Politik und Sprache: Handlungsfelder politischer Bildung [1. Aufl.] 9783658303044, 9783658303051

Sprache spielt im Hinblick auf politisches Handeln eine sehr bedeutsame Rolle. Die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis

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German Pages VIII, 237 [240] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-VIII
Einführung (Ingo Juchler)....Pages 1-5
Wandel politischer Kommunikation und politischer Kultur in der digitalen Gesellschaft. Strategien der Politikdidaktik (Carl Deichmann)....Pages 7-22
Politik und Sprache – Anmerkungen zum Verständnis von Handeln und Sprechen bei Hannah Arendt (Waltraud Meints-Stender)....Pages 23-30
Drohender Untergang? Rechtspopulismus, Krisenrhetorik und (Film-)Sprache im Dokumentarfilm „Montags in Dresden“ (Tanja Seider)....Pages 31-46
Sprache als Experiment oder: „Hört endlich auf, über Demokratie zu sprechen!“ (Werner Friedrichs)....Pages 47-62
Ansatz zur Rekonstruktion textlich gebundener Emotionalität (ARtE) (Hendrik Schröder)....Pages 63-78
Mehrsprachige politischen Bildung: Der bilinguale Unterricht als didaktischer Ansatz zur Legitimation emotionaler Argumente (Subin Nijhawan)....Pages 79-93
„Appell an die Vernunft“ – die „Unmacht“ des Intellektuellen unter den Bedingungen gesellschaftlicher Spaltung (Thomas Goll)....Pages 95-108
Sprachbildung im Fach Politische Bildung – Ein unbespieltes Feld? (Julia Neuhof, Luisa Girnus)....Pages 109-121
Henrik Ibsens Volksfeind – Politisches Theater in postfaktischen Zeiten (Ingo Juchler)....Pages 123-137
Empirische Analysen zur politischen Fachsprache in Schulbüchern – ein Trendbericht (Georg Weißeno, Anke Götzmann)....Pages 139-153
political framing – Alter Wein in neuen Schläuchen oder echtes Novum? (Marc Partetzke)....Pages 155-170
Politisches Framing — sprachbezogene Kompetenzentwicklung im Politikunterricht (Max Droll)....Pages 171-180
Die Arbeit an Grundrechten im Politikunterricht. Grundrechtstheoretische und politikdidaktische Überlegungen mit Fallbezug (Christian Fischer)....Pages 181-194
Worüber sprechen wir eigentlich? Zur Explizität von Legitimationsargumenten in politischen Lehr-Lernarrangements (Luisa Girnus)....Pages 195-207
Konfliktlösende Räume in Schulbüchern (Andreas Kegel)....Pages 209-222
Empörend, verstörend, verwerflich – Zur Genese und Anatomie des politischen Skandals in der repräsentativen Demokratie und seine Relevanz für die (schulische) politische Bildung (Sabine Kehr, Frank Schiefer)....Pages 223-237
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Politik und Sprache: Handlungsfelder politischer Bildung [1. Aufl.]
 9783658303044, 9783658303051

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Politische Bildung

Ingo Juchler Hrsg.

Politik und Sprache Handlungsfelder politischer Bildung

Politische Bildung Reihe herausgegeben von Carl Deichmann, Institut für Politikwissenschaft, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena, Thüringen, Deutschland Ingo Juchler, Lehrstuhl für Politische Bildung, Universität Potsdam, Potsdam, Brandenburg, Deutschland

Die Reihe Politische Bildung vermittelt zwischen den vielfältigen Gegenständen des Politischen und der Auseinandersetzung mit diesen Gegenständen in politischen Bildungsprozessen an Schulen, außerschulischen Einrichtungen und Hochschulen. Deshalb werden theoretische Grundlagen, empirische Studien und handlungsanleitende Konzeptionen zur politischen Bildung vorgestellt, um unterschiedliche Zugänge und Sichtweisen zu Theorie und Praxis politischer Bildung aufzuzeigen und zur Diskussion zu stellen. Die Reihe Politische Bildung wendet sich an Studierende, Referendare und Lehrende der schulischen und außerschulischen politischen Bildung.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/13420

Ingo Juchler (Hrsg.)

Politik und Sprache Handlungsfelder politischer Bildung

Hrsg. Ingo Juchler Lehrstuhl für Politische Bildung Universität Potsdam Potsdam, Brandenburg, Deutschland

ISSN 2570-2114 ISSN 2570-2122  (electronic) Politische Bildung ISBN 978-3-658-30304-4 ISBN 978-3-658-30305-1  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30305-1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Jan Treibel Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhaltsverzeichnis

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Ingo Juchler Wandel politischer Kommunikation und politischer Kultur in der digitalen Gesellschaft. Strategien der Politikdidaktik . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Carl Deichmann Politik und Sprache – Anmerkungen zum Verständnis von Handeln und Sprechen bei Hannah Arendt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Waltraud Meints-Stender Drohender Untergang? Rechtspopulismus, Krisenrhetorik und (Film-)Sprache im Dokumentarfilm „Montags in Dresden“ . . . . . . . . . . . 31 Tanja Seider Sprache als Experiment oder: „Hört endlich auf, über Demokratie zu sprechen!“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Werner Friedrichs Ansatz zur Rekonstruktion textlich gebundener Emotionalität (ARtE). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Hendrik Schröder Mehrsprachige politischen Bildung: Der bilinguale Unterricht als didaktischer Ansatz zur Legitimation emotionaler Argumente . . . . . . . . 79 Subin Nijhawan „Appell an die Vernunft“ – die „Unmacht“ des Intellektuellen unter den Bedingungen gesellschaftlicher Spaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Thomas Goll V

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Inhaltsverzeichnis

Sprachbildung im Fach Politische Bildung – Ein unbespieltes Feld? . . . . 109 Julia Neuhof und Luisa Girnus Henrik Ibsens Volksfeind – Politisches Theater in postfaktischen Zeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Ingo Juchler Empirische Analysen zur politischen Fachsprache in Schulbüchern – ein Trendbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Georg Weißeno und Anke Götzmann political framing – Alter Wein in neuen Schläuchen oder echtes Novum? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Marc Partetzke Politisches Framing — sprachbezogene Kompetenzentwicklung im Politikunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Max Droll Die Arbeit an Grundrechten im Politikunterricht. Grundrechtstheoretische und politikdidaktische Überlegungen mit Fallbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Christian Fischer Worüber sprechen wir eigentlich? Zur Explizität von Legitimationsargumenten in politischen Lehr-Lernarrangements . . . . . . 195 Luisa Girnus Konfliktlösende Räume in Schulbüchern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Andreas Kegel Empörend, verstörend, verwerflich – Zur Genese und Anatomie des politischen Skandals in der repräsentativen Demokratie und seine Relevanz für die (schulische) politische Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Sabine Kehr und Frank Schiefer

Über die Autoren

Prof. em. Dr. Carl Deichmann Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena, Deutschland Max Droll  Universität Potsdam, Potsdam, Deutschland Dr. Christian Fischer  Universität Erfurt, Erfurt, Deutschland Dr. Werner Friedrichs  Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Bamberg, Deutschland Dr. Luisa Girnus  Universität Potsdam, Potsdam, Deutschland Prof. Dr. Thomas Goll  Technische Universität Dortmund, Dortmund, Deutschland Dr. Anke Götzmann  Pädagogische Hochschule Karlsruhe, Karlsruhe, Deutschland Prof. Dr. Ingo Juchler  Universität Potsdam, Potsdam, Deutschland Dr. Andreas Kegel  Kurt-Körber-Gymnasium Hamburg, Hamburg, Deutschland Sabine Kehr  Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Würzburg, Deutschland Prof. Dr. Waltraud Meints-Stender Hochschule Niederrhein, Mönchengladbach, Deutschland Dr. Julia Neuhof  Universität Bremen, Bremen, DeutschlandUniversität Bremen, Bremen, Deutschland Subin Nijhawan  Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt, Deutschland Prof. Dr. Marc Partetzke Stiftung Universität Hildesheim, Hildesheim, Deutschland

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Über die Autoren

Dr. Frank Schiefer Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Würzburg, Deutschland Dr. Hendrik Schröder  Universität Bremen, Bremen, Deutschland Dr. Tanja Seider  Universität Augsburg, Augsburg, Deutschland Prof. em. Dr. Georg Weißeno  Pädagogische Hochschule Karlsruhe, Karlsruhe, Deutschland

Einführung Ingo Juchler

Politisches Handeln steht in unmittelbarem Zusammenhang mit Sprache. Sprache ist sowohl Werkzeug als auch Gegenstand von Politik. Bereits die antiken Klassiker waren sich der besonderen Rolle von Sprache in der Politik bewusst und haben sich mit der politischen Rhetorik, mit politischen Reden, auseinandergesetzt. Auch heute spielt Sprache im Hinblick auf politisches Handeln eine ganz besondere und bedeutsame Rolle. Die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Politik und Sprache erscheint umso notwendiger, als dieses Verhältnis in der gegenwärtigen Politikdidaktik ein Schattendasein fristet. Auch in den einschlägigen Nachschlagewerken und Handbüchern findet zu diesem Verhältnis keine grundsätzliche Auseinandersetzung statt. Der schulischen politischen Bildung kommt die Aufgabe zu, Schülerinnen und Schüler zu einem Umgang mit der politischen Sprache zu befähigen, der ihnen eine reflektierte Auseinandersetzung mit den in der Debatte stehenden politischen Gegenständen ermöglicht – auch und gerade vor dem Hintergrund der Zunahme populistischer Darstellungen, „alternativer Fakten“ und Lügen in der Politik. Vor diesem Hintergrund reflektierte die Arbeitsgruppe Hermeneutische Politikdidaktik der GPJE bei ihrer siebten Jahrestagung am 5. und 6. April 2019 an der Universität Potsdam das Verhältnis von Sprache und Politik. Dabei wurde deutlich, wie weit dieses thematische Feld ausgreift und mit welch unterschiedlichen Zugängen sich den infrage stehenden Untersuchungsgegenständen genähert werden kann. Mit der vorliegenden Publikation liegt ein erster Aufschlag vor, der I. Juchler (*)  Universität Potsdam, Potsdam, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Juchler (Hrsg.), Politik und Sprache, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30305-1_1

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I. Juchler

das Spektrum des Verhältnisses von Politik und Sprache im Kontext der Handlungsfelder politischer Bildung umreißt. Carl Deichmann (Friedrich-Schiller-Universität Jena) untersucht den Wandel politischer Kommunikation und Kultur in der digitalen Gesellschaft, deren Interaktionen zwischen Alltagskultur, Medien und politischer Kultur durch fundamentale Änderungen bestimmt werden. Dadurch verändere sich die Form der politischen Bewusstseinsbildung. Hier könne das Konzept der politischen Bildung als Unterrichts-, Kommunikations- und Interaktionsprinzip ansetzen. Die neuen Partizipationsmöglichkeiten in der digitalisierten Welt stellten auch für die Professionalisierung von Lehrerinnen und Lehrer eine neue Herausforderung dar. Waltraut Meints-Stender (Hochschule Niederrhein) nimmt in ihrem Beitrag zum Verhältnis von Politik und Sprache Anmerkungen zum Verständnis von Handeln und Sprechen bei Hannah Arendt vor. Hierbei ordnet sie Hannah Arendts Verständnis von Handeln und Sprechen der Theorietradition zu, die Sprache – in Anlehnung an Charles Taylors Unterscheidung zweier Theorietraditionen zur Bedeutung von Sprache – als konstitutiv für die Hervorbringung von Realität begreift. Die sprachlichen Strategien von Rechtspopulisten als Herausforderung für die repräsentative Demokratie stehen im Mittelpunkt der Untersuchung von Tanja Seider (Universität Augsburg). Anhand des Dokumentarfilms „Montags in Dresden“ werden Themen und Strategien rechtspopulistischer Sprache analysiert. Die Analyse der politischen Sprache wie des Dokumentarfilms könnten als Grundlage für den unterrichtlichen Einsatz des Films in der politischen Bildung dienen. Um die wirklichkeitserzeugenden Effekte von Sprache ist es Werner Friedrichs (Otto-Friedrich-Universität Bamberg) in seinem Beitrag zu tun. Bei diesem Zugang zum Verhältnis von Politik und Sprache gehe es weniger um die Funktion von Sprache als Kommunikationsmedium, sondern vielmehr darum, wie durch den Sprachgebrauch überhaupt erst politische Selbst- und Weltverhältnisse generiert würden. Der politischen Bildung müsse es vor diesem Hintergrund insbesondere um die Materialität von Sprache gehen. Hendrik Schröder (Universität Bremen) stellt in seinem Beitrag einen Ansatz zur Rekonstruktion textlich gebundener Emotionalität vor. Er konstatiert eine Vernachlässigung von Emotionen bei der Analyse und Beurteilung politischer Sprechakte und benennt als möglichen Grund hierfür das Fehlen einer soliden Untersuchungsmethode. Diesem Umstand möchte der Verfasser durch einen empirisch erprobten Verfahrensansatz zur Rekonstruktion und Interpretation textlich gebundener Emotionalität entgegenwirken.

Einführung

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Subin Nijhawan (Goethe-Universität Frankfurt am Main) thematisiert die Frage, ob neben kritisch-rationalen Urteilen als Zielbestimmung politischer Bildungsprozesse auch emotionale Urteile didaktisch legitim sind. Der Verfasser untersucht diese Thematik anhand des exemplarischen Gegenstands des Klimawandels, wobei sich vier Urteilskategorien besonders gut beobachten ließen. Darüber hinaus wird ein Vorschlag eines didaktischen Instruments für den mehrsprachigen Politikunterricht präsentiert, um Emotionalität produktiv und lernförderlich in Einklang mit den Zielen der Politikdidaktik zu nutzen. Thomas Goll (Technische Universität Dortmund) untersucht in seinem Beitrag angesichts der scheinbaren Etablierung von „Weimarer Verhältnissen“ der politischen Kommunikation in den sozialen Medien, inwiefern es ein Gebot der Vernunft und ein Auftrag an die politische Bildung ist, das Denken in Freund-Feind-Kategorien ernst zu nehmen. Dazu analysiert er exemplarisch ­ Thomas Manns Engagement für die erste deutsche Demokratie in der Endphase der Weimarer Republik und setzt diese Erkenntnisse mit gegenwärtigen politischen Entwicklungen in Beziehung. Vor dem Hintergrund, dass der Diskurs über Sprachbildung beziehungsweise sprachsensiblen Politikunterricht derzeit noch ein Schattendasein fristet, stellen Julia Neuhof (Universität Bremen) und Luisa Girnus (Universität Potsdam) zunächst den bisherigen Diskurs mit Blick auf die Politikdidaktik vor. Auf dieser Grundlage werden in diesem Beitrag sodann Impulse für eine Konzeptionalisierung sprachsensiblen Unterrichts aus der Perspektive der politischen Bildung präsentiert. Angeregt durch Henrik Ibsens zeitlosen Klassiker Ein Volksfeind (1882) geht Ingo Juchler (Universität Potsdam) der Begriffsgeschichte von „Volksfeind“ nach und analysiert die in dem Schauspiel thematisierten Verhältnisse von Mehrheit und Minderheit sowie Macht und Recht. Darüber hinaus werden die im Volksfeind aufgeworfenen Fragen nach der Möglichkeit von Bildung und politischer Mündigkeit im Kontext heutiger postfaktischer Tendenzen, von Politik mit „alternativen Fakten“, Bullshit und Lügen diskutiert. Georg Weißeno (Pädagogische Hochschule Karlsruhe) und Anke Götzmann (Pädagogische Hochschule Karlsruhe) stellen in ihrem Beitrag den theoretischen Hintergrund für die produktorientierte Inhaltsanalyse von Schulbüchern dar und betrachten die Strukturierung schulbezogenen politischen Wissens mit Hilfe von Fachkonzepten nach dem Modell der Politikkompetenz. Als Trend zeichne sich ab, dass die Zufälligkeit der jeweiligen Fachsprache der Schulbücher gegenüber 2013 trotz eines kompetenzorientierten Curriculums sich nicht signifikant verbessert habe.

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I. Juchler

Marc Partetzke (Stiftung Universität Hildesheim) geht der Frage nach, ob es sich bei dem Thema political framing um ein neues Konzept handelt oder um ein wiederentdecktes Phänomen. Dabei nimmt Partetzke eine Begriffsbestimmung von frames vor und untersucht aus einer kognitionswissenschaftlichen bzw. -linguistischen Perspektive, worum es sich beim Framing handelt, warum geframed wird und welche Konsequenzen sich daraus für Politikwissenschaft, Politikdidaktik und politische Bildung ergeben. Die Untersuchung von politischem Framing steht auch im Mittelpunkt der Untersuchung von Max Droll (Universität Potsdam). Er gelangt zu dem Schluss, dass eine Auseinandersetzung mit den von Elisabeth Wehling dargelegten Erkenntnissen im Rahmen des Politikunterrichts die Entwicklung und Förderung von sprachlicher und fachlicher Kompetenz ermögliche und erläutert das didaktische Potenzial des Themas Politisches Framing anhand kompetenzbezogener Aufgaben für den Politikunterricht. Angesichts der Schwierigkeit für Jugendliche, die abstrakten sprachlichen Formulierungen der Grundrechte im Grundgesetz in ein Verhältnis zu ihrer Lebenswelt zu setzen, entwickelt Christian Fischer (Universität Erfurt) grundrechtstheoretische und politikdidaktische Überlegungen zur Arbeit an Grundrechten im Politikunterricht. Auf dieser Grundlage stellt Fischer eine erprobte Idee aus der Unterrichtspraxis vor und reflektiert diese fallbezogen anhand der Arbeitsergebnisse einer Schülerin. Luisa Girnus (Universität Potsdam) vertritt die Position, dass tagespolitische Auseinandersetzungen Legitimationsdiskurse sind, in denen Legitimität anhand normativer Werte verhandelt wird. Die dabei genutzten Wertkategorien blieben deutungsoffen und oft implizit. Um politisches Lernen zu fördern, erweise sich eine Bearbeitung solcher Legitimationsdiskurse mit Schülerinnen und Schülern als gewinnbringend. Zentral dafür sei, dass Legitimationsargumente in ­Lehr-Lern-Arrangements explizit und verhandelbar würden. Im Fokus des Beitrags von Andreas Kegel (Kurt-Körber-Gymnasium Hamburg) steht die Metapher und deren Einsatz im Politikunterricht. Dabei geht er zunächst auf metaphorische Konzepte ein und untersucht im Anschluss aktuelle Schulbücher auf deren Verwendung von Metaphern. Darauf gründend stellt Kegel das metaphorische Verständnis von Politik in Schulbüchern differenziert in Politik als sozialer Raum und als komplexer Raum vor und evaluiert den Gebrauch von Metaphern in Schulbüchern. Den Band beschließen Sabine Kehr (Julius-Maximilians-Universität Würzburg) und Frank Schiefer (Julius-Maximilians-Universität Würzburg) mit einem Beitrag zum politischen Skandal als Format der öffentlichen Kommunikation. Dabei gelangen sie zu dem Schluss, dass Skandalereignisse als Ausprägungen

Einführung

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der medialen Erlebnisgesellschaft im Politikunterricht didaktisch konstruktiv und kreativ realisiert werden können, indem Unterrichtsprinzipien wie heuristisches, exemplarisches, problem- und handlungsorientiertes Lernen sowie Kontroversität gezielt kompetenzorientiert eingesetzt werden. Danken möchte ich Sebastian Ihle (Universität Potsdam) für die kritische Durchsicht der Manuskripte.

Wandel politischer Kommunikation und politischer Kultur in der digitalen Gesellschaft. Strategien der Politikdidaktik Carl Deichmann Zusammenfassung

In der digitalen Gesellschaft, in der die Interaktionen zwischen Alltagskultur, Medien und Politik (politischer Kultur) eine fundamentale Änderung erfahren, muss die politische Bildung als pädagogisches Prinzip gestaltet werden. Die Digitalisierung schafft Chancen der demokratischen Mitbestimmung, aber auch Gefahren in einer „entpersonalisierten Kommunikation“. Der dadurch veränderten Form der politischen Bewusstseinsbildung wird das Konzept der politischen Bildung als Unterrichts-, Kommunikations- und Interaktionsprinzip gerecht, die an den Dimensionen der politischen Realität ansetzt, welche als Strukturbedingungen der Bewusstseinsbildung gelten. Deshalb besteht die politikdidaktische Strategie erstens in der Ausdifferenzierung des Methodenlernens als Reaktion auf vereinfachende, ideologische und populistische erkenntnistheoretische Ansätze in der Kommunikation, zweitens einer politischen Kommunikation im Schulleben und in den Schulfächern, durch welche die Komplexität politischer Realität sichtbar wird sowie drittens der Behandlung der politischen Dimensionen der jeweiligen Inhalte im Fachunterricht, welche analysiert, kontrovers diskutiert und beurteilt werden. Diese politikdidaktische Strategie, welche die neuen Partizipationsmöglichkeiten in der digitalisierten Welt in den pädagogischen Prozess aufnimmt, stellt neue Herausforderungen für die Professionalisierung der Lehrer(innen) dar.

C. Deichmann (*)  Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Juchler (Hrsg.), Politik und Sprache, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30305-1_2

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C. Deichmann

1 Wandel politischer Kommunikation, politisch – kultureller Wandel und politische Bildung 1.1 Wandel der politischen Kommunikation und der politischen Kultur Eine an der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik (Deichmann und May 2016) orientierte politikdidaktische Analyse des fundamentalen Wandels der politischen Kultur sollte von der Perspektive ausgehen, dass ein interdependenter Prozess zwischen der Alltagskommunikation der Bürger(innen), der Kommunikation auf der politischen Ebene (Politiker, Interessenvertreter, Kirchenvertreter etc.) und den Medien besteht (Schulz 3/2011, S. 51 ff.). Dabei gilt es in der Analyse und für die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen in der Praxis der politischen Bildung (vgl. Kap. 2) zu berücksichtigen, dass zur Alltagswelt nicht nur die Vis-à-Vis-Beziehungen in face to face Situationen (Schütz und Luckmann 2/2017, S. 101 ff.) gehören. Im Zeitalter der Digitalisierung, in der die Digitalität immer mehr zur zweiten gesellschaftlichen Realität mutiert (Nassehi 2019, bes. S. 140 ff.), sind die Kommunikationsstrukturen in der Alltagswelt durch die sozialen Medien geprägt. Die Akteure auf der politischen Kommunikationsebene (vgl. Donges und Jarren 4/2017, S. 75 ff.) verlieren zunehmend ihren traditionellen Einfluss im Rahmen der Deutungskultur (Rohe 1994; vgl. Hauk 2016, S. 37 ff. zur Veränderung der politischen Kommunikationskultur als Folgen des digitalen Medienwandels). Sie reagieren auf die veränderte Alltagskommunikation in den sozialen Medien, die sich durch Stimmungen und Emotionen und immer neue „Empörungswellen“ auszeichnet. Die politische Kommunikation tritt parallel zu den social media in privaten und öffentlich-rechtlichen Medien ins Bewusstsein der Bürger(innen). Private und öffentlich-rechtliche Medien rezipieren die veränderte Alltagskommunikation in den social media, was Auswirkungen auf die Agendagestaltung im politischen Prozess hat (Knill und Tosun2015, S. 86 ff). Die Chance der Digitalisierung besteht darin, dass das Digitale gemeinsame Strukturen in der komplexen Welt entdeckt und zu intelligenten Steuerungen in allen Lebensbereichen führen kann (Nassehi 2019,S. 32 ff.). Mithilfe der digitalen Kommunikationsstrukturen können sich Bürger(innen) mit gemeinsamen Überzeugungen und Interessen schneller als früher zu politischen Aktionen verabreden. Die Alltagskultur wird tendenziell politischer und durch ein zunehmendes Partizipationsinteresse großer Teile der Bevölkerung geprägt. Die „Friday For Future“-Bewegung, Pegida, Gelbwesten, Demonstrationen für und gegen den Brexit, Pulse of Europe Demonstrationen für

Wandel politischer Kommunikation und politischer Kultur …

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Europa, Demonstrationen gegen Antisemitismus und Rassismus, Demonstrationen für und gegen die politischen Entscheidungen von Donald Trump sind hierfür Beispiele. Die veränderte Kommunikationsstruktur ist aber auch mit hoher Partizipation in den Echoräumen der sozialen Medien verbunden, die durch eine Zunahme der Radikalisierung und von Verunglimpfung geprägt ist; z. B. von Mobbing unter den Schüler(innen). Nach einer internationalen Studie von Vodafone und des Meinungsforschungsinstituts YouGov. ist fast jeder fünfte deutsche Jugendliche schon einmal im Internet gemobbt worden (vgl. https://www.faz.net/aktuell/ feuilleton/medien/jeder-fuenfte-jugendliche-wird-opfer-von…). Der „Hass im Netz“ schlägt sich in rassistischen, extremistischen und diskriminierenden Äußerungen und Gewaltandrohungen gegen Politiker(innen) nieder (Brodnig 2016). Der rechtsextremistische Mordanschlag gegen den CDU Politiker Walter Lübcke am 2.6.2019, erhielt Hasskommentaren im Netz (vgl. https://www.hessenschau.de/…); der antisemitische Mordanschlag in Halle am 9.10.2019 wurde durch die (anonyme) Kommunikation im Netz gefördert, live vom Täter veröffentlicht und kommentiert (vgl. Bubrowski und van Lijnden 2019). Es handelt sich um eine fundamentale Veränderung der politischen Kultur auf der Alltagsebene, also des Regelsystems, „von dem abhängt, was und wie `man` innerhalb eines sozialen Verbandes politisch handeln, politisch reden und politisch denken kann, ohne mit informellen gesellschaftlichen Sanktionen rechnen zu müssen.“ (Rohe 1994, S. 163); In einem interdependenten Zusammenhang mit dieser Soziokultur steht der Wandel der Deutungskultur auf der Systemebene (vgl. ebd. ff.; Deichmann 2015, S. 80 ff.; Pickel und Pickel 2006, bes. S. 123 ff.). Dabei handelt es sich in diesem Zusammenhang um die Veränderung der traditionell beachteten Normen, Kommunikations- und Verhaltensweisen der politischen Kommunikations- und Interaktionspartner auf der Systemebene in und außerhalb der Parlamente durch die „Überschreitung der „roten Linien“. Das Neue in diesem Diskurs ist u. a. die Verleugnung von Fakten (Fake News), sowie politische Erklärungsmuster, welche Bezug nehmen zu Verschwörungstheorien und nach der Argumentationsstruktur „Wir und die Anderen“ Emotionen zu mobilisieren suchen (Deichmann 2017, S. 142 ff.). Mit diesem einen Erklärungsgrund wird von populistischen Führern ein Wahrheitsanspruch begründet und der Versuch unternommen, ihre durch Wahlen errungene Macht durch eine direkte charismatische Verbindung zum „Volk“ sowie durch die Untergrabung demokratischer Institutionen und der Gewaltenteilung zu sichern (Fukujama 3/2019, S. 10 ff.; Vorländer 2019).

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C. Deichmann

Die von Populisten in Europa propagierten völkischen Deutungen, nationalistischen und antieuropäischen Einstellungen sowie „der Kampf gegen das europäische Establishment“ setzen die Demokratie „unter Druck“ (Vorländer 2019; Panreck 2019). Verbunden mit der Alltagskommunikation und der Kommunikation auf der nationalen und internationalen Ebene sind Veränderungen in der Berichterstattung in den öffentlichen Medien, da der öffentliche Raum der bürgerlichen Gesellschaft zunehmend durch einen „Pluralismus von communities“ ergänzt oder ersetzt wird (Nassahi 2019, S. 301 ff.). Sie sind auf der internationalen Ebene verknüpft mit den Veränderungen der politischen Kultur in der Zunahme populistischer, nationalistischer Tendenzen und in der Abkehr vom Multilateralismus (Tietje 2019). Die im Folgenden ausdifferenzierte politikdidaktische Strategie setzt bei der sich in der digitalen Welt verändernden politischen Bewusstseinsbildung an (Abschn. 1.2) und umfasst sodann die für den Politikunterricht, für die politische Bildung in anderen Fächern, und für das demokratisch Schulleben zu ziehenden Forderungen (Abschn. 2.1–2.3).

1.2 Veränderung des politischen Bewusstseinsbildungsprozesses in der digitalen Kommunikation Der Ausgangspunkt der Überlegungen zu einer Strategie „Politische Bildung als Unterrichts-, Kommunikations- und Interaktionsprinzip“ sind die Erkenntnisse über die Veränderungen des politischen Bewusstseinsbildungsprozesses (vgl. zur Ausdifferenzierung Deichmann 2015, S. 83 ff.) in der digitalen Kommunikation. Im digitalen Zeitalter erfährt die Kommunikation in der Vis-à-Vis-Beziehung einen Bedeutungsverlust, weil das Bewusstsein viel stärker in geschlossenen, entpersonalisierten Kommunikationssystemen entwickelt und beeinflusst wird (Nassehi 2019, S. 91 ff.). Bei der mit dieser Form der Kommunikation verbundenen politischen Bewusstseinsbildung besteht in einem erhöhten Maße die Gefahr einer verengten Sicht auf die soziale und politische Realität, welche dem beschriebenen populistischen Deutungsschema entgegen kommt. Denn in den geschlossenen Kommunikationsnetzen der social media verläuft die Kommunikation nicht nach der Struktur „Argument – Gegenargument“, einer Argumentation, durch welche den Kommunikationspartnern die Komplexität von Problemen deutlich wird.

