, politisierten und sensibilisierten viele der betroffenen Eltern für ihre eigene Ungleichbehandlung oder die ihrer Kinder und trugen mit dazu bei, dass sie aufbegehrten. In Kapitel 8 zeige ich dies anhand von Auseinandersetzungen auf, die sich in den letzten Jahren an Grundschulen in Berliner Innenstadtbezirken ereigneten. Dabei greife ich den eingangs skizzierten Konflikt an der Rosen-Grundschule auf und zeige, wie dort die Auseinandersetzung um schulischerseits anerkanntes Elternengagement verlief (8.1). Darüber hinaus untersuche ich am Beispiel einer weiteren Grundschule in Kreuzberg, welche Effekte die Thematisierung von Diskriminierung in einer nach ‚Herkunft getrennten Klasse‘ dort nach sich zog (8.2).
22
1 Perspektivierungen des Übergangs zur Grundschule
1.5 Die Perspektive der intersektionellen Formation Auch wenn Rassismus der zentrale Analysefokus meiner Arbeit ist, stellte dieser nicht das alleinige bzw. ausschließlich wirksame Macht- und Ungleichheitsverhältnis beim Zusammenspiel von institutionellen Handlungslogiken, virulenten Diskursen und elterlichen Praktiken dar. Auch die konkreten Positioniertheiten der verschiedenen Akteur*innengruppen ließen sich – auf vergleichbare Weise – nicht vollständig begrenzen auf eine binäre Unterscheidung zwischen denjenigen, die Rassismus ausüben auf der einen und denjenigen, die von Rassismus betroffen sind, auf der anderen Seite. Vielmehr wurden hier verschiedene soziale Differenzlinien wirksam, die ich in ihren Verschränkungen untersuchen möchte. So stellte auch die Befürchtung der Elterninitiativ-Vertreterin am „Tag der offenen Tür“ der Rosen-Grundschule, dass patriarchal geprägte, gewalttätige muslimische Jungen (aus der Unterschicht) ihre Mitschülerinnen auf sexualisierte Weise beschimpfen, eine Verknüpfung von nicht nur ethnisierten bzw. rassialisierten, sondern zugleich vergeschlechtlichten und aller Wahrscheinlichkeit nach auch klassenbezogenen Anrufungen dar. In den letzten Jahren wurde eine solche Perspektive sich überlagernder Machtverhältnisse als „Intersektionalität“ bzw. „Intersectionality“ (Crenshaw 1989, 1991; vgl. auch Hess/Langreiter/Timm 2011) analysiert, wobei sich einzelne Strömungen der Begriffe „Interdependenz“ (Walgenbach 2007) oder „Interferenz“ (Müller 2003) bedienen.25 Christine Riegel fasst diese Perspektiven folgendermaßen zusammen: Mit diesen Ansätzen wird darauf Bezug genommen, dass sich verschiedene – in ihren Ursprüngen nicht gleichzusetzende – Ungleichheits- und Differenzverhältnisse empirisch überlagern, sich in ihrer Wirkung gegenseitig beeinflussen und in diesem Zusammenwirken folgenreich sind. (Riegel 2016: 41)
Beate Binder und Sabine Hess bezeichnen intersektionale Ansätze zudem als „machtsensible Perspektive[n]“ (Binder/Hess 2011: 15), die „von der Komplexität von Macht- und Herrschaftsverhältnissen aus[gehen]: Sie fragen programmatisch nach der Simultanität sozial wirksam werdender Kategorisierungen, fokussieren
25Intersektionalität kann als eine Weiterentwicklung des triple-oppression-Ansatzes verstanden werden, der speziell Klassismus, Rassismus und Geschlecht fokussiert und hierbei häufig ein eher additives Verständnis dieser Machtdimensionen aufwies. Einzelne Arbeiten untersuchten aber nichtsdestotrotz auch hier alle drei Dimensionen in ihrer Verschränkung miteinander (vgl. Viehmann u. a. 1991).
1.5 Die Perspektive der intersektionellen Formation
23
deren Wechselverhältnisse und Überschneidungen.“ (ebd.: 16). Diese Perspektive hat auch Auswirkungen auf die Konzeptionalisierung von Forschung(-sdesigns) und geht daher mit deren wirklichkeitsgenerierenden Effekten möglichst reflexiv um (vgl. ebd.). Historisch geht der Intersektionalitäts-Ansatz auf Schwarze Aktivist*innen im US-amerikanischen Black Feminism und in der Critical Race Theory zurück (vgl. Combahee River Collective 2000 [1977]; hooks 1981, 1990; Lorde 1984). Hierbei intervenierten in den 1970er- und 1980er-Jahren Schwarze Frauen in den USA in mehrheitlich von weißen Frauen geprägte feministische Strömungen und kritisierten, dass diese Rassismus und Klassismus (weitgehend) aus ihrer Machtanalyse ausklammerten. Parallel dazu widersprachen in kapitalismusund rassismuskritischen Bewegungen Feminist*innen der Ausblendung der Geschlechterfrage (vgl. Riedner 2018: 34). In vergleichbarer Weise spricht Étienne Balibar in seinem Essay zu „Klassen-Rassismus“ (Balibar 1992b) in Bezug auf die Verbindungen von Rassismus und Klassismus von einer „Heterogenität der historischen Formen, die das Verhältnis von Rassismus und Klassenkampf angenommen hat“ (ebd.: 248), weshalb „die schlichte Idee nicht haltbar ist, dass der Rassismus gegen das ‚Klassenbewusstsein‘ eingesetzt wird“ (ebd.: 250, Hervorheb. i. Orig.). Auch das Konzept der Artikulation (vgl. Hall 2000), als ein postmarxistisches Analysewerkzeug, wendet sich gegen einen ökonomischen Determinismus. Stuart Hall bringt diesbezüglich die im Englischen greifende Doppelbedeutung von Artikulation als sowohl „sprechen“/„zum Ausdruck bringen“ als auch „miteinander verkoppeln“ ins Spiel. Dies verdeutlicht er am Beispiel eines Lastwagens, bei dem das Führerhaus mit einem Anhänger verkoppelt sein kann, aber nicht muss. Die beiden Teile sind miteinander verbunden, aber durch eine bestimmte Art der Verkoppelung, die gelöst werden kann. Eine Artikulation ist demzufolge eine Verknüpfungsform, die unter bestimmten Umständen aus zwei verschiedenen Elementen eine Einheit herstellen kann. Es ist eine Verbindung, die nicht für alle Zeiten notwendig, determiniert, absolut oder wesentlich ist. (Hall 2004b: 65)
Vielmehr benötigt diese Verbindung bestimmte Existenzbedingungen, damit sie auftritt. Zudem muss sie immer wieder aktualisiert, erneuert und aktiv aufrechterhalten werden, da sie auch verschwinden oder verändert werden kann, wodurch „die alten Verknüpfungen aufgelöst und neue Verbindungen – Re-Artikulationen – geschmiedet werden“ (ebd.). Lisa Riedner zufolge drückt somit das Konzept der Artikulation das kontingente „Verhältnis von konkreten sozialen Verhältnissen, Situationen oder (diskursiven) Praktiken […] aus“ (Riedner 2018: 36). Auf diese
24
1 Perspektivierungen des Übergangs zur Grundschule
Weise artikulieren „[d]ie partikularen Situationen und konkreten lokalen Verhältnisse […] historischen [sic] Konjunkturen26; sie sind nicht deren notwendiges Ergebnis und gleichzeitig nicht ohne diese zu erklären.“ (ebd.: 35) Hinsichtlich Subjektivierungsprozessen bringt die Verkoppelung heterogener Elemente eine „prinzipielle Irreduzibilität von ideologischen Artikulationen auf eine einzige sozioökonomische Position“ (Pieper/Panagiotidis/Tsianos 2011: 197) mit sich. Artikulation kann damit im Anschluss an Hall verstanden werden als eine Theorie, die danach fragt, wie eine Ideologie ihre Subjekte entdeckt und nicht wie das Subjekt die notwendigen und unvermeidlichen Gedanken denkt, die zu ihm gehören. Sie ermöglicht es uns zu denken, wie die Ideologie Menschen handlungsfähig macht und es ihnen ermöglicht, auf einsichtsvolle Weise ihre historische Situation zu begreifen, ohne diese Formen der Einsicht auf ihre sozioökonomische, Klassen- oder soziale Position zu reduzieren. (Hall 2004a: 65 f.)
Damit wird der „soziologistischen Annahme einer Gruppenidentität, die der Artikulation […] vorausliegen würde“ (Marchart/Adolphs/Hamm 2007: 210) widersprochen, wie sie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe in ihren frühen Arbeiten zur Hegemonietheorie (vgl. Laclau/Mouffe 2001) vertreten wurde. Vielmehr „[erschafft] die Artikulation […] erst die Identität eines politisch fordernden Subjekts“ (Marchart/Adolphs/Hamm 2007: 210). In diesem Sinne spricht bspw. Tina Spies mit Rückgriff auf Hall (1995: 65) vom „Vernähen“ einer Subjekt- mit einer Diskursposition, wobei sie wie Hall die zeitliche Spezifik, Begrenztheit
26Lawrence
Grossberg zufolge handelt es sich bei einer historischen Konjunktur um „einen historischen Moment, der definiert ist durch eine Anhäufung/Kondensierung von Widersprüchen, durch eine Fusion verschiedener Strömungen oder Umstände“ (Grossberg 2007: 140). Das Konzept der historischen Konjunktur geht von der Grundannahme aus, dass einerseits gesellschaftliche Verhältnisse permanent ausgehandelt werden und Transformationsprozesse nicht vorhersehbar sind, andererseits aber auch spezifische Kräfteverhältnisse, Macht-Wissens-Komplexe und Widersprüche typisch sind für den jeweiligen historischen Moment (vgl. Riedner 2018: 35). Konkrete Artikulationen der historischen Konjunkturen können nicht durch einen oder mehrere Faktoren hinreichend erklärt werden – sie sind überdeterminiert, stellen also unvorhersehbare Effekte sehr unterschiedlicher Faktoren dar (vgl. ebd.: 36) und sind somit keine intentionale Tat eines Individuums oder Kollektivs (Bojadžijev 2008: 272).
1.5 Die Perspektive der intersektionellen Formation
25
und Wandelbarkeit von – in Abhängigkeit von Diskursen und Subjektivität hergestellten – Positionierungen betont (vgl. Spies 2011: 67, 2010).27 Aus dieser Komplexität und Simultanität von Machtverhältnissen folgt, dass diese in der wissenschaftlichen Analyse vielfach nicht unabhängig voneinander untersucht werden können. Auch in meiner Forschung zum Übergangsbereich von der Kita zur Grundschule habe ich daher das Ziel verfolgt, rassistische sowie im weiteren Sinne auch klassistische, sexistische, paternalistische, heteronormative und ableistische28 Machtverhältnisse mit zu reflektieren. Denn insbesondere für diskriminierte Eltern und deren Kinder stellte Rassismus nicht das alleinige Diskriminierungsverhältnis dar. Im Übergangsbereich von der Kita zur Grundschule artikulierten sich darüber hinaus eine Vielzahl an weiteren Macht- und Differenzverhältnissen. Diese können allerdings nicht als sich akkumulierende oder sich gegenseitig abschwächende Einzelkräfte verstanden werden, sondern vielmehr „als aufeinander bezogene Dimensionen komplexer Formationen“ (Wellgraf 2011: 78; vgl. Skeggs 1997). Mit dieser Perspektive soll ein Denken in separaten Entitäten vermieden werden und vielmehr danach gefragt werden, wie sich Machtverhältnisse miteinander verweben und überlagern sowie auf diese Weise spezifische Formationen bilden (vgl. Wellgraf 2011: 121).
27Nichtsdestotrotz
haben in jüngster Zeit Marianne Pieper, Efthimia Panagiotidis und Vassilis Tsianos gegen das Konzept der Artikulation sowie insgesamt repräsentationspolitische Ansätze eingewandt, diese basierten auf dem „Nachweis einer permanenten Präsenz der Alterität in einem Kontinuum der Macht“ (Pieper/Panagiotidis/Tsianos 2011: 197). Auf diese Weise gehe es nunmehr lediglich darum festzustellen, wie ein immer gleicher Rassismus auf die immer gleiche Weise die Subjekte seiner Anrufung identifiziere (vgl. ebd.). Die „Frage, wie eine rassistische Anrufungsinstanz ihre Subjekte entdeckt“ könne somit also nicht dabei helfen, „die falschen Alternativen der Rassismusdebatte – totale Diskursivität versus stumpfe[n] Empirismus – zu dekonstruieren“ (ebd.). Dieser Analyse stimme ich nicht zu, da – wie oben gezeigt – sowohl der Ansatz der Anrufung als auch der der Artikulation das Ziel verfolgen, gerade die Wandelbarkeit und historische, diskursiv geprägte ebenso wie konkret materialisierte Spezifik von Differenzverhältnissen zum Thema zu machen. Auch wenn ich also inhaltlich begründete Einwände gegen die Abgrenzungstendenzen von Pieper, Panagiotidis und Tsianos habe, so werde ich mich doch auf ihren Ansatz der biopolitischen Assemblage beziehen, der sich für meine Forschung als überaus produktiv erwiesen hat. 28Im Sinne der sich auch im deutschsprachigen Raum allmählich stärker etablierenden Disability Studies kann von Ableismus gesprochen werden, „wenn es um die zahlreichen Facetten der Ausgrenzung und ,Andersbehandlung‘ von als behindert geltenden Menschen sowie die dahinter stehenden Denkweisen und Einstellungen geht“ (Köbsell 2015: 25, vgl. auch Unterkapitel 2.5 der vorliegenden Arbeit).
26
1 Perspektivierungen des Übergangs zur Grundschule
1.6 Affekttheoretische Perspektiven Wie schon in Unterkapitel 1.4 angesprochen, waren die Befürchtungen der Initiativ-Vertreterin hinsichtlich der „dunkelhaarigen Mitschüler“, diese würden Mädchen mobben und als „Schlampe“ bezeichnen, zunächst einmal Ausdruck eines weit verbreiteten (antimuslimischen) Alltagsrassismus. Darüber hinaus verweisen die mittransportierten Gefühle wie diffuse Ängste und Unsicherheiten auf etwas, was im Verlauf meiner Forschung ebenfalls immer wieder eine zentrale Rolle spielte: Affekte und Emotionen. Die verschiedenen neuralgischen Punkte des Übergangsbereichs von der Kita zur Grundschule waren bei vielen der darin involvierten Akteur*innen durchzogen von komplexen, physiologischen und psychologischen Erfahrungen und Empfindungen: Dazu gehörten neben Angst auch Wut, Hoffnung, Traurigkeit, Vertrauen und Irritationen. Affekttheoretische Ansätze konzeptionalisieren dabei mit Bezug auf die Philosophie Baruch de Spinozas Affekte als Fähigkeiten, Modalitäten, Arrangements, Energien und Intensitäten, „that act on bodies, are produced through bodies and transmitted by bodies“ (Lorimer 2008: 552). Affekte weisen über subjektive Emotionen oder Erfahrungen hinaus und stellen somit ein Erleben dar, das sich in der Begegnung, im Zwischenraum und in der Beziehung zwischen verschiedenen Kontexten, Situationen, menschlichen und nichtmenschlichen Körpern, Individuen und Gruppen realisiert (vgl. Gregg/Seigworth 2010; Lea/ Woodward 2010; Massumi 2015). Im Anschluss an Spinoza (vgl. Spinoza 1994 [1677]: 219 ff.) sprechen Gilles Deleuze und Félix Guattari Körpern das Vermögen zu, zu affizieren und affiziert zu werden, das heißt zu bewegen und bewegt zu werden (vgl. Deleuze/Guattari 1992: 349 ff.; Deleuze 1988). Affekte sind ein beständiges prozessuales und kollektives sowie kollektivierendes Werden, das sich in konkreten Situationen ereignet und doch über diese hinausweist (vgl. Massumi 2002: 217). Einen Affekt verstehe ich dabei als kollektive, physiologische Empfindung, eine Emotion als individuelle, psychologische Erfahrung (vgl. Lorimer 2008: 522). Trotzdem sind beide miteinander verwoben und lassen sich nur schwer voneinander trennen, weshalb die Literaturwissenschaftlerin Rei Terada auch von „Gefühl“ bzw. „feeling“ spricht, um auf diese Weise sowohl physiologische als auch psychologische Aspekte zu fassen (vgl. Terada 2001: 4). Ich werde in der vorliegenden Arbeit trotzdem zwischen Affekt und Emotion begrifflich trennen und besonders die Implikationen von Affekten herausarbeiten, da es mir weniger
1.6 Affekttheoretische Perspektiven
27
um individuelle, sondern vielmehr um kollektiv geteilte Erfahrungen geht, also um Kollektivierungs- und Subjektivierungsprozesse genauso wie um damit verbundene Unvorhersehbarkeiten (vgl. Niess 2018: 102). In diesem Zusammenhang unterschied sich bei den einzelnen Akteur*innen in Abhängigkeit ihrer gesellschaftlichen Positionalität, ihrer Gruppenzugehörigkeit ebenso wie ihrer individuellen (politischen) Haltung, durch welche Affekte und kollektiven Erfahrungen der Übergangsbereich von Kita zu Grundschule für sie geprägt war. Angst und Unsicherheit stellten bei der Mehrzahl der Schulwahl praktizierenden Eltern – und damit auch bei der am „Tag der offenen Tür“ präsenten Elterninitiative – die alles dominierenden Affekte und damit die kollektive Erfahrung dar (vgl. Kapitel 5, 6 und 8). Bei den Vertreter*innen des offenen Elterncafés überwogen dagegen Frustration und Wut über die von ihnen wahrgenommene Zurückweisung und mangelnde Wertschätzung (vgl. Unterkapitel 8.1). Bei anderen Eltern, die ihre rassistische Diskriminierung bzw. die ihrer Kinder anprangerten, waren ebenfalls Wut über die bestehende Ungleichbehandlung sowie darüber hinaus Hoffnung auf Veränderung die entscheidende Antriebsfeder dafür, sich gegen diskriminierende Verhältnisse zur Wehr zu setzen (vgl. Unterkapitel 8.2). Auch auf institutioneller Ebene zeigte sich diese Vielfalt an Affekten und Emotionen: In Bezug auf institutionell diskriminierende Praktiken changierte diese bei Lehrkräften, Schulleitungen und Erzieher*innen in verschiedenen Kontexten zwischen Verständnis, Empörung, Abwehr und Unverständnis (vgl. Kapitel 3, 7 und 8). Wenn der Ausgangspunkt von Affekten ist, zu affizieren und affiziert zu werden, bedeutet dies, aus jedem Moment der (zwischenmenschlichen) Begegnung verändert hervorzugehen, worauf der Gesellschaftstheoretiker Brian Massumi hinweist: „When you affect something, you are at the same time opening yourself up to being affected in turn, and in a slightly different way than you might have been the moment before. You have made a transition, however slight.“ (Massumi 2015: 4). Affekte besitzen damit also eine Transformationskraft, durch die sich Bewegungen, Potenziale und Lebendigkeiten realisieren (vgl. Massumi 2002: 35).29
29Die
hier vorgeschlagene Lesart von Brian Massumis affekttheoretischen Überlegungen geht zurück auf Birgit Niess‘ Ethnografie „Lampedusa in Hamburg. Wie ein Protest die Stadt bewegte. Eine Ethnografie“ (vgl. Niess 2018).
28
1 Perspektivierungen des Übergangs zur Grundschule
In meiner Forschung war die hier dargestellte Fähigkeit zu affizieren und affiziert zu werden, überaus bedeutsam. Gerade an meinem Verhältnis zu meinen Interview- und Forschungspartner*innen lässt sich diese Reziprozität gut nachvollziehen. Die Flugblätter verteilende Vertreterin der Elterninitiative bspw. hatte am „Tag der offenen Tür“ ihre eigenen Ängste mir gegenüber anfangs sehr offen und ungefiltert thematisiert. Offensichtlich hatte sie mich in meiner vermeintlichen Funktion als Mutter adressiert und daher erwartet, dass ich mich von ihren Affekten und Emotionen angesprochen und bewegt fühlte – eben, weil ich ganz ähnliche Bedenken und Befürchtungen hinsichtlich des anstehenden Schulbesuchs des Kindes teilte. Neben meinem tatsächlichen Verständnis für die Sorgen der Vertreterin der Elterninitiative fühlte ich mich verunsichert durch ihre – zumindest in der konkreten Situation – für mich nur schwer einzuordnenden Aussagen und zugleich auch neugierig auf sie und ihre Weltsicht. Meine eigene Verwirrung war mir vermutlich vom Gesicht abzulesen, so dass letztlich sowohl meine eigene Irritation als auch meine irritierende Positioniertheit als Person of Color dazu geführt haben können, dass die Vertreterin der Elterninitiative sich nach kurzer Zeit stärker zurücknahm und nicht mehr so offen wie zu Beginn äußerte. Das anfängliche Affizieren und Affiziertwerden durch vermeintlich geteilte Erfahrungen und Empfindungen wurde also sehr bald von einem gegenseitigen Affizieren und Affiziertwerden auf der Ebene vielfältiger Irritationen und Unsicherheiten abgelöst. Angesichts dieser komplexen Begegnung, die von Neugier, gegenseitigem Verstehen sowie parallel dazu wechselseitigem Misstrauen geprägt war, redeten wir noch einige Zeit über eher Belangloses, verstummten aber beide allmählich immer mehr und wandten uns schließlich anderen Gesprächspartner*innen zu. Über das Affizieren und Affiziert-Werden hinausgehend, können Affekte und Emotionen als Impulse verstanden werden, die jedem Handeln vorausgehen (vgl. Anderson 2006: 744). Mit dieser Zentralsetzung von Affekten und Emotionen wird der auf René Descartes zurückgehende hierarchische Geist-Körper-Dualismus in Frage gestellt. Dieser basiert auf einer wirkmächtigen Unterscheidung zwischen als weiß und männlich imaginierter Ratio als der anzustrebenden Norm und den irrationalen Affekten und Emotionen des als rassialisiert und weiblich gedachten Körpers (vgl. Namberger 2013: 135). An dieser dichotomen Unterscheidung setzte in den letzten Jahrzehnten die Kritik feministischer Theoretiker*innen an, sowie darauf aufbauend diejenige materialer Rassismusanalysen (vgl. Saldanha 2007, 2008). Im Anschluss an Gilles Deleuze und Félix Guattari (1992) sowie Bruno Latour (2004) geht so bspw. Verena Namberger von einem fluiden und kontingenten
1.6 Affekttheoretische Perspektiven
29
Körper als einer Assemblage30 aus und versteht diesen als einen „Knotenpunkt prä-individueller, menschlicher und nicht-menschlicher, diskursiver und materieller Kräfte und als Effekt zirkulierender Affekte“ (Namberger 2013: 143). Daher sei nicht wichtig, „was ein Körper ist, sondern was er in einem konkreten zeit-räumlichen Kontext zu tun vermag“ (ebd.). Daran anknüpfend definiert Namberger Rassialisierungsprozesse „im Sinne einer körperlichen Materialisierung von ‚Rasse‘ – als Verringerung (bzw. Erhöhung) der Handlungsfähigkeit oder affektiven Kapazitäten eines Körpers“ (ebd.: 144). Einige der Eltern, die sich im Elterncafé der Rosen-Grundschule zusammengefunden hatten, berichteten mir zu einem späteren Zeitpunkt, wie wenig sie sich von den neu hinzugekommenen Mitgliedern der Elterninitiative und der Schule selbst mit ihrem Engagement für die Schule wahrgenommen fühlten. Indem ihnen die Anerkennung ihres Einsatzes, etwas an der Schule zum Positiven zu verändern, verweigert wurde, wurden sie insgesamt in ihrem Handlungsvermögen eingeschränkt. Sie erlebten sich selbst als ohnmächtig und zogen sich daraufhin – bis auf Herrn Berk – von der Mitarbeit in den Schulgremien zurück. Da sie dort nicht mehr präsent waren, wurden nach und nach vermehrt Entscheidungen über ihren Kopf hinweg getroffen, was wiederum zu einem stärkeren Gefühl der eigenen Machtlosigkeit führte. Ein sich selbst verstärkender Effekt setzte ein. Auch wenn politische Forderungen nach gleichen Rechten und/oder nach Anerkennung, um die es im folgenden Unterkapitel geht, häufig erfolglos bleiben, so sind es gerade nicht ausschließlich die Ziele, Taktiken und Resultate, die die Stärke politischer Bewegungen ausmachen, sondern vielmehr die Fähigkeit, durch performative Akte und kollektivierende Momente zu affizieren und affiziert zu werden (vgl. Massumi 2015: 16). Hier liegt eine Nähe von Affekttheorien zu dem Konzept der acts of citizenship (vgl. Isin 2008, 2009), das im Hinblick auf die sich nun anschließende Perspektive der Widerständigkeit und des Konflikts relevant ist: Beide vollziehen sich in spezifischen Situationen und durch konkrete Handlungen, die darauf basieren, Bestehendes zu unterbrechen und neu zu konfigurieren.
30Mit
Bezug auf Gilles Deleuze und Félix Guattari (1987) definiert Marianne Pieper Assemblagen als „produktive Seite von Praxen und Assoziationsprozessen“, die sich „in jenen beweglichen, emergenten Verkettungen als Beziehungen zwischen Körpern, Affekten, Begehren, Intensitäten, Dingen, Aktionen, Diskursen und Technologien der Macht [konstituieren]“ (Pieper 2016: 103). Assemblage stellt dabei eine Übersetzung des von Gilles Deleuze und Félix Guattari eingeführten Begriffs des agencements dar (vgl. Deleuze/Guattari 1987: 12). In der deutschen Übersetzung der Schriften der beiden Autor*innen wurde dies demgegenüber mit „Gefüge“ übertragen (vgl. dies. 1992).
30
1 Perspektivierungen des Übergangs zur Grundschule
1.7 Perspektive der Widerständigkeit und des Konflikts Das offene Elterncafé an der Rosen-Grundschule hatten einige Jahre zuvor einige Eltern u. a. auch deswegen ins Leben gerufen, um sich gegenseitig im Umgang mit der Schule und den Lehrkräften zu unterstützen und zu beraten. Das Verhältnis von Schule und Eltern hatten viele von ihnen lange Zeit als entwürdigend empfunden; insbesondere Eltern mit geringen Sprachkenntnissen des Deutschen hätten Herrn Berk zufolge häufig ihre Wut über die abwertende Behandlung ihrer Selbst und ihrer Kinder durch Lehrkräfte unterdrücken müssen. Auch sei die Vorstellung unter Lehrkräften verbreitet gewesen, dass muslimische, soziostrukturell benachteiligte Eltern nur wenig Interesse an Schule und Bildung hätten. In der Auseinandersetzung mit diesen rassismus- und klassismusrelevanten Zuschreibungen und Anrufungen seitens der Schule nutzten die Eltern ihr Café auch dafür, um die Lehrkräfte und ihr Verhalten den Schüler*innen und ihnen gegenüber ein Stück weit zu kontrollieren und um miteinander zu besprechen, wie sie diesen gegenüber selbstbewusst auftreten könnten. Der Rückgriff auf Subjektivierungsprozesse erlaubt – über die Analyse von Anrufungen hinaus – auch Widerständigkeiten und Verweigerung in den Blick zu nehmen. Mit Bezug auf Michel Foucaults Analyse von Subjektivierungsweisen und Fragen der Dissidenz (vgl. Foucault 1994: 245 ff.) entwerfen Marianne Pieper, Efthimia Panagiotidis und Vassilis Tsianos eine Untersuchungsperspektive, die simultan sowohl die Macht- und Herrschaftsverhältnisse als auch die dynamische Produktivität von Subjektivierung als permanente Subjekt-Werdung im Sinne einer anhaltenden Neuformierungs- und Produktionspraxis, als multiple Positionierungsprozesse und als Neuerfindung von Praxen und Subjektivierungsweisen bestimmen kann. […] Es gilt also zu berücksichtigen, dass Prozesse der Subjektivierung über das Verhaftetsein an die Bedingungen biopolitischer Machttechnologien hinaustreiben. Und zugleich gilt es ins Kalkül zu ziehen, dass Subjekte nicht bereits vorgängig vorhandene Entitäten sind, sondern dass sie sich in diesen Assemblagen permanent konstituieren. (Pieper/Panagiotidis/ Tsianos 2011: 200)
Die Autor*innen definieren damit Subjektivierung als ein soziales Konfliktfeld, in dem marginalisierte Subjektpositionen ihr Begehren nach anderen und besseren Lebensbedingungen zum Ausdruck bringen. In diesem Sinne spiegelten die im Elterncafé der Rosen-Grundschule als einem Empowermentraum vollzogenen alltäglichen Aktivitäten der Eltern deren Begehren nach anderen, besseren Lebensbedingungen wider. Denn schließlich
1.7 Perspektive der Widerständigkeit und des Konflikts
31
sind Pieper zufolge Assemblagen des Rassismus – wie die hier aufgezeigte institutionelle Diskriminierung an der Rosen-Grundschule – nicht allein gekennzeichnet durch „stratifizierende Linien“ und damit durch „Machtverhältnisse, Diskurse, Institutionen, Politiken, Gesetze, Architekturen und Technologien, die darauf abzielen, das Begehren nach anderen Lebensbedingungen einzudämmen“ (Pieper 2016: 103). Vielmehr zeichnet diese auch das „Begehren nach anderen Existenzbedingungen“ (ebd.) aus; sie besitzen das „Potenzial von Fluchtlinien, also jenen molekularen Bewegungen, die bestehende Ordnungen unterlaufen, sie negieren oder sie umformen“ (ebd.). An diese Analyse anknüpfend untersuche ich in der vorliegenden Studie gerade auch Widerständigkeiten, Konflikte und Aushandlungsprozesse als Ausdruck des Begehrens nach einem besseren Leben. Dieses Begehren durchzieht dabei die Geschichte des Rassismus und vollzieht sich in den tagtäglichen „Kämpfe[n] der Migration“ (Bojadžijev 2008) – bspw. (migrantischen) Arbeitskämpfen und den damit verbundenen Forderungen nach Anerkennung und gleichen Rechten. Manuela Bojadžijev hat die Geschichte des (Anti-)Rassismus explizit nicht aus der Perspektive der Dominanz und Unterdrückung geschrieben, sondern aus der der Kämpfe: Sie untersucht Streiks am Arbeitsplatz ebenso wie Auseinandersetzungen um Kindergeld oder bezahlbaren Wohnraum (vgl. ebd.). Auf diese Weise wird es möglich, Rassismus nicht als übermächtig und unveränderlich erscheinen zu lassen, sondern als ein beständiges Aushandlungsfeld: Die Konjunkturen des Rassismus hängen nicht nur von seiner internen Reproduktionsfähigkeit ab. Seine Reorganisation und Entwicklung ist entscheidend geprägt von denen, die sich gegen ihn zur Wehr setzen. Zur Bestimmung der Konjunkturen lassen sich folglich die Kämpfe gegen Rassismus zum Ausgangspunkt nehmen. Rassismus ist selbst eine Form der sozialen Auseinandersetzung, in welcher er sich erneuert und zur komplexen Form kapitalistischer Entwicklung beiträgt. (ebd.: 47)
Ich möchte allerdings nicht allein die Perspektive der Kämpfe stark machen, sondern sowohl die Wirkmacht von Rassismen – ebenso wie von anderen Machtverhältnissen – als auch ihre beständige Herausforderung in den Mittelpunkt meiner Analyse stellen. Hierüber können Artikulationen dieser Spannungsfelder und ihre widersprüchlichen Gleichzeitigkeiten in den Blick genommen werden. Aus der hier eingenommenen Perspektive der Kämpfe lässt sich feststellen, dass sich nicht nur die Eltern aus dem offenen Elterncafé gegen diskriminierende Verhältnisse an der Schule ihrer Kinder wehrten. Auch an anderen Grundschulen in Berliner Innenstadtbezirken kam es in den letzten Jahren zu einer Reihe von Konflikten und Auseinandersetzungen rund um insbesondere rassistische und
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1 Perspektivierungen des Übergangs zur Grundschule
klassistische schulische Routinen. An der Kreuzberger Narzissen-Grundschule setzten sich einige Mütter aktiv dagegen zur Wehr, dass die Kinder eines Jahrgangs in nach ‚Herkunft getrennten Klassen‘ eingeschult wurden. Sie beschwerten sich zunächst intern bei der Schulleiterin, die es jedoch ablehnte, die Zusammensetzung der einzelnen Schulklassen zu verändern. Für die aufbegehrenden Mütter war damit das Maß voll. Sie wandten sich an das zuständige Schulamt im Bezirk und begannen tagtäglich nach Unterrichtsschluss vor der Schule zu protestieren, indem sie Transparente mit ihren Forderungen in die Höhe hielten und ihre Wut lautstark äußerten. Um ihre Situation einer größeren Öffentlichkeit gegenüber bekannt zu machen und zu skandalisieren, schalteten sie zudem die Berliner Lokalpresse ein. Die Wut und die Empörung über die Ungleichbehandlung der Kinder – als starke Affekte und Emotionen – können hier als Motor dafür gelesen werden, dass die Mütter gegen die Diskriminierung in den nach ‚Herkunft getrennten Klassen‘ aufbegehrten und ihren Protest auf die Straße trugen. Auf diese Weise wurde es möglich, die existente (Diskriminierungs-)Situation zu unterbrechen, so dass diese sich verändern konnte. Denn Massumi zufolge besteht die produktive Kraft von Wut darin, dass mit ihr Unvorhersehbares einhergeht und somit zugleich eine Unterbrechung des Bestehenden erfolgt (Massumi 2015: 9). Neben der Wut über die bestehende Diskriminierung stellte auch Hoffnung ein zentrales, prägendes Motiv dieser Eltern für ihr Aufbegehren dar: Hoffnung auf Veränderung, auf ein Ende der subtilen, schwer greifbaren Diskriminierung und auf Anerkennung der Rechtmäßigkeit ihrer Forderungen. Aufbauend auf den affektiven Intensitäten der Wut und der Hoffnung verstehe ich den Protest dieser Mütter als Anerkennungskampf, über den diese mit ihren Forderungen performativ sicht- und hörbar wurden. In diesem Sinne kann der hier skizzierte Protest gegen die nach ‚Herkunft getrennte Klasse‘ als ein act of citizenship bezeichnet werden. Die aufbegehrenden Mütter verhielten sich als citizens, die als Migrant*innen und Personen of Color unabhängig ihrer rechtlichen Status ihnen vorenthaltenes Recht einforderten (vgl. Isin 2009: 383). Das Konzept der acts of citizenship beinhaltet hierbei ein zutiefst aktivistisches Verständnis von citizenship. Indem die Mütter sich öffentlichkeitswirksam durch ihren Protest gegen die ,Klasseneinteilung nach Herkunft‘ zu Wehr setzten und mit ihrem Anliegen die Öffentlichkeit erreichten, widersetzten sie sich dem ihnen seitens der Schule und den Gruppenanmeldungseltern zugesprochenen Habitus, der sie als ‚bildungsfern‘ und nicht an Schule interessiert charakterisierte. Allerdings brachen die protestierenden Mütter mit ihrem Akt nicht einfach mit bestehenden Verhältnissen, sondern „[gingen] auch von diesen aus[…], indem sie auf bestimmte Dis-
1.7 Perspektive der Widerständigkeit und des Konflikts
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kurse, Praxisformen oder Ressourcen sowie widerständige Wahrnehmungs- und Handlungsweisen zurückgreifen“ (Köster-Eiserfunke/Reichhold/Schwiertz 2014: 190; vgl. Isin 2008: 38) konnten. Berücksichtigen möchte ich hierbei aber auch, dass die Proteste und das Aufbegehren gegen diskriminierende Verhältnisse sich unter Umständen nachteilig auf die betroffenen Kinder auswirken können. Die mit dem Protest verbundenen Schwierigkeiten, Hürden und Ambivalenzen greife ich daher in Unterkapitel 8.2 wieder auf. Bevor ich aber nun anhand meines konkreten Forschungsmaterials die neuralgischen Punkte des Übergangsbereichs von der Kita zur Grundschule genauer diskutiere, stelle ich im folgenden Kapitel zuerst die in dieser Arbeit zum Tragen kommenden Methoden und die Methodologie vor.
2
Den Übergang von Kita zu Grundschule erforschen
Das Forschungsdesign entwickelt sich im Verlauf des Forschungsprozesses – diese Erkenntnis ist nicht neu, wird in abgeschlossenen Ethnografien aber doch nur selten als Prozess bzw. als Weg nachgezeichnet, den die Forschenden in einem Feld finden, das sie selbst in ihrer Forschung erst entwerfen (vgl. Keller-Drescher 2003: 24). Auch ich möchte diesen verschlungenen und unübersichtlichen Etappen meines Promotionsprojekts keine ausführliche Darstellung widmen, sie jedoch kurz offenlegen. Denn jede meiner Entscheidungen hinsichtlich der Fragestellung sowie meine eigene Subjektivität und mein situierter Blick haben mein Feld definiert, abgegrenzt, erweitert oder verschoben. Und auch wenn mich im Prozess der Entstehung der vorliegenden Arbeit selten jemand fragte, wieso sich denn schon wieder etwas an meinem Projekt geändert habe (vgl. dies. 2012: 163), so ist die Frage keineswegs irrelevant, warum die vorliegende Arbeit nun, am Endpunkt der „Promotion als Prozess“ (Bürkert u. a. 2012), so geworden ist, wie sie nun vorliegt, auch wenn ich doch mit einem anderen Konzept die Arbeit begonnen habe (vgl. Keller-Drescher 2012: 163). In diesem Kapitel zeichne ich zuerst nach, wie mein Feldzugang und meine anfangs auf die soziale Formation der in Kreuzberg ansässigen P rimel-Kita zugeschnittene Forschung verliefen (2.1). Mit dem Fokus auf einen organisatorisch klar umrissenen Bereich wie dem einer einzelnen Kita ließen sich jedoch nicht alle Forschungsfragen beantworten, die mich letztlich interessierten. Dies machte es erforderlich, meine Forschung über die Institution der Kita hinaus auf verschiedene Ebenen auszuweiten mit dem Ergebnis, dass ich nunmehr Assemblagen des Rassismus an verschiedenen neuralgischen Punkten im Übergang von der Kita zur Grundschule in den Blick genommen habe (2.2). Das Ausmaß der menschlichen Beziehungsnetzwerke wurde dabei maßgeblich durch meine Forschungsgegenüber mitgestaltet (2.3), wobei meine Forschung in der Folge zum Teil kollaborative Züge annahm; die Chancen, Herausforderungen und Grenzen dieses Ansatzes © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Dean, Bildung – Heterogenität – Sprache, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30856-8_2
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2 Den Übergang von Kita zu Grundschule erforschen
diskutiere ich im daran anschließenden Unterkapitel 2.4. Dann gehe ich auf die Schattenseiten ethnografischer Forschung im Modus des unternehmerischen Selbst ein (2.5). Im Zusammenhang mit dem interdisziplinären Charakter der Arbeit gehe ich zudem auf das Ethnografieren von Differenz- und Ungleichheitsverhältnissen in der Erziehungswissenschaft ein (2.6). In den abschließenden beiden Unterkapiteln analysiere ich weitere, eher spezifische methodische Aspekte, die meine Zugänge, Praktiken und Perspektiven maßgeblich geprägt haben: Ich zeichne meinen Umgang mit Bezeichnungspraxen nach (2.7) und befasse mich mit der stark weiblich geprägten Sphäre des Übergangs von der Kita zur Grundschule und frage nach damit verbundenen möglichen Implikationen für meine Forschung (2.8).
2.1 Feldzugänge 2.1.1 Feldforschung in der Berlin-Kreuzberger Primel Kita Den „Zugang zum Feld“ sowie damit verbundene Schwierigkeiten und Ängste zu reflektieren, ist fester Bestandteil vieler kulturanthropologischer Studien und auch ich habe meinen Forschungseinstieg in der Anfangsphase meiner Promotion immer wieder überdacht und neu justiert (vgl. Dean 2012). Als ich mit meiner Forschung begann, war ich mir zunächst lediglich darüber im Klaren, „irgendetwas“ zu rassistischer Diskriminierung im Kontext von Kita sowie dem Übergang zur Grundschule erforschen zu wollen.1 Im Frühjahr 2011 begann ich daher mit meiner ethnografischen Forschung in der konkreten s ozial-räumlichen Formation der Kreuzberger Primel-Kita,2 wobei sich der Forschungseinstieg nicht ganz unproblematisch darstellte.3
1Meine
ursprüngliche Idee, kindliche Lebenswelten und die Rezeption und Aneignung rassialisierter Botschaften durch Kinder zu untersuchen, habe ich sehr schnell aufgegeben, weswegen ich diesen Gedanken hier nicht weiter ausführe. 2Die Erforschung abgegrenzter sozialer Formationen ist in der Erziehungswissenschaft, aber auch in der Kulturanthropologie/Europäischen Ethnologie ein weit verbreitetes Vorgehen. Die Europäische Ethnologin Brigitta Schmidt-Lauber (2007b: 228) schlägt bspw. vor, neben sozialen Gruppen oder Milieus organisatorisch klar umrissene Bereiche wie Unternehmen oder Institutionen als mögliche Forschungsfelder in den Blick zu nehmen. 3Die hier folgenden Überlegungen zu meinem Forschungseinstieg basieren auf einer im Jahr 2012 veröffentlichten Reflexion meines Umgangs mit Quellen und Methoden bei der Ethnografie der Primel-Kita (vgl. Dean 2012).
2.1 Feldzugänge
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In den ersten beiden Wochen meines Aufenthalts in der dortigen Kita arbeiteten nur zwei der Erzieherinnen in der von insgesamt achtzehn Kindern besuchten Gruppe; die dritte Erzieherin war im Urlaub. In der Kita war keine Vertretung für ausfallende Erzieher*innen vorgesehen, der Personalschlüssel war somit eng bemessen. Die beiden Erzieherinnen hatten anfangs die Erwartung, ich könne sie entlasten, also zumindest teilweise einen Ersatz für die erkrankte Erzieherin bieten. Doch in der ersten Woche in der Kita war ich damit beschäftigt, anzukommen und mich zu orientieren. Den Erzieherinnen war ich also keine große Hilfe. In dieser Zeit nahm ich die beiden Erzieherinnen als angespannt wahr, den in der Kita herrschenden Ton empfand ich als ruppig. Anweisungen an die Kinder äußerten die Erzieherinnen in einem – in meinen Ohren – scharfen Ton und eine Nichtbefolgung führte zu – in meinen Augen – beschämenden Konsequenzen. Einige Male musste sich ein Junge auf einen Stuhl abseits der anderen setzen, ein anderes Mal wies eine Erzieherin zwei Mädchen und einen Jungen an, sich vor einem Stuhl auf dem Boden niederzulassen, die Hände ruhig auf die Sitzfläche des Stuhls zu legen und auf diese Weise eine „Auszeit“ zu nehmen. Angesichts dieser wie auch anderer erzieherischer Maßnahmen entwickelte ich so nach kurzer Zeit die von Rolf Lindner beschriebene „Angst des Forschers vor dem Feld“ (Lindner 1981: 54), was sich bei mir in einer inneren Abwehr dagegen äußerte, morgens die Kita zu betreten. Ausgelöst wurde die Angst vor dem Feld insbesondere durch meine Kritik am Verhalten der Erzieherinnen. Die Konflikte zwischen diesen und den Kindern beobachtete ich angespannt und wartete in den ruhigen Phasen bereits auf die nächste Eskalation. Gegen Ende meiner dritten Woche in der Kita baten mich die drei Erzieherinnen der Gruppe um ein gemeinsames Gespräch, in dem sie mein bisheriges Verhalten in Konfliktsituationen kritisierten und anwiesen, mich bei Konflikten zwischen Erzieherinnen und Kind/ern zurückzuhalten und die Konfliktparteien den Streit unter sich lösen zu lassen. Zudem solle ich nicht selbst den Kindern Anweisungen geben, denn diese widersprächen teilweise den Vorstellungen der Erzieherinnen, die in ihrem Team eine gemeinsame erzieherische Praxis erarbeitet hätten. Am besten sei es, wenn ich bei Konflikten an die Erzieherinnen verwiese oder diese zur Hilfe holte. Ihre Kritik konnte ich nachvollziehen und annehmen, denn tatsächlich kam die geforderte Zurückhaltung meinem eigenen Selbstverständnis als mich vorsichtig ins Feld einfühlende teilnehmende Beobachterin näher. Die Erzieherin Julia Weiß äußerte zudem Enttäuschung darüber, dass mein Aufenthalt die Erzieherinnen in ihrer Arbeit nicht entlaste, indem ich einzelne Kinder zur Seite nähme und mit ihnen (pädagogisch) arbeitete. Meine Erfahrung hatte jedoch gezeigt, dass ich
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2 Den Übergang von Kita zu Grundschule erforschen
mich im Feld der Kita nicht in der Lage sah, auf die hier notwendige direktive Art und Weise die Kinder anzuleiten, was ich den Erzieherinnen auch so zurückmeldete. Allerdings sei ich weiterhin bereit, kleinere Aufgaben zu übernehmen, bspw. nach dem Mittagessen Geschichten vorzulesen, ein Bewegungsangebot anzuleiten oder bei kleineren Ausflügen als zusätzliche Aufpasserin zu fungieren, die die Kinder im Blick behält. Damit knüpfte ich (ohne es zu wissen oder gar zu planen) an eine Rolle an, die die Erzieherinnen kannten und die ihnen plausibel erschien: die einer Praktikantin, die unwissend in die Gruppe kommt und bereit ist, sich in die Arbeit von Erzieherinnen einführen zu lassen und von ihnen zu lernen (vgl. Schmidt-Lauber 2007b: 230).4 Im gemeinsamen Gespräch zeigte sich, dass mich die Erzieherinnen genauso beobachtet hatten wie ich sie. Bei der Forschungssituation handelte es sich also um eine gleichwertige und gegenseitige Kommunikation (vgl. Lindner 1981: 62). Und es wurde deutlich, dass in diesem Feld „Menschen von unterschiedlichem kulturellem und sozialem Hintergrund“ (ebd.: 59) aufeinandertrafen. Die Erzieherinnen hatten mich dem „Sozialtyp“ Forscherin/Akademikerin zugeordnet und machten im Klärungsgespräch ihre Sicht von mir als überheblich deutlich, da ich ihr Verhalten in Konflikten kritisierte, wie auch als in praktischer Hinsicht unfähig, da ich nicht in der Lage war, die Kinder anzuleiten. Die Kritik der Erzieherinnen erwies sich als hilfreich, denn in den Tagen nach dem klärenden Gespräch bemerkte ich zunächst, dass Konflikte zwischen einer Erzieherin und einem Kind gerade durch meine starre Fokussierung ein besonderes Gewicht bekommen hatten. Die umgebenden Kinder hatten annehmen müssen, es handele sich bei dem Geschehen um etwas überaus Wichtiges und Bedeutsames und achteten nun ihrerseits darauf. Meine Fokussierung der Auseinandersetzungen hatte bei allen Parteien zu vermehrter Anspannung geführt und damit zu einer Eskalation der verkrampften Situation beigetragen. Zeigte ich mich dagegen unbeeindruckt und führte meine jeweilige Interaktion mit anderen Personen einfach weiter, liefen die Konflikte weniger heftig ab. Durch die bewusste Entscheidung, gedanklich bei den Situationen zu bleiben, auf die ich mich eigentlich gerade konzentrierte, hatte ich den Kopf frei für die Wahrnehmung anderer, einfühlender und liebevoller Situationen der
4Irene
Götz hat in ihrer Forschung in einer Münchner Großbäckerei die Rolle des „Hofnarren“ erprobt, mit der es ihr möglich war, als Außenstehende „dumme“ Fragen zu stellen, Verhältnisse zu kritisieren und verschiedene Betätigungen auszuführen (vgl. Götz 1997: 54 f.). Die von ihr beschriebene Position ähnelt in ihren Befugnissen und ihrer Wirkung stark der der „Praktikantin“ in meinem Feld.
2.1 Feldzugänge
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Erzieherinnen mit den Kindern. Zudem wuchs mein Verständnis dafür, dass es in bestimmten Situationen wichtig war, Grenzen zu setzen. Diese Öffnung für vielfältige, widersprüchliche und unvorhergesehene Verhaltensweisen der Erzieherinnen war eine Vorbedingung dafür, die von den Erzieherinnen an mich herangetragene Rolle einer lernenden Praktikantin zu akzeptieren. Letztlich ermöglichte mir der Praktikant*innenstatus das Kennenlernen verschiedener Aufgaben. Obwohl es schwierig war, zur selben Zeit zu handeln und zu beobachten, war gerade das „Teilnehmen“ eine wichtige Erfahrung, durch die ich allmählich Verständnis für die Erzieherinnen und zunehmend Respekt vor ihrer Arbeit entwickelte. Rolf Lindner betont so auch: „Es liegt auf der Hand, daß jemand, der kommt um zu sehen, statt um zu handeln, bzw. für den Beobachtung = Handlung ist, eine andere Wahrnehmung hat, als diejenigen, die in der Situation als Handlungssystem sind.“ (ebd.: 63, Hervorheb. i. Orig.). Insgesamt war ich bestrebt, möglichst tief in die Beziehungsnetze des sozialen Organismus Kita einzutauchen und habe daher immer wieder einzelne Erzieherinnen in ihrem Alltag begleitet, um ihre Sichtweisen, Standpunkte und Erfahrungen kennenzulernen (vgl. Bendix/Kraul/Keßler 2010: 3). Auch an besonderen und außergewöhnlichen Ereignissen nahm ich teil: an der Faschingsfeier, der Abschlussfeier für die Vorschulkinder, dem Sommerfest, einem Tagesausflug mit anschließender Kita-Übernachtung oder Einladungen von Eltern(-teilen) an die ganze Gruppe, bei ihnen zu Hause zu frühstücken. Retrospektiv betrachtet erhielt ich als Praktikantin vielfältige Eindrücke vom sozialen Organismus Kita. Durch meine zunehmende Offenheit für diese Erfahrungen – die meine anfängliche Angst vor dem Feld verhindert hatte – war ich nun in der Lage, meine Forschungsfragen nach und nach weiterzuentwickeln und zu präzisieren. Beim Reflektieren und Sortieren meiner Feldtagebuchnotizen entwickelte ich ein besonderes Interesse am Umgang der Erzieher*innen der Primel-Kita mit Mehrsprachigkeit und Praktiken der „Sprachförderung“, die einige der mehrsprachigen Kinder betrafen. Hier nahm ich eine große Vielfalt an ambivalenten, widersprüchlichen Praktiken und Verhaltensweisen wahr, die geprägt und durchdrungen waren durch rechtliche Vorgaben, starke gesellschaftliche Diskurse und pädagogische Grundüberzeugungen (vgl. Kapitel 4). Um die diesbezüglichen Praktiken der Erzieher*innen besser einordnen zu können und sich von ihnen in ihren eigenen Worten beschreiben zu lassen, führte ich gegen Ende meiner Forschungsphase und im Anschluss daran leitfadengestützte Interviews mit den drei Erzieherinnen der Gruppe, einem bei vielen Elternteilen sehr geschätzten Erzieher einer anderen Gruppe sowie mit der KitaLeiterin. Hier wollte ich u. a. wissen, wie die Erzieher*innen den „interkulturellen“ Ansatz der Einrichtung verstanden und deuteten und wie sie diesbezüglich mit
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2 Den Übergang von Kita zu Grundschule erforschen
dem Spannungsfeld von Betonen und Vergessen der Kategorien ‚Migrations‘- und ‚Sprachhintergrund‘ der Kinder im Kita-Alltag umgingen. Hätte ich mich für die vorliegende Studie auf meine insgesamt fünf Monate dauernde Forschung im Kontext dieser einen Kita beschränkt, hätte ich mit Sicherheit genug Material gehabt, um eine Institutionenethnographie (vgl. exemplarisch Götz 1997) zu verfassen. Zudem wurden in den vergangenen Jahren auch in der Erziehungswissenschaft und in verwandten Disziplinen eine ganze Anzahl von Studien realisiert, die nach der Hervorbringung von Differenz und/oder Diskriminierung im Kontext von Kita fragen, und an die ich hätte konzeptionell mit meiner Forschung in der Primel-Kita anknüpfen können. So haben sich in jüngerer Zeit verschiedene Autor*innen mit sprachlicher und/oder migrationsbezogener Diskriminierung in Einrichtungen der frühkindlichen Erziehung befasst (vgl. Neumann/ Seele 2014; Seele 2015; Thomauske 2015, 2017a, 2017b). Melanie Kuhn (2013) hat sich daneben mit migrationspädagogischer Professionalität im Kindergarten befasst. An diese Arbeiten anschließend hätte ich also den Umgang der Erzieherinnen mit Geschlechterrollen analysieren können. Neben gendersensiblen Materialien, bspw. Bilderbüchern – u. a. eines, das festgefügte Klischees von Männerund Frauenberufen konterkarierte – oder Mädchen ermutigenden Kinderliedern vom GRIPS-Theater, zeigten insbesondere zwei der Erzieherinnen der Gruppe ein ausgeprägtes Bewusstsein für das Thema. Zudem hätte ich eine intersektional informierte Studie zu den Ambivalenzen und Widersprüchen der (Nicht-)Thematisierung von Differenz schreiben können und die erzieherischen Praktiken hinsichtlich rassistischer, klassistischer, ableistischer und/oder genderbezogener Zuschreibungen und Anrufungen untersuchen können. Nicht zuletzt hätte ich auch den Fokus auf adultistische5 Praktiken der Erzieherinnen legen können. Denn an einigen der erzieherischen Maßnahmen ebenso wie an einzelnen Äußerungen der Erzieherinnen zu den Kindern und in Gegenwart der Kinder über diese, die ich als verletzend und tendenziell abwertend empfand, änderte das ‚Übersehen‘ der Konflikte nichts.6
5Unter
Adultismus verstehe ich diejenigen ungleichen Machtverhältnisse zwischen Erwachsenen und Kindern, in denen Kinder allein zu dem Zweck bevormundet und benachteiligt werden, dass Erwachsene ihren höheren Status behalten können. Adultismus beginnt „[…] bei der Art und Weise in der wir mit Kindern sprechen, schließt zahlreiche unbegründete Selbstbestimmungs- und Freiheitseinschränkungen ein und gipfelt in physischer Gewalt gegenüber Kindern“ (Ritz 2008: 47). 6Adultistisches Verhalten der Erzieherinnen äußerte sich sowohl auf einer impliziten, subtilen als auch auf einer direkten, offeneren Ebene. Es muss jedoch der Hinweis genügen, dass ich solche Praktiken wahrgenommen habe, da ich der Kita nach meiner Forschungsphase zugesichert habe, keine weiteren diesbezüglich von mir zu
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2.1.2 Mental Maps und Kiezspaziergänge Zum Ende meiner Forschungsphase in der Primel-Kita bezog ich auch die Elternteile, deren Kind die Einrichtung besuchte, verstärkt in meine Untersuchung mit ein. Neben den schon zuvor regelmäßig geführten Gesprächen bei den Bringund Abholsituationen fanden mit vierzehn Müttern und zwei Vätern Interviews statt, die ich um Methoden ergänzte, die alltagspraktische, teilweise aber auch unbewusste Orientierungen offenlegen sollten. So ließ ich die Mütter und Väter Soziogramme zu den von ihnen empfundenen Beziehungsgeflechten innerhalb der Kita anfertigen: einmal zwischen den Kindern und einmal zwischen den Eltern. Hier ging es mir darum, festzustellen, wer seitens der Elternteile mit welchen anderen Müttern und Vätern Kontakt hat und wer wen überhaupt wahrnimmt. In einer mental map sollten die Elternteile zudem räumliche Bezüge und ihre jeweiligen Relevanzen und Bedeutungen für sich und ihre Kinder darstellen und die als wichtig empfundenen (eventuell transnationalen) Orte in- und außerhalb Berlins aufzeichnen. Das mental mapping zeigt das „subjektiv empfundene Abbild eines Lebensraumes“ (Meister 2004: 149). Es lässt damit indirekt Rückschlüsse auf die jeweiligen Wahrnehmungs- und Klassifikationssysteme zu, so dass „Umwelt-Aneignung, Umwelt-Deutung und Umwelt-Ordnung“ (Hengartner 2002: 7 f.) erkennbar werden. Auch die Ausweitung der Interviewsituation auf informelle Gespräche während eines „Kiezspaziergangs“ empfand ich als sehr sinnvoll, um weitere Perspektiven auf das Handeln und Empfinden der Personen zu erfahren. Nicht alle Mütter und Väter hatten die Zeit oder Muße, einen derartigen Spaziergang mit mir zu machen, jedoch konnte ich feststellen, dass die Interviews, bei denen die Elternteile sich auf einen „Kiezspaziergang“ einließen, mir die facettenreichsten Einblicke in ihr Alltagsleben boten. Der Stadtrundgang ermöglichte es, sich von direkten sinnlichen Eindrücken leiten zu lassen (vgl. Meister 2004: 149); die Elternteile zeigten mir, wo sie gerne mit ihrem Kind verweilen und welche Orte, Straßen oder Kreuzungen sie möglichst meiden. Zudem fotografierten sie diejenigen Orte in ihrem Kiez, die für sie das Berlin ausmachen, das sie mit ihrem Kind teilen. Auf diese Weise wollte ich erfahren, wie die
kritisierenden Situationsbeschreibungen zu veröffentlichen – auch dies sprach gegen eine Analyse adultistischer Praktiken. Diese Zusicherung gab ich, nachdem ich der Einrichtung aus Gründen der Transparenz einen Artikel zu meinem Feldzugang vorgelegt hatte, der bei den Erzieher*innen auf Unverständnis gestoßen war (vgl. Dean 2012).
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2 Den Übergang von Kita zu Grundschule erforschen
Elternteile Berlin und besonders den Kiez, in dem sie wohnen, wahrnehmen und erfahren. Hier, wo es um das Erfassen von Bezügen und Netzwerken innerhalb des lokalen Mikrokosmos der Primel-Kita und den alltagsweltlichen – berlinweiten ebenso wie (trans-)nationalen – Raumbezügen der Familien ging, war mein Vorgehen geprägt von stadtanthropologischen Ansätzen. Diese erachten die Stadt als ein Laboratorium sozialer Interaktionen oder wie es Ulf Hannerz ausdrückt: „The city is a piece of territory where much human interaction is crammed in.“ (Hannerz 1980: 305). ‚Stadt‘ ist dabei weniger ein „vorfindbarer, empirischer Raum […], sondern […] ein von konkurrierenden Bedeutungen und Praktiken hergestellter Raum der Interaktion“ (Kleinen/ Kühn 2015: 8). Bezüglich neben-, aber auch miteinander existierenden Ansätzen der (kulturanthropologischen) Stadtforschung führte Ulf Hannerz die Unterscheidung ein zwischen Studien, denen die Stadt als locus und denjenigen, denen sie als focus dient. Er forderte, die seit den 1960er Jahren in den USA dominierende Forschung in Städten, die exemplarisch Fragen von Armut oder (rassistischer) Ausgrenzung untersuchte, der die Stadt also als locus diente, zunehmend um solche Studien zu ergänzen, die das typisch Urbane von Städten in den Fokus nahmen, denen die Stadt also der focus war (vgl. Hannerz 1980: 3 f.). Johannes Moser und Sabine Eggmann differenzieren diese Klassifikation weiter aus und unterscheiden drei idealtypische stadtanthropologische Ansätze (vgl. Moser/ Egger 2013: 183 ff.): Neben Arbeiten, die das Spezifische konkreter Städte untersuchen,7 nennen sie Zugänge, die das spezifisch Urbane in den Blick nehmen,8 sowie Ansätze, denen die Stadt als Ort der Untersuchung dient (vgl. ebd.: 180– 186). Letzterer der Ansätze steht in der Tradition der „Chicago School of Urban Sociology“ (vgl. Thrasher 2013 [1927]; Wirth 1982 [1928]; Zorbaugh 1983 [1929]) und strebt ein möglichst erfahrungsnahes ethnographisches Vorgehen an.
7Zur
theoretischen Grundlegung dieses Ansatzes zählen u. a. die Studien von Martyn Lee (1997) und Rolf Lindner (2003) zum spezifischen Habitus von Städten sowie die Arbeiten von Helmuth Berking und Martina Löw zur „Eigenlogik von Städten“ (vgl. Berking/Löw 2008). 8Hierzu gehören Klassifikationen verschiedener Stadtformen; neben der von Max Weber entworfenen „Typologie von Städten“ (Weber 1980 [1922]) zählen hierzu in jüngerer Zeit auch die Analyse von world cities (Hannerz 1993) bzw. global cities (Sassen 1996, 2001).
2.1 Feldzugänge
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Gisela Welz zeichnet demgegenüber in ihrer Studie „Street life“ aus dem Jahr 1991 ein alternatives Vorgehen nach, um aus dem Dilemma zwischen locus und focus hinauszukommen. „Die Wahl eines räumlich und sozial überschaubaren Raumes“ hat zum Ziel, dass der Raum und die darin agierenden Akteur*innengruppen „in Abhängigkeit von und Wechselwirkung mit viel größeren Einheiten begriffen und als Indikatoren von Wandelprozessen benutzt [werden].“ (Welz 1991: 447). Auf diese Weise kann „nach kulturellen Praxen als Indikatoren sozialer Asymmetrie“ (ebd.: 457) gefragt werden, wobei Welz mit Rückgriff auf den „practice approach“ der US-amerikanischen Kulturanthropologie insbesondere benachteiligte Gruppen in den Blick nimmt (vgl. ebd.). In Bezug auf meine Forschung im Kontext der Primel-Kita sah dies anders aus: Hier traf ich mehrheitlich – hinsichtlich rassistischer und klassistischer Differenzmarkierungen – privilegierte Gruppen von Eltern an. Diese schlossen sich teilweise zur Durchsetzung ihrer Interessen in Elterninitiativen zusammen und traten auf diese Weise als Gruppe den Grundschulen in ihrer Nachbarschaft selbstbewusst mit eigenen Forderungen und Ansprüchen gegenüber (vgl. Kapitel 6). Aber auch aus diesem Blickwinkel auf privilegierte Gruppen konnte ich Zugehörigkeiten und Ausschlüssen nachspüren, die auf gesellschaftliche Asymmetrien verweisen. Insofern bot der von Welz geschilderte Zugang für meine Forschung im Umfeld der Primel-Kita vielfältige Ansatzpunkte, um meinem Interesse an den lokalen Auseinandersetzungen im Übergang von der Kita zur Schule nachzuspüren. Sabine Hess fordert – in Anlehnung an Beate Binder (Binder 2009) – in vergleichbarer Weise, Grenzziehungsprozesse im städtischen Raum in den Mittelpunkt der Analyse zu rücken. Das bedeute in der Konsequenz, „symbolische[], politische[] und kulturelle[] Konstitutionsprozesse[] urbaner Zugehörigkeit genauer zu beforschen“ (Hess 2015: 15). Auf diese Weise sei es möglich, „unsere ganz basalen Vorstellungen und Artikulationen von Urbanität als intersektional umkämpftes Terrain zu rekonzeptualisieren.“ (ebd.). Während ich zunächst ausschließlich im Kontext der lokal abgrenzten Formation der Primel-Kita durch Eltern und Erzieher*innen getragene Zugehörigkeiten und Ausschlüsse untersuchte, stellte sich schlussendlich die Frage nach urbanen Machtverhältnissen und Ungleichheiten ebenso wie nach Zugehörigkeiten und Ausschlüssen für meinen gesamten Forschungsansatz als überaus relevant dar, insofern es mir nunmehr um Diskriminierungsroutinen sowie ihre Herausforderung bei unterschiedlichen Akteur*innengruppen – insbesondere Eltern, Erzieher*innen und Lehrkräften – geht.
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2 Den Übergang von Kita zu Grundschule erforschen
2.2 Ausweitung der Forschung Der ‚Gründungsvater der Feldforschung‘, Bronislaw Malinowski, erachtete ethnografische Forschung als eine Methode, um den Mentalitäten, Wirklichkeitszusammenhängen und dem sozialen Handeln ‚fremder Kulturen‘ nahe zu kommen. Er war bestrebt, zum einen konkrete Daten über die auf diese Weise erforschte Gruppe zu erheben und zum anderen über die Nähe, Anwesenheit, Interaktion und Kommunikation mit ‚Gewährsleuten‘ die Gruppe als Ganzes besser verstehen zu können und diese möglichst präzise und dicht zu beschreiben (vgl. Malinowski 2001: 45). Das Malinowskische Forschungsparadigma, das auf einem eng gefassten Analysefokus auf einzelne „Orte von Dauer“ (Schmidt-Lauber 2009) und auf als fremd wahrgenommene soziale Gruppen und Milieus basiert, war für die historische Herausbildung der ethnologischen Disziplinen zentral (vgl. Berg/Fuchs 1999: 24–43; Hess/Schwertl 2013: 15). Bis heute orientiert sich dem Anthropologen George Marcus zufolge das Methodenverständnis in der Sozial- und Kulturanthropologie – trotz neuerer Ansätze und Impulse seit den 1980er Jahren – zumeist am Ideal eines fixierten Ortes als einem konkreten Forschungsfeld der teilnehmenden Beobachtung (vgl. Marcus/Hess/ Schwertl 2013: 310 f.). Auch in der erziehungswissenschaftlichen Ethnografie wird das Feld in der Regel an Orten lokalisiert gedacht (vgl. Neumann 2012: 61). Daher dominiert ein Fokus auf konkrete Institutionen oder Akteur*innengruppen: Bspw. konzentriert sich die überwiegende Mehrzahl der Studien in der bildungs- und erziehungswissenschaftlichen Diskussion und Forschung zu Kita und Grundschule auf einzelne (oder einige wenige) Institutionen (vgl. exemplarisch Breidenstein/ Menzel/Rademacher 2013; Kuhn 2013; Neumann/Seele 2014; Schumann 2014; Seele 2015; Wiesemann/Schreyer 2008) oder auf die Perspektive von Eltern (vgl. exemplarisch Ball/Nikita 2014; Ball/Vincent 1998; Forsey/Davies/Walford 2008; Krüger/Roch/Breidenstein; Vincent u. a. 2012). Insgesamt birgt der Fokus auf abgegrenzte soziokulturelle Formationen die Gefahr eines methodischen Holismus als der Vorstellung, die erforschten Gruppen und Milieus als Ganzes erforschen zu wollen und als „in sich abgeschlossene Wirklichkeit“ (Malinowski 1986: 93) zu behandeln (vgl. Berg/Fuchs 1999: 34 f.). Im Verlauf meiner Forschung in der Primel-Kita zeigte sich für mich jedoch immer deutlicher, dass diese keine „in sich abgeschlossene Wirklichkeit“ (Malinowski 1986: 93) darstellte, denn schließlich wiesen zu viele Verbindungslinien über die Kita hinaus: Bspw. bezogen sich die Erzieher*innen, die Kita-Leiterin und die meisten Eltern regelmäßig auf den omnipräsenten und defizitorientierten Diskurs um die Kategorie „nichtdeutsche Herkunftssprache“,
2.2 Ausweitung der Forschung
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der auch im Grundschulkontext, auf der Ebene der Verwaltung und in politischen und medialen Debatten seine Wirkung entfaltet. Meine Unzufriedenheit mit dem starren Fokus auf die singuläre Institution der Primel-Kita und dem tendenziell konservativ geprägten Methodenkanon der Kulturanthropologie (vgl. Marcus/Hess/Schwertl 2013: 310) führte dazu, dass ich verstärkt nach alternativen disziplinären Ansätzen zu suchen begann, die das traditionelle Konzept von Feldforschung einer kritischen Revision unterziehen. Hierbei gab es eine ganze Anzahl neuerer methodischer Ansätze in der Kulturanthropologie, auf die ich mich beziehen konnte und die deutlich machen, wie ethnografisches Forschen auch aussehen kann (vgl. Riedner 2018: 50). Zu diesen neueren methodologischen Ansätzen können u. a. Forschungen gezählt werden, die ihren Fokus weg vom klassischen studying down hin zu einer Eliten- und Expertenforschung im Sinne eines studying up bzw. research up (Nader 1969) richten. Und auch das studying through (Shore/Whright 1997b: 14) als einem Forschen in Netzwerken und Beziehungen ist hier zu nennen. Daneben verfolgen andere Studien wiederum die Absicht, klar umrissene Lokalisierungen zu überwinden bzw. das Lokale in Abhängigkeit von globalen Prozessen im Sinne einer global ethnography (Burawoy 2000) zu analysieren. Forschungspraktisch hat George Marcus das Konzept der multi-sited ethnography entwickelt; er schlägt vor, den Forschungsgegenständen zu folgen, also den Menschen, Dingen, Metaphern, Handlungen, den Geschichten bzw. Allegorien, den Lebensdaten bzw. Biografien sowie nicht zuletzt den Konflikten (vgl. Marcus 1995: 106–110).9 Darüber hinaus gibt es auch vereinzelt Ansätze in der Erziehungswissenschaft, die den klassischen Feldbegriff problematisieren. Sascha Neumann (2012) stellt bspw. Überlegungen an, wie der naturalistische Feldbegriff – im Sinne eines konkret lokalisierbaren ethnografischen Feldes des Pädagogischen – vom konstruktivistischen Feldbegriff der Bourdieuschen Feldtheorie profitieren kann. In meiner Forschung habe ich mich – diesen Kritiken entsprechend – entschieden, dem Fokus auf das Lokale, auf das klar umrissene und räumlich abgegrenzte „single-sited“-Feld der Primel-Kita weitere – bei weitem nicht nur räumliche – Facetten hinzuzufügen. Letztlich stellte die Primel-Kita den Ausgangspunkt meiner Forschung dar; von ihr ausgehend habe ich diverse Diskriminierungsdynamiken im Übergang zur Grundschule auf unterschiedlichen
9In
diesem Zusammenhang kann auch Gisela Welz genannt werden, die von „moving targets“ (Welz 1998) spricht, während Sabine Hess, die „travelling not dwelling“ (Hess 2005: 26) fordert, das Reisen als produktiven Forschungsmodus einbringt.
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Ebenen – oder scales (vgl. Marcus 1995) – untersucht. Die Bedeutung meiner intensiven Feldforschungsphase für die Forschung möchte ich damit allerdings nicht schmälern. Schließlich habe ich in der Primel-Kita durch meine lange Anwesenheit und Involviertheit vielfältige und tiefgehende Einblicke gewonnen, die mir die Analyse sprachbezogener Praktiken der Erzieherinnen sowie der Steuerungspraktiken hinsichtlich der Zusammensetzung der Kita-Gruppen erlaubten. Mit der Ausweitung meiner Forschung bot sich mir die Möglichkeit, wie Lisa Riedner betont, eine Forschungsperspektive und -praxis zu entwickeln, die „ihr Feld soweit erweitert, dass sie ohne Zweifel niemals alles erfassen kann“ (vgl. Riedner 2018: 51). Auf diese Weise kann sichtbar gemacht werden, dass ethnografische Repräsentation immer konstruiert ist – Produkt der kreativen Entscheidungen der Forschenden, die Verbindungen folgen und neue knüpfen, bruchstückhaft wahrnehmen, von ihren eigenen Vorannahmen, Interessen und Begehren geleitet. Aus der Kritik der Ethnografie und besonders des Feldbegriffs zu lernen, bedeutet also mehr, als an mehreren Orten […] zu forschen. (ebd.)
In diesem Sinne entwickelte sich mein Forschungsdesign im Prozess der Forschung selbst, in einem produktiven Wechsel zwischen Theorie und Empirie (vgl. Hirschauer 2008; Fortun 2009). Ich konnte somit also nicht einfach von einem verräumlichten und bereits vorab lokalisierten ‚Feld‘ ausgehen, sondern habe vielmehr dieses in meiner Forschungs- und Wissenspraxis erst mit konstruiert. Demnach haben meine Entscheidungen hinsichtlich der Fragestellung sowie meine eigene Subjektivität und mein situierter Blick mein ‚Feld‘ definiert, abgegrenzt, erweitert oder verschoben (vgl. Dean 2012: 53).
2.2.1 Vom Feld zur Assemblage10 Wenn die Frage nach dem ‚Feld‘ nicht mehr allein in dessen räumlicher Lokalisierbarkeit zu suchen ist, ergeben sich hierüber methodologische Verknüpfungen zwischen ethnographischer Praxis und Assemblage-Theorien. Hierbei sind in den letzten Jahrzehnten in der Kulturanthropologie eine ganze Reihe an methodologischen Ansätzen entwickelt oder aufgegriffen worden, die
10Die Überschrift dieses Unterkapitels ist einer von Sabine Hess und Maria Schwertl verfassten Methodenreflexion kulturanthropologischer Forschung entnommen (vgl. Hess/ Schwertl 2013).
2.2 Ausweitung der Forschung
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sich auf das ontologisch-methodologische Konzept der Assemblage (vgl. Ong/ Collier 2005; Schwertl 2015) – also auf netzwerkartige Bezüge des Regierens – beziehen. Dazu zählen die Ansätze der Anthropology of Policy (vgl. Shore/Wright 1997; Shore/Wright/Però 2011) und der Actor-Network-Theory (vgl. Latour 2005), die beide die Aushandlungen und die Prozesshaftigkeit von Politik in den Vordergrund rücken. Die Anthropology of Policy denkt unterschiedliche Handlungsebenen und Referenzsysteme wie institutionelle Praktiken mit politischem und lebensweltlichem Handeln von Individuen zusammen. Übertragen auf ein „empirisches Forschungsprogramm“ im Sinne einer Anthropology of Policy ergibt sich daraus, dass die Topografie des ethnografischen (Forschungs-)Feldes durch die assemblageartigen Beziehungen zwischen Orten und Institutionen, Individuen und materiellen Formen, Praktiken und Diskursen, Objekten und symbolischen Bedeutungen bestimmt wird, die sich im Rahmen des Konstituierungs- und Wirkungsprozesses einer Policy entwickeln. (Adam/Vonderau 2014: 19)
Eine Anthropologie des Politischen geht von einem Forschungsfeld aus, das „sich […] aus der Gesamtheit der Akteure und Aktanten zusammen[setzt], die über die Potentiale oder ‚Kapitalien‘ verfügen, innerhalb des Aushandlungsraums einer Policy ‚Effekte‘ zu erzielen.“ (ebd.). In Bezug auf meine Forschung möchte ich allerdings nicht behaupten, alle Akteur*innen und Aktanten in meiner Forschung berücksichtigt zu haben, die das Policy-Feld des Übergangs von der Kita zur Grundschule prägen. Aufgrund der großen Anzahl an Forschungssituationen, Interviews und Akteur*innen habe ich darauf verzichtet, die für die Erfassung dieses Policy-Feldes sehr relevante Ebene der (Schul- und Bildungs-)Verwaltung in Berlin zu untersuchen. Ebenfalls in jüngerer Zeit viel diskutiert ist der Ansatz der ethnografischen Regimeanalyse, der sich auf das Konzept des Regimes bezieht. Der RegimeBegriff stellt eine Reaktion dar auf aktuelle Transformationen von Macht und Regieren im Sinne des „Foucault’sche[n] Versuch[s] einer generellen Dezentrierung [des] Machtverständnisses“ (Hess/Kasparek/Schwertl 2018: 260). Regime sind komplexe Gebilde, die „vielfach überdeterminiert“ (Tsianos 2010) sind und, durch vielfältig wirkende Machtbeziehungen durchzogen, sich ständig in Bewegung befinden. Dabei ist „das Verhältnis von staatlicher Kontrolle und den Aktivitäten der Migrant_innen“ im Regimeansatz „nicht als SubjektObjekt-Verhältnis konzipiert“; vielmehr wird „die ‚Regularisierung‘ sozialer Verhältnisse“ – in den Worten Vassilis Tsianosʼ – „als Resultat sozialer Aus-
48
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einandersetzungen begriffen, die in immer wieder zu erneuernden (oder umzuwerfenden) institutionellen Kompromissen münden“ (ebd.).11 In vergleichbarer Weise verstehe ich Macht als Bezeichnung für eine „komplexe strategische Situation in einer Gesellschaft“ (Foucault 1983: 113 f.), die auf das Handeln der Subjekte nicht nur reglementierend, sondern auch ermöglichend wirkt. Eine solche Perspektive – bei der die gesellschaftlichen Individuen und Gruppen die Art und Weise ihres Subjektseins zwar nicht frei wählen, denen sie jedoch auch nicht einfach unterworfen sind –, macht auch eine analytische Fokussierung ‚kritischer Handlungsmacht‘ der Subjekte erforderlich, wobei wiederum die Annahme des relationalen Charakters von Macht eine „isolierende Analyse von ‚reinen‘ Machtpolen“ bzw. eine eindimensionale Gegenüberstellung von Macht und Widerstand verunmöglicht (vgl. Saar 2007: 210). Das hier skizzierte Foucaultsche Machtverständnis ist für meine Analyse von Praktiken, Diskursen, Aushandlungsprozessen und Subjektivierungen im Feld von Schule, Migration und Rassismus hilfreich: Ich frage, wie solche veränderten Formen des Regierens/Regiertwerdens im Übergang zur Grundschule wirksam werden. Mit der ethnografischen Regimeanalyse wird das Ziel verfolgt, „eine Vielzahl von Akteuren und Diskursen miteinzubeziehen, deren Praktiken sich aufeinander beziehen, jedoch nicht im Sinne einer zentralen (systemischen) Logik oder Rationalität, sondern im Sinne eines Aushandlungsraums“ (Hess/Tsianos 2010: 253). Sich verfestigende Praktiken bilden so (zeitweise) Regime, wobei ihre Konstituierung und Verstetigung (wie auch ihre Destabilisierung) konflikthaft und in Aushandlungsprozessen verläuft. Maria Schwertl zufolge bedeutet „ein Regime zu beforschen […] nicht allein Staat und Politik zu analysieren, sondern ein dezentraleres, multiskalares, das heißt netzwerkartigeres Regieren/Regiertwerden, welches sich in Aushandlungen vollzieht“ (Schwertl 2013: 108) in den Blick zu nehmen. Auch wenn die ethnografische Regimeanalyse in weiten Teilen der Anthropology of Policy folgt (vgl. Gutekunst/Schwertl 2018: 91), so besteht doch ein zentraler Unterschied zwischen beiden Konzepten darin, „dass die Anthropology of Policy zwar das doing policy, also die Prozesshaftigkeit und Aushandlungen, hervorzuheben vermag, dabei aber immer wieder das Forschen
11Der Regime-Begriff steht dem Konzept des Dispositivs nahe. In einem Dispositiv verbinden sich Michel Foucault zufolge Machttechnologien, die sich aus diskursiven und nichtdiskursiven Praktiken und Materialitäten sowie ihrem Verhältnis zueinander zusammensetzen (vgl. Lemke 1997: 137).
2.2 Ausweitung der Forschung
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aus der Politik heraus verlorengeht“ (ebd.: 89, Hervorheb. i. Orig.).12 Als einen weiteren Vorteil erachten es Miriam Gutekunst und Maria Schwertl zudem, dass die ethnografische Regimeanalyse die Frage der Positionierung der Forschenden in und zu ihrem Feld in die Anthropologie des Politischen hineintragen könne (vgl. ebd.: 89). Das hier geforderte „Forschen aus der Politik heraus“ im Sinne intervenierender Ansätze wie der engaged anthropology (vgl. exemplarisch Binder u. a. 2013; Low/Merry 2010; Riedner 2018; Smith 1999) oder der activist research (vgl. exemplarisch Casas-Cortés 2009; Hale 2008) spielt in der vorliegenden Studie jedoch im Gegensatz zur ethnografischen Regimeanalyse kaum eine Rolle.
2.2.2 Der Übergang von Kita zu Grundschule als Aushandlungsraum Stark am Forschungsprogramm der ethnografischen Regimeanalyse orientiert war dagegen mein methodisches Vorgehen. Sabine Hess und Vassilis Tsianos zufolge ist die ethnografische Regimeanalyse durch einen „heuristischen Methodenmix“ gekennzeichnet, „bestehend aus einer ‚symptomatischen Diskursanalyse‘, ethnografischer teilnehmender Beobachtung und Gesprächen an verschiedenen Orten sowie verschiedenen Formen von fokussierten Interviews“ (Hess/Tsianos 2010: 253). Um das Aushandlungsfeld der rassistischen Dynamiken im Übergangsbereich von Kita zu Grundschule und die darin interagierenden Praktiken und materiellen und diskursiven Strukturen zu erfassen, habe ich in einem Zeitraum von insgesamt vier Jahren (2011–2015) neben der Primel-Kita auch bei „Tagen der offenen Tür“ an Grundschulen, auf Spielplätzen, in einem Elterncafé und bei öffentlichen Veranstaltungen teilnehmend geforscht.13 Außerdem habe ich – die Forschung in der Primel-Kita eingeschlossen – 36 qualitative, halbstrukturierte Interviews mit – insbesondere hinsichtlich Rassismus und Klassismus –
12Auch
Beate Binder bemängelt, die Anthropologie des Politischen reflektiere nur unzureichend normative Strukturierungen wie Geschlecht und Sexualität (vgl. Binder 2014). 13Hierbei habe ich jeweils zeitnah Notizen zu den Veranstaltungen und damit auch zu den Aussagen einzelner Beteiligter gemacht. Auch wenn es sich möglicherweise nur um eine sinngemäße Wiedergabe dieser Aussagen handelt, sind die Zitate sehr nah an den tatsächlich gesprochenen Worten, weshalb ich sie wie transkribierte Originaltöne behandelt habe (vgl. Niess 2018: 132).
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unterschiedlich positionierten Eltern, mit Erzieher*innen, Schulleitungen, Lokalpolitiker*innen sowie mit Jurist*innen und Aktivist*innen aus dem Antidiskriminierungsbereich geführt. Daneben habe ich mediale und politische Diskurse sowie deren Leerstellen und Verschiebungen ebenso wie anderes diskursives Material, bspw. policy-paper auf Bezirks-, Stadt- und Bundesebene, zusammengetragen und im Sinne einer „symptomatischen Diskursanalyse“ (ebd.: 252 f.) untersucht. Mit diesem Vorgehen konnte ich eine Vielzahl an Diskursen und Praktiken im Zusammenhang mit dem Übergang von der Kita zur Grundschule (und ihren potenziell diskriminierenden Effekten) in meine Forschung einbeziehen. Die chronologische Reihenfolge, in der ich meine Forschung auf verschiedene Ebenen und Kontexte sukzessive ausweitete, und die Gliederung der vorliegenden Arbeit verhalten sich dabei weitgehend analog zueinander. Forschungspraktisch folgte ich dabei zuerst den elterlichen Problematisierungen, mit denen ich bereits in der Primel-Kita zu tun gehabt hatte. Die Mehrzahl der Eltern und insbesondere viele der Mütter äußerten zudem – stark affektiv aufgeladene – Ängste und Sorgen die zukünftige Schule des Kindes betreffend. Das weckte in mir den Wunsch, diese Spur aktiv weiterzuverfolgen und weitere Elternteile zu ihrem Umgang mit dem anstehenden Schulbesuch ihres Kindes zu befragen, die mit der Primel-Kita nichts oder zumindest nur mittelbar zu tun hatten. Ihr Umgang mit dem Thema Schule kann als ein „regime of living“ (Collier/Lakoff 2005: 23) bezeichnet werden, also als tentative and situated configuration of normative, technical, and political elements that are brought into alignment in situations that present ethical problems – that is, situations in which the question of how to live is at stake. (ebd.)
Die hier angesprochenen Eltern verstanden sich mehrheitlich als links oder linksliberal. Als – zumeist – Akademiker*innen reflektierten sie sich selbst und ihre Handlungen stark an ethisch-moralischen Grundsätzen – an „regimes of living“ (ebd.). Dabei changierten sie zwischen ihrem normativen Ideal eines ,multikulturellen‘ Zusammenlebens (vgl. Unterkapitel 5.1) und ihren Ängsten vor eben diesem bzw. davor, ihr Kind könne mit einem solchen nicht zurechtkommen oder würde dadurch in der Schule Nachteile erleiden (vgl. Unterkapitel 5.2 und 5.3). Gerade bei Eltern, deren Handeln als Elterninitiative zur gemeinsamen Einschulung diskriminierende Verhältnisse an der Schule des Kindes nach sich gezogen hatte, führte dies häufig zu inneren Dilemmata und Zerrissenheit (vgl. Kapitel 6).
2.3 Grenzen des Forschens in Beziehungen
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Während ich der Spur der Initiativen zur gemeinsamen Einschulung von Kindern folgte, erfuhr ich von einem Konflikt um eine nach ‚Herkunft getrennte Klasse‘, die infolge einer – von einer Elterninitiative angestoßenen – Gruppenanmeldung von Kindern erfolgt war. Hier knüpfte ich Kontakte zu Anwält*innen und zu Unterstützer*innen der protestierenden Eltern sowie zu Lokalpolitiker*innen, die den Konflikt moderierend begleiteten (vgl. Kapitel 8). Durch die Ausweitung der Forschung auf diese verschiedenen Ebenen und Aspekte wurde es möglich, den Übergang von der Kita zur Grundschule an einzelnen, von mir als relevant gesetzten, neuralgischen Punkten zu untersuchen.
2.3 Grenzen des Forschens in Beziehungen Wenn die Frage danach, welche Konnektivitäten ich in meiner Forschung herstellen konnte, entscheidend ist für die Konstitution des Feldes (vgl. Hess/ Schwertl 2013: 32), wo lagen dann Grenzen und Beschränkungen dieser Verbindungen und insbesondere der menschlichen Beziehungsnetzwerke, die ich knüpfen konnte? Anfang 2014 bekam ich eine Mail des im Antidiskriminierungsbereich tätigen Anwalts Carsten Ilius: „Es tut mir leid, der Vater hat sich nicht mehr gemeldet, ich möchte auch nicht drängen. Ich fürchte, es wird nichts mit diesem Interview. Das ist sehr schade.“ Zuvor hatte ich ihn gebeten, meine Interviewanfrage an Eltern weiterzuleiten, die er juristisch in schulischen Diskriminierungsfällen beriet. Dabei interessierte ich mich für einen Konflikt an der Kreuzberger Narzissen-Grundschule, von dem ich erst im Nachhinein erfahren hatte (vgl. Kapitel 8). Ich hatte zwar bereits mit verschiedenen in den Konflikt involvierten Akteur*innen gesprochen, aber noch mit keiner der protestierenden Mütter. Auch über eine andere Anwältin, Maryam Haschemi Yekani, sowie über Meral El, die vor einigen Jahren für die Open Society Justice Initiative14 ein internes Gutachten zu segregierten Klassen in Berlin verfasste und hierüber auf den Konflikt an der Narzissen-Grundschule aufmerksam geworden war, hatte ich keinen Kontakt zu den protestierenden Müttern knüpfen können. Während Maryam Haschemi Yekani den Protest an der Narzissen-Grundschule nur aus der Ferne begleitet hatte, hatte Meral El ihn direkt unterstützt und stand auch nach
14Die
Open Society Justice Initiative ist Teil der Open Society Foundations, einer Gruppe von Stiftungen, die vom US-amerikanischen Milliardär George Soros gegründet wurden und global aktiv sind (vgl. Open Society Foundations o. J.).
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2 Den Übergang von Kita zu Grundschule erforschen
dem Konflikt weiterhin in Kontakt mit den aufbegehrenden Müttern. Letztere hatten ihr zufolge jedoch kein Interesse, mit mir oder mit anderen Wissenschaftler*innen und Journalist*innen zu sprechen, da der dortige Konflikt emotional so aufwühlend und belastend gewesen sei, dass die protestierenden Mütter diese Phase hinter sich lassen wollten. Da ich Verständnis hatte für ihre Begründung und demgemäß auch für die Situation dieser Mütter, hakte ich nun – ebenso wie später Carsten Ilius gegenüber dem von ihm angefragten Vater – bei Meral El vermutlich weniger intensiv nach als bei anderen meiner (Interview-)Kontakte. Auf meine zögernden Nachfragen hin vertröstete mich Meral El dann auch jedes Mal auf einen späteren Zeitpunkt, zu dem es eventuell besser passen könnte. Letztlich ergab sich über Meral El kein Kontakt zu den protestierenden Müttern. Indem ich Meral El, Carsten Ilius und Maryam Haschemi Yekani bat, meine Interview-Anfragen weiterzuleiten, beabsichtigte ich, den Konflikt an der Kreuzberger Narzissen-Grundschule auch aus der Sicht der negativ betroffenen Mütter an der Schule nachvollziehen zu können. Im Sinne repräsentationskritischer Ansätze sowie des Konzepts der Rassismuskritik war mein Anspruch, „im Sprechen über Machtverhältnisse […] die Perspektiven und Stimmen derjenigen, die in einer besonderen Weise negativ von diesen Verhältnissen betroffen sind“ (Mecheril/Melter 2009: 15), zu Wort kommen zu lassen. Ich wollte also nicht allein über oder für diese Mütter sprechen, sondern mit ihnen. Dieses Bestreben, weder Wissen über die ‚Anderen‘ zu produzieren, noch für die ,Anderen‘ zu sprechen, sondern in einen dialogischen und kollaborativen Austausch mit ihnen zu treten, bezeichnen Sarah Corona Berkin und Olaf Kaltmeier als eine Voraussetzung für „dekolonialisierte Methodologien“ (Kaltmeier/Berkin 2012b: 7). Die Autor*innen beabsichtigen, Ansätze aufzuzeigen, mit denen „der Forschungsprozess von der Planung des Forschungsdesigns über die Annäherung an das Feld und die Erhebungstechniken bis hin zur textuellen Repräsentation egalitärer und dialogischer gestaltet werden kann“ (ebd.: 8). Daher möchten sie die Trennung zwischen der „Theorie als abstrakte[r], reine[r] und universelle[r] Form des Wissens“ (ebd.: 9) einerseits und der Praxis als den von den Forschenden erhobenen Daten andererseits als Ausdruck „eines wissenschaftlichen Eurozentrismus“ überwinden: Diese Trennung führt zu einer Abwertung des Wissens des Anderen, der auf den Status eines Informanten, der Hilfsarbeiten für die meisterliche Wissensproduktion des Wissenschaftlers ausführt, reduziert wird. Lokales Wissen wird als Hilfswissen der universellen Wissenschaft untergeordnet. Dialogische Methoden hingegen müssen darauf abzielen, das Wissen des Anderen anzuerkennen und in der eigenen,
2.3 Grenzen des Forschens in Beziehungen
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westlichen Hierarchie des Wissens aufzuwerten. Damit wird der Forschungsprozess und die Produktion von Wissen auch als politischer Akt verstanden, der normativ darauf abzielt, ein besseres (Zusammen-)Leben zu ermöglichen. (ebd.)
Das hier beschriebene Anliegen teilte ich in meiner Forschung. Allerdings scheiterte ich zu diesem Zeitpunkt mit meinem Wunsch, mit den Eltern zu sprechen, die an der Narzissen-Grundschule gegen die vorgenommene Klasseneinteilung protestiert hatten. Wenn der Anspruch dekolonialer Methodologien ist, im Forschungsprozess die Bedingungen von horizontalem Austausch und von Dialog mit dem Gegenüber beständig auszuhandeln (ebd.: 7), kann dann aber nicht auch die Weigerung der Eltern, mit mir über ihre Diskriminierung (und die ihrer Kinder) zu sprechen, als Ausdruck ihrer Agency verstanden werden? Ich denke ja. Als aktive, handelnde, reflektierende, Vor- und Nachteile abwägende Subjekte entschieden sie sich dagegen, mit ihren Diskriminierungserfahrungen zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung zu werden. Sie schenkten mir als einer unbekannten Forscherin – so meine Interpretation – nicht ohne Weiteres ihr Vertrauen. Vor dem Hintergrund meines Anspruchs, die (potenziellen) Verletzungen oder auch Traumata meiner Forschungsgegenüber ernst zu nehmen, war ich somit also gefordert, den Konflikt an der Narzissen-Grundschule ohne direkten Kontakt zu den diskriminierten Eltern nachzuzeichnen.15 Erst viel später, nachdem ich die dieser Studie zugrundeliegende Dissertation bereits eingereicht hatte, ergab sich durch Zufall der Kontakt zu Özlem Kaya, einer der protestierenden Mütter. Eine Kollegin von mir kannte Özlem Kaya über die Kita ihres Kindes und ermöglichte die vorsichtige Annäherung zwischen uns. Zuerst übermittelte ich einen von mir verfassten Artikel zu dem Konflikt (vgl. Dean im Erscheinen a), damit sie sich
15Ich
bin mir dessen bewusst, dass innerhalb repräsentationskritischer und dekolonialer Ansätze zum Teil die Position vertreten wird, ich hätte erst gar nicht zu diesem Thema forschen sollen, wenn ich nicht mit den von Diskriminierung betroffenen Eltern gesprochen habe. Diese Position vertrete ich nicht. Vielmehr stimme ich mit den postkolonialen Theoretikerinnen María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan überein, die sich gegen die Vorstellung einer „naiven Repräsentation“ wenden: „Poststrukturalistische Ansätze haben das Feld der Repräsentation in eine Krise gebracht. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Repräsentation nun unmöglich ist, sondern vielmehr bedeutet es, Repräsentationen als eine Praxis zu lesen, welche das Repräsentierte erst schafft.“ (Castro Varela/Dhawan 2003: 276). Dem folgend handelt es sich bei meiner Darstellung des Konflikts um eine Repräsentation, die nicht neutral oder objektiv, sondern durch meinen eigenen Blick und meine Situierung geprägt ist.
54
2 Den Übergang von Kita zu Grundschule erforschen
einen Eindruck von meiner Arbeit und meinen Zugängen machen konnte. Nachdem sie den Artikel gelesen hatte, erklärte sie sich zu einem Gespräch bereit. Als es schließlich im Sommer 2019 zu einem Interview kam, betonte Özlem Kaya jedoch mehrmals, dass sie auch weiterhin nicht mit allen Wissenschaftler*innen respektive Journalist*innen reden wolle. Mit mir spreche sie nur, da sie sich in der Darstellung des Konflikts in meinem Artikel wiederfinden könne und sie zu mir als einer Bekannten ihrer Freundin Vertrauen hätte (vgl. Interview 1-2019). Während an der Narzissen-Grundschule weder die Schulleiterin noch (zunächst) die protestierenden Mütter zu einem Gespräch mit mir bereit waren, sah dies bei einem weiteren Konflikt an einer anderen Grundschule, der Rosen-Grundschule in Neukölln, ganz anders aus (vgl. Unterkapitel 8.1). Hier bekam ich bei einem „Tag der offenen Tür“ völlig unproblematisch Kontakt zu allen in den dortigen Konflikt um Elternbeteiligung involvierten Eltern. Auch mit der Schulleiterin konnte ich einen Interviewtermin vereinbaren und führte mit ihr einige Zeit später ein ausführliches Gespräch. Vielleicht war die Kontaktaufnahme hier einfacher, weil ich alle Personen direkt ansprach, weil der Konflikt zum Zeitpunkt meiner Anfrage noch schwelte, weil die negativ betroffenen Eltern sich dort weiterhin aktiv zur Wehr setzten und/oder weil die Schulleiterin sich diskriminierungskritisch äußerte. Die Gründe hierfür lassen sich letztlich jedoch nicht mehr feststellen, so dass ich auf Mutmaßungen angewiesen bleibe. Insgesamt zeigte sich in meiner Forschung, dass der Umfang meiner Beziehungsnetzwerke bzw. menschlichen Konnektivitäten in direkter Weise von meinen Forschungsgegenübern mitgestaltet und damit erweitert oder auch begrenzt wurde. Mein Feld konstituierte sich demgemäß nur zum Teil durch meine aktive Konstruktion und die Verbindungen, die ich praxeologisch zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren, Netzwerken und Diskursen herstellen konnte. Maßgeblich an der Gestaltung meines Feldes beteiligt waren auch meine Forschungsgegenüber. Gerade wenn es um Vertrauen ging, darum, dass mir völlig unbekannte Personen – ohne mich vorher jemals gesehen zu haben – sehr persönliche Geschichten und Erlebnisse anvertrauten, waren es daher nicht nur meine eigenen Möglichkeiten und Ideen des konstruktivistischen In-Beziehung-Setzens, sondern ganz zentral die Agency meiner Forschungs gegenüber, die hier entscheidend waren.
2.4 Zwischen Kollaboration und Kritik
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2.4 Zwischen Kollaboration und Kritik Im Zuge der Writing-Culture-Debatte und der damit verbundenen „Krise der Repräsentation“ in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre und während der 1990er Jahre gerieten Wissenspraktiken in der ethnografischen Feldforschung, die auf paternalistische Weise den Gegenstand ihrer Forschung konstruieren und beschreiben, zunehmend in die Kritik (vgl. Knecht/Welz 1992; Tyler 1987; Berg/ Fuchs 1999).16 Stattdessen kam es zu einer intensivierten „Suche nach Reziprozität und [einer] ethisch motivierte[n] Kritik an einer von ungleichen Machtverhältnissen durchzogenen Forschungssituation“ (Färber 2009b: 193). Forscher*innen sind nunmehr gefragt, andere Beziehungen zu den Forschungsgegenübern aufzubauen, die in einem stärker kollaborativen Verhältnis (vgl. exemplarisch Holmes/ Marcus 2005a, 2005b, 2008) angesiedelt sind. Der hier formulierte Anspruch an eine reziproke(re) ethnografische Forschung spielte im Kontext der Kreuzberger Primel-Kita bei mir zunächst keine zentrale Rolle. Jedoch sprach ich nach Möglichkeit in Gesprächen oder Interviews die Themenbereiche, Aussagen oder Situationen an, die ich zuvor in teilnehmenden Beobachtungen als potenziell diskriminierend empfunden oder durch die ich mich irritiert gefühlt hatte. Auf diese Weise wollte ich den jeweiligen Akteur*innen keine eigenen Vor- oder auch Fehlannahmen überstülpen und trotzdem in der Interpretation nahe an ihren eigenen Idiomen bleiben. Im Folgenden stelle ich exemplarisch mein Vorgehen anhand des Interviews mit der Erzieherin Sonja Maier und einem darauffolgenden Gespräch mit ihr vor. In der Interviewsituation griff ich eine Bezeichnung auf, die Sonja Maier zuvor im Gespräch verwendet hatte – die „ausländischen“ Kinder: i: #00:08:38-0# Und du hattest ja schon die, (…), wie du meintest, „ausländischen“ Kinder angesprochen, oder (…) die Kinder nicht-deutscher Herkunftssprache? b: #00:08:46-5# Ja, korrekt (sarkastischer Tonfall) i: #00:08:47-8# ja, korrekt. b: #00:08:48-4# (lacht leise) politisch korrekt (lacht lauter).
16An
die Writing-Culture-Debatte anschließend haben sowohl feministische (vgl. Stacey 1988) als auch postkolonial orientierte Arbeiten (vgl. Restrepp/Escobar 2005) aufgezeigt, wie kulturanthropologische Wissenspraktiken zu paternalistischen und kolonialistischen Konstruktionen des ‚Eigenen‘ und des ‚Anderen‘ beigetragen haben und wie diese Otheringprozesse im Forschungsprozess zum Teil auch noch bis heute weitergeführt werden (vgl. Rabinow 2004: 196; vgl. auch Hess/Schwertl 2013: 23 ff.; Riedner 2018: 49).
56
2 Den Übergang von Kita zu Grundschule erforschen i: #00:08:50-6# ja, politisch korrekt heißt es inzwischen so, genau. Und in der Kita sind ja schon so ungefähr 50 oder 60 Prozent (…) Kinder nicht-deutscher Herkunftssprache? b überlappend: #00:08:58-3# Ja, so in etwa, ja, genau. (…) Also (…) oder mit einem ausländischen Elternteil, ne, also, hmh. i: #00:09:06-8# Hat das irgendwie einen Einfluss auf deine Arbeit? Gehst du da in einer bestimmten Weise mit um? b: #00:09:12-7# Ja auch da muss ich halt die Unterschiedlichkeiten der verschiedenen Menschen wahrnehmen. Also dabei geht es eigentlich wieder mehr um die wirklichen verschiedenen Menschen, nicht unbedingt um die Nationalität.
Sonja Maier hatte im und vor dem Interview mehrmals die Kategorie „ausländische Kinder“ eingeführt und zugleich auf Herausforderungen für ihre Arbeit durch Mehrsprachigkeit bzw. insbesondere Kinder, die in ihren Familien kein Deutsch sprächen, hingewiesen. Doch nahm sie in dieser Interviewsituation eine von mir vermutete Gleichsetzung der beiden Kategorien vor?17 Schließlich hatte ich hier selbst die Kategorie „nichtdeutsche Herkunftssprache“ mit den „ausländischen“ Kindern in der Kitagruppe synonym verwendetet. Angenommen hatte ich dabei, Sonja Maier setze die beiden Kategorien in eins. Nach dem Interview war ich mir dessen nicht mehr so sicher. Ein paar Tage später fragte ich sie daher, was für sie „ausländische“ Kinder kennzeichnete. Zentral für Sonja Maier war, dass diese in ihren Familien kein Deutsch sprächen und ihr Sprachniveau des Deutschen gering sei (vgl. Feldtagebuch, 23.06.2011). Mit der Kategorie „nichtdeutscher Herkunftssprache“ setzte sie „ausländische Kinder“ jedoch trotzdem nicht vollständig gleich. Vielmehr verstand sie unter Kindern „nichtdeutscher Herkunftssprache“ diejenigen Kinder, die in ihrer Familie auch (zum Teil in einem geringen Umfang) eine andere Sprache als Deutsch sprachen. Sonja Maiers weites Verständnis von Herkunftssprachen richtete sich also auf die jeweilige Kompetenz, die ein Kind in zwei oder mehr Sprachen besaß, die eines „ausländischen Kindes“ auf die wahrgenommenen Defizite in der deutschen Sprache. An diesem Beispiel wird deutlich, wie sinnvoll, wenn nicht sogar notwendig sich das Zurückspiegeln meiner Vorannahmen an meine Forschungspartner*innen darstellte, da ich so der Gefahr, ihre sozialen Kategorisierungen durch meine Vor- oder auch Fehlannahmen gefiltert zu interpretieren, ein Stück weit begegnen konnte.
17Ihr
sarkastischer Tonfall beim Hinweis, es handele sich bei der Kategorie „nichtdeutsche Herkunftssprache“ um eine ‚politisch korrekte‘ Bezeichnung, könnte hier auch auf eine bewusste Grenzüberschreitung hinweisen, die sie mir als Forscherin gegenüber als einer im Feld zum Teil sehr sprachsensibel agierenden Akademikerin vornahm.
2.4 Zwischen Kollaboration und Kritik
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2.4.1 Paraethnografie In gewisser Weise hatte ich bereits im Kontext der Primel-Kita – über das Zurückspiegeln von Vorannahmen hinaus – mit den Erzieherinnen kollaborativ zusammengearbeitet: Ich hatte ihre herausfordernden Tätigkeiten kennengelernt und an ihren alltäglichen Aktivitäten teilgenommen. Eine kollaborativ orientierte Forschungshaltung gewann jedoch nach Abschluss meiner dortigen Forschungsphase an Gewicht. Bezüglich eines kollaborativen Vorgehens stellt die Kulturanthropologin Michi Knecht fest, dass „[n]icht nur Repräsentation […] das Metier der Ethnographie [ist]. Beobachten und Teilnehmen, Beschreiben und Erklären sind die Modi des kollaborativen In-der-Welt-Seins, die die Welt mit hervorbringt, während sie erforscht wird.“ (Knecht 2012: 267, Hervorheb. i. Orig.). Nunmehr kennzeichnete meine Forschung nicht mehr allein das klassische Ideal einer Feldforschung – das Eintauchen als Fremde*r in die Alltagswelten der Forschungssubjekte und das allmähliche Vertrauen-Aufbauen (vgl. ebd.). Vielmehr trat ich nun mit vielen der Eltern aus Gruppenanmeldungen in einen aktiven Austausch über ihre Weltsichten und ihre inneren Dilemmata und reflektierte mit ihnen gemeinsam ihr widersprüchliches Handeln: Die Interviews dienten damit häufig als Reflexionsanlass bezüglich der eigenen Praxis des Gruppenzusammenschlusses, der Verhandlungen mit den Schulen oder der gegen die Eltern gerichteten Diskriminierungsvorwürfe. Für meine Forschung bedeutete Kollaboration darüber hinaus, dass ich mit vielen meiner Interview- und Forschungspartner*innen das gemeinsame politische Anliegen teilte, rassistische und diskriminierende Verhältnisse (im Bildungskontext) abzubauen. Ich knüpfte Kontakte zu Anwält*innen und zu Unterstützer*innen der protestierenden Eltern sowie zu Lokalpolitiker*innen, die den Konflikt moderierend begleiteten. Diese Personen verfolgten eine politische Agenda und positionierten sich auf vergleichbare Weise wie ich im Bereich der Antidiskriminierungsarbeit. Politisch aktiv wurde ich in einem einjährigen partizipativen Projekt zu institutioneller (Mehrfach-)Diskriminierung in der Schule (vgl. Schule – Rassismus – Stadt 2015). Hier brachte ich Erfahrungen aus meiner Forschung ein und verfolgte dabei auch das Ziel, mit dem Projekt etwas an die Interviewten zurückzugeben. George Marcus (1997: 100) spricht darüber hinaus von einem gleichwertigen Verhältnis zwischen Forscher*in und Forschungsgegenüber, die situativ eine „komplizenhafte“ Zusammenarbeit zwischen beiden erfordere. Ein solches reziprokes Forschungsverhältnis habe u. a. dadurch an Relevanz gewonnen, dass die Forscher*innenperson mittlerweile häufig eine ähnliche
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Mittelschichtsidentität und damit auch vergleichbare Ängste und Diskurse wie ihre Forschungsgegenüber teile (vgl. ebd.).18 Was mit „komplizenhaft“ gemeint ist, erklärt George Marcus folgendermaßen: What complicity stands for as a central figure of fieldwork […] is an affinity, marking equivalence, between field-worker and informant. This affinity arises from their mutual curiosity and anxiety about their relationship to a „third“ – […] the specific sites elsewhere that affect their interactions and make them complicit (in relation to the influence of that „third“) in creating the bond that makes their fieldwork relationship effective. (ebd.)
Eine solche Beziehung zu einem gemeinsamen Dritten, auf das sich die Aufmerksamkeit richtet, trat in meiner Forschung immer wieder zutage. Im Gespräch mit Timo Brandt, einem Schulsozialarbeiter und Vater aus einer Gruppenanmeldung, hatte dieser den durch seine Gruppe zu verantwortenden Konflikt um eine nach ‚Herkunft getrennte Klasse‘ an der Schule seiner Tochter selbstkritisch rekapituliert. Er war sichtlich bemüht, keine vereinfachenden oder stigmatisierenden Zuschreibungen wie die durch Medienberichte eingebrachte Kategorisierung der protestierenden Mütter als ‚türkisch‘ oder ‚bildungsfern‘ zu verwenden. In einer Interviewpause, in der Timo Brandt in seiner Küche Kaffee kochte und wir uns freier und offener als in der direkten Interviewsituation unterhielten, fragte ich ihn, ob er als Schulsozialarbeiter davon ausgehe, dass die Zusammensetzung der Schüler*innen einen Einfluss auf das Klassenklima habe. Um mich zu präzisieren, fragte ich, ob er also eher das pädagogische Konzept und das Lehrer*innen-Team als entscheidend für ein gutes Klassenklima ansehe oder ob er, wie so viele andere der Eltern, mit denen ich gesprochen hatte, es als problematisch ansähe, wenn die Schulklasse von… und brach mitten im Satz ab. Mir fehlten die Worte, denn wie sonst als ‚bildungsfern‘ sollte ich hinsichtlich Bildungskapitalien benachteiligte Schüler*innen benennen? Mein offensichtliches Zögern griff Timo Brandt auf und meinte – durchaus etwas süffisant –, nun sei ich am Zug, eine treffende Bezeichnung zu finden, und nicht mehr länger nur er selbst. Der Fokus, der sich durch die Interviewsituation auf Timo Brandt als dem Erforschten richtete, wurde so unvermittelt umgedreht:
18Dies
führe verstärkt dazu, dass die Beziehung zwischen der forschenden Person auf der einen und dem*r Erforschten als epistemischem*r Partner*in auf der anderen Seite aufgeladen mit unausgesprochenen Machtverhältnissen sei; ihr Verhältnis könne daher weiterhin als überaus ambivalent gelten (vgl. Marcus 1997: 100).
2.4 Zwischen Kollaboration und Kritik
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Jetzt war ich diejenige, die beobachtet und analysiert wurde. In diesem Moment, als ich um die passenden Worte rang, wurde die Suche nach möglichst nicht stigmatisierenden und diskriminierenden Bezeichnungen zu unserem gemeinsamen Anliegen, unserem gemeinsamen Dritten. Schließlich entschied ich mich für die Bezeichnung „soziostrukturell benachteiligte Schüler*innen“, eine Formulierung, die Timo Brandt als angemessen akzeptierte. Nachdem ich mich selbst als diskriminierungskritisch und zugleich auch fragend und suchend hinsichtlich Benennungspraktiken positioniert hatte, erschien mir Timo Brandt in der zweiten Hälfte des Interviews wesentlich weniger zurückhaltend – es war nun deutlich geworden, dass wir ein ähnliches Interesse und Bestreben im Hinblick auf ein möglichst diskriminierungsfreies Sprechen und Handeln teilten. Für andere Schulwahl praktizierende Eltern dagegen erschien es völlig klar zu sein, dass es „Problemschulen“ oder „Brennpunktschulen“ mit einer ‚ungünstigen‘ Schüler*innenkomposition unbedingt zu vermeiden gelte. Dabei begründeten viele der Eltern nicht offen, warum sie manche Schulen als ‚gut‘, andere als ‚schlecht‘ wahrnahmen. Dies galt in besonderem Maß für rassialisierte Konstruktionen, die einige von ihnen als „flexible symbolische Ressource“19 (Scherschel 2006, 2009) zur Erklärung für vermeintliche „Problemschulen“ heranzogen. Möglicherweise setzten sie mit mir wie auch mit anderen Eltern, die sich selbst vor ähnliche Entscheidungen gestellt sahen, gemeinsam geteilte Wissensbestände voraus und gingen daher davon aus, dass sie lediglich in Andeutungen sprechen mussten, um von allen Beteiligten – mich eingeschlossen –,verstanden‘ zu werden. Immer wieder war ich mir unsicher, wie das gerade Gehörte (vielleicht) gemeint war. Vorsichtige Nachfragen meinerseits brachten mich allerdings meist nicht weiter. Die Mütter präzisierten sich nicht, sondern waren sehr darauf bedacht, sich selbst als weltoffen, liberal und reflektiert zu präsentieren. Eventuell nahmen sie die Frage auch als einen impliziten Vorwurf – vielleicht sogar als einen Rassismus- oder Diskriminierungsvorwurf – wahr und lenkten daher das Gespräch schnell in eine andere Richtung. Wie Sarah Ahmed aufzeigt, verweisen Emotionen und Affekte auf die jeweilige Positionalität und damit auf unterschiedliche Perspektiven und
19Karin
Scherschel bezeichnet Rassismus als eine flexible symbolische Ressource, da dieser „(re)produktive Funktionen für Prozesse der Individuation und Sozialisation erfüllt, d. h. Rassismus liefert Sinnangebote. […] Er stellt Individuen ein Interpretationsangebot bereit, soziale Welt mittels rassistischer Kategorien zu strukturieren und situativ die Ressource Rassismus in Anspruch zu nehmen.“ (Scherschel 2009: 125).
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Haltungen (vgl. Ahmed 2010: 37). In den Empfindungen der Schulwahl praktizierenden Mütter – Ängste, Befürchtungen und Abwehr – spiegelte sich ihr Wunsch, sich aus Sorge um das Wohl des eigenen Kindes ‚nach unten‘ abzugrenzen (vgl. van Zanten 2003: 109), in gewisser Weise kann dies als Ausdruck eines „responsible parenting“ (vgl. Davies/Aurini 2008: 66) gelesen werden. Im jeweiligen Moment der Forschung und auch darüber hinaus konnte ich das nachempfinden: Die Argumentationen erschienen mir einleuchtend und plausibel als notwendiger Schutz des Kindes vor einem schlechten Schulklima und/oder direktem Mobbing. Die Ängste dieser Mütter sprachen also etwas in mir an, oder vielmehr: Ich ließ mich von ihren Ängsten affizieren. Denn wie hätte ich an ihrer Stelle gehandelt? Vermutlich gar nicht so viel anders. Auch hier entstand eine Form der „Komplizenschaft“, die sich auf das gemeinsame Dritte der Suche nach einer Schule für das eigene Kind bezog, die dieses ohne Angst und mit Freude besuchen würde. Nichtsdestotrotz stand ich zugleich vielen der elterlichen Emotionen und Affekten aus einer diskriminierungskritischen Perspektive heraus kritisch und ablehnend gegenüber. Zumeist wurde mir dies aber nicht in der jeweiligen Forschungssituation bewusst, sondern erst viel später, in deren Analyse und Reflexion – erst dann merkte ich, wie durchwirkt die Aussagen dieser Mütter waren von machtgeladene Konstruktionen. In diesem Zusammenhang fordern Douglas Holmes und George Marcus, die Forschenden sollten die situierten Diskurse und die Idiome der Beforschten anerkennen, und folglich die Äußerungen der Beforschten weder kritisieren, noch moralisch verurteilen oder ihnen eine tiefere Bedeutung zusprechen (vgl. Holmes/ Marcus 2008: 84). Diesem Vorgehen entsprechend verfolgt der Kulturanthropologe Benjamin R. Teitelbaum (2017) in seiner Studie zur Rolle von Musik für die subkulturelle Neonaziszene Skandinaviens das Ziel, seine Protagonist*innen für sich sprechen zu lassen. So stellt er sein z. T. freundschaftliches Verhältnis und seine Zuneigung zu einigen der Akteur*innen dar und weist es in diesem Zusammenhang von sich, ihre Aussagen kritisieren oder „dämonisieren“ zu wollen (vgl. ebd.: 14). In der Konsequenz analysiert er zum Teil rassistische und neonazistische Narrative nicht, sondern lässt sie unkommentiert stehen (vgl. ebd.: 32 f., 129 f.). Gesagtes für sich stehen lassen, auch wenn es den eigenen Überzeugungen und Positionen – vielleicht sogar diametral – entgegensteht? Ein solches Vorgehen erzeugt in mir Unbehagen. Welchen Mehrwert könnte es haben, sich als Forschungsperson in der Textualisierung als möglichst ,neutral‘ zu generieren bzw.
2.4 Zwischen Kollaboration und Kritik
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keine Kritik zu üben?20 In der vorliegenden Studie bin ich vielmehr den Erziehungswissenschaftler*innen Bettina Fritsche und Anja Tervooren gefolgt, die neben einer prinzipiellen Offenheit gegenüber den Bedeutungszuschreibungen der erforschten Akteur*innen fordern, es gelte „[g]leichzeitig […] deren Typisierungen nicht einfach zu folgen und kritisch mit einer möglichen Reproduktion hegemonialer Verhältnisse in ihren Diskursen umzugehen“ (Fritsche/Tervooren 2012: 32).21 In diesem Sinne verstehe ich auch die Kulturanthropolog*innen Jenny Iling und Jens Schneider, die dafür plädieren, „das Potential des Kritisierens nicht anderen Disziplinen [zu] überlassen“ (Illing/Schneider : 302). Die Autor*innen zeichnen unter Rückgriff auf Rahel Jaeggis Habilitationsschrift „Kritik von Lebensformen“ (2014) ein kulturanthropologisches Forschungsprogramm, das darauf basiert, den Untersuchungsgegenstand mithilfe normativer Ansprüche zu beurteilen und als Forscher*in Position zu beziehen (vgl. Illing/Schneider: 300). Dabei sollen die für Kritik „notwendigen Normen nicht von außen angelegt, sondern dem Konzept einer begreifenden Kritik gemäß […] aus der historisch-kritischen Analyse der Lebensformen heraus entwickelt werden“ (ebd., Hervorheb. i. Orig.; vgl. Jaeggi 2014: 14). Kritik solle immer auch auf eine Veränderung hinarbeiten, sie brauche daher „einen Adressaten, die wenigstens prinzipielle Möglichkeit ihrer Umsetzung und einen Maßstab“ (ebd.: 134; vgl. Illing/Schneider : 300, Hervorheb. i. Orig.). Darüber hinaus solle Kritik objektiv sein in dem Sinne, dass „sie sich von der Sache her nahelegt und nicht bloß von der subjektiven kritischen Intention des Kritikers ausgeht“ (Jaeggi 2014: 279; vgl. Illing/Schneider : 301). Diesem Plädoyer für ein kulturanthropologisches Forschungsprogramm des Kritisierens entsprechend, bin ich dem oben skizzierten Vorgehen, Aussagen für sich stehen zu lassen, nicht zur Gänze gefolgt. In meiner Arbeit habe ich vielmehr die moralischen Dilemmata, die die Mütter (und Väter) in meiner Forschung umtrieben, verstehen und nachvollziehen wollen und zugleich aus einer
20Auch
wenn ich der Forschungshaltung der Paraethnografie nicht zur Gänze gefolgt bin, so ist es aus meiner Sicht bedeutsam, „sich auf das Wirklichkeitserleben Anderer einzulassen“ (Bonz 2016: 23) und anzuerkennen, wie tief alle Akteur*innen in ihre je spezifische Art des Denkens und Argumentierens verwurzelt sind. 21In diesem Sinne kann die vorliegende Studie auch eher als „dark anthropology“ – eine Studie soziostruktureller Ungleichheits- und Machtverhältnisse –, denn als „anthropology of the good“ oder als „anthropology of critique, resistance, and activism“ (Ortner 2016) verstanden werden.
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positionierten Perspektive heraus, wenn es mir geboten erschien, auf die diskriminierenden und rassistischen Implikationen von Handlungen oder Aussagen verwiesen. Häufig fühlte ich mich jedoch verunsichert, da ich zwischen Verständnis und Ablehnung mancher Aussagen schwankte. Diese Irritationen habe ich in Anlehnung an die ethnopsychoanalytische Forschungstradition (vgl. exemplarisch Devereux 1973; Erdheim 1988; Nadig 1986) als „in der Feldforschung erfahrene[ ] Erschütterungen der Identifikation des forschenden Subjekts“ (Bonz 2016: 24; vgl. auch Nadig 1986: 39) begriffen. Diese emotionalen Dynamiken stellen erstens eine Form der ,Übertragung‘ dar; sie können verstanden werden als „Bezeichnung für die Beziehungsformen, die dem forschenden Subjekt aus seiner Biografie zur Verfügung stehen und mit denen es die aktuellen Beziehungen zu Personen des Untersuchungsfeldes ausfüllt und gestaltet“ (Bonz 2016: 24). Neben den Übertragungen eigener biografischer Erfahrungen und innerer Konflikte gelten in der Ethnopsychoanalyse Irritationen auch im Sinne einer ,Gegenübertragung‘ als „subjektive Resonanz auf Erfahrungen im Untersuchungsfeld“ (ebd.: 26). Maya Nadig stellt in diesem Zusammenhang fest: Die sorgfältige und bewusste Handhabung der eigenen Gegenübertragungsreaktionen und Irritationen auf den Forschungsprozess ist ein Instrument, um einen unverstellten Zugang zur fremden Kultur, den Gesprächspartnern und deren Weise, die Wirklichkeit zu erleben, zu finden. (Nadig 1986: 39)
Gegenübertragungsreaktionen können also als Hinweis, oder auch als „intersubjektives Datum“ (Bonz 2016) aufgefasst werden, die es ermöglichen, Aussagen über die Charakteristiken des Untersuchungsfeldes zu treffen. Jedoch gehe ich anders als in der Ethnopsychoanalyse und mit repräsentationskritischen Ansätzen davon aus, dass es keinen direkten, also „unverstellten Zugang“ zum Erforschten geben kann, sondern die Darstellung desselben immer eine Repräsentation durch die forschende Person beinhaltet. Aus diesem Grund dient in meiner Forschung die Reflexion von Übertragung und Gegenübertragung im Forschungsprozess auch dazu, der Gefahr von Otheringprozessen in der Repräsentation des Erforschten entgegenzutreten. Das Spannungsfeld von Verständnis und Kritik, das sich nicht zuletzt aus meiner eigenen Positionalität als einerseits mittelschichtsangehörige, einen ähnlichen Habitus wie meine Forschungsgegenüber teilende, andererseits sowohl rassismuserfahrene als auch rassismus- und diskriminierungskritische Forscherin ergaben, galt es in meiner Studie also mitzudenken und auch als solche zu benennen. Hierbei ist es mir auch ein Anliegen zu betonen, dass meine Kritik an einzelnen Aussagen in der Absicht erfolgt, diskriminierende Verhältnisse
2.5 Die Schattenseiten ethnografischer Feldforschung
63
thematisierbar zu machen. Mein Ziel ist also durchgehend, keine individuelle Schuldzuweisung vorzunehmen, sondern dafür zu sensibilisieren, sich mit Diskriminierung zu befassen.