Wandel politischer Kommunikation und politischer Kultur …

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Sondern die beschriebene Funktionalität, die zu geschlossenen Chaträumen und zu wechselseitigen Bestätigungen der eigenen Meinung führt, „…sind hochgradig moralisierte Nischenöffentlichkeiten, die nichts weiter tun als über Wiederholungspraktiken sich selbst in ihrem Moralverständnis zu bestätigen“ (Wagner und Forytarczyk 2015). Wenn es in der politischen Bildung gelingt, einerseits die positiven Partizipationsmöglichkeiten der Digitalisierung aufzunehmen und zu verstärken sowie andererseits die populistischen Aspekte der digitalen Gesellschaft zu thematisieren und durch emotionale und rationale Strategien in demokratische Deutungsmuster umzuformen, besteht in einem erhöhten Maße die Chance für die Entwicklung einer demokratischen politischen Kommunikations- und Handlungskompetenz. Hierzu müssen Schüler(innen) zunächst den Umgang mit den digitalen Medien in allen Fächern lernen (Zorn 2/2018) und in der politischen Bildung besonders die journalistischen Nachrichtenportale zur Politikanalyse und zur Beurteilung von politischen Prozessen nutzen und kritisch hinsichtlich ihres Informationsgehaltes beurteilen können (Hauk 2016, S. 85 ff.; Sander 2017, bes. S. 143 ff.). Darüber hinaus ist allerdings eine Strategie notwendig, welche das Ziel verfolgt, der Reduzierung der politischen Kommunikation und der damit verbundenen Reduzierung der politischen Bewusstseinsbildung auf funktional strukturierte Kommunikationssysteme entgegen zu wirken. Dieses Ziel besteht in der Ausbildung einer demokratischen Kommunikations- und Handlungskompetenz durch eine politische Bildung als Unterrichtsprinzip in der digitalen Welt. Hierzu ist es notwendig, dass die Politikdidaktik die folgenden Dimensionen des politischen Bewusstseinsbildungsprozesses in politikdidaktischen Strategien berücksichtigt. Denn diese gehören zur Grundstruktur des politischen Bewusstseins der Bürger(innen), unabhängig davon, ob sie sich diese immer vergegenwärtigen (Deichmann 2015, S. 40 ff.). Das politische Bewusstsein besitzt: • Eine subjektive, erkenntnistheoretische/formallogische Dimension (vgl. bes. Abschn. 2.1) • Eine Dimension der Kommunikation und sozialen Interaktionen (vgl. bes. Abschn. 2.2) • Eine Sicht der Gesellschaft: die Dimension der gesellschaftlichen und politischen Objektivationen (vgl. bes. Abschn. 2.3) • Eine Wertedimension, nach der er/sie die Interaktionen und gesellschaftlichen Objektivationen und die subjektiven Einstellungen beurteilt (vgl. bes. Abschn. 2.3)

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C. Deichmann

2 Politische Bildung als Unterrichts-, Kommunikations- und Interaktionsprinzip in der digitalen Welt 2.1 Wider die Komplexitätsreduzierung: Methodenlernen Eine politische Bildung als Unterrichtsprinzip, die sich als Strategie gegen die Komplexitätsreduzierung in der digitalen Welt versteht, setzt bei der Entwicklung des politischen Bewusstseins durch Förderung der politischen Analysefähigkeit an. Indem sie dabei die subjektive, erkenntnistheoretische/ formallogische Dimension des politischen Bewusstseins fördert, richtet sie ihr besonderes Augenmerk auf die monokausale Argumentation und die damit verbundene Komplexitätsreduzierung in den sozialen Medien. Sie führt die politisch Lernenden in diesem Zusammenhang zu der Einsicht, dass für die Beurteilung und Analyse unterschiedlicher Gegenstände unterschiedliche Methoden angewendet werden müssen. Es handelt sich hier um das Methodenlernen, das in allen Fächern einen stärkeren Stellenwert als eigenständiger Lernprozess erhalten sollte. Dabei sollte in jedem Fach die politische Dimension sowohl in den geisteswissenschaftlichen Fächern als auch in den naturwissenschaftlichen Fächern (MINT) herausgestellt werden (Deichmann und Tischner 2014, bes. S. 9). Die Schüler(innen) sollen dabei erkennen, dass nur bei speziellen Sachgegenständen eine Sichtweise, ein Faktor als ausschlaggebend für vielfältige Erscheinungen gehalten wird. Dies gilt vielleicht für naturwissenschaftliche oder medizinische Erklärungsmuster (z. B. ein Krankheitserreger, ein Naturgesetz), bei denen dies zutreffen kann, aber nicht für gesellschaftliche Phänomene. Die Problematik der Verwendung naturwissenschaftlicher Erklärungsmuster für komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge und Entwicklungen können politisch Lernende etwa bei der Behandlung der marxistischen Theorie studieren, bei der im Historischen Materialismus die Geschichte mit dem ­Basis-Überbau-Modell im Sinne von Zwangsläufigkeiten interpretiert wird (Höffe 2016, bes. S. 365 ff.). Bei der Behandlung dieses und anderer Beispiele erkennen sie, dass Theorien und Modelle die Voraussetzung für die Beschreibung der Gesellschaft sind. Je nachdem, von welchen Annahmen, von welchen Modellen ich ausgehe, beschreibe und erkläre ich unterschiedliche Aspekte der komplexen Realität. Gehe ich von der Milieutheorie aus, erscheint mir die gesellschaftliche Realität eher in Zusammenhängen der alltagsweltlichen Interaktionen und Normen,

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welche die entsprechenden Elemente der Alltagskulturen prägen. Lege ich bei der Beschreibung der Gesellschaft Kriterien des Einkommens, der Bildung oder der jeweiligen Beschäftigung der Menschen zugrunde, wird die Gesellschaft in Schichten und Klassen eingeteilt (Müller 2013). Ein ähnlicher Erkenntnisprozess, der verbunden ist mit dem zugrunde gelegten Erkenntnisinteresse des Betrachters (des Forschers), ist bei naturwissenschaftlichen Gegenständen festzustellen: So kann z. B. Das Licht unter bestimmten Bedingungen mithilfe der Funktion von Photonen oder der „Wellentheorie“ beschrieben werden (Heilmann 2013). Diese Beispiele verdeutlichen den Lernenden nicht nur die grundsätzliche Einsicht in den Prozess der „Welterkenntnis“, sondern sie erinnern ebenfalls an die Besonderheit eines jeden Faches sowie an die für jedes Fach spezifischen Methoden, die in den jeweiligen Fächern detailliert behandelt werden. Die folgende zusammenfassende Darstellung skizziert dies beispielhaft für wenige Unterrichtsgegenstände des Physik- und Politikunterrichts. Die beschriebenen Kompetenzen müssen natürlich für die entsprechenden Schulstufen didaktisch „heruntergebrochen“, aufgearbeitet und in entsprechende Unterrichtsszenarien eingebunden werden (Siehe. Tab. 1). Problem: Kann die Realität erfasst werden?  Erkenntnisse/Einsichten/Kompetenzen Die Realität kann sowohl in den Naturwissenschaften (unbelebte Natur) als auch in den Sozialwissenschaften (Interaktionen der Menschen) nur mit Hilfe von Methoden (Experimente/Versuchsanordnungen/Sozialwissenschaftliche Methoden) erkannt und analysiert werden. Die genaue Darstellung der Vorgehensweise (Methoden/Experimente) macht die Forschungsergebnisse intersubjektiv überprüfbar.

Tab. 1   Methodenwissen und wissenschaftspropädeutisches Wissen Physik

Methodenwissen

• Optik, Licht als Strahl • Wellentheorie • Licht als Quant

• Schattenbildung, Spiegelung etc • Bewegung und Interferenz • Wechselwirkung von Licht mit Materie (Fotoeffekt)

Politikunterricht

Methodenwissen

• Gesellschaft (vgl. Klee 2014) • Wirtschaft (vgl. Piller 2014)

• Schichtungsmodell/Milieumodell • Wirtschaftskreislauf

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Die mithilfe der entsprechenden Methoden erreichten Forschungsergebnisse werden in einem Modell zusammengefasst. Dieses Modell gibt nur ganz bestimmte Perspektiven der Realität (Licht als Welle/als Photon; Gesellschaft in verschiedene Schichten oder Milieus eingeteilt) wieder. Gemeinsame Fragestellung: • Von welchem erkenntnistheoretischen Ansatz wird ausgegangen? • Wie ist das Experiment aufgebaut? Mit welchen Methoden gelangt man zu dem Aufbau des Modells? • Welche Gegenstandsbereiche der Politik und der Natur will das Modell erklären? • Welche Elemente des jeweiligen Gegenstandsbereichs erfasst das Modell? • Welche Gegenstände werden vom Modell nicht erfasst? • Welche Funktionszusammenhänge werden herausgestellt? • Kritik der Modelle: Sind die Annahmen, von denen das Modell ausgeht, akzeptabel oder verengen sie von vorneherein die Sichtweise und schalten somit bestimmte (welche?) Realitätselemente aus? Neben den Einsichten, welche den monokausalen Erklärungen (politischer) Realität entgegenstehen, besteht die neue politische Dimension des Methodenlernens darin, dass im Konzept der neuen politikdidaktischen Strategie die Methoden der jeweiligen Fächer – soweit dies praktikabel ist – auf die Themen der beschriebenen positiven Veränderungen der Partizipationskultur in der digitalen Welt, nicht zuletzt auf deren populistische Aspekte bezogen werden sollten. Zum Beispiel beschäftigen sich die Schüler(innen) mit der Bedeutung der Statistiken für die Erkenntnisse über die zunehmende Umweltverschmutzung, den Klimawandel, die Veränderungen des internationalen Handels hinsichtlich des Wirtschaftswachstums etc. An den Beispielen ist zu erkennen: Die politische Dimension besteht nicht nur in der Wahl der jeweiligen Gegenstände, die über den spezifischen Fachunterricht hinausgehen, sondern sie besteht darin, dass auf die oben skizzierten ­politisch-kulturellen Veränderungen reagiert wird. Insofern wird die Partizipationskultur unterstützt. Schüler(innen), die sich für Maßnahmen gegen den Klimawandel einsetzen, erfahren eine Akzeptanz. Dies geschieht nicht zuletzt auch dadurch, dass Argumentationsgrundlagen für die Widerlegung und Bekämpfung der „Fake news“ geschaffen werden.

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2.2 Strategie gegen entpersonalisierte Kommunikation und für Partizipationsmaximierung in allen Fächern und im Schulleben Eine politikdidaktische Strategie, welche sich der Förderung der Kommunikation und der sozialen Interaktionen verpflichtet sieht, wirkt der „entpersonalisierten Kommunikation“ und der politischen Bewusstseinsbildung in funktional strukturierten Kommunikationssystemen entgegen (vgl. Abschn. 1.2). Gleichzeitig gewinnt das gestiegene Partizipationsinteresse in allen Fächern als pädagogisches Prinzip der Schülerselbsttätigkeit und der Kooperation in Gruppen höchste Priorität (Biederbeck 2/2018). Dies ist nicht nur aus lernpsychologischen Gründen der komplexen Bewusstseinsbildung (Abschn. 1.2), sondern auch wegen der Einübung der aktiven Wahrnehmung der Bürgerrolle zu fordern. Eine solche politikdidaktische Konzeption ist damit eingebunden in die Veränderungen der Partizipationskultur in der digitalen Gesellschaft. Neben dem Prinzip der Schülerselbsttätigkeit und der Kooperation in Gruppen geht es darum, den Schüler(innen) in Projekten, in der Schülermitverwaltung und im außerschulischen Lernen Mitwirkungs- und Entscheidungsrechte zu übertragen und einen gemeinsamen Kommunikations- und Erfahrungsraum zu schaffen, der über die eingeschränkte „Form des Kneipengesprächs“ in den sozialen Medien hinausgeht (vgl. Barth und Wagner 2017 mit Kommunikationsbeispielen aus dem Facebook). Dieser gemeinsame Erfahrungsraum soll ebenso einem populistischen Echoraum entgegen wirken.

2.3 Politische Bildung als Unterrichtsprinzip in allen Fächern Der Politikunterricht als Kernfach der politischen Bildung ist angesichts der geringen Stundenzahl und angesichts des Lehrermangels nicht alleine in der Lage, die politische Handlungs- und Beurteilungsfähigkeit in der digitalen Welt zu generieren. Auch wenn die Unterrichtsgegenstände in handlungsorientierte Unterrichtseinheiten eingebunden sind, sodass nicht nur die polity-, sondern auch die ­policy-Dimension (Deichmann 2015; Knill und Tosun 2015, S. 24 ff.), aber auch die Freiheit (Droll 2019) in der demokratischen politischen Ordnung erfahrbar wird.

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Deshalb besteht die Notwendigkeit, die politische Bildung als Unterrichtsprinzip über das Methodenlernen und die ­ Interaktions-/Kommunikationsstruktur in den Fächern und in anderen Formen des Schullebens hinaus, in der Behandlung der politischen Dimension der Gegenstände in den einzelnen Fächern zu realisieren. Nur so kann eine neue Schulkultur generiert und ausgebaut werden, durch welche die politikdidaktische Strategie auf die neue Partizipationskultur reagiert. Dafür sollten die in der bisherigen politikdidaktischen Diskussion schon ausgearbeiteten Verbindungen zwischen den einzelnen Schulfächern und dem Politikunterricht (vgl. Deichmann und Tischner 2014) weiterentwickelt werden, damit die politische Dimension der einzelnen Gegenstände in den Schulfächern didaktisch umgesetzt werden können. In der folgenden Tabelle (Tab. 2) sind hierfür beispielhaft zentrale Kompetenzen für den Deutsch- und Geschichtsunterricht zusammengefasst, welche sich auf die politische Dimension verschiedener Gegenstände beziehen. Dabei geht es besonders um die Aspekte der Kommunikation, welche (vgl. Abschn. 1.2) als zentrales Problem der politischen Bewusstseinsbildung diagnostiziert wurde.

2.4 Deutsch/Geschichte (Sozialkunde) Erkenntnisse/Einsichten/Kompetenzen • Intoleranz in Sprache und Denken schafft die emotionalen und rationalen Bedingungen für Diskriminierung, Rassismus und Extremismus/Gewaltanwendung im Alltag. Sie ist ebenso die Voraussetzung für die Gewaltherrschaft. • Demokratie als politische Herrschaftsordnung versteht sich als Institutionalisierung von Konfliktbeziehungen und setzt eine tolerante Kommunikation, besonders die Akzeptanz verschiedener Meinungen voraus. • Kategorien: Ideologie; Toleranz/demokratische Herrschaftsordnung Um die Forderung nach einer politischen Bildung als Unterrichts- und Interaktionsprinzip noch zu konkretisieren, sind in der Tab. 3 Ziele/Kompetenzen und einige Gegenstandsbereiche verschiedener Unterrichtsfächer aufgeführt. Sie verdeutlichen, dass im jeweiligen Fach der Unterricht nicht bei dem Fachgegenstand abgebrochen wird, sondern die politische Dimension des Gegenstandsbereichs in der Lerngruppe in einer kontroversen Diskussion behandelt wird. Dies gilt zusätzlich auch für den Kunstunterricht (Besand 2014), sowie für den Musik- und Sportunterricht (Launhardt und Marnowsky 2014; Schran und Starkloff 2014). Diese Beispiele zeigen, dass sich aus dem Konzept der politischen Bildung als Unterrichts-, Kommunikations- und Interaktionsprinzip Forderungen nach einem neuen Selbstverständnis und nach einer neuen Rolle der Lehrer(innen) ergeben.

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Tab. 2   Politische Bildung als Unterrichtsprinzip: Kommunikation Fach

Gegenstände

Methodenschwerpunkte

Deutsch (vgl. Gebauer 2014)

• Analyse von Massenmedien/ Social Media: Framing/Fake News erkennen; • Moralisierung und Deutungshoheit von Massenmedien im politischen Prozess • Analyse politischer Reden: Rechts- und Linksextremismus • Untersuchung von Gewaltbegriffen in der Alltagssprache: Gefahr für Interaktionen in der Alltagswelt erkennen

Kriterien der Medienanalyse bes. für Erfassung von Framing/Fake News entwickeln; Rhetorische Übungen Text-Bildinterpretation Rollenspiele und Interpretationen

Geschichte (vgl. Deichmann und Tischner 2014; Grammes und Leps 2014)

Aktuelle Bezüge aus der Geschichte herstellen: • Machtstruktur des Führerstaates • Propaganda als zentrales Herrschaftselement im Führerstaat des NS • NS-Ideologie Nahost-/ Syrienkonflikt/IS

Quellen-Textinterpretation/ symbolische Politik Aktuelle Bezüge zu autoritären politischen Systemen herstellen; Interpretation von Höcke-Reden z. B. • Monokausale/ideologische Geschichtsinterpretation erkennen/analysieren können Historische Dimension aktueller internationaler Beziehungen/ Konflikte/Terrorismus analysieren

Denn die Lehrer(innen) müssen neben der Fachkompetenz auch eine politische Kommunikations- und Interaktionskompetenz besitzen. Diese Kompetenz, als verantwortungsvolle Bürger(innen)zu handeln, besteht besonders darin, dass die unterschiedlichen Sichtweisen und Meinungen zu den entsprechenden Problemen im Rahmen der politischen Dimension der jeweiligen Fachprobleme vorgetragen werden können. Hinzu kommt die Chance, die verschiedenen Meinungen mit den im Fachunterricht entwickelten Kenntnissen zu konfrontieren. So können die politisch Lernenden ihr eigenes politisches Urteil vortragen und auf dem Hintergrund der Wertedimension – den Menschenrechten, der Gerechtigkeit, der Gleichheit, Freiheit, Solidarität – begründen (Deichmann 2015). Damit wird der Forderung Rechnung getragen, dass die Kommunikation und die Kontroverse, welche essenzieller Bestandteil einer demokratischen politischen Kultur sind, auch bei der Beurteilung politischer Probleme im

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Tab. 3  Politische Bildung als Unterrichtsprinzip: Politische Dimension in verschiedenen Unterrichtsfächern Fach

Beispiele politischer Aspekte in verschiedenen Fächern → Erkenntnisse/Einsichten/Kompetenzen

Fremdsprachen Englisch Politisches System: Analyse und Vergleich der politischen Systeme der Bundesrepublik Deutschland/DDR/Frankreich/ Französisch Spanisch Großbritannien/USA/Russland/Staaten in der EU/mittel- und (vgl. Schmidt 2014) südamerikanische Staaten u. a. → Unterschiedliche politische Kulturen als Voraussetzung für die Entwicklung des jeweiligen politischen Systems → Veränderungen der Gewaltenteilung in der Bedeutung für demokratische/autoritäre Strukturen erkennen und beurteilen können → Mithilfe von Modellen politische Strukturen und Prozesse analysieren können u. a. Physik/MINT Fächer (vgl.Weber und Koch 2014;Langner und Sobotka 2014; Schattschneider 2014) Geographie (vgl. Rhode-Jüchtern 2014)

Biologie

Politische Kontroversen um die Energieproduktion/ Reduzierung von umweltschädlichen Abgasen/Technische Innovationen für den Umweltschutz in der Landwirtschaft, der Autoindustrie u. a. → Modellhaftes Denken → Bedeutung von Algorithmen an Beispielen erkennen

Klimawandel: Umgang mit „Fake News“ zu Klimawandel/ Bedeutung des Klimawandels für die Stadtplanung und die Strukturpolitik: notwendige politische Maßnahmen/Regionale und internationale Konflikte über die Bedeutung des tropischen Regenwaldes für das Klima/Gründe für Migration aus Afrika und deren Bekämpfung durch entwicklungspolitische Maßnahmen/Religiöse und ethnische Konflikte in Afrika und deren Bekämpfung durch Unterstützung der EU u. a. → Zusammenhang zwischen weltweiter Klimaveränderung und Alltagshandeln analysieren und beurteilen können → Länderanalyse unter ökologischen und politischen Aspekten → Grafiken und Kartenauswerten und unter politischen Aspekten beurteilen können Biologische Erklärungen für die Gefahren des Klimawandels für die Menschheit (Konkrete Gefahren von Klimagasen etc.)/ Bedeutung ökologischer Landwirtschaft für Menschen und Tiere: Bsp. Umweltschäden von Glyphosat und die politischen Kontroversen/Moralische und politische Dimension der Genmanipulation → Systemdenken: politische Dimension konkreter biologischer Zusammenhänge erkennen und mithilfe von Werten beurteilen (Fortsetzung)

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Tab. 3   (Fortsetzung) Fach

Beispiele politischer Aspekte in verschiedenen Fächern → Erkenntnisse/Einsichten/Kompetenzen

Religion/Ethik (vgl. Barheier 2014;Mehring 2014)

Vergleich von Religionen hinsichtlich des Menschenbildes, der Gesellschafts- und Geschichtsauffassung und in Bezug auf die Vereinbarkeit mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit durchführen/Einfluss von religiösen Organisationen (Ditib u. a.) auf die Integration und das Zusammenleben in der Gesellschaft/Bedeutung und Funktionalisierung von Religionen in regionalen und internationalen Konflikten (“IS”; Syrien; Israel – Palästinenser; Iran – Irak u. a.) → Aussagen in philosophischen Texten hinsichtlich ihrer aktuellen politischen Bedeutung beurteilen können → An konkreten Beispielen Werte der Freiheit, Gleichheit, Subsidiarität und der Solidarität erarbeiten können

­ achunterricht zum Tragen kommen und letztlich die demokratische Kultur durch F die Schulfächer gefördert wird. Zur Wahrnehmung dieser Aufgaben müssen ebenfalls für Lehrer(innen) Kommunikationsräume geschaffen werden (Hertzsch und Schneider. 2/2018), in denen sie Erfahrungen und Konzepte austauschen. Besonders wichtig sind die Praxisberichte für die Ausbildung von Referendar(innen) und für die Unterrichtsforschung an Universitäten (vgl. als Forschungsdesign: Fischer et al. 2017). Ebenfalls sind in allen Studienfächern Studienaspekte im Sinne der politischen Bildung als Unterrichtsprinzip zu behandeln. In der Referendar(innen)ausbildung sollen Veranstaltungen durchgeführt werden, die Referendar(inne)n aller Fächer die Kompetenzen für die politische Bildung als Unterrichtsprinzip vermitteln.

2.5 Zusammenfassung In der digitalen Gesellschaft, in der die Interaktionen zwischen Alltagskultur, Medien und Politik (politischer Kultur) eine fundamentale Änderung erfahren (Abschn. 1.1), muss die politische Bildung als pädagogisches Prinzip gestaltet werden. Die Digitalisierung schafft Chancen der demokratischen Mitbestimmung, aber auch Gefahren in einer „entpersonalisierten Kommunikation“. Der dadurch veränderten Form der politischen Bewusstseinsbildung (Abschn.  1.2) wird das Konzept der politischen Bildung als Unterrichts-, Kommunikations- und

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Interaktionsprinzip gerecht, die an den Dimensionen der politischen Realität ansetzt, welche als Strukturbedingungen der Bewusstseinsbildung gelten (ebd.). Die Konsequenzen bestehen in der Ausdifferenzierung des Methodenlernens als Reaktion auf vereinfachende, ideologische und populistische erkenntnistheoretische Ansätze in der Kommunikation (Abschn. 2.1), einer politischen Kommunikation im Schulleben und in den Schulfächern, durch welche die Komplexität politischer Realität sichtbar wird (Abschn. 2.2) sowie der Behandlung der politischen Dimensionen der jeweiligen Inhalte im Fachunterricht, welche analysiert, kontrovers diskutiert und beurteilt werden (Abschn. 2.3). Diese politikdidaktische Strategie, welche die neuen Partizipationsmöglichkeiten in der digitalisierten Welt in den pädagogischen Prozess aufnimmt, stellt neue Herausforderungen für die Professionalisierung der Lehrer(innen) dar.

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Politik und Sprache – Anmerkungen zum Verständnis von Handeln und Sprechen bei Hannah Arendt Waltraud Meints-Stender „Ohne Verschiedenheit, das absolute Unterschiedensein jeder Person von jeder anderen, die ist, war oder sein wird, bedürfte es weder der Sprache noch des Handelns für eine Verständigung; eine Zeichen- und Lautsprache wäre hinreichend, um einander im Notfall die alten gleichen, immer identisch bleibenden Bedürfnisse und Notdürfte anzuzeigen.“ Hannah Arendt

Zusammenfassung

In Anlehnung an Charles Taylors Unterscheidung zweier Theorietraditionen zur Bedeutung von Sprache wird Hannah Arendts Verständnis von Handeln und Sprechen der Theorietradition zugeordnet, die Sprache als konstitutiv für die Hervorbringung von Realität begreift. Jüngst hat Charles Taylor in seinem Buch Das sprachbegabte Tier noch einmal grundlegend über die Bedeutung der Sprache für den Menschen nachgedacht (Taylor 2017). Er kritisiert die Vorstellung, dass Sprache nur ein Medium sei und uns Ideen vermittele. Diesem – seiner Meinung nach reduzierten – Verständnis setzt er die Idee entgegen, dass der Mensch durch Sprache die M ­ öglichkeit habe, W. Meints-Stender (*)  Hochschule Niederrhein, Mönchengladbach, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Juchler (Hrsg.), Politik und Sprache, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30305-1_3

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„sein Selbst“ zu offenbaren. Dabei geht er in klassischer Weise vor, indem er seine Überlegungen zur Sprache mit Fragen einer Natur des Menschen verknüpft. Der Sinn menschlichen Lebens überhaupt zeige sich in der Fähigkeit, kulturelle Artefakte hervorbringen zu können, und genau darin liege die konstitutive Bedeutung von Sprache: Sie sei die Bedingung der Möglichkeit, Kultur hervorzubringen. Dabei unterscheidet Taylor zwei Theorietraditionen, die er seinen ­Überlegungen voranstellt: die Tradition der deskriptiven Sprachtheorien (­HLCTheorie: Hobbes/Locke/Condillac), die Sprache als Werkzeug zur Benennung von Dingen begreifen, und die Tradition der Konstitutionstheorien von Sprache, die er als HHH-Theorie (Hamann, Herder, Humboldt) beschreibt, die aber schon mit Aristoteles beginne. An die letztgenannte Tradition knüpft Taylor an: zwar sei Sprache auch ein Werkzeug, aber nicht lediglich zur Benennung von Dingen, sondern als Möglichkeit zur Erschaffung von einer sprachlichen Welt, die durch Sprache entsteht. Eben darin besteht ihr konstitutiver Charakter: Sie schafft eine Realität. Im Folgenden werde ich mich mit Bezug auf Hannah Arendt dem Verhältnis von Politik und Sprache zuwenden. Ich folge für diesen Zweck der Grundidee von Taylor, dass in der von ihm sogenannten zweiten Traditionslinie der Sprache eine konstitutive Bedeutung zukommt, ohne zu ignorieren, dass diese auch als Mittel verstanden wird. Ich fokussiere hier – ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben – auf die grundlegenden Aspekte, die die konstitutive Seite von Politik und Sprache bei Arendt berühren. Bei Hannah Arendt sind Sprache und Sprechen in zwei Hinsichten von besonderer Bedeutung: 1) in erkenntnistheoretischer Hinsicht und 2) als performativer Ausdruck von Welt- und Selbstverhältnissen und Individualität. Ad 1). Hannah Arendt geht grundsätzlich von der Annahme aus, dass das Denken aus „Geschehnissen der lebendigen Erfahrungen erwächst und an sie als die einzigen Wegweiser, mit deren Hilfe man sich orientiert, gebunden bleiben muss“ (Arendt 1994, S. 18; vgl. auch Meints 2011; Park 2009). Dabei möchte sie ihre eigenen Schriften als Übungen verstanden wissen, die „Kritisches ebenso wie Experimentelles“ implizieren. Aber „im Experimentellen versuchen sie nicht eine Art von utopischer Zukunft zu entwerfen, und die Kritik der Vergangenheit, der traditionellen Begriffe, beabsichtigt nicht zu entlarven, (…) es gibt ein Element des Experimentellen in der kritischen Interpretation der Vergangenheit – einer Interpretation, deren Hauptziel ansonsten darin besteht, die wirklichen Ursprünge der traditionellen Begriffe zu entdecken, um aus ihnen ihren ursprünglichen Geist neu herauszudestillieren. Gemeint ist jener Geist, der sich gerade aus den Schlüsselworten der politischen Sprache, als da sind Freiheit und ­Gerechtigkeit,

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Autorität und Vernunft, Verantwortung und Tugend, Macht und Ruhm, so schmählich verflüchtigt und leere Hülsen hinterlassen hat, mit denen fast alle Rechnungen ohne Rücksicht auf die dahinterliegende phänomenale Wirklichkeit beglichen werden müssen“ (Arendt 1994, S. 18 f.). Nach dem Traditionsbruch sei die eigene Vergangenheit fragwürdig geworden. So stoße man „schließlich auf das Phänomen der Sprache […]; denn in der Sprache sitzt das Vergangene unausrottbar, an ihr scheitern alle Versuche, es endgültig loszuwerden. Die griechische Polis wird so lange am Grunde unserer politischen Existenz, auf dem Meeresgrunde also, weiter da sein, als wir das Wort ‚Politik‘ im Munde führen. Dies ist es, was die Semantiker, die mit gutem Grunde die Sprache als das einzige Bollwerk attackieren, hinter dem sich die Vergangenheit verbirgt – ihre Konfusion, wie sie meinen –, nicht verstehen. Sie haben vollkommen recht: Alle Probleme sind letztlich sprachliche Probleme; sie wissen nur nicht, was sie damit, sagen“ (Arendt 1989, S. 241; vgl. auch Park). Menschen werden in politische Gemeinschaften hineingeboren, die vor ihnen schon da sind. Der Einzelne muss sie sich aneignen, kann sie bestätigen, kritisieren oder verwerfen, zugleich wächst man auch „mit einem gewissen ererbten Wortschatz auf. Wir müssen dann diesen Wortschatz überprüfen. Und dies nicht nur, indem wir herausfinden, wie dieses oder jenes Wort gewöhnlich gebraucht wird, woraus sich eine gewisse Anzahl von Verwendungsweisen ergibt. Diese Verwendungsweisen sind dann legitim. Meiner Meinung nach hat ein Wort vielmehr eine viel engere Beziehung zu dem, was es ausdrückt oder was es ist, als nur die Art und Weise, in der es zwischen Ihnen und mir gebraucht wird. Das heißt, Sie schauen nur auf den kommunikativen Wert des Wortes. Ich schaue auf die aufschließende Qualität. Und diese aufschließende Qualität hat natürlich immer einen geschichtlichen Hintergrund“ (Arendt 1997, S. 95). Selbstverständnisse von politischen Gemeinwesen oder auch Aussagen über die menschliche Natur werden von Arendt als Selbstauskünfte über gesellschaftspolitische Wirklichkeiten verstanden, wie auch Biografien etwas über die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen aussagen. So kann auch Arendts Studie über Rahel Varnhagen gelesen werden oder auch die Interpretation, die sie zu Adolf Eichmanns Protokollen angefertigt hat. Sie ging von den Selbstaussagen, Selbstauskünften aus, um dann aus diesen Selbstauskünften gesellschaftspolitische Erfahrungen zu destillieren. Ad 2). Wenn Arendt sich für ihr Verständnis des Politischen kritisch auf die Polis bezieht, in der der Raum der Freiheit durch die aktive Teilhabe der Bürger, dem Austausch der Meinungen im Zusammentreffen mit Anderen entsteht, so ist dies nicht einem idealisierenden Blick auf die Antike geschuldet, der vergangene Zeiten verklärt. Arendt kennt die Bedingungen der Möglichkeit der Polis, die

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auf dem Ausschluss von Frauen, Fremden, Sklaven und Handwerkern, also der Unfreiheit und Mehrarbeit der Ausgeschlossenen basiert (vgl. Arendt 1994, S. 269). Der Bezug auf die antike Polis dient ihr als Inspiration, als Wissen darum, dass jede Beschäftigung mit dem Politischen an den Anfang z­ urückkehren muss, um dessen historischen Bedeutungsverschiebungen zu begreifen. In ihrem Aufsatz Kultur und Politik hat Arendt den kritischen Einwand, dass es bei ihrem Verständnis des Politischen um eine Reaktualisierung des antiken Politikbegriffs geht, bereits vorweggenommen und zurückgewiesen. Dort hebt sie hervor, dass der Rückbezug auf die Antike notwendig sei, weil die politische Wissenschaft ohne solche geschichtlichen Modelle nicht arbeiten kann und weil „der ­politisch-öffentliche Raum im Leben der Antike eine ungleich größere Dignität und für das Leben der Menschen höhere Relevanz besaß“ (Arendt 1993, S. 282 f.). Arendt wendet also nicht das Politikverständnis der Polis gegen die moderne Auffassung des Politischen, in der die Dichotomien von Denken und Handeln, Philosophie und Politik, Herrschern und Beherrschten tragend wurden, sondern setzt die Widersprüchlichkeiten innerhalb des Politikverständnisses der Polis mit den Widrigkeiten moderner Politik in Beziehung. Grundsätzlich geht sie davon aus, dass Menschen sowohl gleich als auch verschieden sind, dass aber die Verschiedenheit, die Einzigartigkeit eines jeden Menschen nur aktiv zum Ausdruck gebracht werden kann durch Handeln und Sprechen, indem die jeweils eigene Perspektive auf einen Gegenstand, auf einen Sachverhalt zeigt, dass sie bedingt ist durch die gesellschaftspolitischen und individuellen Bedingungen, die „Privatbedingungen“, wie Kant es benennt. Die eigene Meinung ist durch individuelle Vorstellungen bedingt, die durch den Austausch mit gleichberechtigen Anderen offenbart und – im Hegelschen Sinn – aufgehoben werden, sodass ein größerer Grad von Objektivität auf einen Sachverhalt durch verschiedene Perspektiven ermöglicht wird. Diese durch das Handeln und Sprechen geschaffene Welt kann es Arendt zufolge nur geben, weil „die Pluralität des Menschengeschlechts mehr ist als die einfache Multiplikation von Exemplaren einer Gattung“ (Arendt 1993, S. 106). Man kann Arendts kritische Aufnahme des Politischen von Aristoteles auch anhand der Einführung ihres grundlegenden Begriffs der Pluralität erkennen: Betrachtet man ihre „Rückerinnerungen“ (Arendt 1993, S. 41) an den traditionellen Begriff der Politik, so kritisiert sie nicht nur die Reduzierung auf Herrschaft sondern auch deren Naturalisierung und „Aristotelische[n] Subjektivierung“ (Arendt 2002, S. 26), die Vorstellung, dass der Mensch selbst schon politisch sei. Hatte Aristoteles den Menschen als „zoon politikon“ und als „zoon logon echon“ bestimmt, so kritisiert Arendt die erste, nicht aber die zweite Bestimmung. Es gebe keine Natur oder ein Wesen des Menschen. Menschen sind für sie „bedingte Wesen“ (Arendt 2003, S. 16). Es „berechtigt uns nichts

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zu der Annahme, dass der Mensch überhaupt ein Wesen oder eine Natur im gleichen Sinne besitzt wie alle andere Dingen“ (Arendt 2003, S. 17). Arendt wendet sich gegen eine „essentialisierende Darstellung des Menschen als eines ‚zoon politikon‘“ (Jaeggi 1997, S. 29). „Als ob es im Menschen etwas Politisches gäbe, das zu seiner Essenz gehöre. Dies stimmt gerade nicht; der Mensch ist a-politisch. Politik entsteht in dem Zwischen-den-Menschen, also durchaus außerhalb des Menschen. Es gibt daher keine eigentlich politische Substanz“ (Arendt 1993, S. 11). An die zweite Bestimmung „zoon logon echon“ von Aristoteles knüpft sie jedoch kritisch an. Denn Aristoteles bestimmt Politik und Sprache quasi gleichursprünglich. In der berühmten Passage, in der Aristoteles den Menschen als zoon politikon bestimmt, fügt er dieser Bestimmung zugleich eine weitere hinzu: zoon logon echon. Die erste Bestimmung sagt, dass Politik in die von Natur aus bestehenden Dinge einzureihen ist, und dass der Mensch von Natur aus ein polis bildendes Lebewesen (zoon politikon) ist, während in der zweiten Bestimmung der Mensch als sprachbegabtes Lebewesen, als zoon logon echon hervorgehoben wird: „Über die Sprache aber verfügt allein von den Lebewesen der Mensch. Die Stimme nun bedeutet schon ein Anzeichen von Leid und Freude, daher steht sie auch den anderen Lebewesen zu Gebote; ihre Natur ist nämlich bis dahin gelangt, dass sie über die Wahrnehmung von Leid und Freude verfügen und das den anderen auch anzeigen können. Doch die Sprache ist da, um das Nützliche und das Schädliche klarzulegen und in der Folge davon das Gerechte und Ungerechte. Denn das ist im Gegensatz zu den anderen Lebewesen den Menschen eigentümlich, dass nur sie allein über die Wahrnehmung des Guten und des Schlechten, des Gerechten und des Ungerechten und anderer solcher Begriffe verfügen. Und die Gemeinschaft in diesen Begriffen schafft Haus und Staat“ (Aristoteles 2012). Die Menschen verfügen über die Wahrnehmung beim Schönen und Hässlichen, beim Gerechten und Ungerechten und können klarlegen, was es ihnen bedeutet. D. h., es wird darüber gesprochen, es wird diskutiert und debattiert, und die Menschen tauschen sich über diese Dinge nicht nur aus, sondern die Formulierung „die Gemeinschaft in diesen Begriffen schafft Haus und Staat“ kann so verstanden werden, dass sie die Grundlagen der menschlichen Angelegenheiten bestimmt. An die Idee, dass Freiheit etwas mit Politik zu tun hat, dass über die menschlichen Angelegenheiten gesprochen wird und dass Menschen über gemeinsame Angelegenheiten kommunizieren, knüpft Arendt nach den Zivilisationsbarbareien des zwanzigsten Jahrhunderts an. Sie verschreibt sich dabei aber weder einem Aristotelismus noch einem Neoaristotelismus, sondern reflektiert in einer Art rettender Kritik Erfahrungen der Politik seit ihrem Ursprung, um die politische Welt zu begreifen. Dabei erweitert sie Aristoteles‘ zoon logon echon um eine weitere Dimension. Es werde nicht nur etwas mitgeteilt oder besprochen und

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debattiert über das, was gerecht oder ungerecht ist, sondern in allen diesen Dingen offenbart jeder zugleich sich selbst. Über diese Offenbarung des eigenen Selbst verfüge man aber nicht, sondern es offenbart sich den Anderen, denen, mit denen man handelt und spricht. Handelnd und sprechend offenbart sich der Einzelne, offenbart sich performativ Individualität. Sprechen ist bei Arendt eine Form des Handelns und damit eine Form von Praxis (Arendt 1985, S. 29, 167, 168). Die Schwierigkeit besteht dann darin, die Gemeinsamkeit von Handeln und Sprechen und den Unterschied zwischen Handeln und Sprechen zu benennen. „Und dies nicht nur, weil ja offenbar alles politische Handeln, sofern es sich nicht der Mittel der Gewalt bedient, sich durch Sprechen vollzieht, sondern auch in dem noch elementareren Sinne, dass nämlich das Finden des rechten Wortes im rechten Augenblick, ganz unabhängig von seinem Informations- oder Kommunikationsgehalt an andere Menschen, bereits Handeln ist (…)“ (Arendt 1985, S. 36, Hervorheb. von WMS). Das „bloße Gerede“ im Unterschied zum „Handeln und Sprechen“ ist dadurch gekennzeichnet, dass es buchstäblich „über nichts mehr Aufschluss gibt, also dem eigentlichen Sinne des Sprechens geradezu zuwiderläuft“ (Arendt 1985, S. 221). Die politische Dimension der Sprache wird deutlich, wenn man Arendts Ausführungen zum „Sprechen und Handeln“ genauer betrachtet. Gleichursprünglich und ebenbürtig werden hier Sprechen und Handeln genannt: „Denn was immer Menschen tun, erkennen, erfahren oder wissen, wird sinnvoll nur in dem Maß, in dem darüber gesprochen werden kann.“ (Arendt 1985, S. 12). Erst dann, wenn Menschen sich sprachlich aufeinander beziehen, Andere hören und sehen, und selber gehört und gesehen werden, erst dann, „wenn Worte und Taten untrennbar miteinander verflochten erscheinen, wo also Worte nicht leer und Taten nicht gewalttätig stumm sind, wo Worte nicht missbraucht werden, um Absichten zu verschleiern, sondern um neue Bezüge zu etablieren und zu festigen, und damit neue Realitäten zu schaffen“ (Arendt 1985, S. 252), findet Politik als das Zusammensein und Miteinanderhandeln der Verschiedenen statt. Arendt hat also unterschiedliche Formen des Handelns und Denkens vor Augen, wenn sie deren spezifische Formen erörtert. So ist auch die Gewalt der Sprache nicht einfach entgegengesetzt, sondern Arendt identifiziert Übergänge von sprachlichem Handeln zur Gewalt, wenn sie über die Logik des Sprechens reflektiert, worauf Gerald Posselt zurecht hinweist: „Die Logik als das letzte Residuum des Sprechens führt in diese Stummheit, insofern sie bereits das Über des Redens verloren hat – zugleich mit dem Verlust des Anderen und des Selbst in der Verlassenheit. Logisches Denken führt daher immer in Gewalt. Logik spricht niemand an und redet über nichts. So bereitet sie die Gewalt vor.“ (Arendt 2002, S. 345, Meints 2011; Posselt 2017). Wenn Arendt formuliert, dass Politik „von dem Zusammen- und Miteinandersein der Verschiedenen“ handelt, dann ist mit dieser Bestimmung schon

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impliziert, dass durch das Handeln und Sprechen der Menschen ein Raum entsteht, der die gemeinsamen menschlichen Angelegenheiten bespricht, die aus verschiedenen Perspektiven konstituiert wird. Deshalb argumentiert sie vehement dafür, Politik als ein „Zwischen-den-Menschen, also durchaus außerhalb des Menschen“ zu verstehen, weil es „keine eigentlich politische Substanz“ gibt: „Politik entsteht im Zwischen und etabliert sich als der Bezug“ (Arendt 1993, S. 11). Dieser Bezug, der für sie nicht weniger als ein „handgreifliches Bezugsystem“ darstellt, wie die Organisation der Polis, die auch territorial nicht gebunden ist, entsteht durch „Handeln und Sprechen“ (Arendt 1993, S. 287). Das „Handeln und Sprechen“ ermöglicht ein „handgreifliches Bezugssystem“, es wird bei Arendt zur Bedingung der Möglichkeit von Verstehen und Verständigung, die notwendig sind, wenn wir davon ausgehen, dass Menschen sowohl gleich als auch verschieden sind. Denn „wenn wir alle gleich wären, bräuchten wir uns nicht verständigen, wären wir alle verschieden, könnten wir uns nicht verständigen“ (Arendt 1985, S. 55). Der zentrale Begriff der Pluralität als Gleichheit und Verschiedenheit wird durch das Miteinandersprechen und Miteinanderhandeln aktiv zum Ausdruck gebracht und stellt eine Bedingung der Möglichkeit dar, Menschen nach ihren Meinungen, Worten und Taten zu beurteilen und nicht nach identifizierenden Zuschreibungen. Das Faktum der Pluralität der Menschen – als einer Vielzahl von Menschen, die Verschiedene sind – korrespondiert mit einer Pluralität von Perspektiven auf die soziale Wirklichkeit, die der einfachen Tatsache entspringt, dass jede und jeder einen nur ihr/ ihm eigenen Ort in der Welt hat. Aber, und das ist für Arendt entscheidend: Nur in der aktiven Auseinandersetzung mit Anderen entfaltet und konstituiert sich die Pluralität der Menschen, weil sich das „Wer einer ist“ oder „Wer wir sind“ im Sprechen und Handeln offenbart: „Wir müssen erscheinen, sehen und gesehen werden, hören und gehört werden; was wir zeigen, sind wir, nicht umgekehrt“ (Arendt 1992, S. 89). Arendt bindet die Identität an die Erscheinung und damit an die Anderen, denen man erscheint. Über das Selbst als Identität verfügt man nicht, sondern man erfährt es durch und von Anderen durch die Sprache bzw. das Miteinandersprechen und Handeln. Dabei bringt Arendt drei Elemente mit Bezug auf Jaspers zusammen: Sprache, Kommunikation und Wahrheit. „Wenn Sie nicht auf irgendeine Weise kommunizieren und das, was Sie herausgefunden haben, als Sie allein waren, entweder mündlich oder schriftlich der Prüfung durch andere aussetzen können, wird die in Einsamkeit ausgeübte Fähigkeit verschwinden. In den Worten von Jaspers: Wahrheit ist das, was ich mitteilen kann. Wahrheit in den Naturwissenschaften hängt von dem Experiment ab, das von anderen wiederholt werden kann; sie verlangt Allgemeingültigkeit. Die philosophische Wahrheit hat keine solche Allgemeingültigkeit. Was sie braucht, was Kant in der Kritik der Urteilskraft von den Geschmacksurteilen forderte, ist

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­‚allgemeine ­Mitteilbarkeit‘“(Hannah Arendt 1985, S. 57). Da Menschen nicht, wie Martin Heidegger es formulierte, „in die Welt geworfen werden“, „sondern von Menschen in eine schon bestehende Menschenwelt geboren werden, geht das Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten allem einzelnen Handeln und Sprechen voraus, sodass sowohl die Enthüllung des Neuankömmlings durch das Sprechen wie der Neuanfang, den das Handeln setzt, wie Fäden sind, die in ein bereits vorgewebtes Muster geschlagen werden und das Gewebe so verändern, wie sie ihrerseits alle Lebensfäden, mit denen sie innerhalb des Gewebes in Berührung kommen, auf einmalige Weise affizieren“ (Arendt 2002, S. 549; Arendt 2003, S. 226).

Literatur Arendt, Hannah. 1970. Macht und Gewalt, München. Piper Verlag. Arendt, Hannah. 1985. Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie. Dritter Teil zu „Vom Leben des Geistes“. Aus dem Nachlass herausgegeben und mit einem Essay von Ronald Beiner. Aus dem Amerikanischen von Ursula Ludz. München. Piper Verlag. Arendt, Hannah. 1989. Menschen in finsteren Zeiten. Hrsg. von Ursula Ludz, München. Piper Verlag. Arendt, Hannah. 1993. Was ist Politik, (Hrsg. von Ursula Ludz), München. Piper Verlag. Arendt, Hannah. 1994. Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, München. Piper Verlag. Arendt, Hannah. 1997. Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, München. Piper Verlag. Arendt, Hannah 2002. Denktagebuch, 1950–1973, 2 Bde., hrsg. von Ursula Ludz/ IngeborgNordmann, München. Piper Verlag. Arendt, Hannah. 2003. Vita activa oder vom tätigen Leben, München. Piper Verlag. Arendt, Hannah. 2011. Über die Revolution, München.Piper Verlag. Aristoteles. 1981. Politik. München. Felix Meiner Verlag. Meints, Waltraud. 2011.Partei ergreifen im Interesse der Welt. Eine Studie zur politischen Urteilskraft im Denken Hannah Arendts. Bielefeld. transcript Verlag. Park, Hyok. 2009. Politik und Pluralität. Die Pluralität als das politische Phänomen bei Hannah Arendt. Dissertation, Erlangen-Nürnberg. Posselt, Gerad. 2017. Gewalt beginnt, wo das Sprechen verstummt. Zum Verhältnis von Sprache und Gewalt bei Hannah Arendt. In Menschsein – Fundament. Imperativ oder Floskel? Beiträge zum 10. Internationalen Kongress der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie in Innsbruck, Hrsg. Anne Siegetsleitner und Andreas Oberprantacher, 411 – 422. Innsbruck. Jaeggi, Rahel. 1997. Welt und Person. Zum anthropologischen Hintergrund der Gesellschaftstheorie Hannah Arendts, Berlin. Lukas Verlag. Straßenberger, Grit. 2015. Hannah Arendt zur Einführung, Hamburg. Junis Verlag. Taylor, Charles. 2017. Das sprachbegabte Tier, Frankfurt a.M. Suhrkamp.

Drohender Untergang? Rechtspopulismus, Krisenrhetorik und (Film-)Sprache im Dokumentarfilm „Montags in Dresden“ Tanja Seider

Zusammenfassung

Die repräsentative Demokratie wird gegenwärtig durch den Rechtspopulismus herausgefordert. Rechtspopulisten kommunizieren (ungeachtet der gesellschaftlichen und politischen Realität) in einem Dauerkrisenmodus und stellen über diese Strategie ein Klima der Angst und Bedrohung her, das verstärkt in Gewalt gegen Minoritäten, politische Gegner und politische Repräsentanten eskaliert. Der Dokumentarfilm „Montags in Dresden“ porträtiert Akteure der Pegida-Bewegung und nähert sich den Protagonisten über ihren Alltag. Im Artikel werden anhand des Films Themen und Strategien rechtspopulistischer (Ideologie-)Sprache analysiert. Dabei wird auch der Beitrag des Dokumentarfilms bei der Darstellung des Rechtspopulismus zwischen Dokumentierung und Normalisierung diskutiert. Die Filmanalyse sowie die Analyse der politischen Sprache können als Grundlage für einen Einsatz des Mediums in der politischen Bildung herangezogen werden. Die repräsentative Demokratie wird gegenwärtig durch den Rechtspopulismus herausgefordert. Im rechtspopulistischen Diskurs werden staatliche Institutionen und Entscheidungsträger als ineffizient und elitär inszeniert und einfache Lösungen für komplizierte politische und gesellschaftliche Probleme propagiert. Neben der

T. Seider (*)  Universität Augsburg, Augsburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Juchler (Hrsg.), Politik und Sprache, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30305-1_4

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Aggressivität rechtspopulistischer Rhetorik sieht der Rhetorikwissenschaftler Olaf Kramer ein weiteres Problem darin, dass Populisten in einem Dauerkrisenmodus kommunizierten und über diese Strategie ein „Klima der Angst und Bedrohung“ herstellten: „[E]s sind weniger objektive Bedrohungen und pure Not, die Menschen zu den Populisten treiben, als vielmehr eine Bedrohungslage, welche die Populisten selbst erzeugen. Damit werden Emotionen zum Handlungsmaßstab und rationale Überlegung wird diskreditiert.“ (Kramer 2019, S. 22). In diesem Beitrag zur Darstellung des Rechtspopulismus im Dokumentarfilm werden zunächst die Zusammenhänge zwischen Politik und Sprache mit einem Schwerpunkt auf der Perspektive der Politolinguistik dargelegt. Das aktuelle Phänomen Rechtspopulismus wird dabei anhand einer Analyse der politischen Sprache und der Filmsprache im Dokumentarfilm „Montags in Dresden“ (R: Sabine Michel, 2017) erschlossen.

1 Rechtspopulistische Ideologie Während die Ideologie des „klassischen“ Rechtsextremismus klar definiert ist,1 weist der Rechtspopulismus Unschärfen auf, da sich ideologische Elemente des Populismus auf wechselnde Inhalte beziehen können. Anton Pelinka sieht ein vorherrschendes Merkmal des Rechtspopulismus in dessen Funktion als Mobilisierungstechnik und definiert diesen primär als Verfahren, Strategie, Kommunikationsstil (Pelinka 2013, S. 9). Die Soziologin Karin Priester hingegen warnt davor, die dem Rechtspopulismus eigene Polarisierung zwischen „uns und den Anderen“ als bloßes sprachliches Verfahren zu unterschätzen. Sie betont, dass das Alleinstellungsmerkmal des Populismus weder auf „programmatischer noch auf stilistischer, sondern auf der ideologischen Ebene eines inhaltlich variablen Identitätsdiskurses“ liege (Priester 2016, S. 534). Der Populismus weist nach Dietmar Till eine vertikale Dimension auf (als „Elitenkritik“, in der das „unschuldige Volk“ gegen die „korrupte politische Klasse“ in Stellung gebracht wird) sowie eine horizontale Dimension, die Strategien der In- und Exklusion innerhalb der Bevölkerung herstellt (Till 2019, S. 17).2 1Stöss

(2000, S. 20 f.) hebt in seiner Definition vier Merkmale hervor: 1) Übersteigerter Nationalismus, Beschwörung äußerer Bedrohung; 2) Negierung der universellen Freiheitsund Gleichheitsrechte der Menschen; 3) Tendenzielle Gegnerschaft zu parlamentarischpluralistischen Systemen; 4) Gesellschaftliches Leitbild einer ethnisch homogenen Volksgemeinschaft mit einem Führer. 2Die In- und Exklusion kann ethnisch, kulturell, religiös, sozial etc. konstruiert sein.

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2 Rechtspopulismus und Sprache „Sprache ist nicht nur irgendein Instrument der Politik, sondern überhaupt erst die Bedingung ihrer Möglichkeit“, konstatiert der Politolinguist Heiko Girnth (2015, S. 1). Im erweiterten Politikverständnis seiner Disziplin gehe es um ein sprachliches Handeln in der Politik, das ein „auf den Staat bezogenes Reden“ sowie das sprachliche „Handeln von Individuen und Gruppen“ einschließt (ebd.). Das politische Sprachhandeln ist (insbesondere in der Demokratie, wo es Mehrheiten zu organisieren gilt) weitgehend auf Persuasion ausgerichtet, das heißt darauf, andere zu überzeugen und vorhandene Überzeugungen zu bestärken (ebd.). Die Sprache des Rechtspopulismus unterscheidet sich jedoch deutlich von einer auf rationale Argumente ausgerichteten Kommunikation. Kai Hirschmann schreibt der spezifisch rechtspopulistischen Sprache einen maßgeblichen Grund am Erfolg nationalpopulistischer Parteien zu und erklärt dies mit der politolinguistischen Theorie des Framing. Rechtspopulisten arbeiten demnach erfolgreich mit gezielt gerahmten Begriffen, die bestimmte Stimmungen und Haltungen fördern (vgl. Hirschmann 2017, S. 189) und dabei Bedrohungsszenarien herstellen und Wertvorstellungen abrufen. Nach der Theorie des Framing, die von der Linguistin Elisabeth Wehling auf die politische Kommunikation übertragen wurde, sind in politischen Debatten nicht Fakten an und für sich entscheidend, sondern die Frames (gedankliche Deutungsrahmen), denen diese Fakten zugeordnet werden: Frames werden durch Sprache im Gehirn aktiviert. Sie ordnen Informationen im Verhältnis zu körperlichen Erfahrungen und abgespeichertem Wissen über die Welt ein (vgl. Wehling 2017, S. 17 f.). Je emotionaler und ausdrucksstärker neue Frames an ein „Bauchgefühl, eine moralische Intuition“ appellieren, desto effektiver können sie sich etablieren (Hirschmann 2017, S. 189). Insofern spielt die Herstellung von Krisen und Bedrohungen in der Sprache sowie die Besetzung von Begriffen bei der Konstruktion und der Verbreitung rechtspopulistischer Ideologie eine zentrale Rolle. Der Kampf um die Vorherrschaft in der Sprache ist Teil rechter Metapolitik.3 Deren Ziel bestehe, so der Politologe Samuel Salzborn,

3Die

vom Marxisten A. Gramsci entwickelte Strategie der Metapolitik wurde von der Neuen Rechten angeeignet: „Gramsci hatte das traditionelle marxistisch-leninistische Konzept eines Zugriffs auf die Staatsorgane und Produktionsmittel um den Gedanken erweitert, dass ein Erfolg der Revolution zuvor die Erringung einer ‚kulturellen Hegemonie‘ seitens der Linken voraussetze.“ (Weiß 2017, S. 18) Theoretiker der Neuen Rechten empfehlen daran anknüpfend „alte, erfolglose Manöver der Machtgewinnung (vorerst) auf[zu]geben und stattdessen in den Diskurs-Schlachten des Zeitgeistes Stellung [zu] beziehen.“ (zitiert n. Weiß 2017, S. 17).

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darin, den Diskurs zu intellektualisieren und eine rechte kulturelle Hegemonie zu erringen. Längerfristig sollen auf diese Weise die politischen Verhältnisse entsprechend der rechten Ideologie umgestaltet werden (vgl. Salzborn 2015, S. 64).

3 Die extreme Rechte in der Bundesrepublik im Dokumentarfilm nach 1990 Der Regisseur Thomas Heise drehte unmittelbar nach der deutschen Vereinigung den Film „Stau – jetzt geht’s los“ (1992) über rechtsextreme Jugendliche in Halle-Neustadt. Als Dokumentarfilmstil – und somit als epistemologischen Zugang zur sozialen Realität4 – wählte Heise ein betont zurückgenommenes dokumentarisches Format, eine Mischform, die an das Direct Cinema angelehnt ist,5 aber zusätzlich durch Interviews mit den Jugendlichen bzw. ihren Eltern angereichert wurde und an einigen Stellen auch Erzählerkommentare aufweist. Zur Zeit seiner Entstehung war dieser nüchterne, nicht unmittelbar wertende Zugang umstritten: In Berichten über Filmscreenings finden sich die Beschreibungen erhitzter Auseinandersetzungen im Publikum über die Frage, ob es sinnvoll und ethisch sei, gewaltbereite Neonazis derart unaufgeregt im Film darzustellen.6 Hingegen konstatiert der Soziologe Wolfgang Engler, dass dem Publikum durch die Auswahl und Organisation des Materials eine Haltung vermittelt, aber nicht aufgedrängt wird (Engler 2019, S. 122). In Heises Film wird die sprachliche und die nonverbale Kommunikation in der rechtsextremen Szene eingefangen und somit die Ideologie und eine sich radikalisierende politische Praxis aus dieser Zeit dokumentiert. In der filmischen Bearbeitung des Themas

4Eine

soziale und ästhetische Haltung gegenüber einem filmischen Gegenstand wird im Dokumentarfilm auch über den gewählten Dokumentarfilmstil hergestellt, mittels dessen „Realität“ audiovisuell und möglichst authentisch konstruiert wird (vgl. Nichols 1991). 5Im Direct Cinema (beobachtender Dokumentarfilmstil) wird das Filmen als objektive, wissenschaftliche Beobachtung wie im Labor verstanden, da die Regie (vermeintlich) nicht Teil des Settings ist. 6Vgl. Peter Nowaks Bericht https://www.heise.de/tp/features/Inside-Pegida-4028030.html? seite=all (eingesehen am 15.3.2019).

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werden durch Dramaturgie, Montage und Kamerainszenierung spezifische Handlungs- und Radikalisierungsmuster ausgestellt, die sich zunächst nur in Ideologie und Sprache manifestieren, die später aber zur direkten Gewaltentladung gegen die politischen Gegner führen.

4 Der Film „Montags in Dresden“ Ein Vierteljahrhundert später ist mit „Montags in Dresden“ (2017) ein Dokumentarfilm entstanden, dessen Regisseurin Sabine Michel7 sich in die Tradition Heises und des beobachtenden Dokumentarfilms stellt. Im Film porträtiert sie Aktivisten der rechtspopulistischen-rechtsextremen Bewegung Pegida8. Die Protagonisten verkörpern die Heterogenität der Bewegung hinsichtlich sozialer Kategorien wie Geschlecht und soziale Herkunft. Sabine Ban wird als engagierte alleinerziehende Mutter eines Kindes mit Behinderung eingeführt, René Jahn wird als umtriebiger Aktivist gezeigt, der Kontakte in viele Bereiche der Dresdener Stadtgesellschaft unterhält.9 Daniel Heimann tritt im Film als erfolgreicher mittelständischer Unternehmer auf. Götz Kubitschek, ein rechtsextremer Theoretiker und Stichwortgeber der Neuen Rechten, wird am Rande eingeführt. Die Pegida-Bewegung, dargestellt anhand von Mittschnitten der so genannten „Dresdner Montagsdemonstrationen“, dient nur als Hintergrund für die Narration.

7Sabine

Michels Dokumentarfilme widmen sich insbesondere DDR- bzw. ostdeutschen Themen oder einem Blick auf gesellschaftliche Phänomene aus dieser Erfahrungsperspektive. Im Film thematisiert die Regisseurin im Voice over auch kurz ihre eigene biografische Verbindung zu ihrer Geburtsstadt Dresden. 8Der Name der Pegida-Bewegung („Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlands“) eröffnet – ohne dass dies ständig neu thematisiert werden muss – einen Deutungsrahmen, in dem Selbst- und Fremdbilder sowie stereotypisierte Zuschreibungen verortet werden können. 9Auf René Jahn kann im Text nicht eingegangen werden.

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5 Dokumentieren  = normalisieren? Die Rahmung rechtspopulistischen Denkens und Handelns im Dokumentarfilmstil Mit dem im Film gewählten biografischen Zugang zum Rechtspopulismus wird insbesondere die Dimension politics beleuchtet, die politisches Handeln, politische Prozesse sowie die politischen Interessen der Akteure umfasst. Allerdings steht beim beobachtenden Dokumentarfilm nicht das Politische im Fokus, sondern es geht darum, den Protagonisten als Menschen nahe zu kommen und diese jenseits gängiger Klischees und eingeübter Rollenbilder kennenzulernen.10 Dementsprechend werden die Protagonisten auch auf PegidaVeranstaltungen gefilmt, über weite Strecken werden sie aber bei ihrer Erwerbsarbeit, bei Reproduktionstätigkeiten oder in ihrer Freizeit als „Privatpersonen“ begleitet. Diese Aufnahmen stehen im Film ohne Wertung oder Einordnung nebeneinander, sodass die politische und die private Seite der Protagonisten miteinander vermischt werden oder dass durch eine starke Gewichtung auf der (scheinbar unpolitischen) Darstellung der „privaten Seite“ die politische Aktivistenrolle überschrieben wird. Viele der Protagonisten wiederum sind erfahren und ideologisch-politisch geschult. Sie nutzen ihrerseits ihren Auftritt im Film auch um rechtspopulistische Deutungsmuster zu verbreiten. Dabei vermeiden sie ein klassisches Ideologievokabular rechter Diskurse weitgehend und kleiden ihre Botschaften in eine Sprache, die aus konkreten persönlichen Erfahrungen (vgl. Sabine Ban) zu schöpfen scheint oder die sich aus abstrakten philosophisch-subjektiven Betrachtungen (vgl. Daniel Heimann) speist. Der Habitus und ein unauffälliger Kleidungsstil der Akteure verweisen auf deren Verortung in der Mitte der Gesellschaft und nicht auf den Dresscode am rechten Rand.11 Dadurch bleibt die rechtspopulistische Perspektive unmarkiert und es

10Michel

berichtet im Interview: „Ich habe in den ersten Monaten viele Menschen bei Pegida getroffen, […] bis ich mich für drei Protagonisten entschieden habe. Mich haben ihre Lebensläufe interessiert, ihre Lebensumstände, ihre Familiengeschichten“ (Michel 2017). 11Hier stellen sich allgemeine Einordnungsschwierigkeiten durch eine Veränderung der „Codes“ der extremen Rechten dar: Während die rechtsextremen Jugendlichen in Heises Dokumentarfilm sich offen mit neonazistisch codierten Objekten und Praktiken zeigen (sie tragen Bomberjacke und entsprechende Kurzhaarschnitte, führen den Hitlergruß aus und grölen Parolen), sind die Protagonisten in „Montags in Dresden“ nicht vom Gros der Mitte der Gesellschaft unterscheidbar.

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wird in dem zurückgenommenen Dokumentarfilmstil das politische Denken und Handeln weitgehend entideologisiert. a) Kommunikationsstil „Erfahrungswissen“ einer „besorgten Bürgerin“: Sabine Ban Die politische Partizipation von Frauen im rechten Spektrum wird für Formen nicht institutionalisierter politischer Beteiligung (Organisationen, Kameradschaften, Cliquen etc.) auf bis zu 30 % geschätzt (Bitzan 2016, S. 339). Trotz einer in der Forschung nachgewiesenen Beteiligung von Frauen an rechten Ideologiediskursen sowie in der politischen Praxis werde allerdings, so betont Renate Bitzan, in der öffentlichen Wahrnehmung die Tatverantwortlichkeit von Frauen häufig ausgeblendet (Bitzan 2016, S. 337 f.). Frauen, die prominent in der rechten Szene agieren und sichtbar sind, können somit qua Geschlechtszugehörigkeit eine gemäßigte Außendarstellung rechter Bewegungen erreichen und zu deren Normalisierung12 beitragen. Die audiovisuelle Inszenierung der Protagonistin Sabine Ban im Film folgt (ungewollt) diesem Muster. Ban wird im Film überwiegend zuhause – in der Sphäre des Privaten – gezeigt. Dabei wird ihre Rolle als Mutter betont, wenn die Filmsequenzen die freundliche, junge alleinerziehende Frau bei gemeinsamen Alltagsverrichtungen mit ihrem mit Autismus diagnostizierten Sohn zeigen. Auch die Filmsequenzen von ihrer Teilnahme an den Pegida-Demonstrationen, die die freundschaftlichen Interaktionen zwischen Ban und anderen Aktivisten in den Fokus nehmen, implizieren, dass Ban der Pegida-Bewegung aus sozialen und weniger aus politischen Motiven angehört, da sie dort eine Erweiterung ihres sozialen Umfelds vorfindet. Die vorherrschende Inszenierung der politischen Aktivistin Sabine Ban in ihrer sozialen Rolle als Mutter eines beeinträchtigten Kindes legt einen Deutungsrahmen für die Rezeption aller ihrer Redebeiträge nahe. Die filmische Rahmung, in der solche Sequenzen aneinander montiert werden, unterstützt (implizit) eine geschlechterstereotype Lesart, die die weibliche Aktivistin mit Erziehungsund Reproduktionstätigkeiten assoziiert und somit in der Sphäre des Privaten

12Normalisierung

kann als eine (ausbleibende) Haltung bezeichnet werden, die rechte und rechtsextreme Positionen als eine legitime, diskutierbare Meinung neben anderen behandelt. Der Netzaktivist Sascha Lobo beschreibt Normalisierung als „das wichtigste Instrument, mit dem Debatten nach rechts verschoben werden“ und somit als „Voraussetzung, damit auch bürgerliche Konservative mit einer gewissen Rechtsoffenheit beginnen, Rechtsextreme zu wählen“ (Lobo 2019: 160).

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v­ erortet. Eine Filmsequenz beginnt damit, dass Ban mit ihrem Sohn liebevoll am ­Spielplatz interagiert. Im Anschluss daran ist ein Redebeitrag montiert, in dem sie scheinbar aus ihrem Alltag als Alleinerziehende erzählt: „Na, ich bin jetzt abends nicht mehr Joggen zum Beispiel. Weil ich kann mich ja nicht darauf verlassen, dass ich Glück habe und jemand mir zur Hilfe springt, wenn was ist. Und da das ja schon mehrmals vorkam, lässt man es dann halt bleiben. […] Wenn man dann permanent auch noch angegraben wird unterwegs – selbst in Jeans und Pulli im Sommer, dann überlegt man halt: Nimmt man jetzt das Kleid oder doch lieber lange Hosen? […]Vor ein paar Jahren habe ich da noch nicht drüber nachgedacht. […] Und wenn man dann noch die Mentalität kennt aus den Ländern, wo sie herkommen. Da muss man nicht den Koran oder Sonstiges gelesen haben […]“.