2.5 Die Schattenseiten ethnografischer Feldforschung Vor dem Hintergrund der unter 2.4 dargestellten Relevanz von Vertrauen in der ethnografischen Feldforschung, kann als ihre „methodisch-konzeptionelle Voraussetzung […] die Herstellung von Forschungssituationen, die von Nähe (zum Anderen) und von Empathie bestimmt sind“ (Färber 2009b: 179), gelten. Teilnehmende Beobachtung basiert darauf, sich als Forscher*in zu involvieren, nicht zwangsläufig im Sinne einer dezidiert aktiven Teilnahme, aber im Sinne eines Sich-Einlassens auf das Feld. Zentral ist dabei die Subjektivität der forschenden Person, die zugleich als ein Methodeninstrument gelten kann, denn im Zuge ihres „subjektiv ,ganzheitlichen‘ Involviert-Seins […] setzt die ethnografisch arbeitende Person sich ein, um später (u. a.) sich selbst auszuwerten“ (ebd.: 179 f.). Nicht zuletzt speisen sich also die Ergebnisse der Forschung aus den Beobachtungen, Erlebnissen und Wahrnehmungen der Forschungsperson. In diesem Zusammenhang hat Alexa Färber (2009a, 2009b) darauf hingewiesen, dass die Aspekte der Selbstverwirklichung und der Selbstausbeutung in der ethnografischen Feldforschungsarbeit eng miteinander verknüpft sind. Wie sehr sich das ethnografische Selbst und das unternehmerische Selbst gleichen, führt sie auf „die über Jahre zum Mythos gewordene ‚Charta‘ Malinowskis“ (Färber 2009b: 184) zurück. Diese stelle sich als „Dispositiv einer ‚Intensivierung der Arbeit‘ dar, die viele Bereiche der Wissensproduktion in kapitalistischen Gesellschaften erfasst hat. Die paradigmatisch werdende Konzeptualisierung ethnologischer Professionalität ist deshalb in meinen Augen kein historischer Sonderfall, der als fachspezifische und deshalb singuläre ‚Feldforschungsideologie‘ zu kritisieren wäre […]. Es handelt sich vielmehr um eine Wissenspraxis, die an solche ‚Techniken des Selbst‘ geknüpft ist, die sich auch in anderen Sphären beobachten lassen: Der Ethnograf wie auch der unternehmerische Akteur der Gegenwart begreift ‚sich selbst‘ als Ort der Produktion und Verwertung von Wissen. (ebd.: 184 f.)
Zu den Selbsttechniken, die unternehmerisches wie auch ethnografisches Selbst kennzeichnen, gehören Autonomie, Eigenverantwortung, Flexibilität, Kreativität sowie „[a]ls Kitt, der diese vielfachen Kompetenzen, vielschichtigen
64
2 Den Übergang von Kita zu Grundschule erforschen
Beziehungen und die das ,ganze Selbst‘ umfassenden Anforderungen zusammenhält, […] aufgewertete[] ‚soft skills‘“ (Färber 2009a: 181). Erst sie ermöglichen es, Emotionen schöpferisch zu verwerten, ein (potenzielles) Scheitern zu analysieren und Konflikte produktiv zu moderieren (vgl. ebd.). Ethnografische Feldforschung im Modus der intensivierten und subjektivierten Projektarbeit ist Alexa Färber zufolge zum einen durch die zunehmende Bedeutung eines teamförmigen und dialogischen Arbeitens mit den Forschungsgegenübern gekennzeichnet, wie ich es im vorhergehenden Unterkapitel 2.4 beschrieben habe, zum anderen durch eine qualitative Verdichtung von Zeit im Sinne einer Komprimierung von Arbeit und Auflösung der Trennung von Arbeit und Freizeit (vgl. ebd.: 185): Diese Art der Intensivierung drückt sich in einem Ethos aus, das den gesamten Alltag während der Feldforschung der Arbeitszeit „unterwirft“, weil beides Gegenstand einer zunächst holistisch (hinsichtlich des Forschungsfeldes) und später ganzheitlich (ein ethnografisches Selbst in den Blick nehmend) verstandenen Forschung wird. (Färber 2009b: 197)
Doch was passiert, wenn eine solche intensivierte Feldforschung nicht in dem hier beschriebenen Ausmaß möglich ist, wenn sich Forschende nicht (durchgehend) voll und ganz, also ganzheitlich, auf ihre Forschung einlassen und beschränken können – wenn also die Grenzen eines zumeist als grenzenlos (leistungs-)fähig imaginierten Forschungskörpers zutage treten? Hinsichtlich dieser Grenzen des Forschungskörpers spielen häufig soziale, vergeschlechtlichte und auch ableistische Ein- und Ausschlussmechanismen eine Rolle (vgl. ebd.: 201). Betroffen von diesen machtgeladenen Mechanismen können Forschende sein, die Care- und Sorgearbeiten übernehmen, also bspw. Angehörige pflegen, Elternzeit in Anspruch nehmen und/oder Kinder erziehen. In besonderem Maße müssen hier aber auch Forschende mit einer Behinderung22 oder einer chronischen Erkrankung, sei sie psychischer oder physischer Art, genannt werden. Ihre Lebenssituation kann unter Umständen nur schwer mit einer intensivierten Feldforschung kompatibel sein, sei es, weil die eigenen Grenzen der körperlichen und emotionalen Belastbarkeit erreicht werden oder weil die
22Ich
verstehe hierbei Behinderung nicht als eine faktisch gegeben und medizinisch klar definierte Tatsache, sondern als sozial konstruiertes Phänomen, das erst im Zusammenspiel von persönlichen Voraussetzungen, also den jeweiligen Beeinträchtigungen, und den gesellschaftlichen Antworten darauf hergestellt wird; das Konzept Behinderung ist somit von historischen und kulturellen Bedingungen abhängig und dadurch auch veränderbar
2.5 Die Schattenseiten ethnografischer Feldforschung
65
Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen quer zu einer Beschäftigung mit dem Forschungsgegenstand steht. Auf diese Weise be_hindern also gerade die fachspezifischen Anforderungen an das unternehmerische ethnografische Selbst Personen, die dem Ideal eines unbegrenzt leistungsfähigen Forschungskörpers nicht entsprechen (können). Athena McLean und Annette Leibing zufolge werden die „Schattenseiten“ ethnografischer Feldforschung (vgl. McLean/Leibing 2007) – auf einer allgemeineren Ebene – gerade im Hinblick auf besondere Lebenssituationen oder persönliche Kämpfe spürbar, also „in situations where the borders of personal life and formal ethnography begin to blur and the research ,field‘ loses its boundedness“ (Leibing/McLean 2007: 1): „[W]hen working in these elusive, typically neglected, and possibly unsanctioned areas, the researcher is likely to feel especially vulnerable: this realm of the ambiguous would be safer left alone.“ (ebd.: 4). In Anlehnung an Marilyn Stratherns Analyse des Potenzials zur ,Tyrannei‘, die die Forderung nach Transparenz bzw. accountability im Hochschulkontext entwickeln kann (vgl. Strathern 2000a), betonen Athena McLean und Annette Leibing (2007: 1), es solle besser manches im Verborgenen bleiben, wenn es um den eigenen Forschungsprozesses und die damit verbundenen Widrigkeiten und Schwierigkeiten gehe. Aus diesem Grund sei Transparenz nicht per se erstrebenswert, sondern jeweils nur dann, wenn sie die Wissensproduktion betreffe oder Einfluss auf den ethnografischen Prozess habe: „We call […] for a measured economy of disclosure, aspiring to ‚discretion‘, rather than ‚confession‘ […]. This means exercising discretion in sharing only what we must about our lives“ (ebd.: 13, Hervorheb. i. Orig.). Auch ich habe mich dazu entschieden, nicht genauer auf die persönlichen und zugleich durch ableistische Machtverhältnisse geprägten Gründe einzugehen, die es verunmöglichten, dass ich eine zeitlich komprimierte und durchgehend intensivierte Feldforschung umsetzen konnte. Vielmehr war meine
(vgl. Köbsell 2015). In diesem Zusammenhang verweist die Rede von Ableism darauf, wie die „Nicht-/Erfüllung von Normalitätsanforderungen im Hinblick auf bestimmte geistige und körperliche Fähigkeiten, die als ‚typisch menschlich‘“ (ebd.: 25) gelten, „über die Bewertung und gesellschaftliche Positionierung von Menschen [entscheidet]“ (ebd.). Damit „handelt [es] sich um eine phantasmatische Idealisierung von Leistungsfähigkeit, die eng verknüpft ist mit Vorstellungen einer optimalen Verwertbarkeit des ‚Humankapitals‘ einer Person innerhalb eines spezifischen kapitalistischen Produktionsregimes“ (Pieper 2016: 98).
66
2 Den Übergang von Kita zu Grundschule erforschen
Feldforschungsarbeit immer wieder durch Phasen des Pausierens geprägt, die nicht damit verwechselt werden dürfen, die intensive Feldarbeit durch Phasen der Reflexion und theoretischen Aufarbeitung zu unterbrechen, wie es Brigitta Schmidt-Lauber (Schmidt-Lauber 2007b: 227) vorschlägt.23 Vielmehr stellte es eine Herausforderung dar, nach einer solchen Pausierung sowie weiteren Unterbrechungen durch Lohn- und anderweitige Projektarbeiten wieder den Einstieg in die Arbeit zu finden und Verbindungslinien zwischen den einzelnen neuralgischen Punkten, die ich erforschen wollte, herzustellen. Auf diese Weise wurde es notwendig, pragmatisch manche Spuren wieder aufzunehmen, während ich andere abbrechen ließ. Daneben erschien es mir ungefähr ab der zweiten Hälfte meiner insgesamt vier Jahre dauernden Forschung zunehmend sinnvoll, mich statt auf intensivierte Feldforschungsphasen, die ich in diesem Zeitraum kaum hätte umsetzen können, mich schwerpunktmäßig auf Leitfaden-Interviews und kurze Beobachtungen bei Veranstaltungen zu stützen. Hier fand ich produktive Anregungen in erziehungswissenschaftlichen Ethnografieansätzen, die teilweise eng verbunden sind mit der rekonstruktiven Sozialforschung als einer sprachbasierten Erhebungs- und Auswertungsmethode (vgl. Fritsche/Tervooren 2012: 31).
2.6 Das Ethnografieren von Differenz- und Ungleichheitsverhältnissen In die vorliegende Studie, deren Forschung und Analyse dezidiert interdisziplinär zwischen Kulturanthropologie und Erziehungswissenschaft angelegt ist, sind dementsprechend Perspektiven – im Sinne method(olog)ischer und theoretischer
23Ulf
Hannerz geht dementsprechend davon aus, dass Feldforschungen ebenso sehr durch Formalia bestimmt werden wie durch fachliche Idealvorstellungen von Feldforschung: „[W]e must remind ourselves that past, present and future engagements with the field have been and will be as much determined by practical, material and organizational constraints as by our own scholarly ideals and internal debates“ (Hannerz 2006: 36). In der Konsequenz bedeutet dies m. E., dass es keinen „Königsweg“ der Feldforschung (mehr) gibt, sondern verschiedene Formen und Ausprägungen nebeneinander existieren. Aufgabe heutiger Europäischer Ethnolog*innen solle daher auch nicht sein, die verschiedenen Feldforschungsformate gegeneinander auszuspielen, sondern einen „conceptual apparatus“ zu entwickeln, um diese Ausprägungen präziser miteinander zu vergleichen, fordert daher Hannerz (ebd.: 36).
2.6 Das Ethnografieren von Differenz- und Ungleichheitsverhältnissen
67
Ansätze – aus beiden Disziplinen eingeflossen. Theoretische Bezüge griff ich also sowohl aus der Kulturanthropologie wie auch der Erziehungswissenschaft auf, wobei ich mich als – zunächst einmal – Kulturanthropologin zum Teil erst tiefergehend in erziehungswissenschaftliche Fachdiskurse einarbeiten musste. Mir ist also bewusst, dass die vorliegende Studie ein ‚Wildern in fremden Territorien‘ samt ihrer fachspezifischen Theorien und Zugänge darstellt. Um zu vermeiden, Fachdebatten der Erziehungswissenschaft verkürzt darzustellen, habe ich von Beginn an meine Befunde in verschiedenen diesbezüglichen Fachkontexten vorgestellt und diskutiert: Neben diversen erziehungswissenschaftlichen Tagungen gehörte dazu u. a. gemeinsam mit Kolleg*innen des DFG-Projekts „Exzellenz im Primarbereich. Die ,Beste Schule‘ als Gegenstand der Aushandlung im Entscheidungsdiskurs der Eltern“24 durchgeführte Interpretationswerkstätten. Nicht zuletzt sind in diesem Zusammenhang eine ganze Anzahl an Publikationen mit Kolleg*innen aus der Erziehungswissenschaft (vgl. Schneider/Stärck/Dean im Erscheinen; Krüger/Roch/Dean 2016; Roch/Dean/ Breidenstein 2018) respektive in erziehungswissenschaftlichen Fachpublikationen (vgl. Dean 2018b, im Erscheinen a, im Erscheinen b) entstanden. Jedoch kann ein interdisziplinäres Vorgehen durchaus auch Chancen mit sich bringen und für die einzelnen Disziplinen und deren Diskurse fruchtbar gemacht werden – so kann die vorliegende Studie dazu beitragen, rassismuskritische Analysen auch in der Kulturanthropologie stärker zu etablieren. Daneben kann der Zugang der ethnographischen Regimeanalyse und das Konzept der Assemblage für die bildungs- und erziehungswissenschaftliche Diskussion und Forschung zu Kita und zum Übergang in die Grundschule anregend und gewinnbringend sein. Diese ist bislang stark durch quantitative Studien geprägt und bezieht sich, wenn sie denn qualitativ (und ethnografisch) ausgerichtet ist, zumeist auf eine konkrete Institution (vgl. exemplarisch Diehm u. a. 2013; Kuhn 2013; Kubandt 2016) oder allein auf die Perspektive von schulwahlambitionierten Eltern (vgl. exemplarisch Ball/Nikita 2014; Breidenstein/Krüger/Roch 2014; Forsey/Davies/Walford 2008; Krüger/Roch 2016; Krüger/Roch/Breidenstein 2020; Vincent u. a. 2012). Auch wenn ich bislang meine methodischen Zugänge aus einer kulturanthropologischen Forschungstradition heraus nachgezeichnet habe, so darf nicht übersehen werden, dass ich viele methodische Anregungen aus der
24Das
Projekt war Teil der DFG-Forschergruppe „Mechanismen der Elitebildung im Deutschen Bildungssystem und existierte von 2011 bis 2019 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
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2 Den Übergang von Kita zu Grundschule erforschen
rziehungswissenschaft übernommen habe, insbesondere hinsichtlich dem E Ethnografieren von Differenz- und Ungleichheitsverhältnissen. Studien zu Differenz- und/oder Diskriminierung, die Kategorisierungen zum Thema haben (vgl. exemplarisch Fritsche/Tervooren 2012; Mai/Merl/Mohseni 2018; Kubandt 2016; Rose 2012; Scharathow 2014), sind besonders dazu aufgefordert, zu reflektieren, inwiefern sie durch ihren Forschungsfokus respektive ihrer auf Kategorisierungen fokussierten Fragestellung Differenzkategorien reifizieren (vgl. Diehm/Kuhn/Machold 2010). Denn in derartigen Studien wird bereits von den Forschenden angenommen bzw. vorausgesetzt, dass (bestimmte) soziale Kategorisierungen für das Feld von Bedeutung sind. So stellt sich die Frage, ob überhaupt über soziale Differenzierungsprozesse gesprochen werden kann, ohne die von den Forschenden vorab gesetzten Kategorien zu reifizieren? Oder wird die Reifizierung in Differenz untersuchenden Forschungsprojekten zur Notwendigkeit, weil für die Beschäftigung mit sozialen Unterschieden dieselben auf irgendeine Art als bedeutungsvoll markiert werden müssen? Ich denke Letzteres, denn schließlich muss für die Beschäftigung mit Differenz dieselbe als bedeutungsvoll markiert werden (vgl. Schneider/Stärck/ Dean im Erscheinen). Wenn es aber als unabdingbar erscheint, in Arbeiten zu Differenz und Diskriminierung auf (die kritisierten und analysierten) Kategorien Bezug zu nehmen, so setzt dies deren sensiblen Einbezug in methodologische und methodische Überlegungen, in Erhebungsphasen und in interpretative Verfahren voraus (vgl. ebd.). Auch ich war in meiner Forschung vor die Frage gestellt, wie ich mit bestimmten Kategorisierungen sowie mit Zuschreibungen der Positioniertheit meiner Forschungspartner*innen verfahren sollte. Welche Strategien des Umgangs ich hierbei gewählt habe, stelle ich in Unterkapitel 2.7 dar.25 In der neueren erziehungswissenschaftlichen Ethnografie rücken zunehmend soziale Herstellungs- und Konstruktionsprozesse, mit denen Differenz hervorgebracht wird, (vgl. Kuhn/Neumann 2015: 32–35) in den Fokus, was die Befremdung des als allzu vertraut Erscheinenden notwendig macht (vgl. Amann/ Hirschauer 2007). Dabei ist die erziehungswissenschaftliche ethnografische Forschungstradition im deutschsprachigen Raum „eine enge Verbindung mit rekonstruktiver Sozialforschung eingegangen, welche eine dezidierte Expertise in
25Wie
ich als Forscherin, die bereits mit einem ausgeprägten Kontext- und Vorwissen an ihre Forschung herantrat, meine eigenen (potenziell) reifizierenden Vorannahmen an die Forschungsgegenüber zurückspiegelte, habe ich in Unterkapitel 2.3 behandelt.
2.6 Das Ethnografieren von Differenz- und Ungleichheitsverhältnissen
69
der Entwicklung visueller und sprachorientierter Erhebungs- und Auswertungsmethoden innehat“ (Fritsche/Tervooren 2012: 31). Von diesen Verfahren und der damit verbundenen Expertise konnte ich maßgeblich profitieren, insbesondere, da ich mich in meiner Forschung (zeitweilig) stark auf Interviewmaterial und kurze Beobachtungssequenzen gestützt habe (vgl. Unterkapitel 2.5). Aus diesem Grund möchte ich mein Vorgehen bei der Interviewanalyse näher skizzieren und verdeutliche dies am Beispiel eines Interviewausschnitts mit einer im Antidiskriminierungsbereich tätigen Anwältin, Maryam Haschemi Yekani. Sie sprach im Interview über Kinder, die seitens Schulen der Kategorie „nichtdeutsche Herkunftssprache“ („ndH“) zugeordnet werden: Das sind ja Kinder der dritten, vierten Generation [lacht], ja? Also das sind ja keine Migranten mehr. Sondern das sind irgendwie deutsche Kinder, die in Deutschland aufgewachsen sind, ja? Und die sprechen irgendwie, je nach sozialer Schicht, genauso gut Deutsch wie jedes deutsche Kind auch, ja? (Interview 6-2013)
In meiner Analyse stellte mich die Gegenüberstellung der „deutschen“ und der „irgendwie deutsche[n] Kinder“ vor eine Herausforderung: Wie sollte ich damit umgehen, wie die Aussage interpretieren? Eine textnahe Lesart dieses Ausschnittes würde vermutlich nachzeichnen, dass Maryam Haschemi Yekani die „irgendwie deutsche[n] Kinder, die in Deutschland aufgewachsen sind“, den (,wirklich‘) „deutsche[n] Kind[ern]“ gegenüberstellte. Damit könnte herausgearbeitet werden, dass die dichotome Unterscheidung zwischen „deutsch“ und „irgendwie deutsch“ ein machtvoller Akt ist, der unabhängig von der Intention der Sprecherin immer auch Effekte hat und zu Ausschlüssen derjenigen führen kann, denen das Deutschsein abgesprochen wird. Die Aussage von Maryam Haschemi Yekani könnte darüber hinaus dahingehend interpretiert werden, dass sie eine – aller Wahrscheinlichkeit nach nicht intendierte – Essenzialisierung und Dichotomisierung der beiden Kategorien „deutsch“ und „irgendwie deutsch“ beinhaltete. Eine solche, Wort für Wort vorgehende Interviewanalyse habe ich in der Regel nicht angewandt. Vielmehr floss in meine Analyse von Anfang an und durchgehend Hintergrund- und Kontextwissen über die sprechende Person mit ein (vgl. Schmidt-Lauber 2007a: 183; Kruse 2015: 60–74). Einzelne Interviewausschnitte habe ich demgemäß mit der gesamten Gesprächssituation, der interviewten Person selbst und dem gesellschaftlichen Kontext in Beziehung gesetzt und vor dem Hintergrund des gesamten Interviews sowie weiterer Forschungsbefunde interpretiert (vgl. Schmidt-Lauber 2007a: 183). Auf diese Weise habe ich versucht, die Bedeutungen zu erfassen und zu interpretieren, die meine
70
2 Den Übergang von Kita zu Grundschule erforschen
Forschungsgegenüber ihren Aussagen und Handlungen selbst beimaßen. In Bezug auf die Aussage von Maryam Haschemi Yekani schloss ich daher aus dem Verlauf des gesamten Interviews sowie aus anderen Situationen – Informationsveranstaltungen, bei denen Maryam Haschemi Yekani als Rednerin auftrat, oder auch Gesprächen mit ihr –, dass sie das Füllwort „irgendwie“ häufig und gewohnheitsmäßig verwendete. Allerdings tat sie das aus meiner Sicht nicht, um einen Sachverhalt zu relativieren oder abzuschwächen, sondern gerade um ihn besonders zu unterstreichen. Die Interviewpassage habe ich daher folgendermaßen interpretiert: Der Zusatz „irgendwie“ sollte herausstellen, dass es sich für Maryam Haschemi Yekani eben auch um „deutsche Kinder“ handelte. Maryam Haschemi Yekani sprach also Fragen der fehlenden Anerkennung und Sichtbarkeit der „Kinder der dritten, vierten Generation“ unter Bedingungen von Diskriminierung an. Ihre widersprüchliche Verwendung der Kategorie „deutsch“ könnte hier also vielmehr Zeugnis davon ablegen, wie sehr das Sprechen über Diskriminierungsverhältnisse darauf verwiesen ist, die kritisierten Kategorien weiter zu verwenden und damit auch immer wieder zu reifizieren. Auch bei der Interviewtranskription26 habe ich nach Möglichkeit mein Kontextwissen eingebracht, was mir bspw. bei der Verwendung einer gendergerechten Sprache sinnvoll erschien. Eine solche Sprechweise verwendeten aus meiner Sicht einzelne Interviewte, darunter die beiden Anwält*innen und der Vater Timo Brandt. Sie legten regelmäßig bei Personenbezeichnungen, die alle Geschlechter umfassen sollten, eine kurze Sprechpause vor dem Zusatz „innen“ ein. Dies verwies meines Erachtens auf ein gesprochenes BinnenI, ein Gender-Gap oder ein Gender-Sternchen, wobei aus der gesprochenen Sprache nicht hervorging, welche der Bezeichnungspraxen damit gemeint war. Auch bei anderen Interviewten fanden sich manchmal solche bewusst
26Formal bin ich bei der Interviewtranskription folgendermaßen vorgegangen: Besonders betont gesprochene Aussagen der Interviewten habe ich kursiv gesetzt, Erläuterungen und Ergänzungen meinerseits, wie bspw. Kommentare, Interpretationen oder Anonymisierungen, ebenso wie nonverbale Äußerungen der Interviewten stehen in rechteckigen Klammern. Unterbrechungen oder einen Abbruch eines Ausdrucks habe ich durch das Notationszeichen „//“ sowie Pausen der Interviewten durch das Notationszeichen „()“gekennzeichnet.
2.7 Bezeichnungspraxen und rassistisches Wissen
71
gesetzten Pausen, teilweise als Ergänzung oder Verbesserung eines zuvor verwendeten generischen Maskulinums. Einige der Interviewten verwendeten zudem manchmal nur die weibliche Form, was ich ebenfalls als sprachlich verkürzten Versuch werte, alle Gender zu verbalisieren. Den (wahrscheinlichen) Einsatz einer solchen gendersensiblen Sprache habe ich in den Interviewzitaten durch ein Transkriptionszeichen für eine kurze Pause „()“ gekennzeichnet.
2.7 Bezeichnungspraxen und rassistisches Wissen Das Sprechen über Diskriminierungsverhältnisse ist ein komplexes und widersprüchliches Unterfangen. Auffallend viele meiner Interviewpartner*innen fühlten sich verunsichert, wenn es darum ging, Diskriminierung auf eine für sie angemessene Weise zu thematisieren. In Bezug auf antimuslimischen Rassismus und damit verwobene Diskriminierungsdimensionen wurde in meiner Forschung deutlich, welch verschiedene Bezeichnungen meine – hinsichtlich rassistischer Machtverhältnisse ganz unterschiedlich positionierten – Forschungsund Interviewpartner*innen für (sich selbst als) muslimische oder als muslimisch markierte Personen wählten: „ausländisch“, „mit ausländischen Wurzeln“, „migrantisch“, „nichtdeutscher Herkunft“, „irgendwie deutsch“, „türkeistämmig“, aber auch „Berliner“ oder „People of Color“ waren nur einige der von ihnen verwendeten Begrifflichkeiten. Gerade auch muslimische oder als muslimisch markierte Personen suchten häufig nach passenden Worten, um sich oder die Gruppe, zu der sie gehörten oder zu der sie zugehörig gemacht wurden, zu kennzeichnen. Hier zeigte sich, dass für Selbstbezeichnungen, die die Individuen nicht zugleich außerhalb der deutschen Gesellschaft verorten, vielfach „die ‚prekären Verhältnisse‘ (Mecheril 2003) der deutschen Sprachgemeinschaft keine Begriffe zur Verfügung stellen“ (Schrödter 2007: 87)). Im bundesdeutschen Kontext fehlen also Bezeichnungspraxen für Personen(-gruppen), denen – trotzdem sie in Deutschland aufgewachsen sind und dort ihren Lebensmittelpunkt haben – regelmäßig ihr „Deutsch-Sein“ aberkannt oder zumindest nicht fraglos zuerkannt wird; sie werden auf diese Weise unabhängig ihrer Selbstdefinition „zu Anderen gemacht und erfahren sich als solche“ (Goel 2007: 206). In der Konsequenz wählten ebenfalls einige meiner rassismuserfahrenen
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2 Den Übergang von Kita zu Grundschule erforschen
Interviewpartner*innen Bezeichnungen, die sie potenziell außerhalb der deutschen Gesellschaft positionierten.27 Dies stellte auch mich vor die Frage, welche Begrifflichkeiten ich in der vorliegenden Arbeit für von Rassismus Betroffene verwenden sollte. Mein übergeordnetes Ziel war es, Bezeichnungspraxen, die rassistische Konnotationen und Implikationen mit sich bringen, nach Möglichkeit nicht weiter zu reifizieren. Die auf den Erziehungswissenschaftler Paul Mecheril zurückgehende Bezeichnung Migrationsandere28 erschien mir insofern irreführend, als dass einige der rassistisch markierten Eltern, mit denen ich in meiner Forschung zu tun hatte, selbst keine eigene Migrationserfahrung besaßen. In noch stärkerem Maße trifft dies für deren Kinder zu, die bis auf einzelne Ausnahmen allesamt in Berlin geboren wurden und diesen Ort aus meiner Sicht als ihren überwiegenden oder sogar ausschließlichen Lebensmittelpunkt wahrnahmen. Mit dieser Kritik im Gepäck hätte ich mich also für die Begriffsneuschöpfung postmigrantisch (vgl. Foroutan 2013; Tsianos/Karakayalı 2014; Yıldız/Hill 2015; Spielhaus 2016) entscheiden können, da diese ja die Absicht verfolgt, die „politischen, kulturellen und sozialen Spätfolgen und Effekte von Migrationsbewegungen auf den Punkt“ (Espahangizi u. a. 2016: 15, Hervorheb. I.D.) zu bringen. Jedoch teile ich den Einwand von Paul Mecheril gegen 27Auch
das Sprechen über die Kehrseite von Diskriminierung, Privilegierungen, erwies sich als widersprüchlich und komplex. So verwendeten bspw. die Anwält*innen Maryam Haschemi Yekani und Carsten Ilius sowie die politische Referentin Meral El sich unterscheidende Charakterisierungen der Gruppenanmeldungen. Während Maryam Haschemi Yekani und Meral El sich stärker auf ein von den Critical Whiteness Studies bzw. der Kritischen Weißseinsforschung geprägtes Privilegienverständnis (vgl. exemplarisch Eggers u. a. 2005a; McIntosh 2002) bezogen – sie sprachen von „herkunftsweiß“ oder „herkunftsdeutsch“ –, rückte Carsten Ilius stärker klassenspezifisch wirksame Privilegierungen – „Mittelstands-Buntsein“ – in den Vordergrund. Auch wenn sich bei ihnen also das Privilegienverständnis im Detail unterschied, so hatten sie doch eine Gemeinsamkeit: Alle drei stellten heraus, dass die Privilegien den anderen Familien, überwiegend of Color, nicht zur Verfügung gestanden hätten. Schlussendlich wertete ich dies, die Betonung des relationalen Charakters von (De-)Privilegierung, als das zentrale Element und nicht die Nuancen der Privilegienverständnisse. 28Den Terminus Migrationsandere verwende ich nur in Ausnahmefällen, wenn er mir adäquat erscheint. Er dient dazu, zu betonen, dass es sich bei den so bezeichneten Personen um keine einheitliche Gruppe handelt, diese aber nichtsdestotrotz „partiell gleichartige Bedingungen in der Bildungs- und Lebenssituation“ (Mecheril 2010a: 17) teilen. Zugleich verweist der Begriff auf den ihm inhärenten Konstruktionscharakter, mit dem angezeigt werden soll, dass dieser „auf Kontexte, Strukturen und Prozesse der Herstellung der in einer Migrationsgesellschaft als Andere geltenden Personen“ (Mecheril 2010a, Hervorheb. i. Orig.) fokussiert.
2.7 Bezeichnungspraxen und rassistisches Wissen
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das „X im Postmigrantischen“, da das Präfix „post“ üblicherweise „in einem bestimmten Verhältnis zu X steht: ‚nach X‘“ (Mecheril 2014b: 107). Hinsichtlich dieses sowohl empirischen als auch politisch-normativen Gehalts scheint es berechtigt, in jeder Rede von Post-X nicht allein ein empirisches Statement im Hinblick auf die Schwäche, das Ende oder die Transformation von X zu erkennen, sondern auch eine normative Distanzierung von X (etwa: Bestärkung des Regimes der Zweigeschlechtlichkeit in und durch feministische(n) Positionen). (ebd.)
Postmigrantisch kann also aus meiner Sicht nur allzu leicht missverstanden werden als Distanzierung vom Migrantischen selbst als einer noch zu überwindenden oder bereits überwundenen Phase; damit kann es zudem „paradoxerweise das Bild der Schmuddeligkeit des Migrantischen bestätig[en]“ (ebd.: 111), das sich mittlerweile verstärkt in leistungsideologischer Manier als Schmuddeligkeit der ,nutzlosen‘ Migrant*innen – als „bad diversity“ – manifestiert. Letztendlich habe ich mich für die Verwendung des Zusatzes of Color entschieden, ohne dass ich damit behaupten möchte, die Beste aller Bezeichnungen gefunden zu haben. Für meine Wahl war insbesondere der Kontext der Widerstandstraditionen ausschlaggebend, aus denen heraus die Analysekategorie für (potenziell) von Rassismus Betroffene entstanden ist (vgl. Ha 2007: 31–40). Die Bezeichnung People of Color (PoC) hat eine politische Dimension, die auf gemeinsam geteilte Erfahrungen von rassistischer Deprivilegierung rekurriert. Während Kien Nghi Ha die Kategorie auf Communities begrenzt, „die durch die Gewalt kolonialer Tradierungen und Präsenzen kollektiv abgewertet werden“ (Ha 2010: 83), teile ich einen weiter gefassten Rassismusbegriff und verstehe Rassismen bzw. rassistische Figurationen, wie bereits deutlich wurde, als zugleich historisch spezifisch wie auch flexibel wirksam. Ich plädiere daher mit Jihan Jasmin S. Dean dafür, das Recht auf Selbstbestimmung und -definition anzuerkennen und die Kategorie of Color nicht aus einer übergeordneten Position heraus auf konkrete Personen oder Personengruppen anzuwenden (vgl. Dean 2015: 25 und 34, Fußnote 39), sondern vielmehr „individuell verschiedene, zuweilen auch uneindeutige Positionierungen bestehen zu lassen“ (ebd.: 34, Fußnote 39). Bezeichnungen wie PoC ebenso wie weiß stellen für mich Analysekategorien dar, die dazu dienen, rassistische Machtverhältnisse zu benennen und zu beschreiben, wobei zwischen Selbstdefinitionen und der analytischen Anwendung auch immer wieder Spannungsverhältnisse entstehen können (ebd.: 25 und 34, Fußnote 39).
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Auch wenn alle hier genannten Begriffe Rassialisierungen aufzeigen, bekämpfen und letztendlich dekonstruieren wollen, so bleibt nichtsdestotrotz die Gefahr bestehen, dass die Verwendung dieser Bezeichnungen zu einer Reifizierung rassialisierter Hintergründe beitragen kann. Aus diesem Grund verwende ich die Bezeichnungen People of Color und Schwarz ebenso wie weiß nur dann, wenn ich speziell auf die damit verbundene Positioniertheit in gesellschaftlichen strukturellen Machtverhältnissen verweisen will. Ansonsten bezeichne ich entweder die jeweiligen Personengruppen hinsichtlich ihrer rassistischen Diskriminierungsdimension(en) nach Möglichkeit genau und spreche dann bspw. von muslimisch markierten Kindern und Schwarzen Müttern oder ich beschreibe Personengruppen hinsichtlich ihrer Tätigkeiten oder Funktionen: die Gruppenanmeldungs-Eltern, die protestierenden Mütter oder die Erzieher*innen der Primel-Kita.
2.8 Care-Verhältnisse – eine Forscherin unter Müttern, Erzieherinnen und Pädagoginnen „Eine Forscherin unter Müttern“ – so reflektiert Laura Wehr in ihrer Studie zur Zeitpraxis von Kindern ihre eigene Präsenz als Forscherin in den Familien, in denen sie ihre Kindheitsstudie realisierte (vgl. Wehr 2009: 261 ff.). Sie analysiert damit allerdings nicht, wie durchaus zu vermuten wäre, Care-Verhältnisse im Allgemeinen oder die auch weiterhin überwiegend weiblich konnotierte Sphäre der Kindererziehung im Besonderen. Vielmehr rekapituliert sie die „Beziehungsgeschichten“ (ebd.: 263) in ihrer Feldforschung und beschreibt, wie die Elf- bis Dreizehnjährigen, mit denen sie forschte, auch in den Interviews mit den Müttern nicht nur anwesend, sondern überaus präsent waren, was ihr zufolge auf deren Akteur*innenstatus verweise. Während ich die Analyse der kindlichen Agency sehr gelungen finde, verwundert es mich, mit welch unhinterfragter Selbstverständlichkeit Wehr die Mütter als Expert*innen für das Zeitverhalten ihrer Kinder einführt. Obwohl also Wehrs Reflexionen der Beziehungsgeschichten in ihrer Forschung Care-Verhältnisse ausblenden, habe ich ihren Titel für dieses Unterkapitel aufgegriffen, ihn allerdings in meinem Sinne umgedeutet und erweitert. Ich frage somit, inwiefern es epistemologisch (überhaupt) eine Rolle spielte, dass ich als weiblich sozialisierte Ethnografin in der weiblich geprägten gesellschaftlichen Sphäre der institutionellen sowie der familialen Bildung und Erziehung von (jungen) Kindern forschte. In Institutionen der frühkindlichen Erziehung genauso wie in Grundschulen ist der Anteil von Männern bis heute überaus gering. Laut einer vom Bundes-
2.8 Care-Verhältnisse – eine Forscherin unter …
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ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend herausgegebenen Studie betrug der Anteil der männlichen Beschäftigten in Berliner Kindertagesstätten im Jahr 2008 lediglich 4,5 Prozent, wobei das Land Berlin bundesweit über dem Durchschnitt lag (vgl. BMSFJ 2015: 15).29 In Deutschland waren insgesamt zu diesem Zeitpunkt 3,2 Prozent der qualifiziert Beschäftigten in Kitas männlich, bis zum Jahr 2014 erhöhte sich deren Anteil bundesweit auf 4,9 Prozent (vgl. Rübenach/Kucera 2014). Auch an Grundschulen sind nur wenige männliche Lehrkräfte vertreten: Ihr Anteil betrug im Jahr 2017 bundesweit ca. 10,5 Prozent (vgl. Statistisches Bundesamt 2016). Diesen Zahlen entsprechend hatte ich im Kontext meiner Forschung in der Kreuzberger Primel-Kita fast ausschließlich mit weiblichen pädagogischen Fachkräften zu tun: neben der Kita-Leiterin mit den drei Erzieherinnen der KitaGruppe, in der meine Forschung stattfand. Daneben waren in der Kita weitere fünf Erzieherinnen sowie ein Erzieher angestellt; es ergab sich damit ein Verhältnis von 9:1. Aufgrund seines hervorgehobenen Status, der dem Erzieher der Kita durch viele der Eltern, deren Kind die Einrichtung besuchte, zugeschrieben wurde, sowie durch mehrere längere Gespräche mit ihm während meiner Forschungsphase entschloss ich mich, auch mit ihm ein Interview zu führen. Den „Exotenstatus“ und die positive Diskriminierung, die Männer in gegengeschlechtlichen30 pädagogischen Berufen häufig erfahren (vgl. Baar 2009), habe somit auch ich weiter tradiert. Im weiteren Verlauf meiner Forschung an drei Grundschulen in Berliner Innenstadtbezirken sprach ich zudem mit zwei Schulleiterinnen, mit mehreren Lehrerinnen und mit einer Erzieherin aus dem Bereich der Schulsozialarbeit. Bei den hier angesprochenen Tätigkeiten der frühkindlichen Erziehung und der Unterrichtung von Grundschulkindern handelt es sich um stark feminisierte Arbeitsbereiche. Diese Berufsfelder weiteten sich seit den 1970er Jahren verstärkt aus, als mehr und mehr Frauen auf den Arbeitsmarkt drängten (vgl. Trott 2013: 110). Zeitgleich zum damaligen wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Interesse an mehr (weiblichen) Arbeitskräften führten sozialisations- und lerntheoretische Befunde, die den frühkindlichen Erziehungsbereich aufwerteten, zu
29Zu
den Beschäftigten zählte die Studie nicht nur qualifiziertes Personal, sondern auch „männliche Praktikanten, Absolventen eines freiwilligen sozialen Jahres sowie Zivildienstleistende und ABM-Kräfte“ (BMSFJ 2015: 15). 30Als „gegengeschlechtlich“ bezeichnet Robert Baar feminisierte Berufe wie den der Grundschullehrkräfte, die in der gesellschaftlichen Wahrnehmung weiblich konnotiert sind und die von Männern ausgeübt werden (vgl. Baar 2009: 264).
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einer Reihe von Bildungsreformen und einer „quantitative[n] und qualitative[n] Expansion des Kindergartens“ (Diehm 2008: 563). Die (Teilzeit-)Beschäftigung von Frauen gerade in Kindergärten und anderen pädagogischen Feldern der (frühkindlichen) Erziehung nahm in der Folge stark zu. Die Ausweitung der Frauenbeschäftigung löste aber nur zu einem sehr geringen Teil die geschlechtliche Arbeitsteilung im Fordismus ab, die dadurch gekennzeichnet ist, dass in heterosexuellen Paarbeziehungen die überwiegend von Frauen geleistete unbezahlte Hausarbeit eine umso stärkere Ausbeutung von (männlicher) Lohnarbeit ermöglicht (vgl. Trott 2013: 110). Es wurde also nicht etwa die geschlechtliche Arbeitsteilung abgeschafft oder eine Angleichung der Löhne erreicht (vgl. ebd.: 111; Hardt/Negri 2009: 147), sondern es lässt sich festhalten: „Frauen arbeiten auch heute noch meist unter prekäreren Bedingungen als Männer, ihre Arbeitsbeziehungen sind stärker flexibilisiert, ihre Löhne sind niedriger, [sic] und sie haben weniger Zugang zu Wohlfahrtsleistungen“ (Trott 2013: 111). Die geschlechtliche Arbeitsteilung hat insbesondere Auswirkungen auf heterosexuelle Paare mit Kind(ern). Zumeist übernehmen Frauen verstärkt Verantwortung für Care-Arbeiten innerhalb ihrer Kernfamilie. Auch in meiner Forschung zeigte sich dieser Umstand. Die Mehrzahl der in heterosexuellen Beziehungen lebenden Mütter war in stärkerem Maß in die Erziehung der Kinder eingebunden als ihre Partner. Aus diesem Grund hatte ich während meiner Forschung in der Primel-Kita zu Müttern Kontakte geknüpft, da diese in der Kita engagierter waren und sich dort länger und entspannter aufhielten. Zudem verwiesen mich auch viele Männer, mit denen ich Interviews führen wollte, sehr schnell an ihre Partnerinnen und positionierten diese damit als in besonderer Weise verantwortlich für das gemeinsame Kind und dessen Erziehung. In meiner Forschung waren also die Mütter insgesamt wesentlich präsenter als die Väter. Sie wurden nicht nur als verantwortlich für affektive Tätigkeiten im Kontext der Familie und der Erziehung adressiert, sondern übernahmen diese Rolle aktiv selbst. Die hier in aller Kürze geschilderten Care- und Sorgeverhältnisse wirkten sich also auch auf meine Forschung aus. Diese fand maßgeblich mit Frauen in verschiedenen gesellschaftlichen Funktionen – Erzieherinnen, Kita-Leiterinnen, Grundschullehrerinnen, Schulleiterinnen, Müttern – statt, so dass deren Positionen, Deutungen und Interpretationen den zentralen Rahmen meiner Arbeit darstellen. Vor dem Hintergrund vergeschlechtlichter Care- und Sorgeverhältnisse versuchte ich in meiner Forschung auch sensibel für intersektionale Verwobenheiten zu sein.
2.8 Care-Verhältnisse – eine Forscherin unter …
77
Die pädagogische – oder vielmehr ‚zivilisatorische‘ – Aufgabe, die sich viele weiß positionierte Mütter aus Gruppenanmeldungen selbst zuwiesen, wenn sie ihr Kind an einer nahegelegenen ‚Problemschule‘ anmeldeten, untersuche ich daher auch hinsichtlich ihrer historischen Sedimentierungen und Vorläufer. Den gemeinsamen Gang an eine Schule, die sie ohne den Rückhalt ihrer Gruppe nie gewählt hätten, stellten diese Mütter rückblickend zumeist als Gemeinwohlorientierung dar. Sie sahen es als ihre Aufgabe und Verpflichtung an, insbesondere muslimischen und als muslimisch markierten Kindern das gleichermaßen von der Institution Schule als auch von ihnen als relevant erachtete Wissen zu vermitteln. Hier sehe ich historische Parallelen zu Formen der weißen und weiblichen Fürsorge und Wohltätigkeit gegenüber dem kolonialen ‚Anderen‘, die im Zeitalter der europäischen ,Aufklärung‘ und der kolonialen Expansion Europas entstanden. Wie sich auch in meiner Forschung vergeschlechtlichte und rassialisierte Logiken des Helfens und des Geholfen-Werdens im Sinne einer weißen, bürgerlichen Weiblichkeit (vgl. Braun 2017) ausdrückten, die weit über die Kernfamilie hinausgingen, analysiere ich ausführlich im Unterkapitel 6.4. Daneben begleitete mich in meiner Forschung aber auch regelmäßig die Frage, inwiefern meine Positioniertheit als ‚Frau‘ meinen Zugang zum Feld und den dortigen Beziehungsgeflechten beeinflusste. Selbstverständlich möchte ich nicht behaupten, „Frauen seien qua Geschlecht besonders prädestiniert, sich mit bestimmten Themenfeldern zu beschäftigen, sie würden eine besondere Sensibilität einbringen, die sich qualitativ auswirkt“ (Merkel 2013: 132), wie es Gertrud Bäumer zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegen eine stark männlich dominierte Wissenschaft formuliert hatte (vgl. Göttsch-Elten 2013). Auf diese Weise werden, wie Ina Merkel betont, „letztlich doch wieder die gängigen Stereotype geltend gemacht wie weibliche Intuition, Einfühlungsvermögen und der leichtere Zugang zu den Lebensbedingungen anderer Frauen“ (Merkel 2013: 132). Auch ich gehe davon aus, dass meine Positioniertheit als ‚Frau‘ es mir nicht prinzipiell erleichterte, Zugang zu meinen Forschungspartner*innen zu bekommen oder ihr Vertrauen zu gewinnen. Trotzdem spielte es insbesondere für viele der Mütter eine Rolle, ob ich selbst Kinder hatte. Die Frage nach eigenen Kindern oder einem Kinderwunsch begleitete so gut wie jedes meiner Interviews. Auch wenn ich jedes Mal wahrheitsgemäß verneinte, eigene Kinder zu haben, so machte ich doch in diesen Gesprächen zugleich meinen eigenen prinzipiellen, zukünftigen Kinderwunsch deutlich. Gerade hier entwickelten viele Mütter vielleicht doch mehr Vertrauen zu mir. Sie adressierten mich in der Folge zwar nicht als ‚Mutter‘, aber doch als potenzielle ‚Mutter‘, die ihre besonderen Sorgen und Wünsche das eigene Kind betreffend gut verstehen und nachvollziehen könne.
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2 Den Übergang von Kita zu Grundschule erforschen
Auch im pädagogischen Kontext wurde ich häufig nach meinem persönlichen Bezug zu meinem Forschungsthema gefragt, meist verknüpft mit der Frage nach eigenen Kindern. Hier schien zweifelsfrei festzustehen, dass ich einen solchen Bezug zum Thema haben müsse, ich also mein Forschungsthema nicht allein aufgrund ‚rationaler‘ Überlegungen, sondern vermittels persönlicher Involviertheit – bspw. eines eigenen Kindes im (Vor-)Schulalter – gefunden haben müsse. Schlussendlich bleibt für mich offen, ob ich als ‚Mann‘ anders angesprochen worden wäre, mir also häufiger die Frage nach meiner fachlichen Expertise und weniger nach meinem persönlichen Interesse gestellt worden wäre.31
31Lediglich
die drei Erzieherinnen, mit denen ich tagtäglich in der Kreuzberger PrimelKita zusammengearbeitet hatte, fragten in unterschiedlichen Situationen nach meinen pädagogischen Vorerfahrungen. Sie interessierten sich dafür, inwiefern ich bereits mit Kindergruppen gearbeitet hatte, um einschätzen zu können, welche Aufgaben sie mir übertragen konnten, und zum Teil sicherlich aber auch, um meine pädagogische Professionalität kritisch hinterfragen zu können.
3
(Neo-)Linguizismus im Schulkontext
„Die Kinder sagen, hier ist Muttersprache verboten. Die Erzieherinnen sagen, die fühlen sich außen vor, wenn ich dann mit den Eltern die Muttersprache spreche“ (Interview 2-2014), beklagte sich die Erzieherin Sevda Yılmaz in einem Interview über den Start an ihrer neuen Arbeitsstelle an der Kreuzberger Ahorn-Grundschule.1 An dieser Einrichtung war sie im Rahmen des schulischen Ganztagsangebotes in der Schulkindbetreuung tätig. Mit ihrem – von der vorurteilsbewussten Erziehung bzw. der Anti-Bias-Arbeit2 geprägten – pädagogischen Ansatz und mit ihrem bilingual deutsch-türkischen Potenzial hatte sie sich an der Schule von Anfang an unwillkommen gefühlt. Ihre Kolleg*innen vermittelten ihr das Gefühl, sie dringe in ein über Jahre gewachsenes Team ein und störe die eingespielten Arbeitsroutinen. Bereits nach wenigen Wochen musste sie als „Springerin“ in wechselnden Klassen arbeiten und konnte unter diesen Voraussetzungen nur schwer eine kontinuierliche pädagogische Arbeit umsetzen. Bevor Sevda Yılmaz an die Ahorn-Grundschule wechselte, hatte sie in den 1980er Jahren eine deutsch-türkische Schule mitbegründet und anschließend viele Jahre in einer bilingualen Kita gearbeitet, die einen Anti-Bias-Ansatz verfolgte,
1Eine
gekürzte Version des Unterkapitels ist zu finden in Dean 2019. Anti-Bias-Ansatz ist ein ursprünglich in den USA entwickelter Ansatz der antidiskriminierungskritischen Bildungsarbeit, der darauf basiert, nicht allein individuelle Vorurteile und Haltungen von Menschen in den Blick zu nehmen, sondern auch Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Mittels erfahrungsorientierter Auseinandersetzung mit diesen gesellschaftlichen Verhältnissen sollen alternative Handlungsansätze entwickelt werden, die diskriminierende Kommunikations- und Interaktionsformen beständig mitreflektieren (vgl. exemplarisch Derman-Sparks, Louise/A.B.C. Task Force 1989; Derman-Sparks/Olsen Edward 2010; Wagner 2008).
2Der
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Dean, Bildung – Heterogenität – Sprache, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30856-8_3
79
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3 (Neo-)Linguizismus im Schulkontext
und in der sie ebenfalls ihre Zweisprachigkeit professionell einbringen konnte. Das Beharren auf der alleinigen Verwendung des Deutschen an ihrer neuen Arbeitsstelle konnte Sevda Yılmaz nicht nachvollziehen: [I]ch kenne das in meinem beruflichen Werdegang überhaupt nicht. Es werden immer Erzieherinnen gebraucht mit Migrationserfahrung in den Kitas. Beziehungsweise auch für Eltern ist es ganz wichtig, dass man dann auch mal die Möglichkeit hat, diese inhaltliche, pädagogische Arbeit, die man halt führt, auch in der Muttersprache weiterzuvermitteln. (Interview 2-2014)
Auch die Angst der anderen Erzieher*innen, sie würden ausgegrenzt, wenn Sevda Yılmaz in der Elternarbeit Türkisch spreche, war für sie unverständlich, da sie bereit war, als Dolmetscherin ins Deutsche zu fungieren. Auf die explizite Vorgabe, mit allen Eltern auf Deutsch zu kommunizieren, entgegnete sie den anderen Erzieher*innen: „‚Ist doch eine Bereicherung für dich, wenn ich bilingual bin. Wenn die Eltern sich in der Muttersprache besser ausdrücken können, kann ich euch das in die deutsche Sprache genauso gut rüber vermitteln.“ (Interview 2-2014). Zudem war für sie selbstverständlich, dass wir, wenn die Eltern Deutsch können, dass wir Deutsch reden, ja? Wenn es um die Schule geht. Aber wenn es um private Sachen geht, das geht keinen etwas an. Sie können mich in der Muttersprache ansprechen, wie sie wollen. (Interview 2-2014)
Sevda Yılmaz unterschied zwischen professionellem und privatem Kontext: Ihre bilinguale Kompetenz setzte sie lediglich dann – den Anweisungen ihrer Kolleg*innen zum Trotz – gezielt pädagogisch-professionell ein, wenn sie Eltern, die sich im und mit dem Türkischen heimischer fühlten, über die pädagogische Arbeit informierte; ansonsten kommunizierte sie auf Deutsch mit den Eltern. Demgegenüber spielten für sie in Privatgesprächen mögliche Deutschkenntnisse der türkischsprachigen Eltern keine Rolle, hier sprach sie spontan und situationsabhängig auch in der, wie sie es nannte, „Muttersprache“. Sie begründete dies damit, dass das „keinen etwas an[geht]“ – diese Order galt für sie solange, wie sich das Gespräch außerhalb eines pädagogisch-professionellen Settings bewegte. Die hier formulierte Prämisse, dass Mehrsprachigkeit im Kontext von öffentlichen (Grund-)Schulen – wie auch von Kitas – ihren legitimen Platz ausschließlich in informellen und eben nicht in pädagogisch-professionellen Settings hat, verweist auf den „monolingualen Habitus“ (Gogolin 2008) von Bildungsinstitutionen. Ingrid Gogolin zufolge basiert der monolinguale Habitus auf der Grundüberzeugung im Bildungskontext, dass Individuen, Gesellschaften
3.1 Neo-linguizistisches Sprachregime
81
oder Staaten im Normalfall einsprachig seien und die Sprachentwicklung mehrsprachig aufwachsender Kinder einsprachig verlaufe. Obwohl Plurilingualität ein gesellschaftliches Faktum moderner Staaten ist, dominiert bis heute die Vorstellung der Einsprachigkeit in den meisten europäischen Nationalstaaten sowie im Bildungswesen. Beide Bereiche kennzeichnet „das weitgehend für legitim gehaltene Vorherrschen einer Sprache“ (Mecheril 2016a: 17). In entsprechender Weise befürworten nach Sevda Yılmaz’ Aussage auch deren Kolleg*innen das Vorherrschen des Deutschen im Kontext von Schule: Ihnen zufolge sollte die Kommunikation mit allen Eltern – ungeachtet deren sprachlicher Ausgangsposition – auf Deutsch verlaufen. Um diese monolingualistische Normsetzung im (Grund-)Schulbereich geht es im vorliegenden Kapitel. Die grundlegende Frage lautet dabei, wie durch diese Normsetzungen Differenz und Ungleichheit individualisiert werden und zeitgleich institutionelle und strukturelle Ursachen und Verankerungen aus dem Blick geraten können. Als Erstes zeichne ich das monolinguale bzw. neo-linguizistische Sprachregime im Bildungskontext nach (3.1). Dann frage ich, wie an einem solchen Sprachregime auch pädagogische Fachkräfte und Lehrer*innen mitwirken, deren Zielsetzung eigentlich gerade die Verringerung sprachbezogener Diskriminierung und die Anerkennung sprachlicher und ‚kultureller‘ Diversität darstellt (3.2). Im Anschluss untersuche ich am Beispiel der Erzieherin Sevda Yılmaz, wie ein solches Sprachregime durch widerständige, pädagogische ebenso wie alltägliche Praktiken auch immer wieder herausgefordert und unterlaufen wird (3.3). Anschließend analysiere ich, wie verschiedene politische und politiknahe Institutionen und unternehmensverbundene Stiftungen im Verlauf der letzten Jahre zunehmend die Chancen und Potenziale von Mehrsprachigkeit ‚entdeckten‘ (3.4). Zuletzt frage ich, wie die Forderung und Erwartung, Kindern gute Sprachkenntnisse des Deutschen zu vermitteln, sich konkret auf den Elementarbereich – als einer der Schule zeitlich vorgelagerten Institution – auswirkt und nicht zuletzt auch, wie die Anerkennung sprachlicher Vielfalt im Kontext der Schule aussehen könnte, um möglichst für alle Schüler*innen handlungsbefähigend sein zu können (3.5).
3.1 Neo-linguizistisches Sprachregime Aber wenn du Französisch redest oder Englisch ist ja auch voll in Ordnung. (Interview 2-2014)
Paul Mecheril und Thomas Quehl betonen den Machtaspekt von Sprache, der sich darin zeigt, dass Sprache und Sprechen „in systematisch unterschiedlicher
82
3 (Neo-)Linguizismus im Schulkontext
Weise“ (Mecheril/Quehl 2006b: 356) ermächtigt, da innerhalb eines Sprachsystems „[l]egitime und illegitime Sprachpraxen“ (ebd.: 360) existieren. Mecheril spricht hier auch von „illegitimisierte[n] Sprachpraktiken“ (Mecheril 2016a: 18, Hervorheb. i. Orig.), um den Konstruktionscharakter des Illegitim-Machens stärker in den Fokus zu rücken. Er stellt fest, dass unter Bedingungen von migrationsgesellschaftlicher Mehrsprachigkeit die Anzahl der Sprachpraktiken und -verständnisse zu[nimmt], die von der dominanten Sprache abweichen […] und damit auch die Auseinandersetzung, welche Sprachformen in migrationsgesellschaftlichen Kontexten als legitime, respektable, anerkannte gelten. (ebd.: 17 f.)
Schulen fordern insbesondere von rassistisch markierten Schüler*innen, die in „Minderheitensprachen“ kommunizieren, ein „legitimes Sprechen“ (Bourdieu 2005: 47) der offiziell anerkannten Sprache ein. Dabei wirken sowohl die Abwertung der „Minderheitensprachen“ selbst als auch die Forderung nach „legitimem Sprechen“ der (deutschen) Bildungssprache diskriminierend, indem sich (neo-)linguizistische mit klassistischen und weiteren situativ relevant gesetzten und damit salient gemachten Differenzlinien überlagern und gegenseitig verstärken, unterlaufen oder abschwächen. Die monolingualistische Normsetzung im Bildungskontext wirkt als ein Sprachregime, das über Dynamiken der institutionellen Diskriminierung (vgl. Gomolla/Radtke 2009) bzw. des institutionellen Rassismus (vgl. Jäger/Kauffmann 2002; Melter 2006) beständig stabilisiert und normalisiert wird. İnci Dirim spricht hierbei von Linguizismus als einer speziellen Form des Rassismus, bei der Sanktionen, Ausgrenzung und/oder soziostrukturelle Schlechterstellung von Menschen mit dem Verweis auf ihre Sprache oder ihre durch ihre ,Herkunft‘ in einer bestimmten Weise beeinflussten Sprache (z. B. ihrem Akzent) begründet und vollzogen werden (vgl. Dirim 2010: 91). Dabei wird „die Sprache einer Elite […] zur Norm erhoben“ (ebd.: 92) und „[d]as Erreichen bestimmter gesellschaftlicher Positionen […] an die sprachliche Norm geknüpft, deren Realisierung u. U. durch Vorenthaltung von Möglichkeiten die Normsprache zu erwerben, verunmöglicht wird.“ (ebd.). Um zu betonen, dass sich die Erscheinungsformen des Linguizismus historisch gewandelt haben, unterscheidet Dirim in Anlehnung an das Konzept des „Neo-Rassismus“ (vgl. Balibar 1992a) zwischen Linguizismus und Neo-Linguizismus:
3.1 Neo-linguizistisches Sprachregime
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Damit wird zwischen dem […] historischen Linguizismus, der ein staatlich legitimiertes Macht- und Unterdrückungsmittel darstellt und dem heute offiziell illegitimen, aber dennoch existenten Linguizismus unterschieden. Der NeoLinguizismus ist subtil, er spielt Tatsachen vor, er agiert hinter dem Deckmantel harmlos klingender Bezeichnungen, er täuscht über Ausgrenzung und Unterdrückung hinweg und ist dadurch im Vergleich zu dem Linguizismus gewissermaßen „hinterhältig“ und schwer aufzudecken. (Dirim 2010: 96)
Aufbauend auf diesem Verständnis von (Neo-)Linguizismus als einer spezifischen Spielart von Rassismus analysiere ich im Folgenden – wiederum am Beispiel der Erzieherin Sevda Yılmaz –, wie sich neo-linguizistische Sprachregime auf die Gestaltung schulischer Elternarbeit und auf Organisationsstrukturen und Arbeitsweisen auswirken können. In „monolingualistisch strukturierten mehrsprachigen Gesellschaften“ (Mecheril/Quehl 2006b: 367) wie Deutschland wird von mehrsprachigen Personen ein „doppelte[r] Selektions- bzw. Bildungsschritt“ (ebd.) verlangt, der sich darin äußert, sowohl die offizielle Sprache als die legitime Sprache als auch die offizielle Sprache in ihrer offiziell anerkannten Weise zu beherrschen. Sprecher*innen sind aufgefordert, die Sprache zu sprechen, die im jeweiligen Kontext die dominante Sprechweise verkörpert. Im Kontext der monolingualistischen Schule führt dies dazu, dass bilinguale Kinder mit einer Realität konfrontiert sind, in der sie gleichsam einen Teil ihrer Selbst entweder nicht oder nur in jenen kuriosen und unöffentlichen Bereichen des Öffentlichen leben können, die den „Anderen“ oder „Fremden“ vorbehalten sind („nebenunterrichtliche“ Gespräche, Pausenhof-Kommunikationen, Gespräche vor und nach der Schule…). (ebd.: 370)
Auf diese Weise werden bilinguale Kinder, die sich noch im Prozess des Deutschlernens befinden, aufgrund des „Fehlen[s] der Passung zwischen dem dominanten Sprachfeld und [ihren] minoritären lingualen Dispositionen“ (ebd.) mittels sprachlicher Verhaltensweisen der pädagogischen Fach- und Lehrkräfte häufig sprachlos gemacht (vgl. Thomauske 2015: 103). Das Schulsystem trägt über sprachliche Erwartungen und Anforderungen dazu bei, gesellschaftliche Ungleichheiten zu reproduzieren, was in besonderem Maße für das Bildungssystem zutrifft, da dieses hochselektiv und u. a. nach Leistung segregierend organisiert ist (vgl. Dirim/Mecheril 2010: 108). In diesem Zusammenhang haben Anfang der 2000er Jahre Europäische Ethnolog*innen rund um Werner Schiffauer in einer europäischen Vergleichsstudie festgestellt, dass an deutschen Schulen die Verwendung von Familiensprachen zumeist negativ gewertet und
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3 (Neo-)Linguizismus im Schulkontext
diese als Zeichen mangelnder Integrationsbereitschaft und einer ‚Bildungsferne‘ gedeutet wird (Schiffauer u. a. 2002; Sunier 2002: 150 ff.). Da in weiten Teilen der bundesdeutschen (Bildungs-)Politik dementsprechend weiterhin eine monolingualistische Grundüberzeugung vorherrscht, werden laut Ingrid Gogolin aus dieser „die Maßstäbe dafür gewonnen darüber zu urteilen, was an Sprachkönnen und Sprachpraxis als wertvoll gilt und was nicht“ (Gogolin 2001: 2). Dabei gilt die alltägliche Verwendung klassischer Einwanderersprachen „neben dem Deutschen oder zusammen mit ihm […] als illegitimer Sprachgebrauch“ (ebd.: 3) und ist im „differenziellen[n] Ausmaß an Wertschätzung“ der verschiedenen Sprachen der Migrationsgesellschaft mit wenig „Prestige, Ansehen und Privilegien unter Bedingungen von Mehrsprachigkeit“ (Mecheril/Quehl 2006b: 366) ausgestattet. In diesem Sinne kann mit Mecheril und Quehl zwischen „[d]ominante[n] und nachrangige[n] Sprachen“ (ebd.) differenziert werden, wobei sich durch diese machtvolle Unterscheidung „das Vermögen der Sprache, sich sozial und (mikro-)politisch zu realisieren, unterschiedlich verteilt“ (ebd.: 356). Damit wird ein „Elitebilingualismus mit Sprachen wie Englisch oder Französisch“ (Dirim/Hauenschild/Lütje-Klose 2008: 13) als relevant gesetzt und zur selben Zeit der „Bilingualismus von Kindern mit Migrationshintergrund mit Minderheitensprachen“ (ebd.) gesellschaftlich und kulturell abgewertet. Die Forderung an Andere Sprachen3 (Thomauske 2015: 88) sprechende bilinguale Schüler*innen (und ihre Eltern), ihre Sprache(n) in der Schule auf Deutsch umzustellen (vgl. Stölting 2005: 240), stellt eine permanente Machtfrage dar, „wer mit wem über was spricht, wer sich wie Gehör verschafft“ (Mecheril/Quehl 2006a: 9). Dem letztgenannten Aspekt entsprechend bezogen sich an der Ahorn-Grundschule die Vorbehalte gegen Mehrsprachigkeit nur auf bestimmte Sprachen, wie die Erzieherin Sevda Yılmaz berichtete: „Aber wenn du Französisch redest oder Englisch ist ja auch voll in Ordnung, ja? Es ist nur auf Arabisch und auf Türkisch fokussiert, ja? Diese Regeln, also nicht reden.“ (Interview 2-2014). Im Kontext Berlins gilt Mehrsprachigkeit an Schulen in der Tat nicht per se als problematisch. Ist Bilingualität konzeptionell im Unterrichtsgeschehen verankert, wird Mehrsprachigkeit vielfach als kosmopolitische Bereicherung wahrgenommen, wie dies in den insgesamt zwölf bilingualen
3Zusätzlich
zu den Begriffen „nachrangige Sprachen“ (Mecheril/Quehl 2006b: 366) oder „Minderheitensprachen“ ( Dirim/Hauenschild/Lütje-Klose 2008: 13) verwende ich auch die Bezeichnung „Andere Sprachen“ und schreibe dabei „Andere“ in Analogie zum Konzept des Otherings groß und kursiv, um die Konstruktion des „Zu-Anderen-Gemacht-Werdens“ und „Nicht-Anders-Zu-Sein“ zu markieren (vgl. Mecheril 1994; Thomauske 2015: 88).
3.1 Neo-linguizistisches Sprachregime
85
Privatschulen4 sowie siebzehn staatlichen Europaschulen5 in Berlin der Fall ist (vgl. Krüger/Roch/Dean 2016: 693). Eine unkontrollierte Verwendung anderer Sprachen als dem Deutschen wird dagegen häufig seitens Lehrkräften und pädagogischen Fachkräften unterbunden, insbesondere, wenn es sich um nachrangige Minderheitensprachen bzw. Andere Sprachen wie Türkisch oder Arabisch handelt. Exkurs: Genealogien des Verbots Anderer Sprachen In historischer Perspektive lässt sich im Schulkontext ein Verbot anderer Sprachen als des Deutschen für die Zeit des „Deutschen Reiches“ nachweisen. Ingrid Gogolin und Marianne Krüger-Potratz erklären dies mit einer zunehmenden, an Minderheiten gerichteten, sprachlich-kulturellen Assimilationsforderung im Zuge der Gründung des „Deutschen Reiches“ im Jahr 1871, die dazu gedient hatte, überhaupt erst ein Nationalbewusstsein zu entwickeln (vgl. Gogolin/KrügerPotratz 2010: 86–90). Zuvor, so geht aus den Minderheitsschulvorschriften des 19. Jahrhunderts hervor, die vor der Reichsgründung datieren, war vielmehr „Lese-, Schreib- und Religionsunterricht in der Minderheitssprache vielerorts möglich […] und [wurde] auch erteilt“ (ebd.: 86). Erst ab den 1870er Jahren wurde der Gebrauch der Minderheitssprache in der Schule einschließlich des Lese- und Schreibunterrichts […] verboten, und den Lehrkräften wurden Deutschkurse verordnet. Zur Begründung wurde darauf verwiesen, dass nur so auch den „kulturell rückständigen“ sprachlichen Minderheiten mehr Bildung zuteil werden könne. (Krüger-Potratz 2014: 86 f.)
Die Schule galt nunmehr als „Mutter der Staatsbürger“ und diese sollte somit die „richtige Muttersprache“, also die „Sprache des Vaterlandes“ (Gogolin/KrügerPotratz 2010: 87) lehren. Die in dieser Zeit vertretene Auffassung besagte, dass das Aufwachsen in zwei Sprachen „eine Gefahr für die körperliche, geistige
4Neben
Deutsch wird in sechs der zwölf Berliner bilingualen Privatschulen auf Englisch unterrichtet, in jeweils einer von ihnen zusätzlich auf Russisch, Japanisch, Arabisch, Türkisch, Französisch und Schwedisch. Als Privatschulen, für die ein monatliches Schulgeld gezahlt werden muss, stehen sie regelmäßig als „Orte exklusiver Schließung“ in der Kritik der Schul- und Bildungsforschung (vgl. Gibson/Helsper 2012: 240). 5In den siebzehn staatlichen Europaschulen (vier Französisch-, je zwei Englisch-, Griechisch-, Italienisch-, Russisch-, Spanisch-Deutsch-Schulen und je eine Polnisch-, Portugiesisch- und Türkisch-Deutsch-Schule) werden separate Klassenzüge zweisprachig unterrichtet (vgl. Krüger/Roch/Dean 2016: 693; Flitner 2007).
86
3 (Neo-)Linguizismus im Schulkontext
und seelische Entwicklung des Kindes dar[stelle]“ (ebd.: 88). Kien Nghi Ha und Markus Schmitz zufolge zeigt sich hierbei „eine sich besonders hartnäckig behauptende Tradition der Konstruktion kollektiver deutscher Identitäten“ (Ha/ Schmitz 2006: 225). Sie sprechen von einem „genealogischen Moment“ (ebd.) des aktuellen Integrationsparadigmas und beziehen dieses aus postkolonialer Perspektive zurück auf eine in der (und seit der) europäischen ‚Aufklärung‘ des 18. Jahrhunderts wirksamen „nationale[n] Sprachhygiene“ (ebd.: 230, Hervorheb. i. Orig.), mit der die nationale Einheit über das Merkmal der (deutschen) Sprache hergestellt werden soll (vgl. ebd.: 228). Die Vorstellung von Sprache als einem nationalen Bindeglied führen sie auf Johann Gottfried Herders Studien zur Verbindung von Sprache und ‚Volksgeist‘ zurück, darunter die „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“ (vgl. Herder 1960 [1772]). Ha und Schmitz gehen davon aus, dass die „biologistisch-organische Auffassung von Sprache und Sprachgemeinschaft […] in einer archäologischen Rückwendung zu den vermeintlich reinen Ursprüngen einer deutschen Monolingualität [mündet]“ (Ha/Schmitz 2006: 229 f.) und sich zugleich darin auch die Forderung widerspiegele, die deutsche Kultur und Sprache von unberechtigt eingedrungenen, ‚fremden‘ Einflüssen ‚rein‘ zu halten (vgl. ebd.: 230). Die Ablehnung und die „grundsätzlich negative Haltung gegenüber natürlicher Zweisprachigkeit“ (Gogolin/Krüger-Potratz 2010: 90) änderte sich auch nicht mit dem nach dem Ersten Weltkrieg erlassenen Minderheitenschutz sowohl auf nationaler wie internationaler Ebene, durch den der Gebrauch von Minderheitensprachen erlaubt wurde (vgl. ebd.: 89). Ein Verbot von Minderheitensprachen erübrigte sich mit dem Erlass des preußischen Schulpflichtgesetzes von 1927, durch den (reichs-)ausländische Kinder bis nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus der Schulpflicht entlassen wurden, da ihre Beschulung nicht im Interesse des Staates lag (vgl. ebd.: 90 ff.). Erst als Ende der 1960er Jahre in allen Bundesländern ausländische Kinder prinzipiell in die allgemeine Schulpflicht einbezogen wurden, wurden deren ‚fremde Sprache und Kultur‘ als Problem definiert, so wie schon vor 1945 bei den innerstaatlichen fremdsprachigen Minderheiten geschehen, ohne dass dies de jure zu einem Verbot von Minderheitensprachen geführt hätte (vgl. ebd.: 94). Es kann daher festgestellt werden, „dass in der Geschichte der staatlichen Pflichtschule die Frage des Umgangs mit sprachlicher, ethnischer und kultureller Heterogenität durchaus Gegenstand von Kontroversen und bildungspolitischen Entscheidungen war“ (ebd.: 90), dabei jedoch die Vorstellung dominierte, Zweisprachigkeit sei ein grundsätzlicher Problemfall, den es möglichst zugunsten einer monolingualen Schul- und Bildungsumgebung zu unterbinden galt. Und auch heute konzeptionalisieren die Befürworter*innen einer „Deutschpflicht auf
3.2 Widersprüchliche pädagogische Praktiken
87
Schulhöfen“, durch die „der Gebrauch der Herkunftssprachen außerhalb des so genannten muttersprachlichen Unterrichts in vielen Schulen sanktioniert“ (De Florio-Hansen 2003: 81) wird, die dominante Sprechweise (das Deutsche) diskursiv entweder als Verkehrssprache oder als Nationalsprache (vgl. Mecheril/ Quehl 2006b: 367).
3.2 Widersprüchliche pädagogische Praktiken Hauptsache die Kinder sprechen, ob es die Muttersprache ist oder eine andere Sprache. (Interview 2-2014)
Wenn plurilinguale Schüler*innen gezwungen sind, nur die dominante Sprache zu verwenden, so finden sie mit ihren mitgebrachten und außerhalb des Schulkontexts relevanten Wissensbeständen keine Beachtung (vgl. für den Kontext Großbritanniens Conteh 2006: 193–212). Sevda Yılmaz widersetzte sich dieser linguizistischen Grundhaltung; sie nutzte vielmehr im Unterrichtsgeschehen immer wieder bewusst ihre Bilingualität: „[E]s gibt manchmal wirklich emotionale Situationen, wo du denkst:‚Das Kind braucht jetzt seine Muttersprache.‘ Und dann erklärst du und das Kind ist total erfüllt.“ (Interview 2-2014). Der bewusste Gebrauch der Erstsprache eine*r Schüler*in erhält vor dem Hintergrund ungleicher lingualer Machtverhältnisse in Bildungsinstitutionen eine besondere Tragweite: Da in monolingual orientierten Gesellschaften die Verwendung anderer als der dominanten Sprache bei pluri- oder bilingualen Schüler*innen häufig nur mit einem Gefühl der Scham und nicht mit Bestätigung oder Stolz verknüpft ist (vgl. für den Kontext USA Cummins 2006: 38), durchbrach Sevda Yılmaz dieses Dominanzverhältnis. Das von ihr beschriebene Gefühl, sich „total erfüllt“ zu fühlen, also angenommen und akzeptiert zu sein, ist vergleichbar mit dem, was Mecheril und Quehl als „Stimme finden“ bezeichnen. Um dies in allen Bereichen der Schule – in den sozialen Beziehungen zu den Mitschüler*innen und der Interaktion mit den Lehrkräften sowie allen Aktivitäten innerhalb und außerhalb des Unterrichts – zu ermöglichen, ist es demnach die Aufgabe der Schule, „(Klassen-)Räume für Mehrsprachigkeit zu schaffen, Mehrsprachigkeit zu fördern oder zumindest Freiräume für Kommunikationen in unterschiedlichen Sprachen zuzulassen“ (Mecheril/Quehl 2006b: 371). Sevda Yılmaz̓ Kolleg*innen befürchteten jedoch, die Verwendung anderer Sprachen als dem Deutschen könne die mehrsprachigen Kinder daran hindern, gute Deutschkenntnisse zu entwickeln; vielmehr sahen sie es als wichtig an, dass die Kinder durchgehend Deutsch redeten. Sevda Yılmaz widersprach dieser
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3 (Neo-)Linguizismus im Schulkontext
Argumentation ohne dabei die Bedeutung der deutschen Sprache für gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten zu negieren: Wenn ich hier in diese Gesellschaft irgendwie auch ein’ Platz haben möchte, dann ist es ganz wichtig, dass ich die Sprache kann. So, aber es heißt nicht, dass ich meine Muttersprache dadurch dann, ja, gar nicht mehr sprechen darf. Im Gegenteil, Hauptsache die Kinder sprechen, ob es die Muttersprache ist oder eine andere Sprache, es ist ganz wichtig und das muss man tolerieren und respektieren. (Interview 2-2014)
Sevda Yılmaz ging davon aus, Mehrsprachigkeit und Deutschkompetenz schlössen sich nicht unbedingt gegenseitig aus; die Verwendung der Muttersprache müsse daher nicht zu Lasten von Deutschkompetenz gehen. Ich interpretiere ihre Aussage dahingehend, dass es für sie in dieser Aussage keine Rolle spielt, in welcher Sprache die Kinder kommunizierten, da durch das Sprechen an sich sprachbezogene Kompetenzen gestärkt würden. In einem weiten Verständnis von alltagsbasierter Sprachförderung würden sich somit allein durch vielfältige sprachliche Kommunikation die Ausdrucksfähigkeiten der Kinder – sowohl in der Erstsprache als auch im Deutschen – entwickeln und verfeinern. Damit vertrat sie ein Verständnis, das in der wissenschaftlichen Diskussion in Anlehnung an den kanadischen Erziehungswissenschaftler Jim Cummins als „Interdependenzhypothese“ bezeichnet wird. Demzufolge sind sprachbezogene Kenntnisse und Kompetenzen in einer Sprache nicht allein an diese gebunden, sondern bei Vorliegen entsprechender Rahmenbedingungen auch auf andere Sprachen übertragbar (vgl. Cummins 1981: 29). Kinder sollten also dazu befähigt werden, zwischen zwei oder mehreren Sprachsystemen eine Beziehung herzustellen und diese Systeme in vielfältigen Kontexten nutzen. Auch ein Team rund um die Erziehungswissenschaftlerin Cristina Allemann-Ghionda verweist in diesem Zusammenhang auf psycholinguistische Befunde, die herausarbeiten, dass zwei- und mehrsprachige Personen bei einer qualifizierten Förderung der Mehrsprachigkeit besondere kognitive Leistungen und Kompetenzen aufwiesen (vgl. Allemann-Ghionda u. a. 2006: 252; vgl. auch Wode 1995; Siebert-Ott 2001). Im deutschsprachigen Raum fehlen bislang jedoch Modelle auf Ebene der Unterrichtsgestaltung, die aufzeigen, wie Mehrsprachigkeit im Klassenzimmer und im schulischen Alltag verankert und produktiv genutzt werden kann (vgl. Dirim 2006: 256). İnci Dirim hat bereits in den 1990er Jahren empirisch untersucht, wie Grundschüler*innen mehrere Sprachen im Unterrichtsgeschehen kompetent einsetzen und von der plurilingualen Sprachpraxis profitieren (vgl. Dirim 1998). Mitte der 2000er Jahre kam sie zu dem Schluss, vergleichbare Studien seien bislang kaum realisiert worden und stünden als professionelles
3.2 Widersprüchliche pädagogische Praktiken
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Wissen selten Lehrer*innen zur Verfügung (vgl. Dirim 2006: 256) – bis zum heutigen Tag hat sich an ihrer Situationsbeschreibung nur wenig verändert. Auch wenn es also Hinweise gibt, dass Mehrsprachigkeit in Unterricht und Schule produktiv genutzt werden kann, so geht es mir im Folgenden weniger darum, eindeutig festzustellen oder zu beurteilen, welche Unterrichtsmethoden oder Konzepte am geeignetsten sind, um mehrsprachigen Kindern hohe Kompetenzen in der Erst- wie auch Zweitsprache zu vermitteln. Vielmehr ist für mich von Interesse, inwieweit in sprachbezogenen pädagogischen Praktiken enthaltene linguizistische Diskriminierungen mitgedacht werden und versucht wird, diese zu minimieren. Dabei ist für mich die Unterscheidung zwischen „anti-linguizistischen“ und „linguizismuskritischen“ Argumentationsweisen bedeutsam (Springsits 2015: 96). In Bezug auf „anti-linguizistische“ Argumente und Praktiken arbeitet Birgit Springsits heraus, dass [m]it dem Bemühen, Diskriminierungen, die auf unterschiedliche (angenommene) Sprachkompetenzen in verschiedenen Sprachen zurückgehen, zu vermindern, […] häufig eine Verfestigung von einheitlich gedachten Gruppenkonstruktionen („die förderbedürftigen türkischsprachigen SchülerInnen“, „die DaZ-Kinder“, „die MuttersprachlerInnen“ etc.) und starren Sprachkonzepten (Sprache als überzeitliches, kodifiziertes und normiertes, an bestimmte Nationen gebundenes System) einher[geht]. (ebd.)
Springsits stellt „anti-linguizistischen“ Praktiken „linguizismuskritische“ entgegen, wobei sich ihr zufolge der Begriff Linguizismuskritik an den der Rassismuskritik anlehnt. Letzterer entstand aus der expliziten Kritik an und in Abgrenzung von sich als ‚antirassistisch‘ verstehenden Ansätzen (vgl. Mecheril/ Melter 2010: 170–177). Diese Ansätze würden ihr zufolge tendenziell die eigentlich kritisierten Kategorien und Unterscheidungen in einem vereinfachenden Täter-Opfer-Modell reifizieren und intersektionale Heterogenitätsmerkmale außer Acht lassen (vgl. Springsits 2015: 96). Springsits siedelt linguizismuskritische Analysen auf drei Ebenen an: Zum Ersten fordert sie, „sich kritisch gegenüber sprachbezogenen Bezeichnungs- und Kategorisierungspraktiken zu verhalten“ (ebd.: 97), zum Zweiten die eigene Position und Positioniertheit in der Analyse mitzudenken, da es kein Außerhalb der kritisierten Strukturen gibt (vgl. ebd.: 98) und drittens entwickelt sie in Anlehnung an Rommelspacher (2011) ein Analysemodell, mit dem in den Blick gerät, inwiefern „Handlungsweisen, Strukturen und Argumentationsweisen“ (Springsits 2015: 97) hinsichtlich sprachbezogener Differenzen diskriminierend wirken können. Dazu setzt sie sechs Aspekte der Analyse linguizistischer Diskriminierungsstrukturen zentral, die folgendermaßen zusammengefasst werden können: 1) Gruppen werden über den Aspekt der
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3 (Neo-)Linguizismus im Schulkontext
„Sprachigkeit“ gebildet, 2) Die „Sprachigkeit“ wird naturalisiert, 3) Die Sprachgruppen werden homogenisiert, 4) Die Sprachgruppen werden polarisiert, ohne dabei Mehrfachzugehörigkeiten in Betracht zu ziehen, 5) Die Gruppen werden hierarchisiert mit dem Effekt der Ausgrenzung und des Ausschlusses von Ressourcen und 6) die entstandene Diskriminierung wird durch oben genannte Argumentationen erzeugt, legitimiert und verstärkt (vgl. ebd.). Springsits weist darauf hin, dass Cummins Interdependenzhypothese (s.o.) häufig verkürzt und vereinfachend rezipiert wird, indem eine Linearität zwischen dem zeitlich vorangestellten Erwerb der Erstsprache im Sinne eines erst zu erreichenden Schwellenniveaus6 und dem darauf aufbauenden Erlernen der Zweitsprache unterstellt wird (vgl. ebd.: 100 f.). Sie kritisiert, dass aus diesem Verständnis häufig folgt, den Eltern zu überantworten, mit ihren Kindern in der Erstsprache zu kommunizieren, damit Letztere eine ‚gute Basis‘ entwickeln, auf der dann in einem zweiten Schritt die (vor-)schulische Vermittlung der Zweitsprache Deutsch aufbaut, anstatt davon auszugehen, dass sprachbezogene Kompetenzen zwischen verschiedenen Sprachen übertragbar sind und sich daher auch parallel zueinander und miteinander verwoben entwickeln können (vgl. ebd.: 101).7 In diesem Sinne wird die Vermittlung von Sprachkompetenzen und von einer ‚guten Basis‘ in der Erstsprache für ein erfolgreiches Erlernen des Deutschen zu einem guten Teil individualisiert und an den familialen Kontext abgegeben, wodurch sich die Institution Schule dafür selbst aus der Verantwortung nehmen kann. Zusätzlich wird eine linguale Trennung aufrechterhalten, in
6Cummins selbst ging in seinen frühen Arbeiten davon aus, dass Kinder in ihrer Erstsprache erst ein bestimmtes Schwellenniveau erreicht haben sollten, bevor sie darauf aufbauend eine weitere Sprache erlernen, um auf diese Weise einen erfolgreichen Transfer von der einen in die andere Sprache zu gewährleisten (vgl. Dirim/Knappik 2014: 9). Er revidierte viele Annahmen der Schwellenniveauhypothese in seinen späteren Arbeiten (bspw. Cummins 2000). Im deutschsprachigen Kontext wird Gesa Siebert-Ott zufolge jedoch v. a. auf Cummins frühe Arbeiten rekurriert (vgl. Siebert-Ott 2001: 11). Zudem bezögen sich vielfach sowohl Befürworter*innen als auch Gegner*innen zweisprachiger Erziehung(sprogramme) in verkürzender Weise auf seine Arbeiten (vgl. ebd.), wobei Cummins selbst die „inappropriate conclusions“ (Cummins 2000: 193 f.) dieser Studien kritisierte. 7Cummins Interdependenzhypothese geriet in letzter Zeit in die Kritik (vgl. Dirim/Knappik 2014), weil in dieser vermittels eines relativ starren Sprachkonzepts Erst- und Zweitsprache als voneinander getrennt konzipiert werden. Auf diese Weise wird die migrationsgesellschaftliche Sprachsituation nicht ausreichend einbezogen und „migrationsspezifische Formen von Sprachalternation oder -mischung“ (Springsits 2015: 101) außer Acht gelassen (vgl. zu dieser Kritik ausführlich Dirim/Knappik 2014).
3.2 Widersprüchliche pädagogische Praktiken
91
der die Schule – als der öffentliche Raum – weiterhin monolingualistisch ausgerichtet bleibt und Mehrsprachigkeit demgegenüber ausschließlich in der Familie – als dem privaten Rahmen – seinen Platz hat. Institutionelle Praktiken und Mechanismen, durch die mehrsprachige Kinder mittels des Gebots des Deutschsprechens in Schulen (potenziell) diskriminiert und in ihrer Entfaltung behindert wurden, bleiben auf diese Weise außer Acht. Exkurs: Sprache als „Schlüssel zur Integration“ Mit der Veröffentlichung der Ergebnisse der ersten PISA-Studien in den Jahren 2000 und 2003 (vgl. Baumert u. a. 2001; PISA-Konsortium Deutschland 2005; Stanat/Baumert/Watermann 2006) und dem darauffolgenden „PISA-Schock“ rückte die Erkenntnis (wieder) in den Mittelpunkt öffentlicher wie auch medialer Debatten, dass es im Kontext der BRD einen stark ausgeprägten Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und sozialer Herkunft gibt (vgl. exemplarisch Mandry 2006; Riegel 2016: 80). Die in der BRD in den letzten Jahren durchgeführten Leistungsvergleichsstudien – unter ihnen die P ISA-Studien, die IGLU-Studien und die OECD-Bildungsstudien – belegen zudem, dass im deutschen Bildungssystem zu einem frühen Zeitpunkt eine Selektion stattfindet und Kinder mit anderen Familiensprachen als dem Deutschen im Schulsystem benachteiligt sind (vgl. Stojanov 2010: 79). Die Ursachen für Bildungsungleichheit werden dabei jedoch vielfach nicht in der Organisation der Institution Schule oder in den Erwartungen und im Verhalten von Lehrkräften8 gesucht, sondern in einer individualisierenden Sichtweise bei den vermeintlichen Defiziten von Schüler*innen und ihren Eltern, die (auch) in „nachrangige[n] Sprachen“ (Mecheril/Quehl 2006b: 366) kommunizieren.
8Forschungsergebnisse
aus dem angelsächsischen Raum legen nahe, dass Lehrkräfte niedrigere Erwartungen an Schüler*innen haben, wenn diese sowohl von Rassismus als auch von Klassismus negativ betroffen sind. Dies beeinflusst wiederum die intellektuelle Entwicklung der Schüler*innen negativ (vgl. zusammenfassend Schofield/Alexander 2012: 70–74). Zudem wird hier das Prinzip der Leistungsgruppierung wirksam, durch das in leistungsschwächeren Klassen niedrigere Leistungszuwächse der Schüler*innen insgesamt zu erwarten sind und dies dementsprechende Auswirkungen auf die Curricula besitzt (vgl. ebd.: 74 ff.) Ebenso werden Schüler*innen, die von Stereotypisierungen negativ betroffen sind, in ihrer Leistungsfähigkeit im Sinne eines Stereotype Threat beeinträchtigt (ebd.: 65–70) und darüber hinaus gibt es Hinweise, dass Lehrkräfte tendenziell die schulischen Leistungen von rassistisch markierten Kindern schlechter beurteilen als die ihrer weißen Mitschüler*innen (vgl. Allemann-Ghionda u. a. 2006: 259 f.).
92
3 (Neo-)Linguizismus im Schulkontext
In der Folge der ersten PISA-Studien sowie der OECD-Bildungsstudie von 2004 gerieten verstärkt sogenannte Kompositionseffekte der Schüler*innen in den einzelnen Schulklassen in den Blick (vgl. Baumert/Stanat/Watermann 2006). Die einzelnen Leistungsvergleichsstudien kamen allerdings zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen bezüglich einer vermeintlich stimmigen Zusammensetzung der Schulklassen. Dies mag u. a. an den verwendeten Variablen – entweder die „Herkunftssprache“ des jeweiligen Kindes oder Jugendlichen oder die natio-ethno-kulturell codierte Herkunft der Eltern – liegen. Darüber hinaus lassen sich auch die empirischen Grundlagen der Leistungsvergleichsstudien grundsätzlich in Frage stellen, worauf die Sozialwissenschaftler Torsten Feltes und David Salomon hinweisen. Sie üben insbesondere Kritik an dem „auf Messbarkeit angelegte[n] Kompetenzbegriff“ (Feltes/Salomon 2010: 146) und der Darstellung der Forschungsresultate in Form von Rankings (ebd.: 152). Viele dieser Studien messen zudem rein quantitativ die Zusammensetzung der Schüler*innenschaft ohne die jeweiligen Kontexte – Lehrer*innen, Lehrmethoden, soziales Umfeld der Schule, Finanzierungsstrukturen etc. – zu berücksichtigen. So geht bspw. die PISA-E-Studie aus dem Jahr 20009 in Bezug auf die 9. Klassenstufe davon aus, dass „[a]b einem Migrantenanteil von 10 bis 20 Prozent […] eine zunehmende Reduktion der Leseleistung zu beobachten“ (Stanat/ Baumert/Watermann 2006: 205) sei, jedoch erreiche „[e]rst ab einem Migrantenanteil von 40% oder mehr […] der Unterschied zur Referenzgruppe (Schulen mit einem Migrantenanteil von weniger als 5%) eine Größenordnung, die sich gegen den Zufall absichern lässt.“ (ebd.: 206). Die Annahme dabei war, je mehr Kinder mit sogenanntem Migrationshintergrund10 eine Schulklasse besuchten, desto schlechter sei das Niveau der deutschen Sprache, das die Kinder mit- und untereinander sprächen und damit auch das Bildungsniveau, also das Lerntempo und der Lernumfang in der Schulklasse. Demgegenüber kommt eine Studie des Berliner Senats zu den Orientierungsarbeiten der Jahrgangsstufe 2 für das Schuljahr 2003/2004 zu dem Schluss, dass alle Kinder hinsichtlich der Lese- und Rechenkompetenz schlechter abschnitten, wenn mehr als 53,6 Prozent der Schüler*innen „nichtdeutscher Herkunftssprache“ seien (vgl. Senatsverwaltung 2004b: 20).
9Dabei
handelt es sich um eine nationale Erweiterung der PISA-Stichprobe von Schüler*innen der 9. Klassenstufe in Deutschland. 10Der Migrationshintergrund wird in den PISA-Studien auf Grundlage des Geburtslandes der Eltern erfasst. Liegt dieses bei einem oder beiden Elternteilen außerhalb Deutschlands, so haben die Kinder, dieser Definition zufolge, einen Migrationshintergrund (vgl. Stanat/ Baumert/Watermann 2006: 189 f.)
3.2 Widersprüchliche pädagogische Praktiken
93
Im Zuge dieser Studien wurde die Zusammensetzung von Schulklassen verstärkt als ein Bildungsrezept konzeptionalisiert. Die Vorstellung gewann an Bedeutung, die „Kompositionseffekte“ von Schulklassen beeinflussten maßgeblich das Lern- und Entwicklungsklima für Kinder und Jugendliche. Ähnlich wie im Elementarbereich (vgl. Unterkapitel 4.2) wurde auch im Schulkontext – vor dem Hintergrund, dass quantifizier- und messbare schulische Leistungen die (beruflichen) Zukunftschancen von Schüler*innen bestimmen – die Verantwortung für eine umfassende Qualifizierung der Schüler*innen zunehmend von der Institution Schule – die Leistungsfähigkeit des Schulsystems, die Vermittlung von Wissen durch einzelne Lehrkräfte etc. – auf die Klassenzusammensetzung und damit auf die einzelnen Schüler*innen übertragen. Der Schulpädagoge Diether Hopf vertritt in diesem Zusammenhang die „time-on-task“-Hypothese, laut der Lernerfolg und Ausmaß des Deutscherwerbs darunter litten, wenn Kinder in ihrer (nichtdeutschen) Erstsprache unterrichtet würden (vgl. Hopf 2005). Erst wenn Kinder die Schul- und die Verkehrssprache auf einem quasi erstsprachlichen Niveau beherrschten, sei es sinnvoll, „schulische Lernzeit für den Erhalt oder Ausbau der Kompetenzen in der Herkunftssprache bereit zu stellen“ (ebd.: 245). Auch die kurze Zeit später veröffentlichte Studie „Sprache und Integration“ des Soziologen Hartmut Esser stellte Forschungsergebnisse vor, laut denen Mehrsprachigkeit die schulischen Leistungen nicht verbessere, sich häufig jedoch auch nicht negativ auswirke. Mit der Begründung, dass Programme mehrsprachiger Bildung also keinen besonderen Nutzen hätten, lehnte Esser diese daher aus ökonomischen Gründen ab (vgl. Esser 2006).11 Dirim und Mecheril kritisieren, dass beiden Studien „die Vorstellung zugrunde [liegt], dass es besser, unproblematischer und zumindest für die öffentliche Bildung ‚billiger‘ sei, einsprachig zu sein.“ (Dirim/Mecheril 2010: 109). In diesen Studien ist die unhinterfragte Annahme, dass „der Gebrauch anderer Sprachen die Zeit der Praxis im Deutschen verkürzen würde“ (Dirim 2006: 256), daher erreichten ohne verpflichtendes Deutschsprechen in Schulen
11In
der Wochenzeitung Die Zeit fasste Esser seine Überzeugungen folgendermaßen zusammen: „Viele Pädagogen behaupten bis heute, man müsse die Heimatsprache der Einwandererkinder fördern, denn nur wer seine Muttersprache kenne, lerne auch besser Deutsch. Zudem wird behauptet, Zweisprachigkeit fördere die kognitiven Fähigkeiten und damit den Schulerfolg. Unzählige Studien haben versucht, diese beiden Annahmen zu bestätigen – bislang vergeblich. Daraus schließe ich: Wenn die Mittel für die Maßnahmen begrenzt sind, dann sollten wir alles Geld in die Deutschförderung stecken, und zwar möglichst früh und mit zuvor erprobten Programmen.“ (Spiewak 2010).
94
3 (Neo-)Linguizismus im Schulkontext
die Schüler*innen „keine ausreichende Kompetenz im Deutschen“ (De Florio-Hansen 2003: 81) und ihnen blieben Teilhabechancen verwehrt. Zum Teil wird daher sogar die Forderung erhoben, auch in plurilingualen Familien solle überwiegend oder gar ausschließlich Deutsch gesprochen werden.12 Hier zeigt sich, dass die Schule „in ihren Strukturen und Abläufen Ausdruck aktueller Dominanz- und Machtverhältnisse“ (Quehl 2010: 188) ist; sie stützt diese zugleich und wirkt auf sie zurück. Dabei können über Topoi wie „fehlende Deutschkenntnisse“ oder „Integrationsunwilligkeit“ Verknüpfungen zu anderen Elementen rassistischer Diskurse hergestellt werden (vgl. ebd.). Mecheril und Quehl sehen dabei eine Kontinuität pädagogischer Konzepte, insbesondere der „Ausländerpädagogik“, deren Grundannahmen weiterhin wirksam seien und die „ein Ansatz des defizitorientierten und assimilativen Bezugs auf die als ‚anders‘ Geltenden [ist], der in einer Gesellschaft, der die Anderen politisch, juristisch, medial, kulturell und pädagogisch beständig produziert, immer wieder nachgefragt und erneuert wird“ (Mecheril/Quehl 2006a: 10). Aus der Forderung nach einem ‚Sprachreinheitsgebot‘ resultiert vielfach eine Abwertung von Formen und Variationen des Codeswitching13 und des Translanguaging14, wobei den Sprecher*innen zumeist eine „doppelte Halbsprachigkeit“ unterstellt wird, wie Nathalie Thomauske kritisiert:
12Esser
drückte diese Überzeugung in einem Interview mit der Konrad-Adenauer-Stiftung folgendermaßen aus: „Die Muttersprache schadet nicht. Also es gibt vielleicht einen kleinen Effekt, wenn ich nur noch türkisch spreche, dann kann das sein. Der Tag hat auch nur 24 Stunden, also daher kommt die Begrenzung. Die Bilingualität – ich hab das ja auch in der Kommunikation – die ist schlechter als die reine monolinguale ZweitsprachenKommunikation, die ist aber immer noch besser als die reine Muttersprachen-Monolingualität. So muss man es sagen.“ (Esser 2016: 81). 13Code-Switching stellt dabei Utz Maas (2008) zufolge einen geregelten Sprachwechsel als Ausdruck einer „besondere[n] Praxis von Zweisprachigen“ (ebd.: 102) dar. Davon unterscheidet er eine „sprachliche[ ] ‚Mischung‘ als Folge unzureichender Sprachkenntnisse“ (ebd.: 100), die er als Code-Mixing bezeichnet (vgl. ebd.). 14Translanguaging unterscheidet sich Ofelia García und Li Wei (2014) zufolge von CodeSwitching folgendermaßen: „[I]t refers not simply to a shift or a shuttle between two languages, but to the speakers’ construction and use of original and complex interrelated discursive practices that cannot be easily assigned to one or another traditional definition of a language“ (ebd.: 22). Nathalie Thomauske führt diesbezüglich aus, Translanguaging fokussiere stärker die Praktiken des Sprechens als das System der Sprache an sich. Sie führt das Beispiel eines Kindes an, das ein arabisches Wort in einem ansonsten französischen Satz verwendet, weil „dies daraus resultieren [kann], dass dieses arabische Wort die Bedeutung besser ausdrücken kann, als es eine Übersetzung tun würde“ (Thomauske 2017a: 49).
3.2 Widersprüchliche pädagogische Praktiken
95
[G]egenwärtig [werden] Sprechweisen von Sprecher_innen, die mehrere Varietäten, Sprachsysteme oder Codes miteinander und ineinander verweben, in Form von Translanguaging (García; Wei 2014) oder Code-Switching (Auer 2013), als „Semilingualismus“ bzw. „Halbsprachigkeit“ als defizitär abgewertet (Hinnenkamp; Meng 2005). Es wird behauptet, dass das monolinguale Sprachsystem nicht vollständig entwickelt ist, weder in der „Herkunftssprache“ noch in der „Nationalsprache“ […]. (Thomauske 2017a: 95)
Häufig wird auch im Klassenzimmer ein ,Sprachreinheitsgebot‘ wirksam, da Schulen durch die Vielfalt der in ihnen gesprochenen Sprachen, Codes und Mischformen […] beunruhigt [sind] – auch und gerade weil diese sprachliche Pluralität zumeist außerhalb des eher einsprachigen ‚offiziellen‘ Schulgeschehens in informellen Bereichen stattfindet. (Mecheril/Quehl 2006a: 9)
Dadurch wird aber zugleich „die sprachliche Einseitigkeit formeller Schulrealität nicht nur zum Teil skurril kontrastiert, sondern auch herausgefordert“ (ebd.). Die Relevanz guter Deutschkenntnisse als Kommunikationssprache, aber v. a. als „Schlüssel zum Bildungserfolg“ (vgl. Gogolin/Neumann/Roth 2003: 50) betont dabei eine Vielzahl an (erziehungswissenschaftlichen und fachdidaktischen) Autor*innen. Horst Bartnitzky geht davon aus, dass „[i]n Deutschland […] die deutsche Sprache bestimmende Schul- und Gesellschaftssprache [ist]. Nur wer sie beherrscht, kann die Bildungsmöglichkeiten nutzen“ (Bartnitzky 2003: 7). Auch das PISA-Konsortium kam in der im Jahr 2003 durchgeführten PISA-Studie zu dem Schluss: „Die Beherrschung der deutschen Sprache kann als grundlegende Voraussetzung angesehen werden, damit Schülerinnen und Schüler dem Unterricht folgen und ein Kompetenzniveau erreichen können, das ihnen die Teilhabe am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben ermöglicht“ (PISA-Konsortium Deutschland 2005: 33)
Insbesondere im Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis steht die Forderung nach Deutschkompetenz jedoch ganz zentral im Zeichen des Integrationsparadigmas und artikuliert sich vordergründig über verbesserte „Partizipationsmöglichkeiten“. Zu nennen sind hierbei bspw. Handreichungen und Empfehlungen seitens verschiedener politischer und politiknaher Institutionen wie dem „Bundesamt für Migration und Flüchtlinge“ (BAMF), dem „Bildungsministerium für Bildung und Forschung“ (BMBF) oder der „Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland“ (KMK). Das BAMF äußerte sich in einem Positionspapier zur „Sprachliche[n]
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3 (Neo-)Linguizismus im Schulkontext
Bildung für Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland“ von der Kita bis zur Hochschule sowie damit verbundenen Praxisfeldern im Jahr 2008 folgendermaßen Die wichtige Rolle von guten Deutschkenntnissen für die Integration ist bei den handelnden Akteuren unumstritten. Deutschförderung ist ein zentraler Bestandteil einer aktivierenden Integrationspolitik. Hinter den Angeboten der Deutschförderung steht die Absicht, als Integrationsbarriere wirkende fehlende Deutschkenntnisse von neu zugewanderten oder bereits länger hier lebenden Menschen mit Migrationshintergrund abzubauen und damit ihre Partizipationsmöglichkeiten zu verbessern. Angebote zur sprachlichen Bildung von Kindern und Jugendlichen, aber auch Erwachsenen einer anderen Erstsprache als Deutsch, zielen auf die Vermittlung von allgemein-, aber insbesondere auch bildungs- und fachsprachlichen Kenntnissen. Letztere sind die Voraussetzung für einen kompetenten Umgang mit den Aufgaben des Verstehens, Verarbeitens, Denkens und Formulierens in der deutschen Sprache und damit für eine erfolgreiche Bildungsbiographie. (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2008: 11)
Deutschkompetenz wird in dieser Lesart als notwendige Voraussetzung für Integration und damit gesellschaftliche Partizipation verstanden. Der Rekurs auf Teilhabe erfolgt hierbei im Kontext aktueller Integrationsdebatten, in denen „[d]eutsche Sprachkenntnisse […] immer mehr zum Synonym für erfolgreiche ‚Integration‘“ (zur Nieden 2013: 48) geworden sind; ,Sprache‘ gilt damit als „Schlüssel zur Integration“.15 Die Verknüpfung von Integrations- und Sprachpolitik betrifft jedoch bei Weiten nicht alle bi- oder plurilingualen Personengruppen (vgl. Becker 2018: 172), sondern ist stark durch die Überlagerung von Rassismus und Klassismus geprägt, wie María do Mar Castro Varela betont: „Integrationspolitik [muss] als eine Klassenpolitik gelesen werden […], die sich in ihrer Rhetorik rassistischer Muster bedient“ (Castro Varela 2013: 30). Birgit zur Nieden kritisiert, im seit dem Jahr 2005 gültigen Zuwanderungsgesetz, sei „[d]ie ‚Integration‘ […] eine individuell zu erbringende Leistung und wird zur Voraussetzung des Zugangs. Das damit verbundene Versprechen bleibt allerdings unklar: wozu soll man eigentlich Zugang erhalten, woran kann man partizipieren?“ (zur Nieden 2009: 135)
15Dabei
darf nicht vergessen werden, dass die Forderungen nach „‚Integration‘ und Deutschlernen bereits vor dem Gesetz von 2005 eine lange Geschichte haben und Realität in Deutschland sind. Beides fand auf vielfältige Arten und aus verschiedenen Perspektiven statt, bevor die Förderung und Forderung gesetzlich festgeschrieben wurde.“ (zur Nieden 2009: 127 Hervorheb. i. Orig.).
3.2 Widersprüchliche pädagogische Praktiken
97
Diese Frage stellt sich insbesondere in Zeiten neoliberaler Responsibilisierung neu: „Besonders im Postfordismus ist die gesellschaftliche Vermittlung über Arbeit stets prekär, und die ‚Integration‘ wird zur individuellen Anforderung ohne die Aussicht auf Einschluss durch Arbeit.“ (ebd.). Wie Stephan Lanz betont, seien mit dem neoliberal turn integrationspolitische Konzepte dominant geworden, „die dem Modell des aktivierenden, Welfare durch Workfare ersetzenden Sozialstaates folgen“ (Lanz 2009a: 106). Damit wird „Integrationspolitik […] als Investition in das unternehmerische Subjekt ,Einwanderer‘ verstanden und im Kern auf die Felder Bildung und Arbeitsmarkt beschränkt.“ (ebd.). Im Bereich der Bildung wirken sich diese integrationspolitischen Forderungen in einer zunehmenden Responsibilisierung von rassistisch und klassistisch depriviligierten Familien aus. Diese werden als (selbst-)verantwortliche Subjekte (vgl. Bröckling 2013; vgl. auch Barry/Geier/Rose 1993; Rose/Miller 1992) angerufen, deren „moralische Qualität“ sich Thomas Lemke zufolge v. a. daran bemesse, inwieweit sie „die Kosten und Nutzen eines bestimmten Handelns in Abgrenzung zu möglichen Handlungsalternativen rational“ (Lemke 2007: 55) kalkulierten: „Da die Wahl der Handlungsoptionen […] als Ausdruck eines freien Willens auf der Basis einer selbstbestimmten Entscheidung erscheint, sind die Folgen des Handelns dem Subjekt allein zuzurechnen und von ihm selbst zu verantworten.“ (ebd.). In diesem Sinne ist im „aktuell dominante[n], v. a. an ökonomischen Interessen orientierte[n], marktförmige[n] Bildungsverständnis“ (Riegel 2016: 79) „die Ansicht [vorherrschend], an der Ausbildung von sogenanntem Humankapital anzusetzen […], das die Einzelnen qualifiziert, an der Gesellschaft zu partizipieren und so möglicherweise Bildungsbenachteiligungen auszugleichen“ (ebd.: 81; vgl. Klieme u. a. 2007). Im Kontext Berlins entstanden in diesem Zusammenhang verschiedene Projekte der aufsuchenden Elternarbeit. Bspw. bietet die AWO in Kooperation mit der Impuls-Stiftung in verschiedenen Bezirken, u. a. Friedrichshain-Kreuzberg und Mitte, die Programme HIPPY (Home Instruction for Parents of Preschool Youngsters) für Kinder im Alter von 3–5 Jahren und OPSTAPJE für Kinder zwischen 18–24 Monaten an (vgl. AWO Spree-Wuhle 2019a; Impuls-Stiftung 2019). Das 1998 in Berlin eingeführte Programm HIPPY hat laut Infobroschüre die „Stärkung der erzieherischen Kompetenzen sowie die Sprachförderung und die damit verbundene Verbesserung der Bildungschancen von Kindern aus Familien mit Einwanderungsgeschichte“ (AWO Spree-Wuhle o. J.) zum Ziel. HIPPY soll Müttern, bzw. der jeweiligen Erziehungsperson dabei helfen, ihr Kind ab einem Alter von vier Jahren auf den Schulbesuch vorzubereiten. Unter Anleitung von „Hausbesucherinnen“ und mithilfe von Arbeitsmaterialien wie Bilderbüchern oder Mal- und Arbeitsblättern sollen die Mütter mit ihrem Kind
98
3 (Neo-)Linguizismus im Schulkontext
täglich 20–30 Minuten üben. Neben dem teilnehmenden Kind könnten auf diese Weise auch die Mütter „einen besseren Zugang zur deutschen Sprache“ (Senatsverwaltung 2004c) erhalten. In einer Pressemitteilung des Berliner Senats aus dem Jahr 2004 zeigte sich noch ein überwiegend defiziorientierter Blick auf die angesprochenen Familien – ihr Hauptproblem seien mangelhafte Deutschkenntnisse und die Kinder würden häufig nur ungenügend kognitiv gefördert (ebd.).16 Anlässlich des 20-jährigen Jubiläums in Berlin im November 2018 veröffentlichte die AWO eine Broschüre, in der die damalige Defizitorientierung keine Rolle mehr spielt. Vielmehr ist viel von „Empowerment“ die Rede und HIPPY wird als „Erfolgsgeschichte“ vorgestellt, die wesentlich auf der „ressourcenartige[n] Dreiecksbeziehung zum gegenseitigen Vorteil aller Beteiligten“ (AWO Spree-Wuhle 2019b: 4) beruhe. Ein weiteres Programm aufsuchender Elternarbeit stellt das Projekt „Stadtteilmütter“ dar, das im Jahr 2000 im Bezirk Neukölln durch das Quartiersmanagement Schillerpromenade initiiert wurde. Mittels einer „Sprachkonferenz“ hatten „BewohnerInnen und unterschiedliche Akteure des Kiezes (Kita- und SchulleiterInnen, Vertreter von Migrantenorganisationen und Beratungseinrichtungen, etc.) [sic] eine Bestandsanalyse der Probleme der Familien im Wohngebiet“ (Kurzbeschreibung Pilotprojekt Fachbereichsleiterin Soziales/ Migration, Diakonisches Werk Neukölln-Oberspree e. V. 2007) vorgenommen und auf dieser Grundlage das Modellprojekt „Stadtteilmütter“ im „Schillerkiez“ entwickelt. Zielgruppe des Projekts waren „Familien mit Migrationshintergrund […], die bisher wenig oder gar keinen Zugang zum hiesigen Erziehungssystem haben, deren Kinder also nicht in Kindertagesstätten gehen.“ (Kurzbeschreibung Pilotprojekt ebd.). Das Projekt bot Frauen ohne Arbeitsverhältnis die Gelegenheit, sich als Multiplikatorinnen über die umfassende Förderung ihrer Kinder zu informieren; zugleich sollten sie über die Anstellung im Projekt an eine reguläre
16In
der Pressemitteilung hieß es: „Immer mehr Migrantenkinder im Vorschulalter sprechen nur schlecht deutsch. Die Annahme, dass die hier geborenen Kinder durch Eltern, Kindergartenbesuch und den natürlichen Spracherwerb in ihrem Wohnumfeld die deutsche Sprache ausreichend erlernen, hat sich nicht bestätigt. Hinzu kommt, dass sie kognitiv häufig nur ungenügend gefördert sind. Die Arbeiterwohlfahrt als Träger des Projekts registriert eine wachsende Hilflosigkeit der Eltern. Diese Situation führt dazu, dass die Kinder von ihren Eltern nicht in ausreichendem Maße auf die Schule vorbereitet werden und somit ein ,regulärer‘ Unterricht zumindest an einigen Schulen im Berliner Innenstadtbereich kaum noch möglich ist.“ (Senatsverwaltung 2004c).
3.3 Linguale Dominanzverhältnisse durchbrechen
99
Erwerbstätigkeit herangeführt werden. Das Projekt war so erfolgreich, dass es innerhalb Berlins sowie auch deutschlandweit mehrfach übernommen wurde.17 Während die vorgestellten Projekte tendenziell von einem temporären Nacheinander des Erwerbs von Deutschkompetenzen und einer daran anschließenden,gelungenen Integration‘ ausgehen, könnte dieses Verhältnis auch anders gedacht werden: weniger in einem zeitlich-linearen Verständnis, sondern als sich gegenseitig verstärkende und bedingende Effekte. Gesellschaftliche Teilhabe im Sinne von „urban citizenship“ (vgl. Bauböck 2003) wäre dann ein Ausgangspunkt, von dem aus parallel, vorausgegangen oder auch nachgeordnet das Erlernen der jeweils dominanten Sprache erfolgte. So könnte der aktuell vorherrschende Integrationsdiskurs „von einem Mehrsprachigkeitsdiskurs abgelöst werden, der sich von dem [der Teilhabe vorangestellten, Anmerkung I.D.] Dogma des Erlernens der Nationalsprache verabschiedet hat und die mitgebrachten Sprachen von Migrantinnen und Migranten ernst nimmt“ (Heuck-Yoo/Kanitz 2013: 68).
3.3 Linguale Dominanzverhältnisse durchbrechen Ich verleihe mir meine Flügel, dann gehe ich! (Interview 2-2014)
Als an der Ahorn-Grundschule die Erzieherin Sevda Yılmaz ganz selbstverständlich auch auf Türkisch mit einigen Kindern sprach, wurde sie von diesen darauf hingewiesen, dass es an der Schule untersagt sei, andere Sprachen als das Deutsche zu sprechen: Die Schüler haben mich aufmerksam// ja? „Wir dürfen hier nicht Türkisch reden, Frau Yılmaz!“ Frage ich: „Wieso dürft ihr nicht? Aber ich kann ja Türkisch und Deutsch.“ „Wir reden hier nur Deutsch.“ sagen die Kinder. „Wieso? Aber wieso sind die anderen Sprachen verboten?“ „Weil die Erzieherinnen das sagen“, haben die Kinder mir erwidert. Und das fand ich dann irgendwie oahh! (Interview 2-2014)
Die Inkorporierung des ‚Deutschgebots‘ seitens der Kinder lässt darauf schließen, dass das ‚Verbot‘, andere Sprachen zu benutzen, an der Schule überaus wirkmächtig war, auch wenn es keine offizielle Gültigkeit besaß. Sevda Yılmaz
17Die Aushandlungsprozesse um die praktische Realisierung des Projekts „Stadtteilmütter“ hat hierbei Sulamith Hamra vor dem Hintergrund städtischer Integrationspolitiken untersucht (Hamra 2018).
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3 (Neo-)Linguizismus im Schulkontext
äußerte sich daher – im Wissen darum, dass es keine offizielle Deutschpflicht an Schulen gibt – in einem Gespräch der Schulleitung gegenüber selbstbewusst und forderte diese auf, ihr das „Gesetz“ bzw. den entsprechenden „Paragraphen“ zu zeigen, der ein solches Verbot regelt: Hallo? Wo leben wir denn? Ich meine: „Gibt es so ein Gesetz, dass die Muttersprache in den Schulen nicht erlaubt ist? Dann möchte ich dieses Gesetz sehen!“, habe ich gesagt, ja? „Ich möchte diese Paragraphen sehen, wenn das so ist. Dann kann ich mich darauf einstellen, ja? Und dann mal recherchieren, warum das so ist.“ (Interview 2-2014)
Sevda Yılmaz nutzte hier offensichtlich Ironie als rhetorisches Stilmittel, um die Schulleiterin darauf hinzuweisen, dass in der Schule ein (impliziter) monolingualistischer Konsens vorherrschte. Diesen nahmen Sevda Yılmaz’ Kolleg*innen als eine anzustrebende Norm wahr, ohne durch ein verbindliches und über die konkrete Schule hinausreichendes Gesetz gebunden zu sein. Aufgrund des dem neolinguizistischen Sprachregime inhärenten Machtverhältnisses konnten sie sich jedoch so verhalten, als gebe es die entsprechende gesetzliche Regelung. Um dieses Machtverhältnis zu erschüttern, wandte sich Sevda Yılmaz an die Schulleiterin, von der sie sich – ungeachtet ihres selbstbewussten Auftretens – sehr wahrscheinlich Unterstützung wünschte. Als allen Kolleg*innen Vorgesetzte gehört die Schulleiterin einer höheren Hierarchieebene an; sie ist den pädagogischen Fach- sowie den Lehrkräften bis zu einem gewissen Grad weisungsbefugt und hat somit Einfluss auf die an der Schule gültigen pädagogischen Grundsätze und deren Umsetzung. Im direkten Gespräch habe die Schulleitung auch versichert, sie schätze die mehrsprachige Kompetenz ihrer Kollegin, jedoch forderte Sevda Yılmaz vergeblich: „,Das sagst Du, das sagst Du mir unter vier Augen. Das musst du im Kreis, wo wir unsere Konferenz haben, sagen, damit es jedes Mal wirklich ‘klick’ macht, ja?‘“ (Interview 2-2014). Vor den anderen Kolleg*innen erfuhr Sevda Yılmaz jedoch keine direkte Unterstützung von dieser. Hier zeigt sich, wie die Schulleiterin bestehende linguizistische Privilegierungen unterstützte, selbst wenn sie dies möglicherweise nicht intendierte. Indem diese nicht bereit war, in den Schulkonferenzen Sevda Yılmaz’ sprachbezogene pädagogische Praktiken offen zu verteidigen, reflektierte und kritisierte sie bestehende linguizistische Diskriminierungsstrukturen nur unzureichend. Auch wenn sie also Sevda Yılmaz’ Mehrsprachigkeit ‚unter der Hand‘ willkommen hieß, war sie nicht bereit, einen generellen Wandel der
3.3 Linguale Dominanzverhältnisse durchbrechen
101
lingualen pädagogischen Praktiken und Organisationsformen in Betracht zu ziehen. Nachdem Sevda Yılmaz von der Schulleiterin keine Unterstützung erfuhr, entschied sie sich letztlich, ihre Mehrsprachigkeit trotzdem und auch ohne den Rückhalt von vorgesetzter Stelle bewusst in ihre Arbeit zu integrieren: „Es ist mir ganz egal, auch die Leute, die mich vorher aufmerksam gemacht haben, dass ich nicht [in der Erstsprache, Anmerkung I.D.] reden soll in deren Gegenwart. Im Gegenteil, rede ich auch mit den Kindern, singe ich mit den Kindern.“ (Interview 2-2014).
Sich wie Sevda Yılmaz der dominanten Sprachpraxis und -anforderung zu widersetzen, kann als Moment gelesen werden, in der diese die monolingualistische Normsetzung in Frage stellte und zur selben Zeit sich die anderen Lehrkräfte an der Schule von ihr in Frage gestellt fühlten. Sevda Yılmaz’ klare Haltung wurde dabei durch ihre Erfahrung und ihr Wissen um pädagogische Einrichtungen in Berlin gestärkt, in denen Mehrsprachigkeit ganz selbstverständlich verankert ist: „Da ich jetzt diese Situation erlebt habe, sehe ich es nicht ein, auf diesem Boot mit euch zu bleiben!“, habe ich [zur Schulleitung, Anmerkung I.D.] gesagt. „Ich verleihe mir meine Flügel, dann gehe ich! Dann gehe ich dahin, wo ich dann willkommen bin. Dass man mich so akzeptiert, wie ich bin. Denn ich weiß, dass es in Berlin diese Orte gibt.“ (Interview 2-2014)
An Sevda Yılmaz’ widerständigen Praktiken und ihrer Weigerung, die implizite monolinguale Normsetzung in ihrem Arbeitskontext mitzutragen, zeigt sich, wie gesellschaftliche Machtverhältnisse – hier: eine linguizistische monolinguale Normsetzung – als subjektivierendes Moment wirken, in denen Individuen dazu aufgefordert sind, sich zu diesen zu verhalten. Denn, wie Michel Foucault herausarbeitet, sind Subjekte „nicht das Gegenüber der Macht“, sondern „eine ihrer ersten Wirkungen“ (Foucault 2001: 45): „Das Individuum ist ein Machteffekt und gleichzeitig, in genau dem Maße, wie es eine ihrer Wirkungen ist, verbindendes Element: Die Macht geht dank des Individuums, welches von ihr konstituiert wurde, durch.“ (ebd.). Ebenso wie Foucault versteht auch Judith Butler Subjekte immer zugleich als durch Machtverhältnisse konstituiert – diesen unterworfen – als auch dazu fähig, selbst Macht auszuüben (vgl. Butler 1993: 45), wobei sie einschränkend darauf hinweist, dass „die Macht nicht die Letztbegründung des Subjekts“ (Krasmann
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3 (Neo-)Linguizismus im Schulkontext
2003: 133; vgl. Butler 2001: 20) ist. Aus der „Doppelbewegung“ des Subjekts (fr. sujet) als den Machtverhältnissen „unterworfen“ sowie (als „Person“ oder „Staatsbürger*in“) selbst Macht aktiv ausübend und gestaltend, lässt sich Macht auch „vom Widerstand her […] untersuchen“ (Pieper/Gutiérrez Rodríguez 2003: 9). Somit spiegeln sich widerständige Praktiken jeweils in der spezifischen Form wider, in der sich das Subjekt „in der Begegnung mit der Macht“ (Krasmann 2003: 133) konstituiert. Bezogen auf Sevda Yılmaz bedeutet dies zwar, dass diese den impliziten Regeln an ihrer Arbeitsstelle unterworfen war, nichtsdestotrotz aber auch Handlungsmacht besaß. Ihr Wissen um andere, Mehrsprachigkeit anerkennende pädagogische Ansätze und um konkrete Schulen in Berlin, die sich diesen Konzepten verpflichtet fühlen, stärkten sie. Als letzte Option und zugleich als Druckmittel zog sie dementsprechend den Wechsel an eine andere Schule in Betracht und zeigte dies der Schulleiterin als möglichen Handlungsrahmen auf. Mit einem gewissen Erfolg: Schon kurze Zeit später begann die Schule, Mehrsprachigkeit verstärkt konzeptionell zu verankern, bspw. über das Projekt „Interaktives Bilderbuchkino“ der Bürgerstiftung Berlin, das beinhaltet, dass Bilderbücher in verschiedenen Sprachen vorgelesen werden und die an die Wand projizierten Bilder die Kinder zum Miterleben der Geschichten und zum freien Erzählen anregen sollen (vgl. Bürgerstiftung Berlin o. J.). Auch wenn die Ahorn-Grundschule also erste Schritte in Richtung eines Plurilingualität anerkennenden Ansatzes vollzog, entschied sich Sevda Yılmaz letztlich doch, an die Schule zu wechseln, die sie vor über 30 Jahren mitbegründet hatte und an der sie nicht befürchten musste, mit ihrer (sprach-)pädagogischen Praxis auf Widerstände, Unverständnis und diffuse Ängste zu stoßen.