Die Sequenz wird thematisch nicht als Äußerung im Kontext eines Ideologiediskurses gerahmt, sondern wird in der Alltagswelt der Alleinerziehenden inszeniert. Mit dieser Verschiebung, weg vom öffentlich-politischen Kontext, hin zu einer subjektiv-privaten Perspektive, in der die politische Aktivistin sukzessive hinter der Privatperson verschwindet, erscheint der rassistische Vorwurf sexistischer Gewalt durch (muslimische) Männer nun als subjektiv-persönliches Erfahrungswissen, präsentiert in der unverbindlichen dritten Person Singular („man“), die ein „vom Hörensagen“ impliziert. Auffällig ist indes, dass Ban immer dann ihre Körpersprache verändert, wenn sie ideologische Äußerungen tätigt, die an rechte Diskurse anknüpfen. Ban fällt dann quasi selbst aus ihrer Rolle als Privatperson, indem sie sich sichtbar angriffslustig nach vorne beugt und einen agitatorischen Modus einnimmt, in dem die politische Aktivistin gezielt Botschaften ihrer rechten Bewegung platziert. Dass es sich hier indes um eine „Ethnisierung von Sexismus“ handelt, und somit um eine Strategie, in der rechte Frauen das übergriffige Verhalten, welches sie durch Männer aus ihrem Umfeld (bzw. ihrer Eigengruppe) erfahren haben, auf „fremde Männer“ projizieren (Bitzan 2016, S. 331), erschließt sich nur den Zuschauern, die genau hinsehen. Der nicht intervenierende Dokumentarfilmstil, bei dem die Regie nicht nachhakt, trägt an solchen Stellen dazu bei, problematische Inhalte, die als vermeintlich „objektive Realität“ tradiert werden, zu normalisieren. Eine andere Sequenz zeigt Ban in ihrem Keller, wo sie Vorräte und Konservendosen für einen Notfall im Falle eines (in ihren Augen drohenden) Bürgerkriegs bzw. Kriegs angehäuft hat. Auch hier greift es zu kurz, Bans Denken und Handeln ausschließlich in die Privatsphäre zu verlagern und ihre Befürchtungen als diejenigen einer geforderten, manchmal sicherlich auch überforderten Person zu

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reduzieren. Ihre Imaginationen von einer scheinbar kurz bevorstehenden Dystopie von der Zerstörung politischer und gesellschaftlicher Ordnung durch Einwanderung, Kulturkonflikte, Kontrollverlust, Bürgerkrieg oder Antagonismen mit Nachbarländern sind deutlich ideologisch grundiert und gehören zum festen Ideologiebestand rechtspopulistischer bzw. rechtsextremistischer Bewegungen.13 Die Vorbereitungsmaßnahmen, mit denen sich die Prepper-Bewegung und rechte Netzwerke für den Zustand nach dem Umsturz der staatlichen Ordnung wappnen, stellen ein Stück rechter Alltagspraxis dar: Diese erlaubt es Akteuren ihre dystopischen Phantasien in einem individuell beherrschbaren Format auszuagieren und kollektiv im Alltag auf den Umsturz hinzuarbeiten. Ein Zoom out auf diese Strukturen hätte diese scheinbar ­ subjektiv-erfahrungsgesättigten „Ansichten“ und Praktiken als ideologische Diskurse aus der rechten Szene kenntlich machen können. b) Kommunikationsstil Sprache des Niedergangs – Rhetorik der Notwehr: „Und wir sind noch nicht im Keller…“ Die Pegida-Bewegung legt ihre Ideologie im Namen offen dar und markiert Einwanderung, eine vielfältige Gesellschaft sowie einen als homogen konstruierten „Islam“ als Feindbild. Die Protagonisten Götz Kubitschek und Daniel Heimann stellen ihrem Selbstverständnis nach die intellektuellen Theoretiker der rechten Bewegung dar. Ihre Sprache ist codierter und abstrakter als die Alltagssprache der anderen Protagonisten, in der Argumente, Emotionen und Stereotype ungebrochen artikuliert werden. Rechtspopulistische Sprache, in der Krisen-, Bedrohungs- oder gar Untergangsszenarien hergestellt werden, hat die Funktion, rationale Argumente als Maßstab politischen Handelns durch Emotionen zu ersetzen. Im Kontext der langfristig angelegten Metapolitik, die eine Kulturrevolution von rechts anstrebt, geht es auch darum, eine (imaginierte) Krise und Bedrohungslage als Dauerzustand zu etablieren und darüber das Vertrauen in die Demokratie, ihre Verfahrensweisen, Grundsätze und Institutionen so radikal zu erschüttern, dass diese Herrschaftsform durch eine autoritäre Herrschaft ersetzt werden kann. Die Strategie des Framings, mit der Sprachbilder nachhaltig in den Köpfen des Publikums verankert werden sollen, spielt dabei eine zentrale Rolle in der rechtspopulistisch-extremistischen Sprache.

13Ban

erzählt, dass sie im Ernstfall einer Katastrophe nicht alleine sei, sondern dass sie in großen Gruppen agierten, die per WhatsApp miteinander kommunizierten. Es liegt hier nahe, dass ihre Aktivitäten in den digitalen Netzwerken politischer Natur sind.

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6 Kommunikationsstil: Religions- und Kulturkämpfer (Daniel Heimann) Daniel Heimann wird als Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens in Sachsen vorgestellt. Die von ihm mitbegründete „Pro Patria Pirna“ wird von der Regisseurin im Voice over als „eine Art Heimatverein, der verstärkt christliche und national-konservative Themen in den Raum tragen will“, eingeführt. In seinen Redebeiträgen adressiert Heimann, der mit Hochwertwörtern,14 wie „Freiheit“ und „Demokratie“ operiert, bürgerlich-konservative Kreise. Er rekurriert auf Konzepte, die Loyalität zur freiheitlich demokratischen Grundordnung suggerieren und zielt darauf ab, Deutungshoheit über symbolisch aufgeladene Begriffe wie „Freiheit“ zu erlangen. So stellt Heimann, der in Netzwerken mit handfesten Rechtsextremisten kooperiert,15 sich im Film mit folgenden Worten vor: Da „fallen die üblichen Floskeln, ‚rechts‘, ‚rechtsextrem‘. Ich bezeichne mich selber als freiheitlich denkenden Mensch“. In einer längeren Interviewsequenz zeichnet Heimann von der deutschen Gesellschaft ein Bild des Niedergangs, in dem diese durch Einwanderung von radikalen kulturellen und religiösen Umwälzungen unmittelbar bedroht erscheint: „Das Problem in unserer Gesellschaft ist, dass wir zumindest geistig kapituliert haben. […] Auf alle Fälle kommt eine andere Kultur hierher. Und die tragen ihren Gott durch die Zeit. Auf ihren Schultern. In Westeuropa hat man diesen Gott von den Schultern gekippt, also die Traditionslinien durchbrochen. […] Auf jeden Fall denke ich, dass wir diesen Leuten nichts entgegenzusetzen haben – in dieser Beziehung. Die bringen ihren Gott mit. Das macht mir Sorge, große Sorge.“

In dieser christlich-fundamentalistischen Interpretation Heimanns wird der emanzipatorische historische Prozess der Säkularisierung auf einen negativen

14Hochwertwörter

sind ideologiegebundene Symbolwörter, die die einer Gesellschaft gemeinsamen Überzeugungen und Werthaltungen repräsentieren. Als solche sind sie „bevorzugte Objekte (Groß)gruppen- und parteibezogener sprachlicher Usurpationsversuche“ (Girnth 2015, S. 63). Die Begriffe „Freiheit, Demokratie, Menschlichkeit“ zieren auch das Banner der „Pro Patria Pirna“. Im Kontext der politischen Verortung des Vereins werden diese Konzepte umgedeutet im Sinne der autoritären Ideologie der Neuen Rechten. 15„Pro Patria Pirna“ ist Teil des vom Verfassungsschutz beobachteten Netzwerks „Ein Prozent“-Initiative, in der Personen aus AfD, Neuer Rechter und der rechtsextremen, Identitären Bewegung zusammenarbeiten (vgl. Kulturbüro Sachsen 2019, S. 18).

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Gründungsakt reduziert. Das Bild eines Gottes, der respektlos von den Schultern gekippt wurde, visualisiert einen gewaltvollen Bruch mit den „eigenen Tradierungslinien“. In dieser Argumentation habe die deutsche Gesellschaft aufgrund einer kulturellen und religiösen Entwurzelung der „fremden Religion“, als die hier der Islam konstruiert wird, erst den Raum zur Expansion gegeben.16 Im Sinne dieser Deutung konstruiert er mächtige Sprachbilder, in denen er die Dominanzbeziehungen zwischen einer als hilflos dargestellten Aufnahmegesellschaft und einer raumgreifend-aktiven Einwanderung imaginiert. Sprachlich entfaltet die „fremde Kultur“ die imaginierte Bedrohung durch aktive Verben, die Dynamik, Agilität und Sendungsbewussten denjenigen unterstellen, die da „kommen“. Die Metapher des durch Zeit und Raum getragenen Gottes beschwört ein archaisches Bild, das an die Wucht von Massenszenen in alttestamentarischen Hollywood-Bibelfilmen erinnert und das zugleich eine diffuse Angst vor dem „Fremden“ und vor gesellschaftlicher Diversität schüren soll. Heimanns Narrativ von einer Bedrohung durch Einwanderung ist der horizontalen Dimension des Rechtspopulismus zuzuordnen. Mit dieser durch Sprache erst hergestellten Bedrohung ist die Absicht verbunden in gesellschaftliche Gefühlswelten zu intervenieren: „‚Frames‘ können dann am effektivsten etabliert werden, wenn sie ein Bauchgefühl, eine moralische Intuition und Intensität mitliefern.“ (Hirschmann 2017, S. 189).

7 Kommunikationsstil Agitator: Sprache der Gewalt – Aufruf zur „Notwehr“: Götz Kubitschek Der rechtsextreme Verleger Götz Kubitschek, der im Sinne der Metapolitik rechte Diskurse gesellschaftsfähig machen möchte, liefert Begriffe, Konzepte und Narrative für die Bewegung. Darin wird postuliert, die pluralistische Demokratie als Herrschaftsform zugunsten einer autoritären Herrschaft zu überwinden. Performativ weisen die von ihm verwendeten Sprachbilder den Weg von der sprachlichen zur realen Gewalt: Dementsprechend erteilt Kubitschek in „Provokation“, einem Schlüsseltext der Neuen Rechten, demokratischen Kommunikationsformen eine deutliche Absage: „Unser Ziel ist nicht die Beteiligung am Diskurs, sondern dessen Ende als Konsensform. Nicht ein Mitreden, sondern eine andere Sprache.

16Heimann

gibt hier eine Deutung der Neuen Rechten wieder, wie sie im Umfeld des rechten Think Tank „Institut für Staatspolitik“ von Karlheinz Weißmann, einem Mentor G. Kubitscheks, vertreten wird (vgl. Weiß, S. 5 f.).

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Nicht der Stehplatz im Salon, sondern das Ende der Party“ (Kubitschek 2007, o. S.). In einer aktualisierten Version des Textes stellt er die Krise als Methode und Ziel rechtsextremer (Umsturz-)Bestrebungen dar: „Wünschen wir uns die Krise! Sie bedrängt, sie bedroht unser krankes Vaterland zwar, aber gerade dies weckt vielleicht seinen Mut, ins Unvorhersehbare abzuspringen und das zu wagen, was den Namen ‚Politik‘ verdiente: Nur kein Rückfall ins Siechtum, ins Latente, ins Erdulden!“ (Kubitschek 2007, zit. nach Weiß 2017, S. 8). Der Rednertyp Agitator inszeniert sich als Vertreter eines vom Mainstream ausgegrenzten Anliegens und pflegt deshalb einen permanenten Unterminierungsgestus, der bestehende, „als elitär angeklagte politische oder kommunikative Ordnungsmodelle durch ständigen Angriff“ zu zerstören sucht (vgl. Knape 2019, S. 8–9). Im Film werden Ausschnitte aus Kubitscheks Reden gezeigt. Darin finden sich zentrale Aspekte des rechtspopulistisch-extremistischen Diskurses: 1) Ein antagonistischer Identitätsdiskurs, der suggeriert, gesellschaftliche Herausforderungen seien nur durch Dominanz und kriegerische Auseinandersetzung zu lösen; 2) die Konstruktion des eigenen Opferstatus auf der Grundlage einer Opfer-Täter-Umkehr; 3) die Erzeugung einer unmittelbaren Dringlichkeit zu handeln, u. a. durch sprachliche Strategien des Framing (kognitive Simulation); 4) ein revolutionärer Gestus wird mit einem impliziten Aufruf zur Gewalt gegen „das System“ oder die vermeintlichen Täter verbunden, der als „Notwehr“ deklariert wird. Der geübte Redner Kubitschek überträgt in einer Anekdote aus dem Tierreich, in der eine Katze einen Vogel gefangen hat und die Beute wegträgt, gesellschaftliche Verhältnisse auf ein Naturverhältnis. Darin setzt sich der Stärkere durch und der Schwächere kommt gewaltvoll zu Tode. Sprachmächtige Überzeugungskraft erhält die Erzählung allerdings erst durch eine Tier-Metaphorik aus dem Bereich der Jagd sowie durch die Gewalt, die in der Sprache codiert ist:17 „Es ist wie die Geschichte von der Katze und der Taube. Der Vogel ist ein bisschen zu groß für den Jäger, aber weil er sich den Flügel gebrochen hat, kann er nicht mehr entkommen. Nun zerrt ihn die Katze die Treppe hinunter, die Taube flattert nicht mehr, wehrt sich nicht mehr, ihr Kopf knallt gegen jede Stufe, und wir sind längst noch nicht im Keller. Die politische Klasse hat unseren Staat und unser Volk am Wickel und schleift die Beute Stufe für Stufe hinab.“

17Der

Fortgang der Handlung wird entlang der Verben gebrochen, zerren, nicht entkommen, nicht wehren, knallen entfaltet.

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In der Sprache des Agitators wird der Volkskörper als Beute konstruiert, dessen gewaltvolle Beschädigung vom Publikum qualvoll miterlebt werden kann. Der detailreiche, präsentische Erzählstil sowie die topografische Beschreibung des Niedergangs (Stufe für Stufe nach unten) können nach der Theorie des Framings eine „kognitive Simulation“ auslösen. Diese Form einer Embodied Cognition im Sinne eines gedanklichen Nachahmens von Gehörtem oder Gelesenem wird dann aufgrund zuvor gesammelter und im Gehirn abgespeicherter Erfahrungen bei den Zuhörern aktiviert (Wehling 2017, S. 24). Der Redner eskaliert die Situation um eine weitere Stufe, indem er die abstrakte Bedrohung in eine konkrete verwandelt, wenn er sein Publikum mit der pronominalen Anrede „wir“/“uns“ direkt adressiert und die Zuhörer somit stellvertretend für die Nation als hilflos ausgeliefertes Opfer konstruiert. Lobo beschreibt diese Täter-Opfer-Umkehr als Teil der Notwehrerzählung: „Die aggressiven Inhalte einer rechten Gegenöffentlichkeit basieren überraschender Weise häufig auf Empathie im Sinne eines Mitfühlens bzw. Miterlebens mit der Eigengruppe als (vermeintlichem) Opfer. Dieses ‚Mitleid‘ wird in Wut auf tatsächliche oder vermutete Täter und Verantwortliche dahinter transformiert.“ (Lobo 2019, S. 164) Im Kontext des Pegida-Banners vor dem Kubitschek im zweiten Filmausschnitt spricht, erhält die abstrakt gehaltene Anekdote eine Konkretisierung, die vom Publikum verstanden wird: Es geht um die Verschwörungstheorie vom „großen Austausch“, nach der „die politischen Eliten“ eine angebliche Ersetzung der autochthonen Bevölkerung durch (muslimische) Einwanderer vollziehen. In dieser vertikalen Dimension des Rechtspopulismus werden die Einwanderungspolitik und konkret als „muslimisch“ konstruierte Deutsche und Einwanderer als weiteres Feindbild aufgerufen. Die Tiermetaphorik knüpft ebenfalls an diesen Diskurs an, denn hier werden die Tiere zu „moralische[n] Typen mit Eigenschaften“ (Rigotti 1994, S. 118) – die Katze wird zum vorsätzlichen Mörder, die Taube zur zahmen, friedlichen Kreatur. Die Taube – als eigentlich überlegenes, aber kulturell bereits geschwächtes Tier – fungiert als Sinnbild für die deutsche Nation. Dieser wird im Kampf um Dominanz von der Katze (stellvertretend für die muslimische Einwanderung) der Garaus gemacht. Das sprachlich hergestellte Bedrohungsszenario wird abschließend vom Redner in einen Aufruf zum Handeln umgelenkt: „Wir müssen wieder auf die Füße kommen und Stufe für Stufe wieder hinaufsteigen. Wenn der Kopf auf die Treppenstufen knallt, geht es nicht um Details. Sondern zuallerst und ausschließlich darum sich loszustrampeln, sich aufzuraffen, und den Weg zurück nach oben zu machen. Und das heißt, noch einmal, Selbstverständlichkeiten zu fordern und durchzusetzen. Beginnen wir mit der Durchsetzung von Recht und Ordnung!“ Die agitatorische Rede löst eine hohe Interaktion mit dem Publikum aus, das applaudiert und zum „Widerstand“ aufruft.

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Das gewaltvolle Miterleben der langsam verendenden Taube, deren Kopf gegen die Stufen knallt, kann – so beschwört Kubitschek – noch aufgehalten werden: „Wir sind noch nicht im Keller“ angelangt. In der Rede findet eine TäterOpfer-Umkehr statt, bei der eine (vermeintlich homogene) Gruppe imaginiert und als Feindbild (Islam/Muslime/Einwanderer/Eliten) konstruiert wird und dieser dann negative Eigenschaften zugeschrieben werden. Sodann wird der imaginierten Gruppe ein Kollektivwille unterstellt, die Eigengruppe vernichten zu wollen und diese damit zu einem potenziellen Täter gemacht. Die Urheber dieses rassistischen Phantasmas stellen sich selbst dabei als Opfer dar, obgleich sie es sind, die Menschengruppen abwerten, beleidigen und zur Gewalt gegen diese ­aufrufen.

8 Conclusio Heute schreiben Filmkritiker, dass in den Kamerabildern in Thomas Heises Dokumentarfilm aus dem Jahr 1992 über die rechtsextremen Jugendlichen nach der Wiedervereinigung eine Szene dokumentiert wurde, aus der heraus später der rechtsterroristische NSU entstand. Ein einvernehmliches Credo der Kritiker lautet, man hätte damals besser hinsehen und hinhören müssen – die Ideologie der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit und der NS-Verherrlichung ebenso wie eine Radikalität im politischen Handeln, die sich später in brutaler Gewalt und sogar in rechtsextremistischen Morden Bahn brach, waren im filmischen Material bereits angelegt. Wie werden wir also den Film „Montags in Dresden“ in 30 Jahren bewerten? Auch wenn im Film „Montags in Dresden“ der Eindruck entsteht, dass Protagonisten „offen und frei heraus“ ihre Meinung sagen, sollte nicht vergessen werden, dass es sich jedoch um gut vernetzte politische Akteure und nicht um Privatpersonen handelt. Und deren Ideologie ist brandgefährlich…

Literatur Bitzan, Renate. 2016. Geschlechterkonstruktionen und Geschlechterverhältnisse in der extremen Rechten. In Handbuch Rechtsextremismus, Hrsg. F. Virchow, M Langebach, und A. Häusler, 325–373, Wiesbaden: Springer. Engler, Wolfgang, J. Hensel. 2019. Wer wir sind. Die Erfahrung ostdeutsch zu sein. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. Girnth, Heiko. 2015. Sprache und Sprachverwendung in der Politik. 2., überarb. Aufl., Berlin: de Gruyter.

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Hirschmann, Kai. 2017. Der Aufstieg des Nationalpopulismus. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. Knape, J., O. Kramer, und D. Till, Hrsg. 2019. Populisten – rhetorische Profile. Tübingen: Attempto Verlag. Knape, Joachim. 2019. Paradigma Populist: Agitator und Volksversteher. In Populisten, Hrsg. J. Knape, O. Kramer, D. Till, 7–15, Tübingen: Attempto Verlag. Kramer, Olaf. 2019. Vernunft am Ende? Populismus als Abschied von der deliberativen Demokratie. In Populisten, Hrsg. J. Knape, O. Kramer, D. Till, 22–26, Tübingen: Attempto Verlag. Kubitschek, Götz. 2007. Provokation. Schnellroda. Kubitschek, Götz. 2007. Provokation. Sezession. Kulturbüro Sachsen, und Amadeu-Antonio-Stiftung. 2019. Sachsen rechts unten. Dresden. Lobo, Sascha. 2019. Realitätsschock, Köln: Kiepenheuer & Witsch. Nichols, Bill. 1991. Representing Reality. Indiana: Bloomington. Pelinka, Anton. 2013. Right-Wing Populism: Concept and Typology. In Right Wing Populism in Europe. Politics and Discourse, Hrsg. R. Wodak, M. KhosraviNik, B. Mral, 3–22, London u. a.: Bloomsbury. Priester, Karin. 2016. Rechtspopulismus. Ein umstrittenes theoretisches und politisches Phänomen. In Handbuch Rechtsextremismus, Hrsg. F. Virchow, M Langebach, und A. Häusler, 533–560, Wiesbaden: Springer. Rigotti, Francesca. 1994. Die Macht und ihre Metaphern. Frankfurt/New York: Campus Verlag. Salzborn, Samuel. 2016. Rechtsextremismus. Erscheinungsformen und Erklärungsansätze. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. Stöss, Richard. 2000. Rechtsextremismus im vereinten Deutschland, 3., überarbeitete Aufl., Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung. Till, Dietmar. 2019. Populismus zwischen Ideologie und Kommunikation. In Populisten, Hrsg. J. Knape, O. Kramer, D. Till, 16–22, Tübingen: Attempto Verlag. Virchow, Fabian, M. Langebach, und A. Häusler, Hrsg. 2016. Handbuch Rechtsextremismus. Wiesbaden: Springer VS. Wehling, Elisabeth. 2017. Politisches Framing. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. Weiß, Volker. 2017. Die Autoritäre Revolte. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag. Wodak, R., M. KhosraviNik, und B. Mral. Hrsg. 2013. Right Wing Populism in Europe London u.a.: Bloomsbury.

Zeitungsartikel/Magazin /Tages‐/Wochenzeitung „Ich wusste, da brodelt etwas.“ Sabine Michel im Gespräch mit Anne Hähnig und Doreen Reinhard. In DIE ZEIT 47 (2017). (https://www.zeit.de/2017/47/pegida-sabine-michelregisseurin-protagonisten-gespraech, abgerufen am 29.09.2017).

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Dokumentarfilme Montags in Dresden. Deutschland 2017. Regie: Sabine Michel. DVD solo:film. Stau – Jetzt geht’s los. Deutschland 1992. Regie: Volker Heise. Abrufbar auf dem Online-Portal der Bundeszentrale für politische Bildung: http://www.bpb.de/mediathek/269535/stau-jetzt-geht-s-los

Sprache als Experiment oder: „Hört endlich auf, über Demokratie zu sprechen!“ Werner Friedrichs

Zusammenfassung

Im Zusammenhang mit Politik wird Sprache in der Regel auf der Grundlage ihrer Funktion als Kommunikationsmedium untersucht. Ein anderer Zugang zum Verhältnis von Politik und Sprache ergibt sich, wenn die wirklichkeitserzeugenden Effekte von Sprache betrachtet werden. Das politische Moment des Sprachgebrauchs besteht nun weniger darin, jemanden von etwas überzeugen zu wollen, sondern politische Selbst- und Weltverhältnisse durch sprachliche Figuration und Artikulation überhaupt erst zu generieren. In einer solchen Konstellation kann die politische Bildung nicht mehr bei den eingespielten Thematisierungen von Sprache bleiben. Statt um ihre Eigenschaften als politisches Kommunikationsmittel geht es dann um die Materialität von Sprache. Die Leitfragen lauten demnach: Wie können die produktiven Effekte von Sprache für politische Bildung(en) entfaltet werden? Wie kann eine n­icht-propositionale Ebene des sprachlichen Gebrauchs für politische Bildung(en) zugänglich gemacht werden? In den Überlegungen, die an die Diskussion der Praxistheorie und an den Spekulativen Materialismus anschließen, wird der Übergang von einem auf-Politik-zeigenden zu einem demokratisch-bildenden Gebrauch von Sprache skizziert.

W. Friedrichs (*)  Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Bamberg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Juchler (Hrsg.), Politik und Sprache, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30305-1_5

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1 Im Handgemenge politischer Bildung(en)1 In einem verbreiteten Ratgeber für die Unterrichtsvorbereitung findet sich auf der ersten Seite ein Ausblick auf die Anforderungen der Praxis: „Wahrscheinlich gibt es nicht viele Berufe, an die die Gesellschaft so widersprüchliche Anforderungen stellt: Gerecht soll er sein, der Lehrer, und zugleich menschlich und nachsichtig, straff soll er führen, doch taktvoll auf jedes Kind eingehen, Begabungen wecken, pädagogische Defizite ausgleichen, Suchtprophylaxe und Aids-Aufklärung betreiben: auf jeden Fall den Lehrplan einhalten, wobei hochbegabte Schüler gleichermaßen zu berücksichtigen sind wie begriffsstutzige. Mit einem Wort: der Lehrer hat die Aufgabe, eine Wandergruppe mit Spitzensportlern und Behinderten bei Nebel durch unwegsames Gelände in nordsüdlicher Richtung zu führen und zwar so, dass alle bei bester Laune und möglichst gleichzeitig an drei verschiedenen Zielorten ankommen.“ (Kroner 1997, S. 1)

Vor einer Lerngruppe zu stehen, hat nichts mit einer von Lehrer_innen häufig herbeigewünschten, kontrollierten Situation gemein, in der bestimmte ausgewählte Inhalte mit definierten Methoden vermittelt werden, d. h., in der ein vorher abgesteckter Pfad gemeinsam zurückgelegt wird. Die Wirklichkeit zeigt sich deutlich „verwickelter“ (Meyer-Drawe 1999, 332)! Es finden sich rhizomatische Verstrickungen, Unebenheiten, Kerbungen im pädagogischen Feld. Der Bildungsraum ist durchzogen von Kraftfeldern und Linien, Dingen und Schichten, Anordnungen, Folgen, Wiederholungen, Verdichtungen, Reflexen, Intensitäten, Resonanzen, Streuungen, Verbindungen, Verknotungen, Kreuzungen, Unterbrechungen, Krümmungen, Faltungen, Beschleunigungen, Schwellen und Passagen. Er ist besiedelt von Schultaschen, Moden, Nachrichten, Körpern, Gesetzen, Regeln, Verträgen, Hoffnungen, Erwartungen, Leidenschaften, Irrtümern, Verlautbarungen, Büchern, Apparaten, Einrichtungen, Lampen, Energien, Geschichten, Herkünften, Ideen, Freundschaften, Spielzeugen, Handys, Verabredungen, Gerüchten, Verliebtheiten, kaputten Stühlen, Lichtverhältnissen, Farben, Geräuschmodulationen, Informationen, Wetterlagen, Jahreszeiten – und damit ist erst ein grober Ausschnitt potenzieller Beteiligungen beschrieben. Wer je an einem heißen Sommertag erlebt hat, was eine einzige kleine Wespe

1Im

Folgenden wird von „politischen Bildung(en)“ gesprochen, wenn es um die konkreten Subjektivierungsweisen, das Werden demokratischer Subjektivität geht. Mit „politischer Bildung“ ist die verbreitete Bezeichnung für die Didaktik der Politik gemeint.

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in einem Klassenraum für Auswirkungen zeitigen kann, weiß, dass die Liste weit umfassender ist – Ohrenkneifer, Spinnen, Brotreste in der Ecke oder Fliegenscheiße auf Overheadprojektoren fanden bisher noch keine Erwähnung.2 Was machen die Didaktiker_innen in einer solch vertrackten Situation? Sie stemmen sich tapfer gegen die komplexen Verhältnisse. Sie reinigen und „falten“ ihre höhlenartigen Räume und hoffen, dadurch Abschlüsse gegen das Außen herstellen zu können und Kontrolle zu erlangen.3 Mit Sitzordnungen, Regelwerken, Tafeln, Projektoren, Schreibzeugen, Ausleuchtungen, glatten Böden, Klassenbüchern können sie zwar den Hundekot nicht sicher aus dem Klassenzimmer verbannen. Sie können ihm aber den Status eines Störfaktors zuweisen. Den Lederjacken, Zwischenrufen und Pausenbroten wendet man sich vielleicht noch im Kontext allgemeinpädagogischer Interventionen zu. Für die domänenspezifische Aufbereitung der Gegenstände im engeren Sinne spielen sie aber keine Rolle mehr. Politische Bildung wird mit Hilfe von säuberlich separierten Blackboxen („die Bücher“, „die Projektoren“, „die Graphiken“)4 auf „Bühnen des Wissens“ (Schramm et al. 2003) als Lernprozess inszeniert – ein Geschehen, das von Realbedingungen zwar kontaminiert werden kann, aber jenseits der alltäglichen Geschehnisse einsam seine Bahnen zieht. Wie kann es sein, dass das Lüftergeräusch des Tageslichtprojektors, die Farbgebung von Folien, die Undeutlichkeit von Zeichnungen unterdrückt wird und stattdessen die fachlichen Inhalte aus ihrer materiellen Einfassung hervortreten?

2Viele

der folgenden Aspekte werden gegenwärtig unter der Bezeichnung material turn in der Pädagogik diskutiert. Vgl. dazu exemplarisch Nohl und Wulf (2013) oder Milne und Scantlebury (2019). 3Bei dem Rückzug in das Klassenzimmer handelt es sich letztlich um eine paradoxe Praxis: Mit dem Ziel, politische Beteiligungsbereitschaft zu fördern, zieht man sich aus der Gesellschaft zurück (vgl. dazu auch Rheinberger 2003). Darin ist die schulische politische Bildungspraxis mit Initiationsriten vergleichbar: die zu Unterweisenden werden in einen Rückzugsraum verbannt (vgl. dazu z. B. Schäfer 1999). 4Bücher oder Projektoren als „Blackboxen“: mit „Blackbox“ werden normalerweise opake Objekte bezeichnet, über deren inneren Verarbeitungsmechanismus nichts auszumachen ist (vgl. für die klassische Fassung z. B. Glanville 2009). Sie können aber auch als Ergebnis eines Abstraktionsprozesses aufgefasst werden, an dessen Ende die komplexe Entstehungsgeschichte und damit das Zusammenwirken unterschiedlichster Elemente ausgeblendet wird. Wenn etwa ein Projektor nur noch hinsichtlich seiner Funktion der Visualisierung in der Handlungskette auftritt und nicht mehr im Zusammenwirken seiner Teile. Wenn ein Buch nur noch als Informationsmedium und nicht mehr in seiner Zusammengestelltheit, seiner Haptik, seiner Materialität usw. genutzt wird. Diese Komprimierung lässt sich als „Blackboxing“ oder als „Faltung“ beschreiben (vgl. Latour 2002, S. 222 ff.).

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Oder anders gefragt: Durch welche Operation wird in der Praxis der politischen Bildung diese Domänenspezifik hergestellt? Die Antwort findet sich in der Architektur der didaktisch-epistemischen Strategie: Indem die Schulbücher, Grafiken, Texte, Lieder, Arbeitsblätter, Gegenstände, Zeitungen, Folien, Filme usw. unter dem Gesichtspunkt der Repräsentation geordnet und kuratiert werden (zu Bildner_innen als Kurator_innen vgl. Meyer 2018). Die Materialien, Arbeitstechniken und Methoden werden in eine (deiktische) „Dramaturgie des Zeigens eingebunden“ (Röhl 2013, S. 65)5. Diese Praxis eines deiktischen Schnitts ist die zentrale didaktische Strategie (vgl. dazu Prange 2012; Prange und Strobel-Eisele 2015). Schon Comenius trat aus dem brutalen Handgemenge des Dreißigjährigen Krieges heraus, um sich mit der Phantasie zu beruhigen, nur allen alles zeigen zu müssen, um dem Treiben Einhalt zu gebieten (vgl. Comenius 1658). Der Zeigestock eröffnet ein imaginäres Refugium6, in dem die Educanten vor den materialen Druck- und Zugkräften der Gesellschaft Zuflucht finden. Statt sich den Strömungen und der Ereignishaftigkeit der Lebenswelt hinzugeben, sollen sie ihr in reflektierender Distanz entgegentreten. In der Rückbetrachtung wird diese Operation dann invertiert und stilisiert: der soeben gewonnene Abstand zu den Verstrickungen des Alltags wird als „Vermittlung“ verklärt. Indem man den Menschen zeigt, was sie sehen; ihnen erklärt, was sie lesen, hören und erfahren, bringe man sie den Gegenständen näher. Es werde zwischen den Lerngegenständen und den Lernenden „vermittelt“. Die Dinge würden nähergebracht, erläutert, erschlossen. Durch diese Domestizierung des SubjektWelt-Verhältnisses hat sich die Didaktik unversehens zu einem „Gott“ (Türcke 1994) aufgeschwungen. Sie hat sich die Vermittlung angeeignet, indem sie ein Repräsentationsverhältnis zwischen Subjekt und Objekt geschoben hat.

5In der Praxistheorie wurde dieses „arrangement“ (Schatzki 2002, S.  IX) auch als „inscription“ (Roth und McGinn 1998) beschrieben, mit deren Hilfe eine Praxis der Repräsentation erfasst werden kann. Die in der Praxistheorie herausgestellte „Bildungspraxis“ (Alkemeyer u. a. 2015) ist ein wichtiger Horizont für die vorliegenden Überlegungen. 6Die Erörterung dieses „imaginären Refugiums“, seines Verhältnisses zum Realen und Symbolischen (vgl. z. B. Wörler 2015), seines konstitutiven Wertes für die Ausprägung von Selbst- und Weltverhältnissen (vgl. z. B. Lacan 1973), seiner ontologischen Beschaffenheit (vgl. z. B. Castoriadis 1990), seiner Politizität (vgl. z. B. Trautmann 2017) und letztlich seiner Bedeutung für die politische Bildung (vgl. Friedrichs 2019a, b) würde den Rahmen der vorliegenden Überlegungen übersteigen.