3.4 ‚Chancen‘ und ‚Potenziale‘ von Mehrsprachigkeit Das an die Erzieherin Sevda Yılmaz gerichtete „Verbot“, andere Sprachen als das Deutsche zu verwenden, muss vor dem Hintergrund des vor einigen Jahren intensiv geführten Diskurses um eine „Deutschpflicht auf Schulhöfen“ gelesen werden. Ein Verbot, andere Sprachen als das Deutsche an Schulen zu sprechen, existiert im Kontext der BRD nicht. Jedoch wurde die Einführung einer entsprechenden gesetzlichen Regelung in Bezug auf staatliche, monolingual ausgerichtete Schulen
3.4 ‚Chancen‘ und ‚Potenziale‘ von Mehrsprachigkeit
103
immer wiederkehrend von Politik, Bildungsforschung und (pädagogischen) Praktiker*innen diskutiert.18 Im Jahr 2010 sprach sich die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK) gegen ein verpflichtendes Verbot der Erstsprachen von Kindern auf deutschen Schulhöfen aus; eine solche Regelung könne lediglich schulintern und unter Zustimmung aller Beteiligten in der jeweiligen Schulordnung vereinbart werden (vgl. Abgeordnetenhaus Berlin 2010: 4), wie dies an einer Sekundarschule in Berlin-Wedding erfolgt sei, an der sich im Jahr 2005 die Schüler*innen in einer Schulkonferenz selbst dazu verpflichtet hatten, an ihrer Schule auch außerhalb des Unterrichts ausschließlich Deutsch zu sprechen. Die Schule besuchten zum Zeitpunkt der Beschlussfassung überwiegend Kinder, die als Erstsprache die tendenziell abgewerteten Einwanderersprachen Türkisch, Arabisch, Polnisch oder Serbisch sprachen (vgl. Reimann 2006). Die KMK erweckte in anderen Empfehlungen den Eindruck, sie befürworte Mehrsprachigkeit v. a. im Curriculum und durch Lehrkräfte angeleitet. So hieß es im Beschluss zu den „Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Hauptschulabschluss (Jahrgangsstufe 9)“ aus dem Jahr 2004: „Erfahrungen der Mehrsprachigkeit führen zu vertiefter Sprachkompetenz und Sprachbewusstheit. Sie sind Teil der Arbeit in allen Kompetenzbereichen des Faches und unterstützen somit interkulturelles Lernen und soziale Verständigung“ (Kultusministerkonferenz 2004: 7, Hervorheb. I.D.).
In den Jahren nach dieser eher uneindeutigen Positionierung zur alltagsweltlichen Mehrsprachigkeit an Schulen setzte sich die KMK zunehmend für eine aktive Auseinandersetzung mit und Förderung der Mehrsprachigkeit der Schüler*innenschaft ein, bspw. in der Empfehlung für „Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule“ aus dem Jahr 2013, in der betont wird, es bedürfe „einer Schule der Vielfalt, die frei ist von offener und versteckter Diskriminierung und sich bewusst auf die soziale, kulturelle und sprachliche Heterogenität der
18Debatten
um eine „Deutschpflicht“ an Schulen wurde jedoch nur in Bezug auf diejenigen (staatlichen) Schulen geführt, die einen hohen Anteil an Schüler*innen aufweisen, deren Sprachen nicht in den Kanon der Schulfremdsprachen aufgenommen werden (vgl. Gogolin 2008: 24–27). Als Ausnahme kann die Anfang 2015 erhobene Forderung des Berliner Senats gewertet werden, eine Deutschquote für den Unterricht an Privatschulen mit englischsprachigem Schwerpunkt einzurichten. Jedoch bezog sich diese Forderung nicht auf die Alltagskommunikation (auf dem Schulhof), sondern auf den Anteil der deutschen Sprache im Unterricht (vgl. Vieth-Entus 2015).
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3 (Neo-)Linguizismus im Schulkontext
Schülerschaft ausrichtet“ (Kultusministerkonferenz 2013: 3). Diese inhaltliche Neuausrichtung spiegelte sich auch in einer im Mai 2014 durchgeführten KMK-Fachtagung in Berlin zum Thema „Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule“ (vgl. Kultusministerkonferenz 2014) wider. Parallel und zum Teil quer zur Debatte um eine „Deutschpflicht“ an Schulen, die nicht nur in Berlin über Jahre hinweg geführt wurde, rückten in jüngerer Zeit zunehmend die ‚Chancen‘ und ‚Potenziale‘ mehrsprachiger Bildung und Erziehung medial und politisch in den Blick (vgl. Ludwig 2014a; Rüschemeyer 2014). Bspw. hatten das von 2004 bis 2009 von der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung geförderte Modellprogramm „Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund – FörMig“ (FörMig o. J.a) sowie die anschließende Transferphase in fünf Bundesländern (vgl. FörMig o. J.b) beide zum Ziel, „unter den Bedingungen von Mehrsprachigkeit“ (Salem 2010: 15) eine durchgängige Sprachbildung ab dem Eintritt in die Kita zu implementieren, wobei diese verstanden wurde als „ein Gesamtkonzept sprachlicher Bildung, das über punktuelle Förderung hinausgeht“ (ebd.: 19). Das Konzept sieht vor, „Kindern dazu [zu] verhelfen […], die Unterschiede zwischen Alltagssprache, dem alltäglichen Kommunizieren und dem, was bildungssprachlich verlangt ist“ (FörMig o. J.c) nahezubringen. Grundannahme ist, dass insbesondere an den Übergängen im Bildungssystem die Förderung bildungssprachlicher Fähigkeiten nur gelingt, wenn sie systematisch, koordiniert und kontinuierlich durch die Bildungsbiographie hindurch erfolgt – und zwar nicht nur im sprachlichen Unterricht im engeren Sinne, sondern auch im Unterricht der anderen Fächer und Gegenstandsfelder. (ebd.)
Das BMBF rief zudem im Jahr 2014 den „Förderschwerpunkt ‚Sprachliche Bildung und Mehrsprachigkeit‘“ (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2014) aus und legte den „Fokus auf die Potenziale gesellschaftlicher und individueller Mehrsprachigkeit“, um „das vorhandene Potenzial an Sprachkenntnissen und Sprachlernerfahrungen, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, zu fördern“ (ebd.). Daneben widmet sich die Universität Potsdam – gefördert von der Robert-Bosch-Stiftung – seit einigen Jahren der Erforschung des „Kiezdeutsch’“19 und die unternehmensverbundene
19Dabei
führt der Fachbereich Germanistik der Universität Potsdam das von der RobertBosch-Stiftung geförderte Projekt „Lassma Sprache erforschen“ in Kooperation mit mehreren Schulen in Berlin und Frankfurt/M. durch (vgl. Universität Potsdam o. J.).
3.4 ‚Chancen‘ und ‚Potenziale‘ von Mehrsprachigkeit
105
Siemens-Stiftung unterstützte von 2008 bis 2015 das Sprachförderprogramm KIKUS „Kinder in Kulturen und Sprachen“(vgl. Siemens-Stiftung 2017), das für Kinder zwischen drei und zehn Jahren konzipiert ist, die Deutsch als Zweitsprache lernen.20 Diese neueren Ansätze und Programme machen deutlich, dass die Anerkennung von Plurilingualität auf programmatischer Ebene angekommen ist. Inwieweit es sich aber jeweils um „top-down-Ansätze“ handelt, die in den Institutionen nicht immer so verstanden werden, wie es von Seiten der Politik intendiert ist, bleibt abzuwarten (vgl. in Bezug auf den Kontext Großbritannien Gomolla 2006). Während das oben genannte Konzept der durchgängigen Sprachförderung von vornherein mit dem Eintritt eines Kindes in eine „frühkindliche Bildungseinrichtung“ einsetzt und sich durch alle Bildungsetappen ziehen soll, richtete sich auch der Blick der Vertreter*innen einer (bislang flächendeckend gescheiterten) Deutschpflicht auf Schulhöfen verstärkt auf die Phase des Kitabesuchs, wobei hier ein überwiegend defizitorientierter Blick auf plurilinguale Kinder und Jugendliche fortwirkt. Im Jahr 2010 forderte bspw. der Niedersächsische Innenminister Uwe Schünemann (CDU) in der Süddeutschen Zeitung, statt einer schulischen Deutschpflicht eine – ebenfalls als Deutschförderung verstandene – „frühzeitige Sprachförderung junger Migranten in den Kindergärten“ (o. V. 2010, Hervorheb. I.D.) einzuführen, mit dem Ziel ihre Deutschkompetenzen zu verbessern und über diesen Weg zu gewährleisten, dass in den Schulen deutsch gesprochen werde (vgl. ebd.). Die wahrgenommene Problematik und zugleich der Versuch deren Lösung wurde somit auf ein früheres Alter verschoben und darüber auch Kitas verstärkt in die Pflicht genommen, allen Kindern ausreichende Deutschkenntnisse zu vermitteln. Aus meiner Perspektive haben hierbei zwei Argumentationslinien die verstärkte, intensivierte und strukturierte Deutschförderung mit Beginn der Kitazeit befördert. Das erste Begründungsmuster bezieht sich darauf, dass – wenn schon keine Deutschpflicht auf Schulhöfen durchsetzbar ist – plurilinguale Kinder bereits in der Kita im Deutschsprechen gefördert werden sollen. Dadurch werden die Schulen entlastet und diese „muss nun nicht mehr (allein) die Verantwortung tragen, den Kindern die Unterrichtssprache bzw. (in dieser Sprache) Wissen zu vermitteln“ (Springsits 2015: 103). Das zweite Argument bezieht sich eher auf die oben skizzierte Nutzendebatte von Mehrsprachigkeit, durch die möglichst schon in einem frühen Alter angesetzt werden soll, in dem Kinder sich
20In
Berlin hat sich das Konzept (bislang) nicht flächendeckend etabliert.
106
3 (Neo-)Linguizismus im Schulkontext
Sprachen leicht und spielerisch aneignen können. In beiden Argumentationslinien „[können] Unterschiede im Schulerfolg […] nun einfach dadurch erklärt werden, dass Kinder mit falschen Voraussetzungen in die Schule kommen“ (ebd.). Dies lenkt wiederum den Blick weg von schulischen Diskriminierungsroutinen und setzt in individualisierender und responsibilisierender Weise an den einzelnen Adressat*innen von Schule an (s. o.). Zeitgleich wächst der Druck auf pädagogische Fachkräfte und Lehrer*innen, den Kindern möglichst früh die Bildungssprache zu vermitteln (vgl. Thomauske 2015: 86). Der vorverlegte Beginn der Sprachförderung des Deutschen fällt zusammen mit der (An-)Forderung an und dem Selbstverständnis von Kitas, als „frühkindliche Bildungseinrichtungen“ die Kinder auf die Schule vorzubereiten. Auf diese Praktiken der vorschulischen ‚Sprachförderung‘ (des Deutschen) im Kitakontext gehe ich im vierten Kapitel näher ein.
3.5 Anerkennung sprachlicher Vielfalt Die existierende Sprachenvielfalt an Schulen anzuerkennen kommt aus dem Grund besondere Bedeutung zu, dass Mehrsprachigkeit […] ein Faktum gegenwärtiger gesellschaftlicher Kontexte [ist], die von transnationaler Wanderung und damit verbundenem Beitritt einer Vielzahl von Sprachen geprägt sind: Auf unbestimmte Dauer wird in Deutschland nicht allein Deutsch, sondern werden in erheblichem Maße auch andere Sprachen gesprochen werden. (Mecheril/Quehl 2006b: 371)
Bildungsinstitutionen sind somit aufgefordert, sich am Faktum der Pluralität der hierzulande gesprochenen Sprachen auszurichten, denn: „Will man ihnen pädagogisch nicht mit der […] Gewalt eines Redeverbots begegnen, bleibt keine Alternative als sie […] wahrzunehmen und […] in einem grundlegenden Sinn zu achten“ (ebd.). Eine „nüchterne Pädagogik der An-Erkennung sprachlicher Vielfalt“ (ebd., Hervorheb. i. Orig.) basiert darauf, dass [d]ie Schule ein positives Klima gegenüber Zwei- und Mehrsprachigkeit [fördert], […] offen gegenüber der Anerkennung von lingualen und kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten [ist] und […] Spracherwerbs- und Bildungsprozesse zwischen den für sie bedeutsamen unterschiedlichen Sprachen und Zugehörigkeitsräumen [ermöglicht]. (ebd.: 379)
3.5 Anerkennung sprachlicher Vielfalt
107
Ein solcher Plurilingualität anerkennender pädagogischer Ansatz ist Bestandteil der Migrationspädagogik, die sich wiederum explizit als rassismuskritisch versteht. Mecheril zufolge verfolgt sie das Ziel, die „Macht institutioneller und diskursiver Ordnungen“ wahrzunehmen und „im Wissen um Widerspruchsverhältnisse die Frage zu erkunden, wie würdevolle Handlungsfähigkeit unter den Bedingungen des Gegebenen möglich ist“ (Mecheril 2014c: 160). Um dies zu erreichen, wäre jedoch ein grundsätzlicher Wandel sowohl der schulischen Elternarbeit als auch der institutionellen Organisationsstrukturen und Arbeitsweisen vonnöten. Denn schließlich ist [l]inguale Vielfalt, Mehrsprachigkeit im Klassenzimmer wie die Anwesenheit mehrsprachiger Schüler/innen, […] weder ein äußerliches noch ein einfach zu der bestehenden schulischen Realität hinzukommendes Moment, auf das die einsprachige Schule allein mit einigen singulären Veränderungen (am Rand) reagieren müsste. Die Vielfalt der in den Schulen, die nicht nur Produzentinnen, sondern auch Spiegelungen und Antizipationen gesellschaftlicher Wirklichkeit sind, gesprochenen und gelebten Sprachen fordert von den Schulen eine grundlegende Veränderung ihres Selbstverständnisses, ihrer pädagogischen Praxen und ihrer Organisationsformen. (Mecheril/Quehl 2006a: 12)
Dazu gehöre, wie Mecheril und Quehl (2006b) fordern, keine festgelegten Sprachregelungen einzuführen, denn „[z]u vielschichtig und individuell unterschiedlich ist die Kommunikation im Dreieck von Schule, Eltern und Kind“ (ebd.: 372). Somit sei es unmöglich, von vornherein zu bestimmen, welche Sprachregelung für einzelne Schüler*innen handlungsermöglichend oder -behindernd wirke. Mecheril und Quehl plädieren daher dafür, die Schüler*innen vielmehr in ihrer individuellen Sprachsituation wahrzunehmen und zu respektieren. Auf diese Weise könnten Verkürzungen und Polarisierungen vermieden werden, „die weder dem einzelnen Kind noch der schulischen Praxis gerecht werden“ (ebd.). Stattdessen wäre es Aufgabe der Schule, vielmehr je nach Kontext unterschiedliche, an den Bedürfnissen der jeweiligen Schüler*innen sowie der Fachkräfte angepasste Lösungen zu finden, um hierüber den Schüler*innen handlungsbefähigende Ansätze anbieten zu können.21
21Nicht
zuletzt sehe ich es auch als Anspruch meiner eigenen wissenschaftlichen Praxis, diese Machtverhältnisse zu reflektieren und mit zu bedenken, um ein Mehr an „würdevolle[r] Handlungsfähigkeit“ (Mecheril 2014c: 160) voranzubringen – und dies insbesondere für diejenigen, deren Plurilingualität gesellschaftlich und schulisch weiterhin nicht oder nur zu einem geringen Teil anerkannt ist.
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3 (Neo-)Linguizismus im Schulkontext
Zwar gehen Mecheril und Quehl davon aus, dass „sich nach den PISA- und IGLU-Studien neue Spielräume [ergaben], um die monolingual ausgerichtete und ‚sprachunbewusste‘ Schule umzugestalten“, allerdings [wurden und werden] im gesellschaftlich Sagbaren, in der medialen Berichterstattung und den je nach politischer Konjunktur unterschiedlich akzentuierten Diskursen über die Bildungssituation von Migrantenschülerinnen […] schnell gesamtgesellschaftliche Machtverhältnisse hörbar. (ebd.: 10)
Wie sich die Schule als Institution also langfristig zu Plurilingualität verhält und ob sie ernsthaft bestrebt ist, „vorhandenen Ungleichheiten aktiv entgegenzutreten, ohne bekannte Stigmatisierungen […] zu wiederholen“ (ebd.) ist damit ein umkämpftes Feld und Gegenstand vergangener wie künftiger Aushandlungsprozesse.
4
Sprach- und Diversitätspolitiken in einer Berlin- Kreuzberger Kita
Die Primel-Kita, in der ich mehrere Monate den Alltag der dortigen Erzieher*innen, Kinder und Eltern begleitete und teilnehmend beobachtete, ist einem freien Träger unterstellt.1 Sie liegt in einem Gebiet in Berlin-Kreuzberg, das als „sozialer Brennpunkt“ gilt und seit mehreren Jahren durch das Quartiersmanagement betreut wird (vgl. Quartiersmanagement Berlin o. J.a). Gründe hierfür liegen darin, dass überdurchschnittlich viele Personen – fast 50 Prozent – Transferleistungen beziehen und der Anteil der Bewohner*innen mit sogenanntem Migrationshintergrund bei über zwei Dritteln liegt (vgl. Quartiersmanagement Berlin o. J.b). Außerdem wohnen hier auch viele Selbstständige und Kreative, die soziostrukturell zwischen neuem Bildungsprekariat und Mittelschicht angesiedelt sind. Diese machen den Hauptbestandteil der Klientel der Kita aus, was dadurch begünstigt wird, dass seit den 1990er Jahren in der Gegend rund um die Kita – aufgrund von Gentrifizierungsprozessen wie Mietsteigerungen und Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen (vgl. Mullis 2011: 25 f.) – zunehmend soziostrukturell benachteiligte Familien, von denen wiederum viele muslimisch markiert sind, in Berliner Außenbezirke verdrängt wurden und weiterhin werden.2
1Vorarbeiten
zu den in diesem Kapitel ausgeführten Überlegungen finden sich in einem in der Zeitschrift „kuckuck – Notizen zur Alltagskultur“ veröffentlichten Beitrag (vgl. Dean 2013). 2Um diesen urbanen Aufwertungs- und Gentrifizierungsprozessen etwas entgegenzusetzen, schloss sich bspw. im Jahr 2011 die in der näheren Umgebung der Kita gelegene „Mietergemeinschaft am südlichen Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg“, besser bekannt unter dem Namen „Kotti & Co“ (vgl. Kotti & Co o. J.) zusammen. Sie wendet sich gegen steigende Mieten insbesondere im Sozialen Wohnungsbau, bspw. in Kreuzberger Großsiedlungen am Wassertorplatz, am Mariannenplatz, in der D üttmann-Siedlung sowie im Neuköllner Rollbergviertel. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Dean, Bildung – Heterogenität – Sprache, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30856-8_4
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4 Sprach- und Diversitätspolitiken in einer Berlin- Kreuzberger …
Die Feldforschung in der Primel-Kita fand zwischen Februar und Ende Juni 2011 in einer der Gruppen statt. Die Kita hatte mehrere Etagen, auf der jeweils eine Gruppe mit 18 Kindern im Alter zwischen eineinhalb und sechs Jahren untergebracht war. In jeder der Gruppen arbeiteten drei Erzieher*innen, von denen je zwei eine Zusatzausbildung zur Integrationsfachkraft besaßen. Sie waren in besonderem Maße für die Betreuung der jeweils zwei „Integrationskinder“ mit geistiger und/oder körperlicher Behinderung zuständig. Ungefähr die Hälfte der Kinder jeder Gruppe hatte einen sogenannten Migrationshintergrund, ebenso die Leiterin sowie zwei Erzieherinnen der Primel-Kita, die jedoch nicht in der von mir beforschten Gruppe arbeiteten. Im laufenden Kitajahr begannen fünf der Kinder in ‚meiner‘ Gruppe allmählich zu sprechen. Fast alle Kinder mit sogenanntem Migrationshintergrund wuchsen zwei- oder mehrsprachig auf, wobei nur vier dieser Kinder eine andere Erstsprache als Deutsch sprachen bzw. kannten. Am Beispiel der Primel-Kita befasse ich mich in diesem Kapitel damit, wie die dortigen Erzieher*innen mit den von ihnen wahrgenommenen Ansprüchen der Interkulturellen Pädagogik umgingen und wie sie diese zugleich auch ihren Interessen und Bedürfnissen entsprechend umdeuteten und für sich interpretierten (4.1). Anschließend frage ich nach versteckten Diskriminierungsdynamiken, die bei der Aufnahmepolitik der Kita-Leiterin wirksam wurden (4.2). Danach beleuchte ich, wie die pädagogischen Fachkräfte die Zusammensetzung von Lerngruppen v. a. hinsichtlich deren Effekte für ein gutes Lern- und Entwicklungsklima für die Kinder befragten (4.3). Zuletzt befasse ich mich damit, wie die Erzieher*innen mit und in ihren pädagogischen Praktiken sowohl gesellschaftlich relevante Differenz- und Dominanzverhältnisse (re-)produzierten und zugleich auch vielfach ein Bewusstsein für diese Verhältnisse zeigten und bestrebt waren, Diskriminierung abzubauen (4.4).
4.1 Programmatik und Konzeption der Primel-Kita Zu Beginn meiner Feldforschungsphase in der Kita stellte mich die Leiterin Songül Aslan den Gruppen vor und zeigte mir alle in der Einrichtung genutzten Räume, die kitaeigene Küche sowie die Außenanlage mit Garten. Jede der Etagen war im Grundriss weitgehend identisch. Die Raumstruktur war geprägt durch eine große Offenheit und Durchgängigkeit: Die beiden Räume sowie die Garderobe waren in jeder Etage durch verglaste Durchgangstüren miteinander verbunden. Um zu der Außenanlage mit Garten zu gelangen, war es notwendig, den großen Hinterhof zu durchqueren.
4.1 Programmatik und Konzeption der Primel-Kita
111
Bei unserem Rundgang erklärte mir Songül Aslan den Tagesablauf und die Vermittlungsziele der Kita: Den Erfahrungen aller Kinder solle Raum gegeben werden, was gerade nicht bedeute, die „migrantischen“ Kinder als etwas Besonderes, etwas ganz Anderes oder gar als Bereicherung für die „nicht-migrantischen“ Kinder anzusehen. Zuallererst einmal seien alle Kinder gleichberechtigt, sie seien einfach Kinder, die ihren Alltag zusammen verbrächten. Kurzum: Es gehe darum, die Gemeinsamkeiten der Kinder zu betonen (vgl. Feldtagebuch 2011: 07.02.2011). Die Kita-Leiterin vermittelte mir als – zumindest zu diesem Zeitpunkt – außenstehender Person also, wie es in der Kita idealerweise sein soll. Ihre Erklärungen interpretierte ich dahingehend, dass sie mir gegenüber in ihrer Außenpräsentation ihre Professionalität unterstreichen wollte und mir verdeutlichte, dass sie sich hinsichtlich der Interkulturellen Pädagogik auf dem aktuellen Stand der in pädagogischen Praxisfeldern geführten Diskurse bewegte (vgl. zu Praxisdiskursen: Auernheimer 2003: 121). Als mir Songül Aslan die Zielsetzung der Kita darstellte, nahm sie sehr wahrscheinlich auch implizit Bezug auf deren – im Zeitraum meiner Forschung gültige – Konzeption.3 Dieser zufolge orientierte sich die Einrichtung – gemäß der Reggio-Pädagogik (vgl. exemplarisch Dreier 1993; Knauf 2000) und des Situationsansatzes (vgl. exemplarisch Kobelt Neuhaus/Pesch 2015) – „an den Lebensbedingungen der Kinder und Eltern im Kiez“. Daher sollten alle Kinder ihre „kulturellen Hintergründe“ in die Kita einbringen und sich mit diesen akzeptiert fühlen können. Mit diesen Formulierungen könnte angenommen werden, die Kita-Konzeption lege eine überwiegend weite Definition von „Kultur“ an, die sich ganz allgemein auf die alltäglichen Lebenskontexte der Kinder und ihre familiäre Situation beziehe. Eine vergleichbare Zielsetzung teilen Ingrid Gogolin und Marianne Krüger-Potratz (2010) zufolge kritische Ansätze der Interkulturelle Pädagogik: Diese fragten danach, „welche Konsequenzen es für das Aufwachsen, die Sozialisation und die Prozesse der Erziehung und der
3Um
die Anonymität der Kita zu gewährleisten, verzichte ich auf einen Verweis auf deren Internetpräsenz und die dort frei zugängliche Konzeption. Sowohl der Internetauftritt als auch die Konzeption richten sich meines Erachtens primär an interessierte Eltern; sie stellen also wichtige Selbstdarstellungsmedien der Kita dar. Die Konzeption wurde von der Kita selbst entwickelt und wird regelmäßig aktualisiert. In Gesprächen und in den Interviews nahmen die Kita-Leitung und zwei der Erzieher*innen von selbst auf die Konzeption Bezug. Ich gehe daher davon aus, dass diese auch über die Außendarstellung der Kita hinaus für die pädagogische Praxis einen wichtigen Bezugspunkt darstellte.
112
4 Sprach- und Diversitätspolitiken in einer Berlin- Kreuzberger …
Bildung mit sich bringt, dass sie in einer sozial, kulturell und sprachlich immer komplexer, heterogener werdenden Lage geschehen“ (ebd.: 11; vgl. Luchtenberg 2005: 83). Die zunächst weitgehend offen formulierte Kulturdefinition der K ita-Konzeption wandelte sich jedoch in ihrem weiteren Verlauf nach und nach. Zunächst hieß es dort, die Lebenswirklichkeit der Kinder würde auch durch die in den Familien gesprochenen Sprachen bestimmt. Es sollte daher „[d]ie Akzeptanz der jeweiligen Muttersprache“ gefördert werden, um eine „vorurteilsfreie Beschäftigung mit der jeweiligen Kultur“ zu ermöglichen. Wie hier „Kultur“ verstanden wird, wurde aus der Konzeption nicht ersichtlich. Eine mögliche Deutung könnte aber sein, dass die Muttersprache mit der – durch die migrationsbedingte Herkunft geprägten – Kultur einer Familie und damit auf eine essenzialisierende Weise gleichgesetzt wurde. Zudem hieß es in der Konzeption, dass gemäß des „interkulturellen“ Charakters der Einrichtung den Kindern „Akzeptanz und Respekt“ für andere „Nationen und Kulturen“ nahegebracht werden solle; diese sollten „einen gleichberechtigten, selbstverständlichen (Erfahrungs-)Austausch der unterschiedlichen Kulturen“ erleben. Auch die Arbeit der pädagogischen Fachkräfte solle durch Respekt für Kinder unterschiedlicher „Herkunft und Nationalität“ geprägt sein. Wenn in der Konzeption also im weiteren Verlauf von „Kultur“ die Rede war, bezog sich dies doch auf ein enges, auf Herkunft und Nationalität bezogenes Kulturverständnis. Ein solches Kulturverständnis wird, wie Ingrid Gogolin und Marianne Krüger-Potratz darlegen, insbesondere in frühen Programmatiken der Inter kulturellen Pädagogik geteilt. Deren häufig kulturalisierende Betrachtung von Migrationsanderen beruht darauf, dass Kultur – wie auch in der Kita-Konzeption – mit Nation verkoppelt und somit als Nationalkultur verstanden wird (vgl. Gogolin/ Krüger-Potratz 2010: 117). Auf diese Weise werden „einzelne Menschen vor allem als Vertreter/innen einer spezifischen Nationalkultur betrachtet, die ihre Lebenspraktiken und Weltauffassungen bestimme“ (Rose 2012: 49, FN 26). In der Interkulturellen Pädagogik kommt es daher in der Tendenz zu einer „‚Ethnisierung/ Kulturalisierung‘ und ‚Pädagogisierung/Currcularisierung‘ sozialer Probleme“ (Diehm/Radtke 1999: 147) sowie insgesamt von Differenzverhältnissen (vgl. Rose 2012: 49, FN 26).4
4Allerdings
betonen in diesem Zusammenhang Ingrid Gogolin und Marianne KrügerPotratz, dass auch innerhalb der Interkulturellen Pädagogik eine reflexiven Wendung stattgefunden habe, durch die eine Kritik an „unreflektierten Kulturbezügen“ (Gogolin/ Krüger-Potratz 2010: 117) im Sinne einer Essenzialisierung von natio-ethno-kulturell codierter Differenz stattgefunden habe.
4.1 Programmatik und Konzeption der Primel-Kita
113
Während ich an meinem ersten Tag in der Kita besonders die Räumlichkeiten und die vorhandenen Materialien fokussierte und damit, wie sich die Kita für mich ebenso wie für die darin handelnden Kinder und Erwachsenen räumlich-materiell darstellte, waren für mich im weiteren Verlauf der Forschung die Ausführungen der Kita-Leiterin ein Maßstab, mit dem ich, ohne es zu beabsichtigen, die in der Primel-Kita wirksam werdenden Diskurse und Praktiken verglich.5 Über den gesamten Zeitraum meiner Forschung begleiteten mich die von der Kita-Leiterin mündlich geäußerten Vermittlungsziele und die schriftlich fixierte Kita-Konzeption. Letztere kann bezeichnet werden als eines der „‚Dinge‘, die neben anderen Dingen in Institutionen zirkulieren“ (Ahmed 2011: 119), worüber sich neben den räumlichen Gegebenheiten und den konkreten (pädagogischen) Praktiken die Grenzen und Ränder einer Institution – bzw. hier: einer pädagogischen Einrichtung – konstituieren (vgl. ebd.). Die Kita-Konzeption verstehe ich als Mission Statement, als eine an die Öffentlichkeit gerichtete Erklärung, mit der die Primel-Kita anzeigte, dass sie sich in den genannten pädagogisch-theoretischen Programmatiken und Ansätzen auskannte und von diesen sensibilisiert war. Vor diesem Hintergrund frage ich im vorliegenden Abschnitt, wie im Kita-Alltag die in der Konzeption dargelegte Programmatik der Interkulturellen Erziehung Eingang fand in die pädagogischen Praktiken der Erzieher*innen. Dabei zeichne ich auch nach, wie die in der Kita tätigen Erzieher*innen mit der an sie gerichteten (An-)Forderung umgingen, die Kinder möglichst optimal auf die Schule vorzubereiten und ihnen die Bildungssprache Deutsch zu vermitteln.6 5Darüber
hinaus besaß auch eine – in einer Kita an meinem früheren Wohnort in einer süddeutschen Universitätsstadt durchgeführte – Vorstudie einen großen Einfluss auf die Wahrnehmung der pädagogischen Praktiken in der Kreuzberger Einrichtung. Viele der wahrgenommenen Verhaltensweisen der dortigen Erzieher*innen waren mir zu einem Maßstab geworden, anhand derer die Praktiken der Erzieher*innen in der Primel-Kita wahrnahm und zum Teil bewertete (vgl. Dean 2012: 40). 6Die Praxis der Aufnahmesteuerung von Kindern in Kitas wurde bislang noch kaum erforscht. In den vergangenen Jahren haben jedoch eine Reihe von ethnografischen und von qualitativen, interviewbasierten Studien herausgearbeitet, wie verschiedene Differenzmarkierungen im Kita-Alltag und in den Praktiken der Erzieher*innen und/oder der Kinder hergestellt werden und welche Effekte und Wirkungen diese Prozesse besitzen. Ohne hier den Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen, nenne ich im Folgenden einige der Arbeiten, die sich für meine Analyse als hilfreich erwiesen haben. Auf dem „doing difference“ von Professionellen liegt der Fokus verschiedener Studien aus der Erziehungswissenschaft (vgl. Kuhn 2013; Diehm u. a. 2013; Neumann/Seele 2014; Seele 2015; Betz/ Bischoff 2017). Melanie Kuhn (2013) arbeitet aus professionstheoretischer Sicht heraus, wie Professionelle das Differenzmerkmal „Ethnizität“ individuell und organisationell bearbeiten. Sascha Neumann und Claudia Seele haben aufgezeigt, wie in Luxemburg
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Mit meiner Kritik an einigen der erzieherischen Praktiken möchte ich keineswegs den Druck, der sich hinsichtlich der Vermittlung der Bildungssprache vom Primar- auf den Elementarbereich verlagert hat, selbst auf die Erzieher*innen weitergeben. Vielmehr möchte ich auf potenzielle Fallstricke, Schwierigkeiten und Herausforderungen pädagogischen Handelns in widersprüchlichen Verhältnissen aufmerksam machen und zur Vermeidung der damit verbundenen Diskriminierungsdynamiken sensibilisieren. Pädagogische Professionelle sind gesellschaftlichen und institutionellen Verhältnissen nicht ausgeliefert, dabei aber doch in diese eingebunden. Auf diese Weise (re-)produzieren sie diese Verhältnisse immer wieder, sind aber zugleich auch in der Lage, diese in Frage zu stellen (vgl. Riegel 2016: 107). Das ambivalente und widersprüchliche Handeln in zugleich auch widersprüchlich gestalteten sozialen Verhältnissen ist somit der zentrale Fokus des vorliegenden Kapitels.
4.2 Steuerung der Gruppenzusammensetzung und elterliche Wahlpraxis 4.2.1 Aufnahmesteuerung durch die Kita-Leiterin Während der Zugang zu öffentlichen Grundschulen in Berlin weitgehend über – dem Wohnort zugeordnete – Schulsprengel geregelt ist, haben Kitas bzw. die Kita-Leitungen die Möglichkeit, freie Plätze direkt zu vergeben. Auch in der Kreuzberger Einrichtung war dies der Fall; ausgehend von einer Warteliste der Eltern, die sich für die Kita beworben hatten, entschied die Leiterin Songül Aslan über Aufnahme und Ablehnung. Welche Kinder in der Primel-Kita einen Platz bekamen und welche Erfahrungen somit den Kita-Alltag prägten, überließ sie nicht dem Zufall. Diese Aufnahmepraxis fällt besonders vor dem Hintergrund auf, dass Songül Aslan parallel dazu – wie eingangs dargestellt – betonte, sie wolle den Erfahrungen aller Kinder Raum geben und diese sollten sich „so wie sie sind“ angenommen und akzeptiert fühlen.
Kinder durch den Gebrauch unterschiedlicher Sprachen als different gezeichnet und zum Teil als sprachlos oder zumindest anderssprachig positioniert werden (vgl. Neumann/Seele 2014), wobei dies zumeist unterschiedliche Partizipationsmöglichkeiten im pädagogischen Alltag nach sich ziehen kann (vgl. Seele 2015). In jüngster Zeit hat Nathalie Thomauske (2015, 2017a, 2017b) aus der Perspektive der Critical Applied Linguistic nach Praktiken des Silencing ebenso wie des Voicing in Kindertageseinrichtungen in Deutschland und Frankreich gefragt.
4.2 Steuerung der Gruppenzusammensetzung und elterliche Wahlpraxis
115
Songül Aslan sprach im Interview von sich aus, also ohne Anstoß meinerseits, über ihr Vorgehen, die Kinder nach bestimmten Kriterien auszuwählen und auf die Gruppen zu verteilen (vgl. Interview 3-2011). Dabei erklärte sie mir die mit ihrer Position als Kita-Leitung verbundenen Verwaltungstätigkeiten und vermittelte mir so einen Einblick in die Komplexität der damit verbundenen Aufgaben. Um eine ihr zufolge stimmige und ausgewogene Gruppenzusammensetzung zu erhalten, achtete sie darauf, entlang bestimmter Kriterien bzw. Heterogenitäts- oder Diversitätsmerkmale die Kinder den Kita-Gruppen zuzuweisen. Sie war bestrebt, die Kinder mit einer Altersspanne von ungefähr eineinhalb Jahren bis zum Einschulungsalter möglichst gleichmäßig auf die Gruppen zu verteilen. Entsprechend des „integrativen Ansatzes“ besuchten außerdem jeweils zwei „Integrations-Kinder“ mit (wesentlich) erhöhtem Bedarf an pädagogischer Hilfe, also Kinder mit sogenannter geistiger und/oder körperlicher Beeinträchtigung, eine der Gruppen. Auch bei der Verteilung nach Geschlecht sowie nach „deutscher“ wie „nichtdeutscher Herkunftssprache“ versuchte sie ein ungefähres Verhältnis von eins zu eins zu realisieren. Die Kategorisierung „nichtdeutsche Herkunftssprache“ („ndH“) wurde im Kontext Berlins ursprünglich für den Schulkontext eingeführt. Während für diesen Bereich die Kategorie „ndH“ zumindest ansatzweise näher bestimmt ist (vgl. Exkurs: Schulische Zuordnung in diesem Kapitel), haben Kita-Leitungen weitgehend freie Hand, „ndH“ nach eigenen Vorstellungen und Überzeugungen zu füllen und selbst zu entscheiden, welche Eigenschaften für sie ein Kind „deutscher“, respektive „nichtdeutscher Herkunftssprache“ kennzeichnet. In der Primel-Kita fasste die Leiterin den Begriff der „Herkunftssprache“ weit. Wie sie im Interview erklärte, seien viele der Familien, deren Kinder die Kita besuchten, „binational“ und die Eltern sprächen daher mit ihrem Kind, respektive ihren Kindern, sowohl Deutsch als auch (zum Teil in geringerem Umfang) eine weitere Sprache. Dementsprechend definierte die Kita-Leiterin diejenigen Kinder als „nichtdeutscher Herkunftssprache“, die zuhause auch eine andere Sprache als Deutsch sprachen (vgl. Interview 3-2011). Im Kontext der Primel-Kita wurde die „ndH“-Klassifikation, die in medialen und politischen Diskursen negativ konnotiert und mit Vorstellungen von schlechten Deutschkenntnissen und vermeintlicher ‚Bildungsferne‘ verknüpft ist, zum Teil positiv gewendet und als kosmopolitische Bereicherung umgedeutet. Damit widersprach die Kita-Leiterin der Defizitorientierung, die dem Begriff „nichtdeutscher Herkunftssprache“ anhaftet und betonte besonders die Kompetenz, die mehrsprachige Kinder auszeichnet. Indem Songül Aslan den „ndH-Anteil“ in der Kita bei mehr als 40 Prozent ansiedelte, erhielt die
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Einrichtung bei der Belegung freier Kitaplätze zudem zusätzliche finanzielle Zuschüsse (vgl. Senatsverwaltung 2005a, § 17). Das ‚Spielen‘ mit Differenzkategorien und Definitionen ist jedoch – auch im Wissen um deren Konstruktionscharakter – durchaus ambivalent; damit verknüpft kann „die Gefahr der Reproduktion von Grenzziehungen und damit verbundenen Differenzordnungen“ (Riegel 2016: 111) sein. In der Kita wurde Mehrsprachigkeit dementsprechend auch nicht generell wertgeschätzt; in anderen Zusammenhängen wurde sie weiterhin als ‚Problem‘ wahrgenommen und stellte die pädagogischen Fachkräfte laut deren Aussagen vor Herausforderungen (s. u.). Wie Mehrsprachigkeit gewertet wurde, war somit maßgeblich davon abhängig, ob diese als (Finanzierungs-)Vorteil oder (Arbeits-)Belastung wahrgenommen wurde. Über das sogenannte Kita-Gutscheinsystem, das in Berlin ebenso wie in Hamburg gilt, erhalten Kita-Träger Zuschüsse, die sich nach dem Betreuungsumfang, dem Alter des Kindes sowie nach dem von den Eltern zu zahlenden gesetzlichen Elternbeitrag errechnen (vgl. Dachverband Berliner Kinder- und Schülerläden o. J.). Zuschläge zu den Zuschüssen werden nicht nur für Kinder bis zum Alter von zwei Jahren gezahlt (vgl. Senatsverwaltung 2005a, § 11 Absatz 2), sondern auch für Kinder mit einem sogenannten Integrationsstatus („Förderung von Kindern mit Behinderungen“), Kindern, die in sozialräumlich benachteiligten Lagen leben („Förderung von Kindern, die in ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnissen und in Wohngebieten mit sozial benachteiligenden Bedingungen leben“) sowie für Kinder „nichtdeutscher Herkunftssprache“ („Förderung von Kindern nichtdeutscher Herkunftssprache“). Über diese Kriterien errechnet sich so zusammengenommen der Personalschlüssel einer Kita (vgl. ebd., § 16–18). Die Leiterin der Berliner Kita nutzte die Bewilligung der finanziellen Zuschläge bis zu einem gewissen Grad, bspw. durch die Aufnahme von Kindern mit einer Betreuungszeit von mehr als sieben Stunden. Damit kann ein Personalschlüssel realisiert werden, bei dem eine pädagogische Fachkraft für neun Kinder verantwortlich ist, während bei einer kürzeren Betreuungszeit von vier bis fünf Stunden der Personalschlüssel 1:14 beträgt. Da somit die Zusammensetzung der Kita-Gruppen Auswirkungen auf die marktwirtschaftliche Rentabilität der zunehmend unternehmerische Initiative inkorporierenden Einrichtungen hat, stellt die Aufnahmesteuerung und Verteilungspolitik der Kinder für Kitas eine gewisse Notwendigkeit dar. Die Kinder nach bestimmten Kriterien auszuwählen, hatte dabei aber auch den Nebeneffekt, dass diese bis zu einem gewissen Grad einer ökonomisierenden Logik unterworfen wurden. Bei der Aufnahme von Kindern realisierte sich somit ein nutzenorientiertes Verständnis von Diversity Management, wie es in Unternehmenskontexten
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verbreitet ist (vgl. Aretz 2004; Eggers 2010). Dabei verwoben sich bei den pädagogischen Fachkräften der Einrichtung zwei Argumentationsebenen miteinander: diejenige der Sachzwänge und diejenige der pädagogischen Notwendigkeiten. Die Leiterin der Einrichtung betonte dabei Ersteres. Für sie stellte das Bestreben, Einfluss auf die Zusammensetzung der Gruppen zu nehmen, zuallererst eine organisatorische und verwaltungstechnische Notwendigkeit dar, die der ausreichenden Finanzierung durch öffentliche Zuschüsse diente. Das anspruchsvolle Unterfangen, bestehende finanzielle Regelungen möglichst effektiv auszuschöpfen, ermöglichte es ihr, die Qualität der pädagogischen Arbeit der Einrichtung indirekt bzw. mittelbar steuern und positiv beeinflussen zu können.
4.2.2 Pädagogische Begründungen für die Aufnahmesteuerung Während für die Leiterin die Prämisse galt, Zuschüsse möglichst effektiv zu nutzen, stellten zwei Erzieherinnen der Einrichtung, Nadine Blessing und Markus Kern, weitere und zudem stärker pädagogisch orientierte Begründungen für die Aufnahmesteuerung der Kinder heraus. Nichtsdestotrotz vermischten sich auch bei ihnen in unterschiedlichem Maß ökonomische und pädagogische Argumentationslinien: Neben der Betonung finanzieller Aspekte war ihnen auch eine – aus ihrer Sicht – für eine gelungene pädagogische Arbeit stimmige Zusammensetzung der Kita-Gruppe wichtig. Als Erklärung dafür, dass die Kita bevorzugt ein „Vollzeit-Kind“ und nur ungern zwei „Halbtags-Kinder“ (Interview 21-2011) aufnahm, führte Nadine Blessing zunächst ökonomische Gründe an: Die Kita versuche demnach, das Stundenkontingent für einen Ganztagsplatz auszuschöpfen, jedoch dürfe gleichzeitig die maximale Anzahl der Kinder je Gruppe nicht überschritten werden. Kinder aus Familien, denen nur ein Halbtagsplatz bewilligt wurde, seien dementsprechend seltener in der Kita vertreten (vgl. Interview 21-2011). Die Unterscheidung von „Vollzeit-“ und „Halbtags-Kindern“ wirkte sich v. a. auf die Familien benachteiligend aus, in denen ein Elternteil oder auch beide Eltern keiner Lohnarbeit nachgingen. Auch im Falle des klassischen Ernährermodells, bei dem ein Elternteil, meist die Mutter, die Reproduktionsarbeit übernimmt, griff die „Halbtags-Kind“-Regelung. Diese Kinder würden laut Nadine Blessing in der Kita seltener aufgenommen. Anders als in der Gründerphase der Kita in den 1980er Jahren seien daher keine „konservativ-türkischen Familien“ (Interview 21-2011) mehr in der Einrichtung vertreten, da bei diesen häufig die
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Mütter zuhause blieben und sie somit nur einen Halbtagsplatz für ihr(e) Kind(er) zugesprochen bekommen hätten. Neben der Aufnahmepolitik der Kita nannte Nadine Blessing auch Gründe, die sie in den „konservativ-türkischen Familien“ selbst verortete. Die „intensive[n] Elterngespräche“, die die Kita durchführt, seien „bei den Vätern in den [lacht] konservativ-türkischen Familien nicht so angekommen“ (Interview 21-2011). Für diese sei „der Prozess einfach zu anstrengend“ gewesen, „oder war halt nicht irgendwie ihr Ding, das ging ihnen dann auch zu nah. Also so intensiv wollten sie den Kontakt nicht haben“ (Interview 21-2011), weswegen die betreffenden Eltern keine Geschwisterkinder mehr in der Kita anmeldeten und es außerdem immer weniger Neuanmeldungen seitens dieser Elternklientel gegeben hätte. Hier zeigt sich ein Dilemma von „interkulturellen“ Ansätzen, die auf den Aspekt der ‚Nationalkultur‘ rekurrieren, da diese dazu tendieren, „die kulturelle Herkunft und Position als hervorstechendes und prägendes Merkmal für Identität und Verhalten dieser Person [anzusehen]“ (Mecheril 2004: 103). Paul Mecheril warnt dabei vor der Gefahr einer „kulturalistischen Reduktion“ (Mecheril 2010b: 62), da die Interkulturelle Pädagogik suggeriert […], dass sie die mit Migrationsphänomenen verbundene Tatsache der Diversifizierung und Pluralisierung von Problemlagen, Bildungsanliegen und -voraussetzungen sowie die Vielfalt der Bildungsverläufe in einer Migrationsgesellschaft unter der Kategorie ‚Kultur‘ beschreibt und behandelt und auch ihre eigenen Reaktionen unter der Kategorie ‚Kultur‘ zum Thema macht. (ebd.: 64)
Auf diese Weise können Erklärungsmöglichkeiten außer Acht bleiben, die in den Institutionen begründet liegen, und daneben auch institutionelle Diskriminierungserfahrungen von Eltern oder Kindern im Bildungskontext (vgl. Attia 2013: 344).7 Nadine Blessing erklärte jedenfalls die augenscheinlich distanzierte Haltung der „konservativ-türkischen Familien“ gegenüber der von der Kita praktizierten Elternarbeit nicht allein mit deren konservativer Einstellung, sondern brachte diese auch in Zusammenhang mit der (zugeschriebenen) Nationalität. Auf diese Weise kam es in diesem Zuge zu einer Kulturalisierung des von Nadine Blessing wahrgenommenen Desinteresses an Bildung(-sprozessen) dieser Eltern.
7Mögliche
Fehleinschätzungen und Barrieren beim Verhältnis zwischen Schule und muslimischen Eltern hat hierbei Meryem Uçan (2015) ausführlich herausgearbeitet. Ihre Befunde lassen sich zu einem guten Teil auch auf die Elternarbeit im Elementarbereich übertragen.
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Die in der Kita anzutreffende Wahlpraxis der „Ganztags-Kinder“ konnte sich die Einrichtung problemlos leisten, da im Einzugsgebiet viele Familien wohnten, bei denen beide Elternteile berufstätig waren. Zudem war die Kita als Institution bei einer bestimmten Klientel an Eltern besonders nachgefragt, wie Markus Kern betonte: Und dann ist die Kita nicht die normale türkische Kita. Es gibt ganz viele Freiberufler, Künstler und so was alles bei uns. Und das ist halt ein anderes Klientel einfach. Und so kommen die ganzen deutsch-russisches Paar und Filmemacher und Architekt zum Beispiel. Und unsere türkischen Eltern sind ja auch nicht alle typisch Türkisch. Also es sind wenige typisch in Anführungsstrichen Türkisch so. (Interview 20-2011)
Implizit machte Markus Kern deutlich, dass in seiner Vorstellung „Freiberufler“, „Künstler“ oder auch „Filmemacher“ und „Architekten“ keine „normale türkische Kita“ wählten. Die Primel-Kita grenzte er ab von Kitas, in der diese Eltern befürchten müssten, „ihr Kind geht […] halt unter, oder wird nicht so gefördert“ (Interview 20-2011), da dort die „türkischen Kinder“ im Fokus der Förderung stünden. In der Primel-Kita müsste Markus Kern zufolge „diese Sorte von Eltern, die jetzt bei uns sind“ (Interview 20-2011) also offensichtlich keine Angst davor haben, das eigene Kind werde entweder übersehen oder durch die Erzieher*innen nicht ausreichend gefördert. Die Eltern, die sich für die Primel-Kita entschieden hatten, kennzeichnete Markus Kern daher als besondere Eltern, als Eltern, „die dann halt schon eine andere Kita [suchen]“ (Interview 20-2011). Der Verweis auf die Besonderheit dieser Eltern, die eine ‚bessere‘ Kita suchten, eine, die sich von den ‚normalen‘ Kitas im Kiez unterschied, fällt zusammen mit der von Markus Kern angesprochenen Tatsache, dass die Kita zu einem großen Teil von im Kreativbereich Tätigen frequentiert wurde. Beides macht die – im Vergleich zur Bewohner*innenstruktur des Kita-Umfelds – privilegierte Stellung vieler dieser Eltern deutlich. Während Markus Kern die aus seiner Sicht real gegebene Zusammensetzung der Kita schilderte, sprach Nadine Blessing in einem informellen Gespräch davon, die Kita stelle sich ganz bewusst nach außen hin als besonders ‚divers‘ dar. Sie erzählte, die Kita wolle sich bewusst als Raum präsentieren, in dem „ganz verschiedene Kulturen“ zusammenträfen, da dies für die angesprochene Elternklientel attraktiv und bereichernd erscheine (vgl. Feldtagebuch 2011: 12.05.2011). Die hier angesprochenen (Selbst-)Repräsentationen der Kita als einem durch ein friedliches, sich gegenseitig bereicherndes ‚multikulturelles‘ Zusammenleben gekennzeichnetem Raum fanden sich in ähnlicher Weise auch
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in der Kita-Konzeption wieder8 und spiegelt den der Interkulturellen Pädagogik inhärenten (migrationsbedingten) Bereicherungsgedanken wider. Bezüglich der Wahl einer ‚besonderen Kita‘ ergänzte Markus Kern: „Und das ist dann// zieht sich immer alles so// ist so vorgewiesen, wie so eine Straße, wo die halt immer alle lang gehen, die Eltern.“ (Interview 20-2011). Nadine Blessing widersprach der Ansicht Markus Kerns, die Eltern selbst wählten die Kita, die zu ihnen passe. Vielmehr ging sie davon aus, Markus Kern nutze aktiv seine eigenen Beziehungsnetzwerke, um die Kita unter bestimmten Eltern populär zu machen (vgl. Interview 21-2011). Mir gegenüber hatten in der Tat mehrere Mütter sowie ein Vater geäußert, ihnen sei die Kita empfohlen worden, entweder durch Markus Kern oder durch Bekannte und Freunde, denen wiederum Markus Kern die Kita ans Herz gelegt hatte. Die aktive Suche nach einer besonderen Kita, durch die der Bildungsweg des Kindes bzw. die „Straße“ bereits „vorgewiesen“ erschien (s. o.), erwies sich also bei genauerem Hinsehen als ein auch mit durch Markus Kern vorgewiesener Weg. Darüber hinaus kann für die Wahl der Primel-Kita ebenfalls entscheidend gewesen sein, dass Markus Kern als einziger männlicher Erzieher in der Einrichtung (sowie einer der wenigen Erzieher in Berliner Kindestagesstätten)9 bei potenziell an der Kita interessierten Eltern auf eine sehr positive Resonanz stieß. Markus Kern und Nadine Blessing thematisierten beide auf unterschiedliche Weise, wie die Kita und eine bestimmte, hinsichtlich Bildungskapitalien privilegierte Elternklientel zusammenfanden. Sie betonten wesentlich stärker als die Kita-Leiterin die Agency der Eltern bei der Entscheidung für die Kita. Beide hoben hervor, dass sich die Kita unter einer bestimmten Elternklientel herumsprach und sich aus diesem Grund von vornherein eine Homogenisierungstendenz unter Eltern einstellte. Nadine Blessing begründete dies aus der Perspektive der Kita – mit finanziellen Vorteilen für die Einrichtung – sowie einer direkten Adressierung bestimmter Eltern. Markus Kern dagegen sprach die elterliche Wahlpraxis als entscheidend an. Die verschiedenen Erklärungsansätze
8In
der Konzeption der Kita hieß es demgemäß, die dem Einzugsgebiet und dem Bezirk entsprechende „große Vielfalt“ der „vielen unterschiedlichen Nationen und Kulturen“ sei in der Kita anzutreffen. 9So betonen auch verschiedene Initiativen zur Erhöhung des Anteils an männlichen Fachkräften in Kitas, dass diese insbesondere Jungen als Rollenvorbilder dienten (vgl. BMSFJ 2015: 56) und Kinder zudem erfahren könnten, dass auch Männer wichtige Ansprechpersonen in den Bereichen Fürsorge, Erziehung und Bildung seien (vgl. Koordinationsstelle Männer in Kitas o. J.).
4.3 Herausfordernde Heterogenität – bereichernde Diversität?
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konkurrieren hierbei weniger miteinander, sondern ergänzen sich vielmehr; sie zeichnen ein vielschichtiges Bild davon, wie sich die Kita-Klientel im Verlauf der vergangenen Jahre zunehmend homogenisierte.
4.3 Herausfordernde Heterogenität – bereichernde Diversität? Nicht nur die Kita als Ganzes, sondern auch die Zusammensetzung der einzelnen Kita-Gruppen nahmen die Erzieher*innen der Primel-Kita als überaus heterogen wahr. Die über verschiedene migrationsbedingte Herkünfte hergestellte „Vielfalt“ oder „Diversität“ empfanden sie vielfach als positiv und bereichernd. Parallel dazu adressierten sie Heterogenität aber auch als „eine pädagogische Aufgabe, ein didaktisches Problem, eine […] Herausforderung“ (Mecheril/Vorrink 2014: 101, Hervorheb. i. Orig.). Markus Kern betonte, es seien „sechzehn, siebzehn Nationen in der Kita“ vertreten, „und da hat jeder irgendwo seine Eigenheiten, seine Besonderheiten. Und das finde ich für mich aus egoistischen Gründen auch spannend“ (Interview 20-2011). Für ihn persönlich und auch beruflich bedeutete das: „Eine Menge lernen, eine Menge neuer Sachen kennen, erfahren, erleben!“ (Interview 20-2011) Er habe vor Kurzem nicht nur russische Süßigkeiten, sondern auch Krimis kennengelernt und ein Hanukkah-Fest gefeiert. Der Hinweis darauf, besonders er selbst profitiere davon, „eine Menge neuer Sachen“ kennenzulernen, könnte darauf hinweisen, dass er das Machtgefälle reflektierte, durch das die ‚Anderen‘ in der Kita ihm fortwährend neue Erfahrungen ermöglichten. Die „Eigenheiten“, von denen Markus Kern sprach, bezog er auf „so kulturelle Sachen“ und nannte in diesem Zusammenhang einen italienischen Vater, der sein Kind „abgöttisch“ liebte oder einen japanischen Vater, der aus Unsicherheit gelacht habe, als sein Kind hinfiel. In diesen Situationen war für ihn klar: „Wenn du das mit den Eltern auch hast und weißt, die ticken da so und sind halt einfach anders, dann sind das Sachen, um die ich nicht streiten muss, über die ich diskutieren kann, aber um die ich nicht jetzt// die ich nicht verändern muss.“ (Interview 20-2011). Die Vorstellung, das Verhalten der Eltern nicht verändern zu müssen oder zu wollen, basiert darauf, dieses nicht an eigenen Maßstab zu messen und daher auch nicht zwangsläufig an diesen anzupassen. Ein solches Vorgehen entspricht insofern der Interkulturellen Pädagogik, dass diese in Bezug auf differentes, als kulturell unterschiedlich gelabeltes Verhalten, auf wertende Beschreibungen verzichten möchte; vielmehr soll von einer wechselseitigen Anerkennung ‚kultureller Unterschiede‘ ausgegangen werden (vgl. Mecheril 2004: 92). Sich nicht am Verhalten der Eltern abzuarbeiten, stellte für Markus
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Kern in jedem Fall eine Entlastungsmöglichkeit dar, sie trugen für ihn auch dazu bei, seine Arbeit möglichst reibungslos und problemreduziert gestalten zu können. Nichtsdestotrotz machte Markus Kern eine Differenz auf zwischen den „sechzehn, siebzehn Nationen in der Kita“ und deren „Eigenheiten“ (s. o.) auf der einen Seite und dem, was er selbst als das ‚Eigene‘ empfand, auf der anderen Seite. Die „Eigenheiten“ erschienen Markus Kern offensichtlich weniger als individuell verschieden, sondern vielmehr als kulturell bedingt ‚anders‘. Auf diese Weise legte der Akt der Anerkennung des ‚Andersseins‘ der Eltern diese in einem Otheringprozess zugleich auf ihr ,Anderssein‘ fest (vgl. ebd.: 102). Darüber hinaus kam es auch hier wiederum zu einer Kulturalisierung von Verhalten, so dass die natio-ethno-kulturell codierte Herkunft und die Positionierung der Eltern als zentrales und prägnantes Merkmal für ihr Verhalten gelten mussten (vgl. ebd.: 103). Obwohl Markus Kern den Eindruck hatte, durch die „interkulturelle Orientierung“ der Kita vielfältige Erfahrungen machen zu können, nahm er in dieser zur selben Zeit subjektiv ein Ungleichgewicht wahr. Er bedauerte, dass in der Kita nur die türkische oder moslemische, persische Kultur so bei uns anerkannt ist als andere Kultur. Und [dass man] dann […] so viel Rücksicht darauf nimmt, mit dem Zuckerfest, mit dem Nicht-Schwein-Essen, mit den gelatinefreien Bonbons und alles, was man so weiß. (Interview 20-2011)
In Markus Kerns Augen existierten offenbar verschiedene, klar voneinander abgrenzbare ‚Kulturen‘ nebeneinander her. Für ihn definierte sich eine stimmige „interkulturelle Orientierung“ – und damit eine Bereicherung für ihn selbst – über eine möglichst große Vielfalt dieser verschiedenen natio-ethno-kulturell codierten Hintergründe. Wurde die „interkulturelle“ Ausrichtung in seinen Augen zu ‚monokulturell‘, und damit zu einseitig oder homogen, verlor sie für ihn ihren Status als „interkulturelle“ Bereicherung. Zur Belastung wurde sie für ihn sogar, indem auf den vermeintlich dominanten „türkischen“ bzw. „moslemischen“ Bestandteil angeblich auch noch verstärkt Rücksicht genommen würde. Er wünschte sich daher, dass auch auf die anderen ‚Kulturen‘ stärker eingegangen werde. Die Kita-Leiterin Songül Aslan widersprach dagegen der Auffassung, muslimischen Eltern werde übermäßig viel Rücksicht entgegengebracht. Als säkular geprägte Muslima scheue sie nicht davor zurück, mit diesen Eltern im Zweifel Diskussionen zu führen über unterschiedliche religiöse Auslegungen der muslimischen Reinheitsgebote, insbesondere, wenn diese Kinder beträfen. Eltern, denen es eine Herzensangelegenheit sei, müssten daher selbst dafür Sorge tragen,
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dass in der Kita ausreichend gelatinefreie Gummibärchen vorhanden seien, damit diese bei Geburtstagsfeiern oder anderen Festlichkeiten ihrem Kind zur Verfügung stünden (vgl. Interview 3-2011). Die Eltern der fünfjährigen Nurcan gaben ihrer Tochter daher Gummibärchen in die Kita mit. Als sie einmal vergessen hatten, die Vorräte aufzufüllen, gab Nadine Blessing bei der Abschiedsfeier eines Kindes auch Nurcan ganz selbstverständlich die Gummibärchen, die alle anderen Kinder aßen (vgl. Feldtagebuch, 10. Februar 2011). Auch wenn also aus meiner Sicht dem Islam als Religion im selben Maße (Un-)Aufmerksamkeit geschenkt wurde wie allen anderen Religionen, so nahm der Erzieher Markus Kern dies offensichtlich anders wahr. Die Erzieherin Julia Weiß bezog sich dagegen auf die Arbeitsbelastung, die es mit sich bringe, wenn in der Kita viele der Eltern kein oder nur wenig Deutsch sprächen. Sie hatte die Elternarbeit an ihrer früheren Arbeitsstelle in Berlin-Moabit als belastend empfunden. Dort, so erinnerte sie sich, hatte die Mehrzahl der Eltern nur wenig Deutsch verstanden; diesbezüglich äußerte sie: „[…] weil ich meine, das ist einfach ein anderes Arbeiten“ (Interview 10-2011). Den dortigen Eltern musste sie vieles veranschaulichen und war gezwungen, kreative Wege der Verständigung zu finden: Also in der Elternarbeit musstest du die Elternbriefe vorlesen, du musstest die Aushänge den Eltern komplett erklären, wir haben viel mehr mit Bildern gearbeitet. Und du// also, man konnte auch nicht so sprechen, wie wir sprechen jetzt. Viel vereinfachter mussten wir sprechen, weil die teilweise kein Deutsch konnten oder halt nur so in Bruchstücken Deutsch konnten. (Interview 10-2011)
In der jetzigen Einrichtung, der Primel-Kita, würden verstärkt Kinder eines Milieus von „schon eher Bildungsbürger[n]“ aufgenommen, was sie für die Arbeit „auf jeden Fall erleichternd“ (Interview 10-2011) wahrnahm, denn hier sprächen fast alle Eltern fließend Deutsch: „Und ich meine, die meisten hier können einfach Deutsch. Das ist hier […] ein anderes Bildungsbürgertum, also so.“ (Interview 10-2011). Für Julia Weiß stellte ein privilegierter sozioökonomischer Status derjenigen Eltern, die sie implizit als Migrationsandere (vgl. Mecheril 2010a: 17) zeichnete, zugleich auch eine Grundvoraussetzung dafür dar, dass diese sich fließend auf Deutsch verständigen konnten. In ihrer Argumentation überlagerte sich die soziostrukturelle Lage des Elternhauses intersektional mit weiteren Differenzverhältnissen, insbesondere mit rassialisierten bzw. linguizistischen Anrufungen, und bildete so spezifische Formationen (vgl. Skeggs 1997; Wellgraf 2012: 78). Insgesamt betrachtet seien Julia Weiß zufolge in der Primel-Kita insbesondere Eltern mit einem „gefüllteren Geldbeutel“ vertreten:
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[I]ch glaube, dass hier schon viele Leute wohnen, die so ein bisschen „hip“, sage ich mal, sind, in Anführungsstrichen. Also ich meine, das ist keine Gegend, die von den Mieten her so preiswert ist, erstens. Also es sind schon viele Leute, die auch schon einen gefüllteren Geldbeutel haben, die hier wohnen. Und sehr gemischt, eigentlich: von selbständig bis über angestellt. Die meisten sind berufstätig, was ich so in meiner alten Kita auch nicht erlebt habe. Und das merkt man hier. Es ist eine gute Mischung. (Interview 10-2011)
Julia Weiß sprach davon, dass sie die Klientel der Kita als „gemischt“ wahrnahm, dabei sei diese jedoch tendenziell gut situiert und zumeist berufstätig – oder zumindest doch wohlhabender als in ihrer alten Kita. Zusammengenommen machte dies für sie eine „gute Mischung“ aus; indirekt thematisierte damit auch sie die Zusammensetzung der Kita-Gruppe als (mit-)bestimmend für die Bedingungen ihrer pädagogischen Arbeit. Allerdings verortete sie zeitgleich eine weitere Herausforderung ihrer früheren Arbeitsstelle bei den damaligen Kolleg*innen, von denen eine „leider irgendwie nicht so ganz gewillt war zu arbeiten“ (Interview 10-2011). Stattdessen hätten die meisten Erzieher*innen dort „oft einfach die Zeit abgesessen und einfach den Raum für sich sprechen lassen“ (Interview 10-2011). Dementsprechend hätten diese da keine großartigen Zusatzangebote gemacht oder auch natürlich unbedingt die Kinder angeregt selbst mal was in die Hand zu nehmen oder einfach was auf den Tisch zu stellen, ein Angebot zu machen oder in Projekten zu arbeiten oder Morgenkreis zu machen oder geschweige ein Sportangebot zu machen. Also ich meine, das hängt ja einfach// es kommt kein Kind und sagt ja vielleicht mal: „Ich will einen Morgenkreis machen.“ Aber eigentlich ist man ja schon als Erzieher derjenige, der was ins Rollen bringt. Und der vielleicht auch eine Idee aufschnappt und das Kind da nicht im Regen stehen lässt oder so. Und das war aber da leider gar nicht. Auch die Leitung war da nicht so, wie ich mir das vorgestellt habe. (Interview 10-2011)
Dass die anderen Erzieher*innen ihre Arbeit unmotiviert und lustlos verrichteten und die Leitung dies hinnahm oder akzeptierte, erschwerte es für sie, ihren eigenen Arbeitsansprüchen gerecht zu werden. Von ihren Kolleg*innen fühlte sie sich häufig alleine gelassen und hatte daher den Eindruck: „Ich renne eigentlich die ganze Zeit nur der Arbeit hinterher, weil die anderen nix gemacht haben“ (Interview 10-2011). Sie entschloss sich daher, die Stelle zu wechseln; seither war sie in der Primel-Kita tätig. Dort seien das Team und die Leitung gut aufeinander eingespielt und überdies motiviert und willens, die Kinder zu fördern und in ihrer Entwicklung zu unterstützen. Letztlich wurde also in der damaligen Einrichtung die von Julia Weiß wahrgenommene herausfordernde pädagogischen Arbeit maßgeblich auch durch das unmotivierte Team mitbestimmt; dass ihre Tätigkeit
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nun befriedigender für sie war, stand somit mit den strukturellen Bedingungen der Arbeit in Zusammenhang und lässt sich nur mittelbar auf Eigenschaften der pädagogischen Klientel – der Kinder und ihrer Eltern – zurückführen.
4.3.1 Deutsch-kompetente „Sprachvorbilder“ Ein weiterer Aspekt, den die Erzieher*innen als einen größeren Arbeitsaufwand und als eine Herausforderung ihrer Arbeit werteten, war die Mehrsprachigkeit der Kinder. Hierbei sprachen alle Erzieher*innen insbesondere damit verbundene Lern- und Verhaltensdifferenzen innerhalb einer pädagogischen Gruppe an (vgl. Mecheril/Vorrink 2014: 99–102). Pädagogische Fachkräfte deuten Heterogenität in diesem Sinne vielfach als eine an sie selbst gestellte Herausforderung, die sie individuell bearbeiten müssten (vgl. Riegel 2016: 85). Angesprochen ist damit die Perspektive der pädagogischen Fachkräfte und wie sich die Qualität des pädagogischen Feldes aus ihrer Sicht zeigt (vgl. Mecheril/Vorrink 2014: 100). Darüber hinaus führt diese Verwendungsweise des Begriffs zur „Adressierung einer Einheit [des pädagogischen Gegenübers] durch eine Bezeichnung, die zunächst Vielheit suggeriert“ (ebd.: 101). Der Einheit der pädagogischen Klientel als einem eigentlich heterogenen Lernkörper stehen die pädagogischen Fachkräfte als vermeintlich homogener Lehrkörper gegenüber (vgl. ebd.), der dazu aufgefordert sei, mit der Heterogenität möglichst „effektiv und zeitsparend […] um[zu]gehen“ (Klippert 2010; vgl. kritisch dazu: Mecheril/Vorrink 2014: 101).10 Aus dem Blick gerät, dass Bildungsinstitutionen selbst ein „Ort der Produktion von Heterogenität“ sind, wie Jürgen Budde in Bezug auf den Schulbereich anmerkt: Die Heterogenität ist etwas, das gleichsam in die Schulen hineinkommt, durch SchülerInnen, die ihre Unterschiedlichkeit bereits mitbringen, bevor sie ein Klassenzimmer zum ersten Mal betreten. Damit erfolgt eine spezifische Justierung von Heterogenität, nämlich als etwas von außen Kommendes, Urwüchsiges, dem eigenen Zutun als vorgängig Entzogenes. (Budde 2012: Absatz 24) 10Heinz
Klippert veröffentlichte im Jahr 2010 das Buch „Heterogenität im Klassenzimmer: Wie Lehrkräfte effektiv und zeitsparend damit umgehen können“. Er analysiert darin ausgehend von seinen eigenen Erfahrungen in einer Dorfschule, wie Lehrkräfte entlastet werden könnten, wenn diese von „leistungsstarken“ Schüler*innen unterstützt würden. Letztere entwickelten wichtige Schlüsselkompetenzen und die „leistungsschwachen“ Schüler*innen fühlten sich „gestärkt und ermutigt“ (Klippert 2010: 11), wenn sie Hilfe von diesen bekämen. Das Buch erschien im Juli 2016 in der vierten Auflage, was auf eine starke Nachfrage unter Praktiker*innen schließen lassen könnte.
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Auch wenn sich, wie Kerstin Jergus feststellt, aktuelle Diskurse um Differenz und Heterogenität zumeist auf den Schulkontext beziehen, wo „es hauptsächlich um Differenzmerkmale – wie Geschlecht, Ethnie/Race, Nicht-/Behinderung und soziale Herkunft – geht, die in einem engen Verhältnis zu schulischer Leistung stehen“ (Jergus 2017: 120),11 so wird doch auch im frühkindlichen Bereich Heterogenität nicht unabhängig von Leistungsgedanken diskutiert. Hier steht – insbesondere vor dem Schuleintritt – die Entwicklung und Schulfähigkeit eines Kindes – gerade auch hinsichtlich seiner sprachlichen Fähigkeiten – auf dem Prüfstand (vgl. ebd.: 127 f.). Der Erzieherin Sonja Maier zufolge stimmte die „Mischung“ in der Einrichtung in Bezug auf mehrsprachige Kinder, da die meisten Kinder gute Deutschkenntnisse hätten und das Verhältnis der Kinder mit Deutsch als Erstsowie Zweitsprache ausgeglichen sei. Sonja Maier sah einen Zusammenhang zwischen den deutschen Sprachkenntnissen des Kindes und wiederum denen der Eltern und betonte demgemäß, dass Cems Mutter „perfekt Deutsch spricht“, wohingegen Nurcans Mutter „halt die deutsche Sprache da nicht so reinbringen“ (Interview 11-2011) könne. Besonders hinsichtlich der Eltern gab es für sie verschiedene Faktoren, die bedingten wie gut ein Kind Deutsch spreche: „Und dann hängt es natürlich auch wieder davon ab, wie wachsen die Kinder auf? Und wie gut ist ihr Sprachverständnis? Und wie lange sind die Eltern da? Das hängt ja alles mit zusammen, ne?“ (Interview 11-2011). Auch wenn Cem also mehrsprachig aufwuchs, erschien sein Türkisch-Sprechen für Sonja Maier nicht (so) problematisch wie bei Nurcan, da Ersterer von seinen Eltern im Deutsch-Sprechen unterstützt werde. Für sie stellte daher auch die Bildungssituation der Eltern einen relevanten Aspekt beim Erlernen von Deutsch als Zweitsprache für die Kinder dar (vgl. Hornberg 2010: 123). Sonja Maier fuhr fort: „Und wenn ich dann aber so viele Kinder habe, die alle grammatikalisch nicht richtig sprechen, dann wird die Sache einfach kompliziert, ne? Also dann kommt man nicht so richtig hinterher [lacht].“ (Interview 11-2011). Sonja Maier sprach kindlichen „Sprachvorbildern“ eine zentrale Rolle zu: „Also Sprachvorbilder unter den Kindern, machen ja auch ganz viel aus. Also das, was die Kinder sich als Sprachvorbild sind, das kann ich als Erwachsener niemals leisten.“ (Interview 11-2011). Fehlten die „Sprachvorbilder“, lernten die
11Leistungslogiken
werden bspw. dann relevant, wenn es darum geht, innerhalb einer ‚homogenen‘ Gruppe wie einer Schulklasse das Sprachniveau oder Fortschritte und Unterschiede im Spracherwerb festzustellen (vgl. Jergus 2017: 120).
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Kinder auch nur schwer Deutsch. Für Kinder mit geringen Deutschkenntnissen, wie Nurcan eines für sie darstellte, sei es daher halt super wichtig, dass die Kinder, mit denen sie hier ist, auch ein recht gutes Deutsch sprechen. Einfach weil sie da auch ganz viel lernt. Und dann ist es einfach// da finde ich es gut und wichtig, dass die Mischung immer stimmt. […] Ja, also Luisa gilt ja auch nicht als deutsches Kind [lacht], halt Italienisch, ne? Aber ist halt wirklich gut deutschsprachig und das macht was aus, ne? Dass man möglichst halt tatsächlich eine Mischung hat. (Interview 11-2011)
Auch in der Konzeption der Kita wurde die Relevanz kindlicher „Sprachvorbilder“ betont: Sprachkompetenzen eigneten diese sich in den Interaktionen untereinander an, daher sei es wichtig, dass in einer Kita-Gruppe eine „ausgewogene Zusammensetzung“ von Kindern mit und ohne Erstsprache Deutsch herrsche: „Gute Voraussetzungen sind gegeben, wenn der Anteil der Kinder deutscher Herkunftssprache in einer Gruppe mindestens 50% beträgt.“ In der Kita war dies der Fall, weswegen „das spielerische Erlernen der deutschen Sprache“ für alle Kinder problemlos realisiert werden könne. Für Sonja Maier bedeutete ein aus ihrer Sicht ‚Zuviel‘ an Kindern, „die alle grammatikalisch nicht richtig sprechen“ (s. o.) einen Mehraufwand an Arbeit, den sie unter den vorhandenen Rahmenbedingungen ihrer Arbeit – dem zumindest im bundesdeutschen Vergleich eng bemessenen Personalschlüssel (vgl. Bertelsmann-Stiftung 2017) und der ebenfalls nur geringen Stundenanzahl für die mittelbare pädagogische Arbeit von einer Stunde pro Woche –, offensichtlich nicht oder nur schwer leisten konnte. Gerade vor dem Hintergrund der, auch in der Primel-Kita, generell hohen Arbeitsbelastung der Erzieher*innentätigkeit bestehen daher häufig auch in „interkulturellen“ Ansätzen und Praktiken, die dem Aspekt der (gegenseitigen) Bereicherung und der gleichwertigen Anerkennung ‚kultureller‘ Differenzen verpflichtet sind, defizitorientierte Annahmen der „Ausländerpädagogik“ weiter.12 In diesem Sinnen konstatiert Karin Jampert, Kinder mit keinen oder geringen Deutschkenntnissen stellten für pädagogische Fachkräfte häufig eine „schwierige Voraussetzung oder Bedingung der eigenen
12Dabei
kann die „Ausländerpädagogik“ zwar als „Negativfolie“ für die „Interkulturelle Pädagogik“ gelten (vgl. Diehm/Radtke 1999: 127), jedoch stellen sie „weniger historisch abgrenzbare Phasen dar“ (Mecheril 2004: 89), sondern „das ausländerpädagogische Prinzip“ (ebd.) findet sich auch weiterhin in „interkulturellen“ Praxen und Konzepten (vgl. ebd.).
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Arbeit“ (Jampert 2002: 53) dar; die Fachkräfte müssten mehr Engagement aufbringen und befürchteten oft eine „zusätzliche Belastung bei der Bewältigung ihres Kindergartenalltags“ (ebd.). Wenn das unterstützende familiäre Umfeld fehle, so kam Sonja Maier daher zu dem Schluss, müsse die Institution Kita verstärkt aktiv werden und eine gezielte institutionelle Deutsch-Sprachförderung durchführen (vgl. Interview 11-2011). Sie ging davon aus, eine solche Förderung könne von den Erzieher*innen aber gar nicht geleistet werden, oder jedenfalls nicht, wenn die kindlichen „Sprachvorbilder“ in der Institution fehlten, denn dann liefe die ganze Gruppe Gefahr zu „kippen“: Also das wird nur dann für mich zum Problem, wenn die Kinder, wenn zu viele Kinder in einer Gruppe sind, die keine guten deutschen Sprachkenntnisse haben. Dann wird es irgendwann kompliziert. Ab irgend einer// irgendwann kippt es, ich kann dir nicht genau sagen, wann. Aber irgendwann kippt es, ne? Also dass die dann halt irgendwie Sprachvorbilder nicht so kriegen. (Interview 11-2011)
Auf sprachtheoretischer Ebene stellt der Begriff des (Um-)Kippens (eines Gewässers) eine aus der Biologie entlehnte Metapher dar und kennzeichnet eine „plötzliche, irreversible und katastrophale Zustandsänderung“ (Wikipedia, Umkippen o. J.), wobei „[d]ie meisten Gegenmaßnahmen […] vor allem dann aussichtsreich [sind], wenn das Gewässer noch nicht endgültig gekippt ist“ (Reinboth 2009). Bei dieser in pädagogische Diskurse diffundierten Metapher ist „der Ursprungsbereich als Grundkonzept ein ganz anderer […] als der Zielbereich“ (Guski 2007: 29). Dadurch „kann es innerhalb der Metapher zu einer Überlagerung von inkohärenten Implikationen kommen“ (ebd.), wobei sich das betreffende Konzept „möglicherweise nur sehr bedingt auf fruchtbare Lehr- und Lernsituationen übertragen“ (ebd.: 111) lässt, wie Alexandra Guski hinsichtlich des Schulkontexts feststellt. Auch in der sozialen Stadtpolitik ist die Metapher vom „Kippen“ und der damit verbundenen Spaltung von Städten ein verbreitetes Bild, das auf das „broken windows“-Theorem (vgl. Wilson/Kelling 1982; Lanz 2007: 153) zurückgeht. Die hierbei dominante „Perspektive setzt Städte mit lebenden Organismen gleich und interpretiert Verarmungsprozesse als gesundheitliche Funktionsstörungen“ (Lanz 2007: 154). Dabei „repräsentiert eine geborstene Fensterscheibe (bzw. die Tatsache, dass diese nicht ersetzt wird) einen bedrohlichen Infektionsherd, von dem eine Verwahrlosungs- und Devianzspirale ihren Ausgang nimmt“ (Veith/Sambale 1999: 48). In historischer Perspektive folgt die Metapher „einer epidemiologischen Tradition aus dem 19. Jahrhundert, die
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dazu diente, Arme als ‚unwürdig‘ zu definieren“ (vgl. Lanz 2007: 154; Veith/ Sambale 1999: 48). Sie suggeriert, dass „eine zu hohe Anzahl von Armen und Einwanderern, die dabei miteinander verschmolzen werden, einen Stadtteil zum Kippen bringt und suggeriert eine Art ökologischen Grenzwert, jenseits dessen ein Automatismus des Niedergangs einsetzt“ (Lanz 2007: 154). Dabei bleibt jedoch „der Wert des ‚Kipppunktes‘ stets im Ungefähren und [wird] je nach Situation mit unterschiedlichen Prozentzahlen verknüpft“ (ebd.: 155). Sulamith Hamra zufolge präg(t)en die bundesdeutschen Debatten um eine Spaltung der Städte primär Beispiele aus dem Kontext Berlins (vgl. Hamra 2018: 35). Hier sprach Ende der 1990er Jahre der von 1995 bis 2001 amtierende Neuköllner Bezirksbürgermeister Bodo Manegold (CDU) davon, sein Bezirk sei „umgekippt“, weshalb er eine „gesunde Mischung“ anstrebe (vgl. Lanz 2007: 154). Diese, gerade in Berlin, zum Teil hochgradig affektiv aufgeladenen Debatten waren mit Sicherheit nicht spurlos an der Erzieherin Sonja Maier vorbeigegangen, wenn sie davon sprach, die Kitagruppe könne „kippen“. Noch bevor ich mich mit den mit dieser Metapher verbundenen Implikationen näher beschäftigt hatte, irritierte mich diese Bezugnahme jedoch und erschien mir übertrieben: Denn ging es hier nicht lediglich um eine Gruppe von Kindern, die zusammen ihren Alltag verbrachten, miteinander spielten und voneinander lernten? Die stark normativ geprägte pädagogische Metapher des „Kippens“ – als einem pädagogischen Bedrohungsszenario – vermittelte für Sonja Maier jedoch ein durchaus stimmiges Bild und wurde von ihr einige Male als subjektive Situationsbeschreibung und -analyse herangezogen. Allein aufgrund der geringen Anzahl von „Integrationskindern“ je Gruppe war es für sie dagegen nicht denkbar, dass diese eine Gruppe zum ‚Kippen‘ bringen konnten. Ihnen sprach Sonja Maier zwar keine Vorbildfunktion zu, wie den als „Sprachvorbild“ (s. o.) charakterisierten Kindern, dennoch nahm sie sie als Bereicherung für die nicht-behinderten Kinder wahr. Sonja Maier betonte, Letztere lernten im Umgang mit den „Integrationskindern“ Behinderungen als etwas Normales und Alltägliches wahrzunehmen. Im Gegenzug schauten sich die „Integrationskinder“ vieles von den nicht-behinderten Kindern ab, denen Sonja Maier eine Vorbildfunktion in den Interaktionen untereinander zusprach. Auch in Konfliktfällen würden die behinderten Kinder genauso behandelt werden wie jedes andere Kind, „was man in der Erwachsenenwelt, glaube ich, so nicht wirklich nachstellen kann.“ (Interview 11-2011). In dieser Interpretation kindlicher (Sprach-)Vorbilder kann ein Stück weit die Verantwortung für den „Bildungserfolg“ (Guski 2007: 443) von den
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Schultern der Erzieher*innen genommen und „gelassen“ (ebd.) den Kindern bzw. einer ‚stimmigen‘ Gruppenzusammensetzung überantwortet werden. In der Konsequenz fördert dies die Vorstellung sogenannter Sprachvorbilder, denn ohne diese wäre umfassendes selbsttätiges Lernen – gerade in Bezug auf die Förderung bildungssprachlicher Kompetenzen – nur schwer zu realisieren. Und es stellte auf einer ganz pragmatischen Ebene eine Arbeitsentlastung für die Erzieher*innen dar, wenn sie sich nicht als alleinverantwortlich für die gelungene Vermittlung von Sprachkompetenzen ansehen mussten. Das „Berliner Bildungsprogramm“ Hier wie auch bei den kindlichen Sprachvorbildern bezog sich Sonja Maier auf ein sozialkonstruktivistisches Bildungsverständnis, das die Einrichtung, die sich am Situationsansatz und der Reggio-Pädagogik orientiert, gemeinsam hat mit dem „Berliner Bildungsprogramm für die Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern in Tageseinrichtungen bis zu ihrem Schuleintritt“ (Preissing 2004). Letzteres wurde Anfang der 2000er Jahre von der damaligen Berliner Senatsverwaltung für Jugend, Bildung und Sport in Auftrag gegeben und von einem Autor*innenteam unter Leitung des Berliner „Instituts für den Situationsansatz“ (ISTA)13 entwickelt. Im Jahr 2004 wurde es als die „fachliche Rahmenvorgabe[ ] für die Praxis aller Berliner Kindertageseinrichtungen“ (ebd.: 6) festgelegt.14 Die erfolgreiche Implementierung des Berliner Bildungsprogramms wird durch eine interne ebenso wie durch eine externe Evaluation überprüft (vgl. Senatsverwaltung o. J.a). Die interne Evaluation wird dabei von den Kita-Teams anhand der „Materialien zur internen Evaluation zum Berliner Bildungsprogramm“ (Preissing u. a. 2007) umgesetzt. Die externe Evaluation führt das Berliner Kita-Institut für Qualitätsentwicklung (BeKi) in einem Rhythmus von fünf Jahren in jeder Einrichtung durch (vgl. Berliner Kita-Institut für Qualitätsentwicklung o. J.). Das Berliner Bildungsprogramm betont als wesentlichen Aspekt die „Selbstbildung“ durch „Selbsttätigkeit“ und rückt damit „anstelle der Vermittlungstätigkeit von Erwachsenen eher die Aneignungstätigkeit von Kindern in den
13Das
Berliner „Institut für den Situationsansatz“ (ISTA) existiert seit 1996 und strebt die „Weiterentwicklung und Verbreitung des Situationsansatzes in Theorie und Praxis“ (vgl. ISTA o. J.) an. Eine der Gründerinnen des ISTA, Rita Haberkorn, bezeichnet zudem den Situationsansatz als grundlegendes Konzept für das Berliner Bildungsprogramm, ohne dass dieses jedoch als solches direkt benannt worden sei (vgl. Haberkorn 2012: 20). 14Zehn Jahre später, also im Jahr 2014, gab der Berliner Senat eine überarbeitete und erweiterte Auflage heraus (vgl. Preissing 2014). Im Jahr 2009 wurde zudem ein Bildungsprogramm für den Grundschulbereich veröffentlicht (vgl. Ramseger/Preissing/Pesch 2009).
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Vordergrund“ (Kupfer 2010: 198). Im Berliner Bildungsprogramm heißt es in diesem Zusammenhang: Die kindlichen Bildungsprozesse werden […] gekennzeichnet als aktive, soziale, sinnliche und emotionale Prozesse der Aneignung von Welt. Dies trägt dem in der Bildungsforschung hervorgehobenen Charakter von Bildung als vielfältiger und eigensinniger Selbsttätigkeit des Kindes in sozialen Beziehungen Rechnung. (Preissing 2004: 11)
Mit dieser Konzeptionalisierung wird die aktive Aneignung von Bildung durch Kinder betont; die pädagogischen Fachkräfte wirkten nur von außen auf die Selbstbildungsprozesse der Kinder ein (vgl. Kupfer 2010: 198) und könnten daher den Bildungsprozess nur bedingt beeinflussen (vgl. Guski 2007: 443). Zwar sollten sie in konkreten Situationen die Kinder fördern und entsprechende pädagogische Angebote bereitstellen, die Kinder lernten jedoch im Sinne einer Selbstbildung ununterbrochen. Ganz in diesem Sinne war es Nadine Blessing ein zentrales Anliegen, dass „die Kinder die Möglichkeit haben, sich einzubringen und da draus was zu machen, also wo du dich auf so eine Reise einlässt, wo dann irgendwie was passiert und den Kindern auch eine gewisse Verantwortung gibst.“ (Interview 21-2011). Obwohl also Nadine Blessings pädagogische Vorstellungen mit denen des Berliner Bildungsprogramms weitgehend übereinstimmten, kritisierte sie an Letzterem: Na, dass du bestimmte Angebote machen musst, weil sie halt irgendwie auftauchen müssen in der Planung und in der Durchführung. Und was jetzt nicht unbedingt immer mit der Interessenlage der Kinder zu tun hat oder// Sondern, weil einfach gesagt wird: „Ok, das muss gefördert werden, damit die Kinder nicht blöd werden“ oder so. (Interview 21-2011)
Nadine Blessing war der Meinung, das Berliner Bildungsprogramm ebenso wie andere rechtliche Vorgaben wie das Sprachlerntagebuch (vgl. Fischer u. a. 2006a: 29 f.), um das es ausführlich in Unterkapitel 4.4.3 geht, hätten zwar zum Ziel, die pädagogische Praxis der Erzieher*innen zu „theoretisieren“ – ohne diesen jedoch das notwendige theoretische Wissen zu dessen Verständnis zu vermitteln: Weil ich denke, also durch dieses Qualitätsmanagement und Bildungsprogramm und so, wo man versucht, die Sache zu theoretisieren, aber was nicht klappt, weil sie die Leute gar nicht mitnehmen auf den Weg der Theorie [lacht], sondern ihnen einfach irgendwelche Sachen vorlegen, die sie abarbeiten müssen. (Interview 21-2011)
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Aus diesem Grund, so Nadine Blessing, richteten sich sowohl das Berliner Bildungsprogramm als auch das Sprachlerntagebuch an Erzieher*innen, die nach Orientierung und Strukturierung ihrer Arbeitspraxis suchten: „Also wo sie hier jetzt alle sagen: ‚Wow, wie neu!‘ Und wo es ja eigentlich nur so einen roten Faden gibt, für Leute, die irgendwie wenig Ideen haben, wie sie selber Sachen umsetzen. Finde ich, also empfinde ich das.“ (Interview 21-2011). Nadine Blessings Vorbehalte können als Kritik an einer „Scholarisierung und Curricularisierung von Bildung“ (Stieve 2015: 19) gelesen werden, die sie offensichtlich mit dem Berliner Bildungsprogramm verband. Letzteres schien es für sie zumindest nahezulegen, dass die Erzieher*innen in ihrer pädagogischen Arbeit den Kindern bestimmte, im Vorfeld definierte Angebote vorlegten: Du kannst es auch so machen, dass du ganz viel vorgibst, und die Kinder quasi nur Sachen abarbeiten. Und ich meine, da kommen dann auch tolle Sachen raus. Aber an dem Prozess an sich, waren die Kinder wenig beteiligt. Aber im Endeffekt hat es den gleichen Wert, weißt du, in der Dokumentation [lacht], wie jetzt ein Prozess, wo viel mehr stattfindet, wo die Kinder viel mehr eingefordert werden. (Interview 21-2011)
Nadine Blessing grenzte das Abarbeiten vorgegebener Aktivitäten ab von einem „Prozess, wo viel mehr stattfindet“ bzw. von einer „Reise“ (s. o.), auf die sich die Erzieher*innen bereit sein müssten einzulassen, indem sie primär darauf achteten, was aus einer Gruppe heraus gerade zu einem wichtigen Thema oder einer besonderen Aktivität würde. Letzteres stellte aus der Sicht Nadine Blessings einen Prozess dar, der mehr Zeit in Anspruch nehme und sowohl für die Erzieher*innen als auch die Kinder intensiver und zugleich nachhaltiger sei. Der ‚Erfolg‘ der Arbeit zeige sich daher oft erst viel später und auf unvorhersehbare Weise – aus diesem Grund sei er auch wesentlich schwerer dokumentierbar. Auditing als neue Form neoliberaler Gouvernementalität Nadine Blessing übte also weniger Kritik an den Inhalten des Berliner Bildungsprogramms, sondern vielmehr am Abarbeiten vorgegebener Aktivitäten und hierbei auch an der mit der internen Evaluation des Berliner Bildungsprogramms verknüpften Dokumentation der pädagogischen Arbeit. In der Primel-Kita nahm das tägliche Ausfüllen der verschiedene Dokumentationssysteme Arbeitszeit der Erzieher*innen in Anspruch: Neben den für jede Woche separat auszufüllenden Evaluierungsbögen für die interne Evaluation trugen sie auch regelmäßig im sogenannten Aktivitätenspiegel15 für jedes Kind separat ein, was es den Tag über gemacht hatte. 15Der Aktivitätenspiegel
diente der Kita-internen Evaluation nach der „Leuvener Engagiertheitsskala“ (vgl. Steudel 2008: 81–91; Laevers/Vandenbussche 2009).
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Darüber hinaus beanspruchte auch das Ausfüllen des Sprachlerntagebuchs regelmäßig Zeit und Kapazitäten der Erzieher*innen, die sie auf diese Weise nicht für die Gruppenarbeit aufwenden konnten. Der Kita-Träger, zu dem die Primel-Kita gehörte, hatte die Zeit für diese mittelbare pädagogische Arbeit der Erzieher*innen auf eine Stunde pro Woche festgesetzt. Einer Erhebung von Berliner Kitaträgern und Senat aus dem Jahr 2008 zufolge beläuft sich die tatsächliche Mindestarbeitszeit für alle mittelbaren pädagogische Tätigkeiten auf 23 Prozent, die für Beobachtung, Dokumentation, kollegiale Beratung sowie „Projekte und Aktionen“ auf sieben Prozent, also knapp drei Stunden pro Woche (vgl. Berliner Kita-Institut für Qualitätsentwicklung 2008). Die (wenige) Zeit, die den Erzieher*innen für die mittelbare pädagogische Arbeit zur Verfügung stand, hätten sie also rein theoretisch abseits des Gruppengeschehens in ihrem Arbeitsraum verbringen können, um bspw. der Dokumentationspflicht nachzukommen oder auch um Elterngespräche vorzubereiten. Faktisch erledigten die Erzieher*innen die mittelbare pädagogische Arbeit jedoch ‚nebenbei‘, also während ihrer direkten Arbeitszeit in der Gruppe, um auf diese Weise weiterhin für das Gruppengeschehen ansprechbar zu sein. Dies führte dazu, dass die Erzieher*innen schnell wechseln mussten zwischen der Dokumentation und dem jeweiligen Geschehen in der Gruppe – was auf diese Weise sicher belastend und stressfördernd wirkte.16 Mit dem Einsatz von Evaluations- und Dokumentationsbögen werden neben Unternehmen auch zunehmend Einrichtungen im sozialen Bereich hinsichtlich der Einhaltung bestimmter Vereinbarungen und Zielsetzungen – bspw. der erfolgreichen Implementierung des Berliner Bildungsprogramms oder der Umsetzung des Leuvener Modells der Beobachtung von Kindern – durch externe Stellen überprüft. Audits (lat. „Anhörung“) sind dabei regelmäßig durchgeführte Untersuchungen, mittels der die Erfüllung von vorab formulierten Anforderungen und Richtlinien kontrolliert wird. Diese Entwicklung hin zur
16Daneben
bereiteten die Erzieherinnen auch die Entwicklungsgespräche mit den Eltern direkt vor dem betreffenden Kind vor. Als einmal das Mädchen Lili den Austausch zwischen Sonja Meier und Nadine Blessing über das anstehende Elterngespräch eines anderen, jüngeren Kindes mitbekam, widersprach sie, sie sei doch gar nicht mit diesem befreundet, sondern mit zwei der älteren Mädchen. Daraufhin forderten die beiden Erzieherinnen Lili recht barsch auf, sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Mich entsetzte das Verhalten der Erzieherinnen zunächst, empfand (und empfinde) ich es doch in dieser Situation als adultistisch; zur selben Zeit wuchs aber auch mein Verständnis dafür, – gerade auch angesichts der Fülle der parallel zu bewältigenden Aufgaben – selbst bei der jeweiligen Sache bleiben zu wollen und dies auch von den Kindern einzufordern.
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4 Sprach- und Diversitätspolitiken in einer Berlin- Kreuzberger …
Überprüfung standardisierter Abläufe beschreibt Marilyn Strathern (2000b) in dem von ihr herausgegebenen Sammelband „Audit Cultures: Anthropological studies in accountability, ethics and the academy“ als neue Formen neoliberaler Gouvernmentalität. Es handelt sich dabei um „new management practices which […] derived […] in the first place from protocols of financial accountability but extended to become a now taken-for-granted process of neo-liberal government and contributing substantially to its ethos“ (Strathern 2000c: 3 f.). Wird die pädagogische Arbeit der Professionellen möglichst umfassend dokumentiert, so ist diese nicht nur von außen kontrollierbar, sondern die Dokumentation wirkt zeitgleich auch als innere Selbstkontrolle. In Bezug auf den Hochschulsektors analysieren Chris Shore und Susan Wright dieses Zusammenspiel von Kontrolle und Selbstkontrolle als doppelte Subjektivierung: In short, external subjection and internal subjectification are combined so that individuals conduct themselves in terms of the norms through which they are governed. Audit thus becomes a political technology of the self: a means through which individuals actively and freely regulate their own conduct and thereby contribute to the government’s model of social order. (Shore/Wright 2008: 61 f.)
Auf diese Weise fungiert das Auditing als eine Form der (neoliberalen) Gouvernementalität im Sinne Michel Foucaults; es erlegt den Handelnden verpflichtend Normen auf, die zur selben Zeit auch als subjektivierende ‚Selbsttechnologien‘ bei diesen wirksam werden: Gouvernmentalität operiert also „nicht ausschließlich und notwendig über explizite oder implizite Verbote von Handlungsoptionen, sondern auch und gerade durch ihre Macht, Subjekte zu einem bestimmten Handeln zu bewegen“ (Bröckling/Krasmann/Lemke 2012: 29 f.). Sie ist somit „eine Weise des Einwirkens auf ein oder mehrere handelnde Subjekte, und dies, sofern sie handeln oder zum Handeln fähig sind. Ein Handeln auf Handlungen.“ (Foucault 1994: 255). Genau dieses „Handeln auf Handlungen“ kritisierte offenbar Nadine Blessing: Sie erlebte die mit der Implementierung des Berliner Bildungsprogramms verbundenen Evaluationen ebenso wie das „Abarbeiten“ (s. o.) und die Dokumentation von vorgegebenen Aktivitäten als einschränkend in ihrer Arbeit. Zur selben Zeit erschien ihr die Evaluation und Dokumentation ihrer Arbeit als eine Begrenzung ihrer eigenen Kreativität sowie der kreativen Prozesse, die die Kinder ohne Einwirkung von außen ganz von selbst initiieren und erleben könnten. Ein Beispiel für eine Dokumentationspflicht, die die Kita allerdings selbst eingeführt hatte und die Nadine Blessing in ihren Effekten als einschränkend empfand, stellte für sie ein regelmäßig aktualisiertes Whiteboard im Eingangsbereich dar. Es diente dazu, den Eltern einen Einblick in die täglichen
4.3 Herausfordernde Heterogenität – bereichernde Diversität?
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Aktivitäten der Gruppe zu geben, bspw. ob die Gruppe bzw. ein Teil der Gruppe den nahegelegenen Kinderbauernhof besucht oder im kitaeigenen Garten gespielt hatte. Einige Male entschieden die Erzieherinnen, nur relativ kurze Zeit bevor es Mittagessen gab, mit einer kleinen Gruppe von Kindern in den Garten zu gehen. Jedes Mal trug dann auch gewissenhaft eine der drei auf dem Whiteboard ein, die Kinder seien an diesem Tag draußen im Freien gewesen. Teilweise brachte der kurze Besuch im Garten Unruhe in den Tagesablauf, da die Kinder in ihrer bisherigen Aktivität unterbrochen wurden, sich zügig umziehen mussten und auch anschließend im Garten nur sehr kurz verweilten. Trotz der Hektik, die dies mit sich brachte, wählten die Erzieherinnen immer wieder den kurzzeitigen Gang nach draußen in den Garten. Die so durchgeführten Tätigkeiten und die Dokumentation derselben auf dem Whiteboard irritierten mich: Warum betonten alle drei Erzieherinnen einerseits, sie wollten die Kinder dazu anhalten, sich lange mit einer Sache zu beschäftigen und in ihrer Aktivität vollständig aufzugehen, wenn sie beim kurzfristig angesetzten Nach-Draußen-Gehen selbst dazu beitrugen, die Kinder abrupt in ihrem Tun zu unterbrechen? Diese Frage stellte ich schließlich Nadine Blessing, die mir versicherte, sie fände dies ebenfalls nicht optimal. Es müsse aber sein, um einige der Eltern mit ihrem Wunsch und Anliegen, ihr Kind täglich draußen im Freien spielen zu wissen, zufrieden zu stellen. Entscheidend sei, die Gruppe realisiere eine den Eltern gegenüber konkret dokumentierbare Aktivität, in diesem Fall sei dagegen weniger relevant, dass dies die Dynamiken in der Gruppe unterbreche (Feldtagebucheintrag, 20.04.2011). Demgegenüber betonte Julia Weiß die freien Gestaltungsmöglichkeiten und die Spielräume, die für sie den Beruf der Erzieherin bzw. der staatlich anerkannten Heilpädagogin gegenüber dem Schulkontext ausmachten: „Also ich finde, es ist schön, dass man frei arbeiten kann, nicht unbedingt so einen ganz starken Lehrplan hat.“ (Interview 10-2011). Nach ihrer eigenen Schulzeit war ihr ursprünglicher Berufswunsch der der Grundschullehrerin gewesen. Doch nachdem sie nach der Mittleren Reife zunächst eine Ausbildung als Erzieherin begann, merkte sie durch ihre alltägliche Arbeit, wie sehr sie die Gestaltungsmöglichkeiten schätzte, die ihr ihre Tätigkeit im vorschulischen Bereich erlaubte. Da für sie der Vergleich zum noch wesentlich stärker „scholarisierten“ Grundschulbereich maßgeblich war, nahm sie die berlinweit geltenden Rahmenvorgaben für Kitas – u. a. das Berliner Bildungsprogramm – weniger als Curricularisierung der frühkindlichen Bildung wahr, sondern stellte vielmehr heraus, dass es den einzelnen Erzieher*innen in den Kitas überlassen sei, inwieweit und v. a. auch wie sie diese Rahmenvorgaben nutzten und umsetzten.
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4 Sprach- und Diversitätspolitiken in einer Berlin- Kreuzberger …
Vorbereitung auf die Schule Unabhängig davon, wie groß die Erzieher*innen die Spielräume wahrnahmen, die ihnen das Berliner Bildungsprogramm bot, stellte die Vorbereitung auf die Schule als Bestandteil des Bildungsplans mehr dar als lediglich eine erzwungene Performanz einer auditierbaren good-practice. Vielmehr war hier der Anspruch aller Erzieher*innen der Primel-Kita identisch mit der vom Bildungsplan formulierten „Förderung aller Kinder bis zum Schulbeginn, um mit den bestmöglichen Voraussetzungen den Wechsel von Kita zur Schule erfolgreich zu bestehen“ (Bezirkselternausschuss Friedrichshain-Kreuzberg o. J.). Das Berliner Bildungsprogramm soll dabei „den Erzieherinnen und Erziehern […] als Hilfe dienen, alle Kinder möglichst umfassend zu fördern und auf die Schule vorzubereiten“ (ebd.). Mit dem im Jahr 2004 verabschiedeten neuen Berliner Schulgesetz wurde die individuelle Feststellung der „Schulreife“ aufgehoben. Die Einschulung erfolgte nunmehr bereits ab einem Alter von fünf Jahren und acht Monaten. Der Stichtag des Geburtstages des Kindes, der für die Einschulung maßgeblich war, lag seither (und bis zum Jahr 2016) nach dem 31. Dezember (vgl. Senatsverwaltung 2004, § 42).17 Im Allgemeinen wurde so die in der Kita verbrachte Zeit verringert.18 Trotzdem blieb Anspruch und Forderung an Kitas, die Kinder adäquat auf die Schule vorzubereiten und insbesondere mehrsprachigen Kindern gute Kenntnisse der deutschen Sprache zu vermitteln.19 Diesbezüglich forderte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im Jahr 2008 von K ita-Einrichtungen: 17Dabei
war im Berliner Schulgesetz im § 42 Absatz 1 der Beginn der allgemeinen Schulpflicht folgendermaßen geregelt: „Mit Beginn eines Schuljahres (1. August) werden alle Kinder schulpflichtig, die das sechste Lebensjahr vollendet haben oder bis zum folgenden 31. Dezember vollenden werden.“ Nachdem ab dem Jahr 2014 bereits die Zurückstellung von der Einschulung erleichtert worden war, beschloss der Berliner Senat Anfang 2015 die Früheinschulung für Kinder, die nach dem Jahr 2011 geboren wurden, wieder abzuschaffen (Vieth-Entus 2015b). 18Bereits vor Einführung des neuen Schulgesetzes nutzten in Berlin – im Vergleich zu den alten Bundesländern – verhältnismäßig viele Eltern Betreuungsplätze für Kinder ab dem Alter von ca. einem Jahr. Die durch die frühere Einschulung verkürzte Dauer der Kita-Zeit konnte daher nur sehr eingeschränkt durch die Schaffung erweiterter Betreuungsmöglichkeiten im Kita-Bereich ausgeglichen werden. Diesbezüglich besteht seit 2012 laut § 24 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes ein bundesweit geltender Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für Kinder ab Vollendung des Ersten Lebensjahres (vgl. Sozialgesetzbuch, Achtes Buch 1990). 19Um
die frühere Einschulung auszugleichen, wurde in staatlichen Grundschulen eine Schulanfangsphase eingerichtet, die die ersten beiden Jahrgangsstufen umfasst, und in der die Schüler*innen ein bis zu drei Jahre „verweilen“. Die Schüler*innen können auf Antrag der Erziehungsberechtigten nach einem Jahr in der Schulanfangsphase vorzeitig in die 3. Klasse aufrücken oder aber „ein zusätzliches Schuljahr in der Schulanfangsphase verbleiben, ohne dass dieses Schuljahr auf die Erfüllung der allgemeinen Schulpflicht angerechnet wird“ (Senatsverwaltung 2004, § 20, Absatz 3).
4.3 Herausfordernde Heterogenität – bereichernde Diversität?
137
Frühzeitige Förderung ist für den Spracherwerb von zentraler Bedeutung. Dies gilt in besonderem Maße für Kinder, die mit einer anderen Herkunftssprache als Deutsch aufwachsen und Deutsch als Zweitsprache erlernen. Für sie sind Kindertageseinrichtungen häufig die ersten Orte, an denen umfassend und gezielt Deutsch gelernt und gesprochen wird bzw. werden kann. Sprachliche Bildung stellt somit einen wichtigen Teil der Integrationsleistung von Kindertageseinrichtungen dar. Als Einrichtungen an der Schnittstelle zum Übergang in die Schule haben sie eine Schlüsselposition für den weiteren Bildungsverlauf und tragen maßgeblich dazu bei, die Zukunftsperspektiven von Kindern – mit und ohne Migrationshintergrund – zu gestalten. (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2008: 13)
In dieser Logik basiert das Erlernen respektive die Vermittlung von Sprachkompetenz auf einer – syntaktisch und die Aussprache betreffend – legitimen Sprache (Bourdieu 2005: 47–72), also „einer an Schriftsprachlichkeit orientierten Fachsprache“ (Mecheril/Quehl 2006b: 363), die den Kindern möglichst früh vermittelt werden soll. Die Erzieherin Sonja Maier stellte vor diesem Hintergrund fest: „[Es] ist oft so, dass die Kinder, die hier rausgehen, einfach gut Deutsch sprechen. Das ist dann letztendlich das Wichtige, dass, wenn sie hier rauskommen und in die Schule gehen, dass sie einfach gute Sprachkenntnisse haben.“ (Interview 11-2011). Sonja Maier sprach hier offensichtlich das Thema der Bildungsgerechtigkeit an. Mit Paul Mecheril und Andrea Vorrink gesprochen, beabsichtigte sie, auch die Kinder „mit weniger ausgeprägten ‚Starteigenschaften‘ so zu fördern, dass sie tatsächlich die Chance erhalten, schulische Leistungen zu erbringen, die nicht schlicht ein Indiz ihrer sozialstrukturellen Stellung darstellen.“ (Mecheril/Vorrink 2014: 103). Diesen Bildungsauftrag zu erfüllen, erschien den Erzieher*innen und der Kita-Leiterin allerdings nur unter einer bestimmten Zusammensetzung der Kita-Gruppe möglich, da die Rahmenbedingungen eine individuelle Förderung erschwerten. So wurde in der Konsequenz die Zusammensetzung der Kita-Gruppen formalisiert und verstärkt darauf geachtet, dass genügend Kinder in einer Gruppe waren, denen die Erzieher*innen zutrauten, eine Vermittlungsund Vorbildrolle für andere Kinder einzunehmen. Diese trügen zu einem optimalen Lern- und Entwicklungsklima für alle Kinder bei und unterstützten die Erzieher*innen in ihrer Bildungs- und Erziehungsarbeit. Fehlten diese Kinder, könne eine Lerngruppe ‚kippen‘. Einrichtungen wie die interkulturelle Kita loten so einen Spagat aus zwischen ihrem Anspruch, Diversität – oder je nach pädagogischem Ansatz auch Heterogenität, Interkulturalität etc. genannt – anzuerkennen und wertzuschätzen und der Anforderung, die Kinder wie im derzeitigen Bildungs- und Integrationsdiskurs gefordert, mit guten Kenntnissen der deutschen Sprache in die Schule zu entlassen.
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4.4 Institutionelle „Sprachförderung“ in der Primel-Kita 4.4.1 Kommunikationssprache Deutsch Die Kita-Gruppe, in der meine Forschung stattfand, besuchten 18 Kinder. Acht davon wuchsen bi- oder plurilingual auf, wobei Türkisch für vier der Kinder eine Familiensprache darstellte. Darüber hinaus waren in der Kita-Gruppe – neben Deutsch – folgende weitere Sprachen präsent: Fünf Kinder kommunizierten in ihren Familien (auch) jeweils auf Albanisch, Chinesisch, Englisch, Italienisch und Tschechisch. Von den acht mehrsprachigen Kindern redeten vier in ihren Familien überwiegend oder ausschließlich in einer anderen Sprache als dem Deutschen; sie lernten also maßgeblich in der Institution Kita die deutsche Sprache. Die Mehrzahl der Kinder der Kita-Gruppe sprach somit Deutsch; einiger dieser Kinder wurden, wie in Unterkapitel 4.3.1 dargelegt, als „Sprachvorbild“ für die Kinder mit wenigen oder keinen Deutschkenntnisse konzeptionalisiert. Da außer den mehrsprachig türkisch-deutsch aufwachsenden Kindern die anderen plurilingualen Kinder keine Kommunikationspartner*innen in ihren Erst-, bzw. Zweitsprachen hatten, waren sie darauf angewiesen, untereinander Deutsch zu sprechen. Somit führte die Zusammensetzung der Kita-Gruppe dazu, dass der Mehrzahl der Kinder ausschließlich die deutsche Sprache als Verständigungssprache untereinander und mit den Ezieher*innen dienen konnte. Die Konzeption der Einrichtung sah vor, dass die deutsche Sprache in der Kommunikation der Kinder untereinander sowie der Erzieher*innen mit den Kindern und deren Eltern verwendet werden solle: „Die Kinder nicht deutscher Herkunftssprache kommen aus bis zu 14 verschiedenen Nationen. Das bedeutet, Deutsch ist die verbindende und verbindliche Sprache in der Kita.“ (Hervorheb. I.D.). Mit dieser Setzung wurde ein kausaler Zusammenhang hergestellt zwischen der Existenz einer plurilingualen Realität und der Notwendigkeit einer „verbindende[n] und verbindliche[n] Sprache“ in der Kita. Sprache wurde aus diesem Grund als „Ausgangspunkt für die Kommunikation mit anderen Menschen“ hervorgehoben: „Sprache dient der Vermittlung sozialer Regeln und Werte und ist damit eine der Grundlagen für soziales Zusammenleben.“ Ohne es direkt zu benennen, wurde „Sprache“ hier mit der deutschen Sprache als der im bundesdeutschen Kontext dominierenden Sprachweise (vgl. Mecheril/Quehl 2006b: 367) in eins gesetzt. In der Konzeption der Kita galt die Grundannahme, allein die deutsche Sprache – als der gemeinsamen Sprache – habe das Potenzial, das soziale Zusammenleben zu regulieren und müsse deswegen auch verbindlich von allen gesprochen werden.
4.4 Institutionelle „Sprachförderung“ in der Primel-Kita
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Die in der Konzeption formulierte „Akzeptanz der Muttersprachen“ bezog sich daher nicht auf die Alltagskommunikation der Kinder untereinander; vielmehr wurde es in der Kita nicht gerne gesehen, wenn die Kinder in einer anderen Sprache als dem Deutschen miteinander redeten. Die sprachliche Heterogenität der Einrichtung wurde in der Konzeption somit als gegeben anerkannt und zur gleichen Zeit dethematisiert: Durch den Verweis auf die Verwendung der Kommunikationssprache Deutsch entstand eine Leerstelle bezüglich der alltagsweltlichen Mehrsprachigkeit in der Kita. Dementsprechend existierte kein Konzept für den Umgang mit Plurilingualität; vielmehr galt Monolingualität als anzustrebender, vermeintlich harmonischer Zustand. Mehrsprachige Ansätze, mit denen das soziale Zusammenleben auch hätte organisiert werden können und die ungleich arbeitsintensiver für die Erzieher*innen gewesen wären, waren also nicht nur nicht vorgesehen, sondern wurden von vornherein nicht in Betracht gezogen. In der Primel-Kita redeten die Türkisch sprechenden Kinder lediglich in bestimmten Situationen Türkisch. Meist, wenn eines oder mehrere der drei älteren Kinder die zweieinhalbjährige Dana daran hindern wollten, etwas zu zerstören oder umzuwerfen. Dazu gehörte eine beständig wachsende und sich erweiternde Stadtlandschaft aus Bauklötzen, an der insbesondere die beiden befreundeten Jungen Cem und Enes täglich weiter bauten. Beim Zurechtweisen nutzten sie zum Teil die Kommunikation in der türkischen Sprache, um sicher zu gehen, dass sie von dem jüngeren Mädchen Dana verstanden wurden (Feldtagebuch, 09.03.2011 und 20.04.2011). Darüber hinaus kommunizierten die älteren Kinder Cem, Enes und Nurcan vereinzelt miteinander auf Türkisch. Die Erzieherinnen unterbanden dies nicht und duldeten somit in Ausnahmefällen Gespräche auf Türkisch. Wie die Erzieher*innen gehandelt hätten, wenn die Kinder häufiger auf Türkisch miteinander geredet hätten, bleibt dabei jedoch offen.20 In diesem Zusammenhang unterscheidet Nathalie Thomauske bezüglich der in Kitas realisierten Sprachpolitiken das Konzept des Silencing von dem des Voicing von Mehrsprachigkeit. Ihr zufolge kann Silencing verstanden werden als Praxis des „zum Schweigen bringen, jemanden sprachlos machen“, wobei „der Fokus auf denjenigen [liegt], die silencen, also die ein Sprechverbot auferlegen“ (Thomauske 2017b: 241). Nathalie Thomauske betont, dass die Reaktionen auf Silencing sehr unterschiedlich sein können und von Verstummen über sich dem
20Meiner
Einschätzung nach schämte sich jedoch anders als in Nathalie Thomauskes Studie keines der plurilingualen Kinder für den Gebrauch anderer Sprachen als dem Deutschen (vgl. Thomauske 2017b: 246).
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Sprachverbot widersetzen reichen können (vgl. ebd.). Vom Silencing unterscheidet sie [d]as äquivalente Konzept des Voicing, [das] verdeutlichen [soll], dass entweder andere Praktiken oder Akteure es ermöglichen (möchten), dass Kinder oder Erwachsene in ihrer Ausdrucksmöglichkeit und Sprachproduktionen bzw. Sprachund Sprechpraktiken nicht eingeschränkt, sondern unterstützt werden. (ebd.)
Die Unterscheidung zwischen Praktiken des Silencing und des Voicing von Mehrsprachigkeit hat sich auch für meine Analyse als hilfreich erwiesen.
4.4.2 Anknüpfung an der sprachlichen Situation eines Kindes Während üblicherweise in der Primel-Kita die deutsche Sprache als bestimmende Verständigungssprache konzipiert war, wurde auf die Erstsprache eines Kindes in dessen Eingewöhnungsphase vermehrt eingegangen, wie Nadine Blessing berichtete: Also vor allem in der Eingewöhnung, dann, wenn die zweisprachig aufwachsen// dass man dann irgendwie so Worte, die sie in der anderen Sprache können, sich aufschreiben lässt und dass man dann einfach weiß, wenn sie einem was sagen, was das sein könnte, was jetzt nicht Deutsch ist. (Interview 21-2011)
Für Nadine Blessing war es zentral zu wissen, was ein Kind in seiner Eingewöhnung sprachlich vermitteln und mitteilen will. Sich von den Eltern Worte aufschreiben zu lassen, war für sie daher wichtig, um dem Kind – und darüber hinaus auch den Erzieher*innen selbst – die Eingewöhnungs- und Ablösephase zu erleichtern. In diesem Zusammenhang analysiert Nathalie Thomauske, dass häufig [u]nter der Annahme, dass Kinder den Übergang vom familiären Anderssprachigen Lebensbereich in den der Normsprachigen Kita als zu radikal empfinden (könnten), […] ein Ausnahmebereich konstruiert [wird], in dem der monolinguale Habitus gebrochen wird. So nutzen pädagogische Fachkräfte […] während der Eingewöhnungsphase Begriffe in Anderen Sprachen, um Anderssprachigen Kindern ein Gefühl des „Angenommen“werdens zu vermitteln […]. (Thomauske 2017a: 214, Hervorheb. i. Orig.)
Das Aufgreifen mehrsprachiger Aspekte bleibt dann eine Ausnahme von der Regel der Monolingualität, wenn es ausschließlich in der Eingewöhnungsphase
4.4 Institutionelle „Sprachförderung“ in der Primel-Kita
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erfolgt (vgl. ebd.). In dieser Ausschließlichkeit war dies in der Primel-Kita nicht der Fall, auch wenn andere Sprachen als das Deutsche nur selten zum Einsatz kamen. Zu den seltenen und zumeist pädagogisch angeleiteten Situationen, in denen Mehrsprachigkeit gefördert wurde, gehörte es für Sonja Maier, mittels ihrer eigener Türkischkenntnisse an der Sprachsituation der türkisch-erstsprachlichen Dana anzuknüpfen. An einem ruhigen Nachmittag, als die meisten Kinder bereits abgeholt waren, sah ich, wie sie sich mit Dana an einen Tisch setzte und mit ihr ein deutsch-türkisches Bilderbuch ansah, in dem verschiedene bildlich dargestellte Objekte in beiden Sprachen namentlich benannt wurden. Sonja Maier las zu jedem Gegenstand die Bezeichnungen auf Deutsch und auf Türkisch vor und versuchte dabei die Aufmerksamkeit des häufig unruhigen Kindes auf das Buch zu lenken, indem sie auf die Abbildungen zeigte und jedes Mal „bak!“ („Schau!“) sagte. Wenn das Mädchen aufstehen wollte oder Sonja Maier allzu unkonzentriert erschien, gab sie zwischendurch einfache Anweisungen auf Türkisch: „Yapma!“ – „Lass das!“ oder „Otur!“ – „Setz dich!“ (vgl. Feldtagebuch, 16.03.2011). Dass Sonja Maier einfache Einwortsätze verwendete, könnte daran liegen, dass sie an der Sprachentwicklung des Kindes ansetzte, das selbst noch nicht aktiv sprach. Sie hatte zudem immer wieder betont, wie wichtig ihr als erwachsener Person den Kindern gegenüber eine Vorbildfunktion beim Sprechen – als einem „Sprachvorbild“ – war (vgl. Unterkapitel 4.3.1). Um also eine grammatikalisch korrekte Sprechweise zu vermitteln beschränkte sie sich möglicherweise auf kurze Aufforderungen, die sie mit ihren eigenen Türkischkenntnissen fehlerfrei geben konnte. Die Bezugnahme auf die Erstsprache eines Kindes mit dem Ziel, seine sprachlichen Kompetenzen – ebenso wie die seiner Eltern – anzuerkennen und aufzuwerten, kann dieses darin stärken, ein positives Selbstwertgefühl zu entwickeln (vgl. Thomauske 2017b: 245 f.). Dies gilt besonders „für sehr junge Kinder“, denen „Stolz und Vertrauen in die eigenen kommunikativen Fähigkeiten den Weg hin zum Erwerb der Schriftsprachkompetenz ebnen“ (Whitehead/Fthenakis/ Oberhuemer 2010: 305). Vor diesem Hintergrund stellt Nathalie Thomauske fest, dass es „für Kinder ermutigend [sein kann, Anmerkung I.D.], wenn sie in der Kindertageseinrichtung erleben, dass ihren sprachlichen Vorerfahrungen, ihren erstsprachlichen Kenntnissen und ihren Familiensprachen Respekt und Interesse entgegengebracht wird.“ (Thomauske 2017a: 99). Das gemeinsame Bilderbuchanschauen, das die Erzieherin Sonja Maier mit dem Mädchen Dana realisierte, stellt aus meiner Sicht ein anschauliches Beispiel für eine solche sprachliche Ermutigung dar.
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4.4.3 Institutionelle Rahmenvorgaben der Sprachförderung Neben der alltäglichen Anknüpfung an sprachliche Vorerfahrungen kam in der Primel-Kita zumeist das sogenannte Sprachlerntagebuch (vgl. Fischer u. a. 2006a) als einer Rahmenvorgabe der Sprachförderung zum Einsatz. Beim Ausfüllen des Sprachlerntagebuchs war jeweils eine Erzieher*in für ein bestimmtes Kinder verantwortlich. Das Sprachlerntagebuch wird seit dem Jahr 2006 als Sprachdokumentationssystem für jedes Kind in allen Berliner Kitas eingesetzt, die eine Finanzierung nach den Regelungen des Kindertagesförderungsgesetzes erhalten (vgl. Senatsverwaltung 2005b); es dient sowohl der Sprachstandsermittlung und -diagnostik als auch der Sprachförderung der deutschen Sprache (vgl. ebd.). Parallel dazu wurde eine Handreichung für Erzieher*innen vom Berliner Senat herausgegeben (vgl. Fischer u. a. 2006b), die zwei Jahre später auch auf Tagespflegepersonen ausgeweitet wurde (vgl. Senatsverwaltung 2008). Im Jahr 2016 erschien eine zweite, in einigen Aspekten modifizierte und überarbeitete Version des Sprachlerntagebuchs (vgl. Gaudszun u. a. 2016). Das Sprachlerntagebuch ist in vier Teile gegliedert. Die Fragen im ersten Teil sind an die Eltern des Kindes gerichtet und dienen zur Feststellung seiner Lebensumstände sowie dessen sozialer Situation. Da hier sehr persönliche und teilweise vertrauliche Fragen gestellt werden, sind die Erzieher*innen dazu verpflichtet, diesen Teil des Sprachlerntagebuchs aus Gründen des Datenschutzes getrennt vom Rest des Sprachlerntagebuchs und nicht frei zugänglich für die Kinder (oder auch für interessierte Eltern oder Außenstehende) aufzubewahren, bis es beim Kita-Wechsel oder Schuleintritt des Kindes den Eltern ausgehändigt wird (vgl. Senatsverwaltung 2008: 3). Zu den – auf freiwilliger Basis – zu beantwortenden Fragen gehört u. a., wie viele Geschwister das Kind hat, welche Feste gefeiert werden und welche Lieblingsorte das Kind in und außerhalb der Wohnung hat. Darüber hinaus bezieht sich ein großer Teil der an die Eltern gerichteten Fragen auf die Sprachkompetenzen des Kindes wie auch der Eltern insbesondere in der deutschen Sprache. Hierunter fiel in der alten Fassung des Sprachlerntagebuchs, die von 2006 bis 2016 galt, welche Sprache(n) das Kind benutze und welche die Eltern sprächen, wie die Eltern die Sprachentwicklung des Kindes in der deutschen Sprache und ggf. in der Erstsprache einschätzten und ob die Eltern ihrem Kind vorläsen oder Geschichten erzählten. Im Falle von Kindern „nichtdeutscher Herkunftssprache“ bezogen sich die Fragen darauf,
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wie lange die Eltern21 in Deutschland leben, wie sie ihre Deutschkenntnisse einschätzen und ob sie Interesse an einem Deutsch-Sprachkurs hätten.22 Im zweiten Teil des Sprachlerntagebuchs unter dem Titel „Das bin Ich!“ sind die Erzieher*innen aufgefordert, „alle alltäglichen Beobachtungen und Aufzeichnungen“ (ebd.: 4) zu dokumentieren. Die frei von den Erzieher*innen und dem Kind zu gestaltenden Seiten beinhalten jeweils einen bestimmten Impuls, wie z. B. „und so sehe ich aus!“ oder „Das ist meine Familie“; hier besteht die Möglichkeit, selbstgemalte Bilder, Fotos oder Collagen einzukleben. Die Handreichung betont, dass hier „die kreativen Fähigkeiten der Kinder, Eltern und Erzieherinnen zum Einsatz kommen und entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand umgesetzt werden [können]“ und dass der „Fantasie […] dabei keine Grenzen gesetzt [sind]“ (ebd.: 7). Im dritten Part doppeln sich die in den „Bildungsinterviews“ dem Kind direkt gestellten Fragen teilweise mit den obigen Impulsen. Die Fragen des „Bildungsinterviews“ sollen ab einem Alter von drei Jahren in einem jährlichen Abstand vom Kind beantwortet werden und sind laut der Handreichung „eine Möglichkeit, den sprachlichen Aspekt der Bildungsbiografie des Kindes zu beleuchten und zu dokumentieren“ (ebd.: 8). Im abschließenden vierten Teil des Sprachlerntagebuchs wird in der „Lerndokumentation“ der Sprachstand vierjähriger Kinder ermittelt und festgehalten. Die Erzieher*innen sind verpflichtet, den Stand der „Sprachentwicklung“ eines Kindes in einer „Statuserhebung“ bis zum 31. Mai vor der regulären Einschulung zu dokumentieren, um hierüber einen möglichen „Sprachförderbedarf“ festzustellen (vgl. Senatsverwaltung o. J.b). Dazu werden die Bereiche „Basale Fähigkeiten“,
21Das Sprachlerntagebuch aus dem Jahr 2006 ging dabei von heteronormativen Paarbeziehungen als impliziter Norm aus und richtete sich daher mit dieser Frage entsprechend an „[d]ie Mutter“ und „[d]en Vater“ (Fischer u. a. 2006a: 4). Im Sprachlerntagebuch aus dem Jahr 2016 wurde der Bezug auf „Mutter“ und „Vater“ in die allgemeinere Formulierung „Familie“ umgewandelt (Gaudszun u. a. 2016: Gespräch zum Kennenlernen des Kindes und der Familie). 22In der zweiten Auflage des Sprachlerntagebuchs aus dem Jahr 2016 richten sich einige Fragen explizit an Eltern, deren Kinder mehrsprachig aufwachsen: „10. Welche Sprachen sprechen Sie in Ihrer Familie? 11. Versteht Ihr Kind noch andere Sprachen? Kann es sich in anderen Sprachen verständigen? 12. In welcher Sprache fühlt sich Ihr Kind am wohlsten? Und Sie selbst? 13. Welche Chancen sehen Sie, wenn Kinder mehrsprachig aufwachsen?“ (Gaudszun u. a. 2016, Fragen an Eltern, deren Kinder mehrsprachig aufwachsen). Während in der ersten Version des Sprachlerntagebuchs die Defizitkonstruktion „nichtdeutsche Herkunftssprache“ dominiert und die dort gestellten Fragen den Fokus auf die Kenntnisse ebenso wie die Mängel im Deutschsprechen gelegt hatten, werden nunmehr stärker die Kompetenzen betont, die mehrsprachige Kinder auszeichnen.
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„Phonologische Bewusstheit“, „Sprachhandeln“ und „Erste Erfahrungen mit Bildund Schriftsprache“ mithilfe der vier Kategorien „meistens“, „häufig“, „selten“ und „nie“ erfragt. Zusammengenommen ergeben sie so eine Gesamtpunktzahl, die bis zu einer erreichten Punktzahl von 55 oder weniger Punkten auf eine „Sprachförderung“ verweist. In den Erläuterungen zur „Statuserhebung“ wird die Maßnahme wie folgt begründet: „Ziel ist es, die Kinder mit einem Bedarf an besonderer Sprachförderung – vergleichbar mit den Kindern, die keine Kita besuchen – zu erkennen und die Zeit bis zur Einschulung für eine verstärkte Sprachförderung zu nutzen.“ (ebd.). Wird ein solcher Bedarf diagnostiziert, „findet die anschließende intensive einjährige Sprachförderung wie bisher im Rahmen der regulären Förderung in den Tageseinrichtungen statt“ (vgl. Senatsverwaltung 2008: 11). Das Ziel der Lerndokumentation und der frühzeitigen Erkennung eines „Sprachförderbedarfs ist es hierbei, die Ausgangsbedingungen für den Übergang in die Schule zu verbessern“ (ebd.). Im Herbst 2014 beschloss der Berliner Senat, die bisherige Regelung zu lockern, die Lerndokumentation grundsätzlich zusammen mit dem Sprachlerntagebuch den Eltern vor dem Schuleintritt zu übergeben. In der Intention, Grundschulen ein adäquateres Ansetzen an eventuellen „Sprachdefiziten“ zu ermöglichen, kann seither die Lerndokumentation – unter Zustimmung der Eltern – an die zukünftige Grundschule weitergegeben werden (vgl. Senatsverwaltung 2015; vgl. auch Lange 2014).23 Laut der Erzieherin Nadine Blessing war es allerdings auch schon zum Zeitpunkt meiner Forschung im Jahr 2011 durchaus gängige Praxis, dass manche Kitas die Lerndokumentation ohne Einwilligung der Eltern an die zukünftige Grundschule weitergegeben hätten. Viele Schulen nutzten wiederum das fehlende Wissen mancher Eltern
23Bereits
zuvor bestand in Berlin das Modellprogramm „FörMig – Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ mit einer Laufzeit von 2004–2009 (vgl. FörMig o. J.a). Auch dieses Programm hatte eine „durchgängige Sprachförderung“ ab der Kita zum Ziel. Eine Arbeitsgruppe hatte dazu die für die Schulanfangsphase gültige „Lerndokumentation Sprache“ (Carls 2009) erarbeitet, die in einigen zentralen Bereichen mit dem Sprachlerntagebuch übereinstimmt. Ebenso entwickelte die AG ein Verfahren entlang einer Rahmengeschichte „Momo“ bei der zum Zeitpunkt der Schulanmeldung „jeweils eine Kita-Erzieherin und eine Lehrerin gemeinsam bei einem Kind basale und sprachliche Fähigkeiten, die gezielt überprüft werden können“ (ebd.: 11) erfassten. Damit sollte gewährleistet werden, dass „[b]ei entsprechender Absprache beider Einrichtungen […] hierüber eine Zusammenarbeit ermöglicht [wird], die im Interesse des Kindes liegt und einen professionellen Umgang des pädagogischen Personals darstellt.“ (ebd.: 9). Eine solche Zusammenarbeit zwischen Kita und öffentlichen Grundschule stellt in Berlin allerdings nicht die Regel dar, auch wenn Kooperationen zwischen beiden Institutionen in den letzten Jahren intensiviert wurden (vgl. Unterkapitel 6.1).
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aus, die Weitergabe der Lerndokumentation verweigern zu dürfen.24 In der Konsequenz würden freie Plätze an einer Schule bevorzugt an deutschkompetente Schulanfänger*innen vergeben (vgl. Interview 21-2011).25 Sprachstandserhebung in der Primel-Kita Auch wenn in der Primel-Kita das Sprachlerntagebuch nicht an Grundschulen weitergegeben wurde, konnte sich die Sprachstandsfeststellung in der Lerndokumentation auch dort unter Umständen negativ auf ein Kind auswirken. Die fünfjährige Nurcan hatte bspw. einen älteren Bruder, der bereits eine Grundschule mit dem Förderschwerpunkt Sprache besuchte. Um zu verhindern, dass Nurcan ebenfalls aufgrund von Sprachschwierigkeiten dieser Schule zugeordnet würde, mussten sich die drei Erzieherinnen beim Ausfüllen der Lerndokumentation einiges einfallen lassen. Während die Erzieherinnen sonst meist die Sprachstandsfeststellung alleine ausfüllten, holte sich in diesem Fall Sonja Maier Unterstützung von ihren beiden Kolleginnen. Sie begründete dies damit, dass es nicht immer zum Positiven für das Kind sei, wenn es in eine Schule oder in eine extra Klasse komme, „wo dann überhaupt nix mehr passiert“ (Feldtagebuch, 02.05.2011). Nadine Blessing ergänzte, die sprachlichen Schwierigkeiten seien sowieso da, verhindert werden könne aber, dass Nurcan von vorneherein schlechte Startchancen zugewiesen bekäme. An mich gewandt erklärte sie, sie hätten in der Kita schlechte Erfahrungen damit gemacht, Kindern einen „Sprachförderbedarf“ zu attestieren. Sonja Maier ergänzte, „Sprachförderung“ bekomme Nurcan ja auch in der Kita den ganzen Tag, nur eben keine besondere Förderung durch spezielle Institutionen, aber doch eine Sprachförderung.
24Parallel
dazu wäre auch denkbar, dass Eltern, deren Kinder als „deutschkompetente Schulanfänger*innen“ eingestuft werden, die Weitergabe bewusst für sich nutzten. Hierfür gab es in meiner Forschung jedoch keine Hinweise. 25Die frühere Stadträtin für Familie, Gesundheit, Kultur und Bildung im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, Monika Herrmann (Bündnis’90/Die Grünen), berichtete mir zudem, dass einige Zeit vor unserem Interviewtermin im Frühjahr 2013 auf Senatsebene diskutiert worden sei, das Sprachlerntagebuch als Ganzes den Schulen zur Verfügung zu stellen. Dies scheiterte allerdings an datenschutzrechtlichen Bedenken, da insbesondere der erste Teil, der von den Eltern auf freiwilliger Basis ausgefüllt wird, persönliche Informationen zum Kind und seiner Familie enthält. Monika Herrmann kritisierte die geplante Weitergabe des Sprachlerntagebuchs, da dieses für sich gesehen keine weitergehende Erkenntnis über den Sprachstand der jeweiligen Schulanfänger*innen biete. Stattdessen sprach sie sich für Entwicklungsgespräche aus, die die Erzieher*innen, die Eltern und die zukünftige Lehrkraft gemeinsam führen sollten (vgl. Interview 3-2013).
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Aus diesem Grund dachten die drei nun genau darüber nach, wie deutlich sie die sprachlichen Schwierigkeiten Nurcans benennen sollten, ohne dass ihr dabei zugleich ein „besonderer Sprachförderbedarf“ zugesprochen würde. An jeder einzelnen Frage überlegten sie, welche Antwort sie geben und welchen Spielraum sie eventuell ausnutzen konnten. Da im Bereich „Sprachhandeln“ sich eine der ersten Fragen nicht auf „fehlerfreies“, sondern auf „flüssiges Sprechen“ bezieht, konnten die drei hier die Punktzahl zu Gunsten Nurcans erhöhen. Denn obwohl Nurcan viele sprachliche und grammatikalische Fehler machte, sprach sie doch flüssig – und genau das kreuzten die drei an. Auch sprach sie deutlich und nahm gerne an Gesprächen teil. Bei der Frage nach Mimik und Gestik waren die drei sich einig. Julia Weiß meinte lachend: „Theatralik, Drama!“, und Sonja Maier wiederholte bestätigend: „Drama!“ (Feldtagebuch, 02.05.2011). Danach wurde es schwieriger für die Erzieherinnen, die Lerndokumentation zugunsten Nurcans auszufüllen: Sie fragte meist nicht nach, wenn ihr etwas unklar war, missverstand Aufträge an sie teilweise und zeigte nur wenig Interesse an Bilderbüchern und Geschichten. Trotzdem kamen die drei nach einigem Hin und Her schlussendlich auf die von ihnen gewünschte Punktzahl, durch die Nurcan kein besonderer Sprachförderbedarf zugesprochen wurde (vgl. Feldtagebuch, 02.05.2011). In dieser Situation zeigten sich vielfältige, komplexe und widersprüchliche Adressierungen, Anrufungen und Zuschreibungen, mit denen die Erzieherinnen das Kind Nurcan be- und damit zugleich auch nichtintendiert festschrieben. Es wurde deutlich, dass die Erzieherinnen sehr bewusst und in kritisch-reflektierender Weise auf die Anforderung reagierten, den Sprachstand eines vier- oder fünfjährigen Kindes zu erheben, diesen damit eventuell zum Gegenstand außerinstitutioneller „Sprachförderung“ zu machen und so zugleich die Bildungskarriere des Kindes durch die Diagnose „Förderbedarf“ vorzustrukturieren. Indem die drei Erzieherinnen also gemeinsam überlegten, wie sie die vorgegebenen Fragen in der Sprachstandsfeststellung – aus ihrer Sicht – im Sinne Nurcans beantworten und teilweise umdeuten konnten, unternahmen sie aktiv den Versuch, institutionelle Diskriminierungsmechanismen – die Zuweisung zu einem Klassenzug, „wo dann überhaupt nix mehr passiert“ (s. o.) – zu umgehen. Genauso war offensichtlich das gemeinsam geteilte Ziel, im verbleibenden K ita-Jahr Nurcan weiter im Deutschsprechen zu ermutigen und ihr positive Erfolgserlebnisse ihre Ausdrucksfähigkeiten und ihr Sinnverstehen betreffend zu vermitteln. Die Erzieherinnen setzten hier in einer „‚anti-linguizistischen‘ Betrachtungsund Argumentationsweise[ ]“ (Springsits 2015: 96) an den „Sprachdefiziten“ eines Kindes an, ohne dass sie dabei die monolinguale Grundausrichtung der
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inrichtung in Frage hätten stellen müssen (vgl. ebd.: 104).26 Zugleich wurden E die Versuche Nurcans, sich nonverbal auszudrücken, als theatralisch und dramatisch abgewertet. Auch in anderen Situationen in der Einrichtung war eine nonverbale Kommunikation bereits ein Thema gewesen: Einige Zeit zuvor hatte ich gehört, wie Nadine Blessing das Verhalten eines anderen Mädchens türkischer Erstsprache, Dana, als „arabesk“ bezeichnet hatte. Die zweieinhalbjährige Dana, die während meiner Feldforschung noch nicht aktiv sprach, hatte sich dabei gegen allzu heftige Liebesbezeugungen – Bisse – eines anderen Kindes, Tomke, zur Wehr gesetzt, indem sie beide Arme hochnahm, sie sich vor das Gesicht hielt, sich halb zur Seite drehte, weg von Tomke, und dann anfing, laut zu schreien. Nadine Blessing kommentierte die Auseinandersetzung der beiden u. a. damit, dass sie an Dana gewandt erklärte: „Das ist jetzt aber sehr arabesk, was du da machst, die Arme in die Luft werfen und brüllen.“ (vgl. Feldtagebuch, 02.03.2011). In dieser Situation konnte das Adjektiv „arabesk“ nicht mit dem Geschehenen verknüpfen. Spielte sie auf den Kunststil Arabeske und damit etwas Verspieltes oder Verschnörkeltes an? Ich notierte ihre Erklärung zwar in meinem Feldtagebuch, sprach ihr zunächst aber keine große Bedeutung zu. Erst einige Wochen später verstand ich durch Zufall, was Nadine Blessing unter „arabesk“ verstand. Als wir eines Nachmittags im Garten der Kita kleinere Streitigkeiten unter Kindern wahrnahmen, erklärte sie mir – den Streit kommentierend –, der „Orient“ sei aus ihrer Sicht „ein bisschen arabesk“. Auf meine Nachfrage führte sie aus, die „türkischen“ Eltern lebten ihren Kindern vor, das Leben als ein großes Drama zu begreifen, ähnlich wie im Musikstil Arabeske. Wer nicht so sei, gelte als kalt, daher verstärke sich ein solches Verhalten und werde sogar richtiggehend gepflegt. Zur Verdeutlichung meinte sie, ich solle mir doch nur einmal Dana ansehen, dann wüsste ich sicher gleich, was sie meine (vgl. Feldtagebuch, 20.04.2011).
26Wie
die Erzieherinnen wohl gehandelt hätten, wenn in Berlin weiterhin das Konzept der individuell festzustellenden „Schulreife“ bzw. „Schulfähigkeit“ und kein Stichtag zur Einschulung (Senatsverwaltung 2004, § 42, Absatz 1) gelten würde? Durchaus vorstellbar wäre aus meiner Sicht, dass sie von einer Zurückstellung Gebrauch gemacht hätten, mit dem Ziel, Nurcan noch ein zusätzliches weiteres Jahr in der Kita fördern zu können. Mechtild Gomolla und Frank-Olaf Radtke haben in diesem Zusammenhang herausgearbeitet, dass Schulleitungen in Nordrhein-Westphalen die tendenziell spätere Einschulung von mehrsprachigen Kindern häufig über die Verknüpfung von mangelnden Deutschkenntnissen und allgemeinen Entwicklungsverzögerungen begründen, auch wenn sich dort die „Schulfähigkeit“ eines Kindes ausschließlich über den körperlichen Entwicklungsstand und nicht über dessen Sprachkenntnisse des Deutschen definiert (vgl. Gomolla/Radtke 2009: 171–182).
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Die Charakterisierung Danas als „arabesk“ fiel hier möglicherweise mit der Zuschreibung an Nurcan zusammen, deren mimisches und gestisches Handeln sei „theatralisch“ und „dramatisch“. Sollte diese Interpretation zutreffend sein, so stellte beides eine Form der Kulturalisierung von Verhalten dar, durch die die jeweiligen Handlungen nicht individuell oder situationsabhängig, bspw. durch fehlende deutschsprachliche Ausdrucksmöglichkeiten erklärt, sondern die wahrgenommene Differenzen als ein generelles kulturell(-religiöses) Gruppenmerkmal der ‚türkischen‘ Kinder pauschalisiert würden (vgl. Riegel 2016: 112 f.). Bei der Sprachstandsfeststellung Nurcans wiederum zeigten sich auch weitere Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen: Denn neben dem ausgeprägten Bewusstsein der Erzieherinnen dafür, institutionelle Diskriminierungsroutinen bei der Sprachstandsfeststellung zu unterbrechen oder von vornherein zu vermeiden, wurde das Verhalten Nurcans hier (zumindest) auf sprachlicher Ebene geandert.
4.4.4 Sprachbildung im Kita-Alltag Sonja Maier hatte bei der Sprachstandserhebung Nurcans davon gesprochen, in der Primel-Kita werde im Kita-Alltag Sprachförderung bzw. -bildung betrieben, auch wenn es sich um keine speziell an die Kinder mit ‚Sprachdefiziten‘ gerichtete Sprachförderung handele. Sprachbildung wurde demgemäß in der Primel-Kita in verschiedenen Alltagssituationen praktiziert, ohne dass sie dabei bestimmte Kinder adressierte und andere davon unberührt blieben. Auch in diesen an alle Kinder gerichteten Sprachbildungssituationen wurden Widersprüche und Ambivalenzen des pädagogischen Handelns spürbar, was ich im Folgenden an drei Situationen im „Morgenkreis“27 verdeutlichen möchte: einer Vorstellungsrunde, einer Runde, in der die Kinder in verschiedenen Sprachen zählten und beim gemeinsamen Singen von Kinderliedern. Vorstellungsrunde im Morgenkreis Zu Beginn meiner Forschung, an meinem neunten Tag in der Einrichtung, fand eine Vorstellungsrunde im Morgenkreis statt. Vordergründig diente der Morgenkreis meiner Einführung in die Kita-Gruppe. Allerdings kannten mich die Kinder bereits, genauso wie ich die Kinder. Ich gehe daher davon aus, dass die
27Der
Morgenkreis selbst war ein festes Ritual in der Kita und fand üblicherweise einmal in der Woche an einem festen Wochentag statt. Hier leiteten die Erzieher*innen immer wieder Aktivitäten an, in denen auf Sprache bzw. Mehrsprachigkeit Bezug genommen wurde.
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orstellungsrunde unausgesprochen auch einer anderen pädagogischen ZielV setzung folgte: der Thematisierung der in den Familien gesprochenen Sprachen. Die Kinder sollten sagen, wie sie heißen, wie alt sie sind und welche Sprachen sie sprechen, wobei die Erzieherinnen für die Kinder antworteten, die selbst (noch) nicht aktiv sprachen (vgl. Feldtagebuch, 17.02.2011). In der Vorstellungsrunde wurde die Fähigkeit, andere Sprachen als das Deutsche zu sprechen, besonders herausgestellt. Mehrsprachigkeit war im Rahmen des Morgenkreises anerkannt, wobei der Rahmen der Vorstellungsrunde insgesamt einen wertschätzenden Charakter besaß. Trotzdem verweigerte die fünfjährige Luisa, die mit ihren Eltern auf Deutsch und Italienisch kommunizierte, zunächst eine Antwort auf die Frage nach ihrem Namen. In diesem Zusammenhang weist die Erziehungswissenschaftlerin Melanie Kuhn auf den gesteigerten Handlungsdruck hin, vor den sich pädagogische Fachkräfte gestellt sehen, wenn sich in Kreisritualen Kinder Situationen zu entziehen suchen und so etablierte Handlungsnormen in Frage stellen (vgl. Kuhn 2013: 268 f.; Magyar-Haas/Kuhn 2011: 28 f.).28 Die Erzieherin Sonja Maier löste diesen Handlungsdruck auf, indem Luisa nicht sofort und nicht als Erste eine Antwort geben musste – stattdessen begann der Morgenkreis in umgekehrter Richtung. Gemäß dem Anspruch, Mehrsprachigkeit im Morgenkreis sichtbar zu machen, lag der Fokus in erster Linie auf den Anderen Sprachen (vgl. Unterkapitel 3.1), den Sprachen, die nicht die implizite Norm der Kommunikationssprache Deutsch darstellten. Die beiden vier- und fünfjährigen Jungen Cem und Enes, die beide altersentsprechend Deutsch sprachen, nannten demzufolge Türkisch bzw. Türkisch und Albanisch als die Sprache(n), auf der/denen sie zuhause kommunizierten – Deutsch jedoch nicht. Erst später, als ich mit den Müttern der beiden Jungen sprach, wurde mir klar, dass Cem lediglich mit seinen Großeltern Türkisch sprach, ansonsten aber in seiner Familie überwiegend Deutsch (vgl. Interview 16-2011) und dass Enes so gut wie nie Albanisch mit seinem Vater
28Die
„Besonderheit des Kreises als einer Sitzformation“ (Kuhn 2013: 267) besteht darin, dass sich in Kreisritualen alle beteiligten Akteur*innen gegenseitig sehen und nur schwer körperlich der Kreissituation entziehen können (vgl. Magyar-Haas/Kuhn 2011: 27 f.; Hemmerling 2007: 161 f.). Im Unterschied zu einem Panoptikum (vgl. Foucault 2013: insbesondere 256–269) gibt es im Kreis keine herausgehobene Beobachter*innenposition; vielmehr sind alle Beteiligten potenzielle Beobachter*innen (vgl. Magyar-Haas/Kuhn 2011: 28). Im Gegensatz zur schulischen Disziplinierung, für die Michel Foucault zufolge ein „definiertes und geregeltes Überwachungsverhältnis“ (Foucault 2013: 228) konstitutiv ist, erfolgt die ‚Überwachung‘ in Kreisformationen wesentlich subtiler als im (schulischen) Frontalunterricht (vgl. Magyar-Haas/Kuhn 2011: 29).
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und nur unregelmäßig Türkisch mit seiner Mutter sprach, weswegen sein Türkisch zum Teil fehlerhaft sei und er einen ausgeprägten deutschen Akzent im Türkischen aufweise (vgl. Feldtagebuch, 24.03.2011; Interview 12-2011). Bezüglich der Vorstellungsrunde schienen beide Jungen jedoch antizipiert zu haben, was dort von ihnen erwartet wurde: die (ausschließliche) Nennung einer anderen als der deutschen Sprache. Den vierjährigen Jungen Yves, der ebenfalls Türkisch als von ihm gesprochene Sprache genannt hatte, korrigierte dagegen die Erzieherin Sonja Maier und sprach ihm somit seine Türkischkenntnisse ab. Yvesʼ Mutter erzählte mir später im Interview, ihr Sohn habe bis zu seinem dritten Lebensjahr eine türkische Tagesmutter gehabt und seine ersten gesprochenen Worte seien daher auf Türkisch gewesen. Seine Tagesmutter nannte er durchgehend „anne“ (Mama) und auch in seiner ‚biologischen‘ Familie bezeichnete er viele Dinge auf Türkisch (vgl. Interview 15-2011). Aus dieser Erinnerung oder auch aus dem für ihn weiterhin präsenten Gefühl heraus, dass Türkisch für ihn eine wichtige und ihm sehr wohl geläufige Sprache darstellte, nannte Yves im Morgenkreis neben Deutsch auch Türkisch. Die Erzieherinnen werteten jedoch Yves’ nicht herkunftssprachliche Türkischkenntnisse als irrelevant ab. Wer also in der Kita als mehrsprachig galt, ‚wussten‘ sowohl die Erzieherinnen als auch die Kinder – oder sollten es zumindest wissen. Im Morgenkreis wurde die Fähigkeit der Kinder, eine Andere Sprache zu können, offensichtlich in direkter Weise an die Sprachkenntnisse der Eltern bzw. der ‚biologisch‘ markierten Kernfamilie geknüpft. Diese Prämisse galt jedoch nicht für die Erwachsenen. Sonja Maiers Türkischkenntnisse, die sie als Erwachsene erworben hatte, waren daher für alle Beteiligten eine akzeptable Antwort. Dass ich jedoch zusätzlich zu Türkisch, das ich damals gerade lernte, auch Englisch und Französisch nannte – Sprachen die ich in meiner Jugend im Schulkontext erlernt hatte – widersprach dagegen den impliziten Normen des Morgenkreises und führte zu Irritation. Einige Kinder waren verwundert über die Nennung so vieler Sprachen und Sonja Maier löste die Situation ohne weitere Erklärung auf, indem sie sehr schnell das nächste Kind aufforderte, die eigenen Sprachkenntnisse zu benennen.29 Türkisch, das in einem konkreten Nutzen für die pädagogische Arbeit mit den Kindern stand, war somit eine akzeptierte ‚Erwachsenensprache‘, die Nennung anderer, für die Arbeit in der Kita weniger ‚wertvolle‘ und damit auch weniger
29Auch
erklärten die Erzieher*innen nicht, dass es sich bei Englisch und Französisch um verbreitete Schulfremdsprachen handelt.
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„interkulturell bereichernde“ Sprachkenntnisse, dagegen nicht. Im Morgenkreis wurde zudem die Möglichkeit der Kinder, ihre eigene Sprachsituation selbstständig zu repräsentieren, stark eingeschränkt.30 Vor diesem Hintergrund kann das Verhalten Luisas gelesen werden, die zunächst ihre Antwort verweigerte. Ihre nonverbalen Äußerungen, die sich v. a. mimisch und gestisch ausdrückten, indem sie den Kopf schüttelte und das Gesicht verzog, können als Hinweis gelten, dass sie sich in der Situation unwohl fühlte (vgl. Kuhn 2013: 227). Differenz im Kita-Alltag aus didaktischen Motiven aufzugreifen und zu thematisieren ist jedoch unbestritten eine schwierige und komplexe Aufgabe. Melanie Kuhn zufolge könne dies „spätestens seit der vehement formulierten Kritik an der Interkulturellen Pädagogik als ein Gemeinplatz innerhalb migrationspädagogischer Debatten gelten“ (ebd.: 214). Da im Morgenkreis das damit verbundene „Dilemma der Differenz“ (Kiesel 1996) zwischen deren Thematisierung und De-Thematisierung einseitig in Richtung ihrer Thematisierung aufgelöst wurde, barg dies aus meiner Sicht die Gefahr von Otheringprozessen, bei denen gerade „diejenigen fokussiert und salient gemacht werden, die von der hegemonialen Norm abweichend konstruiert werden und der vorherrschenden Differenzordnung unterworfen sind.“ (Riegel 2016: 111). Zählen im Morgenkreis Eine explizite Anrufung der herkunftssprachlich mehrsprachigen Kinder als solche erfolgte dabei auch in anderen Kontexten. Situativ manifestierte sich diese Anrufung bei einem Morgenkreis als eine fremdbestimmte Thematisierung von Mehrsprachigkeit. Darüber kann auch die Tatsache nicht hinwegtäuschen, dass die an die Kinder gerichtete Aufgabe, alle Kinder im Raum zu zählen, auf Freiwilligkeit zu basieren und auf große Begeisterung zu stoßen schien. Julia Weiß führte in diesem Morgenkreis eine Aufgabe ein, die zunächst viele Kinder gerne übernommen hätten. Sie fragte, wer heute alle anwesenden Kinder zählen wolle. Die meisten der älteren sowie ein paar der etwas jüngeren Kinder schrien laut „Ich!“ und schauten zu Julia Weiß, ein paar verspätete „Ich“ mischten sich unter das erste langgezogene „Ich“. Julia Weiß meinte daraufhin, sie sei ja dafür, dass Elija anfange. Lili protestierte daraufhin: „Ich war auch schon richtig lang’ nicht mehr!“ Sophie sagte: „Ich auch nicht“ und Enes ergänzte: „Und ich auch nicht“, wobei er, so meine Wahrnehmung, all seine Enttäuschung in die Stimme legte.
30Eine
Ausnahme bestand in Bezug auf Thien, einen Jungen mit einer leichten Form von Autismus. Seine Weigerung, die Frage nach den Sprachkenntnissen zu beantworten, akzeptierten die Erzieher*innen, wobei an seiner statt Nadine Blessing antwortete.
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Julia Weiß bestimmte nunmehr, dass der vierjährige Elija anfangen solle, was dieser daraufhin widerspruchslos tat. In der darauffolgenden zweiten Runde fragte Julia Weiß ganz konkret Enes, ob er in einer anderen Sprache für alle Kinder zählen könne. Während mir Enes zu Anfang noch ganz begeistert von der Aufgabe erschienen war, verweigerte er nun die Antwort. Julia Weiß fragte daraufhin weiter: „Kannst du eine andere Sprache sprechen außer deutsch? Welche Sprache sprichst du denn? Kannst du denn vielleicht auf Albanisch alle Kinder zählen?“ Enes reagierte, indem er sich auf seinem Platz klein machte und leise verneinend sagte: „Mhm mhm“. Julia Weiß insistierte weiter: „Bitte, wie bitte?“ Enes sagte nun lauter und entschieden: „Nein!“ und schüttelte den Kopf. Pinja warf ein: „Bestimmt kann er das nicht“ und schaute – so meine Interpretation – triumphierend in die Runde. Nun mischte sich auch Sonja Maier ein und fragte Enes: „Kannst du noch eine Sprache?“ Enes erwiderte nochmals, diesmal etwas lauter, „Nein!“ und verschränkte die Arme vor der Brust, die Unterlippe schob er dabei vor. Julia Weiß sagte zu ihm: „Du kannst keine zweite Sprache?!“ und Sonja Maier unterbrach sie in entschiedenem Tonfall: „Doch, ich glaube schon. Du kannst doch Türkisch!“ Enes antwortete: „Ja, aber nicht ganz lange.“ Sonja Maier fragte zurück: „Wie? Nur ganz kurz?“ Enes schwieg daraufhin und schaute starr geradeaus. Nun bot Julia Weiß an, Enes könne zusammen mit Sonja Maier zählen und diese bestätigte, dass sie ihn unterstützen werde, falls er nicht weiterkomme. Dann begann sie selbst zu zählen: „Bir, iki, üç, dört, beş, altı,31 sekiz, dokus, on.“ Julia Weiß fragte daraufhin: „Sollen wir das zusammen machen? Nurcan?“ Enes wurde ab diesem Zeitpunkt nicht mehr länger adressiert, der Fokus richtete sich nunmehr auf Nurcan. Diese wollte jedoch offensichtlich ebenfalls nicht und sagte leise: „Mhm, mhm, aber//“, dabei schüttelte sie leicht den Kopf. Sonja Maier sagte nochmals: „Ich helf’ dir!“ und Julia Weiß bekräftigte: „Wir machen’s zusammen. Du mit Sonja.“ Nurcan begann zu zählen: „Eins“. Sonja Maier sagte laut: „Bir.“ Nurcan kicherte und hörte auch nicht auf zu kichern, als Sonja Maier weiter zählte, sie selbst sprach die Zahlen nicht mit. Sonja Maier zählte langsam weiter: „İki, üç“, dann hörte sie auf zu zählen, während Nurcan weiter ging und stumm auf Milla zeigte. Julia Weiß fragte wiederum nach: „Ich versteh’ nicht. Welche Nummer war Milla?“ Milla sagte nun selbst: „Üç“, Nurcan antwortete dagegen: „Weiß ich nicht mehr“. Sonja Maier stellte richtig: „Dört“. Nurcan führte diesmal selbstständig die Reihe fort: „Beş“ und Sonja Maier erwiderte:
31In
meinen Feldnotizen hatte ich mehrmals angemerkt, dass Sonja Maier die Zahl sieben – yedi – nicht genannt hatte (vgl. Feldtagebuch, 08.04.2011).
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„Weiter!“, woraufhin Nurcan noch einmal leise „Dört“ sagte und Sonja Maier erwiderte: „Beş! Enes ist altı!“. Julia Weiß wiederholte dies, nun sehr laut: „Altı ist Enes. Jetzt kommt Sophie.“. Sonja Maier zählte selbst weiter: „Sekiz. Sagst du das selber auch noch mal, dass du’s dann weißt?“32 Julia Weiß wiederholte: „Sekiz, dokuz, on, on bir, sagst du’s mal selber? On bir!“ Esma wiederholt: „On bir“. Bevor Sonja Maier den Morgenkreis auflöste, zählte sie selbst noch ein letztes Mal von elf bis sechzehn: „On iki, on üç, on dört, on beş, on altı.“ (Feldtagebuch, 08.04.2011). Nachdem der hier dargestellte Morgenkreis beendet worden war, hatte ich mich einfach nur erleichtert gefühlt, dass das schwerfällige, zähe Zählen von eins („bir“) bis sechzehn („on altı“) endlich vorbei war und die Gruppe sich anderen Dingen zuwenden konnte. Die auf mich unangenehm und wenig empathisch wirkenden Disziplinierungsmaßnahmen verkörperten aus der Perspektive der Erzieherinnen jedoch altersgemäße Ansprachen und Aufgaben für die einzelnen Kinder. Offenbar handelte es sich um eine Aktivität, die die Erzieherinnen als relevant für ihren Vermittlungsauftrag hinsichtlich der „Vorbereitung auf die Schule“ wahrnahmen. Auffallend war, dass gleich zwei Erzieherinnen im Morgenkreis intervenierten: Sonja Maier, die im Gegensatz zu ihrer Kollegin Türkischkenntnisse besaß, sprang dieser unterstützend zur Seite. Während für die Vorschulkinder das Zählen keine schwierige Angelegenheit darstellte und (fast) alle die Aufgabe gerne übernommen hätten, wählte Julia Weiß bewusst den vierjährigen Elija aus, für den das Zählen herausfordernder war. Die älteren Kinder wurden dagegen dazu angehalten, sich selbst zurückzunehmen. In der zweiten Runde bestimmte Julia Weiß den fünfeinhalbjährigen Enes, dem sie einen kindlichen Expertenstatus zuwies. Enes, der Türkisch und etwas Albanisch sprach, hatte dies in anderen Situationen schon (mehr oder weniger bereitwillig) auf die Aufforderung der Erzieherinnen hin demonstriert. An diesem Tag hatte er sich allerdings nur für das Zählen auf Deutsch freiwillig gemeldet, in einer anderen Sprache wollte er dies nicht tun. Die fünfjährige Nurcan dagegen protestierte nur kurz gegen Sonja Maiers Anweisung und fügte sich dann, ohne jedoch die Aufgabe zur Zufriedenheit der beiden Erzieherinnen zu erfüllen oder erfüllen zu können. Dabei hatten die Erzieherinnen Nurcan offensichtlich von vornherein als weniger kompetent hinsichtlich der eigenständigen Lösung der ihr aufgetragenen Aufgabenstellung
32Auch
hier fehlte, meiner Erinnerung nach, die Zahl sieben – yedi (vgl. Feldtagebuch, 08.04.2011).
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wahrgenommen und gleich die Unterstützung durch die Erzieherin Sonja Maier eingeplant, die selbst Türkischkenntnisse besaß. Sonja Maier sprach später davon, Nurcan und ihrer Familie fehle es an den entsprechenden Bildungsvoraussetzungen, weswegen Nurcan häufig Aufgabenstellungen nicht richtig verstehe (Interview 11-2011). Im Kontext des Zählens im Morgenkreis sahen es die Erzieherinnen daher als die kompensatorische Aufgabe der Institution Kita an, Nurcan das Zählen und zudem das Verstehen von Aufgaben zu vermitteln. Ob Nurcan die Aufgabenstellung in dieser Situation nicht verstanden hatte, kann ich jedoch nicht abschließend beurteilen. In jedem Fall wollte sie die Aufgabe, die Kinder zu zählen, nicht ausführen und fühlte sich in der Situation offensichtlich unwohl. Unabhängig der Absicht der Erzieher*innen, die Fähigkeiten der Kinder zu zählen, zu fördern, handelte es sich zeitgleich um ein alltägliches linguizistisches Othering: Die zwei- oder dreisprachigen Kinder wurden zu Expert*innen – und damit situativ hier auch zu Sprachvorbildern – erklärt, die – entgegen der mir gegenüber vertretenen Intention der Kita-Leiterin (vgl. Unterkapitel 4.1) – nun doch zu etwas ‚Besonderem‘ gemacht wurden, wobei sie über ihre Kenntnisse und Kompetenzen spezielle Aufmerksamkeit und Wertschätzung erfuhren. In diesem Otheringprozess fungierten die mehrsprachigen Kinder als ‚Bereicherung‘ für die monolingualen Kinder, besaßen dabei jedoch wiederum nicht die Möglichkeit, ihre eigene Sprachsituation selbstständig zu repräsentieren. Für Enes und Nurcan stellte sich die Zählsituation somit letztlich als ein vergebliches Voicing dar, das in einem Silencing endete.33 Singen im Morgenkreis Während, wie bislang aufgezeigt, in der Primel-Kita eine individualisierte „Sprachförderung“ dominierte und damit nicht intendiert besondernde Effekte
33Dabei
erfolgte die Anerkennung der Migrationssprachen nicht nur auf symbolischer Ebene – z. B. vermittels mehrsprachiger Willkommensgrüße an Schul- oder Kitawänden –, sondern wurde durchaus für ‚ernsthafte‘ und grundlegende vorschulische Angelegenheiten genutzt. In diesem Zusammenhang sensibilisiert İnci Dirim dafür, dass mittels „sprachliche[r] Differenzlinien und über das Differenzmerkmal Sprache gesellschaftliche Verhältnisse der Über- und Unterordnung (re-)produziert werden“ (Dirim 2016: 323). Ihr zufolge kann die „Anerkennung von Migrationssprachen zu einer symbolischen oder faktischen Ausgrenzung von ‚Migrationsanderen‘ führen“ (ebd.), wenn diese Anerkennung nur auf symbolischer Ebene gilt. Dadurch, dass Mehrsprachigkeit im Kontext der Kita aber für die „Vorbereitung auf die Schule“ relevant gemacht und daher in verschiedene diesbezügliche Aktivitäten eingebunden wurde, erfolgte hierbei aus meiner Sicht keine „unbeabsichtigte[ ] symbolische[ ] Inferiorisierung“ (ebd.).
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nach sich zog, wurde zum Teil auch eine allgemeine Sprachsensibilisierung realisiert, die alle Kinder einbezog und keinen besondernden – und damit potenziell Otheringprozesse begünstigenden – Charakter besaß. Im Morgenkreis leitete Sonja Maier immer wieder Lieder mit N onsens-Texten an. Indem die Kinder die Lieder mitsangen, wurden ihr Sprachgefühl und die Fähigkeit, etwas nachzusprechen, auf spielerische Art angeregt. Dabei richtete sich diese Förderung nicht speziell an die Kinder mit sogenannten Sprachdefiziten im Deutschen, sondern fand mit allen Kindern gemeinsam statt. Daneben wurde des Öfteren das Lied „Bruder Jakob“ auf Deutsch, Englisch, Französisch, Türkisch und „Yugoslawisch“, gemeint ist Serbokroatisch, gesungen. Die serbokroatische Version sang dabei Sonja Maier fast alleine, weder die anderen Erzieherinnen noch die Kinder kannten den Text vollständig. In der türkischen Version sangen dagegen nicht nur die türkischsprachigen Kinder mit, sondern viele der Kinder. Dass das Lied auf Türkisch und Englisch gesungen werde, liege daran, dass in der Gruppe einige Kinder diese Sprachen sprächen, so Sonja Maier. Serbokroatisch hatte dagegen einen anderen Hintergrund: „Yugoslawisch ist so ein bisschen mein Ding. In der Kita, in der ich zuvor gearbeitet habe, gab’s einige jugoslawische Kinder. Und das singen wir jetzt weiterhin, auch wenn das passende Kind fehlt.“ (Feldtagebuch, 16.02.2011). Sonja Maier hatte also offenbar ein pädagogisches Konzept für sich gefunden, das für sie Vielfalt und Interkulturalität versprach und das sie unabhängig von der jeweiligen Gruppenzusammensetzung umsetzte. Sprachbildung zwischen Othering und Sprachsensibilisierung Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Mehrsprachigkeit als von den Erzieherinnen angeleitete Praxis immer wieder eine Rolle im K ita-Alltag spielte. Dabei war die Thematisierung von Mehrsprachigkeit zum Teil mit Otheringprozessen verknüpft. Institutionelle Sprachbildung und -sensibilisierung erfolgte parallel dazu aber auch auf eine unspektakuläre, alle Kinder einbeziehende Art und Weise und changierte so zwischen Praktiken des Silencing und des Voicing (vgl. Thomauske 2017b: 241). Aus einer diskriminierungskritischen Perspektive heraus kann die institutionelle „Sprachförderung“ als überaus ambivalent und von Widersprüchen geprägt bezeichnet werden. In Bezug auf die Vielfältigkeit von Ausdrucksmöglichkeiten, die den bi- und plurilingualen Kindern die Kenntnis von mehreren Sprachen ermöglichte, überwogen dabei jedoch Praktiken, durch die diese Kinder in ihrer Sprachentwicklung gesilenced wurden. Auf diese Weise wurden ihnen Möglichkeits- und Handlungsspielräume genommen, anstatt sie in ihrem Voicing zu unterstützen.
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Eine durchgängige Sprachbildung für alle Kinder könnte dabei eine Möglichkeit darstellen – stärker als zum Zeitpunkt meiner Forschung – sowohl den Bedürfnissen der deutschkompetenten Kinder als auch denen der Kinder, deren Eltern „die deutsche Sprache da nicht so reinbringen“ können, wie es Sonja Maier ausdrückte, gerecht zu werden. Somit wäre es die Aufgabe der pädagogischen Fachkräfte, mit der „sprachlichen Diversität um[zu] gehen und sie als frühkindliche Lern- und Entwicklungschance in der Kindergartenpädagogik [zu] nutzen“ (Roux/Stuck 2005: 92). Dabei unternahmen die Erzieherinnen durchaus den Versuch, die Mehrsprachigkeit im Kita-Alltag zu verankern. Würden dabei andere Sprachen als das Deutsche als gleichwertige Sprachpraktiken angesehen, könnte „die Förderung von Zweisprachigkeit unter bestimmten Bedingungen, die pädagogisch herzustellen sind, nicht nur hoch relevant für die Entwicklung der Kompetenz in beiden Sprachen [sein], sondern positive Wirkungen auf alle Lernprozesse“ (Mecheril/Quehl 2006b: 355) haben. In der Konsequenz würde die monolingualistische Normsetzung in Frage gestellt werden, durch die Kinder früh erfahren, dass ihre „durch die Familie mitgebrachten Sprache(n) […] hier zu Lande vielfach geringgeschätzt werden, dass ihrem öffentlichen Gebrauch mit Abwehr begegnet wird“ (Gogolin 2001: 4). Die Erzieher*innen müssten dann allerdings bereit sein, Andere Sprachen noch stärker als bisher in ihrem pädagogischen Alltag zu akzeptieren oder sogar darin zu integrieren. Zugleich müssten sie beständig die Gefahr des potenziellen linguizistischen Othering von Kindern mit reflektieren und dieses zu vermeiden versuchen. Es steht außer Frage, dass dies unter den gegebenen Rahmenbedingungen der Erzieher*innenarbeit eine immense Herausforderung darstellt, die nur realisiert werden kann, wenn auf politischer Ebene strukturelle Verbesserungen geschaffen werden und grundlegend an Aus- und Fortbildung von Erzieher*innen angesetzt wird. Exkurs: Schulische Zuordnung zur Kategorie „nichtdeutsche Herkunftssprache“ Während die Kita-Leiterin der Primel-Kita die Kategorie „nichtdeutsche Herkunftssprache“ frei interpretieren und nach ihren Vorstellungen definieren konnte, ist die Kategorie „ndH“ für den Schulbereich zumindest ansatzweise seitens des Berliner Senats definiert und ausgestaltet. Dies wird insbesondere im Kontext der Anmeldung von Kindern an Grundschulen relevant, wenn Schulleitungen bzw. Mitarbeiter*innen in den Schulsekretariaten Zuordnungen zur Differenzmarkierung „ndH“ vornehmen.34
34Der
folgende Abschnitt findet sich auch in Dean 2018b.
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Die Journalistin Katharina Ludwig zitierte im Jahr 2014 in einem Artikel im Tagesspiegel die Sprecherin der Berliner Senatsverwaltung, Beate Stoffers, die davon ausgehe, die Definition der Kategorie „nichtdeutsche Herkunftssprache“ („ndH“) sei „ganz deutlich“: Die Kommunikationssprache in der Familie (als das entscheidende Kriterium der Zuordnung zur „deutschen“ oder „nichtdeutsche Herkunftssprache“) sei diejenige Sprache, die in einer plurilingualen Familie am häufigsten gesprochen werde. Bei der Erhebung solle der Einschätzung der Eltern vertraut werden, denn schlussendlich sei das Ziel der Erfassung nach Herkunftssprache „lediglich […] festzustellen, ob ein Kind dem deutschsprachigen Unterricht folgen könne“ (Ludwig 2014b). Ganz so eindeutig bestimmt und definiert, wie von der Senatsverwaltung behauptet, ist die Kategorisierung „ndH“ allerdings nicht. Im seit dem Jahr 2004 geltenden Schulgesetz ist der Begriff vielmehr gar nicht definiert;35 hingewiesen wird stattdessen im § 15 Absatz 4 darauf, dass „[d]ie für das Schulwesen zuständige Senatsverwaltung […] ermächtigt [wird], das Nähere zu den Voraussetzungen und zur Ausgestaltung des Unterrichts für Schülerinnen und Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache durch Rechtsverordnung zu regeln“ (Senatsverwaltung 2004), worunter auch „die Grundlagen und Verfahren zur Feststellung der Kenntnisse in der deutschen Sprache“ (ebd.) gehören. Damit liegt die Definition und Ausgestaltung des Begriffs „ndH“ in den Händen der jeweiligen Senatsbildungsverwaltung. Diese ist zwar an den Begriff „ndH“ gebunden, darüber hinaus aber dazu befugt, nach eigenem Ermessen und abhängig von sich wandelnden (politischen) Gegebenheiten den Begriff auszulegen (vgl. Vasilyeva 2013: 17). Erst auf untergesetzlicher Ebene findet sich in den Schulstufenverordnungen für den Grundschulbereich sowie für die Sekundarstufe eine (völlig wortgleiche) Begriffsbestimmung: „Schülerinnen und Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache sind ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit Kinder, deren Kommunikationssprache innerhalb der Familie nicht Deutsch ist.“ (vgl. Senatsverwaltung 2005c: § 17 Absatz 1, und 2010: § 17 Absatz 1). Was jedoch unter der Kommunikationssprache zu verstehen ist, inwiefern sie die alleinige, dominierende bzw. überwiegende oder auch nur eine von zweien oder mehreren ungefähr gleichwertigen Kommunikationssprachen innerhalb einer Familie ist, geht aus dieser Definition nicht hervor. Ebenso bleibt die Frage unbeantwortet,
35Auch
im zuvor gültigen Schulgesetz alter Fassung war in der ab dem 16. April 1996 geltenden Änderung des Schulgesetzes der neu aufgenommene Begriff „nichtdeutsche Herkunftssprache“ nicht näher definiert (vgl. Gogolin/Neumann/Reuter 1998: 674).
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ob oder inwiefern sich Kommunikations- und Herkunftssprache unterscheiden und welchen Einfluss die „nichtdeutsche Herkunftssprache“ möglicherweise auf die Deutschkenntnisse eines Kindes hat (vgl. Vasilyeva 2013: 18–23). Der quantitative und qualitative Umfang dessen, was als Kommunikationssprache gilt, geht also auch aus den Schulstufenverordnungen nicht hervor, lediglich einzelne Formulare der Senatsbildungsverwaltung legen nahe, dass es sich bei der „nichtdeutschen Herkunftssprache“ um die „überwiegend“ in einer Familie gesprochene Sprache handelt (vgl. Senatsverwaltung o. J.f, o. J.g). Anders als bei der Befreiung von der Zahlung des Eigenanteils an Lernmitteln, die mit der Zahlung von Transferleistungen an Familien korreliert, sind die Kriterien, nach denen Schüler*innen „nichtdeutscher Herkunftssprache“ seitens der Schulen erfasst werden, faktisch nicht eindeutig geregelt. In der Praxis ist dies zu einem guten Teil den Schulen überlassen und wird von ihnen uneinheitlich angewandt und umgesetzt. In der Konsequenz „bleibt […] unklar, ob es sich bei dieser Angabe um eine Selbstbeschreibung der Eltern handelt, ob diese Zuordnung von den Sekretär_innen bei der Anmeldung vorgenommen wird oder welche anderen Praktiken angewandt werden“ (Karakayalı/zur Nieden 2013: 68). Auch Ludwig kritisiert in oben genanntem Medienartikel diese uneinheitliche Erhebungspraxis: „Was ndH genau heißt und wie es erhoben wird, dafür gibt es in Berlin keine einheitlichen Standards.“ (Ludwig 2014b). Zuordnungspraktiken zur Kategorie „nichtdeutsche Herkunftssprache“ Die beiden Schulleitungen, mit denen ich Interviews führte, verwiesen mich bezüglich der Klassifizierung von Kindern als „deutscher“ respektive „nichtdeutscher Herkunftssprache“ an ihre „Sekretärinnen“, die selbst die Zuordnungen vornahmen. Da ich nach den Interviews, die jeweils nachmittags stattfanden, niemanden mehr in den Sekretariaten antraf, sprach ich nicht gleich mit den dortigen Mitarbeiter*innen, sondern notierte mir die noch ausstehenden Gespräche in meinen Interviewprotokollen. Letztlich traten aber die Anregungen der beiden Schulleiterinnen bei mir zunächst in den Hintergrund. Erst in der Auswertungsphase kam ich wieder darauf zurück und führte nun kurze Telefoninterviews mit zwei Sekretariats-Mitarbeiterinnen in zufällig ausgewählten Schulen. Die beiden Sekretariats-Mitarbeiterinnen, mit denen ich sprach, sahen sich durch mich plötzlich einer Art Rechtfertigungsdruck ihrer eigenen Erhebungspraxis ausgesetzt. Bei beiden traf meine Frage nach der Zuordnungspraxis zunächst auf Unverständnis. Für sie schien ganz offensichtlich zu sein, wen sie nach welchen Kriterien als „ndH“ klassifizierten. Der Anstoß dazu, sich mit der Zuordnung zu „ndH“ zu beschäftigen, kam somit von außen, also von mir als
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Forscherin, die die Sekretariats-Mitarbeiter*innen zu ihren eigenen Handlungsweisen und Überzeugungen befragte. Analog zur uneinheitlichen Erhebungspraxis bekam ich, abhängig davon, wen ich bezüglich der Zuordnung befragte, sehr unterschiedliche Einschätzungen und Erzählungen zu hören. Auch wenn sich bei den einzelnen Personen die Definition von „ndH“ und die Erhebungspraxis deutlich unterschieden, wurde ersichtlich, wie sich dabei insbesondere rassialisierende und ökonomisierende sowie darüber hinaus auch vergeschlechtlichende Logiken und Anrufungen intersektional überlagern. Im Folgenden greife ich auf Gespräche mit Mitarbeiter*innen in den Schulsekretariaten sowie mit Personen aus der Antidiskriminierungsberatung zurück und beziehe mich darüber hinaus auch auf oben genannten Zeitungsbericht (vgl. Ludwig 2014b), um zu verdeutlichen, wie bei der „ndH“-Zuordnungspraxis verschiedene Diskursstränge und damit sehr unterschiedliche Deutungen und Interpretationen zusammentreffen. Im Gegensatz zur weitgehend unhinterfragten Zuordnungspraxis der Schul sekretariatsMitarbeiter*innen hatte die Leiterin der Primel-Kita ganz bewusst ihre eigene Definition von „ndH“ angelegt: Für sie waren Kinder „nichtdeutscher Herkunftssprache“, wenn sie in ihren Familien auch eine andere Sprache als Deutsch sprachen (vgl. Unterkapitel 4.1). Dadurch war es ihr möglich, den „ndH“-Anteil an ihrer Kita offiziell hoch anzusetzen, um zusätzliche finanzielle Mittel für Sprachförderung (des Deutschen) zu erhalten und zur selben Zeit tendenziell soziostrukturell privilegierte Eltern aufzunehmen. Bei den Sekretariats-Mitarbeiter*innen dagegen blieb ein – in seinen Effekten ambivalentes – ‚Spielen‘ mit genannter Kategorisierung aus.36 An beiden Schulen – von denen die eine einen ungefähren Anteil an Kindern „nichtdeutscher Herkunftssprache“ von 80 Prozent aufwies, die andere von 55 Prozent – verneinten es die Sekretariats-Mitarbeiter*innen, das „Sprachlerntagebuch“ (Fischer u. a. 2006a; Gaudszun u. a. 2016) zu nutzen, um auf dieser Basis Rückschlüsse auf die Deutsch-Sprachkompetenzen zu erhalten. Diese Aussagen lassen sich damit erklären, dass die Schulen rechtlich gesehen das Sprachlerntagebuch nur unter Zustimmung der Eltern von den Kitas anfordern können und damit zumindest ‚offiziell‘ nur eingeschränkt Zugriff darauf haben (vgl. Unterkapitel 4.4.3). Die Journalistin Katharina Ludwig
36Zu
erfassen, inwieweit die eindeutige und unhinterfragte Zuordnungspraxis der beiden von mir befragten Sekretariats-Mitarbeiter*innen auch von anderen an den Zuordnungen beteiligten Akteur*innen geteilt wird und welche Gründe hierfür gegebenenfalls ausschlaggebend sind, bleibt Aufgabe weiterer Studien in diesem Feld.
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berichtet in ihrem Artikel im Tagesspiegel dagegen, in Berlin sei es eine weit verbreitete Praxis, dass „die Mitarbeiter in den Sekretariaten auf Grundlage von Elterngesprächen oder entsprechend der Lerntagebücher aus der Kita die Sprachkenntnisse der Schüler“ zuordnen (vgl. Ludwig 2014b). Laut den beiden Sekretariats-Mitarbeiter*innen kommt stattdessen grundsätzlich ein Fragebogen hinsichtlich der Notwendigkeit einer ergänzenden Betreuung zum Einsatz (vgl. Senatsverwaltung o. J.f), wobei beide Mitarbeiter*innen die Angaben der Eltern in „Zweifelsfällen“ auch wieder korrigierten. Zweifel ergäben sich, wenn Eltern(-teile) bei der Anmeldung fehlerhaftes Deutsch sprächen oder mit ihren Kindern in einer anderen Sprache als dem Deutschen kommunizierten. Auch Katharina Ludwig berichtet von solchen schulischen Disziplinierungspraktiken gegenüber Eltern am Beispiel einer Einrichtung in Charlottenburg mit einem „ndH“-Anteil von gut 70 Prozent. An dieser Schule befürchteten die Eltern Nachteile, wenn sie „ndH“ auf einem Schulformular nannten, weswegen hier die Schule ‚falsche‘ Angaben korrigiert habe (vgl. Ludwig 2014b). Intersektional verwobene Logiken und Anrufungen Die Anwältin Maryam Haschemi Yekani berichtete in diesem Zusammenhang von Diskriminierungsfällen, in denen sich Mütter an sie wandten. Obwohl sie bei der Einschulung versichert hätten, zuhause Deutsch zu sprechen, sei „über die eigene Aussage hinweg fremd entschieden“ worden: „Und das ist nicht klar, auf welcher Basis passiert das, ja? Also:,Wer hat hier eigentlich die Entscheidungshoheit darüber zu sagen, welche Sprache wird zu Hause als erste, prägende Sprache gesprochen, ja?“ (Interview 6-2013). Da, wie oben erwähnt, die Kommunikationssprache in der Familie als die vorrangige und prägende Sprache konzipiert ist, würden insbesondere Kinder als „ndH“ klassifiziert, bei denen zuhause die Mutter eine andere Sprache als Deutsch spreche, so Maryam Haschemi Yekani. Im Gegenzug gelte daher auch: „Und es ist eben oft so, dass bei Elternhäusern, wo insbesondere die Mutter als […] Erstsprachlerin Deutsch gilt, ja? […] dann hat’s [das Kind] ja die Markierung ‚ndH‘ nicht.“ (Interview 6-2013). Würden demgegenüber Väter in einer anderen Sprache als dem Deutschen mit ihren Kindern kommunizieren, werde dies häufig für die „ndH“-Klassifikation als weniger aussagekräftig interpretiert. In Maryam Haschemi Yekanis Aussagen klingt eine Kritik an der hierbei getroffenen Unterstellung an, dass die Kommunikation mit der Mutter prinzipiell prägender sei als die mit einer männlichen Bezugsperson. In einer solchen Konzeptionalisierung wird das männliche Ernährermodell als implizite Norm gesetzt, wodurch Erziehungs- und Carearbeiten (vgl. Winker 2011, 2015a, b) als
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weiblich, die Ernährung – im Sinne der Versorgung – der Familie als männlich gedacht werden. Darüber hinaus zeigt sich hierin auch, dass die imaginierte Norm ein heterosexistisches Familienmodell ist; lesbische, schwule, queere und transEltern ebenso wie (andere) Formen des Co-Parenting kommen darin nicht vor. Neben der Person, mit der das Kind in einer anderen Sprache als dem Deutschen kommuniziere, sei laut Maryam Haschemi Yekani auch die gesprochene Sprache selbst entscheidend für eine eventuelle Zuordnung zu „ndH“: Und kann man nicht auch sagen, dass irgendwie viele Familien, selbst wenn sie die erste prägende Sprache Türkisch haben, nicht trotzdem ihren Kindern ein astreines Deutsch beibringen können, ja? Also sozusagen, das eine hat ja auch mit dem anderen nichts zu tun, es gibt ja bilinguale Familien, in denen Kinder beide Sprachen sehr gut beherrschen, ohne dass da ein Defizit festzustellen wäre. (Interview 6-2013)
Maryam Haschemi Yekani sprach damit die familiale Kommunikation auf Türkisch an, bei der es sich um eine „nachrangige Sprache[ ]“ (Mecheril/Quehl 2006b: 366) bzw. eine Andere Sprache handelt. Daraus resultiert ein dauerhaft abgewerteter und benachteiligter „Bilingualismus von Kindern mit Migrationshintergrund mit Minderheitensprachen“ (Dirim/Hauenschild/Lütje-Klose 2008: 13). Auch Meral El, eine Referentin zu Rassismus und Diskriminierung im Bildungsbereich, die vor einigen Jahren für die Open Society Justice Initiative ein internes Gutachten zu segregierten Klassen in Berlin verfasste, war in vergleichbarer Weise überzeugt, dass sich die Frage nach der in der Familie gesprochene(n) Sprache(n) ausschließlich auf die Familien (potenziell) diskriminierend auswirke, die in „nachrangige[n] Sprachen“ (Mecheril/Quehl 2006b: 366) miteinander kommunizierten: Und die Kriterien, auf die basierend das ermittelt wird, sind auch lächerlich, weil bei der Einschulung in die Grundschule wird gefragt: ‚Welche Sprachen werden zu Hause gesprochen?‘ Und wenn du dann Deutsch und Englisch sagst, bist du dH, deutscher Herkunftssprache, und wenn du dann eine nichteuropäische Sprache sagst, bist du ndH. Unabhängig davon, ob jetzt die Eltern in der zweiten, dritten, vierten, fünften Generation da sind oder sonst etwas. (Interview 4-2013)
Maryam Haschemi Yekanis und Meral Els Kritik verweist auf ein Sprachregime, wonach im bundesdeutschen Kontext nur einem „Elitebilingualismus mit Sprachen wie Englisch oder Französisch“ (Dirim/Hauenschild/Lütje-Klose 2008: 13) eine besondere Wertigkeit zugesprochen wird (vgl. Kapitel 3). So kommen auch Farida Heuck-Yoo und Juliane Kanitz zu dem Schluss:
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Eine Einteilung der Lernenden nicht mehr über die Staatsbürgerschaft oder den ‚Migrationshintergrund‘ zu vollziehen, sondern Sprache als ernstzunehmende Kategorie einzuführen, wie es im dH/ndH-Versuch geschehen ist, ist prinzipiell positiv. […] Allerdings müsste diese Kategorie alle Sprachen gleichwertig ernst nehmen und nicht einige Sprachen als förderungswürdig und andere als bedrohlich einstufen. (Heuck-Yoo/Kanitz 2013: 67)
Die sprachliche Zweiteilung bzw. die Hierarchisierung von Sprachen verweist darüber hinaus auf einen weiteren Aspekt: Gerade Migrationsandere, die keine EG- bzw. EU-Bürger*innen sind, werden auf dem Arbeitsmarkt strukturell benachteiligt. In Bezug auf „Menschen mit türkischem Migrationshintergrund“ stellen Juliane Karakayalı und Birgit zur Nieden in Anlehnung an Befunde des Bundesamts für Migration aus dem Jahr 2011 fest, dass diese „nach wie vor sozioökonomisch deutlich schlechter gestellt [sind] als der Durchschnitt, was sich in vergleichsweise niedrigen Löhnen und hoher Arbeitslosigkeit niederschlägt“ (Karakayalı/zur Nieden 2013: 64; vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2011: 23, 26 f., 35, 48, 56). In die Zuordnung von Kindern als „nichtdeutscher Herkunftssprache“ spielt so häufig auch der sozioökonomische Hintergrund einer Familie mit hinein. Farida Heuck-Yoo und Juliane Kanitz gehen sogar davon aus, dass die Kategorisierung als „ndH“ – insbesondere an Schulen in sozialräumlich benachteiligten Lagen – v. a. auf den sozialen Status verweise (vgl. Heuck-Yoo/Kanitz 2013: 67). Diese Analyse finde ich insoweit zutreffend, dass innenstädtische Schulen, die das Stigma einer ‚Brennpunktschule‘ tragen, überproportional häufig von Kindern aus soziostrukturell benachteiligten Familien besucht werden, von denen die Mehrzahl eine familiäre Migrationsgeschichte teilt. Diese liegt allerdings häufig – wie von Meral El konstatiert – drei oder vier Generationen zurück. Gerade die Überlagerung von sozioökonomischer Benachteiligung und (zugeschriebenem) ‚Migrationshintergrund‘ erhöht damit die Wahrscheinlichkeit als Kind „nichtdeutscher Herkunftssprache“ definiert zu werden. Ganz in diesem Sinne fühlte sich eine der beiden Sekretariats- Mitarbeiterinnen in ihrer Zuordnungspraxis zu „ndH“ bestätigt, wenn Familien zusätzlich auch „lernmittelbefreit“ seien, sie also öffentliche Sozialleistungen erhielten. In diesen Fällen ging sie davon aus, dass die betreffenden Eltern ihr Kind bzw. ihre Kinder nicht bei den Hausaufgaben unterstützen könnten. Die Zuordnung „ndH“ wurde aus ihrer Sicht umso wichtiger, damit zusätzliche (Deutsch-)Förderstunden bewilligt werden, die bei Bedarf auch flexibel für eine allgemeine – also nicht primär sprachbasierte – Förderung aufgewendet werden
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könnten.37 Die hier angesprochene Zuordnung zu „ndH“ zum Zwecke höherer Fördermittel setzten Schulen daher laut Maryam Haschemi Yekani gezielt ein: Bei diesen Markierungen mit dem ‚ndH‘/‚dH‘, das darf man auch nicht vergessen, gehen ja auch ganz oft irgendwie Fördermittel mit ein, ja? Das heißt sozusagen, da gibt es ja auch ein Interesse daran, Kinder so zu markieren. Das ist ein sehr undurchsichtiger Raum, ja? (Interview 6-2013)
In die Zuordnung zu „ndH“ spielen Narrative und gesellschaftlich dominante Diskurse um – meist rassistisch markierte – ‚bildungsferne Problemschüler*innen‘ hinein. Diese wirken nicht allein auf schulisches Handeln zurück, sondern subjektivieren auch ‚bildungsprivilegierte‘ Eltern, die ihre Kinder über Gruppenanmeldungen (vgl. Kapitel 6) einschulen. So entsteht ein Wechselspiel zwischen elterlichem und schulischem Handeln bezüglich der Differenzmarkierung „nichtdeutsche Herkunftssprache“. Dementsprechend achteten Sekretariats-Mitarbeiter*innen oder Schulleitungen bei der Anmeldung von Kindern der Kategorie „ndH“ stark auf das „Auftreten“ der Eltern. Meral El zufolge würde dieses herangezogen, um Kinder zu identifizieren, die vermeintlich gut in Klassen passen, die Kinder aus einer Gruppenanmeldung besuchen: Also Mehreres, denke ich, was zusammenkommt, je nachdem, welche Person da sitzt, ne? Es ist so: Schauen den Namen an, oder sie gucken die Papiere an, sie sehen das Auftreten. Bei Menschen, die die Sekretärin bestimmen, ist es so, dass sie dann bei Bildungsaufsteigern oder Akademiker-Eltern denken so: „Ah, ok, könnte in die [von Kindern aus einer Gruppenanmeldung besuchte, Anmerkung I.D.] Klasse passen.“ (Interview 4-2013)
Ich interpretiere Meral Els Aussage dahingehend, dass sie das „Auftreten“ von Eltern – in Verbindung mit ihrem Namen und ihrer Staatsangehörigkeit – als deren
37Auch
Katharina Ludwig führt in ihrem Medienartikel eine Grundschule in Charlottenburg mit einem „ndH“-Anteil“ von knapp 40 Prozent an, die u. a. von „Botschaftskinder[n]“ besucht würde und in der ebenfalls zusätzlich zu einem Formular, das die Eltern ausfüllen, die Muttersprache der Eltern abgefragt werde. Dies diene allerdings lediglich dazu festzustellen, „wie die Schule mit den Eltern kommunizieren kann und ob die Eltern die Kinder bei den Hausaufgaben unterstützen können.“ (Ludwig 2014b). Bei den tendenziell akademisch geprägten Eltern an der Schule diente damit die Zuordnung zur Kategorie „ndH“ ebenfalls als ein Mittel, um eine zusätzliche Förderung der mehrsprachigen Kinder zu gewährleisten, ohne dabei jedoch eine Erhöhung der finanziellen Förderung, bspw. der Förderstunden vor Augen zu haben (vgl. ebd.).
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Habitus und den damit verbundenen Dispositionen verstand. Somit koppelte sie das „Auftreten“ der Eltern, das sich maßgeblich in Abhängigkeit von deren sozioökonomischem Status bzw. deren sozialer Herkunft gestaltete, sowohl an ihr äußeres Erscheinungsbild als auch an die Art ihres Agierens. Über eine solche Zuordnung entstehen Schulklassen, in denen Kinder (weitgehend) ausgeschlossen sind, die als „ndH“ gelten und deren Eltern zugleich „lernmittelbefreit“ sind. Stattdessen können diese von Gruppenanmeldungs-Kindern besuchten Klassen mit Bildungsaufsteiger*innen aufgefüllt werden, wie Meral El weiter ausführte: „Aber das ist auch das Phänomen der Quotenregelung, weil wenn sie ein, zwei Quoten-Nicht-Weiße in der Klasse haben, können sie auch dem Vorwurf, dass das diskriminierend und rassistisch ist, dem einfach aus dem Weg gehen.“ (Interview 4-2013). Zuordnungspraktiken zu „ndH“ als postliberale rassistische Strategie Dieser flexiblen Interpretation der Kategorisierung als „ndH“ entsprechend sagt die Zuordnung „nichts über einen tatsächlichen Förderbedarf in Deutsch aus“ (Karakayalı/zur Nieden 2013: 68). Die Bandbreite der Deutschkenntnisse von „ndH“-Schüler*innen kann von einem erstsprachlichen Niveau bis zu einer fehlenden Schulreife aufgrund geringer Deutsch-Kenntnisse reichen. Im Bezirk Mitte setzen aus diesem Grund – in der Absicht, Art und Umfang der Sprachfördermaßnahmen (des Deutschen) gezielter planen zu können – Grundschulen vor der Einschulung der Kinder eine Sprachstandsfeststellung um (vgl. Köhler 2009). Auch wenn dies im Einzelnen viele Vorteile haben mag, schreibt sich diese Praxis jedoch weiterhin ein in den „monolingualen Habitus“ (Gogolin 2008) der deutschen Schule. So wird auch weiterhin zu selten nach Wegen gesucht, Mehrsprachigkeit im Unterricht und im schulischen Alltag produktiv zu verankern und zu nutzen (vgl. Dirim/Mecheril 2010: 115–119; Mecheril/Quehl 2006b: 371–380). Da die Kategorisierung als „ndH“ also maßgeblich auf einen niedrigen sozioökonomischen sowie Bildungs-Hintergrund verweist und damit häufig auch auf eine zugeschriebene ‚Bildungsferne‘ (vgl. Unterkapitel 5.2.3) ist Karakayalı/ zur Nieden zuzustimmen, die konstatieren, dass „ndHs im Vergleich zur Kategorisierung als ‚Ausländer_in‘ als flexiblere Kategorisierung“ (Karakayalı/zur Nieden 2013: 70) fungiert. Sie kann so z. B. greifen, um an einzelnen Schulen die Fördergelder für zusätzliche Lehrstunden zu erhöhen oder genauso auch, wenn der Anteil der „ndH“-Schüler*innen in der Erhebungspraxis niedrig angesetzt wird, um ‚bildungsprivilegierten‘ Eltern zu vermitteln, dass die Schule bereits von einer großen Anzahl an Kindern aus mittelschichtsorientierten Familien
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besucht wird. Die Zuordnung operiert damit als „[p]ostliberale rassistische Strategie[ ] […] wesentlich fluider als jene des traditionellen Rassismus“ (Pieper/ Panagiotidis/Tsianos 2011: 195). Als weiche, flexibilisierte Kategorisierung kann „ndH“ zugleich auf institutioneller Ebene als ein Kriterium für segregierte Klassen dienen, muss aber auch nicht zwangsläufig Berücksichtigung finden (vgl. Karakayalı/zur Nieden 2013: 70). In der Konsequenz werden über die schulische Zuordnungspraxis zu „ndH“ Differenzen zwischen einzelnen Schüler*innen hergestellt. Diese legitimieren Diskriminierung, ohne dass dabei rassistische Argumentationen zum Tragen kommen müssen (vgl. Pieper/Panagiotidis/Tsianos 2011: 195). Vielmehr erscheinen die damit verbundenen Verfahren und Zuschreibungen als angemessen und ‚wertneutral‘ (vgl. Gomolla/Radtke 2009: 50). Vor diesem Hintergrund erscheint es umso wichtiger, die flexible Zuordnung zur Kategorie „ndH“ und damit verbundene Wertungen auf Seiten der Schule kritisch zu hinterfragen, um ausgrenzende und diskriminierende schulische Routinen zu vermeiden oder abzubauen.
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Schulwahlpraktiken und -diskurse
In Bezug auf die Grundschullandschaft sind in Berlin – wie in fast allen Bundesländern der BRD – einzelne Straßenzüge festgelegten Schuleinzugsgebieten zugeordnet; der Wohnort eines Kindes ist also entscheidend für die Zuordnung zu einer Grundschule (vgl. Breidenstein/Krüger/Roch 2014: 166). Vor diesem Hintergrund frage ich im vorliegenden Kapitel zunächst, wie die Eltern aus dem Umfeld der Kreuzberger Primel-Kita sowie auch andere Eltern, die vor die Wahl einer Schule für das Kind standen, die migrationsgesellschaftliche Realität ihres Wohnumfelds deuteten und wahrnahmen, noch bevor ihr (erstes) Kind eingeschult wurde (5.1). Dann gehe ich darauf ein, wie zunehmend mittelschichtsorientierte Eltern die ihrem Kind zugeordnete Grundschule in Frage stellen und eine andere Schule suchen, eine, die sie als ‚besser‘ wahrnehmen oder die sie als ‚besser‘ zu ihrem ganz individuellen Kind passend erklären (5.2). Zur selben Zeit problematisieren diese Eltern die Einzugsgebietsschulen: Sie koppeln die Dimensionen Mehrsprachigkeit, Klassenzugehörigkeit und Schulleistung miteinander und werten sie als bedeutsam für die Qualität von Schule (5.3). Schulwahlentscheidungen werden jedoch auch dann wirksam, wenn es um die zukünftigen Mitschüler*innen und deren (potenziell diskriminierendes) Verhalten geht (5.4).
5.1 Heterogenes Wohnumfeld – heterogenes Schulumfeld? Wie eine Handvoll anderer Städte in Deutschland besitzt auch Berlin den Status einer „global city“ (Sassen 2001), also eines Ortes, an dem sehr unterschiedliche Migrationsbewegungen und -geschichten aufeinandertreffen und an dem © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Dean, Bildung – Heterogenität – Sprache, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30856-8_5
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5 Schulwahlpraktiken und -diskurse
„ transnational circuits of communication and social practise come together“ (ebd.: 151 f.). Im Gegensatz zu vielen anderen „global cities“ weltweit ist jedoch ein Spezifikum Berlins, dass hier unterschiedliche soziale und ‚ethnische‘ Gruppen und Communities direkt neben- und miteinander in den Innenstadtbezirken wohnen (vgl. Roch/Dean/Breidenstein 2018: 139). Im Zuge der Teilung der Stadt durch die Berliner Mauer wurden zwischen 1961 und 1990 die nördlichen Teile Neuköllns, Kreuzberg und die westlichen Teile von Mitte zu ruhigen und verkehrsarmen Stadtrandgebieten West-Berlins (vgl. in Bezug auf Kreuzberg: Düspohl 2009: 121 f.). Ab den 1960er Jahren waren diese Gebiete durch den Abriss der Altbauquartiere geprägt; die Kahlschlagsanierung führte zur Neubebauung ganzer Straßenzüge und Plätze. Andere Straßenzüge verharrten dagegen in einer „Sanierungserwartung“, die dortigen Mietshäuser verfielen zusehends. Diese zum Abriss vorgesehenen Wohnhäuser wurden in der Folge an einkommensschwache und mobile Bevölkerungsgruppen vermietet, unter ihnen sogenannte Gastarbeiter1, Erwerbslose, Studierende, Künstler*innen sowie Linksalternative (vgl. Roch/Dean/ Breidenstein 2018: 139). Es entstand allmählich ein sozialer Raum, der durch eine große soziale Heterogenität geprägt ist (vgl. ebd.: 125–129). Zur selben Zeit haben sich gerade Städte und urbane Regionen in den letzten Jahrzehnten „zu strategischen Orten für neoliberale Politiken und zu den Schlüsselterrains [gewandelt], in und durch die sich der Neoliberalismus entfaltet“ (Schmid 2011: 42). Auf der Ebene der Verwaltung ist dabei im Sinne einer „Unternehmerischen Stadt“ „eine Verschiebung der politischen Leitliniensetzung weg von der Regierung (Government) hin zu einer breiteren interessensbedingten Koalition der Stakeholder, Behörden und Politik (Governance)“ (Mullis 2011: 20) zu verzeichnen. In Bezug auf den (innen-)städtischen Wohnraum zeigt sich so, dass bspw. privatwirtschaftliche und staatliche Strategien immer stärker ineinander[greifen], wobei die Politik mit Maßnahmen zur Aufwertung von Quartieren oft ganz gezielt Gentrifizierungsprozesse und die damit verbundene Verdrängung bestimmter Bevölkerungsgruppen vorantreibt. (Schmid 2011: 42)
1Ab Mitte der 1950er Jahre kam es in der BRD zur gezielten und gesteuerten Anwerbung von ,Gastarbeitern‘, also von Arbeitsmigrant*innen aus verschiedenen Mittelmeerländern mit einer zunächst zeitlich begrenzten Aufenthaltsdauer. Viele von ihnen blieben auch nach dem Anwerbestopp 1973 und ließen sich dauerhaft in der BRD nieder; sie und ihre Nachkommen stellen die größte Gruppe von Arbeitsmigrant*innen in Deutschland dar (vgl. Onur 2011: 10; Ronneberger/Tsianos 2009: 138 f.).
5.1 Heterogenes Wohnumfeld – heterogenes Schulumfeld?
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In Berlin ziehen in diesem Zusammenhang überwiegend junge, soziostrukturell privilegierte Familien verstärkt „anstatt wie früher in ländliche Regionen – in innenstadtnahe, vormals durch die Gastarbeiter_innenmigration und die Arbeiter_innenschicht geprägte Stadtteile“ (Karakayalı/zur Nieden 2013: 67) wie bspw. Neukölln oder Kreuzberg. Viele dieser Familien schätzen gerade die migrationsbedingte Diversität in ihrem Wohnumfeld und fühlen sich durch diese insbesondere hinsichtlich ihres Lebensstils und ihrer Konsumkultur ‚bereichert‘. Laut einer Studie zur „Sozialstrukturentwicklung in Nord-Neukölln“ aus dem Jahr 2011 bewerten ein Viertel bis zu einem Drittel der Bewohner*innen in Neuköllner und Kreuzberger ‚Problemvierteln‘ ihr soziales Umfeld gemeinsam mit deren ‚multikulturellen‘ Zusammensetzung positiv (vgl. TOPOS Stadtforschung 2011: 35). Viele nach Kreuzberg oder Neukölln zugezogene Eltern, deren Kind die Primel-Kita besuchte, hatten sich ganz bewusst für den Kiez entschieden, in dem sie lebten, u. a. da sie an diesem die migrationsbedingte Heterogenität und die urbane, großstädtische Atmosphäre schätzten. Diese Eltern hatte eine der Erzieherinnen der Primel-Kita, Julia Weiß, als tendenziell „hip“ und mit „gefülltere[m] Geldbeutel“ (Interview 10-2011) charakterisiert. Damit hatte sie darauf angespielt, dass der überwiegende Teil der Eltern in der Primel-Kita zu mittelschichtsangehörigen Selbstständigen, Akademiker*innen und in der Kreativbranche Tätigen zählte (vgl. Unterkapitel 4.3). Knapp die Hälfte der insgesamt 18 Familien, deren Kind die von mir beforschte Kita-Gruppe besuchte, las ich als weiß positioniert, dazu kamen fünf binationale Familien mit jeweils einem weißen Elternteil sowie weitere fünf Familien of Color. Während einige wenige Eltern seit ihrer Geburt in Kreuzberg lebten, hatte sich das Gros von ihnen – aus anderen Stadtteilen Berlins oder aus anderen Regionen stammenden – ganz bewusst dafür entschieden, in diesem Teilbezirk zu leben. Die überwiegende Mehrzahl dieser Eltern nahm ich ähnlich wie die Erzieherin Julia Weiß als habituell bildungsbürgerlich und akademisch geprägt wahr, darüber hinaus als tendenziell linksalternativ oder linksliberal. Dies manifestierte sich nicht allein in einem „hippen“ und urbanen Kleidungs- und Lifestyle dieser Eltern, sondern zeigte sich auch in vielen meiner Gespräche mit ihnen, bei denen es um tagesaktuelle Geschehnisse, um Gesundheits- und Ernährungsfragen oder um den Wunsch ging, ihr Kind möge möglichst unbeschwert aufwachsen, sich frei entfalten und zu einer toleranten, weltoffenen und aufgeschlossenen Persönlichkeit heranreifen. Nicht zuletzt verwies auf die linksalternative und linksliberale Grundeinstellung auch das Ambiente der elterlichen Wohnungen, in denen ich zu Gast war: Zwei Mütter hatten während meiner Forschung die Kitagruppe zum Frühstück
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eingeladen und vier meiner Interviews fanden im familiären Wohnumfeld statt. In allen fünf Wohnungen sowie dem einen Hausprojekt sah ich vollgepackte Bücherregale mit Sach- und zum Teil Fachbüchern sowie diversen Ratgebern, bspw. zur Kindererziehung; zusammen mit der politischen Ausrichtung der zumeist offen herumliegenden Tageszeitungen und den allgegenwärtigen Bio-Lebensmitteln sprach dies für mich für eine linksalternative bis linksliberale Grundeinstellung dieser Familien. Oder anders ausgedrückt: In den Begrifflichkeiten der Sinus-Milieu-Studie waren die Eltern der Primel-Kita zum überwiegenden Teil in und zwischen den gesellschaftlichen Milieus der „Liberal-Intellektuellen“ als der aufgeklärten Bildungselite, der „Expeditiven“ als der ambitionierten kreativen Avantgarde und der „Sozialökologischen“ als einem engagierten gesellschaftskritischen Milieu mit normativen Vorstellungen vom ‚richtigen‘ Leben angesiedelt (vgl. Sinus 2017: 16). In Bezug auf die in der Primel-Kita anzutreffenden – insbesondere weiß positionierten – Eltern gehe ich mit Karin Scherschel davon aus, dass sie als Personen, die „gemeinhin der ‚aufgeklärten Mitte‘ zugerechnet“ (Scherschel 2009: 123) werden, nur selten im Fokus von Untersuchungen zu latent oder offen rassistischen Positionierungen stehen, da ihnen ‚automatisch‘ eine geringe Affinität zu rassistischen Ideologien zugesprochen wird (vgl. zu dieser Annahme: Esser 2001: 46). Wie sich bei diesen Eltern ebenso wie auch bei anderen Schulwahl praktizierenden Eltern – entgegen ihrer eigenen politischen Selbstverortung – trotzdem auch verinnerlichte rassistische Wissensbestände artikulierten und welche Effekte dies potenziell nach sich zog, ist eine zentrale Frage für das vorliegende ebenso wie für das Kapitel 6 und 8.
5.1.1 Bereicherungsdiskurse Die Mutter Clarissa Wehr spielte zum Zeitpunkt des Interviews mit dem Gedanken, sich als – umliegende Cafés beliefernde – Konditorin selbständig zu machen, um auf diese Weise nicht Vollzeit zu arbeiten, sondern auch weiterhin viel Zeit mit ihrem zweieinhalbjährigen Sohn verbringen zu können. Ursprünglich war sie nach Kreuzberg gezogen, um dort ihr Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nachzuholen und hatte schon bald die dortige ‚multikulturelle‘ Atmosphäre zu schätzen gelernt: Also, was ich total mag, ist, dass es einfach so Multi-Kulti ist, dass es// und so frech, also ich mag, dass// schwer auszudrücken, einfach dass// doch, erst mal das Multi-Kulti, dass hier wirklich einfach auch so viel schon so ein bisschen Welten aufeinander prallen und ich mag das Bunte, das Chaotische, das Hektische, ich mag das einfach, das hat so einen typischen Großstadtflair, irgendwie. (Interview 2-2011)
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Die Termini „Multi-Kulti“ und „Großstadtflair“ rufen hier zunächst die Assoziation mit einer maßgeblich durch Migration geprägten Metropole auf (vgl. Lanz 2007: 9). „Multi-Kulti“ verkörperte sich aus Clarissa Wehrs Sicht primär darüber, dass rein qualitativ „so ein bisschen Welten aufeinanderprallen“, sich dies aber in seinem quantitativen Umfang durchaus „auch so viel schon“ zeige. Clarissa Wehr benannte nicht direkt, welche „Welten“ für sie konkret zusammenstießen und wie sich dies im Einzelnen äußere, wodurch „Multi-Kulti“ als Zustandsbeschreibung ihres Kreuzberger Kiezes möglicherweise doch auch ein (qualitatives) Konfliktpotenzial in sich bergen mochte. Gerade das „Bunte, das Chaotische, das Hektische“ machte für sie einen „Großstadtflair“ aus, das sie jedoch in „[Name einer Stadt in Süddeutschland], wo ich vorher// also wo ich herkomme, einfach so ein bisschen vermisst [habe]. Das ist genau das, was mir da eigentlich gefehlt hat, das hab ich hier in Kreuzberg.“ (Interview 2-2011). Auch über die Primel-Kita hinaus betonten viele nach Berlin zugezogene Mütter aus anderen Bezirken die Vorteile, die ihnen das Leben in Berliner Innenstadtbezirken bot, darunter ebenfalls die ‚Multikulturalität‘, die bspw. Johanna Greif an ihrem Neuköllner Kiez schätzte: Du wohnst in einem multikulturellen Stadtteil ohne Gleichen […] und nutzt die Vorteile […], sprich, dass es irgendwie interessante Restaurants gibt, wo du alle möglichen internationalen Spezialitäten essen kannst oder [lacht] dieses und jenes. Und die Mieten günstig sind, weil eben im Grunde das ein Stadtteil ist, der noch nicht so, na, gentrifiziert, oder wie man sagt, ist, wie es halt andere Stadtteile haben. (Interview 5-2013)
Die hier angesprochene ‚Multikulturalität‘ manifestierte sich u. a. in der großen Anzahl und Dichte ethnisch konnotierter Restaurants, Imbissstände oder Märkte (vgl. Schmidt-Lauber 2007c: 9), wobei gerade die damit verbundene ‚Vielfalt‘ bzw. das oben genannte „Bunte, das Chaotische, das Hektische“ (Interview 2-2011) den urbanen Raum für diese Elternklientel offenbar so attraktiv machte (vgl. Welz 2007: 221). Brigitta Schmidt-Lauber geht davon aus, dass die Nachfrage nach ‚Multi-Kulti‘ in Werbung, Medien und Unterhaltungsindustrie zugleich davon zeuge, wie anerkannt und selbstverständlich dieses zumindest im Freizeit- und Konsumbereich sei (vgl. Schmidt-Lauber 2007c: 9). Aus einer rassismus- und machtkritischen Perspektive ließe sich dagegen einwenden, dass sich in diesen urbanen Inszenierungen von ‚Multikulturalität‘ Vorstellungen von „Authentizität und ethnisch-national aufgeladenen Kultureigenheiten“ (Ha 2005: 93) manifestieren, durch die sich binäre Kultur- und Identitätsschemata verfestigen können und die Gegenüberstellung von ‚Eigenem‘ und ‚Anderem‘ nicht hinterfragt wird (vgl. ebd.).
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Zudem verfügen die hierbei von Otheringprozessen betroffenen Subjekte nicht selbst über die zum Einsatz kommenden Differenzmarkierungen (vgl. Eggers 2010: 72 f.) und „die offizielle Wahrnehmung und Anerkennung von Differenz [ändert] nichts an dem ungleichen Zugang zu Ressourcen“ (ebd.: 68). Vielmehr wird in den Inszenierungen von ‚Multikulturalität‘ eine „zweifache Selbstaufwertung des gesellschaftlich Dominanten“ (Ha 2005: 73) wirksam: Insbesondere der Mehrheitsgesellschaft Zugehörige können über die Befürwortung ‚multikultureller‘ Attribute sich selbst als progressiv und tolerant verorten, während ihre eigene Identität weiterhin privilegiert wird (vgl. ebd.: 68): In der positiven Bezugnahme auf ‚Multikulturalität‘ bleibt eine „hegemoniale Dividende“ bestehen, die diejenigen dauerhaft begünstigt, die dominierenden gesellschaftlichen Gruppen angehören (vgl. Eggers 2010: 60). Die Urbanität des Berliner Großstadtlebens war auch für den Vater Jörg Bachmann, dessen Sohn die Primel-Kita besuchte, ein zentraler Ausschlag, sich in Kreuzberg anzusiedeln. Jörg Bachmann selbst wuchs im Vorort einer süddeutschen Großstadt auf, wo es auch zumindest stadtnah ist, aber halt irgendwie Reihenhaussiedlung und grün und irgendwie halt auch der Hund begraben gleichzeitig. Und ich habe mir so eine gewisse, naja, so einen Blick für die Großstadt und auch so ein großstädtisches Verhalten vielleicht, oder so was, schon auch erst mühsam anlernen müssen. Oder musste mich da rausarbeiten. Und ganz viel hat man natürlich noch drin! (Interview 1-2011)
Als Freiberufler im kulturellen Bereich fühlte sich Jörg Bachmann in Kreuzberg ausgesprochen wohl; erst als seine beiden Kinder geboren wurden, wurde sein Verhältnis zu dem Teilbezirk ambivalenter, da er nun das großstädtische Leben mit Kindern zunehmend als „stressig“ empfand: „Man kann dann nicht die Türe aufmachen und die Kinder rennen lassen“ (Interview 1-2011) – dies verbiete der starke Straßenverkehr, die vielen Menschen und die mehrspurigen Straßen. Trotzdem war sich Jörg Bachmann sicher, dass die Vorteile des Lebens in Kreuzberg überwögen, da seine Kinder sich ganz selbstverständlich in urbanen Kontexten bewegten und sich einen städtischen Habitus aneigneten: Auf der anderen Seite finde ich das auch ein Stück weit toll, weil ich glaube, dass die natürlich auch damit aufwachsen und das ist anders als jetzt// Ist vielleicht auch so ein Traum, den man da selber dann doch wiederum so nach dem Motto: „Meine Kinder sollen es mal besser haben als ich“ verwirklichen lässt. […] Also ob das einen besseren Menschen aus einem macht, weiß ich nicht, aber das ist was, wofür ich schon immer eine gewisse Faszination hatte. (Interview 1-2011)
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Auch wenn die Mehrzahl der zugezogenen Eltern – ähnlich wie Jörg Bachmann – Kreuzberg oder Neukölln gerade aufgrund des dort anzutreffenden urbanen Lebensgefühls schätzte, so berichteten die meisten Eltern doch auch regelmäßig von den Negativseiten, die erst mit einem Kind spürbar wurden: Neben dem starken Straßenverkehr nannten sie Glasscherben, benutzte Spritzen und Müll auf den Spielplätzen sowie die offensichtliche Armut und Verwahrlosung mancher Menschen und Orte im öffentlichen Raum – Eindrücke und Gefahren, die sie eigentlich gerne von ihrem Kind – zumindest in diesem Alter – noch ferngehalten hätten. Ein Nebeneinander von Funktionsräumen und Wohnquartieren Der Kulturanthropologe Jens Adam spricht in Bezug auf einen zu Kreuzberg und dem nördlichen Neukölln vergleichbaren, durch vielfältige Migrationsbewegungen geprägten sozialen Raum in Schöneberg davon, dieser sei „durch die Mischung der sozialen Gruppen, Milieus und Lebensstile“ (Adam 2005: 19 f.) gekennzeichnet; in ihm würden „sowohl unterschiedliche Funktionsräume als auch die bevorzugten Wohnquartiere verschiedener Gruppen nicht nur neben- sondern übereinander [liegen]“ (ebd.). Seinen Befund bestätigten die „Kiezspaziergänge“, die ich während meiner Forschung mit einigen der Mütter durchführte (vgl. Unterkapitel 2.1), nur zum Teil: In diesen Rundgängen durch das direkte Wohnumfeld der Familien wurde deutlich, dass die von der Mehrzahl dieser Eltern gewünschte Heterogenität in ihrem Kiez sich teilweise doch eher in einem Nebeneinander als in einem Übereinander von Funktionsräumen zeigte. An den Rundgängen, die zumeist nach den Interviews, zum Teil aber auch unabhängig von diesen stattfanden, hatten aus Zeitgründen ausschließlich fünf der weiß positionierten Mütter teilgenommen, da sie – im Gegensatz zu den vier Müttern of Color – zum damaligen Zeitpunkt nicht oder nur in Teilzeit arbeiteten (vgl. Unterkapitel 2.8). Zudem nahm mich ein – ebenfalls weiß positionierter – Vater mit zu dem Spielplatz, den er nach Kitaschluss und Feierabend des Öfteren mit seinem Sohn aufsuchte. Viele dieser Mütter schätzten, wie oben verdeutlicht, die Vielfalt an Restaurants, Imbissen und Märkten; zwei Mütter nahmen mich außerdem beim Kiezrundgang mit zu einem Markt am Maybachufer, den sie wie selbstverständlich als „Türkenmarkt“ bezeichneten. Im Interview mit der Mutter Claire Verhoeven hatte ich noch einmal extra nachgefragt, welchen Markt sie meine und wie dieser hieße. Als damalige relative Neubürgerin Berlins war mir der Name des Marktes unbekannt und ich konnte nicht einschätzen, wie diese Bezeichnung gemeint war. Jedenfalls erschien mir die Substantivkonstruktion abwertend,
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mit dem der Markt ausschließlich über die (vermeintliche) Nationalität der Verkäufer*innen definiert wurde. Claire Verhoeven nahm meine Irritation angesichts dieser Bezeichnung wahr; ihr war offenbar ebenfalls die potenziell negative Konnotation der Bezeichnung „Türkenmarkt“ bewusst und sie wechselte, meine Irritation zum Ausgangspunkt nehmend, im Verlauf des Interviews zu der Bezeichnung „türkischer Markt“ (Interview 15-2011). Darüber, ob es einen Unterschied macht, den Markt nunmehr über das Adjektiv „türkisch“ zu kennzeichnen, ließe sich sicher streiten. Möglicherweise steht so aber weniger die natio-ethno-kulturelle Codierung im Vordergrund, sondern unter Umständen zuallererst der Markt selbst. Auch Claudia Michels nahm mich mit auf diesen Markt und zeigte mir einen Marktstand, an dem sie und ihre Tochter regelmäßig Obst und Gemüse beim „dicken Mann“ kauften. Ihre Tochter Pina kenne ihn mittlerweile schon sehr gut und bekomme hin und wieder etwas Obst von ihm geschenkt (vgl. Interview 14-2011). Auch wenn Claudia Michels den Verkäufer also vordergründig als nett und zuvorkommend schilderte, hinderte es sie nicht daran, ihn – wie oben dargestellt – zur selben Zeit auf eine distanzierte und vielleicht sogar leicht abfällige Weise zu charakterisieren.2 Demgegenüber präsentierten mir die meisten Mütter in den Kiezrundgängen tendenziell mittelschichtsorientierte Orte und Räume, die für sie in ihrem Alltag als Familie wichtig waren, ohne dabei jedoch zu reflektieren, dass es sich um zumeist privilegierte Orte handelte. Dazu gehörte bspw. ein – extra an Kinder als Zielgruppe adressierter – Kinderbuchladen, zwei Eiscafés, die jeweils auch veganes Eis anboten, sowie eine neu eröffnete Chocolaterie mit speziell auf Kinder zugeschnittenen Angeboten. Darüber hinaus waren auch ein Kinderbauernhof, die Musikschule und ein zentral gelegener Spielplatz, an dem sich viele der Kinder und deren Eltern aus der Primel-Kita trafen, ein beliebter Ort für nachmittägliche Aktivitäten. Als einen weiteren solchen Ort zeigten mir drei weitere Mütter ihr eigenes Haus bzw. ihre Wohnung mit direktem Gartenzugang – mitten in Kreuzberg eine Seltenheit im am berlinweit dichtesten besiedelten Ortsteil (vgl. Wikipedia, Bezirke und Ortsteile o. J.). Neben dem zentral gelegenen Spielplatz, der als nachmittäglicher Treffpunkt vieler Familien aus der Primel-Kita diente, präsentierten mir einige Mütter auch weitere Spielplätze, die sie gerne mit ihrem Kind besuchten, und grenzten diese
2Darüber
hinaus nutzte auch eine ganze Reihe anderer Familien gerne die preislich günstigen türkischen Läden und Märkte und nannten ebenfalls häufig die familiäre Atmosphäre, durch die sie teilweise den Verkäufer*innen persönlich bekannt waren.
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von Spielplätzen ab, die für sie auf keinen Fall in Frage kämen. Michaela Beer begründete dies mit den dort überall verstreut liegenden Scherben (vgl. Interview 4-2011), Jenny Miller mit Ratten und Müll auf einem eher dunkel und schattig wirkenden Spielplatz direkt gegenüber demjenigen – auf mich sonniger und sauberer wirkenden – Spielplatz, den sie mit ihrer Tochter häufig aufsuchte (vgl. Interview 6-2011). Michaela Beer stellte zudem fest, die Spielplätze seien meist „getrennt“, es gebe also Spielplätze, zu denen v. a. „türkische“ Kinder gingen und daneben „andere“ Spielplätze, die nicht von diesen besucht würden (Interview 4-2011).3 Auch wenn Michaela Beer die unterschiedliche Nutzung der Spielplätze als „Spielplatzsegregation“ reflektierte, so nahm sie dies nicht als Beschränkung ihrer eigentlich ‚multikulturellen‘ Orientierung wahr. Auf dem Spielplatz, zu dem Michaela Beer mich mitnahm, sah ich mehrere Schwarze Kinder und hörte Familien auf Spanisch und Französisch miteinander kommunizieren; besonders war mir aufgefallen, dass auf dem sehr belebten Spielplatz die Mehrzahl der Kinder eher leise miteinander sprach, es wenig Konflikte zwischen den Kindern gab und auftretende Streitigkeiten zu einem großen Teil verbal, nicht körperlich, gelöst wurden. Diesen Umstand kommentierte ich mit den Worten, es gehe hier ja sehr „entspannt“ zu und Michaela Beer griff diese Zuschreibung möglicherweise später auf und bezeichnete den Spielplatz ihrerseits als „entspannt“ (Interview 4-2011). Ließen sich die verwendeten Sprachen und der konfliktarme Umgang der Kinder untereinander vielleicht als Marker dafür lesen, dass die Kinder mehrheitlich aus bildungsbürgerlichen Haushalten kamen? Möglich wäre es. In diesem Fall handelte es sich bei dem Spielplatz um eine Örtlichkeit, die Michaela Beer gerade durch die Kombination – oder Formation – von migrationsbedingter Vielfalt und tendenziell bildungsbürgerlicher Orientierung, die sich in vergleichbarer Weise auch in der Primel-Kita fand, als besonders attraktiv für ihre beiden Kinder wahrnahm. Dass sich viele der Familien aus der Kreuzberger Primel-Kita auf demselben Spielplatz trafen und dass Michaela Beer von nach ‚deutschen‘ und nach ‚türkischen‘ Familien „getrennten“ Spielplätzen sprach, ist in keiner Weise unerheblich. Denn Spielplätze stellen Örtlichkeiten dar, an denen sich Eltern treffen, unterhalten und austauschen. In diesen Gesprächen spielt auch der Austausch von informellen Informationen über Schulen im Umkreis und deren ‚guten‘ oder ‚schlechten‘ Ruf eine zentrale Rolle. Hier – auf dem Spielplatz –
3Wer
für sie konkret die „türkischen“ Kinder darstellten und ob deren Familien tatsächlich den von ihr bevorzugten Spielplatz nicht aufsuchten, habe ich nicht feststellen können.
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finden sich jeweils spezifische Gruppen von Eltern in ihren jeweiligen Netzwerken zusammen und kommunizieren über Schule und Schulwahl miteinander (vgl. Ball/Vincent 1998: 381). Die in den Interviews und Gesprächen regelmäßig beklagte Konzentration von soziostrukturell benachteiligten Kindern „nichtdeutscher Herkunftssprache“, die den Schulbereich kennzeichnet, nimmt also bereits zu Kitazeiten ihren Ausgang und findet ihren Ausdruck in den elterlichen Spielplatznetzwerken. Die Relevanz von Spielplätzen für die elterliche Kommunikation untereinander zieht sich daher auch durch den weiteren Verlauf dieses und auch des folgenden Kapitels. Sozialkontakte und (kulturelle) Hybridisierung Einige Eltern zogen im Kontext des ‚multikulturellen‘ Bereicherungsdiskurses auch die ‚Begegnung verschiedener Kulturen‘ und eine damit verbundene (kulturelle) Hybridisierung heran. Claire Verhoeven berichtete, sie habe schon in verschiedenen Berliner (Ost-)Bezirken gewohnt und sei vor einigen Jahren bewusst nach Kreuzberg gezogen, denn „diese Durchmischung mit der türkischen oder arabischen Kultur finde ich schon sehr reizvoll, so allein, so was wie eben, wo ich jetzt heute auf dem türkischen Markt war, das finde ich super. Also da stehe ich schon drauf“ (Interview 15-2011). Sie erzählte weiter: Es gibt halt bestimmte Aspekte der Kultur, die finde ich auch sehr reizvoll oder sehr schön und finde es auch schön, türkische Freundinnen und Freunde zu haben und es [ist] auch schön für die Kinder, einfach auch eine andere Durchmischung zu haben. Ich meine, Kreuzberg ist einfach ein Bezirk, wo du halt einigen Kulturen begegnen kannst. (Interview 15-2011)
Claire Verhoeven bezog die „Durchmischung mit der türkischen oder arabischen Kultur“ nicht allein auf den Konsumbereich, sondern rückte auch Sozialkontakte und Freundschaften in den Mittelpunkt. Zwischen Claire Verhoeven und der türkischen Nachbarsfamilie hatte sich nach der Geburt ihres zweiten Sohnes eine intensive Freundschaft ergeben, was Claire Verhoevens Zugehörigkeitsgefühl zu Kreuzberg verstärkte: „Also vielleicht auch dadurch, dass wir halt ein paar Leute sehr lieb gewonnen haben, die, gerade die türkische// also die aus der türkischen Kultur stammen, dann, ja, fühlt man sich einfach noch mal mehr verbunden, noch mal mehr zuhause, so.“ (Interview 15-2011). Auch wenn Claire Verhoeven und ihre Familie vor einiger Zeit in einen anderen Kreuzberger Kiez gezogen waren und die Nachbarin daher nicht mehr so oft sahen, war diese auch weiterhin bereit, immer wieder auf Claire Verhoevens Sohn aufzupassen. Außerdem hatte sie auch schon einige Male Claire Verhoeven und ihren Mann beim Elternnachmittag in der Primel-Kita vertreten, wenn diese verhindert waren.
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Durch die enge Verbindung zur türkischen Nachbarsfamilie war für Claire Verhoevens Sohn Yves in seinen ersten Lebensjahren neben Deutsch auch Türkisch zentral für seine Sprachentwicklung. Die Nachbarin hatte „halt die Kinder oft gesehen und gerade Yves auch oft gehabt. Und der hat eine Zeit lang auf bestimmte Befehle, so ‚Hör auf‘ oder ‚Setz dich‘ oder so was, gar nicht reagiert [lacht], es sei denn, man hat es auf Türkisch gesagt [lacht].“ (Interview 15-2011). Türkisch hatte also zumindest zeitweise eine zentrale Rolle in Yves Leben gespielt. Jedoch wurden ihm in der Primel-Kita diese Türkischkenntnisse seitens der Erzieherinnen (als nicht relevant genug) abgesprochen, als er in einem Morgenkreis Türkisch als eine der Sprachen benannte, die er selbst sprechen konnte (vgl. Unterkapitel 4.4.4). Claire Verhoeven selbst begrüßte es, dass ihr Sohn Türkisch lernte und begründete dies damit, dass er sich auf diese Weise in der Schule gegen Beschimpfungen zur Wehr setzen könne: „Klar, ist doch super, wenn er in der Sch// im Schulhof, wenn ihn dann mal jemand auf Türkisch beschimpft und er sagen kann: ‚Äh, was hast du gesagt?‘“ (Interview 15-2011). Claire Verhoeven ging hier ausschließlich von einem Konfliktszenario aus, das sich zwischen den fiktiven türkischsprechenden Kindern und ihrem Sohn abspielen könnte. Darüber hinaus zeichnete sie ihren Sohn gleich doppelt unterlegen: Dieser könnte nicht nur einfach beschimpft werden, sondern vielmehr in einer ihm vermeintlich nicht verständlichen Sprache, was seine für eine nähere Zukunft antizipierte Hilflosigkeit und sein Ausgeliefertsein noch deutlicher in den Mittelpunkt rückte. Die Erklärung, wieso ihr Sohn Türkisch lernen sollte, erscheint vor diesem Hintergrund rein funktional, um zukünftigen Konfliktsituationen souverän begegnen zu können. Andere Gründe, die für das Erlernen des Türkischen ebenfalls relevant sein könnten, wie z. B. die Kommunikation auf Türkisch mit Freund*innen oder die Tatsache, dass Türkisch im Kontext der BRD seit mehreren Jahrzehnten eine wichtige Kommunikationssprache darstellt, lagen offenbar außerhalb dessen, was sich Claire Verhoeven von den Türkischkenntnissen ihres Sohnes erhoffte. Von direkten Sozialkontakten berichtete auch Michaela Beer. Sie erzählte von einer Tagesmutter, „eine türkische Tagesmutter, so richtig eine mit Kopftuch und mit Beten“, bei der ihre Kinder im Spiel mitbeteten, „so aus Spaß, einfach nachgemacht, so wie imitiert“ und die sie schlussendlich sogar „anne“ („Mama“) nannten (vgl. Interview 4-2011). Michaela Beer betonte hierbei das Spielerische und die Imitation des Betens; wie es gewesen wäre, wenn aus dem Spiel Ernst geworden wäre, blieb dabei offen. Auch eine andere Mutter, Monika Weber, beschäftigte das Thema der Übernahme von als kulturell und religiös ‚anders‘ wahrgenommenen Aspekten: Ihr damals vierjähriger Sohn habe „dann […] auch mal irgendwie so was gesagt wie: Er glaubt an den Gott, wo die Frauen die
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Kopftücher aufhaben, weil er das, glaube ich, so faszinierend fand“ (Interview 18-2011). Das Tragen des Hijab sei für ihn „ganz lange Thema gewesen“ (Interview 18-2011) und daraufhin versuchte Monika Weber kindgerecht zu erklären, wieso manche Muslima ein Kopftuch tragen: „Weil die halt an den Gott glauben und der halt sozusagen gesagt hat: ‚Wenn ihr an mich glaubt, dann solltet ihr, müsst nicht, aber solltet ihr ein Kopftuch aufhaben.‘ Und deswegen machen die das.“ (Interview 18-2011). Monika Weber sah sich vor die Schwierigkeit gestellt, einen komplexen Sachverhalt kindgerecht erklären zu sollen und stellte im Nachhinein fest, sie habe das „jetzt ein bisschen einfach“ erklärt, „aber wie will man das einem Vierjährigen sagen?“ (Interview 18-2011). Monika Weber fühlte sich als Atheistin durch die langandauernde Beschäftigung ihres Sohnes mit dem Kopftuch und v. a. mit dem Islam als Religion irritiert und verunsichert: „Natürlich macht man sich Gedanken, also ich als Atheistin, [die] nicht Verständnis dafür hat, dass man jetzt irgendwelchen Glaubenssystemen anhängt.“ (Interview 18-2011). Die Frage, was gewesen wäre, wenn aus dem Interesse für den Islam ‚Ernst‘ geworden wäre, blieb hier ebenfalls unausgesprochen als bedrohliches Szenario im Raum stehen. Ohne dass sie von privaten Sozialkontakten berichtete, war auch für Kathi Rickert eine ‚Bereicherung durch Begegnung‘ zentral. Gerade um ihrer Tochter Milla zu ermöglichen, adäquat mit migrationsgesellschaftlicher Heterogenität zurecht zu kommen, hatte sie ganz bewusst die Primel-Kita in Kreuzberg ausgesucht. In der früheren Kita im Berliner Ortsteil Prenzlauer Berg, wo Kathi Rickert eigentlich wohnte, hatte es ihr zufolge „keine Ausländer“ (Interview 7-2011) gegeben. Außerdem war sie die einzige Alleinerziehende unter lauter – wie sie in ironisierender Weise sagte – „spätgebärende[n] Familien aus Schwaben“ (Interview 7-2011). Um ihrer Tochter ein anderes Kita-Umfeld zu bieten, war sie daher bereit, ihr Kind jeden Morgen aus dem angrenzenden Bezirk in die Primel-Kita zu bringen: Ich finde hier spiegelt sich das wirkliche Leben einfach viel besser wider. Merkst du, es gibt irgendwie Amerikaner, es gibt Schauspieler, es gibt Hartz IV-Empfänger, es gibt Kinder afrikanischen Ursprungs und so weiter und so fort. Es ist einfach// Es gibt Türken mit Kopftuch, es gibt Türken ohne Kopftuch, so. Es gibt einfach alle Leute hier in der Kita. Und das ist das Angenehme so, dass du eigentlich irgendwie so den Eindruck hast, hier lernt auch dein Kind irgendwie sozusagen das bunte Leben [lacht], wie es dann nachher auch sein wird, halt kennen. Und muss sich halt oder was weiß ich, darf sich halt damit auseinandersetzen als jetzt so in einer Insel irgendwie von nur „Mittelklasse-Weißbroten“ irgendwie so, weiß du? Und das finde ich total angenehm hier. (Interview 7-2011)
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Für Kathi Rickert gehörte zu einem positiven und realitätsangemessenen Kita-Umfeld eine ‚multikulturelle Vielfalt‘, in der Kinder mit unterschiedlichem sozioökonomischem, religiösem und ethno-natio-kulturell codierten Hintergrund aufeinanderträfen; sich dort also „das bunte Leben“ widerspiegele. Das Sich-Auseinandersetzen-Dürfen mit der ‚Diversität‘ in der Kita nahm Kathi Rickert als förderlich für die Lern- und Entwicklungsprozesse ihrer Tochter wahr. In jedem Fall bewertete sie es als positiver als ein homogenes Umfeld mit lauter „‚Mittelklasse-Weißbroten‘“. Letzteres versinnbildlichte Kathi Rickert mit der Metapher einer „Insel“, die impliziert, dass es dort nur wenige oder zumindest nur erschwerte Kontakte zur Außenwelt gibt. Kathi Rickert, Claire Verhoeven, Clarissa Wehr, aber auch Johanna Greif, stehen beispielhaft für die überwiegende Mehrheit der von mir befragten weiß positionierten Eltern, die die migrationsbedingte Heterogenität und teilweise auch die Inszenierung von ‚Multi-Kulturalität‘ im urbanen Raum begrüßten und sich durch diese bereichert fühlten. Die Mütter bezogen sich zwar positiv auf bestehende oder für die Zukunft des Kindes erhoffte Sozialkontakte, dabei ethnisierten bzw. rassialisierten sie die betreffenden Personen – die potenziellen zukünftigen Mitschüler*innen oder die Tagesmutter „mit Kopftuch“ – jedoch auch stark, so dass diese weitgehend auf ihre natio-ethno-kulturell codierte Herkunft reduziert wurden. Andere Merkmale, die die Mütter vielleicht auch zur Charakterisierung hätten nennen können, spielten bei ihnen nur selten eine Rolle. In den hier zitierten Aussagen und den Alltagspraktiken stand das normative Ideal einer positiv gewerteten ‚multikulturellen Vielfalt‘, die im Freizeit- und Konsumbereich von der Mehrzahl der befragten Personen geschätzt wurde, zum Teil den gelebten Alltagspraktiken mit dem eigenen Kind entgegen (vgl. Blokland/van Eijk 2010: 326–329; Butler 1996, 2003). Aus einer stadtsoziologischen Perspektive unterscheiden Hartmut Häußermann und Walther Siebel (2004) dabei zwischen räumlicher und sozialer Segregation: Erstere suggeriert eine Trennung, dennoch muss die räumliche Trennung noch lange keine soziale Trennung bedeuten. Auch umgekehrt ist aus der Mischung eines Quartiers noch nicht auf eine entsprechend intensive Kommunikation über soziale Distanzen hinweg zu schließen. (ebd.: 146)
Dabei zeichneten die Eltern eine migrationsbedingte Diversität im Kontext der Kita als unproblematisch; Kathi Rickert suchte diese sogar aktiv, um ihrer Tochter Lernanlässe zu bieten, durch die diese souverän mit dem dortigen „bunten Leben“ umgehen sollte. Erst mit Beginn der Schulzeit war zumeist ein Wandel der ursprünglich positiv gedeuteten migrationsgesellschaftlichen Diversität zu verzeichnen, wie in den Unterkapiteln 5.2 und 5.3 deutlich wird.