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2 Der repräsentative Schnitt der Didaktik der Politik Die Effekte dieser Aneignung zeigen sich u. a. in kontraintuitiven Folgen jenes didaktisch-epistemologischen Schnitts: dadurch, dass den Eleven die Welt erklärt wird, lernen sie, dass sie sie eigentlich nicht verstehen, dass ihr angestammtes Verhältnis zur Welt durch eine grundlegende Unkenntnis gezeichnet ist (vgl. dazu nach wie vor Deleuze 1993a). Die Erklärungen werden wie ein gewebtes Tuch über die Welt gelegt – eine „Ordnung des Erklärens“ (Rancière 2007, insb. S. 14 ff) stellt sich vor die Welt. Das In-der-Welt-Sein, die Verstrickung wird durch ein Repräsentationsverhältnis überschrieben.7 Das Ergebnis dieses didaktisch-epistemologischen Schnitts gilt zukünftig als evidenter Ausgangspunkt: die (mentale) Repräsentation der Welt erscheint als „natürliches“, als „gegebenes“ Weltverhältnis. Alternativen zum Repräsentationalismus – etwa der Immanentismus (vgl. dazu Rölli 2018) – kommen abhanden. Sie existieren nur noch als esoterisch-theologische Holismen in den Sonderräumen von Glaubensgemeinschaften. Das Imago, ein ganzer Mensch zu sein, eine Einheit, die der Welt entgegentritt, verliert ihren Status einer Einbildung, die auch anders denkbar wäre, indem sie zu einer selbstverständlichen Selbstpräsenz verklärt wird.8 Die gegenüberstehende Welt wird schließlich in einen „ideellen Materialismus“ (Latour 2007, S. 138 ff.) verkapselt, durch den man über äußere Dinge als idealisierte Einheiten sprechen kann. Eine Verdinglichung im genauen Sinne – die Welt in der wir leben, wird zu einem Gegen[-]Stand. Der operative Kern der verbreiteten Praxis politischer Bildung besteht also in einem didaktisch-deiktischen Schnitt, durch den ein Repräsentationalismus installiert wird, nach dem Lerner_innen der Politik gegenüber(-)gestellt werden. Politik und Demokratie werden als Lern[-]gegen[-]stände präsentiert. Man spricht über Demokratie. Man schaut der Demokratie zu. Politische Lerner_ innen nehmen als (reflektierte) Wahrnehmer_innen im Zuschauerraum Platz. Im

7Die

vielfältigen historischen Voraussetzungen für diese Praxis müssen hier unerörtert bleiben – vgl. dazu nach wie vor die Diskussion um die Genealogie der Epistemologie in Anschluss an Die Ordnung der Dinge (Foucault 1974). 8Einen zentralen Mechanismus dieser Selbstverkennung hat Lacan (1973) systematisch im Spiegelstadium herausgearbeitet: die „ursprüngliche Identifikation“ des (dezentrierten) Subjekts mit seinem (Spiegel-)Bild. Auf die historischen Bedingungen für die Entwicklung dieser Vorstellungen kann hier nur kursorisch hingewiesen werden (vgl. dazu z. B. Bammé 2011; Taylor 1996).

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politischen Repräsentationalismus wird diese Konstellation dann zur Normalform stilisiert (vgl. Hennis 1957) und in der politischen Bildung mitunter sogar zur normativ angemessenen Form verklärt (vgl. Detjen 2011). Dagegen kann angezweifelt werden, ob die Form der Repräsentation überhaupt dem Grundmotiv der Demokratie angemessen ist und die Grundlage für die Ausbildung einer demokratischen Praxis bilden kann (vgl. z. B. Manin 2007; Rancière 2010). Werden nicht durch die Installation epistemischer und politischer Repräsentationen Figuren und Konstellationen geschaffen, die zentrale Probleme für politische Bildung(en) zuallererst erzeugen (z. B. das Brückenproblem, X-Verdrossenheiten, Entfremdungen)? Muss nicht bei der Ausbildung des demokratischen Bewusstseins situativ-praktischen Verstrickungen, Anerkennungen und Artikulationen nachgegangen werden, anstatt sich von den Idealisierungen einer geglätteten Welt der Repräsentation(en) in ein Spiegelkabinett locken zu lassen? Müssen nicht die demokratischen Subjekt-Welt-Subjekt-Vermittlungen sehr viel konkreter, objekthafter und „prozesshafter“ (Whitehead 1979) gedacht werden als in den gereinigten Sphären eines Politiklernlabors? Es ist ein Unterschied, ob mit einem Handy in der Hand, auf dem Tisch oder nur in Sichtweite gedacht und/oder gesprochen wird; ob man in einem dreiteiligen Anzug Auskunft über sein demokratisches Selbst gibt oder in einer Rockerkluft. Auf dem La Gomerianischen Felsen über dem Valle Gran Rey denkt man anders über Frieden nach als in der Tiefgarage eines Warenkaufhauses. Solche Situiertheiten können nur um den Preis imaginärer Separierungen ausgeblendet werden.9 Deshalb empfiehlt Latour das Modell zusammengesetzter „Aktanten“ (Latour 2002, S. 232 ff.) oder Hörl „umweltliches Denken“ (Hörl 2018): als Gegenentwürfe zu einer monadenartigen Logik, nach der dem Menschen „die realen Dinge“ einzig im Status ihrer gegebenen Dinghaftigkeit zugänglich sind. Es ist eben nicht der Mensch und sein Auto, sondern ein Autofahrer; nicht der Mensch und sein Handy, sondern ein Handynutzer. Mit der prominenten Formel „wir sind nie modern gewesen“ hat Latour (2008) herausgestellt, dass die Vorstellung, dass das Subjekt einem Objekt, der Mensch einer Welt gegenüberstehe, Ergebnis einer Reinigungsarbeit sei, die hybride Verhältnisse nichtet. Für den vorliegenden Zusammenhang ließe sich abwandeln: Wir sind nie rein kognitive (Selbst)Bildner_innen gewesen. D. h., Bildung(en) haben

9Soweit

ich sehe, halten auch die prominenten Ansätze situierten Lernens am repräsentativen Schnitt fest, ohne darauf explizit zu reflektieren, d. h. auch sie sind – mit Latour gesprochen – von Objekten gereinigt (vgl. beispielhaft Lave und Wenger 1991; Wenger 1998).

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nicht allein ein distinguiert kognitives Beobachten und Urteilen zur Basis, sondern sind verstrickt. Das lässt sich bis in die kleinsten Kapillaren des Alltags hineinverfolgen: Dieser Text entstand mithilfe unterschiedlichster Beteiligungen: ein CfP mit einer spezifischen Fragestellung, das häusliche Büro mit einem bestimmten Ausschnitt an Literatur, der Blick aus dem Fenster, die Arbeitsunterbrechungen – essend in der Altonaer Fußgängerzone oder joggend am Elbstrand, Gespräche mit Freunden und Kollegen, Hungergefühle, ein kurz vorher verbrachter Frühjahrsurlaub auf La Gomera – dort meine ersten Gedanken in einem Café an der Promenade von La Playa unter dem akustischen Eindruck eines ­ Hand-Drum-Musikers, eine Visualisierung in einem Vortrag u. v. a. Alle diese Verbindungslinien und Übergänge, diese Verdichtungen und Ablenkungen, die Intensitäten und Grenzen verschwinden auf der Folie der Repräsentation: Es bleibt allein die glatte Form dieses Aufsatzes. Aus den praktischen Verschränkungen steigt ein imaginärer Nebel auf, in dem nur noch ein Argument erscheint, das scheinbar aus der Idealwelt theoretischer Vorstellungen schöpft und eine gereinigte Idee, eine theoretische Überlegung präsentiert – zu einem „Gegenstand“, der „gefunden“ wurde. Ähnliches lässt sich für politische Entscheidungen nachzeichnen: Was in einer Verlautbarung irgendwann als „die Entscheidung“ präsentiert wird und sich dabei geriert, als sei sie – die Entscheidung – Ergebnis eines Prozesses rationaler Deliberation, ist unter den Realbedingungen einer Sitzung entstanden. So ist es etwa in Verbundgemeinderatssitzungen im niedersächsischen Landkreis Harburg durchaus nicht unüblich, dass während der Beratung Alkohol konsumiert wird. Es wird abwechselnd in Gaststätten und Gemeinschaftshäusern getagt, es werden verschiedenste Sitzordnungen eingenommen, es bestehen Kleidungsgewohnheiten, es wird auf unterschiedlichste Weise Öffentlichkeit hergestellt – manchmal durch Lokalpresse, manchmal durch uniformierte Feuerwehrleute, die ihrer Forderung nach einem neuen TSF-Fahrzeug durch Anwesenheit Nachdruck verleihen wollen. Es wird unter dem Eindruck von an der Wand hängenden Tierpräparaten über die Erweiterung eines Friedhofsgeländes diskutiert oder im Angesichte porträtierter Ahnengalerien über die Anlage einer Skaterbahn entschieden; man pflegt während der Sitzungen Zwiegespräche zu führen oder auf dem Handy parallel private Kommunikation. Immer nur im Nachhinein lässt sich behaupten, man hätte allein nach Abwägung aller Argumente entschieden oder sei durch theoretische Prüfung zu einem bestimmten Ergebnis gekommen, das man jetzt repräsentieren könne. Erst im Nachhinein lassen sich transzendente Pappfiguren aufstellen.

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Ein solches Gewimmel zu erfassen, erscheint kaum möglich. Zumindest in einem System, das Übersichtlichkeit bietet, Sortierungen, Trennungen und Taxinomien vornimmt und damit repräsentative Vereinfachungen verspricht. Um sich den Bildung(en) im Handgemenge zu nähern, wurden Versuche unternommen, das Viele, das Chaotische in seinen operativen Mustern denkbar zu machen. Benjamin hat im Passagen-Werk mit den Konzepten der Konstellation und der Montage experimentiert (vgl. z. B. Benjamin 1991); Heidegger hat versucht, die Dynamik des Vielen in einem Gefüge zu denken (vgl. z. B. Heidegger 1988, S. 86 und passim); Guattari hat die Ökologie einer Chaosmose untersucht (Guattari 2014) oder zusammen mit Gilles Deleuze eine rhizomatische Lektüreform entwickelt (Deleuze 1993b); Serres hat Passagen nachgezeichnet (vgl. z. B. Serres 1984). Mannigfaltigkeiten in der Mathematik oder die Multitudes von Hardt und Negri (2002) sind weitere Versuche, Mechaniken, Übergänge, Verdichtungen, Intensitäten aufzuzeigen. Viel Beachtung kommt derzeit Haraways (2018) Wühlen in Kompostierungen zu. In diesen immanenten Philosophien werden zwei Eckpfeiler des Repräsentationsparadigmas zurückgelassen: Zum einem der geläuterte Sinn hinter den Dingen. Verabschiedet werden idealtypische und repräsentierbare ideale Einheiten. Vielmehr ist der Sinn radikal offen und zeigt sich ausschließlich in den Praxen seiner Herstellung (vgl. einführend Hörl 2011). Zum anderen von einer bloß zeigenden, indexikalischen Funktion von Begriffen, Wörtern, die aus einer nichtmateriellen Position auf die reale Welt verweisen. Mit anderen Worten: man muss von der Repräsentation zwischen separierten und idealisierten Welten in die Immanenz einer bevölkerten Oberfläche wechseln. In die Praxis der Produktion durch Kompositionen, Aggregationen, Unterbrechungen, Vernähungen, Auslassungen, Fokussierungen, Spiegelungen, Aufteilungen, Verdichtungen, Wiederholungen usw. – an der eben auch Sprache beteiligt ist.

3 Vom Zeigen zum Experimentieren Im neuen Materialismus werden solche Praxen als experimentelle Schnitte beschrieben. Das heißt, durch praktische Anordnungen wird (materielle) Wirklichkeit erstellt. In der Wissenschaft wird diese Praxis expliziert (nicht reflektiert!) – in der Form des Experiments. So verweist die Physikerin Barad (vgl. etwa 2007, 2012) auf die Abhängigkeit physikalischer Beschaffenheiten von ihrer konkreten Anordnung in Experimenten. Das Experiment ist nicht die Dienerin einer ideal ersonnenen Wahrheit, sondern legt einen bestimmten Schnitt in die Welt, der eine Wirklichkeitsschicht präpariert. Erst im Nachhinein lässt sich

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– wieder in der gereinigten Version – davon sprechen, der oder die Forscher_in hätte etwas bestimmtes „entdeckt“: „Als die kleinsten vollständigen Arbeitseinheiten der Forschung sind Experimentalsysteme so eingerichtet, dass sie noch unbekannte Antworten auf Fragen geben, die der Experimentator ebenfalls noch gar nicht klar zu stellen in der Lage ist. Es sind ‚Maschinen zur Herstellung von Zukunft’, wie Jacob einmal gesagt hat. Experimentalsysteme sind nicht Anordnungen zur Überprüfung und bestenfalls zur Erteilung von Antworten, sondern insbesondere zur Materialisierung von Fragen. In einer unauflöslichen Verquickung bringen sie sowohl die materiellen Einheiten hervor als auch die Begriffe, die sich in diesen verkörpern: Sie ‚treten zusammengepackt in Erscheinung‘.“ (Rheinberger 2006, S. 25)

Im Unterschied zu früheren Betrachtungsweisen experimenteller Praxis – etwa Popperscher Provenienz – wird nicht der Schleier eines imaginierten Repräsentationsverhältnisses auf die Praxis des Forschens gelegt. Vielmehr werden Anordnungen, Verdichtungen, Konnektivitäten nachgezeichnet: das Experimentieren bekommt einen dezidierten Werkstattcharakter, statt einer Beweisführung (einer vorher festgelegten These) dienlich zu sein. Die „Gegenstände“ der Experimente sind als „epistemische Dinge“ aufzufassen: keine Gegenstände im idealisierten Sinne eines Dinges, sondern reifende Ausdrücke. „Epistemische Dinge sind die Dinge, denen die Anstrengung des Wissens gilt – nicht unbedingt Objekte im engeren Sinn, es können auch Strukturen, Reaktionen und Funktionen sein. Als epistemische präsentieren sich diese Dinge in einer für sie charakteristischen, irreduziblen Verschwommenheit und Vagheit.“ (ebd., S. 27 f.)

Auch Demokratie, Mündigkeit, Freiheit, Selbstbestimmung, Macht, Gleichheit, Gerechtigkeit u. v. a. m. sind epistemische Dinge (vgl. dazu auch Kalthoff und Roehl 2011). Politische Bildung lässt sich in diesem Zusammenhang als Vollzug eines Groß-, Kollektiv- oder Realexperiments10 beschreiben, in dem es um epistemische Dinge im Rahmen politischer Bildung(en) geht. Es werden Labore schulischer und außerschulischer, inklusiver oder separierter politischer Bildung eingerichtet. Es werden Projekte entworfen, Materialien erstellt, Methoden praktiziert, Beobachtungen artikuliert, Menschen zusammengebracht, Räume

10Letztlich

können gesellschaftliche Zusammenhänge als Groß- bzw. Realexperimente beschrieben werden (vgl. z. B. Nordmann 2008, S. 172 ff.; Felt 2007). Die Einführung der Anti-Baby-Pille, des Handys oder von E-Scootern sind Beispiele für solche Großexperimente.

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gestaltet, Visualisierungen eingerichtet und nicht zuletzt wird eine Sprachebene installiert. Allerdings bekennen sich die politischen Bildner_innen nur selten zur darin enthaltenen Praxis experimenteller Schnitte. Der experimentelle Charakter wird ausgeblendet und in der vorauseilenden Rückschau verklärt: Bildner_innen bestimmen sich selbst ex-post als heroische Eingreifer_innen, die gefundenes Wissen (vermittels Sprache) weitergeben. Statt aber im repräsentationalistischen Spiegelkabinett politischer Lernprozesse zu flanieren, sollte es darum gehen, die Fäden wirksamer Bildungsprozesse aufzunehmen und realen Bildung(en) experimentell Raum zu geben.

4 Demokratie sprechen In der Alltäglichkeit (insb. formaler) politischer Bildung wird aus der Distanz über etwas gesprochen. Man spricht über Demokratie in abbildenden Termen („Funktive“ nach Deleuze und Guattari 1996, S. 135 ff.): von Verfahren, Gesetzen, Rechten, Abstimmungen, Sitzverteilungen, Mandaten, Parteien, Vertretungen, Übertragungen, Verträgen, Kompromissen, Einigungen, Verteilungen, Legitimität, Minderheiten, Protokollen, Regierungen, Kabinetten usw. Es wird über die Demokratie gesprochen, man zeigt auf sie. Man kann sogar noch darüber sprechen, wie dort mit Sprache umgegangen wird, wie die Demokratie einem sprachlich entgegentritt – in Darstellungen, Übertragungen, Abbildungen, Verzerrungen oder rhetorischen Figuren. Wenn es aber auch darum gehen soll, Demokrat_innen zu bilden – Raum für politische Bildung(en) zu erzeugen, die sich nicht in der Rolle von Zuschauer_innen einfinden – kommt das Sprechen über Demokratie an seine Grenzen. Ein experimenteller Zugriff, der sich auf die oben beschriebenen Verstrickungen einlässt, kann unter anderem an Arbeiten von Deleuze und Guattari (1996), Serres (1992b, 1993), Stengers (2008) oder Barad (2007) anschließen: Begriffe werden nicht in der Logik eines abbildenden Übertragens, Mitteilens oder Zeigens eingesetzt, sondern als immanenter Ausdruck, als Ereignis. Sie versammeln sich nicht auf einer Seite einer „problematischen Dichotomie“, sondern beteiligen sich an der Produktion von „Verschränkungen“ (Barad 2015, insb. S. 173 ff.); sie dienen nicht der distanzierten Reflektion, sondern verstärken „Diffraktionen“ (Barad 2013) und „Interferenzen“ (Serres 1992a). D. h., Begriffe werden in ihrer experimentellen Materialität gedacht. Begriffe sind nicht leere Hüllen einer Referenz, sondern Bestandteil einer experimentellen Anordnung. Sie vollziehen einen „Schnitt“ und „nehmen neue Konturen an“ (Deleuze 1996, S. 24). Der Begriff verfüge dabei über weitere Komponenten,

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die ihrerseits als Begriffe aufgefasst werden können. Der Begriff stelle eine Konsistenz zwischen seinen Komponenten her, indem er zwischen seinen Komponenten N ­ achbarschafts- und Ununterscheidbarkeitszonen herstellt (vgl. ebd., S. 26). Damit muss der Begriff als „Koinzidenz-, Kondensations- oder Akkumulationspunkt seiner eigenen Komponenten angesehen werden“ (ebd.). Der Begriff schaffe „partielle Überlappungen“, „Nachbarschaftszonen“ und „Ununterscheidbarkeitsschwellen“. „Die Komponenten bleiben unterschieden, es geht allerdings etwas von der einen zur anderen über, etwas, von dem man nicht weiß, zu welcher es gehört: Es gibt ein Gebiet, ab, das gleichermaßen zu a wie zu b gehört, in dem a und b unterunterscheidbar ‚werden‘.“ (ebd., S. 26) Es ergibt sich daraus eine Pädagogik des Begriffes, die an die Praxis des Begriffsbildens anschließt. Sprache wird nicht als Verständigungsmedium, Trägerin von Bedeutungen genutzt – insbesondere nicht in einem Modus der Repräsentation. Es geht in der Begriffsbildung um ein „tastendes Experimentieren“ (ebd., S. 50) das „einen Schnitt durch das Chaos“ legt (ebd., S. 51). Vorläufig sei in drei taktischen Anlagen skizziert, wie potenzielle Wirksamkeit von Begriffsbildungen für politische Bildung(en) angelegt werden kann.11 Erstens: Die Entfaltung kompositorischer (oder vielleicht „­ kom(-) postierender“ (Haraway)) Eigenschaften von Begriffen. Zwar finden Sammlungsmethoden wie Mindmaps, Blitzlichter oder Brainstormings in der Bildungspraxis Berücksichtigung, sie werden aber durchgängig als Abbildungen inszeniert. In der experimentellen Begriffspraxis werden dagegen auf einer glatten Oberfläche Komposita, Verdichtungen, Näherungen, Verse, Gleichklänge, Ähnlichkeiten, Längenmaße, Modulationen angefertigt. So könnte der Begriff Demokratie seine Komposita durchlaufen: wählen, bewegen, fahren, laufen, springen, werfen, geben, nehmen, singen, spielen, klettern, segeln, fliegen, genießen, in der Brise stehen, leichte Kost essen, trommeln, tanzen. Demokratiebildung(en) entfalten sich in Immanenzebenen. Diesseits einer zuschauenden, bezeichnenden Sprache wird in der experimentellen Praxis ein operativer Schnitt ausgeübt. Demokratie wird gesprochen. Zweitens: Mündige Selbstkonstitution – „demokratisch werden“ (ebd., S. 131) durch die Schaffung begrifflicher Territorien. Damit ist ein programmatischer Gegenentwurf zum üblichen alles-könnte-auch-anders-sein gemeint. Im Dual der De- und Reterritorialisierung sollen begriffliche Territorien sichtbar gemacht

11Mit

der Rede von Taktik und Strategie soll markiert werden, dass keine abgesteckten Pfade beschritten werden (Methode  =  Pfad), sondern sich Vorgehensweisen auf unbekanntem Gelände zurechtgelegt werden (vgl. dazu auch Jullien 1999).

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und verschoben werden. „Der Begriff ist nicht Objekt, sondern Territorium. Er hat kein Objekt, sondern ein Territorium.“ (ebd., S. 117) Solche Territorien können durch neue Begriffe erfahrbar gemacht werden. In einem Experiment mit Student_innen sind unter anderem folgende begrifflichen Konzepte entstanden: „Sponkt“ (Versprechen/Wahrheit), „Klink“ (Verbindungspunkte), „Tsurrum“ (Bildungsressourcen), „Pattimonk“, „Steinpartei“, „Lawinenstaat“, „Alphabetarier“, „Mechatroja“, „Demokrakus“, „Femboismus“, „Lauftauchen“. Die Begriffe können dann hinsichtlich ihrer Territorien beschrieben werden, wodurch die Territorien anderer – angestammter – Begriffe zugänglich werden (vergleichbare Überlegungen finden sich bei Geuss 2011, S. 64 ff.). Eine dritte Taktik ist, eine „Begriffsperson“ zu werden. Im Unterschied zu psychosozialen Personen, die in der Alltäglichkeit des Lebens auf ein Außen verweisen, bildet eine Begriffsperson eine eigene begriffliche Immanenzebene. Begriffspersonen beobachten nicht, sondern sie werden. Sie verstricken sich. Sie bekommen Eigenschaften, die sich in den ihnen zugeneigten Immanenzebenen zeigen. Damit werden demokratische Existenzweisen artikuliert und damit deutlich erfahrbarer als etwa in der Reflektion je subjektiven Ausstattung mit Rechten. Kierkegaards Johannes – Autor des Tagebuchs eines Verführers, Rousseaus Émile oder Haraways Camille, die über vier Generationen symbiotische Lebensformen entwirft, sind literarisch explizite Formen. Aber auch Demokrat_innen, Beteiliger_innen, Wahltypen, Bürger_innen sind nicht nur Bezeichnungen für etwas, sondern erst als artikulierte Begriffspersonen bildsam (vgl. dazu auch Snir 2017). Der experimentelle Umgang mit Sprache ermöglicht durch die Praxis der Schnitte politische Bildung(en) weit jenseits der distanzierenden Beobachtung, in der die praktisch-experimentelle Ebene der Begriffsverwendung explizit ausgeblendet wird. Entgegen der Idee einer gereinigten Praxis sprachlicher Vermittlung von Gegenständen geht es um politische Bildung(en) im experimentellen Gebrauch von Sprache. Hierzu noch eine Schlussbemerkung zur Wirksamkeit didaktischen Tuns, mit der ein geläufiges Gegenargument vorausgenommen werden soll: Es wäre einfach, den vorstehenden Überlegungen entgegenzuhalten, dass sie ihre Wirksamkeit nur ungenügend werden nachweisen können. Einer solchen Wirksamkeitsvorstellung, die auf der Dramaturgie eines zeigenden Erklärens beruht – auf dass ein sofortiger Effekt eintrete – kann selbstverständlich nicht entsprochen werden. Auch, weil sich politische Bildung(en) in verwickelten Situationen ereignen, die sich nicht in ein komplett kontrollierbares Verfahren transformieren lassen. Jullien (1999) hat dazu ein Wirksamkeitskonzept entwickelt, in dem nicht billigen Effekten nachgejagt wird, sondern auf die allmähliche Transformation gesetzt wird. Es geht um die langsame Ausbeutung sich

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entwickelnder Situationen. Er zeichnet einen Weg, „der am weitesten von unserer Methode (Weg) entfernt ist“ (ebd., S. 54). Durch den experimentellen Gebrauch von Sprache werden „stille Wandlungen“ (Jullien 2010) in den Blick genommen, die sich aus experimentellen Settings ergeben. Stille Wandlungen der Bürger_ innen einer Zuschauerdemokratie zu praktizierenden Demokrat_innen.

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Ansatz zur Rekonstruktion textlich gebundener Emotionalität (ARtE) Hendrik Schröder

Zusammenfassung

Emotionen erfüllen innerhalb politischer Sprechakte eine ganze Fülle von bedeutenden Funktionen. So dienen sie etwa als Motivatoren und Initiatoren aber auch als Bewertungs-, Strukturierungs- und Überzeugungsmittel. Dennoch führen sie neben der Rationalität meist ein Schattendasein innerhalb politischer Diskurse, wenn es um die Analyse und Beurteilung politischer Sprache geht. Ein Grund hierfür könnte das Fehlen einer soliden Untersuchungsmethode sein, mit deren Hilfe sich Formen der Emotionalität zielgerichtet analysieren ließen. Der vorliegende Beitrag hofft dem entgegenzuwirken, indem er einen empirisch erprobten Verfahrensansatz zur Rekonstruktion und Interpretation textlich gebundener Emotionalität zur Diskussion stellt.

Bei dem nachfolgend beschriebenen Verfahren handelt es sich um eine überarbeitete Version. Der original Ansatz wurde im Rahmen meines Promotionsvorhabens entwickelt und dargestellt (vgl. Schröder 2020, 349–388.) H. Schröder (*)  Universität Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Juchler (Hrsg.), Politik und Sprache, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30305-1_6

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1 Einleitung Sprachliche Mittel in politischen Diskursen sind kein Selbstzweck, sondern stets Mittel zum Zweck. In demokratischen Kontexten dienen sie etwa zum Informations-, Meinungs- und Gedankenaustausch, vor allem aber zur Herstellung von Zustimmung oder Ablehnung und zur Überzeugung des Selbst und des Anderen. Theoretisch betrachtet kann dabei die Effektivität eines durch sprachliche Zeichen formulierten Anliegens durch die Verwendung von dreien, uns aus der Antike bekannten, Überzeugungsmitteln beschrieben werden: Logos, Photos und Ethos. Über die Elemente, welche dem Logos zugerechnet werden können, ist dabei in der Politikdidaktik schon relativ viel gesprochen und geschrieben worden. Man denke etwa an die Kategoriale Bildung, Verfahren wie den Politikzirkel, die Drei Dimensionen des Politischen, an den Diskurs über Basis- und Fachkonzepte bis hin zu den Kategorien der Wert- und Zweckrationalität als Maßstäbe der politischen Urteilsbildung. Bei all diesen Aspekten steht das Rationale im Vordergrund, das Emotionale, vertreten durch den Pathos und Ethos wird hingegen bislang nur recht wenig Aufmerksamkeit zuteil. Neben primär inhaltlichen Gründen1 mag hierfür auch das Fehlen von validen Untersuchungsmethoden verantwortlich sein, mit deren Hilfe sich Emotionalität innerhalb politischer Sprache identifizieren und interpretieren ließe. Der nachfolgende Analyseansatz will zur Schließung dieser Lücke beitragen. Er entfaltet sich dabei nicht auf dem bereits bestellten Boden einer elaborierten politikdidaktischen Forschungspraxis, sondern schlägt in seiner hier skizzierten Form neue und bislang wenig erkundete Pfade ein. Ganz ohne Orientierungsmittel ist er dabei allerdings nicht, so bilden neben den in der Politikdidaktik des Öfteren verwendeten hermeneutischen Modellen (vgl. Juchler 2017; Gloe und Kuhn 2017; Weber-Stein 2017; Deichmann 2009; Kuhn 2004; Schröder 2018), sprachwissenschaftliche Argumentationstheorien, die Topik- und Tropenlehre, sowie verschiedene politische Sprechakttheorien seinen praktischen Bezugsrahmen. Die Verdichtung dieser verschiedenen Ansätze zu

1So

ist dem Phänomen der Emotionen in Kreisen der Politikdidaktik vor allem von den Nestoren des Faches „[a]ngesichts offenkundiger Gefahren des Mißbrauchs“ (Sutor 1999, 109) nicht selten recht skeptisch begegnet worden.

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einem gemeinsamen Analysetool ist es, welche letztlich die Freilegung von textbasierten emotionalen Korrelaten2 ermöglicht3.

2 Ansatz zur Rekonstruktion textlich gebundener Emotionalität (ARtE) Auf der Verfahrensebene unterteilt sich der Ansatz in sieben Phasen, welche als typisch für die qualitative Forschung betrachtet werden können (vgl. etwa Mayring 2010, 102; Lamnek 2010, 3–6; Flick 1995, 148 f.; Diekmann 2008, 610–612). Die offene Ausrichtung des Verfahrens erweitert die Einsatzmöglichkeiten des Ansatzes, der nicht auf ein spezielles Erkenntnisinteresse, wohl aber auf die Analyse emotionaler Gehalte hin ausgerichtet ist (Siehe Tab. 1). In der ersten Phase werden die konkreten Analyseeinheiten (vgl. Tab. 1) für die Untersuchung ausgewählt und festgelegt. Das entscheidende Kriterium dabei ist, inwiefern bestimmte Datensätze im Sinne des Erkenntnisinteresses als geeignet erscheinen, um über die damit verbundenen Forschungsfragen Aufschluss zu geben. So ermöglicht der Ansatz grundsätzlich die Analyse emotionaler Gehalte unabhängig von der Textform, der Textart, der Textsorte oder dem Textumfang. Klassischerweise ergibt sich im Rahmen von qualitativen Forschungen aus dem Erkenntnisinteresse und der theoretischen Rahmung einer Untersuchung die Notwendigkeit, im Vorfeld einer Analyse deduktive Codes4 zu entwickeln

2Der

Term emotionale Korrelate soll zum Ausdruck bringen, dass innerhalb von Phänomenen eine ganze Bandbreite von unterschiedlichen Facetten von Emotionalität vorliegen kann. Hierzu zählen z. B. neben Emotionen auch Affekte oder Stimmungen. In Textdokumenten finden sich zudem unterschiedliche Ebenen auf denen verschiedene Facetten von Emotionalität eine Rolle spielen können. So kann grundsätzlich zwischen einer Produzent*innen und einer Rezipient*innen Ebene unterschieden werden, auf denen Emotionalität ganz unterschiedlich zum Ausdruck kommen kann. Der Term emotionale Korrelate beschreibt diese Mannigfaltigkeit in Gänze, ohne sie im einzelnen auszudifferenzieren. 3Dennoch soll hier bereits kritisch angemerkt werden, dass der nachfolgend beschriebene Ansatz in der Forschungspraxis bislang lediglich in einem Untersuchungsfall erprobt werden konnte. Seine generelle Tauglichkeit muss sich daher erst noch beweisen. 4Unter Codes oder auch Kodierkategorien, wird hier die Festlegung von Sammelgriffen verstanden, denen inhaltsgleiche oder- verwandte Aussagen einer Thematik zugeordnet werden können. Im Sinne von Kuckartz (2007, 62) sind sie dabei als „Werkzeuge zur Phänomenklassifizierung“ zu verstehen.