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5.1.2 Othering- und Rassismuserfahrungen Im Kontext der Primel-Kita empfanden auch zwei der Mütter of Color mit eigener Migrationserfahrung, die im Laufe ihres Lebens nach Kreuzberg oder Neukölln gezogen waren, die dort anzutreffende migrationsgesellschaftliche Realität als positiv. Die Bezüge zu ihrem heterogenen Wohnumfeld hatten bei ihnen allerdings eine etwas andere Bedeutung und einen anderen Hintergrund als bei den weiß positionierten Eltern. Sie berichteten, dass ihnen die migrationsgesellschaftliche Vielfalt bis zu einem gewissen Grad Schutz vor – durch die Mehrheitsgesellschaft angestoßene – Othering- und Rassismuserfahrungen biete. Eine der beiden erzählte zudem, dass es ihr das heterogene Umfeld ermöglichte, ähnlich positionierten Personen zu begegnen, sich in einen Erfahrungsaustausch mit diesen zu begeben und Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Parallelen in der eigenen (Familien-)Geschichte zu entdecken. Eine weitere Mutter of Color, die selbst keine Migrationserfahrung besaß, sondern in zweiter Generation in Berlin lebt, berichtete dagegen davon, dass sie auch im heterogenen und ‚multikulturellen‘ Kreuzberg regelmäßig Othering- und Rassismuserfahrungen mache. Vielfalt an Lebenskonzepten und -realitäten Die Mutter Anh Nguy war ein paar Jahre vor der Geburt ihres Sohnes mit ihrem Ehemann von Peking zunächst in eine Kleinstadt in Brandenburg und einige Zeit später nach Kreuzberg gezogen. Ihr Mann arbeitete an einer Universität in einem technischen Fachbereich, Anh Nguy war als Controllerin in einem Berliner Unternehmen tätig. Die Heterogenität ihres Wohnumfeldes an der Grenze zwischen Kreuzberg und Neukölln empfand sie als sehr angenehm: „Hier ist natürlich bisschen sehr bunt. Unterschiedliche Leute, nicht alle deutsch oder so. Das hat mir auch sehr gut gefallen.“ (Interview 13-2011). Einige Wochen vor dem Interviewtermin hatte ich sie beim Abholen ihres Sohnes Tihn getroffen. Sie hatte sich längere Zeit im Garten aufgehalten und sich mit den Erzieherinnen und mit mir unterhalten. Dabei erzählte sie, wie sehr sie es schätze, hier in Berlin ein individuelles und von gesellschaftlichen Erwartungen, Normen und Zwängen ein Stück weit unabhängiges Leben führen zu können (Feldtagebucheintrag, 18.05.2011). Die Freiheit und Individualität des Lebens in Kreuzberg machte Anh Nguy neben anderem daran fest, dass im direkten Umfeld der Primel-Kita, aber auch in deren räumlicher Umgebung, sehr unterschiedliche Milieus und soziale Gruppen aus ihrer Sicht friedlich und in direkter Nachbarschaft zueinander koexistierten. Demgemäß sei es ihr hier noch nicht passiert, dass sie aufgrund rassistischer
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‚Marker‘ wie ihres Aussehens oder ihres Akzentes als nicht zugehörig (zu Kreuzberg) adressiert worden sei. Trotzdem hatten sie und ihr Mann einige Zeit zuvor überlegt, an den Stadtrand Berlins zu ziehen, um ihrem Sohn Thien ein ruhigeres und naturnäheres Aufwachsen zu ermöglichen. Jedoch machte Thien in der dortigen Kita gleich während seiner Eingewöhnung erste Otheringerfahrungen: „Bei der andere[n] Kita in Lichterfelde-Ost da waren nur drei ausländische Kinder. Ich war auch mit Thien da gewesen und da [haben] alle Kinder Thien nur beobachtet und angestarrt.“ (Interview 13-2011). Letztlich musste sie feststellen, dass in Lichterfelde-Ost eigentlich alles gestimmt habe – außer eben der migrationsgesellschaftlichen Vielfalt, die Anh über die Kitazeit hinaus als sehr wichtig empfand: Wir haben damals auch eine sehr schöne Wohnung in Lichterfelde-Ost, eigentlich ein Haus fast, gefunden, aber auch sehr schön. Wir wollten umziehen, das war vor einem halbem Jahr. Und dann haben wir auch gefunden, dass das Einzugsgebiet der Schule ist nicht gut, geht auch nicht. Ich möchte auch, dass er später in eine Schule hingeht, die auch so ganz bunt ist. (Interview 13-2011)
Da Anh Nguy zufolge die zukünftige Schule von Thien ein tendenziell ungünstiges, da zu homogenes Einzugsgebiet aufwies, entschieden sich Anh Nguy und ihr Mann schlussendlich, doch weiterhin in Kreuzberg zu bleiben. Dort, so hofften sie, könnten sie eine so „bunte“ Schule für ihren Sohn finden, wie dies auch jetzt schon auf die Primel-Kita zuträfe: Mir gefällt schon hier, dass automatisch in der Kita jeder anders ist, vielleicht. Es gibt schwarze Kinder, es gibt türkische Kinder. Und war vorher auch in der [Name einer anderen Kitagruppe, Anmerkung I.D.] japanisches, asiatisches Kind. Das hat mir sehr gut gefallen. Und ja, ich mag auch das Bild auf der Straße, das gefällt mir. (Interview 13-2011)
Ihr zufolge verhinderten gerade die Vielfalt an unterschiedlichen Migrationsgeschichten in der Primel-Kita, dass ihr Sohn als ‚anders‘ wahrgenommen oder gar ausgegrenzt oder rassistisch beschimpft werde. Auch die alleinerziehende Mutter Rüzgar Altunbaş, die vor mehr als zwanzig Jahren aus einer ländlichen Region der Türkei erst nach Istanbul und später nach Kreuzberg gezogen war, erlebte die dortige Vielfalt an unterschiedlichen Lebenskonzepten und -realitäten als eine Befreiung. Sie stellte daher fest: „Also hier fühle ich mich auch sehr wohl, wohler als woanders. Auf jeden Fall.“ (Interview 12-2011). Rüzgar Altunbaş begründete dies damit, dass sie sich aufgrund
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der gelebten Vielfalt in Kreuzberg noch nie ‚anders‘ oder nicht zugehörig gefühlt habe: Ich fühle mich hier nicht als Ausländerin, oder also, mir wurde das Gefühl gegeben, überwiegend, nicht anders zu sein. Ich mag es zum Beispiel, dass man hier wirklich andere Kulturen, die ich normalerweise eventuell nicht treffen könnte, ja, auch andere Freundschaften// Und das ist einfach schön, finde ich. (Interview 12-2011)
Darüber hinaus betonte Rüzgar Altunbaş den Stellenwert bestimmter Erfahrungen oder sozialer Problemlagen, die aus ihrer Sicht alle „Menschen mit Migrationshintergrund“ teilten – und ganz besonders Frauen in Bezug auf die „Frauenfrage“ bzw. Fragen der Frauen-Emanzipation und der Gleichberechtigung von Frauen und Männern: Und ich stelle immer wieder fest, wenn ich […] andere Menschen mit Migrationshintergrund treffe, dass wir eigentlich im Gesamtkontext gleiche Probleme haben. Und egal, also, ob Deutsche, Polen oder Tschechen oder weiß ich nicht was, ja. Also vor allem wenn es um Frauenfrage geht, ja, es immer wieder festzustellen ist, dass es echt mehr oder weniger gleiche Probleme gehabt. Und das bindet mit den Menschen, verbindet die Menschen. (Interview 12-2011)
Rüzgar Altunbaş nutzte den hier angesprochenen Erfahrungsaustausch mit anderen Frauen mit „Migrationshintergrund“ verschiedener Nationalitäten, um ihre eigene Lebensgeschichte, in der sie sich erfolgreich gegen eine arrangierte Ehe zur Wehr gesetzt hatte, zu reflektieren und in Beziehung zu den Geschichten anderer Frauen zu setzen.4
4Kurz
nachdem Rüzgar Altunbaş ihr Abitur erfolgreich abgeschlossen hatte, hätten ihre Eltern für sie die Ehe mit dem Sohn einer befreundeten Familie arrangieren wollen. Den Eltern sei dies deswegen naheliegend erschienen, da Rüzgar Altunbaş schon früh großes Interesse an Männern gezeigt habe und ein zukünftige uneheliches Kind nicht ausgeschlossen schien. Mit der geplanten Eheschließung war Rüzgar Altunbaş jedoch überhaupt nicht einverstanden und widersetzte sich dieser, indem sie bei ihrem in Istanbul lebenden Bruder Zuflucht suchte. Ihr Bruder fungierte in der Folge als Vermittler zwischen Rüzgar Altunbaş und ihren Eltern. Mit Erfolg: Nach einiger Zeit sprachen sich Rüzgar Altunbaş und ihre Eltern aus und versöhnten sich. Dies änderte sich auch weder als Rüzgar Altunbaş nach Berlin zog noch als die Ehe mit ihrem albanischen Ex-Mann scheiterte. Vielmehr freuen sich die Eltern mittlerweile über die jährlichen Besuche ihrer Tochter, bei denen sie auch ihren bislang einzigen Enkel wiedersehen.
5.1 Heterogenes Wohnumfeld – heterogenes Schulumfeld?
183
In Deutschland hatte Rüzgar Altunbaş zunächst einige Jahre als Krankenpflegerin gearbeitet, bevor sie schließlich ein Studium des Gesundheitsmanagements aufnahm. Dass sie ihren eigenen Lebensweg beschritten hatte, ohne sich von ihrer Familie bevormunden zu lassen, und sich zugleich mit ihrer Familie wieder auszusöhnen in der Lage war, machte sie offensichtlich stolz und gab ihr Selbstvertrauen. Zugleich weckte dies in ihr den Wunsch und die Hoffnung, ihrem Sohn ein ‚besseres‘ Leben ermöglichen zu können – ohne die Widerstände, die sie selbst zu überwinden hatte. Dieses für sie zentrale Thema greife ich in Unterkapitel 5.3 wieder auf. Natio-ethno-kulturelle Belangungen Im Gegensatz zu Anh Nguy, Rüzgar Altunbaş und einer weiteren Mutter aus der Primel-Kita, Hava Yaşar, besaß Seyran Cetin keine eigene Migrationserfahrung. Ihre Eltern waren in den 1960er Jahren als ‚Gastarbeiter*innen‘ nach West-Berlin gekommen; sie selbst wurde in Neukölln geboren und wuchs dort auch auf. Ab der 7. Klasse besuchte sie eine Sekundarschule in Kreuzberg, wo sie bald den Großteil ihrer Freizeit mit ihren Mitschüler*innen verbrachte. Schon früh entwickelte sie daher einen engen Bezug zu dem Teilbezirk; nach der Schulzeit zog sie dann auch dorthin. Mittlerweile wohnt Seyran Cetin seit mehr als zehn Jahren in Kreuzberg, lediglich unterbrochen von einem Jahr, in dem sie – während ihres Studiums – in Istanbul lebte. Ihr enges Verhältnis zu Kreuzberg charakterisierte sie folgendermaßen: Ich liebe Kreuzberg zurzeit. Also es ist so mein Zuhause. Fühlt sich gut an. Obwohl ich nicht alle Ecken mag, aber größtenteils. Prenzl’berg finde ich auch nett, Schöneberg finde ich auch nett, aber das ist dann// Schöneberg doch, wäre noch eine Option. Aber Prenzl’berg, da fühle ich mich auch wieder so ein bisschen// Also man sucht ja auch immer so seinen geschützten Bereich, ne? Und in Kreuzberg habe ich so dieses Gefühl. (Interview 16-2011)
Seyran Cetin konnte nicht in präzise Worte fassen, was sie am Ortsteil Prenzlauer Berg störte: „Ich weiß gar nicht, wie ich das erklären soll. Schwierig zu erklären. Das muss man irgendwie sehen, spüren.“ (Interview 16-2011). Ein Großteil ihres Widerwillens gegen den Prenzlauer Berg lag in der dortigen Bewohner*innenschaft begründet: „Und die sind halt ganz witzig, denen fehlt auch manchmal dieser Blick für richtig urbane Realität hier, ja? [lacht] Die sind da in ihrer heilen Welt sozusagen.“ (Interview 16-2011). Vielmehr grenzten sich viele der Bewohner*innen gegen alles ab, was potenziell ihre „heile Welt“ stören könne: „Und dort gibt es auch so richtig Grenzen, irgendwie, also mit Grenzen meine
184
5 Schulwahlpraktiken und -diskurse
ich jetzt Prenzl’berg – Mitte – im Zweifel Türken – und danach alles, was da außerhalb ist.“ (Interview 16-2011). Auch wenn Seyran Cetin Kreuzberg als einen weitgehend „geschützten Bereich“ empfand, so fühlte sie sich im Gegensatz zu Rüzgar Altunbaş und Anh Nguy auch dort nie vollständig zugehörig. Sie berichtete von wiederholten rassistischen Otheringerfahrungen, die sie seit ihrer Sekundarschulzeit regelmäßig erlebte: „Also ich hatte so in meinem Leben ein paar Ereignisse, wo ich vielleicht auch nicht so fortlasse [lacht], weiß ich nicht.“ (Interview 16-2011). Sei es, dass eine ihrer früheren Lehrerinnen ihre gute Rechtschreibung und Ausdrucksfähigkeit vor der gesamten Klasse besonders herausgestellt hatte, obwohl sie doch nicht Deutsch sei („,Ja, Seyran, steh‘ doch mal auf! Seht ihr! Seyran ist nicht Deutsch, aber sie schreibt ja viel besser als manch’ anderer Deutscher.“ [Interview 16-2011]), dass auch Jahre später im Arbeitskontext immer wieder Kolleg*innen überrascht von ihren guten Deutschkenntnissen waren oder sich ihr Vorgesetzter über den Namen ihres Sohnes Cem mokierte und sie fragte, was das denn nur für ein seltsamer und eben nicht deutscher Name sei („‚Woa, was ist denn das?‘ so ganz plump so, ne: ‚Was ist das für ein Name? Warum denn nicht Uwe? Oder hhhh, was Deutsches?!‘“ [Interview 16-2011]). In den ersten beiden der von Seyran Cetin geschilderten Situationen wurde ihre Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft von vornherein in Frage gestellt. Seyran Cetins frühere Lehrerin erklärte sie vor ihren Mitschüler*innen für „nicht Deutsch“, situierte sie auf diese Weise auf ein Außerhalb (der deutschen Gesellschaft) und damit auf ein nicht weiter benanntes „Ausland“ (vgl. Popal 2019: 55). Auch die Arbeitskolleg*innen, die sie für ihre guten Deutschkenntnisse ‚lobten‘, implizierten, dass Seyran „nicht Deutsch“ sei und sie daher von ihr ein viel schlechteres Sprachniveau erwartet hätten. Lediglich ihr Vorgesetzter adressierte sie als Deutsche oder vielmehr als integrierte ‚Neu-Deutsche‘ und warf ihr zugleich vor, dass sie durch die Wahl des ‚türkischen‘ Vornamens das ‚Integrations‘- bzw. ‚Assimilations-Angebot‘ der deutschen Gesellschaft ausgeschlagen und sich damit wiederum selbst außerhalb derselben verortet habe. In jedem der Fälle handelt es sich um eine machtvolle Fremdverortung. Solche Verweisungen oder Platzierungen beschreibt Santina Battaglia als einen Akt der „natio-ethno-kulturellen Belangung“: Die Belangungen sind mit dieser Platzierung und ihren Implikationen „geladen“. Diese Ladung der sprachlichen Handlungen erzeugt eine Asymmetrie zwischen den Gesprächspartnern. Sie bewirkt eine charakteristische Einschränkung der Selbst-Definitionsmacht des Angesprochenen. (Battaglia 2007: 186)
5.1 Heterogenes Wohnumfeld – heterogenes Schulumfeld?
185
Santina Battaglia analysiert solche „[n]atio-ethno-kulturelle[n] Belangungen als Rassismuserfahrungen“ (ebd.: 188) und geht davon aus, dass mittlerweile auch auf wissenschaftlicher Ebene der „Herkunftsdialog und ähnliche Dialogtypen […] zu einem Element des Diskurses über Rassismus […] geworden [sind]“ (ebd.: 189). Dies ändert jedoch nichts an seiner Wirkmächtigkeit für die Betroffenen, die häufig im Rahmen eines „Frage-Antwort-Spiel[s]“ (ebd.: 183) für ihre prekäre Zugehörigkeit5 belangt werden (vgl. ebd.: 186). Dabei handelt es sich jeweils um Verweisungen auf eine Position der Nicht-Zugehörigkeit, mit der rassialisierte Subjekte außerhalb der (national) einheitlich imaginierten Gesellschaft verortet werden (vgl. Kilomba 2008: 63 f.). Die natio-ethno-kulturelle Belangung äußert sich dabei in Form wiederkehrender und subtil wirkender rassistischer Mikroaggressionen6; allein die Möglichkeit des Wiedereintretens einer erneuten Belangung bzw. Mikroaggression kann somit permanente Anspannung und Stress für die Betroffenen bedeuten. Wie Karima Popal gehe ich davon aus, dass ein direkter Verweis bzw. eine direkte Platzierung, wie sie sich bei Seyran Cetin zeigte, „unter Umständen ein noch gewalt-/machtvollerer Akt der natio-ethno-kulturellen Belangung“ (Popal 2019: 55) darstellt als dies beim „Sprachspiel ‚Herkunftsdialog‘“ (Battaglia 2007: 183) der Fall ist. Denn die Möglichkeiten und Spielräume, sich dieser wirkmächtigen (Fremd-)Kategorisierung zu entziehen, sich ihr zu verweigern und sie damit von sich zu weisen, sind bei einer direkten Platzierung stärker eingeschränkt als beim sogenannten Herkunftsdialog. Demgegenüber besteht beim „Herkunftsdialog“ die Schwierigkeit v. a. darin, die Frage nach der ‚eigentlichen‘ bzw. ‚ursprünglichen‘ Herkunft auf eine situationsangemessene Weise zu interpretieren (vgl. Popal 2016: 240). Denn die Frage, wie diese Frage gemeint ist, wird
5In Anlehnung
an Paul Mecheril verstehe ich unter prekärer Zugehörigkeit – in Abgrenzung zu einer fraglosen Zugehörigkeit – eine Fremdzuschreibung und -verortung, die dem eigenen Selbstverständnis entgegensteht (vgl. Mecheril 2003: 144). 6Racial microaggressions bzw. rassistische Mikroaggressionen können verstanden werden als „brief and commonplace daily verbal, behavioral, or environmental indignities, whether intentional or unintentional, that communicate hostile, derogatory, or negative racial slights and insults to the target person or group.“ (Sue u. a. 2007; Sue 2010; Solorzano 1998). Den Ansatz der rassistischen Mikroaggressionen machen derzeit Lili Rebstock in ihrem Promotionsprojekt zu Rassismuserfahrungen von Jugendlichen (vgl. Rebstock 2019) sowie Toan Quoc Nguyen in seinem Dissertationsvorhaben zu Rassismus im Kontext von Grundschulen (vgl. Nguyen 2013a, 2013b) für den deutschsprachigen Raum produktiv.
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5 Schulwahlpraktiken und -diskurse
in der Regel zusätzlich dadurch erschwert, dass sie von Fragenden als vermeintliches Interesse an der Person oder […] als Zeichen für ‚Weltoffenheit‘ deklariert wird. So kann jeglicher Widerstand oder Zurückweisung dieser rassistischen Markierung als Kränkung von der fragenden Person (um-)gedeutet werden. (ebd.: 240 f.)
Obwohl also gerade beim „Herkunftsdialog“ die Intention der Fragenden zwangsläufig offen bleibt und die Fragen aus diesem Grund stark verunsichern können, fragte sich auch Seyran Cetin in Bezug auf ihre direkte Platzierung – nicht nur im Moment des Geschehens, sondern auch im Nachhinein – beständig, wie sie das Gehörte richtig einordnen sollte: „Ich weiß es nicht. Ich kann das nicht deuten. Aber man denkt dann so darüber nach, ne? So, später: ‚Wie meinen die das denn eigentlich?‘ Also man denkt darüber nach, ja.“ (Interview 16-2011). Auch wenn sie davor zurückschreckte, die geschilderten Situationen als rassistische Belangung zu verstehen oder zu benennen, fühlte sie sich diesbezüglich doch verunsichert und unwohl. Sie kam daher im Hinblick auf ihre Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft im Gesamten und zu Kreuzberg im Besonderen zu dem für sie ernüchternden Schluss: Habe auch manchmal das Gefühl: „Jaja, warum kannst du denn nicht sagen, dass du Deutsch bist? Du bist doch deutsch, du bist doch hier geboren!“ Ja, aber ich habe nie, nie das Gefühl gehabt, hier zugehörig zu sein, vollkommen, wie du vielleicht, von Anfang an. Das, was du dann und was ich alles erlebt habe// Also, das ist dieses Nicht-Verstehen irgendwie und: „Naja, warum? Ihr seid doch hier akzeptiert. Arbeitet hier, kriegt, ja, alle Sozialleistungen und//“ Ne? Und dann denkst du: „Uahh!“ Also ja, und das sind so// Schwierig, das zu fassen, ja. Und ich weiß, dass Cem damit wahrscheinlich auch konfrontiert werden wird. (Interview 16-2011)7
7In
dieser konkreten Situation war ich mir nicht sicher, ob mich Seyran Cetin als eine im bundesdeutschen Kontext rassismusunerfahrene Person adressierte. Ich ließ es zu zu passieren, da ich Seyran Cetin nicht in ihrer Erzählung unterbrechen wollte und positionierte mich später im Interview an einer (für mich) passenderen Stelle. Als passing verstehe ich hier das Durchbrechen bzw. den Wechsel von Repräsentationsregimen rassialisierter Differenzlinien: „Passing bedeutet, als jemand anderes zu passieren, als jemand anderes wahrgenommen zu werden oder auch irgendwo durchzukommen, an Grenzen, bei Auswahlverfahren etc.“ (Ahmed 2005: 270). Mit Aischa Ahmed übersetze ich den Begriff passing/to pass mit passieren, um die Prozesshaftigkeit der damit verbundenen Wahrnehmungsmuster deutlich zu machen und zugleich zu betonen, dass durch die Entscheidung, als weiß durchzugehen, etwas passiert (vgl. ebd.: 281).
5.2 Schulwahl und ‚Bildungsnähe‘
187
Seyran Cetin erfuhr die von ihr geschilderten Erlebnisse als wiederholte Zurückweisung und Vorenthaltung von Zugehörigkeit und Anerkennung. Auch ein so heterogenes Umfeld wie der Kreuzberger Kiez, in dem sie aktuell lebte, schützte sie nicht vor alltäglich erlebten rassistischen Belangungen und Mikroagressionen. Schließlich ist Kreuzberg Teil der gesamtgesellschaftlichen rassistischen Verhältnisse und liegt – trotz seiner Heterogenität – nicht außerhalb dieser Verhältnisse. Aus den bereits erfahrenen und potenziell für die Zukunft befürchteten Verletzungen resultierte für Seyran Cetin daher der Wunsch – ähnlich wie bei Rüzgar Altunbaş – Rassismus- und Otheringerfahrungen von ihrem Sohn im Schulkontext fern zu halten, auch wenn sie bereits jetzt davon ausging, er werde mit Sicherheit in Zukunft ähnliche Erfahrungen wie sie machen.
5.2 Schulwahl und ‚Bildungsnähe‘ In Bezug auf das Erleben des Wohnumfeldes war bei den Eltern der Primel-Kita eine relativ klare Zweiteilung der Erfahrungen zu verzeichnen: Der wahrgenommenen migrationsgesellschaftlichen Bereicherung auf der einen stand der (weitgehende) Schutz vor Rassismuserfahrungen auf der anderen Seite gegenüber. Ambivalenter und zugleich auch ähnlicher wurde die Wahrnehmung des Kiezes bei vielen der – hinsichtlich ihrer Klassenzugehörigkeit ähnlich, hinsichtlich Rassismus unterschiedlich positionierten – Familien mit der Geburt eines Kindes und dessen Aufwachsen in einem großstädtischen Kontext wie Berlin. Die „Gouvernementalisierung von […] Erziehung“, die vor allem (aber nicht ausschließlich) von Müttern eine „permanente Beobachtung und Führung der kindlichen Entwicklungsschritte“ (Schmidt/Götz 2010: 167, Hervorheb. i. Orig.) fordert, zeigte sich hierbei in dem Versuch, strukturierend auf den Lebenslauf des eigenen Kindes einzuwirken: Während viele Eltern die Kreuzberger Primel-Kita bewusst gewählt hatten, da sie neben ihrem heterogenen Wohnumfeld auch die wahrgenommene Heterogenität der Primel-Kita schätzten, änderte sich dies mit dem anstehenden Schulbesuch des Kindes. Anders als in Bezug auf das Wohnumfeld, erachteten sie ebenso wie auch andere Eltern aus Kreuzberg und Neukölln nunmehr ein (zu) heterogenes Schulumfeld verstärkt als problematisch und machten sich häufig auf die Suche nach Alternativen zur problematisierten Grundschule im Einzugsgebiet. Ihr Umgang mit dem Thema Schule kann damit als ein „regime of living“ (Collier/Lakoff 2005: 23) bezeichnet werden, als
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5 Schulwahlpraktiken und -diskurse
tentative and situated configuration of normative, technical, and political elements that are brought into alignment in situations that present ethical problems – that is, situations in which the question of how to live is at stake. (ebd.)
Die hier angesprochenen Eltern, die sich vor das moralische Dilemmata gestellt sahen, eine passende Schule für ihr Kind zu finden, reflektierten dabei als – zumeist – Akademiker*innen sich selbst und ihre Handlungen stark an ethisch-moralischen Grundsätzen – an „regimes of living“ (ebd.).
5.2.1 Stellenwert von Schulwahl Ein Jahr nach Abschluss meiner Feldforschungsphase in der Primel-Kita traf ich bei deren Sommerfest viele Eltern wieder, deren Kind die Einrichtung besuchte oder besucht hatte. Während der Forschung in der Primel-Kita hatte ich v. a. zu Müttern Kontakte geknüpft, da diese – aufgrund zumeist eher traditionell geregelter Care-Verhältnisse – in der Kita engagierter als ihre (in der Regel männlich positionierten) Partner waren und sich daher dort länger und entspannter aufhielten (vgl. Unterkapitel 2.8). Beim Sommerfest fanden sich dementsprechend mit den Müttern, mit denen ich schon während der Forschung viele Gespräche und die Interviews geführt hatte, die meisten Anknüpfungspunkte für weitere Nachfragen. Während die meisten der Mütter mir nicht viel Neues aus dem Kita-Alltag zu berichten wussten, kamen sie entweder von selbst auf den anstehenden Schulbesuch ihres Kindes zu sprechen oder es reichte eine kurze Bezugnahme meinerseits darauf, um einen ausführlichen Bericht über die zugewiesene oder die präferierte Grundschule zu erhalten. Die Erzählungen reichten von Klagen über die Grundschule im zugeordneten Einzugsgebiet, deren Ruf so miserabel sei, dass es absolut notwendig werde, eine andere – öffentliche oder auch private – Schule zu finden, über das Bangen, ob der Antrag beim Schulamt auf Umschulung genehmigt werde bis hin zur Erleichterung, dass die Wohnung oder auch die Meldeadresse in einer bestimmten Straße es bedingt habe, einer „guten Grundschule“ zugeordnet zu sein. Dabei sprachen die Mütter (und Väter) ganz selbstverständlich und offen mit mir als interessierter Forscherin über ihre intensiven und verzweifelten – teilweise halblegalen – Tricks und Strategien beim Zugang zur Wunschschule (vgl. dazu auch Noreisch 2007b). Zudem schien für sie klar zu sein, welche Schulen ‚gut‘ und welche ‚schlecht‘ waren: „Problemschulen“ oder „Brennpunktschulen“ mit einer ‚ungünstigen‘ Schüler*innenkomposition, so der Tenor, gelte es unbedingt zu vermeiden.
5.2 Schulwahl und ‚Bildungsnähe‘
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Das offene Sprechen über ‚gute‘ und ‚schlechte‘ Schulen – häufig ohne konkret zu begründen, weshalb sie eine Schule als ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ wahrnahmen – zeigt aus meiner Sicht, dass der Diskurs um ‚Problemschulen‘ bzw. ‚Brennpunktschulen‘ und deren vermeintlich mangelnder Schulqualität für die Mehrzahl dieser Eltern völlig legitim zu sein schien. Die für mich überraschende Offenheit bezüglich der Schulwahlpraktiken lässt sich darüber hinaus damit erklären, dass diese Eltern sich intensiv mit der Berliner Schullandschaft auseinandergesetzt hatten; das Thema der ‚richtigen‘ und ‚passenden‘ Schule für ihr Kind war für sie existenziell wichtig und erkennbar nicht zum ersten Mal Gegenstand ausführlicher Reflexionen, Erörterungen und Erklärungen. Dies machte ich daran fest, dass die Eltern „runde“ Geschichten erzählten, die durch den sofortigen Einstieg ins Thema und flüssiges Sprechen gekennzeichnet waren. Aus der Perspektive einer kulturanthropologischen Erzähl- und Biografieforschung verweisen die Darstellungen der Eltern auf das, was Brigitta Schmidt-Lauber als „Selektivität der Erinnerung“ (Schmidt-Lauber 2005: 153) analysiert. Sie geht davon aus, dass sich die Erinnerung „an herausgehobene lebensgeschichtliche Ereignisse und Beziehungen, an Krisen, Erfahrungen von Glück oder von Brüchen im Leben [knüpft], nicht jedoch an Alltagsphänomene, die sich stetig wiederholen, routiniert und habitualisiert ablaufen“ (ebd.). Was Brigitta Schmidt-Lauber als „Grenzen des Erzählbaren“ (ebd.: 51) fasst, geht zurück auf die von Albrecht Lehmann beschriebenen Grenzen des Gedächtnisses, wobei ihm zufolge das Gedächtnis dadurch gekennzeichnet ist, sich „vor allem herausgehobene, zur Konstruktion einer erzählenswerten Geschichte geeignete Geschehnisse [zu merken]“ (Lehmann 2001: 239). Die Erzählungen der Eltern beim Sommerfest der Primel-Kita rekurrierten auf solche „herausgehobenen Geschehnisse“ und nicht auf habitualisierte, selbstverständliche Alltagsphänomene (vgl. Schmidt-Lauber 2005: 153). Bezüglich des gefühlten Stellenwerts der Schulwahl kommen auch Stephen J. Ball und Carol Vincent – vor dem Hintergrund freier Schulwahl in Großbritannien – zu dem Schluss, dass „for many parents, choice of school is very much a kind of crisis“ (Ball/Vincent 1998: 378). Den Befund einer existentiellen Krise als einem herausgehobenen lebensgeschichtlichen Ereignis stützten meine Beobachtungen beim Sommerfest der Primel-Kita; bestätigt wurde dieser Befund durch weitere Gespräche und Interviews mit diesen sowie mit anderen ‚bildungsprivilegierten‘ Eltern. Es lässt sich also feststellen, dass auch in Berlin, wo freie Schulwahl aufgrund der existierenden Sprengelregelung eigentlich nicht – bzw. im Bezirk Mitte nur sehr eingeschränkt – vorgesehen ist, die Entscheidung für die zugeordnete Einzugsgebietsschule offenbar keine unhinterfragte Selbstverständlichkeit darstellt.
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5 Schulwahlpraktiken und -diskurse
5.2.2 Ressourcen: Zeit, Geld, Wissen Die Mehrzahl der Eltern der Primel-Kita war bereit, viel Zeit und Energie zu investieren, um ihr Kind an der von ihnen präferierten Grundschule anmelden zu können. Einige der Mütter spielten mehr oder weniger ernsthaft mit dem Gedanken, ihr Kind an einer Schule in privater Trägerschaft oder an einer der staatlichen bilingualen Schulen, die vom Berliner Senat eingerichtet wurde, anzumelden. Daneben standen v. a. Anträge auf Umschulung beim zuständigen Schulamt bei den Eltern hoch im Kurs. Femke Sparacio hatte erfolgreich beantragt, ihre Tochter an derselben Schule außerhalb ihres Einzugsgebiets anzumelden, an der zwei Jahre zuvor der erste Sohn mittels einer Gruppenanmeldung angenommen worden war (vgl. Feldtagebucheintrag, 16.06.2012). Um einen solchen Schritt erfolgreich anzugehen, brauchte Femke Sparacio aber nicht allein Geduld, da ihr erster Antrag zunächst abgelehnt wurde, sondern auch das notwendige Wissen, erst den Antrag und später den Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid zu verfassen (vgl. Baur 2013: 52). Michaela Beer hatte vor dem Schuleintritt ihres Sohnes den Wohnsitz in das Einzugsgebiet ihrer Wunschschule verlegt. Sie nahm einen Umzug in einen anderen Bezirk in Kauf, um damit einer anderen Schule zugeordnet zu werden, wie ich im folgenden Abschnitt genauer darstelle. Daneben gab es auch Eltern, die fingierte Adressen im Einzugsgebiet der Wunschschule nahmen oder zusätzliche kleine Wohnungen neben ihrer regulären Wohnung anmieteten. Beide Optionen bezeichneten zwei Mütter, Seyran Cetin und Monika Weber, in informellen Gesprächen als Praxis eines „sich Einwohnens“ (Feldtagebucheintrag, 07.06.2011; 10.06.2011). Die Mütter Anh Nguy und Rüzgar Altunbaş, die mittels eines fingierten Wohnsitzwechsels innerhalb Kreuzbergs zugleich den Schulsprengel gewechselt hatten, deuteten im Interview ihren ‚Umzug‘ lediglich vage an und behielten ansonsten über diesen nicht ganz legalen Schritt stillschweigen. Eine durchaus nachvollziehbare Entscheidung angesichts der beständig drohenden Gefahr für diese Eltern, mit ihrer falschen Meldeadresse „aufzufliegen“. Bekannten von Jörg Bachmann war dies passiert; ihren fingierten Umzug bekam das zuständige Schulamt mit. Daraufhin kündigte es ihnen an, in Zukunft jeden ihrer weiteren Schritte genau und kritisch verfolgen zu werden (vgl. Feldtagebucheintrag, 16.06.2012). Die Mutter Claudia Michels sprach dagegen ganz offen davon, dass ihr Mann und sie vor der Einschulung des Sohnes eine kleine Wohnung in Schöneberg gemietet hatten, wodurch sie ihre offizielle Meldeadresse in das Einzugsgebiet einer staatlichen Grundschule eines anderen Bezirks verlegt hatten. Bei ihnen
5.2 Schulwahl und ‚Bildungsnähe‘
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handelte es sich nicht um einen fingierten Umzug, sondern um die legale und zugleich weitaus kostenintensivere Variante einer Zweitwohnung. Die finanzielle Mehrbelastung durch zwei Wohnungen konnten sie und ihr Mann, ein in einer Privatpraxis gutverdienender Arzt, sich problemlos leisten. Seyran Cetin, die mit Claudia Michels auch privat näheren Kontakt pflegte, verteidigte die Entscheidung, eine Zweitwohnung im gewünschten Einzugsgebiet zu nehmen: Claudia? Hat nicht den legalen Weg genommen. Und ich sage mal, wenn man das nötige Geld hat, sich da einmieten kann und vielleicht auch eventuell eine kleinere Wohnung mieten kann und// Einige haben diese Möglichkeit und machen es auch, was ich vollkommen richtig finde, also das ist// Die kann nicht ihr Kind zum Opfer der fehlgeschlagenen Politik hier in Berlin machen. (Interview 16-2011).
Was genau an der Berliner Bildungspolitik fehlgeschlagen sei, konkretisierte Seyran Cetin nicht. Jedoch klang bei Seyran Cetin an, dass sich Claudia Michels mit dem Unterlaufen der Einzugsgebietsregelung dieser „falschen Politik“ lediglich widersetzt, sie also quasi aus Notwehr gehandelt habe. Auch Seyran Cetin hätte die Option einer Zweitwohnung gerne realisiert; ihrer Familie standen jedoch nicht die dafür notwendigen finanziellen Ressourcen zur Verfügung. Die Mehrzahl der anderen Mütter verurteilte es dagegen, eigens eine Zweitwohnung anzumieten und markierte diesen Schritt als ein absolutes „no-go“. Darüber hinaus betonten sie, nur wenig mit Claudia Michels gemeinsam zu haben; sie nahmen sie offenbar als sich elitär dünkend wahr. Monika Weber bezeichnete bspw. Claudia Michels als „snobistisch“ und daher „anstrengend“ (vgl. Interview 18-2011) und Michaela Beer sprach mit Bezug auf Claudia Michels von unterschiedlich verteilten Sympathien zu den einzelnen Eltern (Interview 4-2011). Doch warum lehnten sie es so vehement ab, eine Zweitwohnung im Einzugsgebiet der Wunschschule zu nehmen? Vielleicht hätten sie diese Option ja eigentlich auch gerne gewählt, waren aber ähnlich wie Seyran Cetin dazu aus finanziellen Gründen nicht in der Lage. In diesem Fall verwiese die vehemente Ablehnung und Verurteilung dieses Schrittes vielmehr darauf, dass es sich bei einer Zweitwohnung im gewünschten Schuleinzugsgebiet um etwas Unerreichbares und zugleich uneingestanden selbst Begehrtes handelte. Auch wenn nicht allen Familien aus der Primel-Kita die finanziellen Möglichkeiten für eine Zweitwohnung zur Verfügung standen, so besaßen sie doch für andere Maßnahmen die notwendigen „zeitliche[n], kulturelle[n] und materielle[n] Ressourcen für den Zugang zur Wunschschule“ (ebd.). In Bezug auf Schulwahl in Großbritannien spricht dabei Geoffrey Walford – in Anlehnung an Howard Glennerster (1991) von einem „quasi-market“, in dem sich bestimmte,
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5 Schulwahlpraktiken und -diskurse
soziostrukturell privilegierte Eltern bewegten (vgl. Walford 1996a: 8). Er konstatiert: „Local small-scale studies have shown that certain parents ‚play the market‘ and expend a great deal of energy ensuring that their child is accepted into what they perceive to be the ‚best‘ school“ (Walford 2006: 105). Ihm zufolge bewegten sich in diesem „quasi-market“ diejenigen Eltern am erfolgreichsten, die besser informiert seien und ein stärkeres Interesse an der Schullandschaft zeigten (vgl. Walford 1996b: 105). Fast alle der Eltern aus der Primel-Kita sowie auch viele andere Eltern, mit denen ich sprach, zeigten ein ausgeprägtes Interesse an der Frage, auf welche zukünftige Schule ihr Kind gehen würde und wie sie Zugang zu ihrer Wunschschule finden könnten. Sie verfügten über ein umfangreiches Wissen darüber, wie sie sich in diesem „quasi-market“ zu bewegen hatten sowie auch über die notwendigen zeitlichen und finanziellen Ressourcen dazu. Mit Geoffrey Walford lässt sich daher feststellen, dass – auch in Berlin, wo eigentlich feste Schulsprengel existieren – im Prozess der Schulwahl „local knowledge, interest in education, and degree of motivation of parents and children“ (Walford 2008: 104) zu entscheidenden Faktoren für den erfolgreichen Zugang zur Wunschschule geworden sind.
5.2.3 Bildungsferne vs. Bildungsinteresse als unscharfe Zuordnungen Das Interesse an und das Wissen über die Schullandschaft ebenso wie die notwendigen Ressourcen und Kapitalien sind also entscheidend dafür, sich erfolgreich in einem „quasi-market“ zu bewegen. Damit hängt die Möglichkeit, das eigene Kind außerhalb des Einzugsgebiets einzuschulen, maßgeblich vom Vorhandensein zeitlicher, materieller und kultureller Ressourcen (vgl. Baur 2013: 52) – als dem primären Herkunftseffekt8 – ab. Über diese Ressourcen und Kapitalien zu verfügen, stellt aus meiner Sicht jedoch keine Grundbedingung für ein ‚Bildungsinteresse‘ oder eine ‚Bildungsnähe‘ dar. Schließlich beschränkt sich das Interesse
8Der
Theorie der Herkunftseffekte von Raymond Boudon (1974) zufolge gilt der Einfluss und die Bedeutung der s ozio-ökonomischen Ressourcen des Elternhauses für die schulischen Erfolge des Kindes als primärer Herkunftseffekt und die aus der sozio-ökonomischen Lage resultierenden ,Bildungsinvestitionen‘ als sekundärer Herkunftseffekt (vgl. Relikowski/Bohl/ Blossfeld 2010: 143), wodurch „Nutzen und Kosten alternativer Bildungswege […] klassenspezifisch [variieren] und somit auch die Bildungsentscheidungen“ (ebd.).
5.2 Schulwahl und ‚Bildungsnähe‘
193
an „guter Bildung“ bzw. an einer „guten Schule“ für das eigene Kind nicht zwangsläufig nur auf soziostrukturell privilegierte Eltern. Dementsprechend unscharf definiert sind die Zuordnungen ‚bildungsfern‘ und ‚bildungsnah‘ (vgl. Karakayalı/zur Nieden 2013: 70). Trotzdem wird die Kategorie ‚Bildungsnähe‘, ‚Bildungsbewusstsein‘ oder eben auch ‚Bildungsinteresse‘ in einer Vielzahl an Studien „in einer Art Zirkelschluss daraus abgeleitet, dass [die betreffenden] Eltern eine bewusste Schulwahl getroffen haben, statt ihre Kinder an der Einzugsgebietsschule anzumelden“ (dies. 2014: 79). Parallel dazu wird aus einem Mangel an Ressourcen und Kapitalien eine ‚Bildungsferne‘ abgeleitet. Da „statistisch gesehen […] gerade Menschen mit türkischem Migrationshintergrund nach wie vor sozioökonomisch deutlich schlechter gestellt [sind] als der Durchschnitt, was sich in vergleichsweise niedrigen Löhnen und hoher Arbeitslosigkeit niederschlägt“ (dies. 2013: 64), trifft diese wie auch insgesamt sozioökonomisch benachteiligte Familien in der Folge überproportional häufig die Zuschreibung als ‚bildungsfern‘. In der Konsequenz bleibt unklar, inwiefern nicht auch die Entscheidung für die Einzugsgebietsschule – als sekundärem Herkunftseffekt – im weiteren Sinne eine wohlüberlegte Entscheidung und damit eine bewusste Schulwahl darstellen kann. Wie Juliane Karakayalı und Birgit zur Nieden feststellen, existieren bislang keine Studien, die danach fragen, aus welchen Motiven Eltern „ihre Kinder auf Schulen mit hohem Migrant_innenanteil schicken“ (ebd.: 68). Die beiden Soziolog*innen betonen, wie hochgradig problematisch dies ist, „da damit das Phänomen der Elternwahl nur einseitig beforscht wird.“ (ebd., vgl. dies. 2014: 79). Auch ich habe mit der vorliegenden Studie nicht dazu beitragen können, dieses Desiderat zu verringern, da ich ausschließlich mit Eltern gesprochen habe, die einen anderen als den vorhergesehenen Schulsprengel wählten oder die ihre Kinder zwar an der Schule im Einzugsgebiet anmeldeten, allerdings meist erst nach langem Zögern und nur mit dem Rückhalt einer Gruppe von Gleichgesinnten (vgl. Kapitel 6). Nichtsdestotrotz ist es mir ein Anliegen, die Unterscheidung in vermeintlich ‚bildungsnahe‘ Eltern, die Schulwahl im engeren Sinne praktizieren, und vermeintlich ‚bildungsferne‘ Eltern, die dies vermeintlich nicht tun, in der vorliegenden Studie möglichst nicht weiter zu reproduzieren.
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5 Schulwahlpraktiken und -diskurse
5.3 Schulleistung und Sprache 5.3.1 „Kennst du nicht die Statistik?“9 Michaela Beer, deren Kinder die Primel-Kita besuchten, verlegte ein Jahr vor der Einschulung ihres ältesten Sohnes ihren Wohnort von Neukölln nach Kreuzberg in das Einzugsgebiet ihrer Wunschschule.10 Sie verglich im Interview die Gruppenzusammensetzung der Primel-Kita, die ihre beiden Kinder besucht hatten, mit der von ihr wahrgenommenen Situation mancher Berliner Grundschulen: „Und […] man sieht es ja in der Kita: Wenn die Mischung ausbalanciert ist, macht es Spaß und dann stimmt das. Aber wenn dann irgendwie 85 Prozent N icht-Deutschsprachige sind, dann stimmt’s irgendwie nicht mehr, dann funktioniert’s auch nicht mehr.“ (Interview 4-2011). Beim Vergleich des Schulprofils der Wunschschule mit dem der vorgesehenen Schule im Einzugsgebiet zeigte sich: „Und die hat halt irgendwie […], glaube ich, 60 Prozent Nicht-Deutschsprachige, was sehr wenig ist, weil die meisten haben wirklich so 80 [Prozent], unsere hatte gar keins [deutschsprachiges Kind, Anmerkung I.D.] mehr, wo wir hätten hin müssen.“ (Interview 4-2011). In Michaela Beers Augen erwies sich der Anteil der „ Nicht-Deutschsprachigen“ als relevanter Indikator für die Schulqualität. Als einzig denkbare Möglichkeit erschien ihr, durch Umzug einer anderen Schule zugeordnet zu werden, um so eine für sie stimmigere Zusammensetzung der Schulklasse gewährleistet zu sehen. Michaela Beer bezog sich hier auf die offizielle Klassifizierung nach „Herkunftssprachen“ durch die Berliner Senatsbildungsverwaltung. Letztere stellt auf ihren Internetseiten Informationen über die soziostrukturelle Zusammensetzung der Schüler*innenschaft an Einzelschulen öffentlich zur Verfügung (vgl. Senatsverwaltung o. J.c). Studien des „Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration“ (SVR) zu den Zugriffszahlen auf die jeweiligen Schulprofile ergaben, dass soziostrukturelle Daten – „Staatsangehörigkeit“, „Nichtdeutsche Herkunftssprache“, „Wohnorte“ und „Fehlzeiten“ – das am häufigsten abgerufene
9Interview
1-2012. des gemeinsam mit Jens-Oliver Krüger und Anna Roch verfassten Artikels „Mehrsprachigkeit als Argument? Die Verhandlung von Sprachbezügen im elterlichen Diskurs zur Grundschulwahl in Berlin“ sind in diesen Abschnitt der vorliegenden Studie eingeflossen (vgl. Krüger/Roch/Dean 2016). 10Teile
5.3 Schulleistung und Sprache
195
Schulmerkmal darstellen (vgl. SVR 2012: 13, 2013: 24).11 Die hohen Zugriffszahlen auf soziostrukturelle Daten lassen zwar keine direkten Rückschlüsse auf die Bedeutung des Anteils an Kinder „nichtdeutscher Herkunftssprache“ oder Nationalität als Schulwahlkriterium zu, die Vermutung liegt aber nahe, dass sich einige dieser Eltern weniger für das pädagogische Konzept der Schulen interessieren als für die Zusammensetzung der Schüler*innenschaft (vgl. Krüger/ Roch/Dean 2016: 692). Der SVR kommt daher zu dem Schluss, dass Eltern oft kein Wissen über „die tatsächliche Qualität einer Schule“ (SVR 2012: 12)haben und daher „ein Teil der Eltern den Zuwandereranteil einer Schule als Indiz für das Lernumfeld und das Leistungsniveau“ (ebd.) interpretiert. Auch andere Eltern problematisierten die Zusammensetzung der Schulklassen und verknüpften diese mit Ängsten davor, dass, wie Michaela Beer es nannte, „Nicht-Deutschsprachige“ in der Mehrzahl seien. Dazu griffen sie zum Teil die Kategorie der Herkunftssprache auf und brachten diese als Indikator für die Schulqualität ins Spiel. Zum Teil übernahmen sie in ihrer Argumentation direkt den Code „ndH“ der Berliner Senatsbildungsverwaltung und verbanden ihn mit einem defizitorientierten Blick auf Andere Sprachen (vgl. Unterkapitel 3.1). Diese Eltern artikulierten den Wunsch, „Brennpunktschulen“ respektive „Problemschulen“ zu meiden, deren Schüler*innenschaft sie einen hohen Anteil an Schüler*innen mit „ndH“ zuschrieben (vgl. Krüger/Roch/Dean 2016: 698 f.). Die Mutter Monika Weber aus Berlin-Neukölln bspw. meldete ihren Sohn zusammen mit einer Gruppe anderer Eltern an einer Schule außerhalb des Einzugsgebiets an, die einen überaus schlechten Ruf genoss (vgl. Kapitel 6). Auf meine Frage, woran sich dieser schlechte Ruf festgemacht habe, entspann sich folgender Wortwechsel zwischen uns: M: Migrationshintergrund. () Also es/ (). I: Hoher Anteil an den sogenannten Kindern nichtdeutscher Herkunftssprache? M: Genau. En De Ha [lacht]. Jaja, also das ist auch//das spiegelt sich natürlich auch in der Schule wider.
Monika Weber griff den von mir als der Interviewenden ins Spiel gebrachten Code „ndH“ als „En De Ha“ sofort auf. Der Anteil an den Kindern „nichtdeutscher Herkunftssprache“ codiert die Rede von einem
11Kein
Bestandteil der Schulportraits ist dagegen das Merkmal „Lernmittelbefreiung“ („LmB“), das diejenigen Familien kennzeichnet, die öffentliche Sozialleistungen beziehen und dadurch von der Zahlung des Eigenanteils an Lernmitteln befreit sind (vgl. Senatsverwaltung o. J.c).
196
5 Schulwahlpraktiken und -diskurse
„ Migrationshintergrund“, der wiederum für den schlechten Ruf der angewählten Schule verantwortlich gemacht wird. Obwohl dieser Ruf im Kontext von Monika Webers Grundschulwahl eine wichtige Rolle spielte, äußerte sie sich im weiteren Interviewverlauf kritisch zur Einteilung von Kindern entlang statistischer Daten, da aus ihrer Sicht viel eher einzelfallbezogen entschieden werden müsse. Das ändert allerdings nichts daran, dass sich Monika Weber retrospektiv mit ihrer Grundschulwahl und dem „Deal“, den ihre Elterngruppe mit dem Schuldirektor vereinbarte sehr zufrieden zeigte (vgl. Unterkapitel 7.1). Den Nexus zwischen „schlechtem Ruf“ und „En De Ha“ hinterfragte sie nicht (vgl. ebd.: 700). Demgegenüber berichtete der Vater Timo Brandt, ein Schulsozialarbeiter, der bestrebt war, einen differenzierenden Blick auf die Berliner Schullandschaft zu werfen, v. a. von Erfahrungen mit anderen Eltern. Er wohnte mit seiner Familie in einem an Berlin-Neukölln angrenzenden Ortsteil Kreuzbergs. Als seine ältere Tochter schulpflichtig wurde, hatten sich seine Frau und er ebenfalls mit anderen gleichgesinnten Familien dazu entschieden, ihre Kinder auf eine nahegelegene Grundschule zu schicken – trotz deren schlechten Rufs. Die Wahl dieser Schule stieß bei vielen Eltern aus Timo Brandts Umfeld auf großes Unverständnis, die „immer so ganz aufgeregt wegen Schule waren. Und wir waren eher so ein bisschen: ‚Ja, kucken wir mal.‘“ (Interview 1-2012). Sobald er den Namen der zugewiesenen Einzugsgebietsschule nannte, an der seine Tochter letztlich eingeschult wurde, haben die immer so einen ganz großen bedauernden Blick gekriegt. Und in meiner Wahrnehmung, das war auch so ungefähr zeitgleich zu dieser Sarrazin-Debatte, in meiner Wahrnehmung war das sehr rassistisch aufgeladen, teilweise, weil es immer, fast immer um diese sogenannte Statistik ging. (Interview 1-2012)
Auffällig sei gewesen, dass nicht genau benannt wurde, um welche „Statistik“ es sich handelte, „aber es wurde gesagt: ‚Kennst du nicht die Statistik?‘“ (Interview 1-2012). Die Rede von der „Statistik“ bezog sich auch hier wiederum auf die von der Berliner Senatsbildungsverwaltung bereitgestellten Statistiken des „ndH“-Anteils an Schulen. In diesen Spielplatzgesprächen war es für Timo Brandt „anstrengend“, dass die anderen Eltern um ihn herum ihre Vorbehalte nicht offen äußerten. Ihre „unterschwellige[n] Rassismen“ (Interview 1-2012) brachten ihn oft an eine emotional-affektive Grenze. Er hatte daher eine eigene Strategie entwickelt, auf diese Aussagen zu reagieren: Um auf die rassistischen Implikationen des Verweises auf die „Statistik“ der Schulprofile hinzuweisen, in denen der Anteil der Kinder „nichtdeutscher Herkunftssprache“ und deren Staatsangehörigkeit
5.3 Schulleistung und Sprache
197
aufgeführt ist, stellte er sich unwissend und naiv und zwang so die anderen Eltern, sich zu präzisieren: Und ich wusste schon, worauf die Leute anspielen, aber ich hatte halt keinen Bock darauf einzusteigen, hab dann halt gesagt: „Nö, was für eine Statistik?“. „Ja äh, du weißt doch, also so Migrant()innen12 und so Nicht-Migranten“ blablabla. Und dann habe ich gesagt: „Ja, und?“. „Ja, ich hab, ich habe ja jetzt nichts gegen//“ ne? (Interview 1-2012)
An diesem an mich kolportierten Spielplatzgespräch klingt an, dass einige Eltern aus Timo Brandts Umfeld die statistische Erfassung der Staatsangehörigkeiten und/oder der „Herkunftssprache“ mit dem Anteil an „Migrant*innen“ gleichsetzten und seinerseits wiederum für den schlechten Ruf der Schule verantwortlich machten.
5.3.2 Klassenfragen Doch wie kommt es, dass einige Eltern einen hohen „‚ndH‘-Anteil“ einer Schule mit einer schlechten Schul- und Unterrichtsqualität in eins setzen und diese Schulen unbedingt meiden wollen? Offenbar stellt „ndH“ für sie eine Chiffre dar für problematisierte Schüler*innen. Über die genaue Art dieser Zuschreibung ebenso wie über die Grenze eines zu hohen Anteils kann dabei kein generelles Einverständnis vorausgesetzt werden (vgl. ebd.: 701). Die Annahme, durch zu viele Kinder „nichtdeutscher Herkunftssprache“ würde eine Lerngruppe nicht mehr richtig „funktionieren“ (Interview 4-2011), bezogen einige der Eltern in meiner Forschung auf eine vermutete Verlangsamung des Lerntempos aufgrund schlechter Deutschkenntnisse. Dieser Umstand erschien der Mutter Rüzgar Altunbaş zentral, da für sie das Thema Bildung insgesamt sehr wichtig war; sie hatte sehr konkrete Wünsche und Vorstellungen bezüglich der Zukunft ihres Sohnes. Wenn alles nach Plan laufe, solle er später Abitur machen und studieren:
12Timo Brandt verwendete meines Erachtens als einziges Elternteil bewusst eine gendergerechte Sprache. Bei Personenbezeichnungen, die alle Geschlechter umfassen sollten, legte er eine kurze Sprechpause vor dem Zusatz „innen“ ein (vgl. auch Unterkapitel 2.7).
198
5 Schulwahlpraktiken und -diskurse
Für mich ist wichtig, dass er halt wirklich studiert. Ja, also, ich glaube, ich würde damit nicht abfinden können, wenn er nur Ausbildung macht [lacht]. Ich werde schon Schwierigkeiten haben innerlich. Also ich würde, glaube ich, ja, ich würde wünschen, dass er das macht. (Interview 12-2011)
Rüzgar Altunbaş verhandelte hier, als es um die erhoffte zukünftige Bildungskarriere ihres Sohnes ging, ihre eigenen biografischen Erfahrungen mit. In ihrer eigenen Jugendzeit in der Osttürkei hatte sie als sehr gute Schülerin zwar das Abitur machen, jedoch nicht studieren dürfen (vgl. Unterkapitel 5.1.2).13 Als sie mit Anfang zwanzig nach Berlin kam, hatte Rüzgar Altunbaş erst in unqualifizierten Jobs gearbeitet, bis ihr Deutsch so gut war, dass sie eine Ausbildung absolvieren konnte. Nun, nach einigen Jahren Berufserfahrung, hatte sie die sich ihr bietende Möglichkeit genutzt, ein Studium des Gesundheitsmanagements zu beginnen. Da ihr Weg bis zur Aufnahme eines Studiums also nicht linear verlaufen war, wollte sie ihrem Sohn Enes die Chancen eröffnen, die ihr selbst zunächst verwehrt gewesen waren. In ihrer Wunschvorstellung würde Enes also – durch das Erreichen der Allgemeinen Hochschulreife – nicht nur die Option auf ein Studium offenstehen, sondern dieser würde vielmehr auch selbst, aus intrinsischer Motivation heraus, die Studienzugangsberechtigung nutzen wollen. Um Enes’ Startchancen zu verbessern, erschien es Rüzgar Altunbaş unabdingbar, die zugewiesene Grundschule mit integrierter Sonderschule zu umgehen. Diese Schule und auch die Schulform hatten ihr überhaupt nicht zugesagt: Also das ist so, dass// allgemein weiß ich ja, die Schulen, die Ausländeranteil so hoch haben, erst mal, dass natürlich da ganz andere Probleme gibt als die anderen Schulen. Da gibt’s schon auch andere Defizite und dass auch Motivation der Schule und auch Lehrkräfte nicht so sind. Ja, also psychisch ist es einfach so, ja? Und ich hatte Verdacht natürlich, dass das Niveau der Schule auch nicht so ist, wie es eigentlich sein sollte, wie es meinem Sohn passen wird. Und schon alleine, also Sonderschule da drin, die Kinder, dieser Umgang manchmal. Also ich weiß nicht, ob Enes damit klargekommen wäre. (Interview 12-2011)
In der Konsequenz hatte Rüzgar Altunbaş erfolgreich eine Meldeadresse im Einzugsgebiet einer anderen Schule angenommen, die für sie eine bessere Zusammensetzung der Schüler*innenschaft versprach.
13Zugleich
erkannte Rüzgar Altunbaş auch an, dass ihre Eltern, die selbst kaum Bildung erhalten hatten, es ihr ermöglicht hatten, das Abitur abzulegen.
5.3 Schulleistung und Sprache
199
Auch Seyran Cetin wünschte sich zuallererst einmal „eine gute Qualität des Unterrichts“ (Interview 16-2011) an der zukünftigen Grundschule ihres Sohnes. Das sei ihrer Erfahrung nach jedoch nicht immer gewährleistet: Also ich möchte nicht, dass die Kinder nichts// also, es gibt so Schulen, wo die kaum was lernen, ja? Ich habe dann auch so Prägungen, weil ich habe ja auch lange Nachhilfe gegeben. Und da habe ich echt die türkischen Eltern vor allem// da habe ich die Kinder gesehen, die waren in der dritten Klasse und die konnten echt überhaupt nicht lesen. Und das ist so Horrorvorstellung. (Interview 16-2011)
Seyran Cetin thematisierte „türkische“ Kinder im Zusammenhang mit einer mangelnden Unterrichtsqualität. Diesen Zusammenhang führte sie auf das niedrige Bildungsniveau der zwischen 1955 und 1973 von der BRD angeworbenen ‚Gastarbeiter*innen‘ zurück: Das sind dann auch in der gleichen Schule die gleichen// kommen da aus der sozial schwächeren Schicht. Und zum Beispiel, das finde ich ein großes Problem, es sind auch größtenteils// und das ist einfach auch die Realität, weil es halt bildungsferne Familien sind, das ist nun mal so. Sind Gastarbeiter, die auch hierhergekommen sind. Und dann hat sich das natürlich auch durch die Generationen hingezogen und hat dann auch einen Bildungsplan mit Migrationshintergrund// (Interview 16-2011)
Seyran Cetin kritisierte also, die Institution Schule habe es auch drei bis vier Generationen später nicht geschafft, den geringeren Bildungserfolg dieser Kinder auszugleichen, sondern verfolge stattdessen bis heute einen eigenen heimlichen Lehrplan für sie. Seyran Cetin grenzte sich indirekt von den Nachkommen der ‚Gastarbeiter*innen‘ ab, die sie als ‚bildungsfern‘ charakterisiert hatte, während sie sich selbst und ihre Familie als ‚bildungsnah‘ empfand: Mütter und Väter mit Zuwanderungshintergrund oder aus Familien mit anderen kulturellen Hintergrund, die hier auch aufgewachsen, dass die dann in der zweiten, dritten Generation ihren Kindern, also, wenn sie irgendwie Stück weit bildungsnah sind, den Kindern einfach alles ermöglichen wollen und teilweise sind sie dann noch krasser als die Deutschen. Und dann gibt’s ja innerhalb der Community auch noch Mal so Abgrenzung mit Schichten, verschiedene und so. Das ist halt dann schwieriges Thema, also es ist ein weites Thema. (Interview 16-2011)
Aus meiner Perspektive wird an diesem Abgrenzungsbedürfnis einiger ‚bildungsnaher‘ Türk*innen deutlich, wie relational und teilweise uneindeutig Positionierungen sind. Soziostrukturell privilegierte muslimische und/oder als muslimisch markierte Mütter wie Seyran Cetin können daher ihren Fokus
200
5 Schulwahlpraktiken und -diskurse
stärker auf den Klassenaspekt legen als den der rassistischen Diskriminierung und sich damit von als ‚bildungsfern‘ markierten Türk*innen distanzieren. Auf diese Weise nutzte Seyran Cetin die Option, ihre Marginalisierung hinsichtlich Rassismus durch Privilegien in anderen Machtverhältnissen – ihrer Klassenpositionierung – ein Stück weit auszugleichen (vgl. Goel/Stein 2012: 8).
5.3.3 Bildungssprache Deutsch Ein solches klassistisches Distinktionsverhalten teilten jedoch bei weitem nicht nur Seyran Çetin und Rüzgar Altunbaş innerhalb der türkischen Community. Vielmehr grenzte sich auch die überwiegende Mehrzahl der weiß positionierten Eltern von als ‚bildungsfern‘ markierten Familien mit sogenanntem Migrationshintergrund ab. Johanna Greif aus Neukölln bspw. hatte die Befürchtung, der Unterricht in der Schulklasse ihrer Tochter orientiere sich allein an den Bedürfnissen der Kinder, die in der deutschen Sprache gefördert werden müssten: Aber im Grunde das Problem// also die staatlichen Schulen haben hier im Kiez unmittelbar alle das gleiche Problem, dass sie halt mit dem hohen Migrationsanteil zu kämpfen haben in der Hinsicht, dass viele Kinder nicht so gut Deutsch sprechen können, dass es mitunter darum geht, Deutsch zu vermitteln, während dann der eigentliche Unterrichtsstoff vermeintlich dann zurückbleibt, so. (Interview 5-2013)
An der Grundschule ihrer Tochter werden die ersten beiden Jahrgänge in der Schulanfangsphase (SAPH14) jahrgangsübergreifend unterrichtet (JÜL). Das JÜL-Konzept in der Schulanfangsphase wurde in Berlin im Jahr 2004 verpflichtend eingeführt; bezüglich der Umsetzung dieses Konzepts gilt Berlin bundesweit als Vorreiter. Jahrgangsübergreifende Lerngruppen sollen dazu dienen, den unterschiedlichen Entwicklungsständen und -möglichkeiten der Schulanfänger*innen besser gerecht zu werden, Ältere sollen Jüngeren helfen und die Kinder insgesamt voneinander lernen können (vgl. Hanke 2008; Kucharz/ Wagener 2013; Wagener 2008). Dies stellt Grundschulen aber auch vor große Herausforderungen, wenn sich Lehrkräfte auf die einzelnen Lerntempi und -bedürfnisse der Schüler*innen einstellen und hierfür über die notwendigen
14In
der Verordnung über den Bildungsgang der Grundschule (vgl. Senatsverwaltung 2005c) ist im § 2 festgelegt: „Die Schulanfangsphase umfasst die Jahrgangsstufen 1 und 2 und wird als pädagogische Einheit jahrgangsstufenübergreifend organisiert.“
5.3 Schulleistung und Sprache
201
diagnostischen Kompetenzen verfügen sollen (vgl. Carle 2019). In einem traditionellen Bildungsverständnis sollen sich die Schüler*innen schließlich selbst einen kanonisierten und von der Institution Schule als relevant gesetzten Wissensbestand aneignen und diesen beherrschen (vgl. Riegel 2016: 82), ohne dass die Schule die Kompetenz des Wissenserwerbs aktiv und individualisiert vermittelt (vgl. ebd.: 88). Seit der verpflichtenden Einführung wurde das JÜL-Konzept insbesondere an Schulen in sozialräumlich benachteiligten Lagen überaus kontrovers diskutiert. Schlechte Erfahrung mancher Lehrkräfte, die beklagten, ihnen fehle zusätzliches Personal, um kleine Lerngruppen zu bilden, aber auch von Eltern, speisten dabei verschiedene mediale Darstellungen (vgl. Bittner 2013; Lehmann 2008; Schulgruppe der Karlsgarten-Grundschule 2015; Schwarze-Reiter 2013; van Laak 2012) und waren auch Thema öffentlicher Veranstaltungen, bspw. an der Karlsgarten-Grundschule in Neukölln im Jahr 2008. Nachdem mehr und mehr Schulen einen Antrag bei der Senatsbildungsverwaltung stellten, um das altersheterogene Lernen an ihrer Schule aufzuheben15 und sich im Jahr 2012 schließlich Lehrer*innen der P apageno-Grundschule in Berlin-Mitte mit einem Brandbrief an die Senatsbildungsverwaltung wandten, in dem sie die Rahmenbedingungen des JÜL-Unterrichts kritisierten (Köhler 2012), wurde letztlich die prinzipielle Verpflichtung zum jahrgangsübergreifenden Lernen aufgehoben. Seither ist es den Grundschulen freigestellt, ob sie das jahrgangsübergreifende Lernen umsetzen. Die von Johanna Greif formulierte Befürchtung, ihre Tochter lerne möglicherweise an der Einzugsgebietsschule nichts, kann also vor dem Hintergrund der über lange Jahre geführten Debatten um das Konzept des jahrgangsübergreifenden Lernens gelesen werden. An der Schule der Tochter bewahrheitete sich diese Sorge nicht. Johanna Greif zufolge seien dort alle Kinder ihren Bedürfnissen und Vorkenntnissen entsprechend gut gefördert worden (vgl. Interview 5-2013).
15Im
§ 29 der Verordnung über den Bildungsgang der Grundschule (Senatsverwaltung 2005b) ist festgelegt, dass Schulen die Möglichkeit haben, „aufgrund schulspezifischer Rahmenbedingungen“ die Aufhebung des jahrgangsübergreifenden Lernens zu beantragen. Dazu müssen sie ein pädagogisches Konzept zur individuellen Förderung einschließlich des flexiblen Verweilens in der Schulanfangsphase vorlegen.
202
5 Schulwahlpraktiken und -diskurse
5.3.4 Sozialräumliche Lage und Zusammensetzung von Schulen An jeder fünften Grundschule in den innenstädtischen Bezirken Berlins spiegelt der „Migrationsanteil“, von dem Johanna Greif sprach (vgl. Interview 5-2013), nicht die Bewohner*innenschaft des Einzugsgebiets wider, sondern ist doppelt so hoch wie es die dortige Sozialstruktur nahelegen würde (vgl. SVR 2013: 15). In ihrer statistischen Erhebung der Anzahl der Kinder „nichtdeutscher“ und „deutscher Herkunftssprache“ an Grundschulen im Bezirk Tempelhof-Schöneberg untersuchte die Geografin Kathleen Noreisch, inwieweit sich die Zusammensetzung der Bewohner*innenschaft in den Einzugsgebietsschulen widerspiegelt. Sie kam zu dem Ergebnis, je höher der Anteil der Kinder „nichtdeutscher Herkunftssprache“ in einer Grundschule sei, desto mehr – in ihren Worten – „German children“ würden in anderen Einzugsgebieten eingeschult (vgl. Noreisch 2007b: 82). Zu einem ähnlichen Befund kam Elisabeth Flitner in einer Studie zum elterlichen Schulwahlverhalten in Berlin: Demnach hätten durchschnittlich 20 Prozent der Schüler*innen an Berliner Grundschulen einen sogenannten Migrationshintergrund („issus de l’immigration“), jedoch besuchten manche Grundschulen 50 Prozent Schüler*innen mit „Migrationshintergrund“, teilweise seien es sogar bis zu 85 Prozent. Sie vermutet, dies entspräche zum Teil der Bewohner*innenschaft und sei darüber hinaus das Ergebnis von Abwanderungsprozessen der „deutschen“ Eltern (vgl. Flitner 2004: 44 f.). Im Kontext der soziostrukturellen Zusammensetzung von Einzugsgebieten in Hessen hat Mitte der 2000er Jahre Frank-Olaf Radtke dargelegt, dass Grundschulen in direkter Nachbarschaft sehr unterschiedliche Anteile an deutschen und nichtdeutschen Schüler*innen aufweisen: „Grundschulen mit besonders hohem Ausländeranteil [bestehen] häufig direkt neben Schulen mit einem unterdurchschnittlich niedrigen Ausländeranteil“ (Radtke 2007: 204). Neben Schulwahlentscheidungen von Eltern führt er dies auf direkte Lenkungsmaßnahmen zurück, durch die über die festgelegten Einzugsgebiete die eine Schule entlastet, die „Integrationsaufgabe“ und spezielle Fördermaßnahmen für leistungsschwache Schüler*innen dagegen an eine andere Schule delegiert würden (vgl. ebd.: 205).16 Ihm zufolge werde das Zusammenspiel von Stadtentwicklung, Wohnraumbewirtschaftung und Schulentwicklungsplanung weder von Stadtverwaltungen noch
16Ähnlich
wie eine Vielzahl anderer Autor*innen geht Frank-Olaf Radtke hier quasi automatisch davon aus, dass es eine Korrelation zwischen dem Anteil von Schüler*innen mit einem ,Ausländer*innen‘-Status und deren Leistungsstärke gibt.
5.3 Schulleistung und Sprache
203
von der Schulaufsicht systematisch hinsichtlich seiner langfristigen Effekte beobachtet und evaluiert, weswegen es ungehindert weiter fort bestehe (vgl. ebd.: 206). In Berlin liegt die ungleiche Verteilung des Anteils an Kindern „deutscher“ und „nichtdeutscher Herkunftssprache“ an Grundschulen im Zuschnitt der Einzugsgebiete mitbegründet. Darüber werden „die Schuleinzugsbereiche immer wieder nach Bedarf neu an[ge]passt“ (Baur 2013: 51), wobei das jeweilige Schulamt „den Zuschnitt und die zahlreichen Ausnahmeregelungen, die die Beschulung außerhalb dieser Bereiche gestatten“ (ebd.) festlegt. Schulwahl praktizierenden Eltern wird es mittels dieser Ausnahmeregelungen ermöglicht, ihre Kinder außerhalb des vorgesehenen Einzugsgebiets einschulen. Auch in den Berliner Innenstadtbezirken unterscheiden sich die den Grundschulen zugeordneten Wohngegenden stark. Claudia Michels berichtete über das Einzugsgebiet ihrer Wunschschule, die sie über die Option einer Zweitwohnung angewählt hatte: Schöneberg finde ich irgendwie sicher, das ist ein akademisches Einzugsgebiet, das eine gute Durchmischung hat, von allem, ja? Und das haben die auch. Das sind Unterschiede, das ist so ähnlich wie bei uns [der Primel-Kita, Anmerkung I.D.], weißt du? Unterschiedliche Nationalitäten. Und da ziehen ja auch viele Türken aus Kreuzberg hin, wenn die Kinder [lacht] eine Schule brauchen. Das ist irgendwie// hat eine ganz gute Mischung. Da lege ich Wert drauf. (Interview 14-2011)
Die Schule ihrer beiden Kinder besuchten überwiegend Kinder aus akademischen und wohlhabenden Elternhäusern. Claudia Michels war dabei gerade wichtig, dass die Schule hinsichtlich Schicht- und Klassenverhältnissen homogen („akademisch“), hinsichtlich ‚ethnischer‘ Herkünfte dagegen heterogen war („unterschiedliche Nationalitäten“, „Türken aus Kreuzberg“). Ganz ähnlich drückte dies auch die Mutter Seyran Çetin aus. Ihr zufolge solle die zukünftige Schule ihres Sohnes nicht zu „homogen“ sein, aber nichtsdestotrotz eine „gute Mischung“ aufweisen: „Und da finde ich ist es auch wieder so prinzipiell// auch wieder so dieses homogene dann auch wieder. Und das ist das, was mich beschäftigt, ich möchte wieder eine gute Mischung, das, was Primel-Kita hat, eigentlich auch in der Schule.“ (Interview 16-2011). Demgegenüber sind anderen Einzugsgebieten Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus zugeordnet, wobei hier zumeist überproportional viele soziostrukturell benachteiligte Eltern (of Color) wohnen. Dies thematisierte wiederum Seyran Cetin, denn ihr zufolge sei in manchen Grundschulen der
204
5 Schulwahlpraktiken und -diskurse
„Anteil von Kindern, die aus bildungsfernen Familien kommen, einfach auch sehr hoch“ (Interview 16-2011): Das ist einfach noch mal eine strukturelle Diskriminierung, meiner Meinung nach. In den Gebieten oder Wohngebieten mit den Mieten, die vielleicht eventuell ein bisschen günstiger sind, da sind dann auch in der gleichen Schule die gleichen// kommen da aus der sozial schwächeren Schicht. (Interview 16-2011)
Seyran Cetin sah Defizite in der Festlegung von Einzugsgebieten, deren Zuschnitt ja gerade die „soziale Mischung“ einer Nachbarschaft in der Grundschule gewährleisten soll (vgl. Karakayalı/zur Nieden 2013: 67),17 und bezeichnete die Konzentration an Kindern aus sozial benachteiligten Familien als eine strukturelle Diskriminierung. Um nicht einer solchen Schule zugeordnet zu werden, erwog sie verschiedene Maßnahmen, darunter auch den – finanziell nicht zu realisierenden Umzug – in eine ‚bessere‘ Wohngegend. Das Phänomen solcher Umzüge oder der Wahl einer Privatschule mit einem geringen Anteil an „ethnic minorities“ wird international als „white flight“ bezeichnet und für Segregationstendenzen im Bildungsbereich mit verantwortlich gemacht.18 Verschiedene Untersuchungen zu Schulwahl im Kontext der BRD erachten zunehmende Segregationsprozesse als Folge eines liberalisierten Schulmarkts, durch die elterliche Schulwahl maßgeblich erleichtert wird (Flitner 2004, 2007; vgl. van Ackeren 2006; Radtke 2007; Riedel u. a. 2010; Altrichter u. a. 2011; Baur 2013; Groos 2015). Die Verantwortung für Polarisierungseffekte verortet dabei Christine Baur bei den Schulwahlaktivitäten von Eltern einer gesellschaftlichen Mitte, durch die „sich die Schüler/-innenschaft in den einzelnen Schulen sozial stärker entmischt.“ (Baur 2013: 51 f.)
17In
vergleichbarer Weise drückten Michaela Beer und Johanna Greif Ängste vor einer zu starken Konzentration bestimmter Gruppen von Kindern aus, wobei sie jeweils von „NichtDeutschsprachigen“ bzw. dem hohen „Migrationsanteil“ sprachen. 18Vgl. exemplarisch für Großbritannien: Mansell/Curtis (2009) und für Schweden: Bråmå (2006). In Bezug auf Deutschland kommt der SVR zu einem ähnlichen Befund: Er führt diese Abwanderungstendenzen allerdings tendenziell verkürzt auf den Aspekt der Staatsbürger*innenschaft zurück und kommt zu dem Schluss, die Abwanderung sei das Ergebnis „eine[r] gezielte[n] Ausweichpraxis vieler deutscher Eltern“ (SVR 2013: 15).
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Auch eine Studie zur Verbindlichkeit von Schuleinzugsgebieten rund um den Bildungsforscher Horst Weishaupt kam zu dem Ergebnis, Schulwahl führe zu verstärkter Ungleichheit:19 A high percentage of immigrants and/or economically disadvantaged families in the school district lead parents to choose another school for their children. Advantaged families make segregating choices, whereas for disadvantaged families the effect of choice is ambiguous. (Riedel u. a. 2010: 118)
In diesem Zusammenhang stellen die Erziehungswissenschaftler*innen Katrin Huxel und Sara Fürstenau fest, dass zumeist Schulen mit „überdurchschnittlich hohen Anteilen von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund und aus Familien mit einem niedrigen sozioökonomischen Status als Problem beschrieben [werden]“ (Huxel/Fürstenau 2017: 261). Diese Schulen „finden sich in Sozialräumen, die in der Schulforschung als ‚schwierige Lagen‘ beschrieben werden, denn die Zusammensetzung der Schülerschaft einer Schule hängt mit ihrer sozialräumlichen Lage zusammen. Eine ‚schwierige Lage‘ wird häufig nicht nur an Einkommensarmut, hohen Arbeitslosenquoten und sogenannter Bildungsarmut im Umfeld der Schule, sondern auch an hohen Anteilen von Familien mit Migrationhintergrund festgemacht.“ (ebd.: 261 f.)
Die räumliche Konzentration dieser Schüler*innen erachten dabei vielfach Studien aus der Bildungsforschung als Ausdruck von Segregationsprozessen im Wohnumfeld: So formuliert bspw. die Erziehungswissenschaftlerin Christine
19Der
Fokus der Studie lag hierbei auf dem Output von Bildung, auf den „levels of achievement“, die mit der Zusammensetzung von Schulklassen in Verbindung gebracht wurden. Der Studie zufolge orientierten sich „disadvantaged (Muslim) parents“ nicht so sehr an der Schulqualität, sondern „might favor a student composition similar to their own religious and cultural background instead of acting upon preferences for school quality“ (Riedel u. a. 2010: 116). Die Entscheidung für die Einzugsgebietsschule seitens Eltern aus „ethnically disadvantaged backgrounds“ wurden somit als „integrating choices“ (ebd.: 118) interpretiert. Mögliche andere Gründe, bspw. (befürchtete) institutionelle Diskriminierung, wurden auf diese Weise außer Acht gelassen. Wie bereits konstatiert, reflektiert dies ein generelles Desiderat bisheriger Forschung zu Schulwahl, das auch meine Studie nicht wesentlich verringern kann: Bislang existieren kaum Studien die ,bildungsferne‘ Eltern zu ihren Motiven befragt haben, „ihre Kinder auf Schulen mit hohem Migrant_innenanteil [zu] schicken“ (Karakayalı/zur Nieden 2013: 68), was ich mit Juliane Karakayalı und Birgit zur Nieden als hochgradig problematisch erachte, „da damit das Phänomen der Elternwahl nur einseitig beforscht wird.“ (ebd.).
206
5 Schulwahlpraktiken und -diskurse
Baur (2013: 221–224) die ‚Durchmischung‘ von Stadtgebieten als wünschenswertes Ziel von Stadtentwicklung, um ‚ethnischer und sozialer Segregation‘ – auch in Schulen – entgegenzuwirken. Sie bezieht sich auf Hartmut Häußermanns aus dem Jahr 2000 stammende Diagnose einer „Krise der ‚sozialen Stadt‘“, in der dieser das Ideal einer „‚sozial gemischte[n]‘ europäischen Stadt“ (Güntner 2007: 130) vertritt. Dieses Ideal habe jedoch sein Ende in einer „‚Spaltung der Städte‘ und der ‚Abwärtsspirale‘ der benachteiligen Quartiere“ (ebd.) gefunden. Insbesondere im Bereich der sozialen Stadtpolitik setzte sich hierbei seit den 1990er Jahren die „Kontexttheorie“ als politikleitendes Konzept auf Bundes-, Landesund kommunaler Ebene durch. Ihr zufolge ziehe eine räumliche Konzentration problematisierter Bevölkerungsgruppen negative Effekte auf Lebensumstände und -chancen – also „negative Quartierseffekte“ – nach sich (vgl. ebd.: 130–137; Ronneberger/Tsianos 2009; Pasch 2015: 205). Der (negative) Einfluss einer ‚ethnischen Konzentration‘ in Stadtteilen und Sozialräumen muss jedoch – „angesichts unterschiedlicher Problemkonstellationen verschiedener Quartiere und der noch größeren Heterogenität armer Bevölkerungsgruppen“ (Hamra 2018: 31) auf das jeweilige Quartier als äußerst umstritten angesehen werden (vgl. ebd.; Güntner 2007: 136; Reimann 2008: 197 f.; Farwick 2001; Friedrichs/Blasius 2000; Kronauer/Vogel 2004). Katrin Huxel und Sara Fürstenau wenden bspw. ein, dass nicht die „ethnische Segregation bzw. die Segregation verschiedener sozialer Gruppen in Stadtteilen und Schulen an sich, sondern die damit einhergehende ‚Bildungssegregation‘“ (Huxel/Fürstenau 2017: 262) als einer räumlich ungleichen Verteilung von Bildungsressourcen und -chancen die zentralen Probleme und Herausforderungen für die Institution Schule darstellten. Zum Tragen kommt hierbei ein relationales Raumverständnis (vgl. Kessl/ Reutlinger 2010), in dem Raum nicht materialistisch und/oder allein auf statistische Strukturdaten hin gedacht (vgl. Stošić 2012), sondern als Ergebnis von Handlungen und Praxis angesehen wird (vgl. Löw/Steets/Stoetzer 2007). Im Zentrum der in den letzten Jahren interdisziplinär vorangetriebenen „Dynamisierung des Raums steht eine radikale Perspektivenumkehr, die darin besteht, nicht mehr Soziales als in absoluten Räumen platziert oder als durch Räume umgeben und gerahmt zu denken, sondern umgekehrt: Grenzen, Orte und Räume als Bestandteil und Produkt von Handlungen, Kommunikationen, Diskursen und sozialen Beziehungen zu begreifen (vgl. Schroer 2006)“ (Pott 2015: 192)
Auf diese Weise erscheinen bspw. segregierte Stadtviertel in einem alltagsontologischen Raumverständnis als quasi objektive und standortunabhängige
5.3 Schulleistung und Sprache
207
Weltdeutungen (vgl. ebd.: 192 f.) und „Bildungssegregation als quasi natürliche Folge der räumlichen Konzentration bestimmter sozialer oder ethnischer Gruppen“ (Huxel/Fürstenau 2017: 262). Jedoch gehe ich mit Katrin Huxel und Sara Fürstenau davon aus, dass erst verschiedene „Prozesse und Praxen aus räumlicher Segregation Bildungssegregation“ (ebd.) machen. In diesen raumbezogenen Praktiken werden Strukturen und Handlungen von Menschen aktiv zu Räumen verknüpft. Das sich wechselseitig beeinflussende Verhältnis von Struktur und Handlung fassen dabei die Raumsoziolog*innen Martina Löw, Silke Steets und Sergej Stoetzer in ihrem Ansatz eines relationalen Raummodells als „Dualität von Raum“ (Löw/Steets/Stoetzer 2007: 65). Sie sprechen von Prozessen des „Spacings“ – als „das Errichten, Bauen oder Positionieren“ (ebd.: 64) von Räumen – sowie von Prozessen der „Syntheseleistung“ – als einer „gleichzeitige[n] Verknüpfung der umgebenden sozialen Güter und Menschen zu Räumen“ (ebd.). Mit Katrin Huxel und Sarah Fürstenau lässt sich daraus folgend feststellen: „Die Konstruktion von Räumen geschieht […] durch aktiv von Menschen vorgenommene Prozesse des Positionierens von Gütern und anderem und des räumlichen In-Beziehung-Setzens dieser.“ (Huxel/Fürstenau 2017: 264). In Bezug auf die Verteilung von Schüler*innen auf die jeweiligen Einzugsbereiche zählen neben bildungspolitischen Entscheidungen, dem Zuschnitt der Einzugsgebiete und Schulentwicklungsprozessen daher auch elterliche Praktiken der Schulwahl. Somit verstärken Schulwahlentscheidungen und -praktiken von Eltern – im Sinne eines „Spacings“ (vgl. ebd.: 269) – die Bildungssegregation in einzelnen Schulen. Die dadurch geschaffene Anordnung der Räume – bspw. ein „hoher Migrationsanteil“ vs. ein „akademisches Einzugsgebiet“ – wird von den Eltern in den Diskursen um Schulwahl über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse – als einer „Syntheleistung“ – miteinander verknüpft. Dabei werden den verrufenen Kiezschulen, die das Stigma einer ‚Brennpunktschule‘ tragen (vgl. Goffman 1967), von außen, bspw. durch schulwahlambitionierte Eltern, negative Attribuierungen zugeschrieben, die weit über ihre tatsächlichen Problemlagen als Schulen in einer schwierig sozialräumlichen Lage hinausgehen können. Ressourcenstarke Eltern wie Claudia Michels oder Seyran Çetin befördern somit die ungleichen Anteile von Kindern „deutscher“ und „nichtdeutscher Herkunftssprache“ mit. Sie tragen zur Marginalisierung und Stigmatisierung von Schulen bei, denen sie einen schlechten Ruf zusprechen, wenn sie „mit den Füßen abstimmen“ und nachgefragtere Schulen anwählen. Bei den verpönten Einzugsgebietsschulen sinken dagegen in der Konsequenz häufig die Anmeldezahlen neuer Schüler*innen, was bis zur Schließung einzelner Schulen reichen kann.
208
5 Schulwahlpraktiken und -diskurse
5.3.5 Abgrenzung nach ‚unten‘ Die Wahl einer ‚besseren Schule‘ außerhalb des Einzugsgebiets und die Abgrenzung gegenüber den dortigen Schüler*innen kann angesichts sozialer Abstiegsängste und einer von Heinz Bude konstatierten zunehmenden „Bildungspanik“ (Bude 2011) als Ausdruck von „Schließungsprozesse[n] innerhalb der bürgerlichen Mitte“ (Knötig 2010: 331) interpretiert werden. Hierbei setzt das „am Einzelnen orientierte[] Ethos neoliberaler Politik“ (Rose/Nikolas 2012: 86) folgende Aspekte zentral: „individuelle Wahl, eigenverantwortliches Handeln, Herrschaft über das eigene Schicksal, Eigeninitiative und selbstbestimmtes Leben.“ (ebd.). Georg Breidenstein, Jens-Oliver Krüger und Anna Roch zufolge dürfe die Abgrenzung gegen vermeintlich schlechte Schulen „nicht so gelesen werden, dass die genannten ‚bildungsbewussten Eltern‘ Segregationseffekte leichthin in Kauf nehmen“ (Breidenstein/Krüger/Roch 2014: 168). Die Autor*innen beziehen sich auf Silke Trumpas Analyse, Eltern wägten in ihren Schulwahlaktivitäten „partikulare gegen universalistische Interessen“ (Trumpa 2010: 12) intensiv gegeneinander ab. Jedoch vermöge dabei das Motiv der Sorge und Verantwortung für das eigene Kind in der Regel die Orientierung an Chancengleichheit zu relativieren und einzuschränken (Breidenstein/Krüger/Roch 2014: 178). Verschiedene internationale Forschungen zur Schulwahl teilen eine ähnliche Stoßrichtung wie die genannten Studien: Martin Forsey (2008) argumentiert damit, dass sich bestimmte Mittelschichtseltern – vor dem Hintergrund einer verstärkten neoliberalen Deregulierung und Privatisierung des Schulsektors in Australien – zunehmend verpflichtet und verantwortlich fühlten, ihrem Kind die besten Bildungschancen zu gewähren. Damit habe sich die Verantwortlichkeit für den ‚Bildungserfolg‘ des Kindes „from governments to individual education consumers“ (ebd.: 89) verschoben, wodurch sorgfältig abgewogene Schulwahlentscheidungen für viele mittelschichtsorientierte Familien inzwischen selbstverständlich und unumgänglich erschienen: „There is now no choice but to choose, or at least for the middle class this is the case“ (ebd.: 76). Hier setzt eine Studie von Scott Davies und Janice D. Aurini (2008) zu Schulwahlprozessen in Kanada an, die die elterliche Wahl bestimmter Schulen im Sinne einer dem Wohl ihrer Kinder verpflichteten „grass root“-Gemeinschaft verstehen. Die „Bedeutung sozialer Ungleichheitseffekte“ verschiebe sich, wenn Wahlmöglichkeiten „mit einem elterlichen, scheinbar natürlichen Sorge- und Verantwortungsvermögen verknüpft“ (Breidenstein/Krüger/Roch 2014: 168) würden: „By this counter-frame, choosers shifted the moral terms of the debate from those of ‚elitism‘ to those of ‚responsible parenting‘“ (Davies/Aurini 2008: 66).
5.3 Schulleistung und Sprache
209
Darüber hinaus geht Agnès van Zanten davon aus, dass sich Schulwahl praktizierende Eltern in Frankreich v. a. aus der Sorge um das eigene Kind gegenüber „poor and minority pupils“ (van Zanten 2003: 109) abgrenzten. Letztere gälten diesen Eltern als „hindrance for the cognitive, personal and social development of their children“ (ebd.), ohne dass dabei die Ablehnung der anderen Kinder aufgrund ‚spontaner‘ rassistischer oder klassistischer Motive erfolgte (vgl. ebd.).20 Die genannten Studien erfassen die Selbstkonzepte und subjektiven Bedeutungszusammenhänge von bildungsprivilegierten Eltern, häufig jedoch ohne diese explizit in ihrer jeweils spezifischen, historisch-politischen sowie (migrations-)gesellschaftlichen Situierung zu verorten. Ich versuche diese Engführung zu vermeiden und begreife die hier genannte Abgrenzung ‚nach unten‘ auch als Ausdruck einer postliberalen Spielart des modernen (institutionellen) Rassismus (vgl. Tsianos/Pieper 2011: 117 f.), der nach Étienne Balibar auf zwei unterschiedlichen Vorstellungen beruht: zum einen auf der Ethnisierung sozialer Verhältnisse, zum anderen auf einem Aktivierungsmodell, das eine „Selektion institutionalisiert, deren untere Grenze die soziale Eliminierung der ‚Unfähigen‘ und ‚Unnützen‘ darstellt“ (Balibar 2008: 23). Einen Vorteil sehe ich darin, dass auf diese Weise analysiert werden kann, wie sich die Abgrenzung gegenüber „poor and minority pupils“ (van Zanten 2003: 109) aufgrund einer befürchteten Verschlechterung des Lern- und Entwicklungsklimas sowie gesellschaftlich tief verankerte rassistische wie auch klassistische Anrufungen gegenseitig verstärken und unterfüttern können. In diesem Sinne stellen die Einzugsgebietsschulen für die hier angesprochene Elternklientel ein absolutes „no-go“ dar, an denen sie als ‚verantwortungsbewusste‘ Eltern ihre Kinder auf keinen Fall anmelden dürfen. Ihr Kind könnte dort auf rassistisch und klassistisch markierte ‚Problemkinder‘ stoßen, die gerade deswegen als „hindrance for the cognitive, personal and social development of their children“ (ebd.) gelten, weil sie und ihre Familien strukturell als potenziell ‚integrationsunfähige Andere‘ gezeichnet werden.
20Das
Zitat lautet in Gänze: „The central idea is that poor and minority pupils are not rejected or looked at with suspicion by middle-class parents on a purely spontaneous ,classist‘ or ,racist‘ basis, but because they are constructed as a hindrance for the cognitive, personal and social development of their children.“ (van Zanten 2003: 109).
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5 Schulwahlpraktiken und -diskurse
Exkurs: ‚Segregation nach Herkunft‘ an Schulen Jedoch ist eine ‚Segregation nach Herkunft‘ an Schulen nicht allein schulwahlambitionierten Eltern zuzurechnen. Genauso wenig stellt sie einen „unglückliche[n] Zufall dar, sondern [steht] in der Tradition eines auf Separation zielenden institutionellen Umgangs mit Migration“ (Karakayalı/zur Nieden 2013: 62).21 Im Zentrum des vorliegenden Exkurses steht daher dieser institutionelle Umgang, wobei ich diesen bei Weitem nicht erschöpfend dargestellt, sondern einige Schlaglichter herausgegriffen habe.22 Mit der Einführung der staatlichen Elementar- bzw. Volksschule im Jahr 1920 waren (reichs-)ausländische Schüler*innen bis in die 1960er Jahre von der allgemeinen Schulpflicht ausgeschlossen (vgl. Krüger-Potratz 2014: 46 f.). Da die nationalstaatliche Schule nicht für Ausländer konzipiert war, konnten diese nur als Gäste, das heißt nur per Ausnahmeerlass, Schulen besuchen (vgl. Gogolin/ Krüger-Potratz 2010: 94). Die Staatsangehörigkeit war damit die entscheidende Differenzlinie, die den Schulbesuch regelte. Ein getrennter Unterricht nach ‚Herkunft‘ oder nach Nationalität wurde schließlich ab der Zeit der Anwerbung sogenannter Gastarbeiter*innen ab den 1960er Jahren bis zum Jahr 1995 eine gängige Praxis: In dieser Zeit war in Berlin die getrennte Beschulung in ‚Ausländerregelklassen‘ administrativ organisiert (vgl. Engin 2003: 21–31; Karakayalı/zur Nieden 2013: 65 ff.). Zwar verabschiedete die KMK im Jahr 1964 die Weisung, ausländische Kinder – auf die drei Jahre zuvor die allgemeine Schulpflicht ausgedehnt worden war – sollten in der Regel gemeinsam mit deutschen Kindern unterrichtet werden. Allerdings bestand weiterhin die Regelung, die Kinder sollten zuerst in gesonderten Vorklassen Deutsch lernen, wenn Bedarf dafür bestehe (vgl. P uskeppeleit/KrügerPotratz 1999: 41). Muttersprachlicher Unterricht wurde nicht etwa angeboten, um den Erstsprachen der Kinder Rechnung zu tragen, sondern mit dem Hintergedanken, „die (Wieder-)Eingliederungsfähigkeit der Kinder in die Schulsysteme der Herkunftsländer [zu] gewährleisten“ (Karakayalı/zur Nieden 2013: 65).
21Eine solche herkunftsbezogene schulische Trennung lässt sich zurückführen auf die historisch und sozial tief verwurzelte Problematisierung ,fremder Sprache und Kultur‘, die ich im 3. Kapitel in Exkurs: Genealogien des Verbots Anderer Sprachen dargestellt habe. 22Das Projekt „Schule zieht Grenzen – wir ziehen nicht mit“ der Alice-Salomon-Hochschule Berlin hat die Geschichte der schulischen Separation und Grenzziehung gegenüber rassialisierten Kindern und Jugendlichen in Berlin und darüber hinaus umfassend(er) aufgearbeitet und nachgezeichnet (vgl. Projekt „Passkontrolle! Leben ohne Papiere in Geschichte und Gegenwart“ o. J.).
5.3 Schulleistung und Sprache
211
Die Wahrnehmung der Kinder der ‚Gastarbeiter*innen‘ als bildungsunwillig sowie sprach- und kulturarm23 kennzeichnete Marianne Krüger-Potratz zufolge bis „in den 1960er bis 1980er Jahren auch die Wahl der Formulierungen in den KMK-Empfehlungen und den entsprechenden Erlassen zur Eingliederung ausländischer Kinder und Jugendlicher in den elf Bundesländern“ (2014: 47). Regelungen für die Kinder der ‚Gastarbeiter*innen‘ ergingen daher „nur für den Kern des Pflichtschulwesens (Grund-, Haupt- und Berufsschulen) […], auch wenn ihnen im Prinzip alle Bildungsgänge bzw. Schulformen offen standen“ (ebd.: 48). Die Praxis, diese Kinder und Jugendlichen in Vorbereitungsklassen oder Ausländerregelklassen quasi in einer eigenen ‚Schule in der Schule‘ zu unterrichten, erwies sich somit viel stärker als Ausgrenzungs-, denn als Integrationsmaßnahme (ebd.). Im KMK-Beschluss von 1971 wurden dann zwar erstmals in der Geschichte des deutschen Bildungssystems die ‚nichtdeutschen‘ Kinder den ‚deutschen‘ hinsichtlich der Beschulung formal gleichgestellt, allerdings existierten weiterhin gesonderte Vor- und Deutschlernklassen und der Unterricht in den Herkunftssprachen wurde nach wie vor – zum Zwecke der erleichterten ‚Rückkehrfähigkeit‘ – angeboten (vgl. Karakayalı/zur Nieden 2013: 65; P uskeppeleit/ Krüger-Potratz 1999: 42 f.). Außerdem wurden ‚Ausländerklassen‘ eingerichtet, sobald der Anteil ‚ausländischer‘ Schüler*innen in einer Regelklasse ein Fünftel überschritt. Diese ‚Ausländerklassen‘ besuchten auch Kinder, die keiner besonderen Förderung der deutschen Sprache benötigten (vgl. ebd.: 30). Laut Juliane Karakayalı und Birgit zur Nieden zeigten sich hier „widersprüchliche bildungspolitische Ziele und Praktiken […], die sich bis in die 1990er Jahre hinein zwischen Verbesserung der bildungspolitischen Partizipation und Separation migrantischer Kinder bewegten“ (Karakayalı/zur Nieden 2013: 65; vgl. Puskeppeleit/Krüger-Potratz 1999: 30). In Berlin galten seit Anfang der 1970er Jahre ähnliche politische Zielsetzungen: Neben der Vorgabe, eine Separation nach Nationalität in der Schule zu vermeiden, sollte zugleich der Anteil ‚ausländischer‘ Kinder in einer Schulklasse 25 Prozent nicht überschreiten. Dieser Widerspruch wurde durch die Einrichtung von ‚Ausländerregelklassen‘ gelöst, die zunächst nur als eine Übergangsregelung gedacht waren (vgl. Karakayalı/zur Nieden 2013: 65). 1984 wurden sie jedoch in den „Ausführungsvorschriften über den Unterricht für ausländische Kinder
23Bereits
seit dem 19. Jahrhundert wurden autochthone sprachliche Minderheiten als sprach- und kulturarm sowie als bildungsfern und -unwillig markiert (vgl. Krüger-Potratz 2014: 44 f.).
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5 Schulwahlpraktiken und -diskurse
und Jugendliche“ schulrechtlich festgeschrieben. Der Anteil ‚ausländischer‘ Schüler*innen durfte demnach in den Klassenstufen eins bis sieben zu Beginn eines Schuljahres maximal 30 Prozent betragen (vgl. Engin 2003: 21 ff.) und nur in Einzelfällen im Verlauf eines Schuljahres auf bis zu 50 Prozent steigen, wenn diese Schüler*innen dem Unterricht ohne Sprachschwierigkeiten folgen konnten (vgl. Seipp/Werner 1995, zitiert nach Vasilyeva 2013: 8). Wurde dieser Anteil überschritten, war eine ‚Ausländerregelklasse‘ einzurichten, also eine Klasse mit ausschließlich ‚ausländischen‘ Schüler*innen (vgl. Engin 2003: 17; Karakayalı/ zur Nieden 2013: 66 f.). Besonders in Bezirken mit einem hohen Anteil an sogenannten Gastarbeiter*innen wie Kreuzberg, Neukölln und Tiergarten führte dies zu einem weitgehend getrennten Unterricht von ‚deutschen‘ und ‚ausländischen‘ Schüler*innen (vgl. Steinmüller 1989: 140). Betroffen waren v. a. Kinder mit türkischem Migrationshintergrund, „da sie bald die größte Gruppe ‚ausländischer‘ Kinder darstellten und die Einrichtung von ‚Ausländerregelklassen‘ möglichst Kinder einer Herkunftssprache bündeln sollte“ (Karakayalı/ zur Nieden 2013: 65 f.). Obwohl die getrennte Beschulung dieser Kinder mit der Förderung ihrer Sprachkompetenzen begründet wurde, verfestigte sich so eine segregierende Beschulungspraxis, die zu einem guten Teil unabhängig von den Sprachkenntnissen des Deutschen erfolgte (vgl. ebd.: 66). So verblieben auch Kinder mit guten Deutschkenntnissen während ihrer gesamte Schullaufbahn in ‚Ausländerregelklassen‘ (vgl. Steinmüller 1989: 140). Juliane Karakayalı und Birgit zur Nieden analysieren die Praxis der separierten Beschulung bezüglich der „durch das Migrationsregime organisierten gesellschaftliche Arbeitsteilung“ folgendermaßen: So könnte man die Quotenregelung auch als Instrument begreifen, die migrantische Arbeiter_innenklasse zu reproduzieren. Die gesonderte Beschulung der nichtdeutschen Kinder kann dann zum einen als eine Ebene des ohnehin klassenorientierten Schulsystems interpretiert werden: Darin führt das Gymnasium zum Studium, die Realschule in die Ausbildung und die Hauptschule in die Arbeiter_ innenklasse. […] Zum anderen spiegelte sich in der getrennten Beschulung eine auf Rückkehr orientierte Migrationspolitik, die die Kinder der Migrant_innen nicht in die allgemeinen Bildungsinstitutionen inkludierte. (Karakayalı/zur Nieden 2013: 66 f.)
Die Erklärung für das schlechtere Abschneiden der Kinder der ‚Gastarbeiter*innen‘ wurde allerdings auch in den 1970er Jahren nicht mit institutioneller Diskriminierung, sondern vielmehr in kulturalisierender Weise mit der Leistungsunwilligkeit der Kinder und mit unzureichenden Erziehungsmethoden der Eltern erklärt (vgl. Puskeppeleit/Krüger-Potratz 1999: 12 f.). Laut Juliane Karakayalı und Birgit zur Nieden manifestierte sich
5.3 Schulleistung und Sprache
213
[i]n der Quotenregelung […] die Ansicht, dass ein zu hoher Prozentsatz ‚ausländischer‘ Kinder generell schädlich für den Unterricht sei. Offenbar ging es darum, eine Mischung von deutschen und vielen ‚ausländischen‘ Kindern zu vermeiden und zwar deshalb, weil es seitens deutscher Eltern und Lehrer_innen schon damals starke Ressentiments gegenüber den Kindern der Gastarbeiter_innen gab. Diese wurden schon damals u. a. mit deren geringem Bildungserfolg begründet, zu dem die segregierten Klassen und andere gesellschaftliche Ausschlüsse beitrugen. (Karakayalı/zur Nieden 2013: 66)
„Die Reaktion auf diese Diagnose“, so die beiden Autor*innen, war zunächst „nicht die Abschaffung, sondern die Fortführung der getrennten Beschulung“ (ebd.). Erst auf Druck von Migrant*innenorganisationen, die gerade die Verschlechterung von Bildungschancen kritisierten, da die schulische Segregation nicht dazu beitrage, mangelnde Sprachkenntnisse des Deutschen abzubauen, wurde schließlich im Jahr 1995 das Berliner Schulgesetz geändert. In diesem Zuge wurden sowohl die Quotenregelung als auch die ‚Ausländerregelklassen‘ abgeschafft (vgl. Engin 2003: 26 ff.). Doch auch nach der Auflösung der Ausländerregelklassen änderte sich faktisch bis zum Jahr 2000 nichts an der damit verbundenen Besonderung; die Umbenennung in Regelklassen, Förderklassen, Vorbereitungsklassen oder Eingliederungslehrgänge (vgl. ebd.: 21) hatte lange Zeit keinen Wandel bezüglich der inhaltlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen der separaten Beschulung und des Unterrichts zur Folge (vgl. ebd.: 30). Allerdings wurde im Schulgesetz alter Fassung (vgl. Berlin West Senator für Justiz 1980) mit Wirkung zum 16. April 1996 nur noch in Ausnahmefällen auf den Begriff „Ausländer“ Bezug genommen, stattdessen war nunmehr von „Schülern nichtdeutscher Herkunftssprache“ die Rede (vgl. Gogolin/Neumann/Reuter 1998: 674). Obwohl weder die Kategorie „Ausländer“ noch der Begriff „nichtdeutsche Herkunftssprache“ gesetzlich definiert waren, wurde im Schulgesetz alter Fassung deutlich, dass nicht mehr die Staatsangehörigkeit der Schüler*innen, sondern ihre Sprachkenntnisse bzw. ihre – ebenfalls nicht genauer definierte – „Kommunikationssprache“ in der Familie von Bedeutung waren (vgl. Langenfeld 2001: 102 f.; Vasilyeva 2013: 10 f.). Alle Kinder „nichtdeutscher Herkunftssprache“ sollten nunmehr lediglich dann in gesonderten Schulklassen unterrichtet werden, wenn ihre Deutschkenntnisse nicht ausreichend für eine Beschulung in einer Regelklasse waren (vgl. Berlin West Senator für Justiz 1980: § 35a Absatz 2). Larisa Vasilyeva ist dabei überzeugt, dass diese neue Regelung die bis dahin bestehende Diskriminierung ‚ausländischer‘ Schüler*innen abmildern bzw. aus ihrer Sicht sogar beseitigen konnte, denn seither seien
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5 Schulwahlpraktiken und -diskurse
wegen der Abhängigkeit von der Bevölkerungsstruktur und damit aus tatsächlichen Gründen zwar dennoch weiterhin Regelklassen denkbar, in denen sich nur Ausländer befinden. Diese Situation tritt aber nicht deshalb ein, weil eine bestimmte Quote erreicht wurde, sondern in Ermangelung einer bestimmten Anzahl an deutschen Schülern an der betroffenen Schule. (Vasilyeva 2013: 12)
Dieser Einschätzung widerspricht allerdings, dass es kein einheitliches Verfahren der schulischen Zuordnung zur Kategorie „ndH“ gibt. Somit „erscheint ndHs im Vergleich zur Kategorisierung als ‚Ausländer_in‘ als eine flexiblere Kategorie, da sie bspw. bei den Einschulungen von jeder Schule anders erhoben werden kann und außerdem ein variabler, von Schule zu Schule unterschiedlicher Umgang damit gepflegt wird“ (vgl. Karakayalı/zur Nieden 2013: 70; vgl. auch Exkurs: Schulische Zuordnung im Kapitel 4). Darüber hinaus existieren im Kontext Berlins auch nach der Auflösung von ‚Ausländerregelklassen‘ im Jahr 1995 unterschiedliche Spielarten der schulischen Separation insbesondere von Schüler*innen mit sogenanntem Migrationshintergrund auf eine subtile und flexibilisierte Art weiter. Dazu gehören bspw. vorbereitende Sprachlernklassen, genauso aber auch Klasseneinteilungen, die nicht gesetzlich legitimiert sind, und für die allesamt Bezugsgrößen wie Sprache oder Herkunft oder andere flexibel mobilisierbare Begründungsmuster zentral sind (Karakayalı/zur Nieden 2013, 2014, 2016). Dabei werden in solchen segregierten Klasseneinteilungen dynamische und flexible Grenzziehungen wirksam, die nicht von absoluten Ausschlüssen, sondern von Durchlässigkeit und Formen der differenziellen Inklusion (vgl. Casas-Cortés u. a. 2014: 79 f.; Mezzadra/Neilson 2014) gekennzeichnet sind. Möglich werden diese fluiden Grenzziehungen dadurch, dass bis heute „die Verbindung von ‚fremd‘, ‚fremder Herkunft‘ mit ‚sozial schwach‘, ‚spracharm‘ und ‚kulturarm‘ […] präsent [ist]“ (Krüger-Potratz 2014: 49).
5.4 Wertedebatten Insbesondere, wenn sich die Mütter in meiner Forschung die zukünftigen Mitschüler*innen ihres Kindes und im weiteren Sinne auch deren Familien plastisch vorzustellen versuchten, wurde deutlich, wie verschiedene Lebenskonzepte und -entwürfe aufeinanderprallten und dies Praktiken des oben genannten „responsible parenting“ nach sich zog. In diesem Zusammenhang zogen die Eltern Begründungen heran, die sich mit jeweils unterschiedlichen Machtverhältnissen auseinandersetzen: u. a. mit Klassenverhältnissen, Rassismus,
5.4 Wertedebatten
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Heteronormativität oder auch Sexismus. Zumeist ging es den Müttern dabei um schlechte Einflüsse, um negative Erfahrungen und um ein von Gewalt geprägtes Klassenklima. All diese Begründungen legitimieren letztlich eine, je individuell zu erbringende, Entscheidung für eine bestimmte Schule oder auch Schulform: bspw. beabsichtigte Sarah Brenner ihren Sohn an einer Waldorf-Schule anzumelden, um ihn nach Möglichkeit von zukünftigen schlechten Einflüssen, gerade auch im Hinblick auf seine Pubertät, fernzuhalten. Als Begründung zog sie Erlebnisse ihrer wesentlich älteren Tochter mit einem Mitschüler heran, der mit seiner Mutter, dem gewalttätigen Stiefvater sowie mit einigen Hunden unter extrem beengten Verhältnissen gehaust hätte. Zwar sah Sarah Brenner es zum einen als wichtig an, mit diesen vielen offen aufeinanderprallenden „Parallelwelten“ (Interview 6-2011) in Berlin zu leben und das Auge für diese zu schulen, zum anderen wünschte sie sich auch: „Ich würde halt meinen Sohn gerne schützen. In einen goldenen Käfig einsperren (lacht) und ihm nur das Schöne mit// ach Quatsch! Ist ja voller Quatsch.“ (Interview 6-2011). Jenny Miller: Rassismus Jenny Miller betonte bspw., ihre Tochter Mary, die die Primel-Kita besuchte, würde „hier in Kreuzberg vielleicht immer eins von zwei“ sein, während an ihrer zukünftigen Schule „bestimmt ein Drittel der Schüler schwarz“ (Interview 6-2011) sei. Jenny Miller, die als weiße Frau mit ihrem Schwarz positionierten Mann in einer binationalen britisch-kamerunischen Partnerschaft lebte, erzog die gemeinsame Tochter englischsprachig. Zum Zeitpunkt des Interviews war diese drei Jahre alt, nichtsdestotrotz hatte sich Jenny Miller schon für eine konkrete Schule entschieden: eine staatliche Internationale Schule, die auch ihre Tochter aus erster Ehe besucht hatte. Bereits damals hatte sie den weiten Schulweg von fast einer Stunde in Kauf genommen, denn „das ist eine schöne Schule, also das ist englisch-deutsch, sehr kulturell gemischt, da sind aus allen Ländern vertreten“ (Interview 6-2011). Während bei ihrer ersten, weiß positionierten Tochter der bilinguale Unterricht und die Bereicherung durch ein kosmopolitisch geprägtes Umfeld mit Kindern „aus allen Ländern“ im Vordergrund standen, erschien es Jenny Miller in Bezug auf ihre jüngere Tochter nunmehr umso dringlicher, dass diese ebenfalls die Internationale Schule besuchte. Schließlich seien Jenny Miller zufolge an dieser Schule „die Hälfte oder bestimmt ein Drittel der Schüler schwarz. Und das ist einfach schön. Da hast du wenig mit Fremdsein zu kämpfen.“ (Interview 6-2011). An der bilingualen Privatschule erschien es ihr wesentlich einfacher zu gewährleisten, dass ihre Tochter sich nicht „fremd“ fühle oder gar Rassismus erlebe als im eigentlich ja auch sehr heterogenen Kreuzberg. Doch dort hatten Bekannte von ihr schlechte
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5 Schulwahlpraktiken und -diskurse
Erfahrungen gemacht: „Und ich kenne schon afrikanische Familien, die hier [in Berlin-Kreuzberg, Anmerkung I.D.] zur Schule gegangen sind und sie haben sich schon beschwert, dass ihre Kinder viel gehänselt werden.“ (Interview 6-2011). Jenny Miller benannte andere Schwarze Kinder als eine wichtige Voraussetzung dafür, dass ihre Tochter Mary weniger Erfahrungen mit „Fremdsein“ machen oder gar „Hänseleien“ erdulden müsse. Im Interview sprach sie zudem von sich als „weißer Person“ (vgl. Interview 6-2011). Ihre – zum Zeitpunkt des Interviews – dreijährige Tochter bezeichnete sie dagegen als „schwarze Frau“. Dies könnte darauf verweisen, dass sie sich intensiv mit Critical Whiteness-Ansätzen auseinandergesetzt hatte.24 In Bezug auf mögliche rassistische Belangungen, die ihre Tochter an einer zukünftigen Schule erleben könnte, machte Jenny Miller deutlich, dass dies auch sie selbst verletzen würde: Sie wird mit vielem konfrontiert als schwarze Frau, das ich nicht spüren kann. Das sehe ich vielleicht auch gar nicht als weiße Person. Und ja, mich würde das, dass sie damit zu kämpfen hat, mich würde das echt verletzen! (Interview 6-2011)
Jenny Miller thematisierte subtilen Rassismus, von dem sie annahm, ihn als weiße Person nicht oder zumindest nur erschwert wahrnehmen zu können, da sie selbst davon nicht betroffen war. Erst durch ihre zweite Ehe mit ihrem jetzigen Partner und die gemeinsame Tochter Mary war für sie Rassismus augenscheinlicher und – vermittelt über ihre Familienangehörigen – zu einem Teil ihres Lebens geworden. In diesem Zusammenhang berichtete sie bspw. von einer für sie völlig unverständlichen Situation bei einem Elternfrühstück in der Primel-Kita, als einige Eltern sich mit allen anderen Personen um ihren Mann herum angeregt unterhielten, ihn jedoch ignorierten und auf diese Weise isolierten und ausgrenzten (vgl. Interview 6-2011). Gegenüber ihrer Tochter Mary nahm Jenny eine starke Beschützerinnenposition ein. Als verantwortliche und sich sorgende Mutter wollte sie nach
24Die
US-amerikanischen Critical Whiteness Studies sind aus den anglophonen Black Studies hervor gegangen und entwickelten sich in den 1990er Jahren im englischsprachigen Raum weiter (vgl. Frankenberg 1994). Weißsein wird dabei als Ort soziostruktureller Privilegien analysiert. Seit Mitte der 1990 Jahre bestehen Bestrebungen, Critical Whiteness-Ansätze auf den deutschen Kontext zu übertragen (vgl. exemplarisch Eggers u. a. 2005a). Die Kritische Weißseinsforschung hinterfragt dabei die Normen, die das ‚Andere‘ erst erschaffen und wendet den Blick von diesen weg auf das nicht benannte Weißsein.
5.4 Wertedebatten
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Möglichkeit verhindern, dass Mary rassistisch diskriminiert werden könnte. Dafür war sie bereit, Mary an einer Schule am Stadtrand anzumelden und einen weiten Schulweg zurückzulegen. Sie sah es zudem als nicht entscheidungsrelevant an, dass ihre Tochter eventuell in der neuen Schule noch niemanden der zukünftigen Mitschüler*innen kennen könnte. Was für sie eine ‚gute‘ Schule ausmachte, unterscheidet sich damit von der Argumentation vieler Eltern aus Gruppenanmeldungen, um die es im folgenden Kapitel 6 geht. Diese Eltern setzen gerade die gute Erreichbarkeit der Grundschule sowie die bestehenden Sozialkontakte zwischen den Kindern zentral. Melanie Reichert: Heterosexismus Eine andere Mutter, Melanie Reichert, hatte sich ganz bewusst dagegen entschieden, ihre beiden Kinder an einer staatlichen deutsch-türkischen Europaschule anzumelden. Auch wenn sie mit ihrer türkischen Partnerin ihre Kinder bilingual erzog und die Kinder eine deutsch-türkische Europakita besucht hatten, so sollten sie nicht die dazugehörige Europaschule besuchen. Sie begründete dies damit, dass dort „einfach gar keine Durchmischung mehr ist“ (Interview 2-2012). So gebe es kaum deutsch-türkische oder deutsch-deutsche Elternpaare und noch seltener solche mit türkischer sowie einer anderen nichtdeutschen Nationalität. Vielmehr handele es sich bei der Schule um „eine türkische Eliteschule für engagierte türkische Bildungsbürger, die ihre Kinder nicht auf verrufene Kiez-Schulen geben wollen.“ (Interview 2-2012). Insbesondere aber befürchtete Melanie Reichert mit ihrer Partnerin auf eine heterosexistische Grundhaltung der anderen Eltern zu stoßen, die sie bereits in der Kita ansatzweise erlebt hatte: Und das ist uns einfach zu Türkisch und da haben wir auch Probleme als Frauen-Paar. Das ist ganz, ganz klar. Das haben wir auch in der Kita gemerkt, aber Kita ist ein Schonraum, das ist immer noch ganz klein und ganz nett und so. Aber Grundschule ist anders und da gibt’s einfach auch kein Verständnis. Dem wollten wir unsere Kinder dann nicht aussetzen. (Interview 2-2012)
Ob Melanie Reichert wohl „engagierten[n] türkische[n] Bildungsbürger[n]“ (s. o.) generell eine größere Affinität zu heterosexistischen Familienidealen zusprach? Möglicherweise tat sie dies ausgehend von ihrem eigenen Erleben. Melanie Reichert hatte jedenfalls die Erfahrung gemacht, dass dies im Umfeld der deutsch-türkischen Europaschule der Fall sei. In Anlehnung an die Analysen Alana Lentins und Gavan Titleys (2011) ließe sich hier von einer „bad diversity“ (ebd.: 160–192) der natio-ethno-kulturell codierten „türkische[n]
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5 Schulwahlpraktiken und -diskurse
Bildungsbürger“ sprechen, die die positiv konnotierte „good diversity“ (ebd.) der geschlechtlich-sexuellen Diversität bedrohe. Am Beispiel des damit verknüpften Homonationalismus (vgl. Haritaworn 2010; Puar 2007; Tsianos 2014, 2015b) wird die große Ambiguität und Widersprüchlichkeit des racial neoliberalism (vgl. Lentin/Titley 2011: 165–192) besonders deutlich, in dem ein an westlichen Werten orientiertes Gesellschaftsideal als Norm etabliert wird und die ‚Anderen‘ permanent dem Verdacht ausgesetzt sind, diese ‚westlichen Werte‘ nicht (vollständig) inkorporiert zu haben (vgl. Unterkapitel 1.4). Eine weitere Verschärfung der heterosexistischen Ablehnung ihrer eigenen Familie oder gar eine mögliche, zukünftige Diskriminierung wollte Melanie Reichert jedenfalls ihrer Partnerin, sich selbst und v. a. nicht ihren Kindern zumuten. Als Alternative entschied sie sich nicht einfach für die Einzugsgebietsschule. Vielmehr vernetzte sie sich schon vor dem Einschulungstermin mit anderen Eltern, die sie zum Großteil bereits kannte, zum Teil aber auch neu kennenlernte. Gemeinsam meldeten diese Gruppe schließlich ihre Kinder an der nahegelegenen Einzugsgebietsschule an (vgl. Kapitel 6). Bei diesen – selbst gewählten und extra ausgesuchten – Familien aus ihrer Gruppenanmeldung sei die Akzeptanz für ihre Partnerschaft und ihre Regenbogenfamilie so selbstverständlich, dass diese erst gar nicht zu einem großen Thema werde. Michaela Beer: Sexismus und Klassenverhältnisse Michaela Beer, deren Tochter ebenfalls die Primel-Kita besuchte, hatte dagegen verschiedene Schulen, darunter auch die zunächst zugeordnete Einzugsgebietsschule in Neukölln, angesehen und nach Gefühl entschieden: „Ich habe mir bloß so die Kinder angeschaut und wenn dann schon irgendwie alles schmutzig und aggressiv war, dann hast du keine Lust, dein Kind da hin zu geben!“ (Interview 4-2011). Während ich ihre Aussage im Interview selbst nachvollziehen konnte, fühlte ich mich in der späteren Analyse ihrer Aussage plötzlich irritiert: Hatte sich Michaela Beers Wahrnehmung, in manchen Schulen sei „irgendwie alles schmutzig und aggressiv“, auf das räumliche Umfeld der Schule gerichtet – Gebäude, sanitäre Einrichtungen oder die Außenanlage –, oder auf die dortigen Kinder, auf die sie ja besonders geachtet hatte? Die Zuschreibung von Schmutz, Verwahrlosung und aggressivem Verhalten steht dabei – unabhängig davon, ob Michaela Beer nun die Kinder und/oder die schulischen Räumlichkeiten gemeint hatte –, gleichsam für die ‚Unterschicht‘; sie weist eine lange Tradition auf und reicht bis in die Zeit der Arbeiter*innenbewegung seit dem ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert zurück (vgl. Kemper/Weinbach 2009: 66 ff.). Schmutz als Ausdruck von Verunreinigung ist so ein Sinnbild für das soziale ‚Unten‘, das
5.4 Wertedebatten
219
Michaela Beer als gesellschaftlich randständig wahrnahm und das sie für ihre Kinder ablehnte (vgl. Douglas 1985). Die Problematik von Schmutz und Verwahrlosung vieler Schulgelände und -gebäude in Berliner Innenstadtbezirken analysiert Stefan Wellgraf als eine Form des systematischen Ruinierens räumlicher Infrastrukturen (Wellgraf 2018: 29–34). Schulische Infrastrukturen stellen dabei sowohl ermöglichende als auch limitierende Bedingungen dar, die von technischen, finanziellen und administrativen Aspekten abhängen sowie „Subjektivierungsprozesse [lenken], […] im sozialen Raum [positionieren] und […] Handlungsroutinen und Einstellungen [lenken]“ (ebd.: 33). Unter Rückgriff auf die postkolonial orientierten Arbeiten von Ann Stoler macht Wellgraf deutlich, „dass es sich bei der Ruinierung von Infrastrukturen meist nicht um natürliche Verfallserscheinungen, sondern um politisch gesteuerte räumliche Exklusionsprozesse handelt“ (ebd.: 33 f.). Diese Prozesse des aktiven Ruinierens finden sich auch in Berliner Innenstadtbezirken, wo die Ressourcen zur Aufrechterhaltung schulischer Ressourcen oder gar zu ihrer Neugestaltung ungleich verteilt sind (vgl. ebd.: 34). Am Beispiel der von ihm untersuchten Hauptschule in Neukölln stellt Wellgraf dar, wie deren „räumliche Vernachlässigung […] seit den 1970er Jahren parallel zum steigenden Migrantenanteil der Schülerschaft verlief“ (ebd.), was zugleich auf das Fortwirken rassistischer Ausgrenzungsmuster verweise. So stehen den miserablen hygienischen Zuständen an Schulen in sozialräumlich benachteiligten Lagen vielfach Schulen mit einer ‚weißeren‘ und bildungsbürgerlicheren Klientel an Familien gegenüber, die über ausreichende Mittel für Reinigung und Instandhaltung verfügen (vgl. ebd.).25 Michaela Beer, die sich zuvor besonders auf den Aspekt der Sprache bezogen hatte, indem sie die „Nicht-Deutschsprachige[n]“ thematisierte (vgl. Unterkapitel 5.3), bezog sich nunmehr auf das Verhalten der zukünftigen Mitschüler*innen ihrer Kinder. Um ihre Argumentation zu unterstützen, berichtete Michaela Beer über Erfahrungen anderer Eltern an der ihnen zugewiesenen Einzugsgebietsschule in Neukölln: „Der Junge wurde da in der Ersten Klasse als ‚Opfer‘ beschimpft und das Mädchen dann in der Dritten als ‚Schlampe‘, wenn
25Mangelhafte
Infrastrukturen werden Wellgraf zufolge zumeist erst sichtbar, wenn der schleichende Verfallsprozess durch Störungen, Zusammenbrüche oder zufällig entdeckte Missstände unterbrochen wird (vgl. Wellgraf 2018: 33). So bspw. an einer Grundschule in Friedrichshain-Kreuzberg, die aufgrund mangelnder hygienischer Zustände im Jahr 2014 kurz vor der Schließung stand, was zu empörten Debatten um Hygienemängel an Berliner Schulen führte (vgl. Steyer 2014; Vieth-Entus 2014).
220
5 Schulwahlpraktiken und -diskurse
sie ein’ Rock anhatte.“ Ein anderes Mädchen hätte die Schule gewechselt, da sie als „‚deutsches Mädchen‘ gemobbt“ worden sei. Dies führte Michaela Beer auf „türkische Jungen“ zurück, von denen allerdings „nur ein ganz kleiner Teil von denen […] da mit solchen Klischeevorst// oder mit solchen Feindbildvorstellungen ankommen. Aber das reicht dann, dass die Kinder Angst vor der Schule haben und dass sie irgendwo Angst haben vermöbelt zu werden.“ (Interview 4-2011). Ähnliche Verhaltensweisen, geprägt durch Aggressivität, Pöbeleien, der Verächtlichmachung und dem Aufdecken von Schwächen sowie einem dezidierten Machismus gegenüber Mädchen, schilderte auch der britische Kulturwissenschaftler Paul Willis (1977) in den 1970er Jahren in seiner Studie „Learning to Labour: How Working Class Kids get Working Class Jobs“. Er untersuchte dabei, wie Arbeiterjugendliche, die „lads“, in und mit ihrer „counter-school-culture“ als einer Opposition und widerständigen Praxis gegenüber Autoritäten, hier den Lehrkräften, Strategien entwickeln, um diesen Autoritäten die Kontrolle über symbolische und reale Freiräume abzutrotzen – Strategien, die auch ihre Väter – und später sie selbst – in ihrem Alltag als Arbeiter gegen die dortigen Autoritäten einsetzen.26 Auch Michaela Beer verhandelte Klassenverhältnisse mit, allerdings aus einer privilegierten Perspektive heraus. Sie befürchtete, die Aggressivität und die Pöbeleien der Kinder aus den soziostrukturell benachteiligten Familien würden sich gerade bei ihren Kindern oder den Kindern befreundeter, mittelschichtsorientierter Familien ein Ventil suchen. Die Erfahrungsberichte, die Michaela Beer vom Hörensagen durch Erzählungen anderer Eltern zugetragen worden waren, unterstrichen dabei für sie den ‚schlechten Ruf‘ der Schule (vgl. Krüger 2014: 400 ff.); sie stellen, wie Stephen J. Ball und Carol Vincent es ausdrücken, ein wirkmächtiges „grapevine knowledge“ (Ball/Vincent 1998) dar, ein „‚hot‘ knowledge, based on affective responses or direct experience. For some parents, personal recommendation is perceived to be far more trustworthy than apparently ‚objective‘ data.“ (ebd.: 380). Der Erziehungswissenschaftler Jens Oliver Krüger betont dabei die Relevanz der Frage, „welches Sprechen […] durch eine explizite Referenz auf Gerüchte ermöglicht [wird]“ (Krüger 2014: 391). Denn schließlich
26In
jüngerer Zeit hat bspw. Stefan Wellgraf (2012, 2018) auf die Rolle von provokativem Verhalten bei Hauptschüler*innen hingewiesen.
5.4 Wertedebatten
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[fordert] [d]ie Ungewissheit hinsichtlich der Güte einer bestimmten Information […] fallibilistische Annäherungen im Konjunktiv heraus: Das Gerücht könnte sich als wahr oder falsch erweisen. Eine binäre wahr-falsch-Differenz wird letztlich durch die Frage nach Glaubwürdigkeit substituiert. (ebd.: 395, Hervorheb. i. Orig.)
Der Michaela Beer durch andere Eltern zugetragene Erfahrungsbericht könnte sich an einer (Berliner) Grundschule zugetragen haben; er lag als Bedrohungsszenario im Bereich des Sehr-Wohl-Möglichen. Glaubwürdig oder vielmehr sogar sehr realistisch erschien er vor dem Hintergrund der in den Jahren zuvor intensiv geführten Debatten und der Vielzahl an Medienberichten um ausufernde Gewalt auf Berliner Schulhöfen. Zentrales Moment dieser Debatten war das Bild überforderter und resignierter Lehrkräfte, denen gewalttätige und aggressive ‚türkische‘ und ‚arabische‘ Jugendliche gegenüberstehen (vgl. Friedrich 2017: 122). Ihre Vorläufer hatten diese Debatten in einem „Ghetto-Diskurs“, der bis in die 1990er Jahre insbesondere auf Kreuzberg als einem durch große Armut und hohe Jugendkriminalität geprägten Teilbezirk gerichtet war (vgl. Lanz 2007: 225). Dieser Krisendiskurs, der dem im Kapitel 4.3.1 angesprochenen „broken windows“-Diskurs zuzurechnen ist, verlagerte sich Ende der 1990er Jahre von Kreuzberg auf Neukölln. Die „imaginäre Geographie[]“ (ebd.: 245) Kreuzbergs, die auch als eine wirkmächtige und folgenreiche Repräsentation der Welt im Sinne von „maps of meaning“ (Jackson 1989) bezeichnet werden kann, transformierte sich in der Folge: Zunehmend galt der Teilbezirk als lebendiger, pulsierender, von Migrant*innen geprägter Stadtteil, dessen große Heterogenität der Ausgangspunkt für Kreativität und urbanes Lebensgefühl darstellt (vgl. Lanz 2007: 245–251). Dagegen wurde der nördliche Teil Neuköllns in der öffentlichen Wahrnehmung zum ‚Problembezirk‘ par excellence. Der Neuköllner Bezirksbürgermeister von 2001 bis 2015, Heinz Buschkowsky (SPD), trug dabei maßgeblich zur Konstruktion des ‚Problembezirks‘ Neukölln bei. Von Beginn seiner Amtszeit an kritisierte er öffentlich soziale Schieflagen und brachte diese mit dem hohen Ausländerprozentsatz von Neukölln in Zusammenhang (vgl. Hamra 2018: 93). Dabei hatte bereits sein Vorgänger, Bodo Manegold (CDU), davon gesprochen, sein Bezirk sei „umgekippt“ (Lanz 2007: 154). Doch erst nach der Ermordung des niederländischen Regisseurs Theo Van Gogh im Jahr 2004 entflammte in den deutschen Medien und der Politik eine Debatte um Ghettos und sogenannte Parallelgesellschaften, durch die auch Heinz Buschkowsky besondere Aufmerksamkeit erhielt (vgl. ebd.: 223–225, 257–259). Als besonders bedrohlich zeichnete er dabei „einerseits islamistische Organisationen und andererseits ‚Jugendliche nichtdeutscher Herkunftssprache‘ mit unzureichender Schulbildung“ (ebd.: 258), die entweder von Transferleistungen lebten oder
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5 Schulwahlpraktiken und -diskurse
kriminell seien. Im Jahr 2012 veröffentlichte Heinz Buschkowsky schließlich das Buch „Neukölln ist überall“, in dem er Neukölln als „Problembezirk“ charakterisierte, geprägt durch Gewalt auf den Straßen, Arbeitslosigkeit und eine unumkehrbare Segregation türkisch- und arabischstämmiger Einwohner*innen von der Mehrheitsgesellschaft (vgl. Buschkowsky 2012). Einschneidend in dieser Debatte war auch die Veröffentlichung eines offenen Briefs, den das Kollegium der Rütli-Schule in Neukölln Ende März 2006 veröffentlichte und in dem die Lehrkräfte die Situation an ihrer Schule als nicht mehr länger tragbar kritisierten (vgl. Friedrich 2017: 122). Wie Sebastian Friedrich an Berichterstattungen des „Spiegel“ aufzeigt, dominierten dort ethnisierende Darstellungen: Anhand der Beschreibung des Alltags einer Lehrerin zeigt sich, dass insbesondere männliche Migranten als zentrale Problemgruppe ausgemacht werden. […] Zuvor wird der Kriminologe Christian Pfeiffer zitiert, der von einer „Macho-Kultur“ spricht und meint, dass diese „besonders Migranten präge“. An anderen Stellen wird diese Deutung auf den vermeintlichen muslimischen Glauben zurückgeführt. (ebd.: 123)
Der hier dargestellte Krisendiskurs dominierte über einen langen Zeitraum die öffentliche Wahrnehmung Berlins bzw. einzelner Berliner (Teil-)Bezirke wie Neukölln. Auch die Eltern in meiner Forschung bewegen sich unweigerlich im Spannungsfeld dieses Diskurses, der durch gesellschaftlich tief verankerte antimuslimische Bilderwelten (vgl. exemplarisch Attia 2015) noch verstärkt wurde. Michaela Beers Zuschreibung an speziell die ‚türkischen‘ Schüler stand daher möglicherweise im Zusammenhang mit antimuslimischen Ressentiments. Denn im deutschsprachigen Kontext „ließ sich in den letzten Jahren eine Islamisierung der Debatten um Migration und Integration beobachten“ (Shooman 2015: 149), resultierend aus einer Formierung eines muslimischen Subjekts aus den Bevölkerungsgruppen, die zuvor als „Ausländer“ bezeichnet worden waren (vgl. Spielhaus 2006; Tezcan 2012). In Bezug auf Michaela Beer ließe sich dann feststellen, dass „sich eine Ethnisierung von Sexismus an[deutet], die die sexistischen Effekte des gesamtgesellschaftlichen Geschlechterverhältnisses als Phänomen von (muslimischen) Migranten fokussiert“ (Friedrich 2017: 123). Häufig ist dies verbunden mit der Zuschreibung einer rückständigen ‚Kultur‘, die „auf ‚die Türken‘ und – mit deutlichem Abstand dahinter – auf ‚die Araber‘“ (Lanz 2007: 326) aus unteren sozialen Schichten projiziert wird. Als Als einer neuen Gruppe von „anti-citizens“, die eine Bedrohung für die Vorstellung von citizenship insgesamt darstellen (vgl. Rose 2000: 103), werden diese „als integrationsunfähig definiert und ihnen damit das Vermögen abgesprochen, sich bürgerschaftliche Rechte verdienen zu können“ (Hess/Lebuhn 2014: 24).
5.4 Wertedebatten
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Zugleich kann so implizit die „überlegene Freiheit und Emanzipation“ der eigenen „Wertegemeinschaft“ als liberal und aufgeklärt mit verhandelt werden. Damit verbundene „rassistische Konstruktionen [sind] auch für Angehörige einer […] Bildungselite der Mehrheitsgesellschaft akzeptabel und vertretbar“ (Tsianos/Pieper 2011: 123); sie können häufig problemlos geäußert werden. Im Gespräch mit Michaela Beer, die sich sehr offen und ungefiltert äußerte, entstand bei mir demgemäß der Eindruck, sie nähme ihre Zuschreibung an die ‚türkischen‘ Schüler als absolut gerechtfertigt und damit auch als akzeptabel und vertretbar wahr. Neben den rassistischen Implikationen, die das Sprechen über die „türkischen Jungs“ mit sich brachte, muss jedoch auch festgehalten werden, dass die Schreckensbilder, die Michaela Beer zeichnete, gerade deshalb so wirkmächtig waren, da sich dabei „Artikulationen von wissensbasierten diskursiven Produktionen mit korrespondierenden Affektproduktionen und affektiven Intensitäten“ (ebd.: 122) vermischten. Bei Michaela Beer waren affektive Intensitäten – Angst und Sorge um das Kind – als komplexe psychologische wie physiologische Empfindungen die Wahrnehmung dominierenden Momente. Die Angst Michaela Beers, das Verhalten der ‚türkischen‘ Schüler werde sexistisch sein, reichte hierbei vollkommen aus. Denn was wäre, wenn sich dies tatsächlich so ereignen sollte? Wie sollte Michaela Beer dann ihre Kinder und insbesondere ihre Tochter vor diesen Zuständen beschützen? Michaela Beers Schreckensbilder waren dabei mehr als ein rhetorisches Mittel, um die Dringlichkeit ihres Wunsches nach einem Schulwechsel zu unterstreichen: Vielmehr ließ es ihre Position als Beschützerin ihrer Kinder unabdingbar erscheinen, eine Schule zu finden, die ihre Kinder gerne und ohne Angst besuchen.
6
Gruppenanmeldungen und die Zusammensetzung von Schulklassen
Um den insbesondere von der Erziehungswissenschaft „häufig als problembehaftet“ (Faust 2008: 225) angesehenen Übergang von der Kita zur Grundschule zu erleichtern, wurden seit Beginn der 2000er Jahre Kooperationen zwischen Kita und Grundschule in den in allen Bundesländern geltenden Erziehungs- und Bildungsplänen fest verankert. Auch im seit dem Jahr 2004 gültigen „Schulgesetz für das Land Berlin“ (vgl. Senatsverwaltung 2004) wird der Übergang von der Kita zur Grundschule aufgegriffen; hier lautet der entsprechende Passus: Grundschulen arbeiten mit Kindertageseinrichtungen sowie mit weiterführenden allgemein bildenden Schulen insbesondere in ihrer Umgebung zusammen und schließen Vereinbarungen über das Verfahren und den Inhalt ihrer Zusammenarbeit. Die Kooperationen dienen der Verbesserung des Übergangs in die Grundschule und in die weiterführende Schule. (ebd., § 20, Absatz 7)
Der erziehungswissenschaftliche Transitionsansatz erachtet dabei Übergänge als biographisch relevante Phasen des Umbruchs, als „komplexe, ineinander übergehende und sich überblendende Wandlungsprozesse […], wenn Lebenszusammenhänge eine massive Umstrukturierung erfahren – ein Kind z. B. vom Kindergartenkind zum Schulkind wird.“ (Griebel/Niesel 2004: 35). Die Grundschulpädagogin Gabriele Faust ist dagegen überzeugt, die Rolle der Transition als problembehaftete und sensible Phase werde überbewertet; für diese Behauptung bestehe vielmehr keine empirische Evidenz (vgl. Faust 2008: 226). Nichtsdestotrotz wird in der Mehrzahl der grundschulpädagogischen Literatur ebenso wie in (schul-)pädagogischen Handreichungen davon ausgegangen, dass Übergänge eine große Herausforderung für Kinder darstellten. Günther Schorch betont im „Studienbuch Grundschulpädagogik“, dass „[m]it dem Eintritt in © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Dean, Bildung – Heterogenität – Sprache, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30856-8_6
225
226
6 Gruppenanmeldungen und die Zusammensetzung von Schulklassen
die ‚öffentliche Schule‘ das Kind […] mit für alle gleichermaßen geltenden objektiven Leistungsanforderungen und überindividuellen Normen konfrontiert [wird]“ (Schorch 2007: 63). Dies berge „die Gefahr eines fatalen Bruchs in der Lernbiographie“ (ebd.) eines Kindes, weshalb „die pädagogischen Aufgaben der Vermittlung zwischen den Phasen und der Kontinuität im Bildungsprozess“ (ebd.) umso wichtiger würden. Auch das „Berliner Bildungsprogramm für Kitas und Kindertagespflege“ aus dem Jahr 2014 geht von der Prämisse des konfliktträchtigen Umbruchs aus: „Übergänge sind besonders sensible Phasen im Leben eines Kindes. Zu den ersten bedeutsamen Übergängen gehören der Übergang von der Familie in die Kindertageseinrichtung bzw. -tagespflege sowie der Übergang von der Kindertageseinrichtung in die Grundschule. […] In allen diesen Situationen werden die Kinder mit erheblichen Veränderungen ihrer Lebenssituation konfrontiert, die sie vor eine Reihe von Entwicklungsanforderungen stellen.“ (Preissing 2014: 55)
In diesem Zusammenhang geht die gestiegene Bedeutung der Kooperation zwischen Kita und Grundschule zurück auf die Bildungsreform der 1960er/70er Jahre in der BRD, in deren Zuge „verschiedene Modelle erprobt [wurden], die die beiden Bildungsstufen Kindergarten und Grundschule strukturell verzahnen und die Frage nach der besten institutionellen Zuordnung der Fünfjährigen klären sollten.“ (Faust 2008: 230). Im darauf folgenden Jahrzehnt „erließen alle alten Bundesländer Verordnungen mit Empfehlungscharakter“ (ebd.: 231) und bis zu Beginn der 2000er Jahre lagen in allen Bundesländern „vorschulische[] Bildungs-, Erziehungs- oder Orientierungspläne“ vor, die „ebenfalls einhellig die Bedeutung der Kooperation von Kindergarten und Grundschule [betonen]“ (ebd.). Gabriele Faust arbeitet hierbei heraus, dass auf der Basis dieser Bildungspläne „eine zweite Welle von Kooperationsvorhaben zu beobachten [ist], in denen deutlicher als bisher der in Kindergarten und Grundschule zugrunde gelegte Bildungsbegriff, die Bildungsinhalte und Lernmethoden bearbeitet werden“ (ebd.). Solche Kooperationsprojekte stellen für das Land Berlin bspw. „TransKIGS“1
1„TransKIGS“
ist ein länderübergreifendes Projekt der Bund-Länder-Kommission in Berlin, Brandenburg, Bremen, N ordrhein-Westfalen und Thüringen (vgl. Bildungsserver Berlin-Brandenburg o. J.).
6 Gruppenanmeldungen und die Zusammensetzung von Schulklassen
227
sowie „PONTE. Kindergärten und Grundschulen auf neuen Wegen“2 dar. Gabriele Faust zufolge würde hinsichtlich der Kooperationen zwischen Kita und Grundschule, „die den Übergang gestalten und mögliche Übergangsprobleme reduzieren sollen“ (ebd.), wiederum zumeist „von vornherein von der Produktivität der Kontakte ausgegangen und deren Erfolg unterstellt“ (ebd.), ohne dass es hierfür empirische Evidenz gäbe. Auch die gemeinsame Einschulung von Kindern einer Kita, die von einer Grundschule bei ihrem Schuleintritt als Gruppe aufgenommen werden, können als Bestandteil der Kooperationen zwischen Kita und Grundschule gelten. Um den Übergang zu erleichtern, sollen Kinder mit im Kontext der Kita gewachsenen Bindungen untereinander den Schulstart gemeinsam in einer Klasse beginnen. Das Berliner Bildungsprogramm betont daher, dass Der Übergang wird dem Kind erleichtert, wenn es in der neuen Lebenssituation neben dem vielen Unbekannten auch Vertrautes vorfindet, z. B. ein befreundetes Kind aus der Kita-Zeit oder Materialien, die ihm aus der Kita her bekannt sind. (Preissing 2014: 60, Hervorheb. I.D.).
In durch aktuelle und vielfältige Gentrifizierungsprozesse charakterisierten Ortsteilen wie bspw. Kreuzberg, Neukölln und Wedding versuchen häufig öffentliche Grundschulen, die in der gesellschaftlichen Wahrnehmung als ‚Problemschulen‘ gelten und einen schlechten Ruf besitzen, auch für mittelschichtsorientierte Eltern attraktiv zu werden. Einige dieser Grundschulen kooperieren daher mit nahegelegenen Kitas, häufig solchen, die überwiegend von soziostrukturell privilegierten Eltern besucht werden. Dazu werben sie an diesen Kitas für die Option der Einschulung einer Kita-Gruppe, sie treten also direkt an eine bestimmte Klientel an Eltern heran und informieren diese über die ihnen gebotenen Möglichkeiten. Dementsprechend, so lassen aktuelle Studien vermuten, wählen auch besonders an Schulwahl interessierte Eltern häufig bereits die Kita ihres Kindes bewusst aus (vgl. Blokland/Große-Löscher 2016; Giustozzi/Blokland/Freitag 2016) und nutzen diese als „access strategy for an elementary school“ (Blokland/Große-Löscher 2016: 74): „Parents use the kindergarten’s connection to preferred schools to access places.“ (ebd.). Zunehmend bieten darüber hinaus problematisierte Grundschulen die Option
2Dabei
handelt es sich um ein Projekt der Internationalen Akademie/INA, Gemeinnützige Gesellschaft für innovative Pädagogik, Psychologie und Ökonomie an der Freien Universität Berlin (vgl. INA o. J.).
228
6 Gruppenanmeldungen und die Zusammensetzung von Schulklassen
einer G ruppenanmeldung an, bei der mehrere Kinder in eine Klasse unabhängig der zuvor besuchten Kita kommen. Zum Teil geht hier die Initiative auch von Eltern selbst aus, die mit ihrem Wunsch nach einer gemeinsamen Einschulung der Kinder direkt an Einzugsgebietsschulen herantreten.3 In Erweiterung des vorangegangenen Kapitels, in dem ich mich mit elterlichen Schulwahlpraktiken und -entscheidungen befasst habe, gehe ich in diesem Kapitel der Frage nach, wie insbesondere soziostrukturell privilegierte Eltern auch über Gruppenanmeldungen Einfluss auf die Zusammensetzung von Schulklassen und auf die Schulen selbst zu nehmen versuchen. Von Interesse ist für mich daher, auf welch unterschiedlichen Wegen Gruppenanmeldungen entstehen (6.1). Daran anschließend befasse ich mich mit den Motiven von Eltern für den Zusammenschluss in einer Gruppe (6.2). Dann frage ich nach den (Selbst-) Schließungsprozessen in und durch Gruppenanmeldungen (6.3). Diesen Effekten entgegen stehen die Intentionen und moralischen Überzeugungen der Gruppenanmeldungseltern: Ihr Ziel ist es häufig, an den betreffenden Schulen im Einzugsgebiet die Schulentwicklung und das Schulklima positiv zu verändern (6.4).
6.1 Wege der Initiierung von Gruppenanmeldungen Die Etablierung von Gruppenanmeldungen unterstützte in F riedrichshainKreuz berg die Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Bündnis ’90/Die Grünen) in ihrer früheren Funktion als Stadträtin für Jugend, Familie und Schule. Während ihrer Amtszeit von 2006 bis 2011 trieb das Bezirksamt Gruppenanmeldungen im Bezirk aktiv voran: Wir haben einige Aktionen gemacht, die, glaube ich, funktionieren und funktionieren können: Ist, dass sich Elternvertreter und Elternvertreterinnen von Schulen mit Kitas zusammengetan haben und dann ganze Kita-Gruppen praktisch in eine Grundschule zusammen eingeschult worden sind. (Interview 3-2013)
Gruppenanmeldungen stellten seit Beginn der Amtszeit von Monika Herrmann eine seitens der Politik geförderte und gewünschte Praxis dar, die in den letzten Jahren auch in anderen Bezirken auf politischer Ebene viel Zustimmung erfuhr.
3Ausgangspunkt einiger Aspekte des vorliegenden Kapitels stellt ein gemeinsam mit Anna Roch und Georg Breidenstein vom Zentrum für Schul- und Bildungsforschung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg verfasster Artikel dar, der im Ethnography and Education Journal erschienen ist (vgl. Roch/Dean/Breidenstein 2018).
6.1 Wege der Initiierung von Gruppenanmeldungen
229
Darüber hinaus werden insbesondere in Neukölln Gruppenanmeldungen auch maßgeblich vom jeweiligen lokalen Quartiersmanagement angestoßen. Die Mutter Johanna Greif aus einer Neuköllner Gruppenanmeldung erzählte bspw.: „Und das ist ja ein wichtiger Punkt, dass im Grunde solche Einrichtungen wie dieses Quartiersmanagement [Name des betreuten Gebiets], das ist das, was bei uns jetzt//, ausschlaggebend ist. Dort treffen sich ja einerseits engagierte Bürger, aber auch Leute aus Institutionen.“ (Interview 5-2013).
Bei einer „Kiezversammlung“ des lokalen Quartiersmanagements, bei dem es um die Zukunft des Wohngebiets ging, hatten sich die Leiterin der Kita, die Johanna Greifs Kinder besuchten, und die Direktorin einer nahegelegenen Grundschule kennengelernt Gemeinsam überlegten sie, wie die im Umkreis wohnenden Mittelschichtseltern davon überzeugt werden könnten, ihre Kinder den Institutionen vor Ort anzuvertrauen, wie Johanna Greif berichtete: Und daraufhin sind die Leute von der Schule, die Schulleiterin und ein, zwei Lehrer aus der ersten Klasse zur Kita gekommen und haben sich den Eltern vorgestellt. Und das war so ungefähr ein Jahr bevor die Schule begann, dass die sich bei uns vorgestellt haben […]. Und da hat sich [das] dann so Stück für Stück entwickelt. (Interview 5-2013)
Doch welche Rolle spielte dabei das Quartiersmanagement, abgesehen davon, dass es einen Raum für die Begegnung verschiedener Akteur*innen aus dem Stadtteil zur Verfügung stellte? Das Konzept hinter dem Quartiersmanagement stammt aus der zweiten Hälfte der 1990er Jahre. In diesem Zeitraum wurden „gesellschaftspolitische[] Debatten zur Reformbedürftigkeit des Sozialstaats und sozialräumlicher Polarisierungen innerhalb der Städte“ (Hamra 2018: 32) intensiv geführt. Im Zuge dessen forderten verschiedene Arbeitsgemeinschaften auf Bundes- und Länderebene das Instrumentarium der Städtebauförderung, das eigentlich „in erster Linie Sache der Länder und Kommunen“ (Güntner 2007: 111 f.) ist, an die neuen Gegebenheiten der sozialräumlichen Entwicklung anzupassen (vgl. Hamra 2018: 32). Im Herbst 1999 wurde in der Folge das Bund-Länder-Programm „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die Soziale Stadt“ beschlossen (vgl. Güntner 2007: 112; Häußermann 2011: 269; Nieszery 2013: 251). Das Soziale-Stadt-Programm setzt als Teil der Städtebauförderung zum einen auf baulicher Ebene an, zum anderen werden auch soziale Maßnahmen in den einzelnen „Quartieren“ gefördert (vgl. Häußermann 2011: 269). Hierbei werden
230
6 Gruppenanmeldungen und die Zusammensetzung von Schulklassen
neue Formen der lokale Politik [erprobt], die sich an den Konzepten vom ‚schlanken Staat‘ orientieren, d. h., z. B, dass Partnerschaften zwischen öffentlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren angestoßen […] und […] neue Ansätze von Partizipation und Aktivierung entwickelt werden (ebd.).
Im Kontext Berlins wurde dabei ab der Mitte der 1990er Jahre von verschiedener Seite – öffentliche Wohnungsbaugesellschaften, Kommunalpolitiker*innen und Verwaltungsebene4 – auf die Häufung sozialer Problemlagen und die Zunahme an Armut in einigen städtischen Räumen und Wohngebieten hingewiesen (vgl. Hamra 2018: 35). Schließlich wurde im Jahr 1998 – im Auftrag des Berliner Senats – das sogenannte Häußermann-Gutachten zur Sozialorientierten Stadtentwicklung veröffentlicht (vgl. Ifs/S.T.E.R.N. 1998), in dem die Autor*innen vor einer Verschärfung sozialräumlicher Probleme in einigen Stadtteilen warnten und aus diesem Grund Strategien einforderten, um die zunehmende Marginalisierung und Exklusion dieser Gebiete zu beenden (vgl. ebd.: 79).5 Infolgedessen richtete der Senat im März 1999 in zunächst 15 innerstädtischen „Gebieten mit besonderem Entwicklungsbedarf“ ein Stadtteilmanagement ein – das Quartiersmanagement. Als dessen Basis kann das kurz zuvor von der rot-grünen Bundesregierung aufgelegte Bund-Länder-Programm „Sozialer Staat“ gelten (vgl. Lanz 2009b: 219).6 Ziel des Quartiersmanagements ist es, über verschiedene
4Die Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales thematisierte bspw. im Sozialstrukturatlas Berlin 1997 (vgl. Hermann/Imme/Meinlschmidt 1998) „die Verteilung von Armut innerhalb Berlins mit dramatischen statistischen Daten“ (Hamra 2018: 35). 5Zudem empfahlen sie, ein regelmäßiges „Stadt-Monitoring“ als einem „Stadtbeobachtungssystem[] zur Früherkennung von problematischen Entwicklungen“ (Ifs/ S.T.E.R.N. 1998: 17 und 86 ff.) einzurichten, das seither alle zwei Jahre von Neuem erstellt wird (vgl. Hamra 2018: 35). 6Das Budget, das den Quartiersmanagementgebieten zur Verfügung steht, kann dabei sowohl für Maßnahmen der Strukturförderung als auch für Sozialprojekte zur Verbesserung sozialer nachbarschaftlicher Gefüge eingesetzt werden (vgl. Hamra 2018: 36; Güntner 2007: 216; Lanz 2007: 147, 2009b: 219). Dabei sollen privatwirtschaftliche „Quartiersmanager“ „in Kooperation mit den Behörden lokale Akteure […] vernetzen und Projekte […] entwickeln“ (ebd.: 219). Ziel der Maßnahmen ist es, die Bewohner*innen dazu zu befähigen, ihre eigene Lebenssituation zu verändern und ihre Kompetenzen zu entwickeln, um unabhängiger zu werden (vgl. ebd.). Der Kulturanthropologe Stephan Lanz stellt diesbezüglich fest: „Marginalisierten BewohnerInnen soll ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ vermittelt werden: Das zentrale Stichwort heißt Empowerment.“ (ebd.: 219 f.; vgl. auch Häußermann 2011: 269). Ihm zufolge erschienen die Maßnahmen „wie eine aktualisierte Version jener soziokulturellen Projekte der Alternativbewegung, die der Senat bereits in den 80er Jahren gefördert hatte. Neu ist, dass der Staat solche Projekte nun selbst zu initiieren trachtet.“ (Lanz 2009b: 220).
6.1 Wege der Initiierung von Gruppenanmeldungen
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Maßnahmen und Projekte die Bewohner*innen marginalisierter und von Armut betroffener Wohngebiete im Sinne einer ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ dazu befähigen, ihre eigene Lebenssituation zu verändern und Kompetenzen zu entwickeln, um unabhängiger zu werden (vgl. ebd.). Die Wirkungen des Quartiersmanagements erachten dabei kritische Studien im Feld von Migrationsforschung und Stadtanthropologie als zumeist überaus ambivalent. Kritisiert wird, Maßnahmen des Quartiersmanagements vermochten zwar einerseits die Stadtentwicklungspolitik gut an spezifische lokale Bedarfe anzupassen, andererseits wirkten sie aber gerade hinsichtlich der Bekämpfung von Armut nicht ausreichend und benachteiligten die am stärksten marginalisierten Bewohner*innen zusätzlich (vgl. ebd.: 220). In Bezug auf Gruppenanmeldungen lässt sich festhalten, dass in einigen innerstädtischen Gebieten Berlins im lokalen Quartiersmanagement engagierte Akteur*innen – wie im Falle von Johanna Greif – angestoßen und vorangetrieben werden. Wenn diese Akteur*innen sich zusammentun, um die von Armut und ‚ethnischer Segregation‘ betroffenen Schulen in ihrem Wohnumfeld zu ‚retten‘, so kann vermutet werden, dass sich hier Ideen und Konzepte des Quartiersmanagements wiederfinden. Vor diesem Hintergrund erscheint auch diesbezüglich die Frage nach der Wirkung von Gruppenanmeldungen auf Sozialräume und lokale Schulen als relevant. Johanna Greif berichtete, die Kita-Gruppe ihrer Tochter sei beim „Tag der offenen Tür“ von der Schulleiterin sehr herzlich dazu eingeladen worden, Klassenräume und Unterricht kennenzulernen. Die Direktorin habe der interessierten Elterngruppe zugesichert: „‚Ok, alle Klassenräume sind offen, also Erste, Zweite Klasse. Ihr könnt alle kommen, ihr könnt euch in den Unterricht reinsetzen […] und kuckt euch das an. Und dann kucken wir halt weiter.‘“ (Interview 5-2013). Die offensive Werbung der Einzugsgebietsschule um die Eltern aus der Gruppenanmeldung dockte dabei Johanna Greif zufolge an ihrem eigenen Interesse an: „Im Grunde willst du ja dein Kind nah wo du wohnst in die Schule bringen. Keiner will ja irgendwie nach Charlottenburg fahren. Im Grunde willst du es ja immer kurz haben.“ (Interview 5-2013). Gerade auch für Eltern, die in Eigeninitiative eine solche gemeinsame Einschulung anstoßen, ist häufig der kurze Schulweg für die Schulanfänger*innen ausschlaggebend. Sie betonen die Vorteile, die eine Einschulung nahe an ihrem Wohnort mit sich bringt: neben dem kurzen Schulweg auch die Möglichkeit für das Kind, andere Mitschüler*innen am Nachmittag auf dem Spielplatz zu treffen oder zu besuchen. Ein Beispiel für die organisierte Einführung von Gruppen-
232
6 Gruppenanmeldungen und die Zusammensetzung von Schulklassen
anmeldungen durch Eltern stellt die Initiative „Kiezschule7 für alle“ dar. Sie existiert seit dem Jahr 2011 und wirbt dafür, dass Familien ihr Kind auf eine von zwei der Grundschulen im Stadtviertel schicken, mit denen sie kooperiert. Die Initiative stellt sich in ihrem im Herbst 2013 und Frühjahr 2014 verteilten Flugblatt folgendermaßen vor: Die [vollständiger Name der Initiative]: das sind wir – Eltern, die ihre Kinder nicht zu weit entfernten Schulen fahren oder der Schule wegen umziehen wollen. Die „Kiezschule“ ist eine Initiative von Eltern für Eltern im [Name eines Berliner Kiezes], die NeuköllnerInnen bleiben und ihre Kinder zusammen einschulen möchten.
Um auch andere Eltern von den beiden Schulen zu überzeugen, organisiert die Initiative vor dem Schuleintritt des Kindes Treffen mit interessierten Familien und vernetzt diese (u. a. via Facebook), bietet Hospitationen im Unterricht an und führt Informationsveranstaltungen in umliegenden Kitas durch. In regelmäßigen Abständen, das heißt im Frühjahr vor den „Tagen der offenen Tür“ und im Herbst vor den Anmeldeterminen an den Schulen, bringt die Initiative Aushänge in Kitas und auf Spielplätzen an und legt Flugblätter an Orten aus, die häufig von der anzusprechenden Klientel an Eltern frequentiert werden: Dazu gehören neben Kitas auch neu eröffnete familienorientierte Cafés – meist mit Spielecke und Kindersitzen ausgestattet und häufig mit Babyccino im Angebot.
6.2 Motivationen für die Praxis der Gruppenanmeldung Viele Eltern begründeten mir gegenüber ihr Interesse an einer Gruppenanmeldung mit den Bedürfnissen ihres individuellen und besonderen Kindes (vgl. auch Krüger/Roch 2016) – oder dessen Sensibilität, wie es Johanna Greif aus einer Neuköllner Gruppenanmeldung ausdrückte: „Also für uns persönlich jetzt, weil wir eine Tochter haben, die eher so ein bisschen sensibel ist, so ein bisschen zart ist. Da haben wir gedacht: ‚Boa, das würde der den Anfang total erleichtern, wenn die ihr Umfeld kennt und nicht fünfundzwanzig wildfremde Kinder da sitzen.‘“ (Interview 5-2013). Timo Brandt aus einer anderen Gruppen-
7Der
Begriff „Kiezschule“ bezieht sich darauf, dass es sich um eine Schule in der direkten Nachbarschaft, also im jeweiligen Kiez handelt.
6.2 Motivationen für die Praxis der Gruppenanmeldung
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anmeldungsinitiative aus Kreuzberg meinte zu seiner Motivation, seine Tochter als Teil dieser Gruppe an der Einzugsgebietsschule anzumelden: Aber unser Zugang war halt sozusagen unsere Tochter. Die ist eher so ein bisschen schüchtern und die brauch’ immer lange Anlaufzeit. Und sie war die einzige in ihrem Alter in der Kita, die in die Schule kam. Und da haben wir gesagt: „Hey, wenn’s da so Gruppen gibt, eigentlich ganz cool, dann kann die da mal andere Kinder im Vorfeld kennen lernen und//“, weißt du? So ein bisschen mehr Sicherheit kriegen einfach im Sozialkontakt. Das war sozusagen unser persönliches Anliegen. (Interview 1-2012)
Johanna Greif und Timo Brandt sprachen in Bezug auf den Schuleintritt von einem herausfordernden Neuanfang und konzipierten diesen für ihr besonderes Kind als problembehaftet. Den Übergang so zu gestalten, dass das eigene, sensible oder schüchterne Kind ihn gut bewältigen konnte, erschien damit als notwendige und zugleich risikoreiche Aufgabe (vgl. ebd.: 57). Ein gelungener Übergang von der Kita zur Grundschule wurde auf diese Weise insbesondere (auch) für die Eltern zu einer zu meisternden Herausforderung. Der Bezug auf die Besonderheit des eigenen Kindes und der formulierte Anspruch, dieser gerecht werden zu wollen, stiftete dabei die Begründung, sich einer Gruppenanmeldung notwendigerweise angeschlossen zu haben. Letztlich erschien es dadurch ‚normal‘, für ein besonders Kind auch den besonderen Weg einer Gruppenanmeldung gewählt zu haben (vgl. ebd.: 57 f.). Gerade in Bezug auf eigene Ängste, Befürchtungen und Unsicherheiten vermittelte vielen dieser Eltern der Zusammenschluss in einer Gruppenanmeldung ein Schutzgefühl. Immer wieder betonten Eltern, wie wichtig der Rückhalt einer Gruppe für sie selbst gewesen sei – besonders, wenn die Entscheidung für die Einzugsgebietsschule von anderen Eltern, bspw. in Spielplatzgesprächen, in Frage gestellt wurde. Rabea Kraus-Lee aus einer Kreuzberger Gruppenanmeldung erzählte, sie habe auf dem Spielplatz nur allzu oft von anderen Eltern gehört, wie unverantwortlich es sei, das eigene Kind auf die nahegelegene Grundschule mit einem schlechten Ruf zu schicken. Diese Eltern hätten ihr zu verstehen gegeben: „‚Oh, du bist ja wahnsinnig, das kannst du ja nicht machen‘ und so.“ (Interview 2-2013). Die Mehrzahl der Eltern aus Rabea Kraus-Lees Umfeld nahm die Entscheidung für die Einzugsgebietsschule als ein absolutes no-go war. Sie markierten diesen Schritt als verantwortungslos dem eigenen Kind, seinen Bildungschancen wie auch seinem persönlichen Wohlergehen gegenüber. Rabea Kraus-Lee fühlte sich regelmäßig von anderen Eltern auf dem Spielplatz unverstanden und ließ sich von ihnen verunsichern. Die gleichgesinnten Eltern ihrer Gruppenanmeldung waren für sie daher eine große Stütze:
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Das war für mich schon extrem hilfreich zu wissen, da sind noch andere Leute, die diese Entscheidung gefällt haben und die stehen auch dafür und sind der Meinung, dass es eigentlich eine gute Schule ist. Und wollen eigentlich von diesen Vorurteilen, die meistens entstehen von Leuten, die eben diese Schule noch nie von innen angekuckt haben, nichts wissen. (Interview 2-2013)
Die Eltern aus Rabea Kraus-Lees Gruppenanmeldung stärkten sich als Gruppe von Gleichgesinnten und konnten sich dadurch immer wieder der eigenen Sinnhaftigkeit der getroffenen Entscheidung rückversichern: „Und man kann trotzdem auch über die Ängste sprechen, die man vielleicht hat. Die man dann ja leider doch hat, wenn man dies immer, zu oft, gehört hat.“ (Interview 2-2013). Rabea Kraus-Lees Wunsch, sich gegenseitig in der Entscheidung für die Einzugsgebietsschule bestätigen zu können, aber aufgrund bestehender Ängste auch zu müssen, verweist hier auf einen weiteren Sicherheit gebenden Aspekt für die Eltern: Indem sie vorhandene Ängste bezüglich der Einzugsgebietsschule teilen und miteinander besprechen konnten, vermittelte dies ihnen ein Schutzgefühl. Ausschlaggebend dafür, sich einer Gruppenanmeldung anzuschließen, sei für viele Eltern das erwartete schlechte Schulklima gewesen, so Marianne Ebeling, eine Sprecherin der Initiative: Gerade die Kiezschulleute, das ist ein Klientel, da geht es nicht darum: „Das Kind könnte ein’ Wissensmangel haben“, sondern eher: „Das Kind könnte sich da nicht wohl fühlen, das könnte gemobbt werden. Wie ist das denn? Da sind so viele türkische und arabische Kinder und Familien und was bringen die denn da kulturell ein? Was ist da für eine Atmosphäre in der Klasse?“ (Interview 3-2014)
In den von Marianne Ebeling angesprochenen Befürchtungen der „Kiezschulleute“ drückt sich ein bildungsbürgerlicher Habitus aus, über den diese eine ‚mangelnde kulturelle Passung‘ zwischen den Mitgliedern der Initiative und den „türkische[n] und arabische[n] Kinder[n] und Familien“ plausibilisierten. Letztere stellten sie als zahlenmäßig dominant dar und machte sie indirekt für ein schlechtes Schulklima verantwortlich (vgl. auch Unterkapitel 5.4). Die Bezugnahme auf die „türkische[n] und arabische[n] Kinder[n] und Familien“ erfolgte dabei möglicherweise vor dem Hintergrund des im Kontext der BRD hegemonialen Islamdiskurses, denn dieser „handelt nicht in erster Linie von Religion“ (Attia 2013: 343), sondern die Vorstellung ‚kultureller‘ Eigenschaften wird „in der Regel mit sozialem Verhalten assoziiert, das auf eine andere nationale, kulturelle, religiöse Herkunft rückbezogen wird“ (ebd.: 336). Die Frage, was die „türkische[] und arabische[] Kinder und Familien […] kulturell ein[bringen]“ und zu welcher (negativen) Atmosphäre sie beitragen
6.2 Motivationen für die Praxis der Gruppenanmeldung
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könnten, könnte somit also im Kontext von gesellschaftlich tief verankerten antimuslimischen Bilderwelten zu verstehen sein. Ihre eigenen Befürchtungen hinsichtlich des Schul- oder auch des Klassenklimas drückte Marianne Ebeling in Frageform aus: „Ist da ein raues Klima, ist da ein Klima, was irgendwie die Mädchen sozusagen// und denen irgendwelche kulturellen Vorstellungen direkt oder indirekt aufoktroyiert, mit denen ich überhaupt nicht klarkommen würde?“ (Interview 3-2014). Für Marianne Ebeling war das Szenario eines solch rauen Klimas, in dem Mädchen diskriminiert und in ihrer freien Entwicklung eingeschränkt wurden, überaus erschreckend. Sollte sie tatsächlich mit – auch nur ein oder zwei – Familien in der Schulklasse ihre Tochter konfrontiert sein, die eine komplett andere Vorstellung davon hätten, wie Jungen und Mädchen aufwachsen sollen, könnte dies zu mannigfaltigen Diskussionen, Problemen oder gar Verwerfungen zwischen den Eltern führen. In jedem Fall wäre das Verhältnis zu den anderen Familien für sie wesentlich problembehafteter und eben nicht so unkompliziert wie es für sie mit den Eltern aus der Gruppenanmeldung gegeben zu sein schien. Auch in Bezug auf ihre Tochter wäre es mit Sicherheit ungleich herausfordernder, diese dabei zu unterstützen und zu bestärken, in ihrer Schulklasse ein gleichberechtigtes und selbstbestimmtes Zusammenleben der Geschlechter einzufordern und selbst nach Möglichkeit auch zu praktizieren (vgl. Unterkapitel 5.4).
6.2.1 „Wir […] sind Eltern, die den ersten Schritt gewagt haben“8 Ängste bezüglich der Einzugsgebietsschule äußerte die Kiezschul-Initiative zudem in ihrem jährlich aktualisierten Flugblatt. Dort markierte sie – zumindest in den Anfangsjahren, in denen die Initiative bestand, – den Gang an die Einzugsgebietsschule als eine riskante Angelegenheit. Im Flugblatt aus dem Jahr 2012 heißt es: „Wir, die [vollständiger Name der Initiative], sind Eltern, die den ersten Schritt gewagt haben.“ Marianne Ebeling sagte über das Hauptmotiv der Eltern, die sich ganz zu Anfang zusammengeschlossen hatten: Wir wollen uns sozusagen gegenseitig erst Mal (lacht)// na ja, Mut machen ist so negativ, aber// Also: Wir wollen jetzt zusammen erst mal diese Schulen erkunden und denen auch zugleich dabei helfen, selber ein bisschen populärer zu werden und besser da zu stehen. (Interview 3-2014)
8Flugblatt
der Kiezschul-Initiative vom Frühjahr 2012.
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Die Eltern, die sich gegenseitig Mut machen mussten und die „den ersten Schritt gewagt haben“, sehen sich offensichtlich als ‚Pioniere‘, die anderen Eltern ihres Sozialmilieus den Weg in die bis dato als gefährlich erscheinenden Schule ebneten. Der Eindruck entsteht, es handelte sich um eine Schule, die bislang nicht allen Kindern und deren Eltern gleichermaßen offen gestanden hätte und die diesen nun erst wieder in einem langwierigen und mühevollen Prozess zugänglich gemacht werden müsste. Der Topos des Wagnisses wurde im Kontext einer anderen Gruppenanmeldung an einer Kreuzberger Grundschule, die vor einigen Jahren ‚Klasseneinteilungen nach Herkunft‘ umgesetzt hatte (vgl. Unterkapitel 8.2), weiter verschärft. Timo Brandt, ein Vater aus dieser Elterninitiative, erinnerte sich: Ich hab’ da manchmal gehört: „Ja, die Eltern erobern sich die Narzissen-Schule zurück.“ Wo ich so dachte: „Ja, von wem denn bitte? Also wer hat’s euch denn weggenommen?“ Weißte? Ne? So. (Interview 1-2012)
Timo Brandt kritisierte das Bild einer „Rückeroberung“ dieser Grundschule, auch, weil damit implizit behauptet wurde, die Schule sei diesen Eltern zuvor verschlossen gewesen. Er betonte vielmehr, viele Eltern aus seinem Umfeld hätten bislang die Schule gemieden.9 Letztlich bleibt festzuhalten, dass erst das Gefühl von Rückhalt in einer Gruppe von Gleichgesinnten vielen Eltern offenbar ausreichend Sicherheit bot, um sich an Schulen mit einem Negativ-Image überhaupt heran zu trauen. Aus den Erzählungen einzelner Eltern aus Gruppenanmeldungen und aus den Dokumenten der Kiezschul-Initiative lässt sich deren Ambivalenz ablesen: Einerseits verbessert sich durch Gruppenanmeldungen der Ruf einer zuvor gemiedenen Einzugsgebietsschule, da andere Eltern dem Vorbild der ‚Pioniere‘ folgen können. Auf der anderen Seite wird durch die Gruppenanmeldungen auch manifestiert, dass es sich um eine ‚problematische‘ Schule handelt, auf die sich Eltern nicht ohne Rückhalt aus der Gruppenanmeldung trauen können (vgl. Roch/ Dean/Breidenstein 2018: 147).
9Demgegenüber
hatten andere, größtenteils weniger privilegierte Eltern ihr Kind auch schon zuvor an der Einzugsgebietsschule angemeldet, wobei die Entscheidung für die Schule nicht zwangsläufig die Präferenz für diese beinhalten muss (vgl. bezüglich des Berliner Wohnungsmarkts Barwick/Blokland 2015: 229 f.).
6.3 Selbstschließungsprozesse
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6.3 Selbstschließungsprozesse Auch wenn die Gruppenanmeldungsinitiativen in meiner Forschung überwiegend homogen hinsichtlich Bildungskapitalien waren, so betonten doch einige Mitglieder, wie heterogen ihre Gruppe hinsichtlich ethno-natio-kultureller Codierungen gewesen sei. In diesem Sinne äußerte sich bspw. Melanie Reichert: Wir wollten keine deutsche Klasse. Das ist auch also verrückt, weil, diese Gruppe ist so durchmischt, ne? Also es gibt eben ganz viele zweisprachig erzogene Kinder, viele binationale Paare, aber natürlich alle mit einem entsprechenden Bildungshintergrund, das muss man schon sagen. (Interview 2-2012)
Über die wahrgenommene Heterogenität hinaus war für Melanie Reichert die Schicht- bzw. Klassenzugehörigkeit der Eltern überaus relevant. Die Kategorien race – hier im Sinne von „binational“ – und class – hier im Sinne von „entsprechender Bildungshintergrund“ – überlagerten sich auf diese Weise und bedingten sich in gewisser Weise gegenseitig. Bei mir selbst rief die Gleichzeitigkeit von Heterogenität (unterschiedliche ethno-natio-kulturelle Codierungen) und Homogenität (privilegierter Sozialstatus), die Melanie Reicherts Gruppenanmeldung kennzeichnete, unweigerlich Fragen auf: Wie konstituiert sich die Zugehörigkeit zu einer solchen Gruppenanmeldung praxeologisch? Und inwiefern und welche Ausschlüsse können gegebenenfalls mit einer Gruppenanmeldung einhergehen?
6.3.1 Soziale Nähe der Gruppenanmeldungseltern untereinander Man kennt sich und man kann gleich da weitermachen, wo man im Grunde im Kindergarten aufgehört hat. (Interview 5-2013)
In meiner Forschung pflegten viele Eltern bereits Kontakte untereinander, bevor sie sich als Elterninitiative zusammenschlossen. Auf diese Weise konnten so, über die gemeinsame Einschulung der (befreundeten) Kinder hinaus, auch die gewachsenen Bindungen der Eltern bestehen bleiben. Johanna Greif aus einer Neuköllner Gruppenanmeldung drückte dies folgendermaßen aus:
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Und das ist wiederum auch ein Vorteil von der Gruppenanmeldung gewesen, dass wir Eltern uns untereinander kennen. Und das ist super. Du weißt// du kennst natürlich die Eltern, wo du sagst: „Ach, auf die kann man sich immer nicht verlassen.“ Du kennst aber auch die achtzig Prozent der Eltern und weißt, was die gut können. (Interview 5-2013)
Auch für die Eltern stellte es eine Entlastung dar, wenn diese bereits feste Sozialkontakte geknüpft hatten, wie Johanna Greif betonte: „Und wenn du dich so untereinander kennst, gerade was die Eltern betrifft, ist das nämlich auch sehr schön.“ (Interview 5-2013). Hier wird ein ganz profanes Interesse daran deutlich, sich in solchen Gruppen zusammenzuschließen, in denen sich eben nicht nur die Kinder bereits kennen, sondern auch die Eltern untereinander Kontakte oder sogar Freundschaften pflegen. Auch diese Schließungsprozesse wirken in Bezug auf bestimmte Eltern(-gruppen) ausschließend, die als nicht zu einer Gruppenanmeldung ‚passend‘ erachtet werden, wie ich im Folgenden anhand von Gruppenbildungen an der Kreuzberger Primel-Kita nachzeichne. Zum Zeitpunkt meiner Forschung fanden sich dort gerade zwei parallele Gruppenanmeldungen zusammen. Die Initiativen hatten mit zwei Schulen in der näheren Umgebung Kontakt geknüpft: bei der einen handelte es sich um eine gebundene Ganztagsschule, bei der anderen um eine Halbtagsgrundschule. Je nachdem, welches schulische Konzept die Eltern bevorzugten und welche Kontakte zwischen den Kindern bestanden, hatten sich die beiden Initiativen – die einzelnen Kita-Gruppen übergreifend – zu Teams von jeweils fünf bis sechs Kindern und deren Eltern zusammengeschlossen. Nicht alle Eltern, deren Kind im Vorschulalter war, waren Teil der beiden Gruppenanmeldungen. Manche bevorzugten eine andere (Privat-)Schule, manche wiederum wurden von den beiden Initiativen von vornherein nicht angesprochen. Letzteres traf auf das Elternpaar Hava und Ekrem Yaşar zu. Ihre Tochter Nurcan besuchte die Kita, seitdem sie zwei Jahre alt war; in der Institution galt die Türkisch-Erstsprachlerin intern als Kind mit besonderem „Sprachförderbedarf“ des Deutschen (vgl. Unterkapitel 4.2 und 4.3). In meinem Feldtagebuch notierte ich, was mir beim Sommerfest der Kita eine andere Mutter, Seyran Cetin, über die zukünftige Grundschule von Nurcan berichtete: Seyran wusste nicht genau, auf welche Schule Nurcan komme, vermutete aber auf die [Name der Sprachförder-Grundschule]. Sie bedauerte das, da in der Kita deutlich geworden sei, dass Nurcan eine gute Förderung brauche, um weiter zu kommen. Nurcan habe große emotionale Kompetenzen, aber es falle ihr schwer, auf sich und ihre Bedürfnisse zu achten. Käme sie also an die [Name der Sprachförder-Grundschule], bestehe die Gefahr, dass sie dort untergehe. Ich
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fragte nach, ob sie denn nicht zu der Gruppe gehört, die zusammen an die [Name einer anderen Grundschule] gehe und Seyran antwortete meiner Wahrnehmung nach eher überrascht, als habe sie sich zuvor noch gar nicht die Frage gestellt, Nurcan gehöre nicht zu ihrer Gruppe, denn schließlich sei sie ja mit keinem anderen Kind so richtig befreundet. (Feldtagebuch 2012: 16.06.2012) Nurcan war nur mit wenigen gleichaltrigen Kindern befreundet. Aus den Soziogrammen (vgl. Unterkapitel 2.1), die einige der Mütter anfertigten, wurde deutlich, dass lediglich eine Mutter ihre Tochter als „gut befreundet“ mit Nurcan bezeichnete; einige andere Interviewten nannten Nurcan als eine entfernte Freundin ihres eigenen Kindes. Auch ich hatte den Eindruck gewonnen, dass Nurcan keine tieferen Freundschaften mit den anderen Kindern in der Kita verbanden, insbesondere nicht zu den Gleichaltrigen oder Älteren. Stattdessen versuchte Nurcan häufiger Anschluss an eine Clique von ein bis zwei Jahre jüngeren Kindern zu finden oder sie kümmerte sich um die jüngsten Kinder in der Kita. Die oben getroffene Aussage Seyran Cetins ließ mich zunächst einigermaßen sprach- und fassungslos zurück. Wenn Nurcan und ihre Eltern nicht zu der Gruppenanmeldung gehörte, weil sie mit kaum einem Kind in der Kita befreundet war, wurde ihr auf diese Weise gar nicht erst die Chance gegeben, mit den anderen Kinder (in der Zukunft) näheren Kontakt zu knüpfen. Vielmehr wurde hier ein Kind, das in der Kita bereits sozial isoliert war, durch den Ausschluss von der Gruppenanmeldung noch weiter separiert. Unwillkürlich stellte ich mir die Frage, ob die fehlenden Freundschaften unter den Kindern der einzige Grund dafür waren, dass die Familie Yaşar nicht in die Gruppenanmeldung eingebunden wurde? Wie sah das Verhältnis zu Ekrem und Hava Yaşar, sahen die Beziehungen der Eltern untereinander aus? Nicht viel anders. Die Mehrzahl der Eltern fühlte sich offenbar kaum mit Hava und noch weniger mit Ekrem Yaşar verbunden. Den fehlenden elterlichen Kontakt untereinander sprachen dabei einige der Mütter an. Michaela Beer erklärte mit Bezug auf die – in den Soziogrammen genannten – Sozialkontakte unter den Eltern, dass sie nur wenig Austausch oder Kontakte zu den beiden habe, zu Hava Yaşar aus dem Grund nicht, weil diese „kein Deutsch wirklich“ (Interview 4-2011) spreche. Auch Claire Verhoeven stellte fest, dass Hava Yaşar „einfach wirklich schlecht Deutsch spricht“ (Interview 15-2011) und Jenny Miller bedauerte es, aufgrund der schwierigen Verständigung keinen näheren Kontakt zur ihr zu haben (Interview 6-2011). Eine problemlose sprachliche Verständigung nannten die Mütter als eine wichtige, basale Grundvoraussetzung dafür, mit anderen Eltern bzw. Müttern intensivere Kontakte zu pflegen. Claire Verhoeven sprach dabei auch Danas Mutter, Emel Turgay, mangelnde Deutschkenntnisse zu:
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Eben Danas und Nurcans Eltern, da ist wirklich auch die Sprachbarriere, weil die sind auch sehr nett, eigentlich, sehr sympathisch, also gerade auch die Mütter, aber// […] Und von Dana// die habe ich jetzt auch ein paar Mal gesehen, aber da ist die Verständigung eher schwierig. (Interview 15-2011)
Emel Turgay, die genau wie Hava Yaşar ein Kopftuch bzw. einen Hijab trug, sprach selbst fließend Deutsch. Möglicherweise las Claire Verhoeven das Kopftuch als einen zentralen Marker für (vermeintlich) mangelnde Deutschkenntnisse und dies, bevor sie überhaupt mit allen beiden gesprochen hatte. Eine solche Verknüpfung begünstigte Ausschlüsse von muslimischen und/oder als muslimisch markierten Personen aus den Gruppenbildungsprozessen, unabhängig davon, welchen Bildungsgrad oder welche Deutschkompetenzen diese tatsächlich aufwiesen. Zwei der Mütter ordneten Emel Turgays Deutschkenntnisse jedoch auch richtig ein: Jenny Miller kannte Emel Turgays Schwester über ihre eigene Arbeitsstelle (vgl. Interview 6-2011) und Kathi Rickert hatte sich mit Emel Turgay schon einige Male unterhalten (vgl. Interview 7-2011). Nichtsdestotrotz zeigt sich, wie sich viele der Mütter von denjenigen Eltern abgrenzten, die sie als nicht zu einer Gruppenanmeldung ‚passend‘ erachteten, besonders, z. B., indem sie fehlende Kontakte mit mangelnden Deutschkenntnissen und schwieriger Verständigung begründeten. Doch zurück zu Hava und Ekrem Yaşar. Die einzige, die näheren Kontakt zu Hava Yaşar pflegte, war die ebenfalls türkischkompetente Seyran Cetin,10 deren Verhältnis zu dieser trotzdem auch ambivalent war: Mit Nurcans Mutter verstehe ich mich auch prächtig. Also die ist auch süß. Mag ich auch. Aber die lebt halt in einer ganz anderen Welt, so. Ja, wir verstehen uns, auf eine gewisse Art und Weise, aber schwierig. Ich habe auch schon mal gesagt: „Soll nicht Nurcan zu uns kommen?“ und so. Und „Ja, mal kucken“ und dann sind sie auf der Hochzeit und jetzt hat sie die//11 Die ist halt in ihrem sozialen, sage ich mal, Gefüge und mit da ihren Frauen. Und das ist so überhaupt nicht meine Welt, ja.
10Eine
weitere türkischsprachige Mutter, Rüzgar Güneş, hatte aus Zeitmangel nicht an den Soziogrammen mitgewirkt. In den Gesprächen mit ihr hatte sie Hava und Ekrem Yaşar namentlich nicht genannt. Auch während meiner gesamten Forschungszeit sind mir keine direkten Sozialbeziehungen zwischen den dreien aufgefallen, so dass ich davon ausgehe, dass Rüzgar Güneş mit Hava und Ekrem Yaşar in keinem näheren Kontakt stand. 11Ich vermute, dass Seyran Cetin hier auf Hava Yaşars jüngste Tochter anspielte, die zum Zeitpunkt des Interviews erst wenige Monate alt war.
6.3 Selbstschließungsprozesse
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Teilweise auch diese Bildungsferne, das war bisschen kalt. Weil ich jetzt finde, sie ist auch eine sehr starke und kluge Frau, auf ihre Art. Und sie hat// Und manchmal reden wir auch und gehen auch auf ein paar Kaffee trinken, aber so privat mit den Kindern ist schwierig. (Interview 16-2011)
Seyran Cetin verstand sich einerseits „auch prächtig“ mit Hava Yaşar und bezeichnete sie als „eine sehr starke und kluge Frau, auf ihre Art“. Damit spielte sie aller Wahrscheinlichkeit nach darauf an, dass Hava Yaşar ihren ersten, gewalttätigen Mann verlassen hatte und nun ein wesentlich selbstbestimmteres Leben mit ihrem zweiten Ehemann führte (vgl. Interview 9-2011). Andererseits sah sie Hava Yaşar doch wiederum in ein festes soziales „Gefüge“ (s. o.) eingebunden, das mit vielen – Hava Yaşars Freiheiten einschränkenden – Verpflichtungen wie dem Besuch von Hochzeiten oder anderen familiären Feierlichkeiten verknüpft war. Für Seyran Cetin war daher klar, dass sich beider Lebenswelten stark voneinander unterschieden, schließlich sei Hava Yaşar „bildungsfern“, was sie mit (sozialer) Kälte in Verbindung brachte. Indem sie sich von Hava Yaşars Lebenswelt distanzierte und sich an Mittelschichtsnormen orientierte, nutzte Seyran Cetin die ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, souverän auf der Klaviatur der Privilegien(-sicherung) zu spielen. Als Bildungsaufsteigerin, die – im Gegensatz zu Hava Yaşar – enge Kontakte und teilweise Freundschaften zu den anderen Eltern aus der Gruppenanmeldung verband, war sie mit ihrem Sohn in eine der Gruppenanmeldungen eingebunden; Hava Yaşar und deren Tochter dagegen nicht. Seyran Cetin versprach sich offensichtlich viel davon, Teil einer Gruppenanmeldung zu sein. Dies ermöglichte es ihr, ihrem Sohn Cem Bildungs- und Teilhabechancen zu bieten, die sie sich selbst als (rassismuserfahrene) Jugendliche noch hatte ganz alleine erkämpfen müssen (vgl. Unterkapitel 5.1).
6.3.2 Zugangsbarrieren zu den Gruppen Obwohl Rabea Kraus-Lee aus einer Kreuzberger Gruppenanmeldungsinitiative zunächst betonte, ihre Gruppe sei formal offen für alle gewesen, schränkte sie ihre Aussage ein, indem sie von „Netzwerken“ sprach, über die man in die Gruppen hineinkomme: […] die sind dann eigentlich wieder zufällig entstanden, die Gruppen. Also wenn du nicht jetzt gerade mit einer Freundin, wo klar ist, dass du gemeinsam in diese Klasse willst, aber// Ja, aber die Sache ist ja, die Schwierigkeit ist natürlich auch: Wie kommst du in dieses Netzwerk rein? (Interview 2-2013)
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6 Gruppenanmeldungen und die Zusammensetzung von Schulklassen
Auch Timo Brandt aus derselben Initiative äußerte, es habe implizite Zugangsbarrieren gegeben; er sehe es mittlerweile sehr kritisch, dass das erste Treffen seiner Gruppenanmeldung in einer Kirche stattfand „Ne, wo ich auch im Nachhinein denke: ‚Mann Leute, super Idee!‘, ne? Ist sozusagen schon in sich eine ausgrenzende Räumlichkeit erst Mal für einige Menschen.“ (Interview 1-2012). Ihm zufolge vermittelte die Wahl des Versammlungsortes implizit, welche Elterngruppen von einer solchen Informationsveranstaltung angesprochen werden sollten – und wer nicht gemeint war oder zumindest nicht mitgedacht wurde: alle diejenigen Familien, die sich nicht alltäglich, selbstverständlich und unhinterfragt in christlichen Kirchen aufhalten (wollten). Timo Brandt kritisierte daher im Rückblick die Praxis der Vernetzung als potenziell ausgrenzend: Gerade finden die nächsten Vernetzungsrunden statt für die nächsten Einschulungen nächstes Jahr. Und im Rückblick würde ich sagen oder auch im Vorausblick: „Ich finde das echt schwierig so.“ Also ich glaube sozusagen diese sogenannte Vernetzung, die birgt schon so viel Ausgrenzungspotenzial in sich, dass ich eigentlich sagen würde, das ist keine gute Idee. (Interview 1-2012)
Während einzelne Gruppenanmeldungs-Mitglieder also die Vernetzungspraxis kritisch reflektierten, explizierte jedoch keines der Elternteile die Kriterien für die Zugehörigkeit zu einer solchen Gruppe. In einem in der Zeitschrift Ethnography and Education im Jahr 2018 veröffentlichten Artikel haben Anna Roch, Georg Breidenstein und ich die Frage nach der Basis solcher Kriterien gestellt, denn schließlich ist offenbar fast nicht möglich, aus den elterlichen Argumentationen tatsächliche Kriterien abzuleiten (vgl. ebd.). Vielmehr können die Kriterien der Zugehörigkeit zu einer Gruppenanmeldung von den Eltern weder benannt noch offen thematisiert oder expliziert werden (vgl. ebd.: 147 f.). Die Eltern sagten daher weder, von welchen anderen Eltern sie sich konkret abgrenzten noch wer in die soziale Gruppe inkludiert werden sollte, die sie für ihr Kind als erstrebenswert erachteten (vgl. ebd.: 149; Breidenstein/Krüger/Roch 2014). Stattdessen schufen sie selbst die subtilen Mechanismen der Zugehörigkeit zu ihrer Gruppe über informelle Netzwerke, über Wege der Veröffentlichung (Kinderläden, Kitas, Cafés, Facebook) oder über die Charakteristik der Versammlungsorte (Kirchen, Cafés). Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe basierte damit zu einem guten Teil darauf, die ungeschriebene Gesetze dieser Gruppe zu kennen und sich selbst in der ‚richtigen‘ und ‚passenden Weise‘ zu verhalten (vgl. May 2011: 368; Bourdieu/Wacquant 1992: 117; Fortier 2000). Es liegt in der Organisation von Gruppenanmeldungen, dass nicht benannt werden kann, was das eigentliche Kriterium der Zugehörigkeit zu dieser
6.3 Selbstschließungsprozesse
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„Gruppe“ darstellt. Stattdessen zogen die Eltern Argumente wie fehlende Freundschaften, Sprachbarrieren oder die „Kälte“, die die „Bildungsferne“ mit sich bringe, heran – meist jedoch, ohne diese mit den Gruppenbildungen selbst in Beziehung zu setzen. Wirksam wurden strukturelle Mechanismen wie der gemeinsam geteilte Habitus von sich an bildungsbürgerlichen Idealen orientierenden Mittelschichtseltern, der als unausgesprochenen Norm von Gruppenanmeldungen fungierte. Das „Wir“, auf das die Kiezschul-Initiative rekurrierte, ist implizit in der Logik der Gruppenanmeldung selbst enthalten: „Wir“ sind diejenigen, die sich von den Anzeigen angesprochen fühlen, diejenigen, die potentiell die Kiezschule vermeiden würden, deren Entscheidung für die Schule diese Schule aber aufwertet (vgl. Roch/Dean/Breidenstein 2018: 149). Vanessa May zufolge hilft ein Gefühl der Zugehörigkeit dabei, Geborgenheit und Einklang mit sich selbst und mit der Umgebung zu entwickeln (vgl. May 2011: 368). Bei den Gruppenanmeldungen war die Zugehörigkeit dabei keineswegs diffus, denn die Beteiligten konnten sich selbst in den eigenen Befürchtungen und dem eigenen Engagement gegenüber der „Heterogenität“ des Kiezes und der Kiezschule bestätigen und vergewissern. Es handelt sich damit um eine Zugehörigkeit, die praktisch hergestellt wird, wenn Eltern sich für eine „Gruppenanmeldung“ interessieren und die sich damit in der Praxis selbst realisiert. Zentrales Element ist es, diese Zugehörigkeit zu gestalten und sich darüber hinaus auch zu vergewissern, dass die Zugehörigkeit gestaltet ist (vgl. Roch/Dean/Breidenstein 2018: 150). Das Wissen, dass die anderen Eltern sich auch bewusst für diese Schule entschieden haben, macht offenbar den entscheidenden Unterschied aus gegenüber der Vorstellung, einer unbekannten und bedrohlichen sozialen Welt ausgeliefert zu sein. Dieselben Ängste bezüglich der Einzugsgebietsschule zu teilen, sich für eine Gruppenanmeldung zu interessieren und sich gemeinsam bewusst für die Einzugsgebietsschule zu entscheiden, statt einfach das Kind dort anzumelden, bildet eben jenes ‚Bildungsinteresse‘ ab, das dann wiederum die Zugehörigkeit konstituiert – die Praxis der Gruppenanmeldung trägt sich also selbst (vgl. ebd.). Was sich bei den Gruppenanmeldungen praxeologisch als Zugehörigkeitsordnung darstellt, durch die sich auf machtvolle Weise Prozesse der sozialen Inklusion und Exklusion realisieren, die dann wiederum auf Selbstkonzepte von Individuen rückwirken (vgl. May 2011: 374; Mecheril u. a. 2013), trifft zugleich auf den Diskurs um Schulwahl und speziell auf Schulwahlpraktiken als Ganzes zu: In the act of choosing, whether it be a ‚weak choice‘ – in the sense of choosing a pre-existing alternative offer […] – or, whether it be a ‚strong choice‘ – in the sense of actively changing or extending an existing programme – parents in both cases
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6 Gruppenanmeldungen und die Zusammensetzung von Schulklassen
assumed that, as parents who claim the right to choose, they were likely to meet other parents at the preferred school, who also made the same choice, and moreover, who were able to made [sic] a choice at all. (Roch/Dean/Breidenstein 2018: 150)
Im Vergleich zur „weak choice“ (Walford 2006) eines bestehenden Angebots stellen Gruppenanmeldungen Formen einer „strong choice“ (ebd.) dar: Sie sind der Versuch, aktiv Einfluss zu nehmen auf den Charakter der Schule (vgl. ebd.: 24). Die „strong choice“ bezieht sich zum einen darauf, für das eigene Kind einen Teil der Mitschüler*innen auszusuchen und so die Zusammensetzung der Schüler*innenschaft mitzugestalten. Zum anderen kann sie sich auch darauf beziehen, bestehende Sozialkontakte zwischen den Eltern aus der Kita-Zeit in die Schulzeit des Kindes mitzunehmen und dort weiterzuführen. Die (zum Teil bereits bestehenden) „interne[n] Solidarbeziehungen“ (Rose/ Nikolas 2012: 88) von Gruppenanmeldungen laden sich in der Praxis des Zusammenschlusses mit neuen Wertvorstellungen auf und schaffen zugleich auch neue Ausschlusssituationen (vgl. ebd.): Besonders muslimische und/oder als muslimisch markierte Eltern, wie im Falle von Seyran Cetin, sind permanent aufgefordert, unter Beweis zu stellen, ‚integriert‘ und ‚assimiliert‘ (genug) zu sein und die nicht explizierten und nicht explizierbaren Normen der Gruppenanmeldungen inkorporiert zu haben. Nur so können sie zeigen, zu „the ‚right kind‘ of minority“ (Ahmed 2012: 157) zu gehören, „the one who aims not to cause unhappiness or trouble“ (ebd.). „Unzufriedenheit“ oder „Ärger“ würde es in diesem Sinne darstellen, wenn Eltern strukturelle Macht- und Dominanzverhältnisse innerhalb der Gruppe und zwischen dieser und nicht-angesprochenen Eltern thematisierten oder wenn sie für ‚unpassende‘ Eltern of Color einen Zugang zu der Gruppenanmeldung forderten. Auf diese Weise entstehen Grenzziehungen, deren Art der Herstellung sowohl fluide als auch schwer zu greifen ist (vgl. Pieper/Panagiotidis/Tsianos 2011: 195). Rassistische und ökonomisierende Verhältnisse werden auf diese Weise verstärkt verunsichtbart und sind nur schwer zu greifen, wie Alana Lentin und Gavan Titley in ihrer Arbeit The crises of multiculturalism: Racism in a neoliberal age (2011) vor dem Hintergrund neoliberaler gesellschaftlicher Transformationen herausarbeiten. Sie beziehen sich auf das Konzept des racial neoliberalism (Goldberg 2009) und analysieren, wie in der „individualizing logic of neoliberalism“ (Lentin/Titley 2011: 168) eine (neue) Konjunktur des Rassismus als die einer „post-racial [era]“ (ebd.: 167) entsteht. In dieser können rassistische Verhältnisse sowie damit verbundene Erfahrungen negiert werden, denn: „Under neoliberalism race is essentially privatized, in the sense of being silenced or made invisible.“ (ebd.: 169).
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Somit liegt es in der Verantwortung jedes*r Einzelnen, „to make the best of things“ (ebd.: 168). Wer sich demnach nicht zu einem Teil einer Gruppenanmeldung gemacht hat oder gar im Nachhinein die Diskriminierung der anderen Klassen anprangert (vgl. Unterkapitel 8.2), muss sich in dieser individualisierenden Logik erst einmal die Frage nach der eigenen Verantwortung für eine Nichtbeteiligung an einer Gruppenanmeldung gefallen lassen (vgl. ebd.). Außer Acht bleiben so jedoch die strukturellen Hürden, die von informellen Netzwerken über potenziell ausgrenzende Örtlichkeiten bis hin zu exklusiven Wegen der Veröffentlichung reichen.
6.4 Orientierung am „Gemeinwohl“ als Entwicklungshilfediskurs 6.4.1 Unterstützung bei der Verbesserung des schulischen Images Die beiden Schulen, an denen die Neuköllner Kiezschul-Initiative aktiv ist, genossen vor Aufnahme der Kooperation einen überaus schlechten Ruf unter besonders an Schulwahl interessierten Eltern. Eine der Sprecherinnen der Initiative, Marianne Ebeling, hörte daher auf dem Spielplatz „permanent von allen Leuten schlimmste [lacht] Schauergeschichten“ davon, „was alles Schreckliches auf den Schulhöfen hier passiert“ (Interview 3-2014). Die Rede war dabei „von irgendwelchen Prügeleien und irgendwelchen dramatischen Dingen“ (Interview 3-2014) und erst bei genauerer Nachfrage habe sich für sie herausgestellt, dass es sich um Gerüchte handelte, die die Erzählenden nur vom Hörensagen kannten:12 Und wenn du dann nachgefragt hast, dann war das: „Ja, das hab’ ich von meiner Nachbarin und die hat eine Freundin und die wohnt gegenüber und die hat//“, so, ne? Also das replizierte sich auch, du weißt auch nachher nicht, war das letzten Endes nur ein Ereignis, das du in zehn Varianten gehört hast [lacht] oder so. Aber dieser schlechte Ruf war wirklich// also das stand hier wie so ein Damokles-Schwert über dem Kiez. (Interview 3-2014)
12Die
Rolle und Funktion von Gerüchten für elterliche Grundschulentscheidungen hat bspw. Jens-Oliver Krüger (2014) herausgearbeitet (vgl. zur „Gerüchteküche“ auch Unterkapitel 5.4).
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Die Schulleiterin einer dieser beiden Schulen, Maria Krüger, berichtete dabei, dass noch vor einigen Jahren „ein größerer Teil der Kinder, die bildungsnähere Eltern hatten, auch Eltern mit Migrationshintergrund […] nicht hier angemeldet“ wurden. Deren Eltern hätten stattdessen andere Schulen gewählt, „wo sie annahmen, da sind weniger Ausländer in Anführungszeichen“ (Interview 1-2015). Sie machte die Erfahrung, einige Eltern seien kaum davon zu überzeugen gewesen, ihrer Schule überhaupt eine Chance zu geben und sich diese und den dortigen Unterricht erst einmal anzusehen, bevor sie sich für oder gegen die Schule entschieden. Immer wieder kamen Eltern lediglich ins Sekretariat, um einen Antrag auf Umschulung abzuholen. Auch wenn nur die auf dem Umschulungsantrag abgefragte Informationen wie der Wunsch nach Ganztagsbetreuung oder einem besonderen pädagogischen Konzept über den Antrag entscheiden, schrieben viele Eltern auf den Anträgen lange Begründungen für ihre Wahl bzw. ihre Ablehnung. Manche forderten einen Theaterschwerpunkt an der Schule oder ein Inklusionskonzept – was die Schule jedoch beides besitzt. Die Schulleiterin stellte daher verärgert fest: „Und man sah daraus einfach, dass die Eltern über unsere Schule gar nicht Bescheid wussten. Sie hatten sich gar nicht über die Schule informiert.“ (Interview 1-2015). Die für sie „heftigste Reaktion“ erlebte sie mit einer Mutter: Die kam dann hier rein und meinte also, sie hätte jetzt schon von dieser Schule die Nase voll, weil wenn man hier reingeht, würde man am liebsten gleich rückwärts wieder rausgehen. Und dann fragte ich sie: „Warum denn?“ Was der Grund wäre, was sie hier so schrecklich empfinden würde und kriegte dann die Antwort: „Ich habe jetzt keine Lust auf Kommunikation, ich möchte den Antrag für eine andere Schule.“ (Interview 1-2015)
Viele Eltern machen sich offenbar ein Bild oder nicht zuletzt ein Urteil über die ihnen zugewiesene Schule, ohne sie direkt gesehen zu haben. Vielmals reichen die allgegenwärtigen Erzählungen und Erfahrungsberichte anderer Eltern, um mit Bezug auf das Gehörte die – eigentlich bereits getroffene – eigene Wahl zu unterfüttern oder zu rechtfertigen (vgl. Krüger 2014). Ist die Entscheidung also schon getroffen, wenn Eltern an einer Schule nur noch den Umschulungsantrag abholen, reichen kleine, für sich gesehen nichtige Eindrücke, um sich in der Ablehnung und damit der getroffenen Entscheidung bestätigt zu fühlen. Die Kiezschul-Initiative gründeten einige Eltern auch, um an der Schule „diesen schlechten Ruf in einen guten umzuwandeln“ (Interview 3-2014), wie die Mutter Marianne Ebeling betonte. Sie hatten zum Ziel, das Image der stigmatisierten Schulen zu verbessern, indem sie im Erfahrungsaustausch mit anderen Eltern die Schulen bewarben und Eltern aus ihrem Umfeld einluden,
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sich die betreffenden Schulen unvoreingenommen anzusehen. Marianne Ebeling forderte ihre Bekannten und Freund*innen, die ein Kind im selben Alter wie ihre Tochter hatten, auf: „‚Geht an die Schulen, schaut euch das an! Und geht// haut nicht einfach ab aus dem Kiez ohne mal rechts und links erst Mal geguckt zu haben, was hier so Sache ist!‘“ (Interview 3-2014). Erst in jüngster Zeit verbesserte sich der Ruf der Schule und immer mehr Eltern aus dem Umfeld der Initiative entschieden sich, ihr Kind auf der betreffenden Grundschule auch tatsächlich einzuschulen. In der Konsequenz stiegen ab Anfang der 2010er Jahre an dieser Schule die Anmeldezahlen von tendenziell ‚bildungsprivilegierten‘ Schüler*innen an, die von Schüler*innen „nichtdeutscher Herkunftssprache“ sanken von über 85 Prozent auf unter 80 Prozent. Die Mutter Marianne Ebeling erzählte, dass sich die Werbung für ihre Kiezschule sukzessive verstetigt habe: Und da sind wir, glaube ich, auf einem guten Weg. Also ich werte das// wenn mich Leute, die ich überhaupt nicht kenne, anschreiben, irgendwie: „Hey, ich habe so viel Tolles von eurer Schule gehört und von euch aktiven Eltern und ich würde euch gerne mal treffen“, dann denke ich so: „Ok, das ist das, was ich gerne noch erreichen würde [lacht], dass es ein bisschen großflächiger ist.“ Aber das ist eigentlich genau das Ziel. […] Weil, wenn wir da halt hinkommen würden, dass das ein Selbstläufer ist, dann können wir uns die Kiezschule [die Kiezschul-Initiative, Anmerkung I.D.] dann auch mal sparen [lacht]. Aber das braucht noch ein bisschen Zeit, glaube ich. Also vielleicht noch ein, zwei Jahre. Mal schauen. (Interview 3-2014)
Umso mehr Gruppenanmeldungseltern eine lokale Schule anwählen, umso mehr aktiv Schulwahl praktizierende Eltern folgen ihnen nach. Genau dieses Schneeballsystem sprach die Initiative in ihrem aktualisierten und im Herbst 2012 und Frühjahr 2013 verteilten Flugblatt an: „Je mehr wir werden, die sich für den Kiez interessieren und engagieren, umso mehr können wir erreichen – für unsere Kinder und die Schulanfänger im nächsten Jahr und im übernächsten und im Jahr darauf und, [sic] und…“. Das Flugblatt der Kiezschul-Initiative legt bei dem angesprochenen „wir“ dabei nahe, dass es sich um Eltern handelt, die sich in besonderer Weise „für den Kiez interessieren und engagieren“ – vielen der anderen Familien im Kiez, denjenigen, die ihre Kinder also schon vor den ersten Gruppenanmeldungen an die Kiezschulen schickten, könnte damit zumindest indirekt unterstellt werden, sich nicht im selben Maß für den Kiez und die Schule des Kindes einzusetzen. Auf eine ähnliche Weise argumentierte Melanie Reichert aus einer Kreuzberger Gruppenanmeldung. Erst in dem Jahr, in dem ihre Tochter eingeschult wurde, hätte sich das Konzept der Gruppenanmeldung so weit verbreitet,
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dass wesentlich mehr Eltern als in den Jahren zuvor ihr Kind an der Schule anmeldeten: „Ist eine super Schule und jetzt eben haben sich genug getraut, ne? Und haben gesehen: ‚Ja! Es […] gibt deutsche Eltern, es gibt engagierte Eltern, die was machen wollen, wir können uns engagieren.‘“ (Interview 2-2012). Melanie Reichert sprach die große Bedeutung von ‚engagierten‘ (und von ihr auch als ‚deutsch‘ gelabelten) Eltern dafür an, dass Gruppenanmeldungen zu einem „Selbstläufer“ werden können. Die Vorstellung, selbst wesentlich stärker für die Schule des eigenen Kindes engagiert zu sein, bspw. durch die Mitarbeit in den Schulgremien, als andere Eltern an der Schule, bleibt häufig nicht folgenlos für die Eltern, die ihre Kinder – schon lange bevor sich dort die ersten Gruppenanmeldungen etablierten – auf die Kiezschulen geschickt hatten (vgl. dazu auch Unterkapitel 8.1). Sobald die verstärkte Werbung für eine ausgewählte Schule nach einigen Jahren Früchte trägt und sich der Ruf der einen Schule verbessert, kann dies auch zu Lasten anderer Schulen im Kiez gehen. Marianne Ebeling von der Kiezschul-Initiative berichtete, immer mehr Eltern entschieden sich, ihr Kind an der von ihr beworbenen Kiezschule anzumelden, da diese inzwischen als Leuchtturmschule gehandelt werde. Zeitgleich nähme sie wahr, dass andere umliegende Schulen im Kiez zunehmend gemieden würden, was sie allerdings nicht nur mit den Aktivitäten ihrer Initiative, sondern auch mit der möglicherweise mangelhaften Qualität dieser Schulen in Verbindung brachte (vgl. Interview 3-2013).
6.4.2 „Denn wir sind eigentlich die Eltern, die sie haben wollen.“13 Melanie Reichert aus einer Kreuzberger Gruppenanmeldungsinitiative zufolge profitierten die „türkischen“ und „arabischen“ Kinder von der Anwesenheit „deutscher“ Kinder in der Klasse, denn Letztere seien sowohl Sprachvorbilder als auch Vermittler von Bildungsprozessen: Dann haben aber natürlich türkische und arabische Eltern das gesehen und haben gesagt: „Das wollen wir auch in unserer Klasse. Ich will das auch für mein Kind. Ich will auch, dass mein Kind natürlich mit deutschen Kindern in einer Klasse ist und dadurch noch Mal einen anderen Hintergrund bekommt und einen anderen Input und auch davon profitieren kann.“ Was ich total nachvollziehen kann. Wenn
13Interview
3-2014.
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natürlich viel mehr deutsche Kinder da sind, wird weniger Türkisch gesprochen in der Klasse, das ist so, die müssen ja alle Deutsch sprechen und auf dem Pausenhof// und dann gibt’s auch noch mal andere Freundschaften und und und. (Interview 2-2012)
Die von Melanie Reichert aufgemachte Dichotomie empfand ich – nicht nur während des Interviews – als irritierend, da sie eingangs betont hatte, ihre Kinder würden „auch Türkisch sprechen und dass [es] da auch einen türkischen Teil der Identität gibt“ werde lediglich deshalb übersehen, da Ruf- und Nachname der Kinder „deutsch“ klängen und die Tochter „eben blond und blauäugig und sehr hell“ (Interview 2-2012) sei. Melanie Reichert erzog mit ihrer türkischsprachigen Partnerin ihre beiden Kinder bilingual deutsch-türkisch; die natio-ethno-kulturelle Mehrfachzugehörigkeit (vgl. Mecheril 2003) ihrer Kinder hinderte sie jedoch offensichtlich nicht daran, eine klare Grenze zwischen „türkischen“ und „arabischen“ Kindern auf der einen und „deutschen“ Kindern auf der anderen Seite zu markieren. Diese Grenze zog sie nicht allein aufgrund zugeschriebener unterschiedlicher Staatsangehörigkeiten der Kinder – „türkisch“ bzw. „arabisch“ auf der einen vs. „deutsch“ auf der anderen Seite. Vielmehr überlagerte sich in ihrer Zuordnung die natio-ethno-kulturell codierte Zugehörigkeit der Kinder mit deren Klassen- bzw. Schichtzugehörigkeit. Ihre eigenen Kinder ordnete sie daher ganz selbstverständlich den „deutschen“ und damit in ihrer Argumentation zugleich bildungsbürgerlichen Kindern zu. Für Melanie Reichert war klar, wer die Bereicherung für die Schulklassen darstellte, die „deutschen“ Kinder, die sie zugleich auch als „deutschsprachig“ konzipierte. In der Konsequenz homogenisierte bzw. ethnisierte sie die Gruppe der „türkischen“ und „arabischen“ Kinder und mögliche „historische, soziale oder politische Ursachen für mangelnde Bildung [blieben] aus[ge]blendet“ (Lanz 2007: 327). Darüber hinaus erschienen diese Kinder pauschal als passiv und abhängig von der Hilfe der „deutschen“ Kinder. Auch Eltern aus anderen Gruppenanmeldungen fühlten sich den lokalen Schulen auf einer moralischen Ebene verpflichtet. Sie betonten ihre soziale Verantwortung gegenüber den lokalen Schulen und gegenüber ihrem Wohnumfeld. So auch Johanna Greif aus Neukölln, für die zu einem Leben in einem heterogenen Kiez, nicht nur gehörte, von den günstigen Mieten und der „kulturellen Vielfalt“, die sich bspw. in den vielen Restaurants manifestiere, zu profitieren: Man kann ja nicht immer nur haben wollen von einer Gemeinschaft, sondern man kann ja auch was zurückgeben, beziehungsweise was tun. Und so sehen wir im Grunde auch unsere Aufgabe als Eltern. Nicht zu sagen: „Ok, jetzt ist die Schule
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dran, jetzt halten wir uns hier raus. Und sobald irgendwas schief geht ist auf jeden Fall die Schule schuld.“ Sondern im Grunde auch zu sagen: „Ja also, wir haben hier die Möglichkeit was mit zu gestalten.“ (Interview 5-2013)
Als engagierte Eltern könnten sie viel Einfluss nehmen und Prozesse an der Schule aktiv mitgestalten, damit diese weiter an Attraktivität gewinne (vgl. Interview 5-2013). Marianne Ebeling aus einer Neuköllner Gruppenanmeldungsinitiative sprach die Verantwortung an, die sie als „Akademikereltern“ – wie sie sich selbst und andere Eltern aus der Gruppenanmeldung bezeichnete – gegenüber den Kiezschulen hätten: Sie sollten ihre Kinder an einer nahegelegenen Grundschule anmelden, denn schließlich sei es für eine Schule ganz wichtig, dass sie wirklich eine gute Mischung hat. […] Gerade die Kiezschulen, die sich ihr Klientel nicht aussuchen, in dem Sinne, dass sie ein Auswahlverfahren machen, sind eigentlich darauf angewiesen, dass da wirklich der Kiez gewissermaßen auch repräsentiert ist, dass da Leute dabei sind aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten, aus den unterschiedlichsten ethnischen Herkünften und so weiter. (Interview 3-2014)
Für Marianne Ebeling stellte ein schulisches Auswahlverfahren, wie es üblicherweise von Privatschulen durchgeführt wird, einen Garanten dafür dar, dass sich eine von ihr als bereichernd und positiv empfundene ‚Diversität‘ in den Schulen widerspiegelte. Sie war sich daher auch sicher: „Denn wir sind eigentlich die Eltern, die sie [die Schulen beziehungsweise die Schulleitung, I.D.] haben wollen.“ (Interview 3-2014).14 Ihre Aufgabe als „Akademikereltern“ an den Kiezschulen sah Marianne Ebeling demzufolge darin, durch die Anwesenheit der eigenen Kinder eine Lernumgebung zu schaffen bzw. überhaupt erst zu ermöglichen, die letztendlich allen Kindern nutze und dazu beitrage, dass alle ihr volles Potenzial entwickeln könnten. Marianne Ebeling drückte dies wie folgt aus: Die Lehrer haben ein größeres Spektrum auf das sie zurückgreifen können und Erfahrungen, was sie einbringen können in den Unterricht oder was sie im Unterricht dann umsetzen können. Es gibt sozusagen ein paar mehr Zugpferde und das ist
14Letztlich
könnten jedoch auch Gruppenanmeldungen als eine – sich wesentlich indirekter und subtiler äußernde – Form eines institutionellen Auswahlverfahrens gelesen werden. Dieses Verfahren nutzen schließlich, wie oben dargestellt, Schulen, um eine von ihnen bevorzugte Klientel an ‚bildungsorientierten‘ Mittelschichtseltern an sich zu binden.
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aber auch einfach wirklich für die Kinder, die nicht so viel mitgekriegt haben von Zuhause, total wichtig. Ich will jetzt nicht immer sagen, die Kiezschulini-Kinder sind die ganz Tollen, die alles können und die anderen nicht, so ist es nicht. Aber es gibt sozusagen Tendenzen. (Interview 3-2014)
Ihre Tochter könne im Unterricht von bestimmten Erlebnissen berichten, z. B. vom Besuch eines Museums, dem Ausflug an die Ostsee oder ans Brandenburger Tor. Vergleichbare Erfahrungen könnten „viele bildungsferne Familien im Kiez ihren Kindern so nicht ermöglichen“ (Interview 3-2014). Marianne Ebeling war daher überzeugt, dass „diese Kinder ganz stark davon profitieren können“, wenn ihre Tochter oder andere Kinder der Elterninitiative von ihren Erlebnissen berichteten, denn „da eröffnen sich für Kinder Horizonte“ (Interview 3-2014). Marianne Ebeling setzte ein bestimmtes, mittelschichtsorientiertes Wissen als relevantes Wissen, an dem sich alle Kinder im Schulkontext zu orientieren hätten, während ein mögliches ‚anderes‘ Wissen nicht nur von der Institution Schule, sondern auch von ihr selbst disqualifiziert und abgewertet wurde.
6.4.3 „Am Miteinander […] lernen“15 Während die Mutter Melanie Reichert überzeugt war, gerade die „türkischen“ und „arabischen“ Kinder profitierten von der Anwesenheit von Kindern aus einer Gruppenanmeldung, argumentierte Johanna Greif aus einer Neuköllner Gruppenanmeldung genau umgekehrt. Sie zeichnete das Leben in einem heterogenen Kiez und das Lernen in einer heterogenen Schule als vorteilhaft für die Kinder aus der Gruppenanmeldung, was in der heutigen Zeit zudem absolut unumgänglich sei, denn die Gesellschaft „wandelt sich ja einfach, ganz krass“: „Und das// da finde ich, lernen die Kinder viel, was ja auch im Grunde nur ein Abbild unserer Gesellschaft ist. Wir werden ja nie wieder in einer Gesellschaft wohnen, wo alle nur weiß und blauäugig sind, so ungefähr.“ (Interview 5-2013). Der Besuch einer Kiezschule diene daher den Kindern aus der Gruppenanmeldung der Vorbereitung auf das spätere Leben. Damit würde es den Kindern ermöglicht, einen angemessenen Umgang mit der gesamtgesellschaftlich anzutreffenden Heterogenität zu erlernen:
15Interview
5-2013.
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Die Kinder haben hier halt den großen Vorteil, dass sie eben am Miteinander so viel lernen können, an dem, was die im sozialen Umgang miteinander lernen und mit verschiedenen Kindern lernen, wie man mit Kindern umgeht, die eben, ja, vielleicht sich nicht so gut verständlich machen können, weil sie eben nicht so gut Deutsch sprechen zum Beispiel. Da zum Beispiel den Umgang zu lernen oder zu lernen, wie man damit klar kommt und dann eben nicht darüber zu lachen zum Beispiel oder zu sagen: „Auhh, mit dem spiele ich jetzt nicht!“ (Interview 5-2013)
Während Johanna Greif anfangs davon sprach, die Kinder an den Kiezschulen könnten „am Miteinander so viel lernen“ und darüber bereits die Kinder als voneinander different kennzeichnete, ergänzte sie ihre Aussage um den Aspekt, (allein) „die Kinder“ (aus der Gruppenanmeldung) lernten, „wie man mit Kindern umgeht“, die „eben nicht so gut Deutsch sprechen z. B.“ und „wie man damit klar kommt“. Sie ging also doch nur bedingt davon aus, alle Kinder könnten unabhängig ihres familiär-biographischen Hintergrunds voneinander lernen und sich gegenseitig Impulse geben. Stattdessen grenzte Johanna Greif ein imaginiertes ‚Anderes‘ von der eigenen, als selbstverständlich konstruierten ‚Normalität‘ ab. Diese ‚Normalität‘ musste selbst nicht expliziert und benannt werden, stellte jedoch in diesem Otheringprozess einen unhinterfragten und wirkmächtigen Referenzpunkt dar (vgl. Riegel 2016: 53). In diesem Sinne fokussierte Johanna Greif, welchen Nutzen die Kinder aus der Gruppenanmeldung, die in der Tendenz die von Bildungsinstitutionen geforderten „Werte- und Verhaltenssysteme der sozialen Mittel- und Oberschicht bzw. der Mehrheitsgesellschaft“ (Gomolla 2009: 35) inkorporiert haben, von der gemeinsamen Beschulung mit (vermeintlich) deutsch-zweitsprachlichen Kindern hätten: Erstere profitierten durch diese ‚anderen‘ Kinder insofern, dass sie an diesen lernen könnten, sich mit Andersheit – „nicht so gut Deutsch sprechen“ – auseinanderzusetzen und dieses ‚Andere‘ respektvoll und gleichwertig zu behandeln. Über die Konstruktion dieser Kinder als ‚Andere‘ vergewisserte und versicherte sich Johanna Greif der privilegierten Position der Gruppenanmeldungs-Kinder an den Kiezschulen und sicherte die damit ver bundene hegemoniale soziale Ordnung ab (vgl. Riegel 2016: 53). Hier wird deutlich, dass Johanna Greif – als Teil einer „Dominanzkultur“ handelte. Mit der Bezeichnung Dominanzkultur beziehe ich mich auf die von Birgit Rommelspacher analysierte kollektive Erfahrung von Herrschaft und Unterwerfung, die sich seit den europäischen Kolonialeroberungen in westlichen Gesellschaften verfestigt hat. Diese Erfahrung prägt und durchdringt die gesamte Lebensweise und die Diskurse westlicher Gesellschaften (vgl. Rommelspacher 1995: 22). Daraus resultiert, dass die „Selbstinterpretationen sowie die Bilder, die
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wir [aus der Sicht des ‚Westens‘, Anmerkung I.D.] vom Anderen entwerfen, in Kategorien der Über- und Unterordnung gefaßt“ (ebd.) sind. Kennzeichnend für die dominanzkulturelle Lebens- und Denkweisen ist dabei die „die Omnipräsenz der Machtverhältnisse, ihre Vieldimensionalität wie auch ihre relative Unsichtbarkeit“ (ebd.: 23). Eine mit dieser Machtbeziehung zwischen den als verschiedenen gezeichneten Gruppen von Eltern und ihren Kindern strukturell vergleichbare geohistorische Machtbeziehung hat Fernando Coronil beschrieben. Er analysiert einen „okzidentalistischen Repräsentationsmodus“ (Coronil 2002: 187) des globalen Südens, den er als die „Auflösung des Anderen durch das Selbst“ (ebd.) beschreibt. Anhand der Eroberung Amerikas zeigt Coronil auf, wie „das europäische Selbst (das als universelles Selbst dargestellt wird) durch die Erfahrung der Eroberung, der Vernichtung und Beherrschung der Mittelamerikaner mit Andersheit umzugehen lernt“ (ebd.: 191). Weiter geht Coronil davon aus, dass vordergründig „dieses Lernen ein scheinbar löbliches Ziel“ (ebd.) aufweise: „Sich mit der Andersheit auseinanderzusetzen sollte bedeuten, Andere als verschieden, aber gleichwertig zu behandeln.“ (ebd.). Dabei werden „die imperialen Kategorien des Selbst und der Andersheit als Vorbedingungen dieses Lernens voraus[gesetzt]“ (ebd.). Das bedeute in der Konsequenz, dass nur die ‚Hybridisierung‘ des Selbst, also des Westens, dessen Weiterentwicklung bedeute, während die Hybridisierung des ‚Anderen‘, des Nicht-Westens, „die Aufgabe und die Vernichtung [seiner] ursprünglichen Kulturen“ (ebd.: 191 f.) nach sich ziehe. Daraus folgend stellt Fernando Coronil in Bezug auf diesen Repräsentationsmodus fest: „Historischer Fortschritt findet nicht zusammen mit anderen statt, sondern auf ihre Kosten.“ (ebd.: 192). Auf struktureller Ebene vergleichbar gestaltete sich – zumindest aus der Sicht von Johanna Greif – das Verhältnis der Gruppenanmeldungs-Kinder zu den anderen Kindern an der Schule. Für sie lag der Fokus des Lernens auf dem „wir“ der Gruppenanmeldung. Damit standen auch hier die Lernenden und sich auf diese Weise weiter Entwickelnden in einem Machtverhältnis zu den Lernen und Entwicklung ermöglichenden ‚Anderen‘. Diejenigen, die in den sozialen Interaktionen der Kinder einen ‚angemessenen‘ Umgang mit Differenz lernten, waren ihr zufolge die Kinder aus den Gruppenanmeldungen, nicht jedoch die (vermeintlich) deutsch-zweitsprachlichen Kinder. Letztere sehen sich zwar vor die Aufgabe gestellt, sich an die Mittelschichtsorientierung von Schule anzugleichen und darin aufzugehen, darüber hinaus stellten sie jedoch v. a. eine Folie dar, vor der der diesbezügliche Umgang mit Differenz von den Gruppenanmeldungs-Kindern erlernt werden konnte.
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6.4.4 Eine ‚Zivilisierungsmission in Problemvierteln‘ Insbesondere, wenn die ‚türkischen‘ und ‚arabischen‘ Kindern angesprochen waren, zeigte sich in der positiven Selbstkonzeption als Motor der Schulentwicklung und Vermittler von Bildungsprozessen eine „defizitorientierte Fördereinstellung“ (Mecheril 2010b: 61), wie sie auch von der „Ausländerpädagogik“ sowie teilweise der Interkulturellen Pädagogik vertreten wurde (vgl. ebd.). In Marianne Ebelings Vorstellung, nur die ‚anderen‘ Kinder profitierten von den Erfahrungen ihrer Tochter, ist dabei ein bestimmtes Verständnis von historischer und gesellschaftlicher Entwicklung angelegt, das Iman Attia gemäß auf den in der Zeit der europäischen „Aufklärung“ entstandenen „normativen Kulturbegriff“ zurückgeht. Dieser basiert darauf, dass wahrgenommene Differenzen zwischen Lebensformen solche sind, die aus ihrem unterschiedlichen Entwicklungsstand resultieren. ‚Kultur‘ bezeichnet demnach normativ die (einzig) angemessene Lebensweise, die sich zwar historisch entwickelt, aber als angemessene nur in eine und genau in diese als richtig gesetzte Richtung verläuft. Der lineare Kulturbegriff verpflichtet weiter Entwickelte zur Unterstützung derjenigen, die ihnen historisch folgen („white man’s burden“), während diesen die Aufgabe zukommt, den Entwicklungsrückstand nach dem Vorbild der Fortschrittlichen aufzuholen. (Attia 2013: 336, Hervorheb. i. Orig.)
In diesem Sinne plädiert Karin Scherschel dafür, rassistische Wissensbestände nicht nur hinsichtlich von „Ideologien der Abwertung“ zu untersuchen, sondern „ebenso daraufhin […], inwieweit sie mit aufklärerischen und emanzipatorischen Zielsetzungen gesellschaftlicher Gruppen verknüpft sind“ (Scherschel 2009: 124 f.). In Fortführung der Analysen von Iman Attia und Karin Scherschel lassen sich auf der Mikroebene der Gruppenanmeldungen neokoloniale Bezüge im Sinne eines im ausgehenden 19. Jahrhundert von Rudyard Kipling beschriebenen „white man’s burden“ (Kipling 1998 [1899]: 311 f.) finden. Er verstand dieses als Aufgabe und Verpflichtung westlicher Gesellschaften, die „zurückgebliebenen barbarischen Völker auf die höchste Stufe der Gattungsentwicklung zu heben“ (Kohl 2000: 20). Diesen hierarchischen und ungleichen Verhältnissen des Helfens ist ein klares Script eingeschrieben, wem auf welche Weise geholfen wird. Am Beispiel von Willkommens-Initiativen für Geflüchtete in Deutschland zeigt Katherine Braun (2017), wie Strukturen und Imaginationen des Helfens, wie sie meines Erachtens auch bei Gruppenanmeldungen anzutreffen sind, durchdrungen sind von vergeschlechtlichten und rassialisierten Logiken (vgl. ebd.: 39). Hierbei macht sie
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eine spezifische „bürgerliche Weiblichkeit“ aus, bei der Bildung zentral gesetzt wird und die Protagonistinnen in der Frage, was es bedeutet, modern zu sein, eine klassische humanistische Weltsicht vertreten (vgl. ebd.). Die Herausbildung dieser spezifischen Form „bürgerlicher Weiblichkeit“ geht zurück auf die Lehren Martin Luthers zur Komplementarität der (binär gedachten) Geschlechter und zu einem guten christlichen Leben (vgl. ebd.: 42; Spory 2013: 107–120). In der Konsequenz wurden Frauen zunehmend aus dem öffentlichen in den privaten Raum – im Sinne von „Küche – Kinder – Kirche“ – verdrängt, also in die Sphäre der Erziehungs- und Carearbeiten. Katherine Braun stellt fest, dass diese „charitable spaces came to be coded as an extension of the private sphere, and thus constituted a safe haven for bourgeois women from motherly and marital obligations“ (Braun 2017: 42). „Charitable spaces“ stellten eine der wenigen Räume dar, in denen Frauen eigenständig agieren durften und wurden daher auch Anfang des 20. Jahrhunderts zum Austragungsort bürgerlicher weiblicher Revolte und zur Keimzelle der Frauenemanzipation (vgl. ebd.; Notz 1989: S. 43–64). Die „bürgerliche Weiblichkeit“ wurde auch im Zuge deutscher Kolonialpolitik im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert wirksam: Da die Europäer*innen die Kolonisierten als defizitär und zurückgeblieben imaginierten, sich selbst dagegen im Sinne des „white (wo)man’s burden“ als helfend und rettend, war der Wissens- und Kulturtransfer zentral für das deutsche koloniale Projekt und spiegelte weiße Überlegenheitsfantasien wider (vgl. Braun 2017: 42; Habermas 2016: 139). Gebildete Frauen aus der gehobenen Mittelschicht waren das Vehikel dieses Transfers; ihnen boten die Kolonien Raum für freie Entfaltung, der ihnen in Deutschland aufgrund ihres Status’ und Geschlechts verwehrt gewesen wäre (vgl. Braun 2017: 42; Walgenbach 2005: 139). Die Motive der Frauen, in den Kolonien aktiv zu werden, waren dabei sehr heterogen, wobei sich wohltätige, ökonomische und bevölkerungspolitische Ziele vermischten. Die Frauen ‚zivilisierten‘, unterrichteten und umsorgten nicht nur die Kolonisierten, sondern sie waren vielmehr „a necessary demographic strategy critical to the maintenance of German rule, given the increasing frequency of ‚mixed marriages‘ among colonial civil servants“ (Braun 2017: 42). Allerdings stellten reguläre Verheiratungen nicht die einzige Form sexueller Verhältnisse dar, sondern Letztere umfassten neben temporären Affären auch Vergewaltigungen (vgl. Habermas 2016: 60 ff.; Walgenbach 2005: 77–83, 125–130 und 172–234). Indem bürgerliche Frauen den Zusammenhalt der Kolonien mit ihrer Fürsorgetätigkeit sicherstellten, war dieser Prozess prägend für ihre Fremd- und Selbstwahrnehmung:
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6 Gruppenanmeldungen und die Zusammensetzung von Schulklassen
In the context of German colonial education, conversion to Christianity formed only one part of the transfer of cultural values, the inculcation of Protestant values relating to self-discipline and work were seen as being more important. Colonial women stepped into this role – in a direct parallel to their role in the care and education of children, what Walgenbach (2005) terms the „politics of mental motherhood“. The educational policy, then, was rendered an instrument of the civilizing mission in order to help solidify a colonial-racist gender order in which the role of the bourgeois woman was a model of moral stability and the bearer of civilization […]. (Braun 2017: 42)
Vor dem Hintergrund dieser historischer Sedimentierungen bestehen die „politics of mental motherhood“ auch weiter in sozialen Interaktionen, in gelebten Praktiken, in Weltsichten und in Selbstkonzeptionen (vgl. ebd.). Übertragen auf meine Forschung stellt es damit vielleicht doch mehr als eine Marginalie dar, dass ich v. a. mit Müttern aus Gruppenanmeldungen über ihren Wunsch und ihr Bedürfnis gesprochen habe, in die Kiezschulen hineinzuwirken. Viele dieser Mütter nahmen es als ihre Aufgabe und Verpflichtung wahr, insbesondere den „türkischen“ und „arabischen“ Kindern das gleichermaßen von der Institution Schule als auch von ihnen als relevant erachtete Wissen zu vermitteln. Die Angehörigen einer Gruppenanmeldung stellten in meiner Forschung ihre Entscheidung für die Kiezschule als eine Form der Gemeinwohlorientierung dar. Sie gingen davon aus, dass sie als Eltern, die sich zusammengeschlossen hatten, um die Kiezschule in der Nachbarschaft zu ‚retten‘, sich in gegensätzlicher Weise zu den – als verantwortungslos markierten – Eltern verhielten, die die Schule im Einzugsgebiet ablehnten und statt dessen eine andere Schule für ihr Kind wählten. Wie auch bei den Eltern, die um keinen Preis ihr Kind an einer Kiezschule anmelden wollen, kann hier von einem Rechtfertigungsdiskurs für die eigene Entscheidung gesprochen werden. In beiden Fällen greift dieser Diskurs die bestehende Ordnung nicht an, sondern stützt und reproduziert sie aus einer hegemonialen Mittelschichtsperspektive heraus. Schlussendlich wurde die Gruppenanmeldung als Akt der Verantwortungsübernahme sowohl für die Schulen als auch die Schüler*innen ausgewiesen, um die an sich als bedrohlich wahrgenommene Heterogenität erst als Bereicherung für alle Kinder empfinden zu können. Marianne Ebeling erläuterte dies folgendermaßen: „Und ich glaube, dass wir, also dass die „Kiezschul-Eltern“ diese Heterogenität einfach verbreitern, meiner Meinung nach in einem positiven Sinn.“ (Interview 3-2014). Anstatt das Augenmerk also auf die vermutete Verlangsamung des Lerntempos und die schlechte Schulkultur zu legen, rückten viele der Gruppenanmeldungs-Mütter die wahrgenommenen positiven Effekte ihrer Präsenz und die ihrer Kinder in den Schulklassen in den Fokus.
6.4 Orientierung am „Gemeinwohl“ als Entwicklungshilfediskurs
257
In den elterlichen Zusammenschlüssen in Gruppenanmeldungen realisiert sich ein „Regieren durch Community“ (Rose/Nikolas 2012: 88; vgl. Rose 2000: 332–337), das eine „neuartige[] lokalstaatliche[] Regierungsform innerhalb des neoliberal turn“ (Lanz 2009b: 221) darstellt. Im Zuge dessen wurde der „Wohlfahrtsstaat in ein aktivierendes Sozialregime verwandelt[], das auf den ‚magischen Floskeln‘ (Adalbert Evers) ‚Aktivierung‘, ‚Bürgergesellschaft‘ sowie ‚Fördern und Fordern‘ gründet“ (vgl. Lanz 2009b; vgl. auch Rodatz 2014). Im Kontext Berlins fanden diese Strategie der zeitgleichen Aktivierung und der Einbindung in lokale Gemeinschaften eine sozialpolitische Entsprechung im Quartiersmanagement (vgl. exemplarisch Hamra 2018; Lanz 2009b). Neben einer ökonomisierenden Logik im Sinne von mehr Privatisierung und Wettbewerb, basiert die ‚andere Seite‘ dieser neuen Regierungsweise auf der „Anrufung der Zivilgesellschaft und lokaler Gemeinschaften, der Aufwertung von Drittem Sektor und ehrenamtlichem Engagement“ (Heeg/Rosol 2007: 496). In diesem „Tod des Sozialen“ (Rose/Nikolas 2012) rückt die nationalstaatlich gefasste Vorstellung von Gesellschaft „zugunsten der ‚Gemeinschaft‘ in den Hintergrund […], die sich als neues Territorium präsentiert, auf dem das individuelle wie das kollektive Leben regieren“ (ebd.: 79). Stephan Lanz stellt diesbezüglich fest, dass der Begriff Community ursprünglich dem politischen, linken Aktivismus zugeordnet werden muss, „der gegen (wohlfahrts-)staatliche Entmündigung auf lokale Autonomie setzte“ (Lanz 2009b: 221). Dagegen bezieht sich die Rede von der Community im Neoliberalismus auf eine territoriale Form von Gemeinschaft und bildet „das Komplementär zum eigenverantwortlichen Subjekt“ (ebd.). Hier tritt „der Einzelne als autonomer Akteur auf[…], der jeweils einzigartige, lokale und spezifische Bindungen an seine Familie und eine besondere Überzeugungs- und Wertegemeinschaft hat“ (Rose/Nikolas 2012: 84). Nikolas Rose beschreibt dies so: Citizens are […] imagined as bound to communities through ties of allegiance, affinity and mutual recognition, and as acquiring their identities – thought of as a complexity of values, beliefs, norms of conduct, styles of existence, relations to authority, techniques of self-management, ways of resolving dilemmas and coping with fate – in and through these identifications. […] [C]ommunity, here, includes the values of love, care, notion, emotion, solidarity, sharing, self-sacrifice and so forth […]. (Rose 2000: 98)
Um das Individuum zu Eigenverantwortung und zum Rückgriff auf persönliche Loyalitätsbeziehungen im eigenen Lokalraum (Nachbarschaft, Familie, religiöse Gemeinschaft, Bürgerinitiative etc.) zu bewegen (vgl. Lanz 2009b: 222), „bedarf es einer Reihe von Strategien, die geeignet sind, die verschiedenen Dimensionen
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6 Gruppenanmeldungen und die Zusammensetzung von Schulklassen
solidarischer Einbindung von Individuen in Gemeinschaften sowohl zu ‚erfinden‘ als auch zu instrumentalisieren“ (Rose/Nikolas 2012: 85). In diesem Kontext begriffen die Eltern aus einer Gruppenanmeldung sich und das eigene Kind als zu nutzende Ressource und stellten diese zur „Optimierung“ und „Erweiterung“ der Diversität aller zur Verfügung. In dem hier anklingenden Verständnis von Diversity in seiner „marktförmigen Ausrichtung“ (Eggers 2010: 60) praktizierten die Eltern somit ein aktives „Diversity-Management“. Alana Lentin und Gavan Titley sprechen hierbei von den politics of diversity, die als Fortsetzung der (vermeintlich gescheiterten) multikulturellen Gesellschaft nach 9/11 eine „gently unifiying, cost-free form of political commitment“ (Lentin/Titley 2011: 183) mit dem Ziel der „community cohesion“ (ebd.: 184; Fortier 2010: 27) darstellen. In den politics of diversity ist „diversity […] the managerial view of the field of differences to be harmonized, controlled and made to fit into a coherent […] whole“ (Ang/St Louis 2005: 96). Differenz wird dabei als ein Nebeneinander verschiedener Differenzkategorien imaginiert, was einem intersektionalen Verständnis entgegensteht, wie es in rassismuskritischen, feministischen, queeren etc. Kämpfen zum Tragen kommt, die Alana Lentin und Gavan Titley als die diversity politics (Lentin/Titley 2011: 183) bezeichnen. Anstatt also gesellschaftliche Verhältnisse zu kritisieren, entsteht ein Feld der „non-politics“ (ebd.: 167), in der über das Diversity-Management ein harmonisches Miteinander entstehen soll. Auch hierüber wird Rassismus verschleiert: „‚Tackling racism‘ is characterised as a ‚negative activity‘ that would discourage people from joining and that could ultimately create new divisions.“ (Fortier 2010: 27). Die Eltern aus den Gruppenanmeldungen handelten hier in einer den politics of diversity entsprechenden Weise. Sie waren bestrebt, mit ihrer als positiv identifizierten Anwesenheit die in den Schulklassen anzutreffende Differenz (verstanden als statische Entitäten wie die ‚deutschen‘, ‚türkischen‘ und ‚arabischen‘ Kinder) zu einem kohärenten Ganzen, hier einem positiven Schul- und Lernumfeld in den Kiezschulen, zu managen. Sie versuchten, dieses Umfeld zu harmonisieren und zu kontrollieren, indem sie über die Zusammensetzung der Schulklassen und die Mitschüler*innen für die eigenen Kinder mitbestimmten. Wenn das Ziel eine harmonische gesellschaftliche Einheit ist, werden ‚weiche‘ neoliberale Regierungsweisen, die sich in einem „government through community“ (Rose 1996: 332–337) manifestieren, umso relevanter. Diese sind durch die Logiken des Marktes geprägt und fordern Individuen auf, „aktiv und ökonomisch effizient ihr Leben und ihre Bedürfnisse zu regieren.“ (Hess/Lebuhn 2014: 24). Dementsprechend realisiert sich das ‚doing Bildungsinteresse‘ als
6.4 Orientierung am „Gemeinwohl“ als Entwicklungshilfediskurs
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einem „new game[] of citicenship“ (Rose 2000: 108) zunehmend darüber, die eigene Nützlichkeit und das kollektive Engagement für die Gemeinschaft herauszustellen. Durch die Verunsichtbarmachung von Rassismus mittels seiner Individualisierung und ‚Privatisierung‘ ebenso wie durch das Ziel, eine harmonische ‚Diversity‘ herzustellen, wird es insbesondere für die von Segregation und Diskriminierung negativ betroffenen Eltern und Schüler*innen umso schwieriger, die „flüchtigen und schwer fassbaren rassistischen Figurationen zu greifen“ (Pieper/Panagiotidis/Tsianos 2011: 198) und auf sie zu reagieren. Die Frage, wie im Kontext Berlins diese Formationen des Rassismus im Übergangsbereich von Kita zu Grundschule trotz ihrer zunehmenden Verunsichtbarmachung herausgefordert und in Frage gestellt werden, beleuchte ich ausführlich in Kapitel 8.
7
‚Klasseneinteilungen nach Herkunft‘ als institutionelle Diskriminierungspraxis
7.1 Zur „Durchmischung“ beitragen In der Nachbarschaft der Kreuzberger Narzissen-Grundschule, der Timo Brandts und Melanie Reicherts Kinder zugeordnet waren, musste ein gutes Jahrzehnt zuvor eine andere Grundschule aufgrund mangelnder Neuanmeldungen schließen. Daraufhin wurden die Schuleinzugsgebiete in diesem Gebiet neu gestaltet: Viele Schüler*innen der alten Schule, die überwiegend aus einer soziostrukturell benachteiligten und stark migrantisch geprägten Hochhaussiedlung stammten, wurden nun der Grundschule zugeordnet, die Timo Brandts und Melanie Reicherts Kinder besuchten. An dieser Schule sanken in den darauffolgenden Jahren die Anmeldezahlen der Kinder „deutscher Herkunftssprache“ („dH“), der Anteil der Kinder „nichtdeutscher Herkunftssprache“ („ndH“) betrug nunmehr ca. 75 Prozent. Seitdem hier Gruppenanmeldungen in zwei der insgesamt fünf Klassenzügen fest etabliert wurden, hat sich der „ndH“-Anteil an der Schule bei knapp 60 Prozent eingependelt und die Zahl der Neuanmeldungen bleibt auf einem konstanten Niveau. Während ich in den vorhergehenden beiden Kapiteln den Übergang von der Kita zur Grundschule aus der Perspektive von Eltern nachgezeichnet habe, stehen im vorliegenden Kapitel institutionelle Praktiken der schulischen ,Segregation nach Herkunft‘ im Mittelpunkt. Schulleitungen, die mit der Etablierung von Gruppenanmeldungen zu einer „besseren Durchmischung“ beitragen wollen, tragen häufig (ungewollt) zu diesen Praktiken der schulischen Besonderung bei (7.1). Eine ,Trennung nach Herkunft‘ kann dabei der Schärfung des jeweiligen Schulprofils dienen (7.2), die häufig im Zusammenhang steht mit gestiegenen Wettbewerbslogiken zwischen Schulen (7.3). Jedoch bestehen für Schulleitungen
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Dean, Bildung – Heterogenität – Sprache, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30856-8_7
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7 ‚Klasseneinteilungen nach Herkunft‘ als institutionelle …
durchaus auch Handlungsmöglichkeiten, einer ,Trennung nach Herkunft‘ entgegenzuwirken (7.4). Die Schulleiterin der Narzissen-Grundschule verfolgte mit den Gruppenanmeldungen das Ziel, zu einer größeren Heterogenität der Schule und damit zu einer „‚besseren Mischung‘ von als bildungsfern wahrgenommenen Schülerschaften“ (Karakayalı/zur Nieden 2013: 61) beizutragen. Timo Brandt zufolge habe die Schulleiterin „sicherstellen [wollen], dass sozusagen da irgendwie ’ne sogenannte Mischung entsteht, die irgendwie, ich sag’s mal jetzt positiv gedeutet ,vielfältig‘ ist“ (Interview 1-2012). Auch nach Einführung der Option der Gruppenanmeldung sollten „hier ’ne Kiezmischung erhalten bleiben“ und keine „Eliteklassen“ entstehen (vgl. Interview 1-2012). Melanie Reichert aus derselben Gruppenanmeldung ergänzte, die Schulleiterin habe v. a. die „Durchmischung“ der Klasse vor Augen gehabt, als sie drei Jahre zuvor für die Gruppenanmeldungen zu werben begonnen hatte: Also ja, diese Durchmischung ist ja angekurbelt worden noch Mal wirklich vor drei Jahren oder jetzt das dritte Jahr, jetzt ist das dritte Jahr. Und also wo noch Mal die Schulleitung ganz klar geworben hat auch, ne? Sehr nach außen getreten ist, gesagt: „Wir haben wirklich ein Problem hier, weil überhaupt keine//“, also, dass das Bewohnerbild, sage ich mal, nicht abgebildet ist in der Schule. (Interview 2-2012)
Die Schulleiterin sprach Melanie Reichert zufolge den Familien aus ihrer Gruppenanmeldung ein besonderes ‚Bildungsinteressse‘ zu, weshalb sie gerade diese als eine Bereicherung für die Schule wahrnahm – als eine Bereicherung, die zuvor an der Schule gefehlt habe. Indem hier das Ziel formuliert wurde, die „Durchmischung“ an der Schule zu befördern, zeigt sich zunächst einmal – in einem alltagsontologischen Raumverständnis – eine starke Orientierung an statistischen Strukturdaten. Darüber hinaus wird deutlich, dass das Konzept der Gruppenanmeldungen von ähnlichen Grundgedanken wie das Quartiersmanagement durchwirkt ist: Während Studien im Feld von Migrationsforschung und Stadtanthropologie vielfach die Wirkungen des Quartiersmanagements als überaus ambivalent hinsichtlich der Bekämpfung von Armut und einer verstärkten Partizipation von marginalisierten Bewohner*innen (vgl. Lanz 2009b: 220; Hamra 2018), kritisiert Frederick Groeger in einer frühen Studie zu den Effekten des Quartiersmanagements, die Maßnahmen eines Neuköllner Quartiersmanagementgebiets orientierten sich an den Interessen der
7.1 Zur „Durchmischung“ beitragen
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bereits im Kiez wohnenden, im Quartiersmanagement organisierten „Mittelschicht“ und fördere deren weiteren Zuzug (vgl. Groeger 2002: 174).1 An der Schule von Melanie Reicherts Tochter wurde mit der Einrichtung von Gruppenanmeldungen ebenfalls eine ‚stabile Bewohner*innenschaft‘ adressiert, d. h. Eltern, die durch einen privilegierten Sozialstatus gekennzeichnet waren und deren Kind zudem mehrheitlich der Kategorie „deutsche Herkunftssprache“ zugeordnet war. Die Mehrzahl dieser Eltern teilte Ängste vor einem schlechten Lern- und Schulklima an der lokalen Einzugsgebietsschule. Die Schule nahm dies zum Anlass, Gruppenanmeldungen einzuführen, um diese Eltern an sich zu binden. Auch generell kann vermutet werden, dass Gruppenanmeldungen – angesichts zunehmender Gentrifizierungsdynamiken – eine Möglichkeit für Schulen darstellen, die Anmeldezahlen von Schüler*innen konstant zu halten und zugleich den Anteil einer Mittelschichtsklientel an der Schule zu erhöhen. Doch stellen Gruppenanmeldungen auch eine Möglichkeit für Schulen und für die sie besuchenden Schüler*innen dar, die in Kapitel 4 angesprochene Bildungssegregation – im Sinne einer räumlich ungleichen Verteilung von Bildungsressourcen und -chancen – abzuschwächen oder gar zu überwinden?