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Tab. 1   Tabellarische Übersicht der Ablaufphasen des Ansatz zur Rekonstruktion textlich gebundener Emotionalität. Die grau hinterlegten Phasen sind als optional zu verstehen

(zweite Phase). Grundsätzlich dienen diese dazu, das Analysematerial im Rahmen der Untersuchung nach bekannten Fragen zu strukturieren und interessengeleitete Explikationen vorzunehmen (vgl. Mayring 2010, 65 f.). Die Bildung derartiger Codes orientiert sich daher am Forschungsinteresse und basiert letztlich auf dem Studium der Fachliteratur5. Alternativ hierzu können im Rahmen der Analyse induktive Codes aus dem Untersuchungsmaterial heraus definiert und für die Strukturierung des Materials verwendet werden. Nicht unüblich ist zudem auch die Integration beider Verfahren innerhalb einer Untersuchung. Der hier vorgeschlagene Ansatz bietet grundsätzlich die Möglichkeit all diese Verfahrensweisen aufzunehmen und so das Forschungsvorhaben an die spezifischen Bedürfnisse und Umstände einer Untersuchung anzupassen. Da er thematisch jedoch bereits auf den Anspruch festgelegt ist, textlich gebundene Emotionalität zu rekonstruieren, werden für den hier vorgeschlagenen Ansatz drei deduktive Codes als sogenannte Analyseebenen vorgegeben. An die Festlegung der Analyseeinheiten und der mitunter deduktiv erfolgten Konstruktion eines ersten Codesystems, schließt sich in der dritten Phase die Zuordnung der, im Sinne des Erkenntnisinteresse, inhaltstragenden Textstellen unter die bereits vorliegenden deduktiven Codes an. Dabei ist darauf zu achten, dass die Codekategorien die wesentlichen Aspekte der Ausgangstexte repräsentieren und gleichzeitig abstrakt genug gehalten sind, um eine gewisse

5Vergleiche für eine ausführliche Übersicht, bezüglich forschungsmethodischer Kodierverfahren und deren Konstruktion, die diesbezüglichen Ausführungen von Andreas Diekmann (2008, 591–596) und Siegfried Lamnek (2010, 208–215).

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Spannbreite inhaltsnaher Äußerungen unter sich subsumieren zu können. Die Zuordnung der Textstellen erfolgt mittels sogenannter Kodierregeln, die festlegen, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen damit eine Textstelle einen bestimmten Code zugeordnet werden kann (vgl. hierzu auch das nachfolgende Kap. 3). Die vierte Phase beinhaltet schließlich eine Kontrollroutine, welche in regelmäßigen Abschnitten, spätestens jedoch zum Ende eines jeden Kodierdurchlaufes, vollzogen werden sollte. Ziel der Kontrolle ist die Sicherstellung der Passgenauigkeit des verwendeten Codesystems sowie der dazugehörigen Kodierregeln unter Berücksichtigung des Originalmaterials. Bei der Bildung induktiver Codes ergibt sich zudem die Problematik, dass während des Kodierdurchlaufes das Codesystem ständig anwächst. Dies hat zur Folge, dass bei der Zuordnung der Textstellen am Ende eines Kodierdurchgangs zumeist auf ein wesentlich umfangreicheres und mitunter ausdifferenzierteres Codesystem zurückgegriffen werden kann, als dies zu Beginn einer Analyse der Fall ist. Um dieses Ungleichgewicht auszugleichen, bieten sich mehrere Kodierdurchgänge an, bis alle Textstellen unter gleichen Kodiervoraussetzungen zweifelsfrei einem Code zugeordnet werden können. Die fünfte Phase sieht die Formulierung von Phrasierungen bzw. Generalisierungen vor. Dieser Arbeitsschritt dient zur Vorbereitung für die weitere Analyse, da durch ihn der Umfang des Ausgangsmaterials sowie die zu verarbeitenden Datensätze reduziert und damit die Übersichtlichkeit des Materials insgesamt gesteigert wird. Um diesen Effekt zu verstärken, können zudem Junktoren als Ausdrucksform für verschiedene Aussageelemente verwendet werden. Anhand eines Beispiels aus einem Datensatz zur Untersuchung der Rolle von Emotionen beim politischen Urteilen (vgl. Schröder 2020, 354), kann eine solche Vorgehensweise exemplarisch verdeutlicht werden. Viele sozial engagierte (wie Müllmänner) würden [bei Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens, d. Verf.] aufhören und Deutschland würde verdrecken. (01/1/G/K_Ben)

Mit Hilfe von Junktoren lässt sich diese Aussage in generalisierter Form wie folgt zusammenfassen: (bG)  → (sozial Engagierte hören auf)  → (Deutschland verdreckt). Die Vorteile dieser Schreibweise bestehen darin, dass auch größere Datenmengen in übersichtlicher Art und Weise unter forschungsprakmatischen Gesichtspunkten ausgewertet und wiedergegeben werden können und zudem die emotionalen Implikationen einer Argumentationsstruktur leichter abbildbar werden.

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Die sechste Phase bildet das eigentliche Herzstück des Ansatzes, da in ihr der emotionale Impetus einer Textstelle interpretativ rekonstruiert wird. Um Missverständnissen vorzubeugen, muss dabei betont werden, dass es im Zuge dessen explizit nicht um das Individuieren einer spezifischen Emotion, einer bestimmten Emotionalität oder Stimmung bzw. um das Deuten eines konkreten Affektes geht, sondern dass in dieser Phase die mit einer Aussage genuin verbundene emotionale Implikation6 rekonstruiert werden soll. Ein Vorhaben, welches auf der Annahme gründet, dass Textaussagen mittels perlokutiver Akte generell so konzipiert sind, dass bestimmte Konklusionen und Prämissen gestärkt und andere geschwächt werden. Die analytische Identifikation von emotionalen Korrelaten und Deutungen kann dabei anhand des sogenannten argumentativen Stils, der Gesamtkomposition der einzelnen Argumente, der Verwendung von Signalwörtern und rhetorischen Figuren, sowie des, sich aus all diesen Komponenten ableitbaren, kontextuellen Sinns nachvollzogen werden (vgl. hierzu auch Spillner 2009). So sind die Analyseeinheiten skrupulös in sequenzieller Kleinarbeit, d. h. bis auf die Ebene der Termini, auf ihnen verborgene emotionale Gehalte hin zu untersuchen. Dabei stehen im Besonderen Verben als emotionale Signalgebende (vgl. Fiehler 2008, 756) im Fokus der Analyse. Neben der verwendeten Lexik liegt ein weiterer Schwerpunkt der Analyse auf der Satzkomposition, die vor allem durch die verwendete Syntax und die Prädikationen bestimmt wird, da diese den Aussagesinn und somit auch den darin enthaltenden emotionalen Gehalt entscheidend (mit)definieren. Die Untersuchung erfolgt somit im Spannungsverhältnis des Zusammenspiels von Syntax, Prädikationen sowie den zugehörigen Lexemen (sprachliche Codes). Dem hier präferierten Ansatz der objektiven Hermeneutik folgend (vgl. Schröder 2018; Overmann 2003) dienen die rhetorischen und syntaktischen Textelemente dabei als Ausgangspunkte für die Entwicklung von plausiblen Lesarten bezüglich der in den textlichen Zeichen denotierten emotionalen Gehalte mit deren Hilfe es schlussendlich gelingen soll, auf systematischem Wege die objektive emotionale Struktur7 eines Textes zu rekonstruieren und seinen emotionalen Aussagesinn zu erfassen.

6Emotionale

Implikationen betreffen den sozial, emotional wahrnehmbaren Aussagesinn etwa eines Textes. 7Vergleiche für den in der objektiven Hermeneutik zentralen Begriff der Struktur die diesbezüglichen Ausführungen von Jo Reichertz (1995, 223 ff.).

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Fragt man dabei nach der Rolle emotionaler Korrelate, wird deutlich, dass es zunächst ganz und gar zweitrangig erscheint, welche spezifischen Emotionen hierbei evoziert werden8, denn nicht die einzelne Emotion, sondern das emotionale Gesamtbild, mit dem Textproduzent*innen ihre Rezipient*innen konfrontieren, ist für eine verstehende Textexegese von primärem Interesse. Nach dem Ansatz zur Rekonstruktion textlich gebundener Emotionalität, können derartige emotionale Tendenzen eines Textes bzw. einer Textstelle mit Hilfe von mathematischen Vorzeichen beschrieben werden. So lassen sich etwa, bezogen auf unterschiedliche Aussagen, Textgegenstände, Urteile etc. die auffindbaren emotionalen Korrelate eines Textes entweder als negative (−) oder positive (+) emotionale Evokationen interpretieren. Um eine derartige Einschätzung vornehmen zu können, sind die inhaltstragenden Textstellen eines Dokumentes zunächst interpretativ auf ihren emotionalen Gehalt hin zu bestimmen. Methodisch kann sich dabei an dem von Ulrich Oevermann (vgl. 2003) und Frank Kleemann et al. (vgl. 2013) für die Objektive Hermeneutik9 beschriebenen Ansatz orientiert werden. Ziel dieses sequenziellen Vorgehens ist das Zusammentragen möglichst vieler plausibler Lesarten, um so die intendierte und objektiv interpretierbare Sinnstruktur eines Textes zu erfassen (vgl. Schröder 2018, 37). Wendet man diese Verfahrensweise z. B. auf den bereits oben zitierten Beispielsatz – „Viele sozial engagierte (wie Müllmänner) würden [bei Einführung eines bG, d. Verf.] aufhören und Deutschland würde verdrecken. (01/1/G/K_Ben)“ – an, so lassen sich für diesen die folgenden Lesarten entwickeln10:

8Ohnehin

ist die Dechiffrierung von spezifischen Emotionen bis heute mit enormen methodischen Schwierigkeiten verbunden, so steht in der Fachwelt bislang kein Instrumentarium für eine gesicherte Diagnose von Emotionen zur Verfügung. 9Es ist allgemein anzumerken, dass innerhalb der sog. Objektiven Hermeneutik nicht ein in sich konsistentes und konsensuelles Analyseverfahren existiert. So unterscheidet alleine Reichertz fünf verschiedene, objektiv hermeneutische Verfahren der Textinterpretation: „Die summarische Interpretation eines Textes unter Heranziehung eines breiten Kontextwissens“, „Die Feinanalyse eines Textes auf acht unterschiedlichen Ebenen“, „Die Sequenzanalyse jedes einzelnen Interpretationsbeitrages“, „Die ausführliche Interpretation der objektiven Sozialdaten“ und „Die Adaption der Begrifflichkeit der objektiven Hermeneutik, ohne allerdings das Verfahren anzuwenden.“ (Reichertz 1995, 225). 10Bei den nachfolgenden Lesarten handelt es sich lediglich um eine Auswahl, wobei explizit kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben wird.

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• Zeichnung eines düsteren und unattraktiven Bildes von der Entwicklung in Deutschland. • Das Verb verdrecken (affektiver Überschuss11) betont besonders deutlich eine emotional negative Konnotation eines bedingungslosen Grundeinkommens. • Die Gesellschaft ist nicht sozial genug entwickelt, um eigenverantwortlich mit Abfällen umzugehen. • Entsorgungsdienstleistungen werden mit sozialem Engagement gleichgesetzt. • Ohne wirtschaftliches Druckmittel gäbe es nicht genug Müllwerker*innen. • In der Entsorgungsbranche zu arbeiten ist kein erstrebenswerter Beruf. • Müllwerker*in zu sein ist nicht positiv, sondern einzig deren Funktion. • Der Satz suggeriert in seiner Prägnanz eine Alternativlosigkeit. Der emotionale Mantel, in den das Urteilsargument eingekleidet wird, bleibt dabei unabhängig von den möglichen Lesarten stets der Gleiche. So ist ihnen allen gemein, dass sie ausschließlich eine negative (-) emotionale Denotation eines bedingungslosen Grundeinkommens vornehmen. Die getroffene Generalisierung der Aussage (siehe Phase fünf) lässt sich demnach durch mathematische Vorzeichen um ihren emotionalen Gehalt hin ergänzen: (bG)  → (sozial Engagierte hören auf)  → (- Deutschland verdreckt). Auch wenn unklar bleibt, welche exakten Emotionen dabei genau evoziert werden, wird deutlich, dass vonseiten des Autors die potenzielle Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens mit negativen emotionalen Assoziationen verknüpft wird. Wichtig ist zudem festzuhalten, dass es in dieser Untersuchungsphase nicht um die Beurteilung der argumentativen Güte oder der grammatikalischen wie stilistischen Angemessenheit eines Textes geht und auch die Frage, welche Werte- oder Normvorstellungen ggf. gestützt oder verletzt werden, wird nicht isoliert, sondern lediglich im Zusammenhang mit den dazugehörigen emotionalen Empfindungen betrachtet. Gleichzeitig kann jedoch davon ausgegangen werden, dass jede Form einer emotionalen Setzung nur dann seine intendierte Wirkung entfaltet, wenn sie zugleich in eine für die Rezipient*innen nachvollziehbare Logik eingebunden ist. Wird dementgegen die argumentative

11Als

affektive Überschüsse werden hier Phänomene bezeichnet, welche besonders deutlich Emotionalität zum Ausdruck bringen und dabei im Verdacht stehen Affekte darzustellen. Ihr typisches Merkmal ist im Allgemeinen die Übertreibung, wobei ein weniger gewichtiger Termin durch einen extremeren ersetzt wird.

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Sachlogik als fehlerhaft oder unplausibel gedeutet oder liegt ein sogenannter Toposverstoß12 vor, kann die emotionale Intentionalität ins Leere laufen. Andererseits kann jedoch auch eine objektiv unlogische Prämisse oder Konklusion durchaus zur gewünschten emotionalen Evokation führen, etwa dann, wenn die Rezipient*innen nicht in der Lage oder Willens sind diese auf ihre sachlogische Validität hin zu überprüfen und somit unreflektiert den evozierten emotionalen Implikationen folgen. Da eine solche Lesart prinzipiell nicht ausgeschlossen werden kann, sollten auch sachlogisch falsifizierbare Textstellen in den Codierungsprozess einbezogen werden. Die siebte Phase trägt maßgeblich zur Qualitätssicherung des Ansatzes bei, indem die Validität bzw. Plausibilität der gebildeten Paraphrasen und Generalisierungen, sowie die damit verbundenen emotionalen Zuschreibungen anhand der Ausgangsmaterialien überprüft werden. Zu diesem Zwecke sind die interpretativen Zuschreibungen und die stilistischen Verkürzungen des Ausgangsmaterials dahingehend zu befragen, inwiefern sie die Originalität der Datenbasis widerspiegeln bzw. von dieser abweichen. Als besonders hilfreich hat es sich in der Praxis dabei erwiesen, ausgewählte Analyseeinheiten im Rahmen von Forschungskolloquien gemeinsam mit anderen Wissenschaftler*innen zu interpretieren (vgl. Schröder 2018, 34 f.). Die achte Phase schließt den Kreis des Ansatzes, indem sie den Forschungsprozess zugleich erneut öffnet und ggf. von vorne beginnen lässt. Notwendig kann ein solcher Schritt z. B. dann werden, wenn sich offenbart, dass sich mittels des gewählten Codesystems das eigentliche Erkenntnisinteresse der Arbeit nicht oder zumindest nicht hinreichend verfolgen lässt. In einem solchen Fall wären nicht nur mitunter umfangreiche Nachjustierungen am verwendeten Codesystem erforderlich, sondern es müssten auch neue Kodierdurchgänge des Analysematerials erfolgen. Aber auch das Forschungsinteresse selbst kann sich im Laufe von Untersuchungen transformieren – vor allem, wenn diese einen qualitativen explorativen Charakter haben – und somit weitere Anpassungen erfordern. Am Ende des

12Als

Toposverstoß wird hier in Anlehnung an Hanke (2016, 135) „die Verletzung gesellschaftlicher Normen, deren Gegenstücke in der Sprache die Topoi darstellen“ betrachtet. Manfred Kienpointner (2008, 703) fasst dies pointiert wie folgt zusammen: „Wenn durch bestimmte Handlungen negative Folgen verhindert werden, müssen diese Handlungen vollzogen werden.“ – tut man dies nicht, begeht man einen Toposverstoß, indem man hegemoniale gesellschaftliche Werte- und Normen verletzt.

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Ansatzes sollte daher stets mitreflektiert werden, wie passgenau es gelungen scheint, sich dem eigentlichen Forschungsinteresse zu nähern und ob mögliche Korrekturen zu einer Verbesserung des Forschungsprozesses führen könnten.

3 Analyseebenen zur Rekonstruktion emotionaler Korrelate Nachdem mit dem Ansatz zur Rekonstruktion textlich gebundener Emotionalität bereits erste allgemeingültige Hinweise in Bezug auf die Form des Codierungsverfahrens, die Möglichkeiten der Paraphrasierung bzw. Generalisierung von Textstellen sowie die Darstellungsformen der dabei interpretativ erschlossenen emotionalen Implikationen erfolgt sind, sollen nachfolgend die drei bereits vergebenen deduktiven Codes (vgl. Tab. 2) näher ausgeführt und vorgestellt werden. Da die Codes dabei auf der textlichen Ebene gleichsam als ­(Zer-)Gliederungsinstrumente zur Defragmentierung der Analyseeinheiten beitragen, werden sie nachfolgend auch als Analyseebenen bezeichnet, welche chronologisch an einen Text angelegt und abgearbeitet werden müssen. Bei der Zuordnung der Textstellen zu einem der drei Codes ist dabei grundsätzlich zwischen zwei unterschiedlichen Fällen zu differenzieren: der direkten und der indirekten Manifestation emotionaler Implikationen. Unter die Rubrik der direkten emotionalen Implikationen fallen dabei all jene Textstellen, in denen Emotionen direkt zum Ausdruck gebracht wurden, wohingegen Textstellen in denen die emotionale Intentionalität nur interpretativ als zweite Ordnung erschlossen werden konnte, unter die Rubrik der indirekten emotionalen Implikationen subsumiert werden. Bezüglich der emotionalen Bewertung können dabei verfahrenstechnisch all jene Generalisierungen, welche als emotionale Abwertung eines Phänomens gelesen werden, als negativ codiert werden. Eine positive Codierung erfolgt demTab. 2   Tabellarische Übersicht, der chronologisch aufeinander aufbauenden Analyseebenen, des Ansatzes zur Rekonstruktion textlich gebundener Emotionalität. Analyseebenen

Codes

I.

Formen der direkten emotionalen Manifestation

II.

Formen der indirekten, jedoch lexikalisch deutbaren emotionalen Manifestation

III.

Formen der indirekten und lexikalisch nicht deutbaren emotionalen Manifestation

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gegenüber, wenn eine emotionale Aufwertungsevokation eines Phänomens interpretativ erschlossen werden kann. Prinzipiell lassen sich mittels eines solchen Verfahrens jedem einzelnen Wort, Term, Satz, Argument, etc. emotionale Implikationen zuordnen. Nicht in allen Fällen erscheint jedoch ein solch kleinschrittiges Verfahren als zwingend notwendig. So ist auch eine Codierung von ganzen Argumentationszusammenhängen, Prämissen oder Konklusionen prinzipiell möglich. Der gewählte Feinheitsgrad der Analyse ist dabei letztlich abhängig von der spezifisch gewählten Forschungsfrage. Die nachfolgende Vorstellung bietet einen Überblick der hierfür verwendbaren Analyseebenen.

3.1 Analyseebene: Formen der direkten emotionalen Manifestation Von einer direkten Manifestation emotionaler Aspekte kann demnach gesprochen werden, wenn von den Textproduzent*innen etwa einzelne Emotionen oder Stimmungen unmittelbar benannt oder angesprochen werden. Ein Beispiel für einen solchen Fall wäre etwa der Satz: Das macht mir Angst. Die Emotion Angst wird hierbei eindeutig benannt, es handelt sich daher recht unmissverständlich um eine Form der direkten Manifestation von Emotionalität. Direkte emotionale Manifestationen lassen sich im Text aufgrund ihrer Klarheit zunächst besonders leicht markieren. Aussagen bezüglich ihrer funktionellen Bedeutung sind hingegen stets kontextgebunden und auf qualitative Interpretationsverfahren angewiesen. So gibt etwa der gerade verwendete Beispielsatz (Das macht mir Angst) für sich alleinstehend noch keinerlei Auskunft darüber, welche Implikationen der/die Autor*in mit diesem verbindet (Sollen etwa andere etwas tun? Ist die Angst in Kauf zu nehmen? Ist sie als Warnung oder Sorge zu verstehen?). Erst durch die kontextgebundene interpretative Einbettung einer ­Textstelle lassen sich daher die vermutlichen Implikationen plausibilisieren.

3.2 Analyseebene: Formen der indirekten, jedoch lexikalisch deutbaren emotionalen Manifestationen Neben den markanten und daher recht leicht in Texten auszumachenden direkten emotionalen Manifestationsformen wird bei indirekten Formen der emotionale Gehalt erst durch eine interpretative, syntaktische und argumentative Analyse

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unter Einbezug der verwendeten Lexik erkennbar. Dabei können wiederum zwei verschiedene Unterfälle indirekter emotionaler Manifestationen unterschieden werden: a) lexikalisch deutbare und b) lexikalisch nicht deutbare. Der Term der lexikalisch deutbaren emotionalen Formen wird dabei in Anlehnung an die Medienwissenschaftler Hans-Jürgen Bucher und Christof Barth (vgl. 2016, 2) gebraucht, die von der sogenannten lexikalischen Emotionalisierung sprechen. Demnach kann aus der lexikalischen Definition eines Terms (s)eine unmittelbare emotionale Bedeutung abgeleitet werden13. Beispielhaft hierfür wäre etwa der folgende Satz: Als ich die Lage erkannte, wurde ich blass. In diesem Beispiel werden Emotionen nicht direkt evoziert. Der verwendete Term blass suggeriert jedoch eine emotionale Konfiguration des Satzes. Darlegen lässt sich diese beispielsweise mittels des deutschen online Dudens14, nachdem der Term blass z. B. als „[vor Schreck] blass werden“ (Online Duden 2019) gedeutet werden kann. Über den Umweg der lexikalisch akzeptierten Wortbedeutung eines Begriffes, lassen sich so emotionale Gehalte einzelner Wörter oder Lexeme erschließen und für weitere Analysen fruchtbar machen.

3.3 Analyseebene: Formen der indirekten und lexikalisch nicht deutbaren emotionalen Manifestationen Nicht in allen Fällen indirekter Manifestationen können emotionale Korrelate in Argumentationen, jedoch mithilfe lexikalischer Standardwerke entschlüsselt werden. Dennoch scheint eine Deutung der textlich gebundenen Emotionalität auch in diesen Fällen möglich. So kann davon ausgegangen werden, dass prinzipiell jedem Textdokument eine emotionale Signatur eingewoben ist, welche aufgrund ihrer Sozialität postum durch Dritte rekonstruiert werden kann. So erfolgt die Komposition von emotionalen Äußerungen, gleich ob

13Hanke

(vgl. 2016, 151) spricht in Anlehnung an den französischen Linguisten Christian Plantin (vgl. 1998, 22) in solchen Fällen auch von linguistischen Indizien. 14Eine Orientierung an den lexikalischen Wortbedeutungen des deutschen Online-Dudens erscheint dabei vor dem Hintergrund zu rechtfertigen, dass dem Duden nach einem Beschluss der Kultusministerkonferenz von 1955, zeitweise die Deutungshoheit über die finalen Rechtschreibregeln in der Bundesrepublik zugesprochen wurde und die orthographische und inhaltliche Wortdeutung des Dudens bis heute allgemeine Anerkennung erfährt (vgl. Gür-Şeker 2012, 491 f.).

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Tab. 3   Übersicht möglicher Junktoren nach dem Beispiel von Kienpointner (vgl. 2008, 704) Junktoren

Bedeutung

¬p

Negation (nicht p)

pʌq

Konjunktion (p und q)

pvq

Disjunktion (p oder q)

p  → q

Konditional (wenn p dann q)

p ↔q

Bikonditional (logische Äquivalenz: wenn und wenn p, dann q)

von den Textproduzent*innen bewusst oder unbewusst, keinesfalls frei oder zufällig, sondern orientiert sich an den Hegemonien einer Zeitepoche. Entscheidend für ihre Rekonstruktion ist daher, dass der Entstehungskontext eines Textes sowie die damit einhergehenden gesellschaftskulturellen Prämissen von den Interpretierenden hinreichend nachvollzogen werden können. Die interpretative Leistung zur Freilegung derartiger emotionaler Korrelate wurde dabei bereits im vorausgehenden Kapitel (vgl. Kap. 2) für den Beispielsatz – Viele sozial engagierte (wie Müllmänner) würden aufhören [nach Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens, d. Verf.] und Deutschland würde verdrecken. (01/1/G/K_Ben) – exemplarisch dargestellt. So impliziert die Aussage des Schülers Ben zwei kausale Folgen, welche vermeintlich mit der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens korrelieren. Zum einen würden sozial engagierte Menschen nicht mehr arbeiten und zum anderen würde Deutschland verdrecken. Aufgrund der Wortwahl des Schülers sowie der Tatsache, dass er sich in seinem Urteilstext gegen die Einführung eines bedingungsloses Grundeinkommen ausspricht, wurden die Aussagen dabei als eine negative emotionale Evokation gewertet. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Textstelle schematisch (vgl. Tab. 3) als emotionale Generalisierung wie folgt darstellen: (bedingungsloses Grundeinkommen)  →  (- sozial engagierte Menschen arbeiten nicht mehr)  → (- Deutschland verdreckt).

4 Fazit Zum Ende soll noch einmal konstatiert werden, dass es sich bei dem hier vorgestellten Analyseverfahren nicht um eine fertige Methode, sondern um einen explorativen Ansatz handelt, der – wie jedes interpretative Verfahren – nur zu

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Teilen auf regelgeleiteten und standardisierten Arbeitstechniken beruht. So bleibt auch hier inhärent, was im Prinzip für alle interpretativen Ansätze gilt, nämlich, dass sie es sich gefallen lassen müssen, dass man sie bis zu einem gewissen Grad als Kunstlehre bezeichnet (vgl. u. a. Jung 2012, 36 ff.; Juchler 2014, 54 f.). Im streng wissenschaftlichen Sinne verdienen sie daher das Siegel einer Methode nicht. Dennoch bietet der hier vorgestellte Analyseansatz auf qualitativer Ebene die Möglichkeit Emotionalität in textbasierten Dokumenten weitgehend regelgeleitet und allgemein nachvollziehbar zu identifizieren und deren funktionale Ausrichtung zu bestimmen. Der Politikdidaktik liegt damit erstmalig ein empirisch erprobtes Untersuchungsinstrument vor, welches es erlaubt den emotionalen Sinngehalt politischer Texte zu rekonstruieren.

Literatur Bucher, H.-J., C. Barth. 2016. Conference-Paper zum Symposium: Mediale Emotionskultur(en). Jahrestagung 2016 der Gesellschaft für Angewandte Linguistik (GAL). https://www.researchgate.net/publication/308504425_Zwischen_Hate-Speech_und_ deliberativem_Diskurs_affektive_Offentlichkeiten_und_politische_Kommunikation_in_ den_sozialen_Medien_Symposium_Mediale_Emotionskulturen_Jahrestagung_der_Gesellschaft_fur_Angew/. Zugegriffen: 11. September 2019. Deichmann, Carl. 2009. Hermeneutische Politikdidaktik und qualitative Forschung. In Standortbestimmung Politische Bildung, Hrsg. Heinrich Oberreuter, 175–194. Schwalbach/Ts: Wochenschau Verlag. Diekmann, Andreas. 2008. Empirische Sozialforschung. Grundlagen, Methoden, Anwendung. 19. Aufl., Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Fiehler, Reinhard. 2008. Emotionale Kommunikation. In Rhetorik und Stilistik/Rhetoric and Stylistics. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung/ An International Handbook of Historical and Systematic Research. 1. Halbband/ Volume 1, Hrsg. U. Fix, A. Gardt, J. Knape, 757–772. Berlin/New York: Walter de Gruyter. Flick, Uwe. 1995. Stationen des qualitativen Forschungsprozesses. In Handbuch Qualitative Sozialforschung. Grundlagen, Konzepte, Methoden und Anwendung. 2. Aufl., Hrsg. U. Flick, E. v. Kardorff, H. Keupp, L. v. Rosenstiel, S. Wolf, 147–173. Weinheim: Beltz. Gloe, M., und H.-W. Kuhn. 2017. Die Pro-Contra-Debatte. In Basiswissen Politische Bildung. Forschung, Planung und Methoden Politischer Bildung. Handbuch für den sozialwissenschaftlichen Unterricht. 2. Bd., Hrsg. V. Reinhardt, und D. Lange, 577– 586. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Gür-Şeker, Derya. 2012. Der Duden – eine Wörterbuchfamilie im Kontext der deutschen Wörterbuchlandschaft um die Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert. Große Lexika und

Ansatz zur Rekonstruktion textlich gebundener Emotionalität (ARtE)

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Mehrsprachige politischen Bildung: Der bilinguale Unterricht als didaktischer Ansatz zur Legitimation emotionaler Argumente Subin Nijhawan Zusammenfassung

Dieser Aufsatz beschäftigt sich einerseits mit der Frage, ob in Anbetracht der der historischen Zielsetzung auf das kritisch-rationale Urteil in der deutschen Politikdidaktik der Nachkriegszeit auch emotionale Urteile nichtsdestotrotz als legitim angesehen werden können. Dazu werden vier verschiedene Kategorien von Urteilen in einem Modell zusammengefasst: 1) emotionales Eigeninteresse; 2) emotionaler Altruismus; 3) rationales Eigeninteresse; 4) rationaler Altruismus. Ein angemessenes Urteil, so wird suggeriert, liegt im perfekten Gleichgewicht dieser vier Kategorien. Im Anschluss wird die Rolle der Fremdsprache im bilingualen Politikunterricht hinsichtlich der Urteilsbildung thematisiert. Es liegt Evidenz aus der Psychologie vor, dass Urteile in einer Fremdsprache grundsätzlich rationaler ausfallen als in der eigenen Erstsprache. Insofern bleibt die Frage offen, ob sich bi- bzw. mehrsprachiger Unterricht für die Genese eines angemessenen Urteils eignet. Angesichts heutiger globaler Chancen und Herausforderungen und dem Ideal der globalen Gerechtigkeit, Solidarität und Empathie erscheint es als zeitgemäß, auf mehrsprachige bzw. kosmopolitischere Ansätze in der politisch-ökonomischen Erziehung zu setzen, auch hinsichtlich der gewünschten Multiperspektivität innerhalb einer demokratischen und transnationalen Zivilgesellschaft. Das Leitmotiv dieses Artikels ist der Klimawandel. Exemplarisch werden Beispiele aus der aktuellen Debatte präsentiert, denn hier lassen sich die vier S. Nijhawan (*)  Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Juchler (Hrsg.), Politik und Sprache, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30305-1_7

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­rteilskategorien besonders treffend beobachten. Um die theoretischen U Erkenntnisse anwendbar zu gestalten, endet der Artikel mit dem Vorschlag für ein didaktisches Instrument für den mehrsprachigen politischen Unterricht, welches Emotionen sichtbar machen und zugleich produktiv gestalten soll.

1 Einleitung: der Klimawandel als globale politische Herausforderung Übersicht

„Weltweit ist die Durchschnittstemperatur bereits um etwa 1 Grad angestiegen“ [relativ zu 1850–1900; rund die Hälfte des Anstiegs erfolgte in den letzten 30 Jahren.] „Die letzten 4 Jahre waren weltweit die wärmsten seit Beginn der Wetteraufzeichnungen.“ Scientists for Future (2019, S. 82), Fakten zum Klima

Alle reden über das Klima – allerspätestens seit den letzten beiden Rekordsommern 2018 und 2019. Schließlich sind seitdem die gravierenden Auswirkungen des Klimawandels auch für die hiesige Bevölkerung unmittelbar und in extremen Ausprägungen spür- und fühlbar, besonders aufgrund von Spitzenwerten über 40 Grad und der anhaltenden Trockenheit. Verstärkt wurde diese Wahrnehmung durch Greta Thunberg und die von ihr initiierte Fridays For Future-Bewegung (FFF), die den Klimawandel an vorderste Front des Diskurses über die aktuellen globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts hievte. Infratest Dimap fand nach der Europawahl 2019 heraus, dass für 48 % der deutschen Wähler*innen der Klima- und Umweltschutz der wahlentscheidende Grund gewesen sei – 28 Prozentpunkte höher im Vergleich zu den Wahlen in 2014. Im Vergleich dazu steht z. B. das Wirtschaftswachstum mit 19 %, weniger als die Hälfte, nur an untergeordneter Stelle der empfundenen Prioritäten (Infratest Dimap 2019). Der Klimawandel kennt keine Grenzen. Es handelt sich um ein globales Phänomen, welches aber nicht nur im globalen Diskurs Anklang findet, sondern auch lokal interpretiert, diskutiert und verhandelt wird. Damit zählt er als typisches Beispiel einer „Glokalisierung“ (nach Robertson 1990) des Weltgeschehens. Es ergibt sich die große Herausforderung, wie Glokalisierung in unserer Bildung umgesetzt werden kann. Zu Glokalisierung gehört ebenso

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Sprache. Einerseits finden globale Diskurse zu beachtlichem Anteil in der lingua franca Englisch statt. Zweifelsfrei werden aber viele dieser Diskurse auf lokaler Ebene, in den entsprechende(n) Umgebungssprache(n), ausgeübt. Deshalb stellt sich die Frage, inwieweit mehrsprachige Ansätze in der politischen Bildung, hierzulande insbesondere in verschiedenen Modellen des bilingualen Sachfachunterrichts manifestiert, den Zeitgeist in dieser Hinsicht abbilden. Denn Ludwig Wittgenstein (1963, S. 64; 5.6), der einst schon in 1922 so populär postulierte, „die Grenzen meiner Sprachen bedeuten die Grenzen meiner Welt“, behält in unserer globalen Weltordnung mehr Recht denn je. Die eingangs zitierten FFF sind das Paradebeispiel für eine soziale Bewegung, die global vernetzt lokal agiert. Der bilinguale Unterricht eignet sich daher zu einer Loslösung des nationalen Diskurses, denn die globalen Chancen und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts sind glokal und damit transnational. Die Umgebungssprache genießt hinsichtlich einer multikulturellen und -lingualen Welt in einem demokratischen Umfeld hier besondere Beachtung. Mehrsprachigkeit schlechthin ist ein Garant für eine Definition dieses Konzeptes seitens der gesamten transnationalen Zivilgesellschaft. Denn unsere „imagined community“ (Anderson 1983) des 21.  Jahrhunderts ist angesichts der vielen grenzüberschreitenden Bewegungen und Transaktionen, reell und digital, gewiss nicht mehr alleine der Nationalstaat, sondern die kosmopolitische Weltgesellschaft, die lokal agiert, aber global handelt. Und Sprache repräsentiert diesbezüglich Kultur und Identität. Dass alleine rationale Gesichtspunkte den Diskurs um den Klimawandel, stellvertretend für unsere globalen Chancen und Herausforderungen, bestimmen, ist schlichtweg falsch. Emotionalität, die das Menschsein konstituiert, ist allgegenwärtig, zumal feststellende Vorwürfe während kontroverser Diskussionen oft wortwörtlich lauten: „Das war aber jetzt sehr emotional von Dir!“ Glokale Diskurse werden besonders emotional geführt, leicht erkennbar angesichts einer neuen „Debattenkultur“ in unseren sozialen Medien. Das Zutun einer neuen und heterogenen Influencer-Szene, verfügbar on demand – vor allem auf Instagram und YouTube –, fügt sich nahtlos in diesen Kanon ein. Für die heranwachsende Generation ist das entstehende Echo per Knopfdruck auf ihren SmartPhones in ihrer Hosentasche omnipräsent. Welche Rolle spielt die Emotion in der Formierung eines Urteils? Bietet Sie auch Chancen für unsere heutige Politikdidaktik? Können Emotionen trotz der Fixierung auf kritische Rationalität eine legitime Grundlage für ein politisches Urteil sein? Die zu Beginn zitierten Scientists For Future nutzen die emotionale Welle, die FFF startete, und bringen sich ihrerseits mit wissenschaftlichen bzw. rationalen Fakten ein, denn Fakten und Rationalität brandmarken die Wissenschaft. Das konkrete sprachliche Framing entscheidet, ob ein Urteil eher rational oder

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emotional formuliert wird. Welche Rolle spielt die Sprache, genauer gesagt die Fremdsprache bzw. der mehrsprachige Politikunterricht, diesbezüglich auf die Formierung eines Urteils? Welche didaktischen Instrumente eignen sich dabei, Emotionen sichtbar zu machen und produktiv für den Unterricht zu nutzen? Wir werden erkennen, dass mehrsprachige Ansätze im politischen Unterricht hinsichtlich einer emotionalen Steuerung durchaus ein interessantes, weiter zu erforschendes Potenzial aufweisen.

2 Emotionen in der deutschen Politikdidaktik – eine neue Zwangsehe? Obschon Emotionen und Menschlichkeit zurecht nebeneinandergestellt werden, haben sie in Wissenschaft und Bildung keinen leichten Stand. Im Gegensatz zu emotionalen Sichtweisen wird das rationale, also sachliche Argument in der Geschichte der modernen Wissenschaft mit Intellektualität, und damit mit Vernunft und Verstand gleichgesetzt (Detjen 2017; Nida-Rümelin 1992). Rationalität ist damit ein Synonym für den kühlen, bedachten Kopf, der weise Entscheidungen trifft, nach sorgfältiger Abwägung und Antizipation. Diese Auffassung spiegelt sich auch in der Konzeption des politischen Unterrichts wider. Nehmen wir als Bezugspunkt den Usus der deutschen Politikdidaktik in der Nachkriegszeit, das alleinige kritisch-rationale Urteil als Ziel politischer Bildung im Hinblick auf die Mündigkeit der Bürger*innen zu definieren. Denn nicht umsonst basiert das Misstrauen gegenüber Emotionen in der deutschen Historie auf dem Instrument der Massenemotionalisierung des ­NS-Regimes. Oeftering und Uhl (2017, S. 560) fassen die Erfahrung zu jener Zeit wie folgt zusammen: „Der NS-Staat verordnete eine Pädagogik, die – besonders im Geschichts- und Geografieunterricht und in der Staatsbürgerkunde – gegen kritisch-analytisches Denken gerichtet war. So verschaffte sich der Staat mit inszenierter Massenloyalität eine Scheinlegitimation für eine rassistische,Volksgemeinschaft‘. Schulen wurden in den Dienst einer aggressiven Lebensraum- und Rassenpolitik gestellt, und Emotionalität sollte die mentale Basis für politische Loyalität und faschistische Einordnung liefern.”

Folglich bezeichnet Besand (2015, S. 217) in diesem Zusammenhang Emotionen in der politischen Bildung als einen „blinden Fleck“. Gleichwohl räumt sie aber ein, dass Emotionen im Sinne des zentralen didaktischen Prinzips der Betroffenheit seit spätestens den 1980er Jahren eingeschränkte Beachtung finden. Im Sinne

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des Lerninteresses wurde die Rolle von Emotionen bei, inter alia, der Motivation für den Lerngegenstand und der Anbahnung von Empathie bei den Lernenden durchaus als nützlich betrachtet. Empathie wiederum ist ein Vorbote und die Grundlage globaler Gerechtigkeit und Solidarität (Korte 2015; oder den von Flam und King 2005 herausgegeben Band „Emotions and social movements”), ohne welche ein friedliches und nachhaltiges Zusammenleben in der transnationalen Zivilgesellschaft nicht mehr vorzustellen ist. So kann der Klimawandel nicht rein national gelöst werden, sondern bedarf globaler Ansätze, die auch unter Berücksichtigung lokaler Gegebenheiten implementiert werden. Daher darf gefragt werden, ob nationale politische Diskurse, moderiert durch nationale Regierungen, im 21. Jahrhundert noch zeitgemäß sind. Die sich anbahnende Renaissance der Emotionen in der Wissenschaft, in der Antike bereits z. B. bei Aristotles prominent in der Epistemologie verankert (Thamm 2006), ist insbesondere auf Erkenntnisse der Neurowissenschaften zurückzuführen. Diese mündeten im sogenannten emotional turn im US-amerikanischen Raum Mitte der 1970er-Jahre. In erster Linie werden hier emotionale und rationale Gesichtspunkte als distinkte Kategorien unterschieden. Angesichts der nicht zu negierenden Existenz von Emotionen und ihren durchaus positiven Eigenschaften, forcierten verschiedene sozial-, geistes- und humanwissenschaftliche Disziplinen im Zuge jener emotiven Wende auch hierzulande einen übergreifenden Diskurs, der sich mit den lernförderlichen Aspekten von Emotionen beschäftigte (vgl. Barbalet 2002). Denn Emotionen verstehen sich als soziales Konstrukt und sind daher nicht angeboren, sondern erlernbar (Weber 2016). Es ergibt sich daher ein Bedarf nach dem produktiven und effizienten Umgang mit Emotionen in der Politischen Bildung. Aber: was ist denn überhaupt ein emotionales Argument? Können emotionale von rationalen Argumenten überhaupt trennscharf unterschieden werden? Können emotionale Argumente situativ als ebenso angemessen wie, oder sogar besser als, rationale Argumente betrachtet werden?

2.1 Was ist überhaupt ein emotionales Argument? Die Frage, welche Charakteristika ein Argument als emotional klassifizieren, erfordert den Zusammenhang mit der Diskussion um die Messbarkeit von Emotionen. Dazu ist, besonders im schulischen Kontext, einerseits eine Unterscheidung zwischen mündlichen und schriftlichen Äußerungen bei der Einordnung erforderlich, da sich die Leistungsfeststellung in der Praxis entsprechend

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aufgliedert. Zusätzlich sollte der Situation des Diskurses besondere Beachtung geschenkt werden. Das heißt, werden die emotionalen Argumente z. B. in einer kontroversen face-to-face Unterhaltung im Klassenraum genannt, in einem offenen Essay, oder irgendwelchen anderen Situationen, wie z. B. einem Social Media Projekt unter Einbezug von Emojis? Scherer (2005) betont, es gebe keinen Goldstandard, Emotionen zu messen. Mauss und Robinson (2009) gruppieren die verschiedenen Messverfahren in fünf verschiedene Kategorien. Für natürliche Lernkontexte in Klassenräumen sind jedoch nur die Selbstwahrnehmung und strukturierte Beobachtung anwendbar, da die anderen vorgeschlagenen Verfahren komplizierte Messungen mit medizinischen bzw. neurowissenschaftlichen Verfahren in laborähnlichen Settings erfordern. In mündlichen Konversationen lassen sich Emotionen u. a. durch bestimmte Verhaltenscharakteristika sowie durch kategorisierte Beobachtung von Mimik und Gestik bestimmen. Auch führen Gespräche oder Vorgehensweisen, die das subjektive Empfinden der Lernenden ans Licht bringen, zu interessanten Erkenntnissen. Für den schriftlichen Bereich, so z. B. bei der Textproduktion, gestaltet sich die Messung jedoch komplizierter. Um Emotionen auch in einem geschriebenen Text festzustellen, wurden in der Vergangenheit verschiedene Kodierschemata vorgeschlagen, so z. B. am bekanntesten der Geneva Affect Label Coder (GALC) (Scherer 2005). Kodierschemata dieser Art, welche auch im mündlichen Bereich angewandt werden können, berücksichtigen jedoch in der Regel gewisse Signalwörter, welche Gefühle implizieren. Es ist daran zu zweifeln, ob solche einzelnen Signalwörter und Ausdrücke ausreichen, ein ganzes Argument als emotional zu klassifizieren, oder ob ein holistischer Ansatz gewählt werden sollte, um eine gesamte semantische Einheit nach ihrem emotionalen Wesensgehalt zu analysieren. Die weitere Kategorisierung wird entsprechend anhand des Vorschlags von Gilbert (1995, S. 7) vorgenommen:“[a]n emotional argument […] is one in which the feelings being communicated by the participants are more important than the words being used to communicate those feelings.” Bei emotionalen Argumenten sind anhand dieser Definition zuvorderst die ausgedrückten Gefühle, und nicht das sachliche Argument, maßgeblich. Es zählt also vordererst das innere Ich, wie sich jemand fühlt. An anderer Stelle habe ich hinsichtlich dieses Gedankenganges ein Kodiersystem mit Ankerbeispielen vorgeschlagen, welches über Signalwörter hinausgeht und eine gesamte semantische Einheit holistisch würdigt (Nijhawan 2020). Fraglich ist, ob die gängigen Kriterien politischer Urteilsfindung aus der Politikdidaktik mit Fokus auf das kritisch-rationale Urteil überhaupt eine Grundlage für die Legitimität emotionaler Argumente darstellen, um diesen neuen Entwicklungen dank des emotional turns Rechnung zu tragen.

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2.2 Können emotionale Argumente legitim sein? Das perfekte Gleichgewicht von emotio und ratio Mit Bezug zu den Kriterien politischer Urteilsfindung sind hier besonders die Legitimität und Effizienz einschlägig (vgl. z. B. Massing 2003). Während die Effizienz die Zweck-Mittel Relation im Rahmen einer akribischen K ­ osten/ Nutzen-Rechnung vertritt, sieht es bei der Legitimität weniger eindeutig aus. Legitimität beachtet den normativen Rahmen der Gesellschaft als Maßstab für ein persönliches Urteil. Dies betrifft gesetzliche Regelungen (legal norms), die für alle gelten, ebenso wie individuelle und kollektive Werte und Moralvorstellungen, die sich durchaus gewohnheitsrechtlich ergeben können (customs). Hier steht ein ganzheitlicher Blick und damit das Bewusstsein, im Angelsächsischen awareness genannt, im Vordergrund. Sanders (2007) Unterscheidung zwischen Sach- und Werturteil erweist sich als hilfreich. Während ein Sachurteil, wie das Wort selbst impliziert, rein nach der Sachlage und den Fakten getroffen wird und damit die Effizienz ins Rampenlicht rückt, enthält das Werturteil moralische Gesichtspunkte, möglicherweise resultierend aus einem persönlichen oder kollektiven Wertesystem, welches von Betrachter*in zu Betrachter*in variieren und durchaus emotional geprägt sein kann. Festhalten lässt sich, dass die Legitimität durchaus den Spielraum gewährt, emotionale Urteile als gerechtfertigt zu bezeichnen. Als Frage formuliert würde es heißen: was spricht dagegen, dass, inter alia, die Gefühlsebene das eigene Urteil maßgeblich mitbeeinflusst? Werte, die hiermit im Zusammenhang stehen, können positive Emotionen wie z. B. die Empathie sein. Und aus Soziologie und Psychologie ist hinreichend bekannt, dass empathische Urteile Emotionen als Grundvoraussetzung ansehen (Davis 2006). Es ist unwahrscheinlich, dass Rationalität alleine nachhaltig für Empathie sorgt. Festgehalten wird an dieser Stelle, dass als unmittelbares Resultat des emotional turns, die Begriffe Emotionen mit Legitimität bzw. Rationalität mit Effizienz zumindest mittelstark korreliert erscheinen. Ferner besteht ein Konsens, dass Urteile nicht nur am alleinigen Eigeninteresse ausgerichtet sein, sondern auch legitime Fremdperspektiven berücksichtigen müssen, um friedlich miteinander in demokratischen Gesellschaften zusammenleben zu können. Damit wird das Modell zweidimensional. Die erste Dimension wird durch den Effizienz- und Legitimitätsbegriff bestimmt, der hier durch respektive rational und emotional ersetzt wird. Die zweite Dimension des Modells unterscheidet zwischen Eigeninteresse und Fremdperspektive, während letztere in ihrer extremsten Ausprägung als Altruismus bezeichnet werden kann. Es können vier verschiedene Typen von Argumenten unterschieden werden, die sich auch theoretisch flankieren lassen (Siehe Tab. 1).

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Tab. 1   Das Modell definiert zweidimensionale Kategorien, nach welchen Urteile hinsichtlich ihres emotionalen und rationalen Gehalts bzw. nach der Eigen- und Fremdperspektive am Beispiel des Klimawandels kategorisiert werden können. Das mittlere Quadrat definiert den Bereich, bei welchem ein Urteil im perfekten Gleichgewicht aller vier Kategorien liegt (nach Nijhawan 2020)

reines emoonales Eigeninteresse

reiner emoonaler Altruismus

(Irraonalität, z.B. “Trumpism”)

Bezug zu der „empathy altruism hypothesis“ (Batson et al. 1981)

reines raonales Eigeninteresse

reiner raonaler Altruismus

(„homo oeconomicus“)

Bezug zu der „social exchange theory“ (Homans 1958) and effecve altruism (Singer 2015)

Der*die Lernende ist für/gegen härtere Klimaschutzmaßnahmen aus reinem Eigeninteresse. Er*sie liebte (oder hasste) den heißen Sommer 2018. Globale Gerech gkeit und Solidarität sind eine Utopie.

Der*die Lernende ist für/gegen härtere Klimaschutzmaßnahmen nach einer akribischen Kosten-/Nutzenrechnung, ohne andere Perspek ven zu berücksich gen. Er*sie mag Profit (oder Schaden) aus dem heißen Sommer 2018 gezogen haben. Jede Bemühung für globale Gerech gkeit und Solidarität verläu‘ sich.

Der*die Lernende ist für/gegen härtere Klimaschutzmaßnahmen, weil er*sie befindet, dass jegliche empathiebasierte Ansätze zu globaler Klimagerech gkeit damit unterstützt bzw. gefährdet werden.

Der*die Lernende ist für/gegen härtere Klimaschutzmaßnahmen nach einer akribischen Kosten-/Nutzenrechnung, weil er*sie den nachhal gen Nutzen für alle durch globale Klimagerech gkeit erkennt.

Anhand dieser Typisierung wird folgendes klar. In ihrer Reinform existieren solche Argumente eigentlich nur unter Laborbedingungen. Ein Argument kann also nur in besonderen Fällen an den Extrempunkten der Skalen verankert sein. In der Realität liegen die Urteile verstreut im gesamten Feld. Wenn wir diese Erkenntnisse nun auf den Bereich emotionaler Argumente anwenden, stellen wir fest, dass ein Argument nur in den seltensten Fällen rein emotional ist. Ebenso verhält es sich bei einem rationalen Argument. Es ist auch nicht verwunderlich, denn z. B. von rein rationalem Handeln zu sprechen, wäre mit der Entmenschlichung eines jedweden Diskurses gleichzusetzen. Denn wir haben ausreichend Evidenz anzunehmen, dass ein reiner homo oeconomicus ein theoretisches Konstrukt darstellt (Engartner und Nijhawan 2019). Andersherum, rein emotionales Handeln würde ohne Berücksichtigung der Faktenlage stattfinden. Selbst eine klassische Bauchentscheidung enthält rationale Charakteristiken. Hier ist die Theorie der Affektkontrolle nach Heise (für eine Zusammenfassung siehe Robinson et al. 2006),

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welche Emotionen als Grundlage menschlichen Handelns betrachtet – jene aber stets gebändigt sehen will – besonders einschlägig. Ähnlich verhält es sich mit dem Konzept der emotionalen Intelligenz nach Goleman (1995). Diese besteht darin, Emotionen unter Kontrolle zu halten. Dies passt in den Kanon der neueren kognitiven Emotionsforschung, die sich gegen den Ausschluss von Emotion und Kognition wendet, und insbesondere ihre gegenseitige Bedingtheit postuliert, respektive: „Every cognitive frame implies emotional framing“ (Flam 2005, S. 24). Negative Eigenschaften, die Emotionen haben können, wurden bereits am Beispiel der Erfahrung mit dem Nationalsozialismus erörtert. Aktuell können wir z. B. das medienwirksame Verhalten vom amtierenden US-Präsidenten Donald Trump anbringen. Deswegen wird die Kategorie „emotionales Eigeninteresse“ in dem Modell auch als Trumpism bezeichnet. Hier fehlt der Bezug zu wissenschaftlichen Fakten, welche das Wetter beider Sommer als Vorbote einer gravierenden Klimaveränderung ansehen. Diese Kategorie definiert die einzige Form von Emotionen, die als irrational bezeichnet werden kann. Denn alleine aus der vorgeschlagenen Skalierung des Modells wird klar, dass Emotionen nicht zwangsläufig irrational sind (vgl. auch Engartner und Nijhawan 2019). Wir sehen z. B., dass sich Altruismus sowohl aus emotionalen als auch rationalen Motiven anbahnen kann. Anhand dieses suggestiven Beispiels sollte bewusst werden, dass diesem Schema nach der optimale Bereich genau in der Mitte liegt, also im perfekten Gleichgewicht der Dimensionen. Ein Kompromiss dieser vier Kriterien ergibt damit ein gut begründetes, angemessenes und mehrschichtiges politisches Urteil. Die Kriterien hierfür werden selbstverständlich nicht mechanisch angewandt, und können in ihrer Gewichtung variieren, weswegen der Spielraum des perfekten Gleichgewichts etwas größer ist. Dies wird visuell durch das mittige Quadrat dargestellt. Ein kurzer Exkurs soll das Modell verdeutlichen. Exemplarisch sollten wir uns fragen, in welchem Bereich Greta Thunbergs Urteile zum Klimawandel liegen. Sie betonte, dass sie streike, weil sie für sich selbst aufgrund der Untätigkeit der Politik keine Zukunft auf dem Planeten sehe (Eigeninteresse). Dazu betonte sie wiederum ihre empfundene Solidarität mit den Menschen, die die Auswirkungen des Klimawandels bereits stärker fühlen (Altruismus). Ferner begründet sie rational, weshalb es verstärkte Bemühungen erfordert, die Welt zu retten (Rationalität bzw. Effizienz). Ihre Argumentation beinhaltet Gefühle, starke Appelle, Angst, Hoffnung, den Bezug zu internationalem Menschenrecht etc. (Emotionalität bzw. Legitimität). In diesen Kanon passt der spektakuläre Auftritt von Rezo: seine emotionale Botschaft in seinem viel beachteten und diskutierten

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1. Video wurde mit Fakten flankiert (Rezo ja lol ey 2019a). In seinem Folgevideo, gemeinsam mit anderen Youtuber*innen, wird von der Politik eingefordert, im Sinne der Wissenschaft, Rationalität und Logik den Klimawandel zu bekämpfen. Der Ton jedoch, und damit der Apell, ist unübersehbar von Emotionalität geprägt (Rezo ja lol ey 2019b). Eingangs wurde die grenzüberschreitende Natur unserer globalen Herausforderungen mit Bezug zum Phänomen der Glokalisierung erörtert. Der folgende Teil enthält eine Auseinandersetzung mit der Frage, welche Rolle Sprache bzw. mehrsprachige politische Bildung allgemein bei der Genese eines politischen Urteils vor dem Hintergrund der vorgenommenen Kategorisierung, und der suggestiven Platzierung eines optimalen Urteils, spielt. Der Fokus liegt von nun an alleine auf den Dimensionen emotional und rational. Ich werde von einem perfekten Equilibrium aus emotionalem und rationalem Lernen sprechen. Interessanterweise bietet bilinguale bzw. mehrsprachige Politische Bildung hier einen interessanten Ansatzpunkt, wie wir lernen werden.

3 Können Fremdsprachen zur „Rationalisierung von Emotionen“ bzw. zur „Emotionalisierung der Rationalität“ eingesetzt werden? Dass Sprachen insbesondere helfen, andere Perspektiven anzunehmen, ist aus der Fremdsprachendidaktik hinreichend bekannt. Grundsätzlich soll aber auch die Frage gestellt werden: welche Rolle hat die Sprache auf das politische Urteil hinsichtlich des zweidimensionalen Modells, also auch auf die emotionale und rationale Dimension? Und wie sieht es mit mehrsprachigem Unterricht in Politik und Wirtschaft aus? Fallen Urteile im Vergleich zur Erst- oder Schulsprache anders aus, wenn sie in einer Zweit- oder Fremdsprache gefällt werden?1 Aus der Psychologie wurden im Rahmen spieltheoretischer Experimente interessante Erkenntnisse gewonnen. Keysar et al. (2012) fanden heraus, dass Menschen Urteile in ihrer Erstsprache grundsätzlich emotionaler fällen (Risikoaffinität), während in einer Fremdsprache solche Urteile in der Regel rationaler ausfallen (Risikoaversität). Dies sei dem Umstand geschuldet, dass die Verarbeitung in einer weniger dominanten Sprache in der Regel kognitiv anspruchsvoller sei, da der Inhalt erst einmal verstanden werden müsse, und affektive Momente ausgebremst werden. Dies gehe einher mit einer tieferen und rationalen Entscheidungsfindung. 1(Diese

theoretische Herleitung wurde aus dem Englischen von Nijhawan 2020 (angenommen).

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Martinovic und Altarriba (2013) berichten von ähnlichen Erfahrungen aus der Psychotherapie mit bilingualen Patienten, hier aber im Gegensatz zu den im vorderen Absatz zitierten Experimenten in länger andauernden Prozessen. ­Code-switching, das bedeutet, der vorsichtig geplante Wechsel von der dominanten in die weniger dominante Sprache, und umgekehrt, dient als eine Art externe Steuerbarkeit von emotionalem und rationalem Empfinden. Es ist bekannt, dass insbesondere während traumatherapeutischer Sitzungen emotionale und rationale Prozesse im Idealfall kontrollierbar sind. Das heißt, einerseits kann die Sichtbarkeit von Emotionen zentral sein, um das Trauma zu identifizieren und behandeln. Andererseits ist ein nüchterner Blick auf einen selbst und das Geschehene ebenso entscheidend, um die Affekte zu verarbeiten. Wir sehen hier wieder das Zusammenspiel von Emotionalität und Rationalität und den Versuch, Emotionen rational zu kontrollieren, oder das Rationale als emotional zu empfinden. In ihrer Extremform sind emotio und ratio nicht unbedingt mit einem Therapieerfolg gekrönt (emotionales Ausrasten vs. gefühlsbefreite Nichtanteilnahme). Gerade hinsichtlich des perfekten Gleichgewichts von emotionalem und rationalem Lernen erscheint es deshalb, dass bi- bzw. multilingualer Unterricht in Politik und Wirtschaft ein Potenzial beherbergt, welches weiter erkundet werden sollte adaptiert übernommen).

4 Didaktisches Instrument: Emotionen im Klassenraum während des Lernprozesses sichtbar machen und produktiv nutzen Zum Abschluss erfolgt der Vorschlag eines didaktischen Instrumentes, welches zugleich als Fazit bzw. Abschluss dient. Es soll sich nicht nur für den unmittelbaren praktischen Einsatz im Unterricht anbieten, sondern zugleich den Stimulus setzen, im Rahmen eines Evaluationsforschungsvorhabens das Modell auf seine Wirksamkeit hin zu untersuchen, und somit zum Diskurs um Mehrsprachigkeit und politische Urteilsfindung beizutragen. Diesem stehen insbesondere die hiesigen Fachdidaktiken zum Teil noch reserviert gegenüber (siehe den Sammelband von Bosenius et al. 2007). Die Beschreibung erfolgt hier für den bilingualen bzw. mehrsprachigen Unterricht in Politik und Wirtschaft. Adaptiert kann dieses Instrument aber auch durchaus für andere Lernkontexte genutzt werden. Verschiedene Methoden, die einen systematisch geplanten Einsatz der Schulsprache (L1: in einer beachtenswerten Zahl nicht unbedingt die Muttersprache) vorschlagen, bieten sich hinsichtlich der Affektkontrolle und der Erreichung des perfekten Gleichgewichts von emotionalem und rationalem Lernen an. Es würde

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den Rahmen hier sprengen, die Modelle konkret zu thematisieren (in Elsner et al. 2019 werden einige Modelle, die in der Forschung entwickelt wurden, für den unmittelbaren Einsatz im Unterricht vorgeschlagen). Deswegen wird im Folgenden ein Vorgehen beschrieben, wie anhand des Themas Emotionen sprichwörtlich sensibilisiert werden kann. • Das Thema Emotionen im eigenen Alltag der Jugendlichen bietet einen guten Ansatzpunkt. Die Frage, wann die Lernenden einer Selbsteinschätzung zu Folge besonders emotional agieren, sorgt für reflektiere Beiträge aus der eigenen Lebenswelt. Unterrichtsgespräche, die die Begeisterung für den Lerngegenstand, die Betroffenheit, den Lebensweltbezug herstellen, können durch die Lehrkraft initiiert werden. • Im Anschluss kann den Lernenden, je nach Unterrichtsgegenstand, Gesprächsanlass, aber auch mit Aktualitätsbezug zu einem aktuellen politischen Thema, das kategorisierte Modell präsentiert und mit ihnen besprochen werden. • Es bietet sich durchaus an, die Lernenden auf beiden Achsen um eine Selbsteinschätzung zu bitten, wie sie im Durchschnitt ihre Persönlichkeit einschätzen – z. B. einer Skala von 0–10, während 5 immer das absolute Mittel darstellt. Beispiele: ein Lernender hält sich im Schnitt für eine eher emotionale Persönlichkeit, die aber gerne an andere denkt und durchaus altruistisch handelt (7;8); eine Lernende, die ehrgeizige berufliche Ziele verfolgt und pragmatisch vorgeht (2;2); ein*e Lernende*r, der*die sich emotional, aber faktenbasiert, für Klimagerechtigkeit einsetzt, weil er*sie für sich und andere keine Zukunft mehr sieht (5,5). Im Hinblick auf die Formulierung von Urteilen in entweder der L1 oder der L2, der Zielsprache, sollen die Lernenden gebeten werden, mögliche Unterschiede festzustellen (Leitfrage: fallen eure Urteile in der Fremdsprache anders als im Deutschen oder ggf. der Muttersprache aus?). • Die Lernenden werden gebeten, nach Lernaufgaben mit einer Urteilsfindung anzugeben, wie ihr Urteil auf den beiden Skalen quantitativ ausfällt. Nach einigen Ratings kann hinsichtlich der Sprache des Urteils im zweisprachigen Unterricht z. B. verglichen und die Lernenden aufgefordert werden, gewisse Auffälligkeiten zu erkennen, zu analysieren und zu bewerten. • Für die Lehrkräfte bieten sich interessante Erkenntnisse hinsichtlich der möglichen Ausbremsung affektiver Momente (v. a. in der L1), im Interesse eines Urteils im perfekten Gleichgewicht von emotionalem und rationalem Lernen. Das Ziel kann mit Initiativen zur Bildung für nachhaltige Entwicklung (Siege und Schreiber 2016; die Neuauflage erscheint dieses Jahr unter Mitwirkung des Autors dieses Beitrags) und zur demokratischen und kosmopolitischen Bildung und Erziehung gleichgesetzt werden.

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Die Grundzüge dieses didaktischen Instruments sollen anregen, Emotionalität produktiv und lernförderlich in Einklang mit den Zielen der Politikdidaktik zu nutzen. Ferner sollen Emotionen mithilfe mehrsprachiger Konzepte besser kontrolliert werden. Eine Verallgemeinerung bzw. klare Handreichung erscheint utopisch, der Besonderheit von Lernkontexten geschuldet. Lokale Kontexte gestalten sich immer heterogener, auch angesichts der Tatsache, dass die L1 nicht unbedingt die Muttersprache sein muss. Eine solche Heterogenität, Spiegel unserer glokalen Welt, soll jedoch als Chance begriffen werden, um anhand dieser bewusst sehr allgemein gehaltenen Maßgaben eigene Klassenräume zu erforschen, und das praktische Wissen zu erweitern, welches im Rahmen größerer Forschungsverbünde wiederum verwissenschaftlicht werden soll. Erste Ergebnisse, mit besonderem Bezug zu schriftlichen Texten, jedoch mit einer kleinen Fallzahl, sind bei Nijhawan (2020) verfügbar, und bieten Anlass für größer angelegte empirische Untersuchungen.

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„Appell an die Vernunft“ – die „Unmacht“ des Intellektuellen unter den Bedingungen gesellschaftlicher Spaltung Thomas Goll

Zusammenfassung

Berlin ist nicht Weimar, aber „Weimarer Verhältnisse“ scheinen sich gegenwärtig zumindest in der politischen Kommunikation in den sozialen Medien zu etablieren, in denen Echokammern und Dialogblockaden den Diskurs überformen. Sollten sich diese Trends des Denkens in Freund-Feind-Konstellationen fortsetzen und verstetigen, wären die ­ Kommunikations- und die Kompromissfähigkeit als zentrale Strukturelemente pluralistischer Demokratien ernsthaft gefährdet und damit auch der gesellschaftliche Zusammenhalt. Ein „Appell an die Vernunft“ scheint also nötig, wie ihn 1930 Thomas Mann angesichts einer bedrohlichen politischgesellschaftlichen Entwicklung ausgesprochen hat. Der Beitrag untersucht, inwiefern es ein Gebot der Vernunft und ein Auftrag an die politische Bildung ist, das Denken in Freund-Feind-Kategorien ernst zu nehmen, ihm aber konsequent ein anderes Politikverständnis entgegenzusetzen. Als historisches Beispiel dient die Endphase der Weimarer Republik, die in Bezug zur Gegenwart gesetzt wird. Thomas Manns Engagement für die erste deutsche Demokratie wird dabei zum Gegenstand einer historisch-politischen Analyse. Die daraus erwachsenden Folgerungen für die Gegenwart werden einer politikdidaktischen Reflexion unterzogen, um die Relevanz der Überlegungen für die politische Bildung zu begründen. T. Goll (*)  Technische Universität Dortmund, Dortmund, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Juchler (Hrsg.), Politik und Sprache, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30305-1_8

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„Berlin ist nicht Weimar“ (Stürmer 2018) – so kann man in Anlehnung an das oft zitierte Buch „Bonn ist nicht Weimar“ des Schweizer Journalisten Fritz René Allemann (1956) formulieren und man konnte jahrzehntelang gute Gründe dafür finden: die Stabilität des sich um zwei Volksparteien gruppierenden Parteiensystems, die Einbindung der Bundesrepublik in das westliche Sicherheitssystem und die Europäische Integration, die Sicherheitsarchitektur des Grundgesetzes und die boomende Wirtschaft. Dennoch sind „Weimarer Verhältnisse“ (vgl. Wirsching et al. 2018) zum Menetekel der deutschen Gegenwart 30 Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands geworden. Das hat Folgen: Wo die Stabilitätsgewissheit ins Wanken gerät, wächst die Sehnsucht nach haltgebenden Faktoren. Und wo ein Gefühl der Bedrohung anschwillt, ist der rationale Gegenpart der Emotion, die Vernunft, der Faktor, der Stabilität zu bieten verspricht. Kein Wunder also, dass ein „Appell an die Vernunft“ (vgl. Wirsching 2018) an der Tagesordnung scheint, wie ihn 1930 Thomas Mann angesichts einer bedrohlichen politisch-gesellschaftlichen Entwicklung ausgesprochen hat. Ist Weimar 1929/30 damit auch zugleich eine Blaupause für Berlin 2019/20?