1Die
seitens der Mittelschicht wahrgenommenen Probleme, wie bspw. die ‚Ballung‘ krimineller Migrant*innen und die Perspektivlosigkeit vieler Jugendlicher (vgl. Groeger 2002: 168 f.), aber auch die Durchsetzung mittelstandsorientierter Sauberkeits- und Ordnungsvorstellungen (vgl. ebd.: 171) stünden daher im Zentrum der Maßnahmen (vgl. ebd.: 174). Auf diese Weise wirke das Quartiersmanagement als eine Art Filter der Interessensdurchsetzung, bei der die Anliegen „unterprivilegierter, armer und ausgegrenzter Bevölkerungsteile“ (ebd.: 167) tendenziell zu kurz kommen und sich Ungleichheitsstrukturen verfestigen, da sie „eine Dynamik zu[lassen], in der sich der jeweils Stärkere durchsetzen kann“ (ebd.: 174). Volker Eick und Britta Grell konstatieren darüber hinaus, in manchen Gebieten werde „explizit als Ziel formuliert, den Anteil von nichtdeutschen BewohnerInnen zu begrenzen“ (Eick/Grell 2002: 189), was „Exklusionsprozesse gegen so genannten (sic) Randgruppen“ (ebd.) nach sich ziehe. Auch neuere Studien verdeutlichen, welche Ausgrenzungseffekte Maßnahmen des Quartiermangements nach sich ziehen können, darunter Jana Pasch (2015) in Bezug auf den Lokalraum der Göttinger Weststadt und Vassilis Tsianos (2014, 2015b) hinsichtlich von „Moscheekonflikten“ in Hamburg. Demgegenüber betont Sulamith Hamra (2018) in ihrer Studie zu Stadtteilmütterprojekten in Berlin vielmehr die ambivalenten Effekte des Quartiermanagements zwischen Kontrolle und Ausgrenzung auf der einen und Ermöglichung, Partizipation und Empowerment auf der anderen Seite.
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7.1.1 Machtpotenzial der Gruppenanmeldungseltern Insbesondere, wenn Gruppenanmeldungen von Elternseite ausgehen, erhalten die Gruppen in der Regel die Möglichkeit Ansprüche geltend zu machen (vgl. Krüger/ Roch/Dean 2016: 699 f.). Die Mutter Monika Weber berichtete über Verhandlungen ihrer Gruppe mit dem Schulleiter einer Kreuzberger Schule: „Wir waren fünfzehn Eltern oder zwölf Eltern, weiß ich jetzt nicht mehr genau und wir haben halt unsere Kinder alle zusammen über den Direktor gedealt sozusagen in die Schule bekommen.“ (Interview 18-2011). Die Kinder seien dabei auf zwei Klassen verteilt worden, [a]ber wir durften die Kinder aufteilen. Das lag daran, dass die [Name der Schule] halt keinen guten Ruf hat, immer die Klassen nicht voll bekommen hat. Und der Direktor [sagte]: „Ich sag halt, ist mir egal, ob sie in Neukölln wohnen oder sonst da wo, ich will, dass sie zu uns kommen.“ (Interview 18-2011)
Monika Weber argumentierte mit dem schlechten Ruf der Schule und der damit verbundenen fehlenden Belegung freier Plätze an der Schule. Dies habe dazu beigetragen, dass der Schulleiter die Gruppe von Eltern – unabhängig des vorgesehenen Schuleinzugsgebiets – an seine Schule habe binden wollen. Monika Weber rechnete sich bessere Chancen aus, Zugang zur gewünschten Schule außerhalb ihres eigenen Bezirks zu erhalten, wenn sie sich einer kollektiven Gruppenanmeldung anschloss, als wenn sie einen individuellen Antrag auf Umschulung beim zuständigen Schulamt gestellt hätte. Auch Timo Brandt und Melanie Reichert aus einer Kreuzberger Gruppenanmeldungsinitiative erzählten, dass ihnen die Möglichkeit geboten wurde, alle Kinder gemeinsam in einer Schulklasse einzuschulen. Melanie Reichert berichtete, die Schulleiterin hätte ihnen sogar von sich aus zugesichert: Ihr braucht davor [euer Kind an der Schule anzumelden, Anmerkung I.D.] keine Angst zu haben, weil ihr könnt euch als Gruppe anmelden und dann sorgen wir dafür und werden das beachten, dass diese Kindergruppe entsprechend in eine Klasse kommt. Das heißt, wenn ihr sechs seid, wenn ihr acht seid, ist diese Achter-Gruppe in der Klasse zusammen. (Interview 2-2012)
Neben der Aufteilung der Kinder entsprechend den Vorstellungen der Eltern gehörte auch die Wahl des Klassenzugs zu den Vereinbarungen zwischen Schule und Elterninitiative, wie Melanie Reichert berichtete: Und wir haben dann mit unserer Gruppe uns auch gleichzeitig eine Klasse ausgesucht, beziehungsweise ein Lehrerinnenteam. So, und das war unser Wunsch.
7.1 Zur „Durchmischung“ beitragen
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Die Schulleitung hat zu dem Zeitpunkt das einfach noch ermöglicht oder hat uns signalisiert: „Suchen sie sich ein Team aus, das sie gut finden und dann werden wir das schon möglich machen.“ (Interview 2-2012)
Einige Klassenzüge der ersten beiden Jahrgänge wurden in der Schulanfangsphase (SAPH) jahrgangsübergreifend unterrichtet (JÜL). Timo Brandt aus derselben Gruppenanmeldung erzählte, seine Elterninitiative habe in engem Kontakt zu den Eltern der vorhergehenden Gruppenanmeldung gestanden. Diese hatten der aktuellen Elterninitiative das Lehrer*innenteam des eigenen Klassenzugs wärmstens empfohlen. Nachdem die Gruppe dann beim „Tag der offenen Tür“ an der Schule das Team kennenlernte und es auf positive Resonanz stieß, stand für die Eltern fest, dass ihre Kinder diesen Klassenzug besuchen sollten. Timo Brandt erzählte: „Und dann haben wir sozusagen einen kleinen Brief geschrieben und haben gesagt an die Schulleitung: ‚Hey, wir würden uns voll freuen, weil da gibt’s schon soziale Beziehungen in die Klasse rein, wenn es möglich wäre, dass wir da irgendwie in diese Klasse kommen.‘“ (Interview 1-2012). Timo Brandt zufolge hatte die Gruppe lediglich darum gebeten, ihren Wünschen zu entsprechen, wobei laut Melanie Reichert die Schule eindeutig signalisierte, dass sie dem Wunsch der Eltern entsprechen wolle. Die Mutter Johanna Greif aus Neukölln wiederum berichtete, dass ihre Gruppenanmeldung der Schule gegenüber Ansprüche geltend gemacht habe. Mit Verweis auf meinen Interviewleitfaden, den ich ihr vorab hatte schicken sollen und in dem ich „ja auch was mit geschrieben [hätte] von Bedingungen“2 (Interview 5-2013), erzählte sie, ihre Gruppe habe sich von der Schule gewünscht, alle neun Kinder, die sich aus der Kita kannten, sollten zusammen in einer Klasse eingeschult werden: Und das war so ein bisschen das, wo wir gesagt haben, dass wir das jetzt nicht aufteilen wollen. Und dass das schade wäre, wenn sie jetzt irgendwie nur zwei Mädchen aus der Klasse und dann noch zwei Jungs dazu und dann das andere// und noch weiter verteilen. Und das haben die dann halt gemacht und das war schon schön, dass sie sich da im Grunde drauf eingelassen haben. (Interview 5-2013)
2In
meinem Interview-Leitfaden lautete die entsprechende Frage: „Wie stand die Schulleitung zu euch als Gruppe, die ihre Kinder gemeinsam angemeldet hat? Gab es Vereinbarungen, Absprachen zwischen euch? Habt ihr Forderungen an die Schulleitung gestellt? Bspw. was den Personalschlüssel, ein/e besondere/r Lehrer/Lehrerin, bzw. ein Lehrer-Team oder die Mitschüler/innen betrifft?“
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7 ‚Klasseneinteilungen nach Herkunft‘ als institutionelle …
An der Schule von Johanna Greifs Tochter werden die ersten beiden Jahrgänge in der Schulanfangsphase (SAPH3) jahrgangsübergreifend unterrichtet (JÜL). Letztlich stellten die Kinder aus dieser Gruppenanmeldung ungefähr die Hälfte der Kinder in der Schulklasse. Um zu verhindern, dass Kinder aus Gruppenanmeldungen in diesem Klassenzug irgendwann die absolute Mehrheit bildeten, achtete die Schulleiterin in den Folgejahren daher sehr genau darauf, dass nur drei bis vier Kinder als Gruppe in den einzelnen Klassenzügen eingeschult wurden. Die hier vorgestellten elterlichen Aussagen verweisen auf das Machtpotenzial, das Eltern aus Gruppenanmeldungen besitzen, wenn sie sich mit ihren „Bedingungen“ oder ihrem „Wunsch“ an Schulen wenden und die Modalitäten ihrer Gruppenanmeldung vereinbaren. Denn schließlich handeln die Gruppen in dem Wissen, dass sie als Herkunftsdeutsche und/oder erkennbare Mittelschichtszugehörige für Grundschulen […] attraktiv sind, weil sie mit ihrer bloßen Anwesenheit den Ruf der Schule verbessern – aus diesem Grund lassen sich Schulleiter_innen auf das Prozedere ein. (Karakayalı/zur Nieden 2013: 69)
In Ergänzung dazu lässt sich feststellen, dass Schulen mit einem schlechten Ruf nicht nur Gruppenanmeldungen anbieten, sondern häufig parallel dazu die damit verknüpften Vorstellungen und/oder Bedingungen der adressierten Eltern antizipieren und berücksichtigen (müssen), um für diese Elternklientel attraktiver zu werden. Diesen Umstand betonte der Vorsitzende des Integrationsausschusses von Friedrichshain-Kreuzberg, Wolfgang Lenk, der nach Konflikten um die Einrichtung von Gruppenanmeldungen an der Narzissen-Grundschule im Bezirk die damit verbundenen Ausschlüsse öffentlich kritisiert hatte (vgl. Unterkapitel 8.2). Im Interview vollzog er in einem Gedankenexperiment die mögliche Perspektive von Schulleitungen nach: Wenn sie [die Eltern, Anmerkung I.D.] überhaupt an meine Schule wollen, die ein wachsendes Negativ-Image hat, gehen sie dann nur in Gruppenanmeldungen. Das
3In
der Verordnung über den Bildungsgang der Grundschule (vgl. Senatsverwaltung 2005c) ist im § 2 festgelegt: „Die Schulanfangsphase umfasst die Jahrgangsstufen 1 und 2 und wird als pädagogische Einheit jahrgangsstufenübergreifend organisiert.“ Im § 29 ist davon abweichend geregelt, dass Grundschulen unter bestimmten Bedingungen „aufgrund schulspezifischer Rahmenbedingungen“ die Aufhebung des jahrgangsübergreifenden Lernens beantragen können. Dazu müssen Schulen ein pädagogisches Konzept zur individuellen Förderung einschließlich des flexiblen Verweilens in der Schulanfangsphase vorlegen.
7.2 Nach ‚Herkunft getrennte Klassen‘ an Berliner Grundschulen
267
heißt, ich [die Schulleitung, Anmerkung I.D.], muss die Gruppenanmeldungen akzeptieren, so wie sie vorgeschlagen werden. (Interview 1-2013)
Für Schulen mit einem hohem „ndH“ und/oder „LmBf“ Anteil, die einen schlechten Ruf bei diesen Eltern genießen, sei es Wolfgang Lenk zufolge wichtig, Gruppenanmeldungen den elterlichen Vorstellungen entsprechend zu akzeptieren und ein „Angebot [zu] mache[n], das genau den Leuten entgegenkommt, die, so wie sie gestrickt sind, das wollen“ (Interview 1-2013). Hier zeigt sich, dass Gruppenanmeldungseltern ein Druckmittel besitzen – sich selbst und ihre Präsenz an den Schulen –, mit dem sie den Schulen gegenübertreten können: Denn erfüllen die Schulen ihre Vorstellungen und ihre Forderungen nicht oder nicht in ausreichendem Maß, könnten sie ja auch eine Schule außerhalb des Einzugsgebiets ansteuern, so die dahinterliegende Drohung. In einem solchen Fall würde sich der schlechte Ruf einer Schule nicht verbessern und die dortigen Anmeldezahlen stagnierten. Kommen stattdessen die ersten Gruppenanmeldungseltern an eine Schule, verbessert sich deren Ruf und die Schule wird wiederum attraktiver für neue Gruppenanmeldungen – es entsteht eine Art Feedback-Schleife. Aus diesem Grund akzeptieren Schulen häufig nicht allein Gruppenanmeldungen, sondern gehen auf viele der elterlichen Wünsche ein, sei es die Möglichkeit, die Lehrkraft für die Schulklasse des Kindes zu wählen, eine große Gruppe an Kindern nach eigenen Vorstellungen auf zwei Klassen aufzuteilen oder, wie im Falle von Johanna Greifs Elterninitiative, alle Kinder zusammen in einer Klasse einzuschulen. Letztlich entsteht auf diese Weise ein miteinander verwobenes Wechselspiel zwischen elterlichem und schulischem Handeln.
7.2 Nach ‚Herkunft getrennte Klassen‘ an Berliner Grundschulen4 Im Berliner Schulgesetz ist in § 4 Absatz 2 festgelegt: „Die Schule ist so zu gestalten, dass die gemeinsame Unterrichtung und Erziehung sowie das gemeinsame Lernen der Schülerinnen und Schüler verwirklicht, Benachteiligungen ausgeglichen und Chancengleichheit hergestellt werden.“ (Senatsverwaltung 2004). Die Schüler*innen sollen (in der Regel) in ihren jeweiligen Schulen gemeinsam
4Teile
dieses Abschnitts finden sich in Dean 2018a.
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7 ‚Klasseneinteilungen nach Herkunft‘ als institutionelle …
unterrichtet werden, so z. B. auch Kinder „deutscher“ und „nichtdeutscher Herkunftssprache“ (insbesondere im § 4, Absatz 10 und § 15, Absatz 1 festgelegt). Eine Ausnahme von diesem Grundsatz besteht lediglich für Schüler*innen, die die deutsche Sprache so wenig beherrschen, dass sie dem Unterricht nicht ausreichend folgen können und eine Förderung in Regelklassen nicht möglich ist, [weswegen sie] in besonderen Lerngruppen zusammengefasst werden [sollen], in denen auf den Übergang in Regelklassen vorbereitet wird. (ebd.: § 15, Absatz 2)
Auf das Berliner Schulgesetz Bezug nehmend, argumentierten verschiedene meiner Interviewpartner*innen, die institutionelle Separation nach ‚Herkunft‘ verstoße gegen geltendes Recht.5 Tatsächlich kann diese als de jure unzulässig angesehen werden, wenn mit dem Gleichheitsgrundsatz – hergeleitet aus dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, dem Berliner Schulgesetz, der Europäischen Menschenrechtskonvention und/oder der Antirassismusrichtlinie der EU – argumentiert wird (vgl. Interview 1-2014). Dazu kommt, dass in Berlin seit vielen Jahren gut etablierte Antidiskriminierungsstrukturen, darunter Beratungs- und Anlaufstellen, Selbstorganisationen und Initiativen der Empowerment- und Communityarbeit existieren. Dies mag dazu beigetragen haben, dass, als ich im Herbst 2019 diese Arbeit abschloss, das erste bundesweit geltende Landesantidiskriminierungsgesetz für Berlin (LADG) – unter der Federführung des Justizsenators von Berlin, Dirk Behrendt (Bündnis ‘90/Die Grünen) – gerade dabei war, verabschiedet zu werden. Kurz zuvor, im März 2019, hatte Dirk Behrendt den Landesantidiskriminierungsgesetz-Entwurf (LADG-E) bei einer diesbezüg lichen Informationsveranstaltung vorgestellt, zu der auch ich als Referentin zu schulischer Diskriminierung eingeladen war. Bei der vom Beirat für Integration und Migration in Friedrichshain-Kreuzberg organisierten Veranstaltung bekräftigte Dirk Behrendt, den Aspekt der Sprache als Diskriminierungsmerkmal in das LADG aufnehmen zu wollen (vgl. Behrendt 2019). Dies könnte jedoch möglicherweise folgenlos bleiben, da zwei andere Regelungen im LADG – zu diesem Zeitpunkt – nicht zur Disposition standen: Bereits im Herbst 2018 hatten das Berliner Netzwerk gegen Diskriminierung in Kita und Schule (BeNeDisk),
5Zu
diesen Interviewpartner*innen gehörten Wolfgang Lenk (Interview 1-2013), Meral El (Interview 4-2013), Maryam Haschemi Yekani (Interview 6-2013), Carsten Ilius (Interview 1-2014) und Catharina Reinhardt (Interview 6-2014).
7.2 Nach ‚Herkunft getrennte Klassen‘ an Berliner Grundschulen
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der Deutsche Juristinnenbund e. V. und der Migrationsrat Berlin kritisiert, dass das LADG-E Diskriminierung sowohl aufgrund von bestehenden „Rechtsvorschriften“ (wie dem Berliner Schulgesetz) als auch bei Vorliegen eines hinreichend sachlichen Grundes (wie bspw. der zeitweisen Separation in Lerngruppen) erlaube (vgl. BeNeDisk 2018: 4 f.; Deutscher Juristinnenbund e. V. 2018: 2; Migrationsrat Berlin e. V. 2018). Die rechtlichen Regelungen im Berliner Schulgesetz, die die Kategorie „nichtdeutsche Herkunftssprache“ („ndH“) betreffen, könnten also unter Umständen auch weiterhin unterschiedlich und teils widersprüchlich ausgelegt werden. Die Regelungen des Berliner Schulgesetzes, um die es im Folgenden geht, aber auch die Einführung des Landesantidiskriminierungsgesetzes verdeutlichen anschaulich, dass juridische Regelungen nichts Statisches oder vorab Gegebenes sind. Gesetze können neu verabschiedet oder auch wieder abgeschafft werden. Auch bestehende Gesetze unterliegen andauernden Prozessen der Auslegung, der Konkretion und Schärfung, die sich aus vielfältigen Auseinandersetzungen und Verhandlungen ergeben. Das Recht wird also „von einer Multitude von Akteuren, Apparaten und Systemen in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um dessen Bedeutung permanent aufs Neue produziert“ (Buckel/Christensen/Fischer-Lescano 2006: XI–XIII).6
7.2.1 „Deutsch-Garantie-Klassen“ Im Frühjahr 2016 titelte die Berliner Zeitung: „Wer gut Deutsch spricht, wird besonders gefördert“ (Klesmann 2016). Kinder, die an einer Grundschule im Bezirk Mitte einen verpflichtenden Deutsch-Test bestehen, können demnach in einer sogenannten Nawi-Klasse (mit naturwissenschaftlichem Schwerpunkt) eingeschult werden. Hier erhalten sie zusätzlichen Unterricht in Biologie, Chemie und Physik sowie Englischunterricht ab der ersten Klasse. Eingeführt hatte die Schule die Spezialklassen vor einigen Jahren, um, so die Berliner Zeitung, „Kinder des bildungsbürgerlichen Mittelstandes“ aus dem Ortsteil Alt-Mitte an die Schule zu ‚locken‘. Denn zuvor hatten die Einrichtung fast ausschließlich „Kinder aus armen, oft migrantischen Familien“ aus dem Ortsteil Gesundbrunnen besucht. In die Nawi-Klassen gehen zwar auch Kinder, „deren Eltern aus
6Die Autor*innen
beziehen sich hierbei auf Laclau/Mouffe (2001) sowie Mouffe (2005).
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7 ‚Klasseneinteilungen nach Herkunft‘ als institutionelle …
verschiedenen Herkunftsländern stammen“, so die Berliner Zeitung. In der Tendenz ist an der Schule aber eine Klasseneinteilung entstanden, in der die Kinder nach ‚Herkunft getrennt‘ eingeschult werden. „Nawi-Klassen“, teilweise auch „Deutsch-Garantie-Klassen“ genannt, wurden seit dem Schuljahr 2010/11 zunächst in einem Modellprojekt an einer Grundschule im Bezirk Mitte angeboten (vgl. exemplarisch Lange/Anders 2009; Menke 2009); später folgten auch weitere Grundschulen im Bezirk Mitte diesem Beispiel (vgl. Klesmann 2016). Das Hauptargument der Einführung von „Nawi-Klassen“ ist, eine ‚ausgewogene‘ Zusammensetzung der Schüler*innen erzielen und die Bewohner*innenstruktur des Einzugsgebiets an den Schulen abbilden zu wollen. Ähnlich wie in der Kreuzberger Primel-Kita basiert diese Argumentation auf der Vorstellung, homogene Lerngruppen seien dann zu vermeiden, wenn sie sich aus ‚bildungsfernen‘ Lernenden aus Sozialräumen in ‚schwierigen Lagen‘ zusammensetzten (vgl. Unterkapitel 4.2 und 4.3). Auch in anderen Bezirken stoßen Spezialklassen wie „Nawi-Klassen“ auf politischer Ebene auf Zustimmung. Die ehemalige Bezirksbürgermeisterin von Neukölln, Franziska Giffey (SPD), begrüßte dementsprechend in einem Interview mit Marion Schulz und Max Büch von der Online-Plattform neukoellner.net die Einführung von Deutsch-Garantie-Klassen als geeignete Strategie, um hierüber „bildungsorientierte[ ] Eltern“ dazu zu bewegen, ihr Kind an Schulen in sozialräumlich benachteiligter Lage einzuschulen: Wir haben ja auch große Diskussionen in der Stadt gehabt über die Deutsch-Garantie-Klassen, die es in Mitte gibt. Das wurde sehr stark kritisiert. Trotzdem war es an vielen Stellen der einzige Weg, diese Kinder [von ‚bildungsorientierten‘ Eltern, Anmerkung I.D.] überhaupt an den Schulen zu halten. Hätte man es nicht gemacht, wären die Eltern gegangen. Im Gegensatz dazu ist es problematisch, wenn bei einer ganzen Klasse nicht ein einziger Elternteil Arbeit hat und es ist auch problematisch, wenn zu Hause in kaum einer Familie deutsch gesprochen wird. (Giffey 2015)
Aus der Sicht Franziska Giffeys stellen Deutsch-Garantie-Klassen ein Erfolgsmodell dar, um die Zusammensetzung an den Schulen zu verbessern. In Neukölln haben sich Deutsch-Garantie-Klassen bislang jedoch nicht durchsetzen können. Vielmehr hatte zeitnah nachdem der erste Modellversuch bekannt wurde, die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) von Neukölln es abgelehnt, durch das Bezirksamt den Bedarf seitens Schulen und Neuköllner Eltern an
7.2 Nach ‚Herkunft getrennte Klassen‘ an Berliner Grundschulen
271
eutsch-Garantie-Klassen zu ermitteln und diese gegebenenfalls nach dem D Vorbild des Bezirks Mitte in einem eigenen Modellprojekt umzusetzen (vgl. Bezirksverordnetenversammlung Neukölln 2010; Menke 2009).7 Stattdessen wurde hier ganz auf Gruppenanmeldungen an Schulen in sozialräumlich benachteiligten Lagen gesetzt, um die es im vorhergehenden Kapitel ging. Ein mit Deutsch-Garantie-Klassen und Gruppenanmeldungen intendierter Effekt ist die vermeintliche „Optimierung der Schülerpopulation“ (Bellmann/ Weiß 2009: 304), mittels der Schulen ihr übergeordnetes Ziel der „Rekrutierung leistungsstarker Schüler“ (ebd.: 295) verfolgen. Auch wenn der – nicht gerade als diskriminierungskritisch bekannte – Vorgänger von Franziska Giffey, Heinz Buschkowsky die Deutsch-Garantie-Klassen abgelehnt hatte, da er befürchtete, „dass bereits unter Grundschulkindern eine Auslese stattfinde“ (Lange/Anders 2009), betonte Franziska Giffey ausschließlich deren positive Wirkungen. Im weiteren Verlauf des Interviews sprach sie dann v. a. der „soziale[n] Dimension“ eine große Relevanz als „Problemindikator“ zu: Die Herkunft ist doch eigentlich völlig egal. […] Wir haben in ganz Nord-Neukölln in allen Schulen über 80, teilweise über 90 Prozent, NDH und LMB. Gleichzeitig. Jetzt stellt sich die Frage, was davon der eigentliche Problemindikator ist. In der Zehlendorf International School, da haben Sie auch zu 100 Prozent NDH. Das ist aber kein Problem, weil deren Eltern ihre Kinder ausreichend unterstützen können. Die soziale Dimension ist das Problem. Viele Kinder hier wachsen unter extrem beengten Umständen auf. Ich höre immer wieder von Familien, wo die Kinder zu Hause nicht einmal ein eigenes Bett haben, weil der Platz dafür nicht da ist – geschweige denn für einen eigenen Schreibtisch oder ein eigenes Zimmer. (Giffey 2015, Hervorheb. I.D.)
Liegt der Fokus allein auf der „soziale[n] Dimension“, so können möglicherweise (damit verbundene) rassistische Ausschlüsse außer Acht gelassen werden. Dies kann es unter Umständen begünstigen, dass ‚Klasseneinteilungen nach Herkunft‘ vorgenommen werden, ohne dass diese Praxis als rassistisch diskriminierend wahrgenommen wird (vgl. Karakayalı/zur Nieden 2014: 77).
7Abgelehnt hatten den Antrag die Parteien SPD, Bündnis 90’/Grüne, Linke, Graue sowie die fraktionslosen Bezirksverordneten; für den Antrag stimmten die Parteien CDU und FDP (vgl. Bezirksverordnetenversammlung Neukölln 2010).
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7 ‚Klasseneinteilungen nach Herkunft‘ als institutionelle …
Schulischerseits wird die ‚Trennung nach Herkunft‘ dabei zumeist mit schulorganisatorischen Abläufen oder Notwendigkeiten begründet (vgl. dies. 2013: 69). So haben „das Angebot spezifischer Lerninhalte und Lernformen, wie z. B. Schulklassen mit Theaterschwerpunkt, Montessori-Ansätze8 oder offener Unterricht“ segregierende Effekte, da sich von diesen Angeboten „offensichtlich eher herkunftsdeutsche Eltern angesprochen fühlen.“ (ebd.). Auch Gruppenanmeldungen fallen hierunter sowie die Einrichtung von ‚evangelischen Klassen‘, Klassen für D eutsch-Muttersprachler_ innen oder eine Klasseneinteilung, die sich an der Nachmittagsbetreuung orientiert (Schüler_innenläden oder Ganztagsbereich, wobei die Schüler_innenläden auch wegen der höheren Kosten zumeist von Mittelschichts-Eltern gewählt werden). (ebd.)
Während ich mich im vierten Kapitel auf sprachbezogene Praktiken im Kitakontext konzentriert habe, beleuchte ich nun Handlungen und Routinen von Schulen, die aus einem gesellschaftlich breit geteilten diskriminierenden bzw. rassistischen Wissen resultieren, ohne dass dabei zwangsläufig eine bewusst negative Absicht dahinterstehen muss. Im Folgenden knüpfe ich damit an wissenschaftliche Arbeiten an, die sich mit Formen von institutioneller Diskriminierung (vgl. Gomolla/Radtke 2009) bzw. institutionellem Rassismus (vgl. Jäger/Kauffmann 2002; Melter 2006) beschäftigen und die institutionelle Diskriminierungspraktiken vor dem Hintergrund einer zunehmenden Flexibilisierung und Fluidisierung von Rassismus im Sinne eines „postliberalen Rassismus“ verorten (vgl. Pieper/Panagiotidis/Tsianos 2011). Allerdings möchte ich in meiner Arbeit keineswegs die Bandbreite institutioneller Separationspraktiken erschöpfend und auch nicht systematisierend darstellen, sondern vielmehr beispielhaft mögliche institutionelle Praktiken in Bezug auf (potenzielle) ‚Klasseneinteilungen nach Herkunft‘ an Grundschulen in Berliner Innenstadtbezirken aufzeigen.
8Das
reformpädagogische Montessori-Konzept basiert u. a. auf individualisiertem Lernen und Freiarbeit (vgl. Meisterjahn-Knebel/Eck 2012; Idel/Ullrich 2008: 367–369). In diesem Zusammenhang hat ein Team rund um den Erziehungswissenschaftler Georg Breidenstein Spannungsverhältnisse zwischen der postulierten Gleichbehandlung aller Schüler*innen und deren Ungleichbehandlung durch eine differenzierte Aufgabenzuweisung in der Unterrichtspraxis herausgearbeitet (vgl. Breidenstein/Menzel/Rademacher 2013). Das Konzept wird meist an speziellen Schulen in freier Trägerschaft bzw. Privatschulen unterrichtet (vgl. Ullrich/Strunck 2009), wobei in Berlin auch einzelne staatliche Grundschulen separate Montessori-Zweige anbieten.
7.2 Nach ‚Herkunft getrennte Klassen‘ an Berliner Grundschulen
273
7.2.2 Institutionelle Separation als Schärfung des Schulprofils Um – sich selbst als ‚bildungsnah‘ antizipierende – Eltern verstärkt an die eigene Grundschule zu binden, versucht eine Vielzahl an Schulen in Berliner Innenstadtbezirken das eigene Schulprofil stärker zu konturieren und an den Bedürfnissen dieser Eltern auszurichten (vgl. Flitner 2007). ‚Angebote‘ wie Montessori-Zweige, Theaterschwerpunkte oder offener Unterricht verweisen zugleich auch auf einen potenziellen Umgang vieler Schulleitungen mit den an sie gerichteten Erwartungen: die institutionelle Separation von „Problemkindern“ (Interview 1-2013). Dieses Bestreben strich Wolfgang Lenk, Vorsitzender des Integrationsausschusses von Friedrichshain-Kreuzberg, besonders heraus. Er vollzog wiederum die mögliche Perspektive von Schulleitungen nach: Sie [die Eltern, Anmerkung I.D.] erwarten von mir [der Schulleitung, Anmerkung I.D.], dass ich insgesamt dann diese, aus der Sicht dieser bildungsorientierten und erfahrungsarmen Mittelschichtseltern, Problemkinder, so wie sie sie konstruieren, dass ich die dann irgendwo bündele, dass die nicht das Schulklima bestimmen, sondern dass die dann als Problemklasse separiert lernen. (Interview 1-2013)
Die dahinterliegende Vorstellung, ‚Problemkinder‘ in bestimmten Klassen zu separieren, verglich Wolfgang Lenk mit der Praxis von ‚Ausländerregelklassen‘, die in Berlin bis zum Jahr 1995 bestanden: „Das war ja auch in den achtziger Jahren, siebziger Jahren. Da hat man ganz offen von Ausländerklassen gesprochen als Problemklassen. Das ist ja nicht ganz verschwunden diese Vorstellung, dass man so damit umgehen kann.“ (Interview 1-2013). Die „Vorstellung, dass man so damit umgehen kann“ führt in der Tendenz dazu, dass in Schulen mit einem hohen „ndH“-Anteil, die von tendenziell soziostrukturell deprivilegierten Kindern aus Familien mit (auch Generationen zurückliegender) Migrationsgeschichte besucht werden, Kinder ‚bildungsprivilegierter‘ Eltern einzelne Klassen dominieren. Viele dieser Eltern fühlen sich offensichtlich von einer impliziten und als solche nicht benannten ‚Segregation nach Herkunft‘ auf Ebene der Klasseneinteilung angezogen. Aus diesem Grund werden ‚Klasseneinteilungen nach Herkunft‘ von vielen Schulleitungen in Kauf genommen oder zum Teil sogar aktiv voran getrieben. Wolfgang Lenk drückte dies folgendermaßen aus: „Die Sache ist doch die: Wenn eine Schule segregierte Klassen einführt, um mehr deutschstämmige Kinder an die Schule zu binden, dann steigert das aus der Sicht dieser Eltern die Attraktivität der
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Schule.“ (Interview 1-2013). Dies sei selbst dann der Fall, wenn die betreffende Schule öffentlich beschuldigt werde, ihre Segregationspraxis sei rassistisch, wie vor einigen Jahren im Falle einer Berlin-Kreuzberger Schule, so Wolfgang Lenk: „Das heißt also, der Rassismusvorwurf, so zynisch das klingt, steigert die Attraktivität der Schule unter diesen Umständen, bei dieser Klientel. Das ist doch das Verrückte!“ (Interview 1-2013).9 In Bezug auf diese ‚segregierte Klassen‘ ging Wolfgang Lenk davon aus, dass es zwischen Schulen und dieser Elternklientel „eine gewissermaßen unsichtbare Kommunikation zwischen zwei Formen der Strategie und zwei Formen des Begehrens [gibt], die sich dann ergänzen.“ (Interview 1-2013). Strategie und Begehren dieser Eltern sei es, zusammen mit anderen gleichgesinnten Eltern ihre eigenen Kinder in einer Klasse einzuschulen und damit die ‚Problemkinder‘ möglichst vom eigenen Kind ‚fernhalten‘ zu können. Parallel dazu sei es die Strategie und das Begehren der Schule, auf der einen Seite (vermeintlich oder tatsächlich) leistungsstarke Klassen zu ermöglichen sowie parallel dazu ‚Problemklassen‘ mit einem (vermeintlich oder tatsächlich) niedrigeren Leistungsniveau, die in der Mehrzahl von Kindern besucht werden, die den Kategorisierungen als „ndH“ und „LmBf“ zugeordnet werden. Das besondere schulische „Begehren“ nach ‚leistungsstarken‘ Schüler*innen ist eng verknüpft mit der Einführung performanzorientierter Steuerungsformen im Sinne eines New Public Management seit Mitte der 1990er Jahre. In Berlin wurde mit der Reform des Schulgesetzes vom 1. April 2004 gemäß diesem Verwaltungskonzept „Schulen eine erweiterte Selbstständigkeit zugebilligt, die die rechtliche, finanzielle, personalwirtschaftliche, curriculare und schulorganisatorische Ebene betrifft“ (Wittmann 2009: 201). Außerdem hat sich die sogenannte Outputsteuerung von Schule erhöht, durch die festgelegte politische Zielvorgaben erreicht werden sollen; die Umsetzung wird mittels externer Kontrollen überprüft und vergleichend dokumentiert (vgl. ebd.). Die Qualität der Schulentwicklung wird dabei über Leistungsdaten der Schulinspektion beurteilt (vgl. ebd.: 211), was eine verstärkte Konkurrenz der Schulen untereinander mit sich bringt (vgl. Franklin/Bloch/Popkewitz 2003; Huber/Büeler 2009; Quehl 2007). Dies zeigt sich darin, dass regelmäßige Leistungsvergleiche zwischen Schulen durchgeführt werden, „die als ‚nichtintendierten Nebeneffekt‘ die Rekrutierung besonders leistungsstarker Schüler_innen und den Versuch
9In
Unterkapitel 8.2 gehe ich auf den an der Schule entstandenen Konflikt näher ein und befasse mich dort auch mit der Rolle von Wolfgang Lenk als Moderator in dem Konflikt.
7.3 „Leistungsspitzen“ und Schulvergleichsstudien
275
der Reduktion des Anteils leistungsschwacher Schüler_innen zur Folge haben können“ (Karakayalı/zur Nieden 2013: 72; vgl. Bellmann/Weiß 2009: 295 ff.). Insbesondere „in den sozial und ethnisch gemischten Innenstädten [findet] ein Wettbewerb um die Schüler statt, mit denen aus der Sicht der Schulen am ehesten erfolgreich gearbeitet werden kann“ (Radtke 2007: 209).10 Ein Ausdruck der zunehmenden Konkurrenz zwischen Schulen und zugleich auch ein Katalysator stellt das „Qualitätspaket“ des Berliner Senats aus dem Jahr 2011 dar (vgl. Senatsverwaltung 2011). Festgelegt ist darin, dass schulbezogene Statistiken und Leistungsdaten wie der Abiturdurchschnitt und die Schulinspektionsberichte (vgl. ebd., Absatz 9, Veröffentlichung von Leistungsdaten) – zusätzlich zu dem seit dem Jahr 2005 zugänglichen „ndH“-Anteil (vgl. Vieth-Entus 2005) – in den auf der Senatshomepage zugänglichen Schulprofilen (vgl. Senatsverwaltung o. J.c) veröffentlicht werden sollen. Da sich die Qualität von Schulen somit zunehmend über Effizienz und Schulerfolgskriterien definiert, versuchen Schulen dem Konkurrenzdruck zu begegnen, indem sie Einfluss auf die Aufnahme oder Ablehnung von Schüler*innen, bzw. die Zuweisung zu besonderen Spezialklassen vornehmen. Verschiedene diesbezügliche Praktiken wie Gruppenanmeldungen, Deutsch-Garantie-Klassen oder Montessori-Zweige, so lässt sich daran anschließend feststellen, werden gerade deswegen von vielen Institutionen geschätzt und gefördert, da diese die angesprochene Klientel als leistungsstärker antizipieren und daher nach Möglichkeit an sich binden wollen.
7.3 „Leistungsspitzen“ und Schulvergleichsstudien Nicht nur eine Trennung in tendenziell ‚leistungsstarke‘ und parallel dazu ‚leistungsschwächere‘ Schulklassen kann für Schulen erfolgversprechend erscheinen, sondern auch die Verteilung der ‚leistungsstarken‘ Schüler*innen auf die einzelnen Klassenzüge. Die Vorteile, die dies Grundschulen bringe, betonte die Mutter Johanna Greif. In den Jahren nach der ersten Gruppenanmeldung, zu der Johanna Greif gehört hatte, achtete die Schule ihrer Tochter bewusst darauf,
10Frank-Olaf
Radtke (2007)(2007) unterstellt der Institution Schule hierbei allerdings, nicht nur ,rational‘ zu handeln, wenn sie für die Eltern von leistungsstarken Schüler*innen attraktiv werden will, sondern auch, „wenn sie in einer Art p ädagogisch-professionellem Heroismus alle Probleme auf sich und ihre voll ausgebaute Abteilung für Sozialarbeit zieht“ (ebd.: 210).
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7 ‚Klasseneinteilungen nach Herkunft‘ als institutionelle …
dass alle Kinder aus Gruppenanmeldungen auf alle Parallelklassen verteilt wurden. Die Begründung der Schulleiterin und der Lehrkräfte kolportierte die Mutter Johanna Greif folgendermaßen: Die würden das jetzt nicht wieder so machen, dass sie wieder so eine große Gruppe zusammen nehmen. Gar nicht, weil sie mit uns jetzt schlechte Erfahrungen gemacht haben, überhaupt nicht. Aber im Grunde so ein bisschen auch// und die Schule will ja auch was davon haben, um den Effekt so ein bisschen zu verteilen, würden sie das vielleicht jetzt mehr aufteilen. Dann würden sie nicht neun Kinder in eine Klasse, sondern würden das fünf und vier aufteilen. (Interview 5-2013)
Antrieb dafür, keine zahlenmäßig großen Gruppenanmeldungen zusammen in einer Klasse einzuschulen, stellte hier offensichtlich das Interesse von Schulen an ‚leistungsstarken‘ Kindern dar. Diese nach Möglichkeit auf alle Klassen zu verteilen, kann – wie Johanna Greif es ausdrückte – „den Effekt so ein bisschen […] verteilen“. Auch die Direktorin der Neuköllner Tulpen-Grundschule, Maria Krüger, sprach besonders den Nutzen an, den eine Verteilung ‚leistungsstarker‘ Schüler*innen für ihre Schule biete. Aus ihrer Sicht verschöben sich mit der Verankerung von Gruppenanmeldungen die „Leistungsspitzen“ nach oben: Na klar, haben wir dann schon ein paar mehr Spitzenkinder, an der Leistungsspitze, die ändert sich, die Leistungsspitze ändert sich. Wobei natürlich och nicht alle bildungsnahen Kinder Intelligenzbestien sind, um’s mal so zu sagen, die sind gut gefördert, klar, und haben mehr Umweltwissen und solche Sachen. (Interview 1-2015)
Mit solchen „Spitzenkindern“ können Grundschulen ihre Chancen erhöhen, bei Schulleistungstests wie den verpflichtenden Vergleichsarbeiten im dritten Schuljahr (VERA) besser abzuschneiden. Die Ergebnisse des VERA-Tests sollen mit dem 2011 beschlossenen Qualitätspaket des Berliner Senats (s.o.) perspektivisch in den jeweiligen Schulprofilen veröffentlicht werden. Auch wenn es bislang keine Studien oder empirischen Befunde dazu gibt, welche Rolle und Bedeutung die Ergebnisse dieser Leistungstests auf Schulwahlentscheidungen haben, so vermute ich, dass das Abschneiden bei den Schulleistungstests in Zukunft verstärkt – und ergänzend zum „ndH“-Anteil – von an Schulwahl interessierten Eltern als ein Marker für die Schulqualität gelesen werden könnte. Allerdings besteht für problematisierte Grundschulen eine doppelte Handlungsaufforderung: Sie müssen abwägen zwischen besseren Leistungsdaten, die gegebenenfalls wiederum mehr ‚leistungsstarke‘ Kinder an die Schule holen, und der finanziellen Gefährdung bestehender Projekte an den Schulen, wenn Förder-
7.3 „Leistungsspitzen“ und Schulvergleichsstudien
277
mittel ausbleiben. Maria Krüger befürchtete aus diesem Grund, bereits zugesagte Fördermittel aus dem sechsjährigen „Bonusprogramm für Schulen in schwieriger Lage“ (Senatsverwaltung o. J.d) mit einer vorläufigen Laufzeit von 2014–2020 könnten der Schule unter Umständen wieder gestrichen werden: Wir müssen aufpassen, dass nicht so viele Eltern kommen, die nicht lernmittelbefreit sind, weil dann kriegen wir die Hunderttausend nicht mehr. Also wir müssen über fünfundsiebzig Prozent der Eltern bleiben, die lernmittelbefreit sind, damit wir die weiterhin kriegen. (Interview 1-2015)
Das Bonusprogramm wurde auf Betreiben des SPD-Fraktionsvorsitzenden Raed Saleh im Jahr 2014 berlinweit eingeführt. Der Berliner Senat stellt 18 Millionen Euro jährlich bereit, um über 200 Schulen in sozial benachteiligten Lagen finanziell zu entlasten (vgl. Kiefer 2014; Senatsverwaltung o. J.d). Liegt der Anteil der Schüler*innen, deren Eltern von der Zuzahlung zu Lernmitteln befreit sind, an einer Schule bei mehr als 50 Prozent, kann diese bis zu 100.000€ beantragen, um hierüber Projekte und Kooperationen im Sozialraum sowie die dafür notwendigen – über sogenannten Personalkostenbudgets (PKB) finanzierte – befristeten Stellen zu beantragen. Der „ndH“-Anteil der Schüler*innen ist dabei nicht entscheidend, explizites Ziel ist es laut der Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD), den Bildungserfolg der Schüler*innen „von der sozialen Herkunft zu entkoppeln“ (vgl. Köhler 2015). Auch der Staatssekretär in der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie11, Mark Rackles (SPD) bestätigte dieses Ansinnen: Ihm zufolge sei die sogenannte Lernmittelbefreiung wesentlich aussagekräftiger als die Markierung „nichtdeutsche Herkunftssprache“, um auf „soziale Problemlagen“ in Schule und Elternhaus schließen zu können.12 Eine Lernmittelbefreiung muss jedoch nicht zwangsläufig mit (langfristigen) „sozialen Problemlagen“ korrelieren – so können auch die Kinder von Studierenden oder (zeitweise) prekär beschäftigten Akademiker*innen lernmittelbefreit sein. Ein einseitiger Fokus allein auf die Lernmittelbefreiung kann daher aus meiner Sicht intersektional verschränkten Macht- und Differenzverhältnissen nur schwer gerecht werden.
11Bis
2016: Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft. Aussage traf Mark Rackles bei einer von der „AG Migration und Vielfalt in der SPD Berlin“ organisierten Veranstaltung zum Bonusprogramm, das am 21.05.2013 unter dem Titel „€100.000./Brennpunktschule – Makulatur oder nachhaltige Bildungspolitik?!“ in den Räumen der GEW Berlin stattfand.
12Diese
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Ungefähr zur selben Zeit – im Jahr 2013 – startete das von der obert-Bosch-Stiftung in Kooperation mit der Senatsverwaltung für Bildung, R Jugend und Familie getragene Pilotprojekt „School Turnaround“ mit einer Laufzeit von vier Jahren. Das Projekt möchte „[k]onkrete Hilfen für Schulen in schwieriger Lage“ (vgl. Robert-Bosch-Stiftung 2013) anbieten; die Förderauswahl der insgesamt zehn unterstützten Schulen orientiert sich dabei an folgenden Kriterien: „geringe Anmeldezahlen, geringe Lernbereitschaft und hohe Fehlquoten der Schülerinnen und Schüler, hohe Schulabbruchquote, schwache Leistungsergebnisse und Schulabschlüsse und hoher Unterrichtsausfall.“ (ebd.). Somit besteht kein Bezug auf Sprache, ‚Herkunft‘ oder Schichtzugehörigkeit, sondern auf konkrete Problemlagen an Schulen. Jedoch stellt sich beim Blick auf die Projekthomepage schnell heraus, dass die Förderung im Wesentlichen im „Einsatz von professionellen Schulcoaches, die als Spezialisten für Veränderungsprozesse die Schulen kontinuierlich begleiten“ besteht sowie in „gezielte[n] Fortbildungen zur Verbesserung der Unterrichtsqualität sowie [in] ein[em] zusätzliche[n] maßnahmengebundene[n] Budget“ (ebd.). An der zumeist schlechten personellen Ausstattung ändert sich damit wiederum vermutlich nur wenig an den betreffenden Schulen. Bei beiden Projekten zeigt sich ein neuer programmatischer Fokus, über den Bildungsungleichheiten und (schulische) Segregationstendenzen erklärt werden: Statt Sprache und/oder ‚Kultur‘ stellt dies nunmehr verstärkt die sozioökonomische Benachteiligung des Elternhauses dar. Auf der Ebene von Politik und Verwaltung hat also – zumindest auf den ersten Blick – das Argumentationsmuster ausgedient, (Bildungs-)Defizite in besonderem Maße „nachrangige Sprachen“ (Mecheril/Quehl 2006b: 366) bzw. Andere Sprachen sprechenden Kindern zuzuschreiben. Durch die sich hier zeigende Dethematisierung von Rassismus wird aber zugleich auch verstärkt unsichtbar (gemacht), dass rassistische und klassenspezifische Diskriminierung häufig eng zusammenwirken. Denn von Rassismus (potenziell) betroffene Kinder sind überproportional häufig auch durch eine Benachteiligung aufgrund ihrer Klassenposition gekennzeichnet. Mit der potenziellen Dethematisierung von Rassismus in beiden Programmen kann darüber hinaus die Verantwortung für ‚mangelnden Bildungserfolg‘ individualisiert werden. Potenziell diskriminierende und besondernde institutionelle Praktiken wie Gruppenanmeldungen oder D eutsch-Garantie-Klassen werden in gewisser Weise legitimiert: Diskriminierend erscheint allein die Zusammensetzung der Schulklassen; die institutionellen Praktiken und Mechanismen, die zu einer Diskriminierung durch Besonderung in Spezialklassen führen, erweisen sich dabei als eine zentrale diskursive Leerstelle.
7.4 ‚Klasseneinteilungen nach Herkunft‘ vermeiden
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7.4 ‚Klasseneinteilungen nach Herkunft‘ vermeiden Gerade in einer Zeit, wo man die Hauptschulen abschafft, fangen wir an, Hauptschulkassen zu bilden. (Interview 6-2014)
In Unterkapitel 7.3 habe ich aufgezeigt, aus welchen Motiven die Direktorin der Neuköllner Tulpen-Grundschule, Maria Krüger, die „Spitzenkinder“ aus den Gruppenanmeldungen auf einzelne Klassenzüge verteilte. In allen Klassen ,leistungsstarke‘ Zugpferde zu verankern, war allerdings nicht alleiniges Motiv für die Verteilung der Schüler*innen. Vielmehr verwoben sich bei ihr sehr unterschiedliche Begründungen und Zielsetzungen. Sie lehnte – ebenso wie eine weitere Schulleiterin, Catharina Reinhardt, um die es weiter unten geht, – die Schaffung vermeintlich ‚leistungsstarker Klassen‘ und parallel dazu von ‚Problemklassen‘ – auch explizit aus diskriminierungskritischen Motiven heraus – ab.13 Als an der Tulpen-Grundschule eine neu gegründete Initiative zur Gruppenanmeldung herantrat, begrüßte Maria Krüger dies zwar grundsätzlich, setzte dabei aber zugleich den Forderungen der Initiative bewusst Grenzen. Die Elterninitiative habe geäußert, sich an der Schule einbringen und hier gerne für Veränderung sorgen [zu wollen, Anmerkung I.D.], so dass mehr bildungsnahe Kinder hierbleiben, hier angemeldet werden und auch hierbleiben. Naja, und das fand ich ein gutes Angebot und hab dann gesagt: „Klar, können wir gerne machen, aber ich sage ihnen schon mal: Wir brauchen hier nicht Eltern, die viel verändern. Unsere Schule ist eine gute Schule, wir haben sehr engagierte Lehrerinnen und Lehrer.“ (Interview 1-2015)
Durch die Initiative angestoßene oder neu festgelegte Vereinbarungen zwischen Schule und Elterninitiative habe es aus diesem Grund nicht gegeben, wie der folgende Interviewausschnitt verdeutlicht: i: Als diese Initiative dann an die Schule kam, gab es denn dann Vereinbarungen oder// b: Keine neuen Vereinbarungen//
13Die
beiden Schulleitungen stehen mit ihrer diskriminierungskritischen Praxis nicht allein, jedoch lassen sich eine Vielzahl weiterer institutioneller Handlungs- und Begründungsweisen erwarten. Da jedoch einige Schulleitungen ein Interview mit mir ablehnten oder erst gar nicht auf meine Anfragen reagierten, konnte ich keine weiteren diesbezüglichen Begründungen erfassen.
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i: Oder Wünsche, die die Eltern hatten? b: Nein, keine neuen Vereinbarungen, wir hatten// Natürlich hatten die Wünsche, na klar, das sind natürlich Eltern, die sehr bewusst herkommen und sagen: „Ich möchte das und das und das! Machen Sie das!“ Und wir haben auch sehr bewusst gesagt und ich auch: „Wir ändern an unseren Regeln nichts!“ (Interview 1-2015)
An der Tulpen-Grundschule gebe es daher bis heute die Regel, dass maximal zwei oder drei Kinder zusammen in einer Klasse eingeschult werden könnten und auch der Wunsch nach einer bestimmten Lehrkraft nach Möglichkeit realisiert werde. Maria Krüger stellte allerdings besonders heraus, dass diese Regel nichts Neues darstelle: „Das hatten wir immer. Auch bei Kindern nichtdeutscher Herkunftssprache oder bei allen anderen, die wir vorher hatten.“ (Interview 1-2015). Den Eltern aus den Gruppenanmeldungen keine Sonderrechte zu gewähren, sei ihr gerade deswegen so wichtig, da sie keine ‚Klasseneinteilungen nach Herkunft‘ befördern wolle: Und wir werden mit Sicherheit keine Klassen einrichten, das ist ganz expliziter Wunsch dieses Kollegiums, das ist die Leitlinie unseres Schulprogramms: Wir leben und wollen leben Multikulti und wir werden keine Klassen einrichten für Deutsch sprechende Kinder, wobei die ja alle Deutsch sprechen, davon mal ganz abgesehen. (Interview 1-2015)
Möglicherweise bezog sich Maria Krüger auf eine vor einigen Jahren sehr prominent gewordene Kreuzberger Grundschule, an der ‚Klasseneinteilungen nach Herkunft‘ realisiert worden waren, und grenzte die Verteilungspraxis der Kinder an der Tulpen-Grundschule von der dortigen ab. Die klare Positionierung der Schulleiterin gegen ‚Klasseneinteilungen nach Herkunft‘ machte es in jedem Fall unwahrscheinlich, dass sich eine solche (nicht intendiert) doch vollzog. Auch an der Albrecht-Grundschule in Berlin-Mitte bewogen die dortige Schulleiterin Catharina Reinhardt diskriminierungskritische Überlegungen dazu, einen Montessori-Zweig an ihrer Schule aufzulösen und das pädagogische Konzept auf alle Schulklassen auszuweiten. Der Montessori-Zweig war Anfang der 2000er Jahre eingerichtet worden, nachdem eine andere Schule im Bezirk schließen musste und das Konzept ebenso wie einige in Montessori-Pädagogik geschulte Lehrkräfte an die Albrecht-Grundschule wechselten. An der Schule liegen sowohl der „ndH“- als auch der „LmBf“-Anteil seit Jahren konstant bei ca. 55 Prozent; die Schule ist begehrt bei vielen eher wohlhabenden und akademisch geprägten Eltern aus Alt-Moabit. Da die Schule gerade bei Letzteren einen guten
7.4 ‚Klasseneinteilungen nach Herkunft‘ vermeiden
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Ruf genoss, lief das neue Montessori-Konzept zunächst ins Leere. Erst als die Schule gezielt Eltern von angehenden Erstklässler*innen anrief und das neue Angebot bewarb, sprach es sich allmählich unter dieser Elternklientel herum, welche Vorteile es brachte, das eigene Kind in einem Montessori-Klassenzug einzuschulen: Diesen Klassenzug besuchten „ganz liebe Kinder“ (Interview 6-2014), für die freies und selbstständiges Arbeiten kein Problem darstelle. In den Anmeldeformularen mussten Eltern dabei ankreuzen, ob ihr Kind in dem Montessori-Zweig unterrichtet werden sollte. Taten sie dies nicht, wurde das Kind automatisch einem anderen Klassenzug zugeordnet. Catharina Reinhardt zufolge fragten nicht allein weiß positionierte Eltern den Montessori-Zug nach, sondern „auch Migranten mit deutschem Pass“ (Interview 6-2014). Jedoch habe es an der Schule parallel zu diesen tendenziell ‚bildungsprivilegierten‘ Eltern „eben auch eine ganze Klientel von Eltern [gegeben], die das nicht durchblickt haben oder denen das egal war“ (Interview 6-2014). Diese Eltern erreichte die Information erst gar nicht, dass sie sich zwischen zwei Optionen an der Schule entscheiden konnten: Die haben’s dann nicht mitgekriegt, dass sie eine Wahl hätten auf eine bessere Zusammensetzung, die blieben dann übrig. Deswegen haben wir auch manchmal gesagt: „Naja, sind wie Resteklassen.“ Also die [einen Eltern, Anmerkung I.D.] suchen sich was Besonderes aus und der Rest bleibt dann zusammen. (Interview 6-2014)
Catharina Reinhardt war daher überzeugt, die Trennung in Regel- sowie Montessori-Klassen habe dazu geführt, „Resteklassen“ zu separieren: „Gerade in einer Zeit, wo man die Hauptschulen abschafft, haben wir angefangen, Hauptschulklassen zu bilden.“ (Interview 6-2014). In diesen Klassen dominierten „Kinder, die eben sich nicht alleine Material nehmen und nicht gelernt haben, sich mal auch zehn Minuten zu beschäftigen. Die muss man natürlich intensiver betreuen.“ (Interview 6-2014). Hier galten strengere Regeln und klare Strukturen, wie bspw. wöchentliche Lesekontrollen. Mit dieser strengeren Struktur begann die Schule nach einigen Jahren wiederum in – laut Catharina Reinhardt v. a. von „Migranten“ besuchten – Kitas für die Regelklassen zu werben. Gerade Eltern, die eine intensivere Leistungskontrolle und eine Notenvergabe wünschten, hätten sich daher meist für die Regelklassen entschieden. Auch wenn die Regelklassen also im Interesse mancher Eltern waren, so bleibt letztlich offen, wie frei die Wahl für diese Eltern war. Lotste vielleicht die Schule, die die beiden Elternklientele auf unterschiedlichen Wegen ansprach, diese bewusst in eines der beiden Angebote? Dann hätte die Schule den
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nterschied zwischen Montessoripädagogik befürwortenden und damit vermeintU lich ‚bildungsnäheren‘ Eltern versus eine starke Hand fordernden und zugleich ‚bildungsferneren‘ Eltern erst mit hervorgebracht. Die einzelnen Klassenzüge wurden damals räumlich getrennt in unterschiedlichen Gebäuden eingerichtet, wie Catharina Reinhardt rückblickend kritisierte: Die waren ja auch noch räumlich getrennt. Das heißt also// logisch, da kommen zwei Klassen, die legt man natürlich gegenüber, damit man Material austauscht, dann kommt die dritte Klasse, die legt man daneben. So ist das gewachsen, das ist ja nicht mal böse gemeint. (Interview 6-2014)
Catharina Reinhardt erklärte die räumliche Trennung mit schulorganisatorischen Notwendigkeiten. Auch wenn dahinter keine böse Absicht gestanden habe, so Catharina Reinhardt, entstanden doch hierüber zwei unterschiedliche Angebote und in gewisser Weise zwei Schulformen in einer Schule. Inwieweit eine Trennung in Montessori-Züge und Regelklassen überhaupt sinnvoll oder notwendig sei, darüber waren sich die Lehrkräfte an der Albrecht-Grundschule uneins. Catharina Reinhardt meinte dazu: „Innerhalb des Kollegiums hatten wir eine totale Spaltung“ (Interview 6-2014). Sie selbst wollte die Trennung auflösen, da sich der Unterricht in den Regel- und Montessorizügen in der Schulanfangsphase nicht einmal wesentlich unterschieden habe: Gerade in Eins-Zwei, die haben ja auch ganz viel durch die Altersmischung, da ist so viel Öffnung des Unterrichts, Individualisierung, eigenes Lerntempo. Und wenn ein Kind nicht bis zehn kann, dann muss das auch nicht bis zwanzig rechnen, sondern dann bleibt’s solange bei zehn. Also dieses Anpassen an die Schritte, das haben die alle gemacht und es war eigentlich nicht klar, wo genau der Unterschied ist. (Interview 6-2014)
Das freie Lernen, das das Montessori-Konzept kennzeichnet, hätte sich dagegen in einigen Klassen des Montessori-Zugs nicht wiedergefunden: „Wenn ich in der Klasse hospitieren komme und die Kollegin sagt: ‚So, jetzt holt mal eure Freiarbeitssachen raus‘ und alle Kinder holen die Deutschsachen raus, da finde ich Montessori nicht wieder.“ (Interview 6-2014). Montessori sei somit für einige Lehrkräfte nur mehr ein „Etikett“ (Interview 6-2014) gewesen und ein Garant dafür, ‚bildungsnahe‘ Kinder in der eigenen Klasse unterrichten zu können. Aus diesem Grund entschloss sich Catharina Reinhardt letztlich, die Trennung in Regelunterricht und Montessori-Konzept aufzulösen und in allen Schulklassen am Montessori-Ansatz orientiert zu unterrichten.
7.4 ‚Klasseneinteilungen nach Herkunft‘ vermeiden
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Während bei einigen Eltern aus den Montessori-Zweigen an der lbrecht-Grundschule die Ausweitung des pädagogischen Konzepts auf große A Zustimmung stieß, fühlten sich andere durch diese Entscheidung verunsichert. Sie gingen gegen die angebliche „Verwässerung“ des Montessori-Konzepts vor, indem sie u.a. mehrere Beschwerdebriefe an die Senatsbildungsverwaltung verfassten. In einem dieser Schreiben, das mir Catharina Reinhardt zeigte, heißt es recht frostig: Bitte entnehmen Sie der beiliegenden Resolution, dass wir nicht ohne Widerstand eine Abkehr von oder Verwässerung der bestehenden, unseres Erachtens sehr guten Unterrichtskonzeption in der Klasse hinnehmen werden. […] Wir finden, die Schulaufsicht sollte rechtzeitig die sichtbaren Signale zu lesen wissen, klug und umsichtig, vor allem aber Bildungsperlen erhaltend reagieren. (o. V. 2014)
Die Eltern argumentierten ausschließlich mit einer befürchteten „Verwässerung“ der „Unterrichtskonzeption“. Allerdings vermutete Catharina Reinhardt, dass es daneben auch um die Zusammensetzung der Schulklassen ging. Sie drückte dies folgendermaßen aus: „Die guckten dann schon an den Geburtstagskalender und dann stand da Ali und Ahmet. Aber sie haben das natürlich nicht offen gesagt.“ (Interview 6-2014). Mit den Namen „Ali und Ahmet“ chiffrierte Catharina Reinhardt die Rede von als möglicherweise als ‚bildungsfern‘ markierten Kinder insbesondere aus der türkischen Community, denen die Eltern aus den bisherigen Montessori-Zweigen offenbar mit Vorbehalten begegneten.14 Dagegen lagen für Catharina Reinhardt die Vorteile einer Ausweitung des reformpädagogischen Montessori-Konzepts auf alle Klassenzüge auf der Hand: Nun verteilten sich die „Problemfälle“, oder wie sie sich zugleich berichtigte, die „Kinder, die mehr Zuneigung bedürfen, […] die intensivere Betreuung brauchen“ (Interview 6-2014) auf alle Klassen. Während sich zuvor sechs oder sieben dieser Kinder in einer Regelklasse konzentrierten, dort die Lehrkräfte intensiv mit Eltern, Sonderpädagog*innen und Ergotherapeut*innen zusammengearbeitet
14Der
Einsatz von Catharina Reinhardt und einigen ihrer Kolleg*innen sowie einem Teil der Elternschaft für die Ausweitung des Konzepts auf die gesamte Schule mündete schließlich nach langwierigen Diskussionen in einem „Minimal-Standard“ für alle Schulklassen. Dieser basiert laut Internet-Präsenz der Schule auf vier Bausteinen, zu denen u.a. eine Projekt- und Handlungsorientierung gehört. Inwieweit sich die Schule nach der Verteilung der „Problemfälle“ bei gleichzeitiger Ausweitung des Montessori-Konzepts auf alle Klassen mit ihrem neuen Profil unter den verstärkten zwischenschulischen Wettbewerbsbedingungen behaupten kann, bleibt abzuwarten.
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7 ‚Klasseneinteilungen nach Herkunft‘ als institutionelle …
hätten und häufig an ihre psychischen und physischen Grenzen gestoßen seien, verteilten sich diese Kinder nun auf alle Klassenzüge. Dadurch glichen sich die Bedingungen für die pädagogische Arbeit aller Kolleg*innen an und die Arbeitsbelastung könne gerechter verteilt werden. Auch hier zeigt sich, wie sich verschiedene Begründungs- und Argumentationsmuster miteinander verbinden. Bei Catharina Reinhardt an der Albrecht-Grundschule stand das Ziel, diskriminierende Verhältnisse abzubauen, neben dem Bestreben, die „Problemfälle“ auf alle Klassen zu verteilen und die „schlechteren Bedingungen“ in den Regelklassen zu beenden. An der Tulpen-Grundschule waren es ebenfalls nicht allein diskriminierungskritische Motive, die Maria Krüger dazu bewogen, die tendenziell leistungsstarken Kinder aus den Gruppenanmeldungen auf alle Klassen aufzuteilen. An diesen beiden Beispielen zeigt sich, dass bestehende Diskriminierungsroutinen auch zum Teil als Nebeneffekt des übergeordneten Ziels, die pädagogische Arbeit zu erleichtern, abgebaut werden können. In diesem Sinne plädieren Mechtild Gomolla und Frank-Olaf Radtke dafür, nicht (allein) auf die Sensibilisierung von Lehrkräften und Schulleitungen hinsichtlich Diskriminierung zu setzen, denn der Strategie, „zur Vermeidung von Diskriminierung beim Bewußtsein ihrer Lehrerinnen durch Aus- und Fortbildung anzusetzen“ (Gomolla/Radtke 2009: 292) seien Grenzen gesetzt. Werde alleine auf diese Maßnahmen vertraut, so würden aus Sicht beider Autor*innen „die Kräfteverhältnisse in der Rationalität und Eigenlogik der Entscheidungspraxis“ (ebd.) übersehen. Die beiden Autor*innen haben vor diesem Hintergrund das Konzept der institutionellen Eigenlogik entwickelt: Geht man […] von der Priorität der Eigenlogik der Organisation aus und versteht deren erstes operatives Ziel als Bestandserhalt durch Anpassung […], wird der kontextbezogene Gebrauch institutionellen Wissens nachvollziehbar. Dann ist aber auch nicht mehr das Wissen das Problem, sondern eine exakte Beschreibung der Probleme der Organisation und ihrer Strategien der Problemlösung, in denen das institutionelle oder habitualisierte Wissen pragmatisch genutzt wird. (ebd.)
Sehr unterschiedliche, teilweise auch sich widersprechende Strategien können also gegebenenfalls einem „Bestandserhalt durch Anpassung an die jeweiligen Umweltbedingungen“ dienen. Gomolla und Radtke zufolge sei es daher wichtiger, „nach anderen Interventionspunkten [zu] suchen und dazu die Organisationen und ihre Entscheidungspraxis selbst in den Blick [zu] nehmen“ (ebd.). Interventionsmöglichkeiten ergeben sich demnach darüber,
7.4 ‚Klasseneinteilungen nach Herkunft‘ vermeiden
285
die Wahrnehmung der beteiligten Entscheider auf die Ergebnisse und Folgen ihrer Praxis zu lenken. Es kommt darauf an, daß man lernt, die eigene Praxis unter dem Gesichtspunkt zu beobachten, wo versteckte latente Mechanismen der Diskriminierung bisher nicht wahrgenommen werden konnten. (ebd.)
Genau diese „versteckte[n] latente[n] Mechanismen der Diskriminierung“ (ebd.) bestehen häufig weiter, auch wenn Schulleitungen auf eine ‚ausgewogene‘ Verteilung von Schüler*innen auf einzelne Klassen achten. Insbesondere im Falle der weiter oben angesprochenen Gruppenanmeldungen reicht es vielfach nicht aus, nur eine begrenzte Anzahl an Kindern aus einer solchen in einer Klasse einzuschulen. Denn die potentiell diskriminierenden Effekte, die Gruppenanmeldungen nach sich ziehen können, liegen eben nicht nur in der Zusammensetzung der Schulklassen begründet, sondern gerade in diversen subtilen Mechanismen: Wen umwerben die Lehrkräfte und Schulleitungen? Wessen Bitten und Wünschen wird eher entsprochen? Welche Eltern treten inwieweit (selbst-)bewusst der Institution Schule gegenüber und stellen eigene Forderungen? Auf solche „versteckte[n] latente[n] Mechanismen der Diskriminierung“ (ebd.) hinzuweisen und darüber zu deren Abbau und Vermeidung beizutragen, ist nicht zuletzt auch ein Ziel der vorliegenden Arbeit. Wichtig wäre daher im Sinne von Mechtild Gomolla und Frank-Olaf Radtke, das Augenmerk auf die Kontextbedingungen zu legen, unter denen Schulen arbeiten (vgl. ebd.). Demnach könnten Bildungsinstitutionen nur dann wirklich inklusiv (in einem weiten Verständnis) werden, wenn die gesellschaftlichen Bedingungen und Strukturen dies zuließen. Solange dies jedoch nicht der Fall ist, sind es weiterhin Kämpfe um Teilhabe und gleiche Bildungschancen, oder anders ausgedrückt: die acts of citizenship (Isin 2008; Isin/Nielsen 2008), die institutionelle Diskriminierungsroutinen beständig herausfordern. Diesen Kämpfen um Teilhabe und Anerkennung spüre ich im nun folgenden Kapitel in Bezug auf einen Konflikt um schulische Elternbeteiligung sowie auf den Protest gegen eine nach ‚Herkunft getrennte Klasse‘ nach.
8
Kämpfe um Anerkennung und Teilhabe
Während ich mich bislang mit dem Übergang von der Kita zur Grundschule und damit verbundenen Diskriminierungsroutinen befasst habe, steht in diesem Kapitel die Frage im Fokus, welche möglichen Konfliktlinien an Schulen aufbrechen können, wenn dort Gruppenanmeldungen etabliert werden. Vielfach verläuft deren Verankerung unspektakulär; in anderen Fällen trifft sie auf wenig Kritik oder Widerstand. Parallel dazu fühlen sich aber auch immer wieder Eltern diskriminiert, deren Kind nicht Teil einer solchen organisierten Einschulung war. In der Vergangenheit wehrten sich an verschiedenen Schulen Eltern gegen die (empfundene) Benachteiligung ihrer Kinder und traten mal mehr, mal weniger offensiv mit ihrer Kritik an die Öffentlichkeit. Zwei Konflikte an Grundschulen in Berliner Innenstadtbezirken stelle ich im Folgenden exemplarisch dar. Auch wenn die Motive, sich an den Gruppenanmeldungen zu reiben, unterschiedlich gelagert waren, so waren hier doch jeweils Fragen der (fehlenden) Anerkennung, der Teilhabe und Diskriminierung zentral. In diesem Zusammenhang erlangten dabei vor einigen Jahren mehrere Grundschulen besondere mediale Bekanntheit, denen vorgeworfen wurde, nach ‚Herkunft segregierte Klassen‘ eingerichtet zu haben. An einer dieser Schulen wehrten sich die negativ betroffenen Eltern, indem sie ihre Wut über die bestehende Benachteiligung ihrer Kinder aktiv auf die Straße trugen und so zugleich ihre Hoffnung auf Änderung der bestehenden Verhältnisse ausdrückten. Diesen Konflikt behandele ich in Unterkapitel 8.2. Zuvor greife ich die in der Einleitung und in Kap. 1 dargestellten Aushandlungsprozesse zwischen einem schon länger existierenden Elterncafé und einer Elterninitiative zur gemeinsamen Einschulung der Kinder an der Rosen-Grundschule auf. Dabei war es um die Frage gegangen, wessen Engagement in- und außerhalb der Schulgremien für die Schule von größerem Belang sei – und nicht zuletzt auch darum, wer die Regeln © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Dean, Bildung – Heterogenität – Sprache, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30856-8_8
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8 Kämpfe um Anerkennung und Teilhabe
an der Schule bestimmt. Ich gehe zunächst auf die Prozesse von Empowerment und Selbstermächtigung ein, die Herr Berk und andere Eltern aus seinem Umfeld durch ihre schulische Beteiligung in einem selbstorganisierten Elterncafé erfuhren (8.1.1). Dann befasse ich mich mit der durch die verstärkt durch die Elterninitiative getragene Gremienarbeit an der Schule, durch die sich die beiden Elterngruppen unversehens in einem Konkurrenzverhältnis zueinander wiederfanden (8.1.2). Anschließend gehe ich darauf ein, wie die Schulleiterin der Rosen-Grundschule die unterschiedlichen Formen der elterlichen Beteiligung wertete und mit ihnen umging (8.1.3). Zuletzt analysiere ich die Aushandlungen der beiden Elterngruppen als Ausdruck ungleicher Macht- und Dominanzverhältnisse zwischen der Institution Grundschule und hinsichtlich Rassismus (und Klassenverhältnissen) deprivilegierten Eltern und deren Kindern (8.1.4).
8.1 Auseinandersetzungen um Eltern-Beteiligung an der Schule1 8.1.1 Elterliches Engagement an einer Berlin-Neuköllner Grundschule Die Rosen-Grundschule in Berlin-Neukölln, eine offene Ganztagsschule mit jahrgangsübergreifendem Lernen, gilt als ‚Problemschule‘, was sich u. a. dadurch zeigt, dass sie in einem vom Quartiersmanagement betreuten Einzugsgebiet liegt. Der Anteil von Kindern „nichtdeutscher Herkunftssprache“ liegt bei ca. 85 Prozent, fast ebenso viele Kinder sind von der Zuzahlung zu Lernmitteln befreit. Die Rosen-Grundschule hatte lange Zeit handfeste Probleme: Vor der Schule verläuft eine vielbefahrene Straße; direkt vor dem Eingangsbereich fuhren daher regelmäßig Autos mit überhöhter Geschwindigkeit an der Schule vorbei. Ein Zebrastreifen hätte hier Abhilfe schaffen und den Kindern mehr Sicherheit auf dem Schulweg garantieren können, aber trotz Bemühungen der früheren Schulleitung änderte sich fast 15 Jahre lang nichts an der Situation. Erst als vor einigen Jahren Herrn Berks Tochter an die Schule kam, begann sich auf seine Initiative hin etwas zu bewegen. Herr Berk war zum Zeitpunkt
1Vorüberlegungen
zu diesem Unterkapitel habe ich auf der Tagung „Reproduzierendes, widerständiges und solidarisches Handeln in widersprüchlichen Verhältnissen“ an der PH Freiburg (22. bis 24. Januar 2015) vorgestellt. Eine gekürzte Version des Unterkapitels ist zu finden in (Dean im Erscheinen b).
8.1 Auseinandersetzungen um Eltern-Beteiligung an der Schule
289
meiner Forschung Elternsprecher der Jahrgangsstufe seiner Tochter und Mitglied eines offenen Elterncafés an der Schule. Die Gesamtelternversammlung2, so berichtete er, habe früher nur wenig zu sagen gehabt; die Sitzungen seien allesamt von der damaligen Schulleitung einberufen worden, die auch die zu besprechenden Themen bestimmte. Die Eigeninitiative von Eltern war also unüblich. Als Elternsprecher der Jahrgangsstufe seiner Tochter habe Herr Berk allerdings in der Gesamtelternversammlung den fehlenden Zebrastreifen immer wieder thematisiert. Außerdem habe er die Aufgaben der Gesamtelternsprecherin einfach mit übernommen, ohne selbst gewählt zu sein. Über die frühere Gesamtelternsprecherin sagte er: „Eine Deutsche war das. Aber die Dame hat das einfach nicht so ernst genommen, in diesem Sinne. Und ich fand das ein bisschen blöd. Und die Schule hat das irgendwie auch akzeptiert gehabt.“ (Interview 4-2014). Ein Jahr nachdem seine Tochter eingeschult worden war, wurde Herr Berk zum neuen Gesamtelternsprecher gewählt, initiierte eine Unterschriftenaktion, legte die über 600 Unterschriften dem zuständigen Vertreter des Schulamts vor und machte dort solange Druck, bis der Zebrastreifen durch den Bezirk eingerichtet wurde. Rückblickend stellte er im Interview fest: „Und das ist natürlich, war wieder eine Motivation für die Eltern, die haben gesehen: ‚Aha, also, wenn wir uns dann zusammentun, dann schaffen wir doch was, dann kriegen wir auch etwas.‘“ (Interview 4-2014). Das nächste Projekt von Herrn Berk und einigen anderen Eltern sei die Reparatur eines baufälligen Zauns zum angrenzenden Park gewesen. Da von dort immer wieder Dealer auf das Schulgelände kletterten und ihre Drogen vor der Polizei versteckten, hätten einige Eltern in Zusammenarbeit mit der Schule erwirkt, dass der Zaun repariert wurde. Auch das habe Herrn Berk zufolge einigen der bislang eher wenig in der Schule engagierten Eltern gezeigt, dass sie etwas zum Positiven an ihrer Schule verändern könnten. Die wöchentlichen Treffen der Gesamtelternversammlung hätten daher vielen dieser Eltern irgendwann nicht mehr ausgereicht. Sie hätten daher mit der Schulleitung vereinbart, ein durch Eltern selbstorganisiertes Elterncafé in einem eigenen Raum einzurichten.
2Zu
den Gremienstrukturen der Elternbeteiligung an Berliner Schulen siehe den „Abschnitt V: Mitwirkung der Erziehungsberechtigten in der Schule“ des Berliner Schulgesetzes (vgl. Senatsverwaltung 2004). Die Rechte und Pflichten der jeweiligen Gesamtelternsprecher regelt hierbei der § 90.
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8 Kämpfe um Anerkennung und Teilhabe
Seither trifft sich hier, Herrn Berk zufolge, ein fester Kreis von Eltern während der Schulzeit an fünf Tagen in der Woche. Sie organisierten Seminare, bspw. zu Kommunikation und Rhetorik, zu Mediengestaltung oder Erster Hilfe. Und sie hätten Initiativen eingeladen, die über diverse Themen sprächen, u. a. Rechte und Pflichten von Eltern oder sexuelle Gewalt an Jungen. Zudem veranstalteten sie mehrsprachige Lesefeste für Eltern und Kinder. Frau Polat, ebenfalls Teil des Elterncafés, böte Eltern mit wenig Deutschkenntnissen Arbeits- und Sozialberatung an, helfe ihnen bei Bedarf beim Ausfüllen von Anträgen oder Formularen oder begleite sie bei Behördengängen. Von den sonst üblichen Elterncafés unterscheidet sich das hier dargestellte in gewisser Weise: Es wurde von überwiegend rassismuserfahrenen Eltern selbst ins Leben gerufen, ist also von Gremien und Sozialarbeiter*innen unabhängig und wird von Letzteren nicht betreut oder geleitet. Ungewöhnlich ist dies insofern, als üblicherweise die Schulen Elterncafés als niedrigschwellige Angebote für zumeist soziostrukturell benachteiligte und ‚migrantische‘ Eltern einrichten, die auf diesem Weg zu mehr Beteiligung innerhalb der und für die Schule angehalten werden sollen (vgl. zur diesbezüglichen Rolle von Elterncafés: Steckelberg 2009: 121–136; SVR 2014: 19, 21). Jedoch stellt sich die Adressierung dieser Eltern als schulische Akteur*innen, die nur durch niedrigschwellige Angebote zu gewinnen seien, als übaraus wirkmächtig dar. Denn schließlich haben auch die hier angesprochenen Eltern genau die Form der Elternbeteiligung – ein Café – für ihr Engagement gewählt, die ihnen diskursiv als angemessen zugeschrieben wird. Mit der schulischen Adressierung von Eltern verbundene Praktiken der ‚Elternbeteiligung‘3 haben im Laufe des letzten Jahrzehnts zunehmend an Konjunktur gewonnen; das Feld der Schule ist seither verstärkt von Maßnahmen durchdrungen, die der elterlichen ‚Aktivierung‘ dienen. Die neoliberalen Prinzipien einer individuellen Selbstverantwortung und Leistungsorientierung manifestieren sich dabei in der integrationspolitischen Prämisse eines ‚Förderns
3Mechtild
Gomolla sieht den Vorteil des Begriffs Elternbeteiligung darin, dass dieser „aktive und passive Aspekte von ‚sich beteiligen‘ und ‚beteiligt werden‘ einschließt und ein breites Spektrum von Partizipationsformen fasst: neben der Interaktion von Lehrkräften und einzelnen Eltern im unmittelbaren Schulgeschehen Formen der kollektiven Selbstorganisation und der Mitsprache in politischen Entscheidungsgremien und im Schulmanagement“ (Gomolla 2009: 22). In diesem Unterkapitel befasse ich mich dagegen mit Formen des Elternengagements, worunter ich die von Mechtild Gomolla letztgenannten Aspekte sowohl der aktiven Beteiligung über kollektive Selbstorganisation sowie der Mitsprache im Bereich der Schulgremien und des Schulmanagements verstehe (vgl. ebd.).
8.1 Auseinandersetzungen um Eltern-Beteiligung an der Schule
291
und Forderns‘ „und [setzen] ein (neo-)rassistisches MachtWissen auf ‚Eltern mit Migrationshintergrund‘ frei[ ], das wiederum mit bestimmten Praktiken und Subjektivierungsweisen im Kontext der Schule verbunden ist“ (Kollender 2016: 46). Diese Maßnahmen stehen in Verbindung zu neoliberalen Rationalitäten, die sich in der BRD seit Beginn der 1980er Jahre zunächst im Bereich der Arbeitsmarktpolitik als Workfare-Ansätze manifestierten. Hier kam Berlin „[d]urch ein Programm des CDU-Senats, das ab 1982 Sozialhilfeempfänger zur ‚gemeinnützigen zusätzlichen Arbeit‘ verpflichten sollte, […] eine Vorreiterrolle zu“ (Lanz 2007: 254). Das aktuell vorherrschende Workfare-Regime basiert auf dem aktivierenden Sozialstaat und geht zurück auf das Konzept des ‚enabling state‘ der Reagan- und ersten Bush-Administration sowie auf Tony Blair’s ‚Drittem Weg‘ zwischen Wohlfahrtsstaat und ‚schlankem Staat‘ (vgl. ebd.; Trube 2003). Die damit verbundene politische Maxime der ‚Aktivierung‘ sowie des ‚Förderns und Forderns‘ begünstigten „die regulative Diskriminierung und normative Diskreditierung der Nicht-Erwerbstätigkeit“ (Lessenich 2003: 217 f., Hervorheb. i. Orig.) und trugen zeitgleich zur Herausbildung eines „punitiven Paternalismus“ (ebd.) bei, der eine eindimensionale, autoritative Gemeinwohlpraxis vorantrieb (vgl. ebd.). Nunmehr ist diese Maxime „im Zuge der ‚einwanderungspolitischen (Jahrtausend)Wende‘ in Deutschland auch zu einem festen Bestandteil der politischen Diskussion um die ‚Integration‘ von hier lebenden Migrant_innen sowie ihrer Kinder und Enkelkinder“ (Kollender 2016: 47) geworden. Wie Ellen Kollender anhand sozial- und bildungspolitischer Beschlüsse, Empfehlungen und Handreichungen des Berliner Senats seit dem Jahr 2000 nachzeichnet, wird in diesen tendenziell ein Bild von ‚Eltern mit Migrationshintergrund‘ entworfen, in dem diese der Schule und ihren Kindern per se wenig Interesse entgegenbringen und die insgesamt uninformiert, passiv, desinteressiert und distanziert der Berliner Schule wie dem deutschen Bildungssystem gegenüberstehen. (ebd.: 49)
Indem dabei Sprachkompetenzen des Deutschen und gesellschaftliches Grundlagenwissen als Voraussetzungen für eine erfolgreiche Integration gesetzt werden, werden diesbezügliche ‚Erfolge‘ vorwiegend an die individuellen Ressourcen und Fähigkeiten der Eltern gekoppelt […], während sich strukturelle wie institutionelle Faktoren für eine schulische Partizipation von Eltern als zentrale diskursive Leerstellen herauskristallisieren. (ebd.: 50)
Auf diese Weise wird eine kulturalisierende und defizitorientierte Perspektive auf Eltern ‚mit Migrationshintergrund‘ gezeichnet, „nach der diese zunächst
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8 Kämpfe um Anerkennung und Teilhabe
angeleitet, motiviert und aktiviert werden müssen, um sich in der Schule und – vor allem – im Sinne von Schule zu beteiligen“ (ebd.).4 Beim Elterncafé an der Rosen-Grundschule mussten die dortigen Eltern nicht erst von der Schule ‚aktiviert‘ werden. Im Gegenteil: Sie forderten von sich aus von der Schule ein größeres Engagement für schulische Belange ein. Bei dem Elterncafé handelte es sich um einen selbstorganisierten Raum, den die dortigen Eltern für ihre eigenen Anliegen und Bedürfnisse nutzten und auf diese Weise ihr Selbstbewusstsein und ihr Selbstwertgefühl im Sinne von Empowerment und Selbstermächtigung an der Schule vorantrieben. Ein solche Stärkung des elterlichen Selbstbewusstseins empfanden viele der dort aktiven Eltern als notwendig, da sich für sie das Verhältnis von Schule und Eltern als entwürdigend darstellte. Herr Berk berichtete, Eltern mit geringen Sprachkenntnissen des Deutschen hätten zum Teil ihre Wut über ihre unterlegene Position unterdrücken müssen: Gerade die Leute, die mit der deutschen, der deutschen Sprache nicht so mächtig waren, die haben sich so ein bisschen, bisschen ungut, demütig gefühlt, dann auch so ein bisschen die Wut verhalten, weil da der Lehrer dann, der Lehrer da stand „Tatatatatata!“ und so weiter. (Interview 4-2014)
Zudem hätten einige der Lehrkräfte das Vorurteil gehabt, dass „‚Eltern mit Immigrationshintergrund, gerade die südländischen Eltern, die haben kein Interesse an der Schule.‘“ (Interview 4-2014). In der Auseinandersetzung mit diesen rassismus- und klassismusrelevanten Zuschreibungen und Anrufungen (vgl. Rose 2012: 102–142, 2016: 332 ff.) seitens der Schule, nutzten die Eltern ihr Café auch dafür, die Lehrkräfte und ihre Verhalten den Schüler*innen und ihnen gegenüber ein Stück weit zu kontrollieren und miteinander zu besprechen, wie sie diesen gegenüber selbstbewusster auftreten könnten. Erst nach und nach hätten die Aktivitäten des Elterncafés auch anderen Eltern an der Schule ver-
4An
die Zielsetzung des „Förderns und Forderns“ schließt neben der – im 2007 vom Berliner Bildungssenat veröffentlichten „Förderatlas“ – beschlossenen Einrichtung von Informations- und Beratungsangeboten, Sprach- und Integrationskursen und Selbsthilfegruppen in und außerhalb der Schule für Eltern und insbesondere für Frauen mit ,Migrationshintergrund‘ (vgl. Senatsverwaltung 2007: 61), „auch die seit vielen Jahren vom Berliner Senat und den Bezirksverwaltungen geförderte Maßnahme der ,Stadtteilmütter‘ und ,Kiezväter‘ an“ (Kollender 2016: 51). Ellen Kollender stellt diesbezüglich fest: „Was hier vordergründig als Empowerment der Eltern bzw. Mütter dargestellt wird, stellt sich hintergründig (auch) als subtile Form der Elternaktivierung heraus.“ (ebd., Hervorheb. i. Orig.).
8.1 Auseinandersetzungen um Eltern-Beteiligung an der Schule
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mittelt: „‚Ihr seid wer. Ihr habt die Macht!‘, also ‚Ihr habt die Kraft!‘“ (Interview 4-2014). Zunächst schien dieses Empowerment vielen der Lehrkräfte suspekt zu sein. Es brauchte einige Zeit, bis es sich „eingespielt“ hatte, „dass die Lehrer das auch akzeptiert haben. Jetzt wissen sie ja, wo sie dann da anklopfen können, wenn sie Hilfe brauchen.“ (Interview 4-2014). Mittlerweile schickten die Lehrkräfte Kinder aus dem Unterricht zum Elterncafé, damit diese mit den „Lesemüttern“ einen Text üben oder auch bei Störungen des Unterrichts eine kurze Auszeit nehmen können. Herr Berk und auch die anderen Eltern, mit denen ich sprach, begrüßten ihre Mithilfe beim Unterricht. Sie zeigten sich sehr erfreut darüber, dass die Lehrkräfte die Arbeitsentlastung durch das Elterncafé schätzten, da sie sich so zeitweise intensiver um die anderen Schüler*innen ihrer heterogenen Lerngruppe kümmern konnten. Auch die Unterstützung im Unterricht wurde zumindest gleichermaßen von den Eltern selbst ins Leben gerufen wie von Seiten der Schule. Damit besteht ebenfalls ein Unterschied zu den sonst zumeist üblichen schulischen Angeboten an Eltern, sich ins Unterrichtsgeschehen einzubringen.5 Hier sind Hospitationen oder die Mitarbeit im Unterricht zu nennen, die Schulen häufig als ‚aktivierende‘ Maßnahmen einsetzen. Erprobt wurden solche Maßnahmen der sogenannten Elternbeteiligung, die der verbesserten Kooperationen von Schule und Elternhaus dienen sollten, ab den 1980er Jahren zunächst an einzelnen Modellschulen in Deutschland. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts haben sich die Strategien zur Kooperation von Schule und Elternhaus intensiviert und ausgeweitet und werden nun unter Begriffen wie „Schulöffnung“ oder „Stadtteilschule“ gefasst (vgl. Fürstenau/Gomolla 2009: 13). Befördert wurden diese Kooperationen durch die in Politik und Schule verbreitete Idee, dass „insbesondere im sprachlich, sozial und kulturell heterogenen Schulumfeld“ (ebd.) „Kontakt, wechselseitige Verständigung und Kooperation zwischen Schule und Elternhäusern […] als Schlüssel [gelten können], um das schulische Lernen zu verbessern und allen Schülerinnen und Schülern eine sozial gerechte Bildung anzubieten“ (Gomolla 2009: 21).
5Der
SVR schlägt so in einer im Jahr 2014 veröffentlichten Studie zur schulischen Elternbeteiligung vor, dass Schulen Elterncafés als erstes „niedrigschwelliges Angebot“ für ,schulferne‘ Eltern einrichten sollen, um auf diesem Weg die „Distanz zur Schule verringern“. Gerade dort könnten dann in einem zweiten Schritt „Eltern auch gezielt angesprochen und bspw. gebeten [werden], beim Unterricht zu assistieren oder in Pausen Aktivitäten anzubieten“ (SVR 2014: 19).
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8 Kämpfe um Anerkennung und Teilhabe
An der Rosen-Grundschule nahmen sich die Eltern dagegen auch ohne das Zutun der Schule aktiv selbst ihren Raum sowohl im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinne und nutzten diesen für ihr eigenes Empowerment. Parallel dazu hätten sie begonnen, Entscheidungen und Anordnungen der Lehrkräfte auch immer wieder zu hinterfragen, wie Herr Berk berichtete. Die Mehrzahl der Eltern entwickelten ein immer größeres Selbstbewusstsein den Lehrkräften gegenüber: Die Eltern treten jetzt auch anders auf gegenüber den Lehrern. Das ist so eine Augenhöhe, mehr so eine Augennähe, die jetzt entstanden ist, dass die sich nicht mehr so als devot sich dann da verhalten, sondern da sagen: „Warum? Wieso?“ Sie fragen nach. (Interview 4-2014)
Gerade dieses Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl der Eltern änderte etwas: Indem die Eltern den Lehrkräften selbstbewusst entgegentraten und sich interessiert am Unterrichtsgeschehen und der Entlastung der Lehrkräfte zeigten, schufen sie sich einen schulischerseits anerkannten Habitus als einem verinnerlichten Set von „Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata“ (Bourdieu/Wacquant 2006: 160). Dadurch begannen die Lehrer*innen und pädagogischen Fachkräfte an der Rosen-Grundschule zunehmend, die Eltern als kompetente Ansprechpersonen zu adressieren und anzuerkennen.
8.1.2 Gremienarbeit durch Elterninitiative Ein paar Jahre nachdem die Tochter von Herr Berk eingeschult wurde, gründete sich im Einzugsgebiet der Rosen-Grundschule eine Elterninitiative und trat mit dem Wunsch nach gemeinsamer Einschulung ihrer Kinder an die Schule heran. Da die Schule mit der Initiative vereinbarte, dass maximal drei Kinder zusammen in einer Klasse eingeschult werden sollten, verteilten sich die Kinder aus der Elterninitiative auf mehrere Klassenzüge. Viele der Eltern wurden in der Folge Elternsprecher*innen in den Schulklassen des Kindes und einige von ihnen engagierten sich zudem auch in der Gesamtelternvertretung. Einer Vertreterin dieser Elterninitiative, Frau Elwert, zufolge sei die Initiative generell seitens der Schulleitung und den Lehrkräften an der Rosen-Grundschule willkommen gewesen; die Schule sei „total froh, dass jetzt halt auch mehr Eltern da sind, die sich in den Gremien einbringen und die da was bewegen“ (Interview 5-2014). Die „Initiativ-Eltern“ (Interview 5-2014) hätten sich nicht nur in den Gremienstrukturen engagiert, sondern, Frau Elwert zufolge, auch einiges darüber hinaus gemacht, bspw. den Schulhort renoviert und an der Überarbeitung des
8.1 Auseinandersetzungen um Eltern-Beteiligung an der Schule
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pädagogischen Konzepts für diesen mitgearbeitet. Frau Elwert war daher überzeugt: „Und das sind einfach Leute, die packen an und sagen: ‚Ok, unsere Kinder sind hier, natürlich setzen wir uns jetzt hier ein und binden auch mal zwei Wochenenden an’s Bein, ist doch keine Frage!‘“ (Interview 5-2014). Das von Frau Elwert wahrgenommene stark ausgeprägte Engagement der Initiativ-Eltern bezeichnete sie als eine „Lebensstilfrage“. Viele dieser Eltern hätten sich vor dem Schuleintritt ihres Kindes bereits in Kinderläden engagiert, wo sie u. a. die vielen Gestaltungsmöglichkeiten schätzten. Insgesamt handelte es sich aus der Sicht von Frau Elwert um Eltern, für die „das ja irgendwo selbstverständlich [ist], dass man zivilgesellschaftlich aktiv ist oder dass man in einer Partei ist oder, weiß ich, solche Sachen. Man macht halt irgendwas, weil man ein bisschen politisch ist“ (Interview 5-2014). Ihr zufolge gingen daher diese Eltern auch „mit einer ganz anderen Selbstverständlichkeit an so eine Mitarbeit in der Schule heran“ (Interview 5-2014). In dieser Narration klingt an, dass besonders die Eltern aus der Gruppenanmeldung bereit gewesen seien, viel Zeit und Energie für die Schule zu investieren, die anderen Eltern an der Schule dagegen weniger. Effekt- und machtvolle Missverständnisse Einige der ‚alteingesessenen‘ Eltern aus dem Elterncafé begrüßten es zunächst, dass neue, engagierte Eltern ihre Kinder an der Rosen-Grundschule anmeldeten. Ihre anfängliche Erwartung, sich mit diesen Eltern gemeinsam für die Schule ihrer Kinder einzubringen, sei allerdings bald enttäuscht worden, wie Herr Berk und Frau Polat aus dem Elterncafé enttäuscht feststellten. Kaum jemand von der – in den Gremien so aktiven – Initiative sei zum Elterncafé gekommen und habe sich dort offiziell vorgestellt. Nur einige wenige Eltern hätten zögernd den Weg in den offenen Elterntreff gefunden und vorsichtig gefragt, ob sie das Elterncafé betreten dürften, wie Frau Polat berichtete: „Wenn die schon ins Zimmer rein kommen: ‚Darf ich? Darf ich?‘. Wenn die schon so kommen! ‚Warum darfst du?‘ habe ich gesagt. ,Ist doch euer Raum. […] Du gehörst zur Schule. Du kannst reinkommen, dafür ist der Raum da!“ (Interview 4-2014). Bei diesen ersten Kontakten der beiden Elterngruppen trafen offensichtlich gegensätzliche Vorstellungen von Höflichkeit und Zurückhaltung aufeinander: Die Eltern aus dem Elterncafé fanden die Frage nach der Zugänglichkeit des Raums empörend und verletzend, da sie diesen – auch infolge ihres bis dahin gestiegenen Selbstbewusstseins an der Schule – als einen für alle Interessierten offenen Elterntreff verstanden. Die Initiativ-Eltern dagegen hatten Bedenken, sich aufzudrängen und versuchten dementsprechend durch ihr vorsichtiges Fragen zu signalisieren, dass sie niemandem den festen Raum und Treffpunkt streitig machen wollten.
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8 Kämpfe um Anerkennung und Teilhabe
Ein weiteres Missverständnis entstand bezüglich der Frage, wie neue Interessierte in die Gruppe der Alteingesessen eingebunden wurden. Die Eltern aus dem Café gingen davon aus, die Initiativ-Eltern herzlich willkommen geheißen zu haben, wie Frau Polat erzählte: „Ja, die werden bedient von uns, die kriegen Kaffee. Also, so würden Deutsche sich nicht benehmen, wenn jemand reinkommt, Kaffee hinstellen, Gebäck hinstellen. Die werden so höflich aufgenommen und im Hinterein sind die trotzdem nicht glücklich.“ Herr Berk ergänzte, einige Initiativ-Eltern hätten ihm bei der Elternversammlung im Geheimen berichtet, sie hätten ihren Aufenthalt im Elterncafé als unangenehm empfunden und sich dort fremd und unwohl gefühlt. Auch hier unterschied sich offenbar, was die Elterngruppen unter höflichem Verhalten verstanden. Während die Eltern aus dem offenen Café es als zuvorkommend empfanden, die Eltern aus der Initiative zu umsorgen, verstanden Letztere dies möglicherweise als Zeichen einer Distanz, die die Eltern aus dem Café ihnen gegenüber als bloßen Gästen auf Zeit und ohne gleichwertige Mitspracherechte aufrechterhalten wollten. Bei ihrem ersten Aufeinandertreffen fanden die Eltern also nicht ohne Weiteres zusammen. Dies hatte weitreichende Konsequenzen, denn während die Initiativ-Eltern von Beginn an in den Schulgremien überaus aktiv waren, zogen sich die Eltern des offenen Elterncafés immer stärker aus der Mitarbeit in den Gremien zurück. Bestärkt wurde ihr frustrierter Rückzug dadurch, dass bei ihnen der Eindruck entstand, wichtige Angelegenheiten würden über ihren Kopf hinweg bestimmt. Besonders die aktuellen Entscheidungen träfen die Initiativ-Eltern vorab; nicht in den Gremien, sondern bei ihren eigenen inoffiziellen Treffen in einem nahegelegenen, kurz zuvor eröffneten und familienorientierten Café. Frau Polat aus dem Elterncafé empörte sich daher: „Zehn Leute können draußen nichts verabschieden, dass sich die Schule ändert. Entweder kommen die hier rein und reden mit uns, da sind die noch stärker, ja? Dann helfen wir denen auch, aber so!“ (Interview 4-2014). Das Café, in dem sich die Initiative traf, stellte eine hinsichtlich finanzieller wie habitueller Aspekte exklusive Lokalität dar. Das von Eltern selbst initiierte und getragene Elterncafé an der Schule war dagegen für viele der dort aktiven Mütter wie Frau Polat ein offensichtlich leichter zugänglicher Ort für informelle Treffen. Aus diesem Grund nahm Frau Polat das Elterncafé an der Schule als einen, wenn nicht sogar als den einzigen, legitimen Ort wahr, an dem Eltern über schulische Belange diskutieren konnten – das Café außerhalb der Schule dagegen als eine ‚illegitime‘ Parallelstruktur und direkte Konkurrenz zum Elterncafé.
8.1 Auseinandersetzungen um Eltern-Beteiligung an der Schule
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8.1.3 Vermeintlich fehlende Selbstverständlichkeit von Engagement Schon nach kurzer Zeit entstand bei den Eltern aus dem offenen Elterncafé der Eindruck, ihr langjähriger Einsatz für die Schule werde von der Elterninitiative nicht anerkannt. Herr Berk meinte dazu: Ist ja keine Problemschule, wir sind eine gute Schule, schon seit// wirklich, gute Schule auch geworden. Auch vor Initiative waren wir schon eine gute Schule. […] Das heißt, das ist ein Verdienst der Eltern, die an der Schule sind. Das sind, die sind nicht von der Initiative. Das sind arabische, türkische, rumänische, bulgarische und Kopftuchmütter, ja? (Interview 4-2014)
Herr Berk nahm hier in ironisierender Weise Bezug auf die „Kopftuchmütter“. Diese Zuschreibung stammt aus einem Zeitungsbericht über die neu gegründete Elterninitiative.6 Laut diesem Bericht bezeichneten sich die Eltern des Cafés sowie der Initiative gegenseitig als „Kopftucheltern“ respektive „Studenteneltern“ oder „Akademikereltern“. Während Frau Elwert von der Initiative widersprach, das habe niemand von ihnen so gesagt und schon gar nicht so gemeint, fühlten sich die Vertreter*innen des Elterncafés herabgewürdigt und beleidigt. Sowohl Frau Polat, die selbst kein Kopftuch trug, als auch Frau Yaşar, die einen Hijab trug, widersprachen beide vehement: Sie würden – anders als laut Medienbericht, der Elterninitiative und einiger Lehrkräfte – mehr für die Schule tun als lediglich für Feste kochen und backen. Beide wiesen damit die ihnen gesellschaftlich zugeschriebene Position zurück, Carearbeit auszufüllen, ohne dabei als Partner*innen auf Augenhöhe aufzutreten. Im Gegensatz dazu war Frau Elwert überzeugt: Ich glaube einfach, dass diese Selbstverständlichkeit [sich zu engagieren, Anmerkung I.D.], gerade bei den, also, nennen wir es mal beim Namen, sozusagen bei den türkischen und arabischen Familien, bei den Leuten mit so einem Migrationshintergrund, dass das einfach nicht so präsent ist. Ich will mich da jetzt nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, weil es auch immer leicht ins Rassistische tendiert, aber, wenn ich mir das anschaue, empirisch ist das ja, ist es irgendwie so. (Interview 5-2014)
6Auch
im vorliegenden Fall habe ich zur Gewährleistung der Anonymität der Schule sowie der beteiligten Eltern auf direkte Medienverweise verzichtet.
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Als Politologin und Demokratieforscherin, die selbst im Bereich der Zivilgesellschaftsforschung (vgl. Klein/Priller/Graf Strachwitz 2014; Graf Strachwitz 2015) forschte, stützte Frau Elwert ihre Aussagen auf ‚empirische Befunde‘ und unterfütterte damit ihre Argumentation. Gründe für ein mangelndes elterliches Engagement verortete sie in einer besonders stark ausgeprägten Familienorientierung der „türkischen und arabischen Familien“ (s. o.): Familie spielt eh eine wahnsinnig große Rolle und also zumindest aus der Zivilgesellschaftsforschung weiß man ja auch immer wieder, dass in vielen Gesellschaften, wo die familiären Netzwerke so stark sind, dass da sozusagen kein Raum mehr ist für Zivilgesellschaften und auch nicht das Verständnis, außerhalb der Familie Sozialkapital irgendwie zu generieren. (Interview 5-2014)
Frau Elwert stellte auf diese Weise zwei gegensätzliche Bezugspunkte gegenüber: eine in der Öffentlichkeit wirksame und gemeinwohlorientierte Zivilgesellschaft und einen auf den privaten Raum gerichteten und an den eigenen Bedürfnissen interessierten Familienfokus. Innerhalb des letztgenannten Bezugspunkts erscheint es so auch nicht notwendig, außerhalb familialer Strukturen aktiv zu werden oder sich in einem breiteren Rahmen gesellschaftlich zu beteiligen. Frau Elwert bezog sich damit auf eine weit verbreitete Konzeption von Zivilgesellschaft, in der diese als eine unabhängige Kraft erachtet wird, die losgelöst von Staat, Wirtschaft und dem Privaten agiert und damit v. a. ein Korrektiv staatlicher Politik darstellt (vgl. Gellner/Glatzmeier 2005). Jedoch bestehen faktisch viele, manchmal mehr, manchmal weniger offensichtliche Querverbindungen zwischen diesen unterschiedlichen Sphären bzw. „Arenen“ (vgl. Graf Strachwitz 2015: 66–70).7 In diesem Zusammenhang konzipierte Frau Elwert „Gesellschaften“, in denen familiale Netzwerke stark seien, im Plural, wodurch diese als feststehende und von der deutschen Gesellschaft unabhängige Gesellschaftssysteme in Erscheinung traten. Dies ist insofern erstaunlich, da sie zuvor von den „türkischen und arabischen Familien“ gesprochen hatte, deren Kinder dieselbe Schule
7Antonio
Gramsci (1996: 1566) geht noch weiter und kritisiert, dass die Unterscheidung zwischen einer unabhängigen Zivilgesellschaft bestehend aus Non-Governmental Organisations (NGO) bzw. N icht-Regierungs-Organisationen auf der einen Seite und dem Staat auf der anderen Seite rein methodologischer Natur sei, wohingegen in der Praxis beides dasselbe darstelle. Weitergehende Ausführungen zu Gramscis Staatsverständnis und den damit verbundenen Implikationen für den Begriff der Zivilgesellschaft finden sich in Buckel/Fischer-Lescano (2007).
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besuchten wie ihr eigenes Kind. Hier fand ein Otheringprozess dieser Familien statt, bei dem sich das ‚Selbst‘ – die ‚zivilgesellschaftlich aktiven‘ Eltern in Abgrenzung zum ‚Anderen‘ – den ‚familienorientierten‘ Eltern – konstruierte, wobei der Pol „Selbstverständlichkeit des Engagements“ dominant war und den anderen Pol – „Gesellschaften mit starken familiären Netzwerken“ – in seinem Operationsfeld einschloss (vgl. Hall 2004b: 118). Die Verantwortung für das mangelnde Engagement der „türkischen und arabischen Familien“ (s. o.) in den Schulgremien verortete sie dabei bei diesen selbst; die Frage, inwiefern auch die neu gegründete Elterninitiative für das geringe Engagement der anderen Eltern mit verantwortlich war, spielte bei ihr dagegen keine Rolle: Und wenn du dann aber die Gremienarbeit anschaust, also in der Gesamtelternvertretung, da sitzen irgendwie zehn, zwölf Leute und das sind leider alles die, die irgendwie über diese [Name der Initiative, I.D.] da reingekommen, fast nur. Und dann denke ich mir auch: „Och Mann, die Leute lassen sich anfangs wählen als Elternvertreter und kommen dann nicht zu den Gremien.“ Und da ist es aber so wichtig mitzuarbeiten. Und ich glaube, diese Relevanz, was sie da alles bewegen können, dass es so wichtig ist, das ist vielen nicht klar. (Interview 5-2014)
Herr Berk dagegen ging davon aus, dass sich viele der ‚alteingesessenen‘ Eltern erst allmählich frustriert aus der Gremienarbeit zurückgezogen hätten; für ihn selbst als Elternvertreter sei es „unangenehm, dass man merkt, dass die anderen Eltern […] dann irgendwie da kein Bock mehr haben oder keine Lust mehr haben, […] an der Versammlung teilzunehmen“ (Interview 4-2014). Mittlerweile hätte sich so etwas wie eine „Null-Bock-Haltung“ (Interview 4-2014) bei vielen dieser Eltern entwickelt; es sei das Gefühl entstanden, die Initiativ-Eltern würden sich so stark in den Gremien engagieren, dass die eigene Beteiligung überflüssig sei. Diese Frustration und Wut über die wahrgenommene Zurückweisung und mangelnde Wertschätzung waren wirkmächtige, sich selbst verstärkende Affekte und Emotionen; die Eltern aus dem offenen Elterncafé resignierten zunehmend und zogen sich aus der Gremienarbeit (noch) weiter zurück (vgl. zur Rolle von Affekten ausführlich das Unterkapitel 8.2). Auch der „Tag der offenen Tür“, um den es bereits in der Einleitung und in Kapitel 1 ging, war durch die zunehmende Resignation der Eltern aus dem offenen Elterncafé gekennzeichnet. Indem die Initiativ-Eltern das schulische Event aktiv mitgestalteten und offensiv bewarben, demonstrierten sie ihre Näher zur Schule. Demgegenüber hatten sich die Eltern aus dem offenen Elterntreff in ihren eigenen Raum zurückgezogen. Der separate Raum, den die Besucher*innen an diesem „Tag der offenen Tür“ nicht unbedingt finden mussten, wirkte somit
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als Barriere. Die dortigen Eltern signalisierten wenig Offenheit gegenüber Interessierten: Sie beschworen v. a. das bereits Erreichte, anstatt zukünftige Entwicklungen an der Schule. Grundsätzlich jedoch teilten beide Elterngruppen den Wunsch und das Bemühen, sich aktiv an der Schule der Kinder zu engagieren und einzubringen. Einer der Hauptkonfliktpunkte zwischen den beiden Gruppen war – wie dargestellt –, dass die Initiativ-Eltern nicht ausreichend anerkannten, dass den ‚alteingesessenen‘ Eltern zuallererst das Verdienst für die positive Entwicklung der Schule zukam. Die Akteur*innen aus dem Elterncafé fühlten sich dadurch als Motor der Schulentwicklung nicht wahrgenommen. Bei ihnen überwogen Frustration und Wut über die von ihnen empfundene Zurückweisung und mangelnde Wertschätzung. Darüber hinaus fühlten sich die Mitglieder des Elterncafés auch in viele Entscheidungsprozesse und Vorab-Absprachen der Gruppenanmeldungseltern nicht eingebunden. Der frustrierte Rückzug der Eltern aus dem offenen Elterncafé aus den schulischen Gremien-Strukturen wurde zusätzlich dadurch verstärkt, dass die Schulleiterin der Rosen-Grundschule der Elternbeteiligung im Rahmen von Schulgremien eine besondere Wertigkeit zusprach. Sie betonte, die Schule habe, bevor die Elterninitiative zur gemeinsamen Einschulung an die Schule kam, schon vieles erfolglos ausprobiert, um mehr Eltern in die Gremienarbeit einzubinden: „Wir haben die Einladung rechtzeitig rausgeschickt, wir haben teilweise am selben Tag vormittags die Eltern alle noch einmal angerufen und gesagt: ‚Denken Sie dran, heute Abend ist GEV [Gesamtelternvertretung, Anmerkung I.D.]!‘ und sie kommen trotzdem nicht.“ (Interview 6-2014). Aus ihrer Sicht hatte die Schule alle notwendigen Schritte eingeleitet, um gewählte Elternvertreter*innen zur Teilnahme an den Sitzungen zu motivieren. Sie unterstrich, dass die Schule selbst offen und einladend den Eltern gegenüber agiert und ihnen Angebote gemacht habe, die diese allerdings – anstatt sie anzunehmen – immer wieder verweigert hätten. Sie machte daher die Eltern selbst für ihren (zugeschriebenen) mangelnden Beteiligungswillen verantwortlich: Nur das Problem ist ja// Das ist ja nicht erst aufgetreten seit die [Name der Elterninitiative zur Gruppeneinschulung] hier mitarbeiten, die sind ja vorher schon nicht gekommen. Nicht? Da wären sie unter sich gewesen, da hätten sie ganz viel entscheiden können. Schon da saßen ja immer mehr Lehrer und Sozialpädagogen und Herr Berk. Wir saßen teilweise alleine mit zwei, drei Eltern, ja? (Interview 6-2014)
Inwiefern sich die ‚alteingesessenen‘ Eltern tatsächlich vor Entstehung des Konflikts in den Gremien eingebracht und engagiert hatten, lässt sich im Nachhinein nicht rekonstruieren. Festzuhalten bleibt, dass der Schulleiterin die
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Elternbeteiligung an der Rosen-Grundschule vor Beginn der ersten Gruppenanmeldungen gering vorgekommen war. Auf meine Frage nach möglichen Gründen oder Motiven für das damalige Fernbleiben der Eltern antwortete sie mir im Interview: Wenn wir diese Erklärung wüssten! Liegt’s an der Anfangszeit? Die kann man, könnte man verändern, wenn’s daran liegt. Liegt’s daran, dass sie Kinder betreuen müssen? Dann könnte man ja eine Regelung finden, wir würden ja irgendwat finden können für diese paar Sitzungen, die’s da gibt. Sind’s die Männer, die erwarten, dass ihre Frauen dann, ab einer bestimmten Zeit zuhause sind, gibt’s da Regeln? Muss dann immer die Frau pünktlich [klopft mit dem Knöchel einmal auf den Tisch] um siebzehn, um achtzehn, um neunzehn Uhr Abendessen? Keine Ahnung woran’s liegt. Ich weiß es nicht. (Interview 6-2014)
Die Schulleiterin signalisierte zunächst einmal eine grundsätzliche Bereitschaft, die Struktur der Sitzungen im Sinne der potenziell teilnehmenden Eltern und insbesondere der Mütter verändern zu wollen, sei es die Anfangszeiten oder die Kinderbetreuung betreffend. Zugleich implizierte sie aber auch, dass diese Neuerungen allein daran gescheitert seien, dass die Eltern ihre Bedürfnisse nicht bekannt gegeben hätten. Über die vergeschlechtlicht-rassialisierte Zuschreibungen an die Eltern bzw. die Mütter erklärte sie deren verweigerte Teilnahme an der Gremienarbeit. Zugleich stellte sie diese als unerklärliche, unbegreifliche und dadurch auch potenziell ‚irrationale‘ Affekte und Kognitionen dar. Darüber verschob sie die Verantwortung für das – schlechte oder zumindest nicht allzu gute – Verhältnis von Schule und Eltern einseitig auf die Eltern. Im Zusammenhang mit der häufig von Schulen konstatierten mangelnden Beteiligung von Eltern of Color betonen Melahat Altan, Andreas Foitzik und Jutta Goltz die Relevanz eines individualisierten und subjektorientierten Blicks auf elterliches Verhalten. Eine solche Perspektive könne dabei helfen, die „Vielfalt der jeweiligen Umgangsmöglichkeiten mit den [eigenen, Anmerkung I.D.] Lebenserfahrungen wahrzunehmen und anzuerkennen.“ (Altan/Foitzik/Hartmann 2009: 56). Die Schulleiterin der Rosen-Grundschule erklärte – mit Hinblick auf Geschlechterverhältnisse – die früher zu verzeichnende geringe Beteiligung an den Gremien-Strukturen weniger mit individuellen, sondern vielmehr mit kulturell-religiösen Faktoren. Ihr zufolge waren die Familien patriarchal strukturiert: Die Mütter der damaligen Schulkinder seien für Kinder und Haushalt zuständig gewesen und die Männer hätten die für alle Familienmitglieder geltenden Regeln aufgestellt. Bezüglich der mangelhaften elterlichen Beteiligung in den Schulgremien fungierte Herr Berk an der Rosen-Grundschule zudem für sie als eine Art ‚Kronzeuge‘ im Sinne einer Stütze ihrer eigenen Argumentation.
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Denn schließlich habe ja auch Herr Berk, der Schulleiterin zufolge, der elterlichen Verweigerungshaltung hilflos gegenübergestanden: Also die Teilnahme an diesen Elternversammlungen ist nicht so prickelnd, dass ich sagen könnte: „Alle Eltern, die sich als Elternvertreter wählen lassen, wissen auch offensichtlich was es bedeutet.“ Und unser Gesamtelternvertreter sitzt dann, saß dann auch schon hier. Wir saßen zusammen und haben überlegt: „Was können wir noch machen?“ (Interview 6-2014)
Indem die Schulleiterin einigen der Elternvertreter*innen zuschrieb, die Relevanz ihrer Aufgabe und der übernommenen Verantwortung nicht zu erkennen, musste sie institutionelle (Diskriminierungs-)Mechanismen und eine mögliche Mitverantwortung der Institution Schule für das Wegbleiben der Eltern nicht in Betracht ziehen (vgl. SVR 2014: 20; Carreón/Drake/Barton 2005; Turney/Kao 2009). In diesem Zusammenhang arbeiten Altan, Foitzik und Hartmann heraus, dass auch die Erfahrung der Migration und damit verknüpfte „Verunsicherungen […], Alltagserfahrungen in der Aufnahmegesellschaft, Brüche in den Lebensbiografien sowie Ausgrenzungserfahrungen“ (Altan/Foitzik/Hartmann 2009: 41), bspw. durch geringe Sprachkenntnisse des Deutschen, den Rückzug aus der elterlichen Beteiligung an Schulen bewirken können. Eng mit diesem Befund verknüpft erachten die Autor*innen auf institutioneller wie auch auf interpersonaler Ebene angesiedelte Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen dieser Eltern, durch die sie sich – trotz eines prinzipiellen Interesses – häufig aus dem schulischen Geschehen zurückziehen: „Der Kontakt zu Institutionen und öffentlichen Stellen kann bei Migrantenfamilien auch von negativen Erfahrungen, Verständigungsschwierigkeiten und Diskriminierungen geprägt sein, sodass Hemmungen, Vorurteile und Unsicherheiten gegenüber den deutschen Institutionen entstanden sind.“ (ebd.: 45). Auch wenn die Schulleiterin der Rosen-Grundschule dazu bereit war, an den formalen Strukturen der Gremien-Arbeit etwas zu verändern, so reichten ihre Strategien offensichtlich nicht aus, „um alle Eltern zu involvieren, zu informieren und in einem gewissen Rahmen auch zu bilden“ (Fürstenau/Gomolla 2009: 13). Vielmehr wäre hier aus meiner Sicht bei der Schulleiterin eine noch stärker offen und (selbst-)reflexiv das eigene Handeln hinterfragende Haltung sowohl den Eltern und ihren unterschiedlichen Anliegen und Bedürfnissen als auch parallel dazu möglichen institutionellen Diskriminierungsbarrieren gegenüber hilfreich und wünschenswert gewesen (vgl. dazu auch Altan/Foitzik/Hartmann 2009: 11).
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Wie dargestellt, zeigte sich die Schulleiterin der Rosen-Grundschule prinzipiell offen für elterliche Beteiligung und betonte, sie freue sich über aktive Eltern, egal, welchen (ethno-natio-kulturell codierten) Hintergrund diese hätten: Wir sind ja auch froh über Eltern, die sich hier einbringen, die Ideen hier mit entwickeln, die mithelfen wollen und so. Und ich bin offen für […] jede Elternanfrage, für jede Anregung dankbar, egal wo sie herkommt, wenn man dadurch die Schule weiterentwickeln kann und die Bedingungen für die Kinder, die hier lernen, verbessern kann. (Interview 6-2014)
Zugleich betonte die Schulleiterin, nicht alle Eltern engagierten sich gleichermaßen für schulische Belange. Gerade was in jüngster Zeit die Einrichtung einer Türkisch-AG sowie einer kleinen Bücherei im – zur Schule gehörigen – Hort anginge, seien die Eltern aus der Initiative zur gemeinsamen Einschulung ihrer Kinder besonders aktiv gewesen: „Also da waren schon die Eltern sehr initiativ und das ist etwas, was bei den Eltern schon ausgeprägter ist als bei anderen Eltern.“ Der Mehrzahl der Eltern aus dem Elterncafé sprach sie dabei zur selben Zeit ab, von sich aus Engagement für die Schule gezeigt zu haben, da diese lediglich von Herrn Berk als Zugpferd mitgezogen worden seien (vgl. Interview 6-2014). Während die Schulleiterin es also begrüßte, dass die Gruppenanmeldungseltern sich so aktiv in den schulischen Gremien und auch darüber hinaus ins Schulgeschehen einbrachten, sah dies der Elternvertreter Herr Berk kritisch: Und das wird wahrscheinlich auch in̓ nächsten Jahren ein Problem für die anderen Eltern sein, dass es nur zwanzig Eltern [sind], die einfach jetzt alle Gremien besetzen und alle Entscheidungen fällen. Und die anderen müssen einfach es akzeptieren. Das wird das nächste große Problem sein, was wir hier in der Schule haben werden. Und dagegen muss man eigentlich gegensteuern. Und sagen: „Halt, nein! Ihr müsst aktiver werden.“ (Interview 4-2014)
Herr Berk ging also davon aus, dass auch die übrigen, in der Mehrzahl muslimischen oder als muslimisch markierte Eltern an der R osen-Grundschule verstärkt anfangen müssten, sich in den Gremien einzubringen, damit die Initiativ-Eltern diese nicht gänzlich alleine bespielten.
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8.1.4 Rassismus- und Klassismusverhältnisse im Kontext von Schule Herr Berk stand hier zwischen allen Stühlen: Als Gesamtelternvertreter arbeitete er in den Schulgremien eng mit den Initiativ-Eltern, der Schulleiterin und den Lehrkräften zusammen und bemühte sich um Beschlüsse, die im Interesse möglichst vieler Eltern an der Schule waren. Als Vertreter des offenen Elterncafés teilte er aber auch die Frustration der dortigen Eltern über die neue Entscheidungsmacht der Initiativ-Eltern, die derjenigen der außerhalb der Gremien aktiven Eltern überlegen war. Um sich dieser zermürbenden Situation nicht mehr länger auszusetzen, entschied Herr Berk, im nächsten Schuljahr nicht mehr als Gesamtelternvertreter zu kandidieren. Bei ihm überwog die Frustration über die fehlende Anerkennung seines eigenen Engagements. Mit Bezug auf oben genannten Medienbericht, demzufolge die Initiativ-Eltern die Mütter aus dem Elterncafé als ‚bildungsferne Kopftuchmütter‘ bezeichneten, meinte Herr Berk: „Die Anerkennung ist nicht da. Wenn man andauernd auch mit diesen blöden Betitelungen oder Begriffen da bombardiert wird, da hat man keinen Bock mehr drauf. Da sagt man: ‚Was wollt ihr denn, verdammt noch mal?‘“ (Interview 4-2014). Seine Entscheidung, den Initiativ-Eltern das Feld zu überlassen, wurde auch dadurch bestärkt, dass er annahm, es werde nicht bei den „zwanzig Eltern“ (s. o.) an der Schule bleiben. Vielmehr sei ihm zufolge das Ziel der Initiative, die Schule perspektivisch zu ‚übernehmen‘, bis diese irgendwann ganz „in deutscher Hand“ (Interview 4-2014) sei: Jetzt arabische und türkische und so weiter und so fort [Eltern, Anmerkung I.D.], die ihre Kinder hier anmelden müssen, die würden sich dann wahrscheinlich dann auch irgendwie dann bisschen: „Oh, Gott“, so bisschen fühlen. Das wird da wahrscheinlich denen auch so signalisiert und dann würden sich dann hier nicht mehr wohlfühlen, da müssen sie sich dann wieder eine andere Schule suchen, wo sie sich dann da einigermaßen dann willkommen geheißen [fühlen, Anmerkung I.D.]. (Interview 4-2014)
Die sich – seitdem sie einen immer sichereren und selbstbewussteren Umgang mit den Lehrkräften erprobt hatten – allmählich wandelnden habituellen Praktiken der Eltern aus dem Elterncafé konnten sich hier offensichtlich nicht länger gegen den Habitus der im Umgang mit Schule und anderen offiziellen Institutionen versierten Initiativ-Eltern behaupten. Damit ist im Anschluss an Nikolas Rose eine zentrale Dimension von citizenship angesprochen: die soziale und kulturelle Fähigkeit, sich (mikro-)
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politisch bzw. gesellschaftlich zu artikulieren und dabei auch Gehör zu finden. Rose argumentiert, dass citizenship zunehmend nicht mehr (ausschließlich) im Sinne eines Besitzes an Rechten („citizenship as possession“), sondern verstärkt als Befähigung, diese auszuüben und im eigenen Sinne anzuwenden („citizenship as capacity“), verstanden werden könne (vgl. Rose 2000: 99). Demnach realisiert sich „Staatsbürger*innenschaft“ vermehrt als ein relationals Verhältnis, als „capacity to act in relation to the particular circumstances of one’s environment, as well as in relation to others“ (ebd.). Anna Köster-Eiserfunke, Clemens Reichhold und Helge Schwiertz zeigen dabei in Bezug auf gesellschaftliche Teilhabe im weitesten Sinne auf, „dass Erfolg in Auseinandersetzungen […] auch maßgeblich davon abhängt, inwiefern die Akteure sich in symbolischen Deutungs- und Klassifizierungskämpfen auf anerkannte Verhaltensmuster stützen können“ (Köster-Eiserfunke/Reichhold/ Schwiertz 2014: 183; vgl. Bourdieu 2005: 73 ff.). Eine solche Konzeption von „citizenship as capacity“ (Rose 2000: 99) erlangt vor dem Hintergrund der seit den 1980er Jahren auch im deutschsprachigen Raum fest etablierten sogenannten Schulautonomie eine besondere Bedeutung für die Wechselbeziehung zwischen Schule und Familie. Als Schulautonomie werden die Umstrukturierungen des öffentlichen Schulwesens bezeichnet, die sich ausgehend von den angelsächsischen Ländern international verbreitet haben (vgl. Gomolla 2009: 25). Die Politik der Schulautonomie verknüpft dabei im Wesentlichen Strategien des New Public Management, die Betonung demokratischer Mitbestimmung und der Kund*innenmacht der Eltern sowie verstärkte externe Leistungskontrollen und -evaluationen von Schüler*innen, Lehrkräften und Schulen (vgl. ebd.; Eurydice 2007: 12 f.). Ein legitimes Verhalten im Kontext der Schule stellt es insofern dar, wenn Eltern schulische Belange im Sinne ihrer Kund*innenmacht auf die angebotene ‚Qualität‘ hin befragen. Ein „Zuviel“ an elterlicher Einmischung kann es somit im Schulkontext eigentlich kaum noch geben. Mechtild Gomolla zeigt hierbei auf, dass die Zuschreibung, sich zu viel zu beteiligen bzw. einzumischen, gegenüber der Behauptung, zu wenig Beteiligung zu zeigen, „weit weniger Beachtung [findet], da [sie] quer zu den Appellen für mehr Zusammenarbeit von Eltern und Schule liegt“ (Gomolla 2009: 31).8 So sind auch bislang keine Konzepte entwickelt worden, die
8Dagegen
hatte noch vor knapp zwei Jahrzehnten der Psychologe Klaus Ulich konstatiert, dass die Einschätzung von Lehrkräften und Schulleitungen bezüglich des schulischen Engagements von Eltern zwischen der „Szylla der Interesselosigkeit, des Unverständnisses, und der Charybdis eines übergroßen Engagements, das schnell zu Einmischung wird“ (Ulich 2002: 7) changiert habe.
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Lehrkräfte oder pädagogische Fachkräfte dabei unterstützen, mit überengagierten Eltern angemessen zu interagieren (vgl. Oakes/Lipton 2003: 399 ff.), während es eine Vielzahl an Programmen gibt, die die Intensivierung der Zusammenarbeit von Eltern und Schule zum Ziel haben. Auch wenn also der mit der Schulautonomie verknüpfte „neue Bildungsdiskurs die Elternrechte [propagiert], etwa freie Schulwahl, erweiterte Mitspracheund Beteiligungsmöglichkeiten in schulischen Entscheidungen oder neue Formen der Rechenschaftslegung“ (Gomolla 2009: 21), so zeigt sich doch v. a., dass Eltern noch stärker als bisher von den Schulen in die Verantwortung genommen werden und dass tendenziell die Einflussmöglichkeiten ohnehin privilegierter Elterngruppen zuungunsten derjenigen, die weniger geübt und versiert sind, ihre Interessen zu artikulieren und durchzusetzen, verstärkt werden. (Fürstenau/Gomolla 2009: 14)
Die Feststellung, dass auf diesem Weg die Einflussmöglichkeiten „weniger geübt[er] und versiert[er]“ Elterngruppen sänken, verweist auf das potenziell konfliktbeladene Verhältnis zwischen diesen und der Institution Schule. Die soziologisch orientierte Erziehungswissenschaft spricht hierbei von einer mangelnden kulturellen Passung von Schule und Elternhaus (vgl. Unterkapitel 1.2), aufgrund dessen schulische Maßnahmen zumeist marginalisierte Eltern adressieren, wobei gerade hinsichtlich Rassismus und Klassenverhältnissen deprivilegierten Eltern und deren Kindern als an Schule und insgesamt an der Bildung ihrer Kinder uninteressiert gezeichnet werden (vgl. Kollender 2016: 49; Hillesheim 2009: 48; Vodafone Stiftung 2013: 17). Die schulischen Maßnahmen erweisen sich entgegen ihres eigenen Anspruchs vielfach als wirkmächtiges Kontrollnetz, durch das „bestehende Ungleichheitsverhältnisse perpetuiert und sogar (erneut) legitimiert werden“ (Richter 2008: 38; vgl. Gomolla 2009; Vincent/Tomlinson 1997; Crozier/Reay 2005). Auch an der Rosen-Grundschule zeigte sich auf ganz subtile Weise, wie die Eltern aus der Gruppenanmeldungsinitiative privilegiert wurden, da sie in einem vermeintlich guten und unproblematischen Passungsverhältnis zur Institution Schule standen. Ich möchte dabei jedoch nicht die elterliche Beteiligung in Schulgremien als Norm setzen, dem sich die Vertreter*innen des Elterncafés durch ihr gestiegenes Selbstbewusstsein und ihr größtenteils außerhalb von Gremien realisiertes Engagement nur bedingt habituell annäherten. Wird allein
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die Bedeutung des Habitus in und für Auseinandersetzungen betont, so birgt dies eine grundsätzliche Gefahr, nämlich die, sich eine der Analyseperspektive implizite Hierarchie zu eigen zu machen. Denn indem vor allem die strategischen Vor- oder Nachteile einer habituellen Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft untersucht werden, droht die Reproduktion der aktuell dominierenden Integrationsperspektive. (Köster-Eiserfunke/Reichhold/Schwiertz 2014: 183 f.)
In meiner Analyse kann ich dem hier aufgezeigten Dilemma zwischen habitueller Anpassung und einem subjektiv empfundenen Empowerment nicht entkommen. Ich habe allerdings versucht, dieses Dilemma mit zu denken, wenn ich mich der Problematik der elterlichen Beteiligung innerhalb und v. a. außerhalb schulischer Gremien annähere. Vor dem Hintergrund von Rassismus- und Klassismusverhältnissen erschienen an der Rosen-Grundschule die Eltern, die sich aktiv in Schulgremien einbringen, als besonders ‚bildungsinteressiert‘, während Beteiligung außerhalb von Gremien weit weniger Anerkennung fand. Vielmehr galt elterliches Engagement außerhalb der Gremien lange Zeit als unbequem, als eine Störung eingespielter schulischer Routinen und als Aktivität, die sich tendenziell eher gegen die Institution Schule richtet als in ihrem Interesse und mit ihr zusammen agiert. Die Rosen-Grundschule konnte daher demgemäß mit ‚wildem‘ und nicht durch Gremien und vorgegebene schulische Strukturen eingehegtem Engagement nur schwer umgehen. Stattdessen erkannte sie an und akzeptierte sie das kontrollierte und von ihr kontrollierbare Handeln von demokratisch autorisierten Gremienvertreter*innen im festen, vorgefertigten Rahmen der schulischen Beteiligungsstrukturen. Welche Formen der Elternbeteiligung in Schulen als ‚legitim‘ und anerkannt gelten, ist somit immer auch eine Frage von schulischen ebenso wie von gesamtgesellschaftlichen Machtverhältnissen. Schulen in der Migrationsgesellschaft, die der Zielsetzung eines möglichst diskriminierungsarmen Bildungsraums ein Stück näher kommen wollen, können auf lange Sicht der subtil wirkenden Machtfrage nicht aus dem Weg gehen, wie sie es schaffen, ganz unterschiedliche Formen der Elternbeteiligung anzuerkennen. Nur so können sie es aus meiner Sicht langfristig schaffen, die Verschiedenheit von Eltern anzuerkennen, unterschiedliche Elterngruppen anzusprechen und in schulische Aktivitäten und Belange einzubinden.
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8.2 Proteste gegen eine nach ‚Herkunft getrennte Klasse‘ Ebenfalls in einem Berliner Innenstadtbezirk liegt die Narzissen-Grundschule, um die es bereits im Kapitel 6 ging. Aus der Perspektive der Schule und ihrem Streben nach institutionellem Selbsterhalt hatte sich die Einführung von Gruppenanmeldungen dort bewährt. Doch nicht alle Eltern an der Narzissen-Grundschule teilten diese Einschätzung. Vielmehr zog die Einführung der Gruppenanmeldungen einen Konflikt nach sich, da einige der Eltern aus den Klassen, die nicht von Kindern aus einer Gruppenanmeldung besucht wurden, sich und ihr Kind strukturell benachteiligt fühlten und gegen die Klasseneinteilung protestierten. Diesen Familien war der Klassenzug des Kindes von der Schule zugeteilt worden, wohingegen die Gruppenanmeldungseltern die Möglichkeit erhielten, sich eine Lehrkraft und den dazugehörigen Klassenzug selbst auszusuchen. Hier führte die Konzentration der Gruppenanmeldungen auf zwei der fünf Klassenzüge und die zeitgleich realisierte strukturelle Privilegierung der Letzteren zum Vorwurf, nach ‚Herkunft getrennten Klassen‘ eingeführt zu haben. Im vorliegenden Unterkapitel zeichne ich zunächst die Entstehung dieser Klasseneinteilung und den daraus resultierenden Konflikt nach (8.2.1). Dann frage ich nach der Rolle unterschiedlicher Affekte im und für den Konflikt, bspw. Wut und Empörung (8.2.2). Anschließend gehe ich darauf ein, wie die protestierenden Mütter in dem Konflikt mit ihrem (singulären) act of citizenship (vgl. exemplarisch Isin 2008; Isin/Nielsen 2008) als Subjekte sichtbar wurden, die der Schule und im weiteren Sinne staatlichen Instanzen gegenüber Ansprüche auf Anerkennung und auf gleiche Rechte stellten (8.2.3). Darüber hinaus analysiere ich die ambivalenten Effekte, die die Thematisierung der nach ‚Herkunft getrennten Klassen‘ für die aufbegehrenden Mütter und deren Kinder hatte (8.2.4). Hierbei gehe ich wiederum auf die Bedeutung von Emotionen und Affekten für die Verfestigung schulischer Diskriminierungsroutinen ebenso wie für deren Infragestellung ein. Abschließend befasse ich mich damit, wie Diskriminierungsroutinen thematisierbar gemacht und perspektivisch durchbrochen werden können (8.2.5). Wenn ich nun den Verlauf des Konflikts nachzeichne, muss berücksichtigt werden, dass ich lange Zeit mit niemandem der aufbegehrenden Mütter Kontakt knüpfen konnte. Von der Auseinandersetzung hatte ich erst im Nachhinein erfahren und die Schulleiterin genauso wie die protestierenden Mütter, die den Konflikt hinter sich lassen wollten, waren zu keinem Gespräch mehr bereit. Erst einige Jahre später bekam ich durch Zufall Kontakt zu einer der
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protestierenden Mütter, Özlem Kaya, und führte auch mit ihr ein Interview (vgl. Unterkapitel 2.3). Neben diesem Interview stütze ich mich auf weitere Interviews mit drei – die Praxis und die Effekte ihrer Gruppenanmeldung im Nachhinein zum Teil kritisch reflektierenden – Eltern aus der Gruppenanmeldung an der Narzissen-Grundschule: Melanie Reichert, Rabea Kraus-Lee und Timo Brandt. Darüber hinaus sind auch Beobachtungen und Gespräche bei einer Sitzung des Integrationsausschuss Friedrichshain-Kreuzberg sowie ein Interview mit dessen Vorsitzenden, Wolfgang Lenk (Bündnis ’90/Grüne), der in dem Konflikt als Moderator fungiert hatte, in die folgende Darstellung eingeflossen. Eine ebenfalls zentrale Rolle spielen Interviews mit zwei Jurist*innen, Maryam Haschemi Yekani und Carsten Ilius, sowie mit einer Referentin zu Rassismus und Diskriminierung im Bildungsbereich namens Meral El. Alle drei hatten die protestierenden Eltern in ihrem Einsatz gegen die getrennten Klassen auf unterschiedliche Weise – politisch und/oder juristisch – unterstützt.
8.2.1 Ausgangspunkte des Konflikts Und das ist ja dann aufgefloppt, als Eltern das mitbekommen haben. (Interview 4-2013)
Als Özlem Kayas Tochter eingeschult wurde, stand ihre Entscheidung für die Narzissen-Grundschule schnell fest; entscheidend für sie war der kurze Schulweg. Zwar wusste sie, dass es in der näheren Umgebung eine weitere, bei vielen Eltern sehr nachgefragte Grundschule gab, „wo die deutschen Kinder alle waren“ (Interview 1-2019). Sie blieb jedoch bei ihrem Entschluss, denn: „Da habe ich mir gedacht: ‚Ach, mir ist das egal‘. Ich mein̓, ich bin ja auch ne Ausländerin. Aber wenn die Lehrerin gut ist und wenn meine Kinder gut sind, die können Deutsch – was soll denn passieren?“ (Interview 1-2019). Zeitgleich zur Einschulung von Özlem Kayas Tochter wurde an der Narzissen-Grundschule das erste Mal in einer Parallelklasse eine Gruppen anmeldung an der Schule umgesetzt. In diesem ersten Jahr der Einführung einer Gruppenanmeldung fand diese zunächst wenig Beachtung. Jedoch hatte sich Özlem Kaya gewundert, wieso alle AG-Angebote, darunter die Zirkus-AG, so schnell ausgebucht gewesen seien: „Und ich dachte mir: ‚Wer ist denn da?‘ Weil, ich kenne alle. Und [Name des Kiezes] ist klein. Und alle Türken, man kennt sich, vom Sehen kennt man sich, alle. […] Und die im Alter meiner Kinder waren, kannte ich alle, weil die auf dem Spielplatz waren.“ (Interview 1-2019). Im darauffolgenden Schuljahr wurde ihr anhand der fast ausschließlichen
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Belegung der AG-Angebote durch Kinder ihr unbekannter Eltern bewusst, dass diese einer organisierten Elterngruppe an der Schule angehörten. Auch in diesem Schuljahr hatte sich eine Elterngruppe zusammengefunden, die ihre Kinder gemeinsam einschulen wollte. Die Gruppe hatte die Möglichkeit erhalten, sowohl die zukünftige Schulklasse des Kindes als auch – damit verbunden – die Lehrkraft auszuwählen. Die Eltern suchten sich daraufhin genau den jahrgangsübergreifenden Klassenzug aus, in dem ihre Kinder bereits einige der Zweitklässler*innen aus der vorhergehenden Gruppenanmeldung kannten. Dort bildeten schließlich die Kinder aus der Gruppenanmeldung die Mehrheit. Melanie Reichert aus der Elterninitiative zur gemeinsamen Einschulung fiel dies bereits vor den Sommerferien bei der ersten Zeremonie für die zukünftigen Erstklässler*innen auf. Dabei wurden die Kinder nacheinander aufgerufen und ihren Klassen zugeordnet: Das war schon sehr auffällig, dass es eine Klasse gab, in der quasi wirklich nur türkisch-arabische Namen aufgerufen wurden. Und dann unsere Klasse, sag ich jetzt mal, wo’s plötzlich, also wo offensichtlich war, da gibt es keine türkisch-arabischen Nachnamen. Und da war’s […] offensichtlich in dem Moment. (Interview 2-2012)
Auch wenn Melanie Reichert mir gegenüber ihre eigene Gruppe als überaus heterogen beschrieben hatte und versicherte, niemand habe eine ‚Trennung nach Herkunft‘ intendiert, wurde hier eine solche Trennung anhand bestimmter Marker bzw. „materielle[r] Dimension[en] von Rassismen“ (Namberger 2013: 143) augenscheinlich: Neben den Nachnamen waren dies tendenziell unterschiedliche Haar- und Hautschattierungen der einzelnen Schulklassen, die der Anwalt Carsten Ilius schilderte (vgl. Interview 1-2014). Bis zur Einschulungsfeier, die dann nach den Sommerferien stattfand, hatte dagegen die Mehrzahl der Eltern aus den Schulklassen, in denen keine Gruppenanmeldung stattfand, weder von diesem Konzept noch seinen Implikationen an der Schule etwas gewusst, wie die im Antidiskriminierungsbereich tätige Meral El erzählte: „Ich war auch oft im Eltern-Café und habe von den Eltern erfahren, dass sie nichts davon wussten: ‚Wie, wir haben Deutsche hier?‘ Ich dann so: ‚Jaja, da oben. Ich war dort.‘ Viele Eltern wussten das nicht.“ (Interview 4-2013).9 9Meral
El, die während des Konflikts im Auftrag der Open Society Justice Initiative (OSJI) das Ausmaß von Klasseneinteilungen nach ,Herkunft‘ untersuchte, hatte im vorhergehenden Schuljahr für diese Forschung u. a. an der Narzissen-Grundschule hospitiert und in diesem Zusammenhang festgestellt, dass dort eine Gruppenanmeldung segregierte Klasse eingerichtet worden war. Die Ergebnisse von Meral Els Recherche flossen in eine von der Open Society Justice Initiative veröffentlichten Studie unter dem Titel „Gleichberechtigung an deutschen Schulen fordern“ ein (vgl. Open Society Justice Initiative 2013).
8.2 Proteste gegen eine nach ‚Herkunft getrennte Klasse‘
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Das Nicht-Wissen dieser Eltern lässt sich zum einen damit erklären, dass die einzelnen Klassenzimmer der ersten beiden Jahrgangsstufen an der Schule räumlich voneinander getrennt waren, wie mir bei einem Besuch der Schule aufgefallen war: Die Gruppenanmeldungs-Klasse befand sich in einem separaten Teil des Gebäudes (vgl. Feldtagebuch: 24.01.2013). Auch Meral El erinnerte sich an diesen Umstand: „Dieses Gebäude ist so ein bisschen verwickelt. Und ich habe mich auch mehrere Male verlaufen, als ich dieses Klassenzimmer irgendwie finden wollte, weil es eher weiter hinten ist. Und soweit ich mich erinnere, war das die einzige Klasse dort.“ (Interview 4-2013). Özlem Kaya zufolge wurden sogar verschiedene Eingänge zur Schule genutzt: Während die Gruppenanmeldung über den Nebeneingang in ihren Teil des Schulgebäudes gekommen sei, hätten alle anderen den Haupteingang genutzt. Auf diese Weise seien die vielen „Deutschen“ an der Schule zunächst niemanden aufgefallen (vgl. Interview 1-2019). Zum anderen, so Meral El, habe die Schule im vorhergehenden Jahr noch ganz bewusst darauf geachtet, dass die Einschulungsveranstaltungen der einzelnen Klassen auf verschiedene Termine gelegt worden seien: Die Einschulungen werden auch getrennt gemacht, damit die Eltern das nicht mitbekommen. Ganz bewusst. Narzissen-Grundschule hat getrennt eingeschult. Die Einschulung wurde getrennt gemacht. Das haben mir Eltern persönlich erzählt. Und aufgeflogen ist es, weil sie dieses Schuljahr die Einschulung am selben Tag gemacht haben zu unterschiedlichen Zeiten. Aber die Zeiten lagen zu nahe beieinander, so dass Eltern of Color das gesehen haben. (Interview 4-2013)
Özlem Kayas Sohn wurde ein Jahr nach der erstgeborenen Tochter eingeschult. Als sie mit ihrem Mann, ihrer Schwester und dem Sohn die Einschulungsfeier besuchte, seien ihr auf dem Weg dorthin viele „deutsche“ Kinder und deren Eltern entgegengekommen. In der Aula habe sie dann wiederum hauptsächlich „Türken“ und „Araber“ gesehen (vgl. Interview 1-2019). Dass es sich um unterschiedliche Einschulungsfeiern handelte, war ihr zum damaligen Zeitpunkt nicht bewusst. Vielmehr habe sie sich darüber gefreut, dass nun endlich auch mehr „deutsche Eltern“ den Weg an die Schule gefunden hätten (vgl. Interview 1-2019). Die Mutter Rabea Kraus-Lee aus der Gruppenanmeldung begründete die getrennten Einschulungsfeiern dagegen aus der Perspektive der Institution Schule, also mit schulorganisatorischen Notwendigkeiten. Ihr zufolge habe die Schule zwei unterschiedliche Termine für die Einschulungsfeier ansetzen müssen, da die Aula zu klein für alle Schulanfänger*innen gewesen sei. Demnach richtete die Schule die Feier einmal für die Erstklässler*innen aus, die jahrgangsübergreifend
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unterrichtet wurden, und einmal für diejenigen, die altershomogene bzw. jahrgangsbezogene Klassen besuchten (vgl. Interview 2-2013). Mit Blick auf die Analyse institutioneller Diskriminierungsmechanismen müssen sich die unterschiedlichen Einschätzungen von Meral El, Özlem Kaya und Rabea Kraus-Lee nicht widersprechen. Möglicherweise erachtete die Schulleiterin die Gruppenanmeldung überhaupt nicht als diskriminierend. Mit der getrennten Einschulungsfeier wäre dann auch nicht die Absicht verbunden gewesen, die daraus resultierende ‚Klasseneinteilung nach Herkunft‘ zu verschleiern. Daneben ist auch denkbar, dass der Schulleiterin eine hauptsächlich von ‚deutschen‘ Kindern besuchte Klasse als legitim erschienen war. Ein Interview mit ihr hätte Aufschluss geben können über ihre Motive. Da sie dazu aber nicht bereit war, bleibe ich hinsichtlich ihrer möglichen und/oder wahrscheinlichen Motive für die getrennten Einschulungsfeier auf Spekulationen angewiesen. Festhalten lässt sich jedoch, dass die Schulleiterin mit den zeitlich nahe beieinander liegenden Einschulungsveranstaltungen selbst dazu beitrug, dass die ‚Trennung nach Herkunft‘ augenscheinlich wurde – und dies bereits beim ersten Kontakt der Erstklässler*innen und ihrer Eltern mit der zukünftigen Schule. Mit der Organisation der Einschulungsfeiern hatte die Schule also Anteil daran, dass sich die von der Praxis der Gruppenanmeldung negativ betroffenen Eltern in der Folge gemeinsam gegen die ‚Klasseneinteilung nach Herkunft‘ organisierten.
8.2.2 Affektive Intensitäten des Protests Wut und Empörung als Antrieb der Proteste Am Tag nach der Einschulung des Sohnes war Özlem Kaya in der Klasse ihrer Tochter und musste dort feststellen, dass nur noch eine Lehrerin unterrichtet habe und völlig überfordert gewesen sei. Die Erzieherin, die bislang ebenfalls dort eingesetzt wurde, sei nun in einer anderen Klasse tätig, in der, die die „deutschen Kinder“ besuchten (vgl. Interview 1-2019). Nach und nach hätte Özlem Kaya dann auch gemerkt, dass die Kinder aus der Gruppenanmeldung viele der AG-Angebote nutzten und die anderen Kinder aus diesem Grund leer ausgingen (vgl. Interview 1-2019). Sie nahm daher die Klasseneinteilung als eine nach ‚Herkunft‘ sortierte wahr und beschrieb die Klasse, in der die Gruppenanmeldung umgesetzt wurde, folgendermaßen:
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Ja, dann habe ich herausgekriegt, das sind deutsche, türkische Kinder, aber mehr deutsche. Aber was ist Deutsch? Die hatten alle Väter, Vietnamesen zum Beispiel, oder halt solche Deutsche. Aber meine Kinder sind auch Deutsch, ich bin auch Deutsch. Aber ursprünglich bin ich keine Deutsche. Meine Kinder können aber perfekt Deutsch.
Özlem Kaya sprach hier die Vielschichtigkeit dessen an, was die Kategorie des ‚Deutsch-Seins‘ umfasst und machte zugleich deutlich, dass sie sich als deutsche Staatsangehörige, deren Vorfahren aus der Türkei stammen, gegenüber binationalen Elternpaaren mit einem deutschen Elternteil als Deutsche zweiter Klasse fühle. Die ungleiche Verteilung der Schüler*innen sprach sie daher gegenüber der Schulleiterin mehrmals an. Diese habe ihr gesagt, wenn sie darüber stillschweigen bewahre, werde sie ihre Tochter in die „deutsche Klasse“ schicken (vgl. Interview 1-2019). Sie habe darauf geantwortet: „Nee. Warum meine Tochter in die deutsche Klasse? Schicke doch mal die deutschen Kinder in die Klasse meiner Tochter.“ […] Ich werde das niemals vergessen: „Das ist den Eltern nicht zumutbar“, hat sie mir gesagt. […] Ich habe gesagt: „Ach so, für die Eltern ist es nicht zumutbar, aber für meine Kinder und für mich ist es zumutbar?“ Ich habe gesagt: „Entweder Sie lösen die Klasse auf, machen das ganz normal, oder“ habe ich gesagt, „ich nehm̓ mir wirklich einen Anwalt“. (Interview 1-2019)
Nachdem Özlem Kaya ihrer Nachbarin von der Situation an der Schule erzählte, bekam sie von dieser den Rat, sich an den Anwalt Carsten Ilius zu wenden, der aktiv im Bereich des Diskriminierungsschutzes sei (vgl. Interview 1-2019). Daraufhin lotete Özlem Kaya zusammen mit ein paar anderen Mütter und ihm sowohl juristische als auch politische Interventionsmöglichkeiten aus. Sie vereinbarten, noch ein letztes Mal zu versuchen, eine schulinterne Lösung zu finden, also durch Gespräche mit der Schulleitung eine Neuverteilung der Klassen zu erwirken. Als diese mit Verweis auf die generelle Neuverteilung der Klassen ab dem 3. Schuljahr10 es weiterhin ablehnte, die Zusammensetzung der einzelnen Schulklassen sofort zu verändern, war für Özlem Kaya und ein paar der
10Ab dem 3. Schuljahr wird an der Narzissen-Grundschule in altershomogenen Klassenverbänden unterrichtet. Da jeweils ca. 12 Kinder aus einer Klasse der Schulanfangsphase (1. und 2. Jahrgangsstufe) in die nächsthöhere Klasse wechseln, werden die neuen 3. Klassen in der Regel aus zwei Klassen der Schulanfangsphase zusammengestellt, wobei sehr große Klassen mit (wesentlich) mehr als 24 Schüler*innen mit Kindern aus anderen Klassen aufgefüllt werden bzw. sehr große Klassenzüge Kinder an andere Schulklassen abgeben.
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anderen Mütter das Maß voll. Sie beschwerten sich beim zuständigen Schulamt im Bezirk, das nichts von der Gruppenanmeldung und der ungleichen Verteilung der Kinder an der Narzissen-Grundschule gewusst hatte, da die Schulleiterin die Verteilung intern vorgenommen hatte. Im Schulamt erfuhr Özlem Kaya, dass sie den ‚Fehler‘ begangen habe, auf dem Anmeldeformular für die Schule „Türkisch“ als Familiensprache angegeben zu haben. Sie habe zwar die deutsche Staatsangehörigkeit, fühle sich aber auch zu gleichen Teilen als Türkisch. Dabei sprächen ihre Kinder kaum Türkisch, zugleich aber fehler- und akzentfrei Deutsch, seien also eigentlich „deutscher Herkunftssprache“ (vgl. Interview 1-2019). Dieses Missverständnis habe letztlich dazu geführt, dass ihre beiden Kinder nicht in die Klasse kamen, in der auch Kinder aus der Gruppenanmeldung eingeschult worden seien.11 Zeitgleich begannen Özlem Kaya und andere Mütter tagtäglich nach Unterrichtsschluss vor der Schule zu protestieren, indem sie Transparente mit ihren Forderungen in die Höhe hielten und ihre Wut lautstark äußerten. Um ihre Situation einer größeren Öffentlichkeit gegenüber bekannt zu machen und zu skandalisieren, schalteten sie zudem Berliner Lokalmedien ein. Verschiedene Berliner Tageszeitungen, die türkischsprachige Zeitung Hürriyet und der Fernsehsender RBB berichteten in der Folge zum Teil mehrmals von dem Konflikt. Mit ihrem Protest trugen die Mütter lautstark ihre Wut und Empörung über die Diskriminierung ihrer eigenen Kinder aus der Schule heraus auf die Straße und in die Öffentlichkeit. Diese starken Affekte und Emotionen waren der Motor dafür, dass sich die Mütter gegen die Diskriminierung in nach ‚Herkunft getrennten Klassen‘ zur Wehr setzten. Brian Massumi zufolge besteht die produktive Kraft von Wut darin, dass mit ihr Unvorhersehbares einhergeht und somit zugleich eine Unterbrechung des Bestehenden erfolgt (vgl. Massumi 2015: 9). Zentral an dieser Analyse ist für die hier angesprochenen elterlichen Proteste, dass die Wut und die Empörung die existente (Diskriminierungs-)Situation unterbrachen und es so ermöglichten, dass diese sich veränderte bzw. sich neu konfigurierte (vgl. Niess 2018: 104). Brian Massumi (2015) verdeutlicht eine solche Unterbrechung des Bestehenden an ihrem äußersten Extrem: dem Einsatz von Gewalt. So arbeitet er u. a. am Beispiel der Anti-Globalisierungsproteste von Seattle (1999) heraus, dass diese nicht nur durch ihre Kreativität, sondern
11Seit
diesem Tag empfehle Özlem Kaya allen Bekannten, auf jeden Fall „dH“ anzukreuzen, egal, wie gut die Deutschkenntnisse des Kindes seien (vgl. Interview 1-2019).
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besonders durch den unerwarteten Ausbruch von Gewalt öffentliche Aufmerksamkeit schufen und so die Anti-Globalisierungsbewegung einer großen Anzahl an Menschen bekannt machten. Für gelungene Proteste bedeutet das keinesfalls, dass die Unterbrechung des Bestehenden nur mittels Gewalteinsatz erfolgen kann. Vielmehr wird ein solches Vorgehen unproduktiv, wenn es vorhersehbar wird. Denn schließlich braucht es das unerwartete Moment einer „affektiven Modulation“, um auf einen – in der Regel bereits affektiv aufgeladenen – öffentlichen Diskurs Einfluss nehmen zu können: It seems to me that alternative political action does not have to fight against the idea that power has become affective, but rather has to learn to function itself on that same level – meet affective modulation with active modulation. That requires, in some ways, a performative, theatrical or aesthetic approach to politics. For example, it is not possible for a dispossessed group to adequately communicate its needs and desires through the usual channels. It just doesn’t happen. […] The message doesn’t get through, because the public discourse doesn’t function on that level of the rational weighing of choices. (ebd.: 34)
Analog zu Massumis Analyse stellten erst die auf die Straße getragene Wut, die Performativität12 der protestierenden Subjekte mit ihren Transparenten und ihren lautstark geäußerten Forderungen einen Bruch dar mit dem Bestehenden, Vorgesehenen und Vorhersehbaren (vgl. Niess 2018: 272). Schließlich ist im Kontext von Grundschulen ein derartiges Engagement von Eltern wie der hier angesprochene Protest der Mütter weder üblich noch vorgesehen. Während die Interessenvertretung und Mitarbeit in Schulgremien ebenso wie die niedrigschwellige Mithilfe bei Schulfesten oder Klassenausflügen zu den anerkannten und institutionell verankerten Beteiligungsformen in und ‚für‘ Grundschulen gehört, trifft dies wohl eher weniger auf Proteste ‚gegen‘ eine Schule zu (vgl. Unterkapitel 8.1). Doch genau durch diesen unerwarteten und unvorhergesehenen Moment weckte der Protest als ein theatralischer und ästhetischer Zugang zu Politik die öffentliche Aufmerksamkeit für den Konflikt an der Narzissen-Grundschule.
12Wenn
das Performative dadurch gekennzeichnet ist, dass bestehende gesellschaftliche Verhältnisse in Frage gestellt und umgeworfen werden, indem sich Subjekte nicht nur formieren, sondern gerade auch neu formieren und reformulieren (vgl. Butler 2002: 125), dann kann dies übersetzt auf den hier vorliegenden Konflikt so gelesen werden, dass sich die protestierenden Eltern zu (öffentlich) Sprechenden und Handelnden machten, auch wenn sie diese Subjektivität zuvor nicht eingenommen hatten (vgl. Niess 2018: 44).
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Damit brachte erst der Protest das Thema der institutionellen ‚Segregation nach Herkunft‘ auf die politische, mediale und öffentliche Tagesordnung. Darüber hinaus vermute ich, dass der Protest auch dazu beitrug, dass sich das Schulamt des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg in dem Konflikt eindeutig positionieren musste – und zwar zugunsten der protestierenden Mütter. So wies das Schulamt schon nach kurzer Zeit die Schulleitung der Narzissen-Grundschule an, die Schulklassen nochmals neu zu mischen. Hoffnung: Begehren nach besseren Lebensbedingungen Viele der Gruppenanmeldungseltern fanden es zunächst einmal nachvollziehbar, dass die mehrheitlich Eltern of Color mit der Verteilung der Klassen nicht einverstanden waren; sie zeigten zumeist – aber meist nur bis zu einem gewissen Grad – Verständnis für die Proteste. Die Mutter Melanie Reichert aus der Gruppenanmeldung drückte dieses begrenzte Verständnis so aus: „Das kann ich verstehen, dass die Eltern aufgebracht waren, dass plötzlich also bestimmte Klassen nicht richtig gemischt waren, das sehe ich auch alles. Ich fand nur die Art und Weise, da müsste ich// also das war für mich also unertragbar.“ (Interview 2-2012). Vor der Schule protestierten schon bald nicht mehr einfach nur einige Mütter, sondern dort ebenso wie vor den Klassenzimmern der Kinder und in den Schulgängen begannen einige Eltern der beiden unversöhnlich gegenüberstehenden Parteien sich gegenseitig Vorwürfe zu machen, sich zu streiten und anzuschreien. Ein vielfach geäußerter Kritikpunkt war, dass die Kinder der protestierenden Familien auf diese Weise in den lautstarken und in den Fronten verhärteten Konflikt mit hineingezogen worden seien. Rabea Kraus-Lee beschrieb die angespannte Situation folgendermaßen: „Dann waren halt wirklich immer vor der Schule die Medien gestanden mit dem// also und die schreienden, sich ankeifenden Eltern. Und teilweise war dann auch das Kind, also ich war da echt//, das Kind war dann auch immer dabei.“ (Interview 2-2013). Auch Melanie Reichert berichtete von der aufgeheizten Stimmung während der Proteste: „Es war wirklich eine total aufgewühlte und aufgebrachte Stimmung. Es war dann eben eine große Gruppe Mütter, die dann laut auch rumschrien und ja, mit den Fingern auf uns zeigten.“ (Interview 2-2012) Dabei habe eine dieser Mütter „ihre Tochter ständig in die Kamera gehalten“ und diese „bei allen Veranstaltungen mit dabei“ (Interview 2-2012) gehabt. Melanie Reichert, Rabea Kraus-Lee und Timo Brandt von der Gruppenanmeldung betonten, wie wichtig es ihnen selbst gewesen sei, die Kinder aus dem Konflikt herauszuhalten. Die Mutter Özlem Kaya ging dagegen davon aus, ihre siebenjährige Tochter habe sehr genau die Geschehnisse an der Schule registriert
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und diese von sich aus mitverfolgt. Aus diesem Grund habe sie ihrer Tochter erklärt, was an der Schule gerade passiere (vgl. Interview 1-2019). Dass sie dabei die rassistische Diskriminierung – auch gegenüber der eigenen Tochter – klar als solche benannte, lässt sich auch auf die gesellschaftlichen wie auch schulischen Machtverhältnisse zurückführen, die auf das Handeln der protestierenden Mütter zurückwirkte. Außerdem war es für diese aus strategischen Gründen wichtig, sich den medialen Spielregeln zu unterwerfen und deren Bedarf an affektiven, emotionsgeladenen Berichten und Bildern zu erfüllen, auch wenn sie dabei unter Umständen mit ihren Kindern, um deren Diskriminierung es ja ging, den Medien gegenüber treten mussten. Die aufbegehrenden Mütter zeigten also aus meiner Sicht ein Bewusstsein für die Macht der Bilder, die sie selbst produzierten. Sie setzten ihre Hoffnung auf die Fähigkeit von Körpern zu affizieren und affiziert zu werden und damit darauf, dass die Medienberichte, Bilder und Videos der „unschuldigen“ und zu Unrecht benachteiligten Kinder (und deren Mütter) eine Öffentlichkeit anzusprechen und zu affizieren vermochten. In diesem Sinne argumentiert Massumi, dass in einer konkreten Situation ausgelöste und erfahrene Affekte zugleich Intensitäten wie auch Potenziale und Hoffnungen darstellen: I use the concept of ‚affect‘ as a way of talking about that margin of manoeuvrability, the ‚where we might be able to go and what we might be able to do‘ in every present situation. I guess ‚affect‘ is the word I use for ‚hope‘. One of the reasons it’s such an important concept for me is because it explains why focusing on the next experimental step rather than the big utopian picture isn’t really settling for less. It’s not exactly going for more, either. It’s more like being right where you are more intensely. (Massumi 2015: 3)
Neben der Wut über die bestehende Diskriminierung stellte also auch Hoffnung ein zentrales und prägendes Motiv dieser Mütter für ihr Aufbegehren dar: Hoffnung auf Veränderung, auf ein Ende der Diskriminierung und auf Anerkennung der Rechtmäßigkeit ihrer Forderungen. Ben Anderson zeigt dabei auf, dass Hoffnung jedem Handeln vorausgeht: Hopefulness, therefore, exemplifies a disposition that provides a dynamic imperative to action in that it enables bodies to go on. As a positive change in the passage of affect, it opens the space-time that it emerges from to a renewed feeling of possibility: this is a translation into the body of the affects that move between people in processes of intersubjective transmission to make a ‚space of hope‘. Feeling hopeful, in this case, is characterized by a yearning to live and to experiment as part of the tendency without end that is set in motion as one feet of what Bloch (1986) terms a transpersonal ‚hope that hopes‘. (Anderson 2006: 744)
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Auch Marianne Pieper spricht im Zusammenhang mit Assemblagen des Rassismus – wie der hier aufgezeigten ‚Trennung nach Herkunft‘ – von Hoffnung bzw. vom Begehren nach anderen, besseren Lebensbedingungen. Ihr zufolge sind Assemblagen des Rassismus nicht allein gekennzeichnet durch „stratifizierende Linien“ und damit durch „Machtverhältnisse, Diskurse, Institutionen, Politiken, Gesetze, Architekturen und Technologien, die darauf abzielen, das Begehren nach anderen Lebensbedingungen einzudämmen“ (Pieper 2016: 103). Vielmehr zeichnet diese auch das „Begehren nach anderen Existenzbedingungen“ (ebd.) aus, also das „Potenzial von Fluchtlinien, also jenen molekularen Bewegungen, die bestehende Ordnungen unterlaufen, sie negieren oder sie umformen“ (ebd.). Vor diesem Hintergrund lässt sich die Aussage Özlem Kayas sehen, dass sie sich vor dem Konflikt nie als Ausländerin gesehen habe. Erst durch die Vorzugsbehandlung, die die Familien aus der Gruppenanmeldung genossen, habe sie gemerkt, dass sie für viele andere der Eltern an der Narzissen-Grundschule eine „Ausländerin“ bleibe. In der Folge erfuhr sie sich zunehmend als nicht-zugehörig zur deutschen Mehrheitsgesellschaft und begann, sich selbst als „Ausländerin“ wahrzunehmen (vgl. Interview 1-2019). Dies machte sie wütend und weckte in ihr den Wunsch, wenigstens ihre Kinder davor schützen zu können, auf den Status der Nicht-Zugehörigkeit festgelegt zu werden (vgl. Interview 1-2019). Der Protest vor der Schule ihrer Kinder spiegelte somit auch die Hoffnung Özlem Kayas, den Wunsch und das Begehren, Diskriminierungserfahrungen – und damit auch Verletzungen – von ihren Kindern fernzuhalten und ihnen nicht zumuten zu wollen.
8.2.3 Anerkennungskämpfe als acts of citizenship Aufbauend auf den affektiven Intensitäten der Wut und der Hoffnung verstehe ich den Protest der rassistisch markierten Gruppe von Müttern auch als Anerkennungskampf, über den diese mit ihren Forderungen performativ sichtund hörbar wurden. Hier stellt sich die Frage, wie ein solcher Anerkennungskampf theoretisch gefasst werden kann. Diesbezüglich gehe ich in diesem Abschnitt auf drei Konzepte ein und prüfe ihre Anwendbarkeit für den hier skizzierten Protest gegen die nach ‚Herkunft getrennten Klassen‘: diversity politics, representational politics und acts of citizenship. In Bezug auf gesellschaftliche Anerkennungskämpfe sprechen Alana Lentin und Gavan Titley von sogenannten diversity politics (Lentin/Titley 2011: 180 ff.): „Diversity politics eschews liberal notions of tolerance, and resituates minority identities and practices in the public sphere independent of the contingencies
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of benevolent recognition.“ (ebd.: 180). Die Autor*innen attestieren dabei den diversity politics eine herrschaftskritische Haltung und ein Gesellschaft transformierendes Potenzial (ebd.: 181). Da sie allerdings explizit davon ausgehen, dass sich die diversity politics durch eine Kritik an patriarchalen, heterosexistischen, rassistischen, klassistischen und/oder ableistischen Machtverhältnissen auszeichnen, halte ich das Konzept für die Analyse des elterlichen Protests an der Narzissen-Grundschule nur begrenzt für zielführend. Denn diesem lag nicht von Anfang an eine solchermaßen gesellschafts- und machtkritische Haltung zugrunde. Vielmehr war er durch ein implizites, praktisches Wissen hinsichtlich der Diskriminierung in den nach ‚Herkunft getrennten Klassen‘ gekennzeichnet. Demgegenüber bezeichnet das von Dimitris Papadopoulos, Niamh Stephenson und Vassilis Tsianos eingeführte Konzept der representational politics (vgl. Papadopoulos/Stephenson/Tsianos 2008: xv) Politikformen in einem liberal-demokratischen Rahmen, die darauf basieren, dem Staat gegenüber Ansprüche auf Anerkennung bzw. Repräsentation, auf Ressourcen und/oder auf Rechte zu stellen. Dazu gehören Demonstrationen, Petitionen oder andere Politikformen, mit denen (in Teilbereichen) marginalisierte Gruppen – bspw. Frauen, Homosexuelle, Menschen mit Behinderung oder auch People of Color – Forderungen nach Rechten und/oder Anerkennung an den Staat adressieren. Die Autor*innen sprechen im Zusammenhang mit den representational politics von einer untrennbaren Verknüpfung von Rechten und Repräsentation, die die Basis staatlicher Souveränität darstellt, dem „double-R axiom“ (ebd.: xiv). Durch diese Kopplung identifiziert der Nationalstaat zum einen greifbare Subjekte und schreibt diese identitär fest; in einem zweiten Schritt spricht er den jeweiligen Gruppen Rechte zu oder verwehrt ihnen diese: National sovereignty separates and classifies people into classes and social strata through the signification procedures of representation; second, it assigns rights of participation to each of these represented groups. National sovereignty is based on the national social compromise between different classes and strata for a potential egalitarian distribution of rights. This is the so-called double-R axiom, rights and representation, which binds national sovereignty. (ebd.: 139)
Papadopoulos, Stephenson und Tsianos argumentieren, dass sich im Zuge neoliberaler Transformationen der Fokus der representational politics weg vom Versprechen gleicher Rechte hin zu Fragen der Repräsentation verschoben habe (vgl. ebd.: 17 f.). Dies kommt ihnen zufolge Interessen heutigen Regierens entgegen, da hierüber klar identifizierbare und adressierbare Subjekte geschaffen werden.
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Aus diesem Grund begreifen sie die representational politics als Ausdruck von Kontrolle: „With Jacques Rancière, we understand representational politics as policing.“ (ebd.: XV).13 Da es den protestierenden Müttern allerdings weniger um Fragen der Repräsentation ging, sondern vielmehr um die Anerkennung ihrer Forderungen nach gleichen Rechten, also nach Gleichbehandlung ihrer Kinder, halte ich auch das Konzept der representational politics nur bedingt geeignet, den Protest theoretisch zu fassen. Wie Papadopoulos, Stephenson und Tsianos herausstellen, basiert die beständige Stabilisierung moderner Souveränität nicht primär auf der kompletten Exklusion, sondern auf einer Form der differenziellen Inklusion bestimmter Gruppen, denen partiell soziale, bürgerschaftliche oder politische Rechte zugesprochen werden (vgl. ebd.: 5). Sie verdeutlichen, dass nur „those few social actors who manage to make of themselves proper subjects of representation and rights“ in der Lage sind, auf der Klaviatur des „double-R axiom“ (ebd.: xiv) zu spielen. Die protestierenden Mütter schafften dies, sie passten sich in das Raster des „double-R axiom“ ein und traten als Gruppe von rassismuserfahrenen Subjekten – medial als ‚türkische‘ und ‚arabische‘ Mütter bezeichnet – an die Öffentlichkeit. Hier forderten sie offensiv als (nationalstaatliche) Subjekte und Bürger*innen Anerkennung und gleiche Rechte für ihre Kinder ein. Dabei spielte die tatsächliche Staatsangehörigkeit der protestierenden Mütter keine Rolle, denn ich teile das Verständnis kritischer citizenship-Konzepte, die über eine enge, staatszentrierte Sichtweise von citizenship bzw. „Bürger*innenschaft“14 (vgl. dazu Marshall 1992) hinausgehen. Ihrem Verständnis von
13Vor
dem Hintergrund post-nationaler und post-liberaler Versuche des Regierens, die sich nicht mehr auf das „double-R axiom“ im souveränen Nationalstaat beschränken lassen, zeichnen Dimitris Papadopoulos, Niamh Stephenson und Vassilis Tsianos (2008) daher die Grenzen von representational politics nach. Gerade angesichts der gouvernmentalen Regierungstechnologie der Prekarisierung von Arbeits- und Lebensbedingungen entstehen ihnen zufolge zunehmend alternative, widerständige Praktiken des Sich-Entziehens und des Entfliehens – imperceptible politics –, die den Hauptfokus ihres Werks „Escape Routes“ (ebd.) darstellen. 14Ich setzte in dieser Arbeit die Übersetzung des Begriffs citizenship in Anführungszeichen, um die Konnotation einer „Bürger_innenschaft […] als immer schon verfasste Staatsbürger_innenschaft“ (Köster-Eiserfunke/Reichhold/Schwiertz 2014: 179) nach Möglichkeit zu vermeiden. In diesem Zusammenhang zeigt Robin Celikates in seiner Auseinandersetzung mit Étienne Balibars Werk auf, dass die deutsche Übersetzung der Begriffe citizenship bzw. citoyenneté zumeist „primär als von staatlicher Seite verliehener Status verstanden wird“ und so „die konstituierte Dimension von Bürgerschaft deren konstituierende Seite [verdeckt]“ (Celicates 2010: 64).
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citizenship ist gemein, dass damit kein von vornherein gegebener Status von Personen bezeichnet ist, der sich in einer politischen Gemeinschaft verorten lässt: „Rather than merely focusing on citizenship as legal rights, there is now agreement that citizenship must also be defined as a social process through which individuals and social groups engage in claiming, expanding and losing rights.“ (Isin/Turner 2002: 4). Citizenship lässt sich also vielmehr als eine beständig neu gestaltete und hervorgebrachte „Bürger*innenschaft“ von unten begreifen. Damit vollzieht sich eine Bewegung weg von der Frage, wer citizen ist hin zu der Frage, was eine*n solche*n ausmacht (vgl. Isin 2009: 383): This shift, apparently modest, instigates an important move from citizenship as a status – and hence institutionally granted – to citizenship as a process through which subjects, by claiming rights, and regardless of their citizenship status, constitute themselves as citizens. The shift to the question of what makes the citizen means that ‚acts of citizenship‘ places emphasis on what people do, namely on those claims and actions through which citizenship is enacted. (Andrijasevic 2013: 50)
Auch Personen, denen (faktisch) staatsbürgerliche Rechte vorenthalten werden, können sich in der Praxis als Staatsbürger*innen verhalten. Dies stellt Momente gesellschaftlicher Transformation dar, in denen sich Subjekte selbst als politische Subjekt konstituieren (vgl. Köster-Eiserfunke/Reichhold/Schwiertz 2014: 186): „To investigate acts of citizenship […] requires a focus on those moments when, regardless of status and substance, subjects constitute themselves as citizens – or, better still, as those to whom the right to have rights is due“ (Isin 2008: 18). So wird das „Recht, Rechte zu haben“ (Arendt 1955: 444), zu einem Recht, Rechte einzufordern (vgl. Isin 2009: 371). In diesen Momenten oder acts of citizenship werden „Bürger*innenschaft“ selbst sowie auch bestehende Praxen der Anerkennung von Rechten radikal in Frage gestellt. Genau durch diese „claims to citizenship as justice“ wird citizenship zu einem Schauplatz von Rechten und Verantwortlichkeiten (vgl. Isin 2013: 27), die auf unterschiedlichen Ebenen wirksam werden: [R]ights (civil, political, social, sexual, cultural, ecological), sites (bodies, courts, borders, networks, media), scales (cities, empires, nations, states, federations, leagues), subjects (citizens, subjects, abjects) and acts (voting, volunteering, blogging, protesting, resisting and organising) are the elements that constitute a focus for investigating […] citizenship. (ebd.: 27 f.)
Zentral ist bei Engin Isin und anderen Autor*innen dabei die Abgrenzung von acts und actions. Während eine Aktion demnach eine Handlung darstellt
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und damit eine Performanz bzw. etwas, was auf ontischer Ebene getan wird, beinhaltet ein Akt darüber hinaus transzendente Qualitäten und ereignet sich auf ontologischer Ebene (vgl. Isin 2008: 25). Aus diesem Grund geht Isin davon aus, dass die Akte erst in ihrem Vollzug „Bürger*innen“ konstituieren: „[W] hile bodies perform actions, acts perform subjects.“ (Isin 2013: 23). Zudem unterbricht der Akt das Bestehende und ist somit zur selben Zeit der Beginn von etwas Neuem: „[T]he essence of an act, as distinct from conduct, practice, behaviour and habit, is that an act is a rupture in the given.“ (ebd.: 2013). In ihrem Vollzug stoßen dabei acts of citizenship permanent auf strukturelle Widerstände und Begrenzungen, die sie einerseits beständig herausfordern und die andererseits auch konstitutiv für die damit verbundenen Akte sind. Das Konzept der acts of citizenship beinhaltet also ein zutiefst aktivistisches Verständnis von citizenship. Analog zur Unterscheidung von Akten und Aktionen differenziert Isin zwischen active citizens und activist citizens. Ihm zufolge agieren active citizens in einem vorgegebenen rechtlichen Rahmen bzw. einer bestehenden politischen Ordnung als staatsbürgerliche Subjekte, die bspw. zur Wahl gehen und Steuern zahlen. Activist citizens unterlaufen und unterbrechen demgegenüber gesellschaftliche Routinen bzw. die jeweilige politische Ordnung, indem sie unerwartet und unvorhergesehen handeln, ohne nach der staatlichen und rechtlichen Legitimierung ihres Tuns zu fragen (vgl. ebd.: 25). Eines der Kennzeichen von acts of citizenship ist dabei, dass durch die praktizierten Akte Subjekte geschaffen werden, die durch den Bezug auf ein (Un-)Recht gekennzeichnet sind (vgl. ders. 2012: 109). Isin betont, dass die Beschreibung einer konkreten Aktion als ein act of citizenship immer jeweils eine analytische (Re-)Konstruktion durch Beobachter*innen darstellt (vgl. ebd.: 127). In diesem Sinne möchte ich den elterlichen Protest gegen die nach ‚Herkunft getrennte Klasse‘ als ein act of citizenship verstehen. Die aufbegehrenden Mütter verhielten sich in ihrem Protest als citizens, die als Migrant*innen und Personen of Color unabhängig ihrer rechtlichen Status ihnen vorenthaltenes Recht einforderten: „[T]o be a citizen is to make claims to justice: to break habitus and act in a way that disrupts already defined orders, practices and statuses.“ (ders. 2009: 383). Die protestierenden Mütter handelten also nicht alleine als active citizens, die über den offiziellen bürokratischen Weg – z. B. mittels Beschwerden bei der Schulleitung oder dem Schulamt – sich Recht verschaffen wollten, sondern als activist citizens, die sich öffentlichkeitswirksam durch ihren Protest vor der Schule ihrer Kinder gegen die ‚Klasseneinteilung nach Herkunft‘ zu Wehr setzten. Indem sie dies taten, widersetzten sie sich dem ihnen seitens der
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Schule und den Gruppenanmeldungseltern zugesprochenen Habitus, der sie als ‚bildungsfern‘ und nicht an Schule interessiert charakterisierte und durch den ihre Handlungsfähigkeit und ihr (affektives) Vermögen eingeschränkt wurde (vgl. Namberger 2013: 44). Somit brachen die protestierenden Mütter mit ihrem Akt nicht einfach mit bestehenden Verhältnissen, sondern „[gingen] auch von diesen aus[…], indem sie auf bestimmte Diskurse, Praxisformen oder Ressourcen sowie widerständige Wahrnehmungs- und Handlungsweisen zurückgreifen“ (Köster-Eiserfunke/Reichhold/Schwiertz 2014: 190; vgl. Isin 2008: 38) konnten. Allerdings blieb dieser Akt singulär und resultierte nicht in einer breiteren politischen Bewegung, die über weitere Akte ihre Interessen stark machte.15 Nichtsdestotrotz hatte das Anliegen der protestierenden Mütter bis dahin die Öffentlichkeit erreicht – und es blieb in Berlin auch nicht ohne Resonanz. Denn dort gründete sich in der Folge dieses sowie auch anderer Konflikte an Schulen das Berliner Netzwerk gegen Diskriminierung in Kita und Schule (BeNeDisk), das sich seither dafür einsetzt, dass eine unabhängige Beschwerdestelle zum Schutz gegen Diskriminierung auf Landesebene umgesetzt wird (vgl. BeNeDisk o. J.).
8.2.4 Effekte der Thematisierung von Diskriminierung Institutionelle Abwehrreaktionen [Die Schulleiterin] hielt es im Übrigen nicht für nötig, sich bei den migrantischen Eltern zu entschuldigen. (Interview 6-2013)
Nachdem die protestierenden Mütter die Diskriminierung ihrer Kinder öffentlich gemacht und sich zudem beim Schulamt beschwert hatten, sah sich schließlich die Schulleiterin der Narzissen-Grundschule gezwungen, auf die an sie gerichteten Vorwürfe zu reagieren. Ein paar Tage nach Beginn der Proteste räumte sie einer Berliner Tageszeitung gegenüber ein, sie sei den Wünschen der Gruppenanmeldungseltern zu weit entgegengekommen. Allerdings habe sie mit ihrem Vorstoß, Gruppenanmeldungen an der Schule anzubieten, eigentlich nur
15Engin
Isin argumentiert in diesem Zusammenhang, dass nicht vorausgesagt werden kann, ob ein Akt eine politische Bewegung nach sich zieht, in jedem Fall aber Akte die Bedingung für eine Bewegung sind: „Not all acts coalesce into movements but movements are impossible without acts.“ (Isin 2012: 181).
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die gut gemeinte Absicht verfolgt, die „Kreuzberger Mischung“, also eine hinsichtlich sozialer und ethnischer Differenzlinien ausgewogene Zusammensetzung der Schüler*innenschaft, herstellen zu wollen. Die Mutter Özlem Kaya dagegen empörte sich dagegen über die auf diese Weise realisierte Verteilung der Kinder, die ihr nicht ausgewogen erschien (vgl. Interview 1-2019). Einige Wochen später habe die Schulleiterin ein weiteres Mal ihre Überzeugung bekräftigt, nichts Falsches getan zu haben und sich nichts vorwerfen zu müssen. Bei einer Mediation, die in der Schulaula zwischen den beiden elterlichen Parteien stattfand, habe sie wiederum Anliegen und Verletztheit der protestierenden Mütter als unbegründet zurückgewiesen: Sie entschuldigte sich daher nicht bei diesen, sondern nur bei den Gruppenanmeldungseltern, wie die Anwältin Maryam Haschemi Yekani kritisierte, die – ebenso wie Carsten Ilius – an der Mediation als Unterstützerin der aufbegehrenden Eltern teilgenommen hatte: Am Ende dieser Veranstaltung hat sich die Schulleiterin sehr explizit bei den deutschen Eltern entschuldigt, dass diese in den Medien als rassistisch dargestellt wurden. Sie hielt es im Übrigen nicht für nötig, sich bei den migrantischen Eltern zu entschuldigen, dass die als bildungsfern die ganze Zeit betitelt worden sind, ja? Und das fand ich schon eine große Schwierigkeit, ja? Weil es zeigt sozusagen einen sehr sensiblen Umgang mit den armen verletzten biodeutschen Eltern, die ja nun gar nichts dafür können, dass die Welt so schlecht über sie denkt, während die anderen eben// die sollen sich doch jetzt mal bitte nicht so anstellen. (Interview 6-2013)
Die diskriminierenden Verhältnisse an der Schule im Sinne eines fehlerfreundlichen Umgangs mit dem Thema Diskriminierung als Lernanlässe (vgl. Center for Migration, Education and Cultural Studies 2016) zu verstehen und diese offen und konstruktiv auf positive Veränderungen hin zu thematisieren, sei gerade deswegen so schwer gewesen, „weil diese Schulleiterin sich eben auch so angegriffen fühlte“ (Interview 6-2013), meinte Maryam Haschemi Yekani. Es zeigt sich hier, dass der Konflikt an der Narzissen-Grundschule sowohl bei den protestierenden Müttern als auch bei allen anderen in den Konflikt involvierten Akteur*innen körperliche, affektive Intensitäten auslöste, die allerdings jeweils sehr unterschiedlich gelagert waren. Die Schulleiterin nahm den Vorwurf der Diskriminierung wahr als Affront gegen sich und ihre Art und Weise, die Klassenaufteilungen zu realisieren und die Schule zu leiten. Da sie sich also zu Unrecht beschuldigt fühlte, reagierte sie mit Abwehr und Unverständnis auf das Anliegen der protestierenden Eltern und war zugleich auch nicht bereit, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen (vgl. Pech 2006: 85 f.). Einen Fehler in ihrem Verteilungssystem der Schüler*innen auf die einzelnen
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Klassen habe sie daher nicht sehen wollen, wie die Anwältin Maryam Haschemi Yekani kritisierte: Diese Schulleiterin hat eigentlich nicht die Verantwortung für die Situation in der Form übernommen, sondern es war immer ganz klar, sie ist von den oberen Instanzen gezwungen worden ihr System zu verändern und sie selber, sie sah eigentlich bis zum letzten Moment nicht ein, dass sie einen Fehler gemacht hat. Also das sieht sie eigentlich nicht. Und das finde ich wirklich fatal. (Interview 6-2013)
Dementsprechend war die Schulleiterin nur durch den Druck von oben, als das zuständige Schulamt sich einschaltete und die Neuverteilung der Klassen anwies, zu diesem Schritt bereit. Gegen den Widerstand der Mehrzahl der Eltern aus der Gruppenanmeldungsinitiative veranlasste die Schulleiterin schlussendlich kurz nach Schuljahresbeginn, dass die Klassen neu gemischt werden mussten: Daraufhin tauschten einige Kinder aus der Klasse mit der Option der Gruppenanmeldung ihre Plätze mit Kindern aus den anderen Klassenzügen. Abwehrreaktionen der Gruppenanmeldungseltern Die Mehrzahl der Gruppenanmeldungseltern empfand die Neuverteilung der Klassen als völlig ungerechtfertigt und fühlte sich mit ihrem Bedürfnis nicht gesehen, den Übergang von der Kita zur Grundschule für das eigene Kind möglichst unproblematisch zu gestalten. Die Mütter Rabea Kraus-Lee und Melanie Reichert nahmen einen zweiten Neuanfang in einem unbekannten Klassenumfeld so kurz nach der Einschulung als hochproblematisch und belastend für ihr eigenes Kind wahr (vgl. Interview 2-2012; Interview 2-2013). Als einen generellen Neustart für alle Kinder der ersten Klassenstufe erachteten sie dies jedoch nicht, sondern äußerten die Sorge, speziell ihr eigenes, in besonderer Weise sensibles Kind könne darunter leiden. Auch die Mutter Özlem Kaya berichtete davon, wie ungerechtfertigt die Eltern aus der Gruppenanmeldung die Neuverteilung empfunden hätten. Diese hätten aber weniger einen zweiten Neuanfang als problematisch angesehen, sondern vielmehr habe ihr eine Mutter gesagt, die Kinder würden „einen Schaden davon tragen“, wenn sie mit ‚ausländischen‘ Kindern und mit Müttern mit Kopftuch in eine Klasse gingen (vgl. Interview 1-2019). Andere Eltern hätten Folgendes zu ihr gesagt:
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Dann haben sie mir vorgeworfen, dass ihre Kinder jetzt psychisch betreut werden. Nachdem die Klasse aufgelöst worden ist, haben sie mir gesagt, die Kinder werden psychisch betreut. Und stell dir das mal vor: Die haben wirklich bis dahin keine Kopftücher oder so was gesehen, weil die haben wirklich gefragt: ‚Mama, Mama, was ist das?‘ (Interview 1-2019)
Özlem Kaya selbst trägt kein Kopftuch. Sie fand es jedoch empörend, dass es Eltern gäbe, die in einem ‚multikulturellen‘ Kiez wohnten und zur selben Zeit das eigene Kind in einer ‚Blase‘ abseits der Realität eines innenstädtischen Berliner Kiezes groß zögen (vgl. Interview 1-2019). Der Vater Timo Brandt empfand die Sorgen vieler Gruppenanmeldungseltern in ähnlicher Weise als übertrieben. Er konnte die hektische Aktivität, die bereits die Ankündigung der Neuverteilung der Klassen bei diesen hervorgerufen habe, nicht nachvollziehen: Dann gab’s eben diese Eltern, die dann gesagt haben: „Oh, die wollen jetzt unsere Kinder noch Mal umsetzen“ und so. Und: „Das ist ja alles total schrecklich“ und bla. Und waren dann so ganz überstürzt auch. Wollten sofort zum Schulamt und sind da auch hin, um da irgendwie gegen zu steuern und so. (Interview 1-2012)
Beim Schulamt übergaben einige der Eltern einen offenen Brief, in dem sie die Neuverteilung der Klassen bemängelten und die Behörde davon zu überzeugen suchten, die diesbezügliche Anweisung zurückzunehmen. Timo Brandt erinnerte sich, ihm gegenüber hätten einige Eltern geäußert, sie wollten beim Schulamt „Gegendruck“ aufbauen, um ihre Interessen durchzusetzen: „Weil die dann anfingen mit: ‚Ja, die nehmen sich hier einen Anwalt! Jetzt muss man Gegendruck machen!‘“ (Interview 1-2012). Timo Brandt grenzte sich von dieser dichotomen und martialischen Rhetorik ab, da er vielmehr Gespräche mit den protestierenden Eltern führen wollte; den offenen Brief unterschrieb er daher genauso wenig wie er die Gruppe bei ihrem Gang zum Schulamt begleitete. Darüber hinaus verwehrten sich die Eltern mit dem offenen Brief auch gegen die Rufschädigung der Schule, die sie den protestierenden Eltern anlasteten: Diese hätten mit ihrem öffentlich erhobenen Diskriminierungs- bzw. Rassismusvorwurf die Narzissen-Grundschule in Verruf gebracht. Der Mutter Rabea Kraus-Lee zufolge habe das Schulamt einen solchen Vorwurf ausgerechnet im liberalen Kreuzberg sehr ernst nehmen müssen, weswegen es auf keinen Fall eine Rücknahme der Neuverteilung der Schulklassen akzeptieren hätte können. Rabea Kraus-Lee zufolge habe das Schulamt aber bedauert, dass ihm hier die Hände gebunden seien (vgl. Interview 2-2013).
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Einige Eltern aus Timo Brandts und Rabea Kraus-Lees Gruppenanmeldung sahen sich also offensichtlich zu Unrecht des Rassismus beschuldigt. Eben weil sie sich bewusst und aus einem antirassistischen Verständnis heraus für die Einzugsgebietsschule in einer sozialräumlich benachteiligten Lage entschieden hatten, fühlten sie sich in ihren Intentionen missverstanden. Sie gingen davon aus, in bester Absicht gehandelt und keinesfalls diskriminierende Absichten verfolgt zu haben, wie mir mehrere Eltern in den Interviews genauso wie in Gesprächen bei einer – thematisch dem Konflikt an der Narzissen-Grundschule gewidmeten – öffentlichen Sitzung des Integrationsausschuss des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg, versicherten.16 Dort, bei der Sitzung des Integrationsausschuss’, die ungefähr drei Monate nach Ausbruch des Konflikts stattfand, empörten sich wiederum einige Eltern aus den Gruppenanmeldungen über die ihnen gemachten Segregationsvorwürfe. Die Sitzung fand in Form eines Lokaltermins an der Kreuzberger N arzissen-Schule statt. Neben den Bezirksverordneten aus dem Ausschuss nahmen die Schulleiterin, die einen einführenden Vortrag zur Schule und der Schulentwicklung der letzten Jahre hielt, einige der Lehrkräfte sowie mehrere Eltern aus den aktuellen und den vorhergehenden Gruppenanmeldungen teil. Viele dieser Eltern äußerten völliges Unverständnis für den erhobenen Rassismusvorwurf und machten aufgebracht deutlich, wie angegriffen und missverstanden sie sich fühlten. Ein Vater und eine Mutter bezeichneten sich unabhängig voneinander als ‚traumatisiert‘. Als ‚traumatisch‘ empfand der Vater den von den protestierenden Eltern erhobenen und durch den zu Anfang des Konflikts medial verbreiteten Rassismusvorwurf gegen die Gruppenanmeldung. Der Mutter zufolge sei es eine ‚traumatische‘ Erfahrung gewesen, keine Unterstützung durch „die Politik“ erfahren zu haben (vgl. Feldtagebuch: 24.01.2013). Möglicherweise spielte diese Mutter hier indirekt darauf an, dass der Vorsitzende des Integrationsausschusses, Wolfgang Lenk (Bündnis ’90/Grüne),
16Bei
der öffentlichen Sitzung des Integrationsausschusses war ein Vater überzeugt, die Intention der Gruppenanmeldung sei den protestierenden Eltern einfach nur nicht vermittelt worden; das müsse aber in Zukunft viel stärker passieren, damit vergleichbare Konflikte nicht mehr aufträten. Er war überzeugt, der Konflikt ebenso wie die Neuverteilung der Schüler*innen hätten vermieden werden können, wären die Gruppenanmeldungseltern nur ,rechtzeitig‘ über die geplante Neuverteilung der Kinder informiert worden und hätten die Möglichkeit erhalten, vor allen anderen mit den unzufriedenen Eltern zu sprechen, diesen ihre – ihnen selbst absolut einleuchtenden – Ziele und Motive zu erklären und sie damit selbstverständlich davon zu überzeugen, dass eine Neuverteilung nicht notwendig sei (vgl. Feldtagebucheintrag 24.01.2013).
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zwei Monate nach dem Konflikt Klagen über weiter anhaltende subtile Diskriminierung der protestierenden Mütter ernst genommen und in der Bezirksverordnetenversammlung eine diesbezügliche Mündliche Anfrage gestellt hatte. Der anschließende Vorwurf an Wolfgang Lenk war, auf diese Weise sei die Beschwerde ohne ausreichende Prüfung bekannt geworden. In jedem Fall hatten weder Wolfgang Lenk noch andere Lokalpolitiker*innen der in Friedrichshain-Kreuzberg regierenden Partei Bündnis 90’/Grüne sich einseitig zugunsten der Gruppenanmeldung bzw. von Gruppenanmeldungen als Ganzem ausgesprochen. Wolfgang Lenk hatte sich vielmehr in dem Konflikt als Vermittler und Moderator zwischen den unterschiedlichen Eltern verstanden (vgl. Interview 1-2013). Indem die beiden Eltern den Rassismus-Vorwurf sowie die verweigerte Unterstützung durch die (Lokal-)Politik als ‚traumatisch‘ kennzeichneten, verkannten sie das strukturelle Moment der Diskriminierungserfahrungen der (mehrheitlich) Mütter bzw. Eltern of Color. Deren Erfahrungen und Verletzungen spielten offensichtlich für einen großen Teil der Gruppenanmeldungseltern eine untergeordnete Rolle; Letztere betonten ihre eigene Verletztheit und werteten die Verletzungen der anderen Eltern als Übertreibung, Missverständnis und falsche Interpretation ihres Anliegens ab. Wie Alana Lentin und Gavan Titley herausarbeiten, gelten rassistische Verhältnisse und Vorfälle unter neoliberalen Verhältnissen zunehmend als „Privatangelegenheit“ von im Grunde irrational handelnden Akteur*innen: Under neoliberalism race is essentially privatized, in the sense of being silenced or made invisible. When racism is understood as an irrational attribute or behaviour, it has diminished purchase in a social vision that places rational and autonomous actors centre stage. (Lentin/Titley 2011: 169)
In dieser Logik müssen diejenigen, die ihre rassistische Diskriminierung öffentlich thematisieren, immer auch damit rechnen, als irrational und überempfindlich abgewertet zu werden. Sarah Ahmed weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Thematisierung von Rassismus häufig gegen diejenigen verwendet wird, die ihn zur Sprache bringen, als ob diese ihn damit auch zugleich ins Leben gerufen hätten: The stakes are indeed very high: to talk about racism is to occupy a space saturated with tension. History is saturation. It is because of how racism saturates everyday and institutional spaces that people of color often make strategic decisions not to use the language of racism. If you already pose a problem or „appear out of place“ in the institutions of whiteness, there can be good reasons not to exercise what is heard as a threatening or aggressive vocabulary. […] If racism tends to recede from social
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consciousness, then it appears as if the one who „bring it up“ are bringing it into existence. (Ahmed 2011: 162, Hervorheb. i. Orig.)
In vergleichbarer Weise macht Astrid Messerschmidt darauf aufmerksam, dass mit der Thematisierung von Rassismus häufig „nicht die Erscheinung des Rassismus selbst als Skandal in den Blick [tritt], sondern der Hinweis auf diese Erscheinungen als rassistische […] als skandalös diffamiert [wird]“ (Messerschmidt 2010: 42). Sie analysiert vor dem Hintergrund historisch-gesellschaftlicher Entwicklungen wie dem Kolonialismus und dem Nationalsozialismus verschiedene „Distanzierungsmuster“ von Rassismus. Durch diese wird die öffentliche Thematisierung von Rassismus oft in eine Spirale der Behauptungen [übersetzt, Anmerkung I.D.], irgendwie zu Unrecht bezichtigt zu werden auf der Seite derer, die keine rassistischen Diskriminierungserfahrungen machen, während die Rassismuserfahrungen selbst in den Hintergrund rücken. Nach dem Muster einer Opfer-Täter-Umkehr verlagert sich die Aufmerksamkeit von den konkreten Rassismuserfahrungen weg auf die Vorstellung, beschuldigt zu werden. Rassismus selbst erscheint dabei irreal und wird zu einer Bezeichnung für stets unberechtigte Vorwürfe. (ebd.)
Hier zeigt sich, wie in Unterkapitel 1.6 bereits skizziert, wiederum die wirkmächtige cartesianische Unterscheidung zwischen als weiß und männlich imaginierter Ratio als der anzustrebenden Norm und den irrationalen Affekten und Emotionen des rassialisierten und weiblichen Körpers (vgl. Namberger 2013: 135). Während Namberger Rassialisierungsprozesse „als Verringerung (bzw. Erhöhung) der Handlungsfähigkeit oder affektiven Kapazitäten eines Körpers“ (Namberger 2013: 144) definiert, gehe ich darüber hinaus davon aus, dass auch die von Messerschmidt beschriebenen Distanzierungsmuster von Rassismus die Handlungsfähigkeit wie auch das (affektive) Vermögen der von Rassismus Betroffenen behindern und verringern. Denn so erscheinen die mit rassistischen Erfahrungen verbundenen Affekte wie Wut, Scham und Verletztheit als das eigentlich Irrationale, während diejenigen, die des Rassismus beschuldigt werden, ihre Affekte auf die Stufe des vermeintlich Rationalen heben und sich auf diese Weise gegen Kritik immunisieren können. Durch die hier geschilderte Umdrehung erschienen die Motive für den Protest und die mit der Diskriminierungserfahrung verknüpften Verletzungen der protestierenden Mütter als unbegründet. Somit erfuhren sich diese als ohnmächtig und in ihrem Handlungsvermögen eingeschränkt.
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Analog zu Messerschmidts Analyse der Täter-Opfer-Umkehr wurde in den Medien die Darstellung einiger Gruppenanmeldungseltern nach einigen Tagen aufgegriffen und ein Artikel titelte, nun würden sich auch die deutschen Eltern zur Wehr setzen. Diese Eltern konnten sich aus ihrer gesellschaftlich machtvollen Position heraus Gehör verschaffen, indem sie ihre Version des entstandenen Konflikts an die Medien weitertrugen, und erreichten damit eine wirkmächtige Umdrehung und Umdeutung realer Diskriminierungserfahrungen. Während direkt nach Bekanntwerden der getrennten Klassen die Mehrzahl der Zeitungsberichte voraussetze, dass eine ‚Trennung nach Herkunft‘ eine Diskriminierung darstellte, argumentierte einige Tage nachdem der Konflikt ausgebrochen war, die überwiegende Mehrzahl der Zeitungsartikel mit sozialen Faktoren: Wenn auf der einen Seite ‚bildungsferne‘ Schüler*innen mit Verhaltensauffälligkeiten und mangelnden Kenntnissen der deutschen Sprache in derselben Klasse unterrichtet würden, während in anderen Klassen deutsch sprechende Kinder aus ‚bildungsnahen‘ Familien über Gruppenanmeldungen eingeschult würden, sei dies diskriminierend für Erstere. Die Argumentation bezog sich auf eine möglichst ‚ausgewogene‘ Zusammensetzung der Schulklassen und eine ausreichende Anzahl an deutschkompetenten Mitschüler*innen, die laut den späterenZeitungsartikeln im Übrigen ja auch im Interesse der ‚türkischen‘ und ‚arabischen‘ Eltern seien. Die zuvor geäußerte Kritik an der rassistischen Diskriminierung wurde so zum Teil entkräftet und zurückgenommen. Die institutionelle Praxis der Gruppenanmeldungen wurde auf diese Weise legitimiert und die Verantwortung dafür, dass solche Maßnahmen überhaupt notwendig werden, indirekt ‚türkischen‘ und ‚arabischen‘ Familien übertragen, denen generell eine Kooperations- und Leistungsverweigerung hinsichtlich Schule unterstellt wurde. Während also während des Protests gegen die segregierte Klassen verschiedene Medien die Diskriminierung thematisierten, reihte sich die Gegendarstellung der Gruppenanmeldungseltern ein in eine Vielzahl an Medienberichten vor und nach dem Konflikt, die die Vorteile und Chancen betonen, die Gruppenanmeldungen (genauso wie sogenannte Deutsch-Garantie-Klassen) den Schulen, aber auch den ‚migrantischen‘ Schüler*innen vermeintlich böten (Anders 2011; Deggerich 2012; Hecht 2010; Lange/Anders 2009; Klesmann 2016; Köhler 2009; Menke 2009; Schmitz 2012; Vogt 2014a, b). Aussöhnungsversuche von Gruppenanmeldungseltern Der Vater Timo Brandt sah die Effekte, die seine Gruppenanmeldung gehabt hatte, dabei jedoch sehr kritisch. Er versuchte daher, in dem Konflikt zwischen den verschiedenen Elterngruppen zu vermitteln. Er und seine Lebenspartnerin
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suchten das Gespräch mit den protestierenden Müttern, um sich darüber (wieder) gegenseitig annähern zu können: Wo wir das Gefühl hatten: „Ey! Entschleunigung. Mal Durchatmen.“ Und wir persönlich hatten vielmehr das Bedürfnis mit den Menschen, die diese Kritik haben – ne? – mal zu sprechen: „Worum geht’s denn hier eigentlich? Was ist denn da passiert, dass ihr so sauer seid?“ Und nicht jetzt einen sogenannten Gegendruck aufzubauen und genau in dieser Polarisierung noch mit zu laufen. (Interview 1-2012)
Am Beispiel von Timo Brandt zeigt sich, dass die Gruppenanmeldungseltern keineswegs eine homogene Gruppe bildeten. Vielmehr gab es auch innerhalb der Gruppe eine Vielzahl unterschiedlicher Positionen und Perspektiven auf die diskriminierenden Effekte der Gruppenanmeldung. Die „Brüche“, von denen Timo Brandt selbst sprach, möchte ich daher in meiner Darstellung nicht unterschlagen. Dies ist mir gerade auch deshalb wichtig, da ich in diesem wie auch im nachfolgenden Unterkapitel nach möglichen Wegen suche, wie die diskriminierenden Effekte von Gruppenanmeldung thematisierbar gemacht werden können, ohne dieselben Abwehrreaktionen auszulösen wie im hier dargestellten Fall. Parallel zu meinem Verständnis und meiner Empathie für die protestierenden Mütter entwickelte ich also auch in ähnlichem Maß Verständnis für Timo Brandt, Rabea Kraus-Lee und für einige andere Eltern der Gruppenanmeldung. Dies lässt sich damit erklären, dass ich mich von ihren geäußerten und von mir wahrgenommen und nachempfundenen Gefühlen und Empfindungen direkt und unmittelbar affizieren und berühren ließ: Schließlich ging es auch ihnen um den Schutz des eigenen Kindes. Gerade in Bezug auf meine eigenen Affekte war daher im Verlauf meiner Forschung immer wieder meine Selbstreflexivität gefragt, um nicht einseitig und übermäßig großes Verständnis für die kritischen Stimmen in den Gruppenanmeldungen zu entwickeln oder im Gegenteil die Gruppenanmeldungen als Ganzes für die diskriminierenden Effekte ihres Tuns zu verurteilen. Timo Brandt hatte jedenfalls zum Ende des Konflikts den Eindruck, dass die geschlossene Gruppe, als die die Gruppenanmeldungseltern an der Schule gestartet waren, als solche schon lange nicht mehr existierte: Ich habe Botschaften so wahrgenommen, eben aus dieser Gruppe von// also das war zumindestens meine Phantasie von „Entsolidarisierung“, ne? Dass ich jetzt nicht mehr mit denen mitlaufe, so: „Wir“ gegen „Die“ und so, das mache ich halt nicht. (Interview 1-2012)
Timos Brandts Wunsch nach Differenzierung teilten auch einige wenige andere Eltern aus der Gruppenanmeldung, darunter Rabea Kraus-Lee, die auf plastische
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Weise deutlich machte, wie kritisch sie die dichotome Gegenüberstellung der ‚deutschen‘ und der ‚türkischen‘ Eltern sah. In Gesprächen und im Interview hatte sie jedes Mal Anführungszeichen in die Luft gemalt, wenn sie von den so bezeichneten Elterngruppen sprach, um mit dieser Geste ihre Distanzierung von den Begrifflichkeiten zu unterstreichen. Sie wollte den elterlichen Konflikt nach Möglichkeit unter den Erwachsenen ausmachen und ihn so von den eigenen Kindern fernhalten: „Also das, wo ich dann echt auch Angst hatte, dass es sozusagen dieses, genau das, was die Eltern eben machen: ‚Die sind deutsch, die türkisch‘, mit dieser Aufspaltung, dass das sozusagen auf die Kinder übertragen wird.“ Daher kritisierte sie, dass einige der Gruppenanmeldungseltern ihrem Kind den Konflikt mit einem ungleichen Anteil an ‚türkischen‘ und ‚deutschen‘ Kindern begründet hätten. Sie erklärte stattdessen ihrer Tochter die Spannungen zwischen den Eltern damit, die Klassen seien unterschiedlich groß gewesen. Der alleinige Bezug auf die Klassengröße entschuldete auf der einen Seite die rassistisch diskriminierenden Verhältnisse an der Schule, die ja gerade die Praxis der Gruppenanmeldung zu verantworten hatte. Auf der anderen Seite ist eine solche, in gewisser Weise rassistische Ungleichheiten nivellierende oder verschweigende Erklärung aus der Perspektive von Rabea Kraus-Lee auch durchaus verständlich, da damit der Wunsch verbunden ist, bestehende Machtdifferenzen zwischen ‚türkischen‘ und ‚deutschen‘ Eltern nicht weiter zu zementieren bzw. erst gar nicht an die nächste Generation weiterzugeben und auf diese zu „übertragen“ (s. o.). Der Anwalt Carsten Ilius äußerte dagegen wenig Verständnis für die Gruppenanmeldungseltern, die im Nachhinein die Effekte ihres Tuns kritisch sahen und versuchten, Kompromisse und Lösungen zwischen den elterlichen Parteien zu finden. Bei der Mediationsveranstaltung zwischen den ursprünglich zwei im Konflikt stehenden Elterngruppen habe es schon beim ersten Zusammentreffen eine Dreiteilung der ‚Fraktionen‘ gegeben, erinnerte sich Carsten Ilius, der bei der Mediation den „Türkeistämmigen-Block“ unterstützt hatte: Es gab drei Blöcke, wie im Fußballstadion. Mein Block sozusagen war der Türkeistämmigen-Block, ganz klar. Es ging ziemlich riotmäßig und sozusagen laut zu. Der Block direkt neben uns war der sozusagen biodeutsche, germanische Block. Und der Block gegenüber war der Kompromiss-Gutmenschen-Block und der Schlechte-Gewissens-Block, in dem die Argumentation im Durchschnitt so lautete, nach dem Motto: „Ja, irgendwie hm, jaa, haben wir gar nicht so//“ und so weiter. Ne? […] Aber zumindest war den Leuten klar, dass irgendwas nicht gut gelaufen ist. Während der germanische Block darauf beharrte, dass es genau alles so sein soll und dass sie auf keinen Fall bereit wären zu akzeptieren, dass die Klassen gemischt werden. (Interview 1-2014)
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Indem Carsten Ilius also das Schuldbewusstsein der Eltern im „Kompromiss-Gutmenschen-Block und […] Schlechte-Gewissens-Block“ betonte, rückte er die Fehler und Versäumnisse der Gruppenanmeldung, aber auch der Schule in den Fokus. Ich interpretiere seine Aussage dahingehend, dass er von Letzteren einforderte, das Anliegen der protestierenden Eltern ernst zu nehmen und anzuerkennen und erst in einem zweiten Schritt auf eine Schlichtung hinzuarbeiten, ohne dass die beschuldigten Eltern und die Schule dabei Ausreden vorbrächten oder sich in Rechtfertigungen flüchteten. Demgegenüber hob der Vater Timo Brandt als Teil der der Diskriminierung bezichtigten Gruppenanmeldung hervor, dass zumindest einem Teil seiner Gruppe Versöhnung und Ausgleich zwischen den beiden Parteien ein großes Anliegen gewesen sei. Er berichtete, es habe „immer mal so ein paar versöhnliche Redebeiträge“ (Interview 1-2012) gegeben. Verschiedene Eltern hätten versucht, miteinander ins Gespräch zu kommen und sich gegenseitig erst einmal in Ruhe zuzuhören. Dabei habe dies sogar zunächst „viel Widerhall gefunden“, allerdings ohne langfristig wirksam zu sein: „Aber die Polarisierer waren innerhalb von Minuten wieder am Ball und dann ging’s wieder ab, ne?“ (Interview 1-2012). Es lässt sich also feststellen, dass in dieser aufgeladenen Situation keine Annäherung möglich war, auch wenn einzelne Personen dies wünschten. Die hier präsenten und aufeinanderprallenden affektiven Intensitäten wie Wut, Enttäuschung und Verzweiflung waren zu wirkmächtig, um eine (einfache und schnelle) Lösung herbeiführen zu können. Konsequenzen des Konflikts Da die Schulleiterin ebenso wie der Großteil der Gruppenanmeldungseltern ihre Verantwortung für die ‚Klasseneinteilungen nach Herkunft‘ weit von sich wiesen, stellte sich die Auseinandersetzung für die aufbegehrenden Mütter und ihre Kinder letztlich als hochproblematisch heraus. Die Anwältin Maryam Haschemi Yekani erinnerte sich vielmehr, dass die protestierenden Mütter infolge des Konflikts zunehmend „eben sozusagen Probleme mit den Lehrkräften da gehabt und es hat sich auf die Kinder ausgeweitet“ (Interview 6-2013). Aus diesem Grund seien Carsten Ilius zufolge zunehmend die Schüler*innen durch die Lehrkräfte direkt verbal diskriminiert worden: Die Eltern haben ihre Kinder später sämtlichst von der Schule genommen, obwohl an sich ja sie in Anführungsstrichen erfolgreich waren, insoweit, dass wir erreicht haben, dass die Klassen neu gemischt wurden, werden mussten, aber sie sich dann darüber beschwert haben, dass die […] Diskriminierung auf einer so feinen Ebene durch die Lehrer weitergeführt wurde, durch die Lehrer()innen, dass sie den Ein-
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druck hatten, ihre Kinder halten das […] auf der Schule nicht mehr aus, müssen unbedingt die Schule wechseln, weil das unerträglich wird und dann tatsächlich die Schule gewechselt haben. (Interview 1-2014)
Auch durch manche der Eltern aus der Gruppenanmeldung fühlte sich die Mutter Özlem Kaya beleidigt und gemobbt. Einige von ihnen hätten vergrößerte Kopien eines Zeitungsartikels, in dem Özlem Kaya mit ihrem Vorwurf der unrechtmäßigen ‚Segregation nach Herkunft‘ zitiert wurde, im Klassenzimmer und in den Gängen aufgehängt. Özlem Kaya zufolge sei dies v. a. deswegen geschehen, um allen Eltern klar zu machen, wer die ‚Schuldige‘ für die Neuverteilung sei: „Sie wollten mich halt bloßstellen, weil sie dachten, ich hab̓ was Schlimmes gemacht, aber ich hab̓ ja nichts Schlimmes gemacht.“ (Interview 1-2019). Zusammen mit dem Anwalt Carsten Ilius habe sie einen Vormittag lang die Artikel alle wieder nacheinander abgehängt (vgl. Interview 1-2019). Über das Verhalten einiger der Gruppenanmeldungseltern stellte sie fest: Aber da wo wir es geschafft haben die Klasse aufzulösen, waren die Eltern, die deutschen Eltern, noch saurer und haben uns angemacht. Ja, zum Beispiel: „Mein Kind wird nicht mehr gut betreut wegen euch.“ Die haben uns, wie sagt man, halt mit Augen, mit Gesten, mit Sachen gemobbt. (Interview 1-2019).
Für Özlem Kaya und die anderen protestierenden Mütter war die Auseinandersetzung um die ‚Trennung nach Herkunft‘ also nur bedingt erfolgreich, da es deren Kinder aufgrund von subtiler, interaktioneller Diskriminierung durch Lehrkräfte sowie durch die Ablehnung der Gruppenanmeldungseltern an der Narzissen-Grundschule nicht mehr länger aushielten. Als letzter Ausweg kam für diese nur ein Wechsel der Schule in Frage, wobei dies nicht nur die Kinder aus den betreffenden Klassen betraf, sondern, wie bei Özlem Kaya, auch ein Geschwisterkind aus vom Konflikt eigentlich unberührten Klassen. Die Anwältin Maryam Haschemi Yekani begleitete dabei die Eltern, bis diese eine neue Schule für ihre Kinder gefunden hatten und ging mit ihnen auch zum Schulamt, wo über die neuen Schulplätze entschieden wurde. Sie berichtete, diese unterstützte die Eltern bei ihrer Suche nach einer neuen Schule stark: „Und da war dann die Schulbehörde sehr hilfreich beim Schulwechsel. Ja, und das heißt, die sind jetzt auch wirklich an guten Schulen. Also es ist jetzt nicht so, dass die//, ne? Denen wurde dann der Weg in andere Schulen ermöglicht!“ (Interview 6-2013). Nichtsdestotrotz stellte dieser Neubeginn – nicht nur in einer anderen Schulklasse, sondern sogar an einer anderen Schule – keinen einfachen Schritt für die
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betroffenen Familien dar. Özlem Kaya war daher zuerst auch gar nicht begeistert von der Vorstellung, ihre beiden Kinder auf eine andere Schule schicken zu müssen. Letztlich stellte sich der Schulwechsel für ihre Kinder aber als überaus positiv heraus: „Aber die neue Schule, die war so gut, also. Und da habe ich gar nichts von// Und da waren auch türkische Kinder, deutsche Kinder. In jeder Klasse sind Türken, Deutsche, Araber. Kein Problem! Da gibt’s keine Ausländerfeindlichkeit.“ (Interview 1-2019). Der Erfahrung Carsten Ilius zufolge zeige sich, dass immer wieder Lehrkräfte und Schulleitungen „beleidigt reagieren und gewollt oder ungewollt sich das sozusagen auf die Schüler zurückreflektiert.“ (Interview 1-2014). Was der Anwalt hier in ironischer Weise als „beleidigt reagieren“ formulierte, bezeichnet den Umstand, dass sich Lehrkräfte in ihrem Selbstverständnis als alle Schüler*innen gleichermaßen unterstützende Pädagog*innen angegriffen und beschuldigt fühlen. Das Gefühl, missverstanden zu sein, wirkt sich so zu guter Letzt negativ und (rassistisch) diskriminierend auf die Schüler*innen aus. Aufgrund der bestehenden Machtkonstellationen rate er daher in den allermeisten Fällen davon ab, gegen „segregierte Klassen“ vor Gericht zu gehen, da so häufig Fronten aufgebaut würden und Konflikte eine Eigendynamik entwickelten, so Carsten Ilius: Deswegen berate ich tatsächlich oft sehr vorsichtig, was Rechtsschutz angeht. Die meisten Eltern, also der ganz überwiegende Teil der Eltern, die solche Fälle beschreiben, entscheidet letztendlich auch auf keinen Fall Rechtsschutz einlegen zu wollen, wegen der Gefahr, […] die sie befürchten, sach ich jetzt mal so. (Interview 1-2014)
Um dies zu verdeutlichen, berichtete er von einem Vater, dessen Kind eine andere Grundschule in Berlin-Mitte besucht und der bei der Einschulungsfeier des Sohnes festgestellt habe, das Montessori-Konzept, mit dem die Schule wirbt, werde in der überwiegend von Kindern of Color besuchten Klasse seines Sohnes nicht umgesetzt. Zudem werde die Klasse „auch in einem getrennten Schulgebäude unterrichtet, also sozusagen vom Rest// Also es gibt so eine Komplettsegregation.“ (Interview 1-2014). Der Vater habe „sehr offensiv am Anfang“ juristisch gegen diese konzeptionelle und räumliche Ungleichbehandlung vorgehen wollen: Der Vater ist deutschstämmig selbst, also der sich beraten lassen, sehr offensiv: „Wir machen das!“ und so weiter. Nachdem wir zwei, dreimal länger gesprochen haben, haben die sich auch überlegt, lieber// Also ich hatte extrem dazu geraten, zumindest, wenn sie nicht eine große Gruppe zusammen kriegen, das eher vorsichtig zu behandeln. (Interview 1-2014)
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Der Anwalt Ilius sah also lediglich dann eine Möglichkeit auf Erfolg, wenn mehrere Eltern zusammen eine Klage einreichten, wohingegen er sonst meist seinen Mandant*innen von Klagen abraten müsse. Der betreffende Vater aus Berlin-Mitte entschied so zu guter Letzt, sich still zu verhalten, um im übertragenen Sinne keine schlafenden Hunde zu wecken. Der Nachweis der institutionellen Diskriminierung wäre in diesem Fall auch nur schwer zu erbringen gewesen, denn die Schulen argumentieren häufig mit schulorganisatorischen Notwendigkeiten für die räumliche Segregation von Schulklassen (vgl. auch Unterkapitel 7.4). Für die von Diskriminierung betroffenen Eltern entsteht somit eine schier unlösbare Situation. Sie müssen sich entscheiden, entweder die institutionelle Diskriminierung öffentlich zu machen und damit zu riskieren, dass ihre Kinder dadurch verstärkt direkter Diskriminierung durch Lehrkräfte ausgesetzt sein können oder sie akzeptieren die institutionelle Diskriminierung und versuchen so ihr Kind vor direkter interaktioneller Diskriminierung zu schützen. Das Handeln ist angesichts schulischer Diskriminierung für Eltern somit durchweg prekär, da die Leidtragenden (zumindest potenziell) immer die Kinder sind. Die Befürchtung, das eigene Kind könne durch das Aufbegehren gegen Diskriminierung zu Schaden kommen, schränkt auf diese Weise potenzielle Widerständigkeit und Protest ein, kurz: die acts of citizenship. Es handelt sich dabei um Begrenzungen, die zugleich auch die notwendige Bedingung für mögliches weiteres Aufbegehren und weitere acts of citizenship darstellen. Denn schließlich sind es gerade die begrenzenden und einschränkenden Strukturen, die immer wieder von Neuem Widerständigkeit und Protest im Sinne von acts of citizenhip hervorrufen.
8.2.5 Wie Diskriminierungsroutinen durchbrechen? Wie die hier skizzierte Dilemmasituation für die von Diskriminierung in segregierten Klassen betroffenen Eltern durchbrochen werden kann, soll nun abschließend näher betrachtet werden. Die zentrale Frage dabei ist, wie Lehrkräfte und Schulleitungen dafür sensibilisiert werden können, Verantwortung für diskriminierende Verhältnisse im Bildungsraum Schule sowie für deren Veränderung zu übernehmen. In diesem Zusammenhang setzen sich die Anwält*innen Maryam Haschemi Yekani und Carsten Ilius als Teil des seit dem Jahr 2013 bestehenden Berliner Netzwerk gegen Diskriminierung in Schule und Kita (BeNeDisk) dafür ein, dass eine – berlinweit tätige und mit weit gefassten Befugnissen ausgestattete – unabhängige Informations- und Beschwerdestelle
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gegen Diskriminierung an Schulen eingerichtet wird. So sollen Interventionsmöglichkeiten gestärkt werden, die auf Seiten von potenziell diskriminierungsausübenden Personen oder Institutionen einen fehlerfreundlichen Umgang mit dem Thema Diskriminierung und Anreize zur (institutionellen) Selbstreflexion (vgl. Center for Migration, Education and Cultural Studies 2016) etablieren. Zwar existieren in Berlin bereits seit etlichen Jahren verschiedene Anlaufund Beratungsstellen gegen (rassistische) Diskriminierung im Schulkontext, die Informations- und Beratungsgespräche sowie rechtliche Beratung anbieten und Betroffene in Gerichtsverfahren juristisch unterstützen.17 Sie haben allerdings keine erweiterten Befugnisse wie bspw. Anspruch auf Auskunft und Stellungnahmen. Das Netzwerk BeNeDisk setzt sich demgegenüber dafür ein, dass eine unabhängige Beschwerdestelle auf Landesebene geschaffen und zudem auf gesetzlicher Ebene das Verfahren der Beschwerdeführung sowie Beteiligungsund Handlungsmöglichkeiten der Beschwerdestelle grundsätzlich festgelegt werden (vgl. BeNeDisk 2016: 15). Die von BeNeDisk geforderte Informations- und Beschwerdestelle soll einen horizontalen Ansatz verfolgen, unabhängig und weisungsungebunden agieren und lösungsorientiert arbeiten (vgl. BeNeDisk o. J.). Außerdem begleitet sie die Beschwerdeführenden während des gesamten laufenden Prozesses und möchte so lange wie möglich gewährleisten, dass diese anonym bleiben. Wird festgestellt, dass eine Diskriminierung vorliegt, so soll die Beschwerdestelle den zuständigen Stellen (Schul- oder Kitaleitung, Arbeitgeber*in) Vorschläge für Maßnahmen und Sanktionen machen können, wozu Gespräche zwischen den Beteiligten, verbindliche Fortbildungen für Pädagog*innen und allgemein das „Hinwirken auf angemessene Vorkehrungen“ (BeNeDisk 2016: 13 und 18) gehören. Carsten Ilius zufolge wäre eine solche unabhängige Beschwerdestelle im Falle von nach ‚Herkunft getrennten Klassen‘ überaus sinnvoll, um an der Institution
17Dazu
gehören u. a. das Antidiskriminierungsnetzwerk Berlin des Türkischen Bundes Berlin (ADNB); eine von der Fachstelle Kinderwelten für vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung organisierte Anlauf- und Beratungsstelle für Diskriminierungsfälle, die Kinder von 0 bis 12 Jahren betreffen (KiDs); die Jugendorganisation von Roma und Nicht-Roma Amaro Foro e. V. sowie die Anlaufstelle für Diskriminierungsschutz an Schulen (ADAS) als einem Modellprojekt mit einer Laufzeit von 2015–2020. Zudem ist seit September 2016 in der Senatsbildungsverwaltung eine eigene Antidiskriminierungsbeauftragte für Schulen tätig. Bis zum Sommer 2019 hatte Saraya Gomis, Lehrerin und Mitglied bei BeNeDisk, diese Position inne. Nach internen Konflikten und einer Vielzahl an Anfeindungen wurde im August 2019 Dervis Hızarcı, Mitglied bei der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus, ihr Nachfolger (Migrationsrat Berlin e. V. 2019).
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Schule anzusetzen und einerseits Lehrende zu sensibilisieren, andererseits betroffene Eltern (und deren Kinder) in einer Beschwerde zu bestärken: Beschwerdeinstitutionen, die möglicherweise erst mal eine Schweigeverpflichtung haben nach außen, auch der Schule gegenüber, solche Sachverhalte untersuchen könnten, ohne dass groß öffentliches Aufsehen erregt wird, möglicherweise solche Konflikte anders moderieren könnten, […] möglicherweise mit eigenen Kompetenzen ausgestattet, einen anderen Druck auf Lehrer und Schulinstitutionen ausüben könnten, Dinge zu verändern. Und durch diese besondere Machtposition in der Schule und gleichzeitig durch die besondere Vertrauensstellung […] das die Hemmschwelle für Eltern wesentlich verringern würde sich letztendlich zu beschweren. (Interview 1-2014)
Eine unabhängige Beschwerdestelle könnte also gerade deshalb wirkungsvoll sein, weil Konflikte um schulische Diskriminierungsroutinen zumeist hochgradig affektiv-emotional aufgeladen sind. Mit einer solchen Beschwerdestelle könnten schulische Konflikte von ‚außen‘ moderiert und für alle Beteiligten lösungsorientiert Vorschläge entwickelt werden, ohne das normative Moment des Fehlers, des Versagens und der Schuld ins Zentrum zu rücken, denn „Schuldgefühle lähmen oder [können] Vermeidungs- und Verdrängungsmechanismen provozieren“ (Pech 2006: 85). So kommt auch Messerschmidt zu dem Schluss, dass eine „individualisierende Konzeption von ‚Schuld‘ […] häufig die strukturell zu verstehende Konzeption von Verantwortung [überlagert] und […] Abwehr [erzeugt]“ (Messerschmidt 2010: 44). In Bezug auf Gruppenanmeldungseltern, die aus ihrer Sicht nur zum Besten ihres Kindes handeln, ist eine vergleichbare Sensibilisierung im Nachklang eines Konflikts vermutlich um Einiges schwieriger zu realisieren. Eine solche Sensibilisierung stellte daher auch für eine unabhängige Beschwerdestelle eine noch größere Herausforderung dar. Die Verletztheit der rassistisch diskriminierten Familien in den nach ‚Herkunft getrennten Klassen‘ könnten diese Eltern meines Erachtens nur unter der Voraussetzung anerkennen, dass sie Rassismus als ein gesellschaftliches Verhältnis begreifen, das die Würde und Integrität aller Beteiligten angreift (vgl. Morrison 1995: 74). Dies setzte voraus, das eigene Involviertsein in rassistische Verhältnisse anzuerkennen, um eine herrschaftskritische Auseinandersetzung mit diesen anzustoßen (vgl. Messerschmidt 2010: 44). Dann würde „deutlich […], dass es sich um ein gemeinsames Problem handelt, das allerdings sehr unterschiedlich erlebt werden kann – je nachdem, welche Machtposition ich einnehme und welche Privilegien ich genieße und je nachdem, welche Machtressourcen mir verwehrt werden“ (ebd.).
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Nur unter diesen Voraussetzungen ließen sich die potenziell diskriminierenden Gruppenanmeldungseltern von den Affekten und Emotionen – Wut, Empörung, Begehren nach anderen Existenzbedingungen – der diskriminierten Eltern affizieren, ohne sich dabei zugleich selbst angegriffen und zu Unrecht des Rassismus beschuldigt zu fühlen, oder diese Affekte als Zeichen von Unsachlichkeit oder Übertreibung zu werten. Unter diesen Voraussetzungen könnten Affekte „als transversale Phänomene der Erzeugung von Konnektivität und Kollektivität zwischen Akteur*innen“ (Pieper 2016: 93) wirksam werden und hierüber ihr Potenzial als „Fluchtlinien“ entfalten, die über die Restriktionen und Zumutungen bestehender rassistischer Diskriminierungsroutinen hinausweisen (vgl. ebd.: 106).
Leerstellen und Ausblicke: Ein Fazit
Vor dem Hintergrund der bisherigen Analysen der (potenziell) rassistisch und (mehrfach-)diskriminierenden Dynamiken im Übergang von der Kita zur Grundschule in Berlin – und insbesondere in den Teilbezirken Nord-Neukölln und Kreuzberg – werden nun noch einmal die zentralen Ergebnisse dieser Arbeit zusammengetragen und die Bezüge und Wechselwirkungen zwischen den einzelnen neuralgischen Punkten herausgearbeitet. Denn auch wenn keine direkten, kausalen Verbindungen zwischen den einzelnen Aushandlungszonen im Übergangsbereich von der Kita zur Grundschule existieren, so lässt sich doch im Ganzen ein Zusammenspiel der verschiedenen Mechanismen und Dynamiken – den „Assemblagen des Rassismus“ (Tsianos/Pieper 2011) – auf unterschiedlichen Ebenen festhalten. In diesem Sinne stellten individuelle, diskursive, juridische und institutionelle Praktiken die untersuchten neuralgischen Punkte des Übergangs von der Kita zur Grundschule dar. Nichtsdestotrotz lag der Schwerpunkt der Studie auf den Praktiken und Diskursen pädagogischer Fachkräfte, Lehrer*innen, Schulleitungen und (mehrheitlich bildungsprivilegierter) Eltern. Bedingt durch sowohl forschungspraktische Überlegungen, meine eigene Subjektivität und meinen situierten Blick als auch durch die gewählte Forschungsperspektive und -praxis, entstanden auf diese Weise von meiner Forschung nicht beleuchtete Leerstellen (vgl. Riedner 2018: 51). Im Folgenden soll auch auf einige dieser nicht erfassten Aspekte des Übergangs von der Kita zur Grundschule kurz verwiesen werden. Als den Übergangsbereich rahmend hat sich (Neo-)Linguizismus herausgestellt, denn schließlich sind sowohl Praktiken der Sprachförderung und der Sprachstandserhebung in der Kita als auch die Zuordnung zur Kategorie „nichtdeutsche Herkunftssprache“ in den Schulsekretariaten im Zuge der Einschulung sowie nicht zuletzt die Verteilung von Schüler*innen anhand des
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 I. Dean, Bildung – Heterogenität – Sprache, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30856-8
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Leerstellen und Ausblicke: Ein Fazit
Kriteriums der Herkunftssprache in der Schule geprägt von (neo-)linguizistischen Sprachregimen. An diesen Sprachregimen wirken vielfach auch pädagogische Fachkräfte und Lehrer*innen mit, deren Zielsetzung eigentlich gerade die Verringerung sprachbezogener Diskriminierung und die Anerkennung sprachlicher und ‚kultureller‘ Diversität darstellt. Diese Sprachregime werden jedoch auch beständig durch widerständige, pädagogische ebenso wie alltägliche Praktiken herausgefordert und unterlaufen, wie ich am Beispiel der Erzieherin Sevda Yılmaz an der Ahorn-Grundschule in Kreuzberg aufgezeigt habe. Während in den letzten Jahren zunehmend die Chancen und Potenziale von Mehrsprachigkeit betont und diesbezügliche Initiativen im Schulkontext von verschiedenen (unternehmensverbundenen) Stiftungen gefördert werden, verschiebt sich jedoch parallel dazu die Zielsetzung, nicht deutschkompetenten Kindern gute Sprachkenntnisse des Deutschen zu vermitteln, auf den Elementarbereich als einer der Schule zeitlich vorgelagerten Institution. Die (An-)Forderung an Erzieher*innen, alle Kinder mit guten Deutschkenntnissen in die Schule zu entlassen, habe ich anhand einer konkreten pädagogischen Institution – der Kreuzberger Primel-Kita – nachgezeichnet. Die in der Kita tätigen pädagogischen Fachkräfte zeigten dabei zum Teil eine kulturalisierende Betrachtung von Migrationsanderen, die sich zu einem guten Teil auf den – in der Konzeption der Kita formulierten – Ansatz der „Interkulturellen Erziehung“ zurückführen lässt. Besonders im Bereich der Sprachförderung des Deutschen und zum Teil auch bei der Sprachstandserhebung bestanden zudem defizitorientierte Annahmen der „Ausländerpädagogik“ weiter. Mit und in ihren konkreten pädagogischen Praktiken (re-)produzierten die pädagogischen Fachkräfte allerdings nicht nur gesellschaftlich machtvolle Differenz- und Dominanzverhältnisse, sondern hinterfragten diese parallel dazu auch immer wieder. In Bezug auf die Rahmenbedingungen der pädagogischen Arbeit im Elementarbereich lässt sich in Berlin im Vergleich zum bundesdeutschen Durchschnitt feststellen, dass der Personalschlüssel in öffentlichen Kitas relativ eng bemessen und die Stundenanzahl für die mittelbare pädagogische Arbeit mit einer Stunde pro Woche niedrig angesetzt ist (vgl. Bertelsmann-Stiftung 2017). Der Aspekt der Arbeitsentlastung stellte daher ein zentrales Moment für die pädagogischen Fachkräfte der Primel-Kita dar. Die Erzieherinnen befragten die Zusammensetzung von Lerngruppen weniger auf den mit der angestrebten Heterogenität verbundenen normativen Gehalt hin, sondern vielmehr hinsichtlich deren Effekte für ein gutes Lern- und Entwicklungsklima für die Kinder und eine Arbeitsentlastung durch eine, hinsichtlich verschiedener Heterogenitätsmerkmale ‚stimmige‘, Gruppenzusammensetzung. Auch im Schulkontext war der Aspekt der Erleichterung der eigenen Arbeit zentral. Der Abbau einer ‚Trennung nach
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Herkunft‘ oder die Vermeidung einer solchen seitens Schulleitungen realisierte sich daher nur zum Teil als bewusste Entscheidung für eine diskriminierungskritische Schulentwicklung, zum Teil stellte sie auch einen Nebeneffekt des übergeordneten Ziels dar, die pädagogische Arbeit zu erleichtern. Im Zusammenhang mit der gestiegenen Output- und Performanzsteuerung von Schule hat sich der Wettbewerb zwischen Einzelschulen verstärkt. Dies befördert zum Teil Segregationslogiken, bspw. im Kontext der Zuordnung zur Kategorie „nichtdeutscher Herkunftssprache“. Die Kategorisierung als „ndH“ kann hierbei seitens Schulleitungen und Sekretariats-Mitarbeiter*innen sehr flexibel interpretiert werden. In der Konsequenz werden über die schulische Zuordnungspraxis zu „ndH“ Differenzen zwischen einzelnen Schüler*innen hergestellt. Diese legitimieren Diskriminierung, ohne dass dabei rassistische Argumentationen zum Tragen kommen müssen (vgl. Pieper/Panagiotidis/Tsianos 2011: 195). Vielmehr erscheinen die damit verbundenen Verfahren und Zuschreibungen als angemessen und ‚wertneutral‘ (vgl. Gomolla/Radtke 2009: 50). Aus der Analyse der verschiedenen (rassistisch) diskriminierenden und segregierenden Praktiken in der Institution Schule wird deutlich, dass diese kein durchgehendes Organisationsprinzip darstellen. Auch auf der Ebene der Verwaltung würden sich vermutlich vergleichbare Befunde ergeben. Jedoch habe ich in meiner Studie die Bildungsverwaltung in Berlin nicht in den Blick genommen. Dieses Desiderat zu verringern, bleibt Aufgabe weiterer Studien, die sich mit dem Zusammenwirken verschiedener Diskriminierungsdimensionen auf institutioneller und individueller Ebene im Kontext von Kita und Grundschule beschäftigen. Um das Zusammenspiel von institutionellen und individuellen Faktoren zu greifen, habe ich dagegen auch die Perspektiven schulwahlambitionierter Eltern, deren Kind vor der Einschulung steht, mit einbezogen. Die sich überwiegend als links oder linksliberal verstehenden Eltern aus dem Umfeld der Primel-Kita nahmen dabei die migrationsgesellschaftliche Realität ihres Wohnumfelds zumeist sehr positiv wahr. Je nach ihrer Positioniertheit hinsichtlich Rassismus konzeptionalisierten sie ihr heterogenes Wohnumfeld als ‚Bereicherung‘ oder als Schutz vor Rassismuserfahrungen. Erst wenn es um den Schuleintritt des Kindes ging, wandelte sich die überwiegend positive Wahrnehmung des heterogenen Umfeldes bei allen aktiv Schulwahl praktizierenden Eltern. Sie koppelten die Dimensionen Mehrsprachigkeit, Klassenzugehörigkeit und Schulleistung miteinander und sprachen diesem Konglomerat eine zentrale Bedeutung für die Qualität von Schule zu. Als notwendig erachteten sie dabei vielfach, eine andere Grundschule für ihr Kind zu wählen als die ihnen eigentlich zugeordnete Schule im Einzugsgebiet. Sorgfältig abgewogene Schulwahlentscheidungen erschienen somit
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für viele, insbesondere mittelschichtsorientierte Familien vor dem Hintergrund eines gestiegenen Bildungsdrucks respektive einer zunehmenden „Bildungspanik“ (Bude 2011) nunmehr selbstverständlich oder vielmehr fast schon unumgänglich (vgl. Forsey 2008: 76). Zur Ablehnung (nahegelegener) Kiezschulen mit einem hohen Anteil an Kindern, die der Kategorie „ndH“ zugeordnet sind und häufig aus sozial benachteiligten Familien stammen, tragen im Kontext Berlins zudem maßgeblich die in den letzten Jahren intensiv geführten Debatten um ausufernde Gewalt auf dem Schulhof bei. Angestoßen und angetrieben durch den früheren Bezirksbürgermeister von Neukölln, Heinz Buschkowski (SPD), war ihr zentrales Moment das Bild überforderter und resignierter Lehrkräfte, denen gewalttätige und aggressive ‚türkische‘ und ‚arabische‘ Jugendliche gegenüberstehen (vgl. Friedrich 2017: 122). Während vielfach schulwahlambitionierte Eltern die nahegelegene Grundschule in ihrem Einzugsgebiet mit einem schlechten Ruf meiden wollten, existiert parallel dazu an einigen solcher Einzugsgebietsschulen die Option der Gruppenanmeldung, also der gemeinsamen Einschulung einer Gruppe von Kindern. Die Gruppe von ‚Gleichgesinnten‘, mit denen diese Eltern ihre Kinder an die Einzugsgebietsschule schicken, bietet ihnen auf affektiver Ebene Rückhalt und ein zentrales Schutzgefühl. Initiiert wurden dabei einige Gruppenanmeldungen in den letzten Jahren durch schulische Akteur*innen, die sich im lokalen Quartiersmanagement zusammenfanden. In diesem Sinne knüpfen Gruppenanmeldungen an Formen des lokalen Bürgerengagements an, wie sie auch vom Quartiersmanagement im Zuge der Implementierung des Soziale-Stadt-Programms ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre maßgeblich befördert wurden. Insofern sich in den elterlichen Zusammenschlüssen in Gruppenanmeldungen ein „Regieren durch Community“ (Rose/Nikolas 2012: 88; vgl. Rose 2000: 332– 337) realisiert, werden hier Vorstellungen von Gemeinschaft aufgerufen, die auf Eigenverantwortung und den Rückgriff auf persönliche Loyalitätsbeziehungen im eigenen Lokalraum basieren. Viele der Eltern – und besonders die Mütter aus den Gruppenanmeldungen – verstanden es in diesem Sinne als eine Art Gemeinwohlorientierung, wenn sie ihr Kind an einer ‚Problemschule‘ anmeldeten und dort durch die Anwesenheit ihres Kindes zu einer stärkeren ‚Durchmischung‘ beitragen wollten. Auf der Mikroebene der Gruppenanmeldungen zeigten sich hier neokoloniale Bezüge im Sinne eines „white (wo)man’s burden“ (Kipling 1998: 311 f.). Viele der hinsichtlich Bildungskapitalien privilegierten Mütter nahmen es als ihre Aufgabe und Verpflichtung wahr, insbesondere den ‚türkischen‘ und ‚arabischen‘ Kindern das gleichermaßen von der Institution Schule als auch von ihnen als relevant erachtete Wissen zu vermitteln.
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In diesem Zusammenhang bestand ein weiteres Desiderat meiner Forschung darin, nicht explizit die Motive von Eltern erfasst zu haben, die ganz selbstverständlich die ihnen zugewiesene Grundschule mit einem hohen „ndH“-Anteil wählen (vgl. Karakayalı/zur Nieden 2013: 68). Auf diese Weise wird das Phänomen der Schulwahl nur sehr einseitig beforscht (vgl. ebd.; Karakayalı/zur Nieden 2014: 79). Hier können bereits existierende Studien zu den Perspektiven von Bewohner*innen marginalisierter Stadtteile (vgl. bspw. Geisen/Riegel/Yıldız 2017) mögliche Ansatzpunkte für weitere Forschungen zu den Schulwahlmotiven benachteiligter Eltern bieten. Im Zuge der Etablierung von Gruppenanmeldungen kam es in den vergangenen Jahren an einigen Schulen zu Konflikten und Auseinandersetzungen um die Zusammensetzung von Schulklassen. An einer Grundschule in Kreuzberg warfen dabei Eltern, die nicht Teil einer Gruppenanmeldung waren, der Schule vor, nach ‚Herkunft segregierte Klassen‘ eingerichtet zu haben. Diese Eltern trugen ihre Wut über die bestehende Benachteiligung ihrer Kinder aktiv auf die Straße und drückten so ihre Hoffnung auf Änderung der bestehenden Verhältnisse aus. Ein weiterer von mir dargestellter Konflikt bezog sich auf schulischerseits anerkanntes Elternengagement, der zwischen zwei Elterngruppen an der Rosen-Grundschule ausbrach. In diesen beiden Konflikten sowie auch insgesamt in der vorliegenden Studie haben umkämpfte migrationsgesellschaftliche Machtverhältnisse den zentralen Analysefokus dargestellt. Vor diesem Hintergrund war die Studie stark beeinflusst von einer rassismuskritischen Herangehensweise. Insofern auch nach möglichen Wegen gefragt wurde, wie diskriminierende Verhältnisse im Kontext von Schule zum Thema gemacht werden können, bieten sich in meiner Arbeit Anknüpfungspunkte für eine diversitätssensible und diskriminierungskritische Schulentwicklung in der Migrationsgesellschaft, wie sie in den letzten Jahren in verschiedenen Teildisziplinen der Erziehungswissenschaft entwickelt wurde. Die diesbezüglichen Studien, Projektevaluationen und Konzepte legen ihren Fokus auf verschiedene Aspekte einer diskriminierungskritischen Schulentwicklung, bspw. auf Mehrsprachigkeit im Unterricht (vgl. Huxel 2019), auf das Lehramtsstudium (vgl. Putjata 2019) oder auf Fortbildungen für Lehrkräfte (vgl. Gomolla/Schwendosius/Kollender 2016; Gomolla 2019), auf den Zusammenhang von sozialräumlicher Lage und Schulentwicklungsprozessen (vgl. Huxel/ Fürstenau 2017), auf Strukturen der Bildung bzw. der Bildungspolitik (vgl. Karakaşoğlu/Gruhn/Wojciechowicz 2011), auf Bildungsmaterialien und Schulbücher (vgl. Niehaus u. a. 2015) oder auch auf die schulische Einbindung neu zugewanderter Kinder und Jugendlicher als Aufgabe von Schulentwicklung in der
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Migrationsgesellschaft (vgl. Terhart/Massumi/von Dewitz 2017). Auch wenn die vorliegende Studie nur einige weniger dieser verschiedenen Aspekte fokussiert hat, so hoffe ich doch, mit dem Fokus auf netzwerkartige Verbindungen im Sinne von Assemblagen und der ethnografischen Herangehensweise anregend für weitere Arbeiten im Feld der diskriminierungskritischen Schulentwicklung im weitesten Sinne wirken kann. Dies nicht zuletzt, da die vorliegende Studie einen Beitrag dazu leisten möchte, der Vision der Schule – sowie im Besonderen des Übergangs von der Kita zur Grundschule – als einem möglichst diskriminierungsarmen Bildungssetting ein Stück näher zu kommen.
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