1 Begriffsklärung und Problemaufriss Etymologisch betrachtet (vgl. zum Folgenden: https://www.dwds.de/wb/Appell) gehören das Substantiv „Appell“ wie das Verb „appellieren“ im Deutschen zunächst in die juristische Sphäre. Das aus dem Lateinischen „appellāre“ (= „sich an jemanden wenden“) abgeleitete Verb ist im 12. Jahrhundert im Mittelhochdeutschen als juristischer Terminus mit der Bedeutung „bei einer höheren Instanz Berufung einlegen“ nachweisbar. Das dazu gebildete Substantiv „Appellation“ trägt diese Bedeutung bis heute. Über das Französische wird im 18. Jahrhundert der zunächst im militärischen Bereich verwendete Begriff „Appell“ (frz. appel) mit der Bedeutung „Aufruf, Aufforderung (sich zu sammeln)“ im Deutschen heimisch. Erst im 19. Jahrhundert setzt sich die im politischen Kontext gängige Bedeutung „eindringlich mahnender Aufruf“ allgemein durch. Das Substantiv „Vernunft“ (vgl. DWDS 2019, Stichwort: Vernunft) bezeichnet ein „geistiges Vermögen, Zusammenhänge zu erkennen, zu beurteilen und sich dementsprechend sinnvoll und zweckmäßig zu verhalten“. Es handelt sich um eine seit dem 9. Jahrhundert im Deutschen nachweisbare Wortbildung zum Verb „vernehmen“ im Sinne von „erfassen, begreifen“. Seit dieser Zeit ist die Bedeutung im Sinne des Verfügens über geistige Urteilfähigkeit, also der Fähigkeit, sich

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seines Verstandes bedienen zu können, stabil. Politische Vernunft entspricht damit politischer Urteilsfähigkeit. Ein „Appell an die Vernunft“ bezeichnet also einen eindringlich mahnenden Aufruf, Zusammenhänge zu erkennen, zu beurteilen und sich dementsprechend sinnvoll und zweckmäßig zu verhalten. Im politischen Kontext wird ein solcher Appell in der Regel dann artikuliert, wenn eine politische Situation, Entscheidung oder Bewegung als „unvernünftig“ gedeutet wird. Regelmäßig geschieht das im Modus des „Wehret den Anfängen“ und wird insbesondere von Personen des öffentlichen Lebens, häufig von obersten Repräsentanten des Staates oder von kulturell bedeutsamen Organisationen bzw. von bekannten Intellektuellen in der Rolle als „praeceptor patriae“ mitunter auch erwartet und eingefordert. Allerdings ist das „Spannungsverhältnis von Geist und Macht“ ein weites Feld voller gegenseitiger Missverständnisse und falscher Erwartungen (vgl. Rüther 2013, S. 7). Der Intellektuelle, der sich auf und zu Politik einlässt, erlebt mitunter, dass sein Werk aufgrund seiner politischen Äußerungen angefeindet wird. Dafür ist Thomas Mann ein gutes Beispiel (vgl. Goll 2000).

2 Politische Lagen – Deutschland 1930 und 2019 Die politische Lage in der Weimarer Republik des Jahres 1930 stand im Zeichen der sich seit Oktober 1929 (Beginn der Weltwirtschaftskrise) verschlechternden Wirtschaftslage, das Deutsche Reich „rutschte in eine Dauerkrise“ (Bohr 2017, S 212). Daran scheiterte am 27. März 1930 die große Koalition aus SPD, Zentrum, DVP und DDP (1928–1930) (vgl. Hesse et al. 2015, S. 67 ff.). Das Kabinett um Reichskanzler Hermann Müller (SPD) trat zurück. Schon am 29. März 1930 wurde Heinrich Brüning (Zentrum) zum Reichskanzler ernannt und damit der Weg in die Präsidialregierungen beschritten und das parlamentarische Regierungssystem „fortan Schritt für Schritt ausgehöhlt“ (Hengst 2017, S. 225). Angesichts der Ergebnisse der Reichstagwahl vom 14. September 1930 (vgl. Kolb 1988, S. 258 f.), deren Gewinner und damit zweitstärkste Kraft im Reichstag mit 18,3 % der abgegebenen Wählerstimmen (1928: 2,6 %) und einem Zuwachs auf 107 Mandate (1928: 12) die NSDAP war, fand sich die SPD, die 24,5 % (1928: 29,8 %) und 143 Mandate erreichte, bereit, das Kabinett Brüning zu tolerieren (vgl. Plumpe 2018, S. 33). Das Zentrum errang 11,8 % (1928: 12,1 %), die DVP 4,5 % (1928: 8,7 %) und die DNVP 7,0 % (1928: 14,2 %). Die KPD konnte 13,1 % (1928: 10,6 %) verbuchen. Rechts- und Linksextremisten konnten deutliche Zuwächse erringen, die demokratische Mitte hatte endgültig

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keine Mehrheit mehr. Im Gegenteil, mit NSDAP, KPD und DNVP „rückte der antidemokratische Teil des Reichstags gefährlich nah an die Mehrheit heran“ (Möller 2018, S. 46). Das politische Klima heizte sich immer mehr auf. Die KPD bekämpfte die SPD als „Sozialfaschisten“ (Traub 2017, S. 236), die bürgerlichen Parteien „vollzogen einen Rechtsruck“ (Bohr 2017, S. 214). Schon am 23. Januar 1930 war mit Wilhelm Frick zum ersten Mal in Deutschland (Thüringen) ein Minister aus der NSDAP in ein Kabinett berufen worden. Insgesamt kann das Parteiensystem der Weimarer Republik als extrem polarisiert gekennzeichnet werden. Es war von einem verbreiteten Freund-Feind-Denken geprägt (vgl. Möller 2018), das auch die politische Kultur des Landes durchzog. Seit geraumer Zeit ist gesichert, dass die Gesellschaft der Weimarer Republik stark fragmentiert (Lehnert und Megerle 1987) und extrem segmentiert (Winkler 1993) war. Es bestand kein Verfassungskonsens (Steinbach 1986), sondern über die längste Zeit ihres Bestehens wurde die Republik aktiv bekämpft (Sontheimer 1987), sodass von einer „belagerten Civitas“ (Stürmer 1985) „in der Klammer von Rechts- und Linksextremismus“ (Knütter 1988) gesprochen werden kann. Nicht nur kulturell war Weimar damit überspitzt gesagt eine „Republik der Außenseiter“ (Gay 1987). Ganz anders die Bundesrepublik Deutschland der Gegenwart. Alle amtlichen Statistiken weisen seit Jahren eine stabile wirtschaftliche Situation aus (vgl. Destatis 2019a, 2019b): Das BIP ist stabil und liegt im zweiten Quartal von 2019 bei 844,730 Mrd. €. Die Zahl der Erwerbstätigen beträgt im Juli 2019 42,23 Mio. Personen, die der Erwerbslosen 1,35 Mio., was einer Erwerbslosenquote von 3,1 % entspricht. Der Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung spricht vom zehnjährigen stetigen „Wachstumskurs“ (BMWI 2019, S. 9). Zwar sind die konjunkturiellen Auswirkungen der Corona-Pandemie im Jahr 2020 und darüber hinaus erheblich, aber von einer grundlegenden Krise der sozialen Sicherungssysteme und einer bodenlosen Ungerechtigkeit des Sozialsystems kann keine Rede sein. Auch die parlamentarische Demokratie steht nicht unter dem Druck der Weimarer Zeit. Dennoch hat sich das Parteiensystem spätestens mit der dauerhaften Etablierung der AfD gewandelt. Das Ergebnis der Bundestagswahl vom 24. September 2017 (Bundeswahlleiter 2017) führte zu einer Wiederauflage der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD, die trotz ihrer Verluste im Vergleich zur vorherigen Bundestagswahl (in Klammern) über eine klare Parlamentsmehrheit verfügen: CDU 26,8 % (−7,4 %), CSU 6,2 % (−1,2 %), SPD

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20,5 % (−5,2 %), AfD 12,6 % (+7,9 %), FDP 10,7 % ( +5,9 %), Linke 9,2 % ( +0,6 %), Grüne 8,9 % ( +0,5 %). Bei der Europawahl 2019 (Bundeswahlleiter 2019) erzielte die AfD 11,0 % (+3,9 %), während die CDU 22,6 % (−7,5 %), die CSU 6,3 % (+1,0 %), die SPD 15,8 % (−11,4 %), FDP 5,4 % (+2,1 %), Linke (5,5 % (−1,9 %) und Grüne 20,5 % (+9,8 %) erreichten. Mit der Veränderung des Parteiensystems wird die Regierungsbildung in Bund und Ländern schwieriger. Eine antidemokratische Mehrheit ist dort jedoch nicht in Sicht. Allerdings verändert sich das politische Klima. Der Ton wird rauer. Ein älterer Sammelband konstatiert eine „gespaltene Gesellschaft“ (Lessenich und Nullmeier 2006), eine jüngere Analyse gar „feindselige Zustände“ (Zick 2016), abzulesen an verbaler und physischer Gewalt. Ähnlich wie in den 1920er Jahren kann ein allgemeiner „Aufstieg des Rechtspopulismus“ (Hirschmann 2017) festgestellt werden. „Bürgerliche Scharfmacher“ (Speit 2017) behaupten „Volkes Stimme“ (Niehr und Reissen-Koch 2019) zu sein. Die Debatte wird durch subtile Äußerungen und plakative Verlautbarungen, durch „Provokationen und Tabubrüche“ (Ernst 2017) angeheizt, deren Kommentierung selbst wieder kommentiert wird (vgl. http://lügen-presse.de/). Die Rede ist von „Lügenpresse“, „Systempresse“ oder auch „Pinocchiopresse“ (Martella 2017, S. 90). In den „Echokammern“ der sozialen Medien und des Internets potenziert sich der je eigene Eindruck. Der „mediale Filter- und Verstärkungseffekt“ (Daniel 2018, S. 62) schlägt sich im Bewusstsein derer nieder, die immer schon spürten, dass sie von den Medien manipuliert werden. Ist also die Zeit reif für einen „Appell an die Vernunft“, wie ihn Thomas Mann am 17. Oktober 1930 im Beethoven-Saal Berlin aussprach? Und wenn ja, wie hat er damals gewirkt?

3 Thomas Manns „Appell an die Vernunft“ 1930 und seine Rezeption in der zeitgenössischen Presse Um Thomas Manns „Deutsche Ansprache“ von 1930 und deren Wirkung einordnen zu können, ist ein Blick auf die politische Entwicklung und gesellschaftliche Stellung des Schriftstellers hilfreich (vgl. Goll 2000, S. 21 ff.). Thomas Mann wurde am 6. Juni 1875 in Lübeck geboren. Er war ein Kind der Gründerzeit. Er war im Wilhelminischen Deutschland zutiefst unpolitisch und hinterfragte die gegebene politische und gesellschaftliche Ordnung des Kaiserreichs nicht. Im Ersten Weltkrieg schlug er sich zunächst auf die patriotische Seite und stilisierte ihn in seiner Schrift „Gedanken im Kriege“ (1914) zur Auseinandersetzung

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von westlicher Zivilisation und deutscher Kultur. Dieses Motiv ist auch für die „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (1918) zentral. Als literarisches Werk stellt es eine Selbstvergewisserung dar. Als politisches Buch ist es trotz seiner Vielschichtigkeit lesbar als erzreaktionäres Pamphlet und kann als Zitatensammlung der Munitionierung solcher Standpunkte dienen, wenn es z. B. einen Gegensatz von Geist und Politik konstatiert und die Demokratie als undeutsch darstellt. Deshalb erregte Thomas Manns Rede „Von deutscher Republik“ (1922) größtes Aufsehen, trat er doch nun aus einem artikulierten Verantwortungsgefühl für die Weimarer Republik ein. Dieses Eintreten für die junge Demokratie brachte ihm harsche Kritik von konservativer und reaktionärer Seite ein. Der Schriftsteller galt als Renegat, der sich vom System habe kaufen lassen, um seine Eitelkeit als dessen Repräsentant ausleben zu können. Diese Bewertung wurde auch von kommunistischer Seite geteilt. Thomas Mann nahm tatsächlich seine Rolle als Repräsentant der Republik an. Sie spiegelt sich in seiner nationalen wie internationalen Vortragstätigkeit und in der Verleihung des Nobelpreises für Literatur im Jahre 1929. Thomas Mann war also zum Zeitpunkt seines Vortrags ein international anerkannter Vertreter des Weimarer Kulturlebens und Repräsentant des liberalen Bürgertums. Als solcher war er jedoch Anfeindungen der antidemokratischen Kräfte von links wie rechts ausgesetzt. Die „Echokammern“ der damaligen Zeit waren die Zeitungen und Journale der Weltanschauungspresse, sodass der Blick auf die Rezeption der Rede in der politisch segmentierten zeitgenössischen Presse die politischen Brüche der Zeit widerspiegelt (vgl. Schirmer 1992). Die Rede postuliert zu Beginn angesichts der Ergebnisse der Reichstagswahl eine Notwendigkeit für den Schriftsteller sein literarisches Werk ruhen und eine politische Ansprache halten zu müssen. Thomas Mann legt in seiner Analyse das Augenmerk auf psychologische Mechanismen und kulturelle Aspekte, warum ausgerechnet die NSDAP von der wirtschaftlichen Lage profitiere. Dies lasse sich nicht ohne Blick auf die „geistigen Quellen“, aus denen die Partei Unterstützung erfahre, erklären (Mann 1994, S. 265 f.). Als Literat argumentiert er geistesgeschichtlich, wenn er diese „geistigen Quellen“ im Irrationalismus und ­Anti-Intellektualismus sieht: „Eine neue Seelenlage der Menschheit, die mit der bürgerlichen und ihren Prinzipien: Freiheit, Gerechtigkeit, Bildung, Optimismus, Fortschrittsglaube, nichts mehr zu schaffen haben sollte, wurde proklamiert und drückte sich künstlerisch im expressionistischen Seelenschrei, philosophisch als Abkehr vom Vernunftsglauben, von der zugleich mechanistischen und ideologischen Weltanschauung abgelaufener Jahrzehnte aus, als ein irrationalistischer, den Lebensbegriff in den Mittelpunkt des Denkens stellender Rückschlag, der die allein lebensspendenden Kräfte des

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Unbewussten, Dynamischen, Dunkelschöpferischen auf den Schild hob, den Geist, unter dem man schlechthin das Intellektuelle verstand, als lebensmörderisch verpönte und gegen ihn das Seelendunkel, das Mütterlich-Chthonische, die heilig gebärerische Unterwelt, als Lebenswahrheit feierte“ (Mann 1994, S. 266).

In der Anwendung auf die politische Gegenwart macht er „eine gewisse Philologen-Ideologie, Germanisten-Romantik und Nordgläubigkeit aus ­akademisch-professoraler Sphäre“ als unterstützende Faktoren für den Wahlerfolg der NSDAP aus: „Gespeist aus solchen geistigen und pseudogeistigen Zuströmen, vermischt sich die Bewegung, die man aktuell unter dem Namen des Nationalsozialismus zusammenfaßt und die eine so gewaltige Werbekraft besitzt, vermischt sich, sage ich, diese Bewegung mit der Riesenwelle exzentrischer Barbarei und primitiv massendemokratischer Jahrmarktsromantik, die über die Welt geht […]“ (Mann 1994, S. 267). Die Zeitdiagnose mündet in eine Kritik der Massen- und Mediengesellschaft, geprägt von der Jagd nach Sensationen und Rekorden und in der alles möglich sei. Der Rausch sei das Signum der Zeit: „Der exzentrischen Seelenlage einer der Idee entlaufenen Menschheit entspricht eine Politik im Groteskstil mit Heilsarmee-Allüren, Massenkrampf, Budengeläut, Halleluja und derwischmäßigem Wiederholen monotoner Schlagworte, bis alles Schaum vor dem Mund hat. Fanatismus wird Heilsprinzip, Begeisterung epileptische Ekstase, Politik wird Massenopiat des Dritten Reiches oder einer proletarischen Eschatologie, und die Vernunft verhüllt ihr Antlitz.“ (Mann 1994, S. 268 f.). Für Thomas Mann stellt sich die rhetorische Frage nach der Verankerung dieses Politikstils und -inhalts im „Deutschtum“: „Ist das deutsch? Ist der Fanatismus, die Glieder werfende Unbesonnenheit, die orgiastische Verleugnung von Vernunft, Menschenwürde, geistiger Haltung in irgendeiner tieferen Seelenschicht des Deutschtums wirklich zu Hause?“ (Mann 1994, S. 269). Thomas Manns Rede mündet ein in die Folgerung, „daß der politische Platz des deutschen Bürgertums heute an der Seite der Sozialdemokratie ist“, denn diese – „Marxismus hin, Marxismus her“ – stehe für eine „Atmosphäre im Inneren, in der bürgerliche Glücksansprüche wie Freiheit, Geistigkeit, Kultur überhaupt noch Lebensmöglichkeit besitzen“ (Mann 1994, S. 278). Pathetisch schließt Thomas Mann seine Rede mit dem Bezug auf Deutschland: „Der Name voll Sorge und Liebe, der uns bindet, der nach Jahren einer halben Entspannung uns heute wieder wie 1914 und 1918 im Tiefsten ergreift, uns Herz und Zunge löst, ist für uns alle nur einer: Deutschland“ (Mann 1994, S. 278 f.).

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Die Rede, die von SA-Tumulten begleitet war, und diese Umstände hatten ein enormes Echo in den Medien (vgl. den Kommentar in Mann 1994, S. 456). Aus diesem lassen sich Rückschlüsse auf die Erfolgsaussichten des Appells ziehen (zum Folgenden: Goll 2000, S. 227 ff.): In der sozialdemokratischen Presse war die Aufnahme rundum positiv. Man sah Thomas Mann „allenthalben als mutigen Anwalt der Vernunft, als unbestechlichen Fürsprecher der Wahrheit, Gerechtigkeit und Menschenliebe, als Kämpfer für wahre Freiheit und wahre Kultur: wider die undeutsche Unvernunft, Unwahrheit, Ungerechtigkeit und Unkultur der Rosenberg und Hitler“ (Das freie Wort (Berlin), Jg. 3, H. 27, 1931). Die demokratisch-liberale Presse nannte den Schriftsteller einen „grossen und makellosen Repräsentanten des deutschen Bürgertums“ und bewertete die Rede als „eine notwendige und von tiefen Erkenntnissen genährte und getragene Kritik“ (Berliner Tageblatt, 18.10.1930). Thomas Mann stehe „in der ersten Reihe der heutigen deutschen Schriftsteller“ (Frankfurter Zeitung, 19.10.1930). Das Publikum habe „mit immer sich erneuernden Ovationen“ für „ungewohnte Geistigkeit“ der Rede gedankt (Vossische Zeitung, 19.10.1930). Ganz anders die rechtsliberale und agrarisch-großindustrielle Presse. Die Rede sei „von einer wahrhaft erschütternden Mediokrität“ und der Autor „Ein verlorener Mann bei einer verlorenen Sache“ (Deutsche Allgemeine Zeitung (Berlin), 18.10.1930). Man habe „eine große Verehrung für Thomas Mann“ gehabt, aber der „Thomas Mann der Gegenwart gibt uns nicht mehr, als […] unmaßgebliche[n] Ansichten“ (Deutsche Allgemeine Zeitung (Berlin), 04.11.1930). Sein Politisieren sei „nicht uninteressant, aber was Zuverlässigkeit, Wahrheit und Treue angeht, so sind seine Gedanken nicht der Rede wert“ (Rheinisch-Westfälischen Zeitung, 02.12.1930). Seine Rede sei „kindliches Lallen“ und „gemeingefährliche[r] Schwachsinn“ (Berliner Lokal-Anzeiger, 26.10.1930). Thomas Mann könne „aus seiner Stellung, Haltung, Geistigkeit, Morbidheit und völlig volks- und erdfremden Gebundenheit an diese weltstädtische Intellektualität diese tiefen, dunklen, religiösen und deshalb ­heldisch-unbürgerlichen Ströme nicht verstehen“. Daher sei „[d]er Fall Mann […] ein trauriger Fall. Ein blamabler Fall. Ein erledigter Fall“ (Deutsche Tageszeitung (Berlin), 18.10.1930). In der NSDAP-Presse zog man das antisemitische Register: „Man stellte fest:,Je länger der Beifall, desto länger die Nase des Beifallspenders‘. […] Eine zahlkräftige jüdische Hörerschaft ging beruhigt nach Hause: Wieder fand sich ein,Deutscher Bürger‘ der ihre Interessen wahrnahm. Die guten Deutschen aber, die zufällig in den Vortrag hineingeraten waren, pfiffen Thomas weidlich aus!“ (Der Angriff (Berlin), 23.10.1930).

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Die Rezeption zeigt die ganze Bandbreite möglicher Reaktionen und das Grundproblem solcher Ansprachen. Sie finden vor einem Publikum statt, das in der Regel mit der Grundhaltung des Redners, wenn auch nicht mit jedem Argument, übereinstimmt. Die Adressierten sind zumeist nicht anwesend und wenn doch, dann entsprechend überzeugt und für die Argumente des Redners nicht aufgeschlossen. Zudem ist fraglich, ob Personen, denen „Bildungsbarbarei“ und „Jahrmarktsromantik“ (Mann 1994, S. 267) vorgeworfen wird, dadurch offener für rationale Argumente werden. Die politische Kommunikationsforschung nennt solche Konstellationen Dialogblockaden (Klein 1996, S. 6). Die politische Kultur der Weimarer Republik ist von solchen Dialogblockaden gekennzeichnet. Am deutlichsten hat der Staatsrechtler Carl Schmitt in seiner Schrift „Begriff des Politischen“ deren Grundlage und Konsequenz beschrieben, indem er als „spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, […] die Unterscheidung von Freund und Feind“ (Schmitt 2015, S. 25) bestimmt und daraus den „Krieg als das extremste politische Mittel“ ableitet, das „die jeder politischen Vorstellung zugrunde liegende Möglichkeit dieser Unterscheidung von Freund und Feind [offenbart]“ (Schmitt 2015, S. 34). Der für politische Einheiten, nicht für Privatpersonen geltende Freud-Feind-Gegensatz führt innenpolitisch in einen Bürgerkrieg, wenn die staatliche Einheit durch parteipolitische Gegensätze aufgehoben wird, wenn also „innerhalb eines Staates die parteipolitischen Gegensätze restlos ‚die‘ politischen Gegensätze geworden sind“ (Schmitt 2015, S. 31). Grundsätzlich kann dabei in den Augen von Carl Schmitt „[j]eder religiöse, moralische, ökonomische, ethnische oder andere Gegensatz“ zu einem politischen werden, „wenn er stark genug ist, die Menschen nach Freund und Feind effektiv zu gruppieren“ (Schmitt 2015, S. 55).

4 Folgerungen Welche Schlüsse lassen sich aus diesem Fall für die Gegenwart und insbesondere für die politische Bildung ziehen? Zunächst einmal sollte evident sein, dass einer pluralistischen und freiheitlichen Demokratie ein Politik-Konzept im Sinne des Freund-Feind-Begriffs von Carl Schmitt nicht angemessen ist. Aber schon ein Blick auf den Global Peace Index 2019 zeigt, dass die Welt nicht friedfertiger wird, sondern Gewalt immer noch ein wesentlicher Faktor der Politik ist (Vgl. IEP 2019). Carl Schmitts Fokus auf die immer bestehende „reale Möglichkeit der Freund-Feindgruppierung“ (Schmitt 2015, S. 34) ist zwar einerseits analytisch wertneutral, sein Politik-Konzept trägt in sich aber die Versuchung, es entgegen

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seiner erklärten Ansicht (ebd., S. 31 f.) im Sinne einer Unausweichlichkeit der Zuspitzung auszulegen. Daher unternimmt Chantal Mouffe den Versuch, Carl Schmitts „Begriff des Politischen“ einzuhegen, indem sie ihn in das Konzept einer „agonistischen“ statt „antagonistischen“ Politik einfließen lässt: „Die zentrale Frage lautet […], wie die für jedwede Politik konstitutive Unterscheidung zwischen ‚uns‘ und ‚denen‘ so gestaltet werden kann, dass sie mit der Anerkennung des Pluralismus vereinbar ist. […] Liberale demokratische Politik setzt voraus, die ‚Anderen‘ nicht als Feinde wahrzunehmen, die es zu vernichten gilt, sondern als Kontrahenten, deren Ideen es zwar – mit aller Schärfe – zu bekämpfen gilt, deren Recht, für diese Ideen einzutreten aber nicht infrage gestellt werden darf. Anders ausgedrückt: Wichtig ist, dass Konflikte nicht die Form eines ‚Antagonismus‘ annehmen (eines Kampfes zwischen Feinden), sondern die eines ‚Agonismus‘ (einer Auseinandersetzung zwischen Kontrahenten)“ (Mouffe 2015, S. 28).

Dies ist in der Konsequenz eine Conditio sine qua non für eine freiheitliche Demokratie. Zumal Carl Schmitts begriffliche Zuspitzung auf den ­Freund-Feind-Gegensatz bei ihm des Weiteren dazu führt, dass politische Praxen des Aushandelns und Ausgleichens, des Kompromisse Findens und Politikfolgen Abfederns mit einem negativ konnotierten Vokabular erörtert werden. Die Rede ist vom „Parasitären und Karikaturhaften“, von „Intrigen“ und „sonderbarsten Geschäfte[n]“, von „kümmerlichen Formen und Horizonten der parteipolitischen Stellenbesetzung und Pfründen-Politik“ (Schmitt 1932/2015, S. 29 f.). Diese Charakterisierung ist Wasser auf die Mühlen antidemokratischen Denkens. Gerade deshalb darf aber für die politische Bildung keineswegs gefolgert werden, Carl Schmitts „Begriff des Politischen“ zu ignorieren. Erstens ist sein Buch ein „Klassiker der Kultur- und Sozialwissenschaften“ (vgl. Hufer 2012, S. 89 ff.) und zweitens kann mit seiner Hilfe die Brisanz der aktuellen nationalpopulistischen Ideenwelt und Strategien (vgl. dazu: Hirschmann 2017, S. 212) besonders deutlich herausgearbeitet werden: Der Nationalpopulismus ist gekennzeichnet durch einen „konsequenten Dualismus“, der die Welt in „Gut“ und „Böse“, d. h. in Freund und Feind, einteilt und dies mithilfe kommunikativer Strategien zum Ausdruck bringt. Diese Strategien (vgl. zum Folgenden: Hirschmann 2017, S. 147 ff.) umfassen u. a.: die Stilisierung zur einzigen authentischen Stimme des Volks und Stigmatisierung politischer Gegner als „Volksfeinde“, Tabubrüche und Einsatz „alternativer Fakten“, „Anti-Establishment-Rhetorik“, insbesondere Kritik an den „Kartellparteien“. Die politische Bildung muss solche Mechanismen und Strategien offenlegen. Dies gilt umso mehr, weil dieses Denken in Freund-Feind-Kategorien auch wegen seiner Emotionalität enorm wirkmächtig ist – eine Emotionalität, die

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Chantal Mouffe bei ihrem Vorschlag zu wenig berücksichtigt. Man darf den Hassrednern niemals das Feld überlassen, weil deren Weltsicht dann die bestimmende wird. Diese Erkenntnis ist auch auf der Basis historischer Fallstudien möglich. Thomas Manns „Appell an die Vernunft“ ist der Versuch eines „Unmächtigen“, also einer Person, die nicht über „die klassischen Instrumente staatlicher Gewaltausübung“ verfügt, Einfluss auf die öffentliche Meinung zu nehmen und so das politische Bewusstsein zu beeinflussen (vgl. Rüther 2016, S. 14 f.). Dass Thomas Mann angesichts der tief segmentierten politischen Kultur der Weimarer Republik mit Blick auf 1933 gescheitert ist, macht diesen Versuch historisch und als Fallstudie für die politische Bildung nicht weniger wertvoll. An ihm lässt sich erstens zeigen, welche Konsequenzen es hat, wenn es keinen gesellschaftlichen Zusammenhalt gibt oder dieser verloren zu gehen droht, und zweitens gibt Thomas Manns Rede Anlass, darüber zu reflektieren, wie und wo man am besten auf Scharfmacher, ihre Tabubrüche und alternativen Fakten reagiert. Denn 1930 hatten die antidemokratischen Parteien auch nach der Wahl noch keine Blockademehrheit im Reichstag. Diese brachten erst die fehlgeleitetem politischem Kalkül geschuldeten vorgezogenen Reichstagswahlen vom 31.07.1932 mit 37,3 % Stimmenanteil für die NSDAP und 14,3 % für die KPD (vgl. Kolb 1988, S. 259). Thomas Manns Einsatz für ein Bündnis von Bürgertum und SPD, wozu die SPD in Gestalt der Duldung der Regierung Brüning ihren Beitrag leistete, ist damit deutbar als ein Akt politischer Mündigkeit, zu der neben politischem Wissen auch politisches Verantwortungsbewusstsein und Engagement gehören (Detjen 2013, S. 214 f.). Der Schriftsteller erweist sich als interventionsfähiger Bürger, also als Bürger, der fähig ist, „situationsbezogen aktiv in die Politik einzugreifen“ (ebd., S. 223). Er zeigt damit politische Urteilfähigkeit im Sinne einer „erweiterten Denkungsart“ (Hannah Arendt), denn „[d]ie politische Urteilskraft bewirkt nicht nur die Überwindung einer engen Parteilichkeit, sondern ist auch Ausdruck von Gemeinsinn und der Berücksichtigung gesellschaftlicher Repräsentativität“ (Detjen et al. 2012, S. 41). Thomas Manns „Deutsche Ansprache“ kann damit Gegenstand einer politischen Bildung sein, die durch Aufklärung über die Gefährdungen der Freiheit einen Beitrag zur Arbeit an einer Gesellschaft leistet, in der eine andere politische Positionierungen nicht in einem Freund-Feind-Zusammenhang gedeutet und der Gegensatz dadurch ins Existentielle gesteigert wird. Diese Gesellschaft braucht ein Bewusstsein dafür, wann eine Intervention notwendig wird. Hierfür kann Thomas Mann beispielgebend sein, der zwar nicht für die Politik geboren war, sich den „Forderungen des Tages“ aber dennoch nicht verweigerte. Das aber war und ist ein Akt der ­Vernunft.

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5 Fazit Noch ist Berlin weit davon entfernt, Weimar zu werden. Dennoch sind Entwicklungen im Gang, die auf Weimarer Verhältnisse zusteuern oder sie sogar ins Kalkül ziehen. Politische Auseinandersetzungen werden insbesondere, aber nicht nur in den sozialen Medien bewusst im antagonistischen Stil geführt. Würde sich dieser Politikstil und das damit verbundene Politikkonzept des Freund-Feind-Gegensatzes durchsetzen, würde das den gesellschaftlichen ­ Zusammenhalt grundlegend gefährden und damit den gesellschaftlichen Frieden. Eine freiheitliche und pluralistische Demokratie setzt aber auf diesem Frieden auf. Diesen und seine Voraussetzungen zu erhalten, muss Aufgabe politischer Bildung als Bildung für Demokratie sein.

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Sprachbildung im Fach Politische Bildung – Ein unbespieltes Feld? Julia Neuhof und Luisa Girnus

Zusammenfassung

Der Diskurs über Sprachbildung beziehungsweise sprachsensiblen Fachunterricht im Bereich der Politischen Bildung ist bislang noch verhalten. Beiträge zu diesem Thema orientieren sich zumeist an der praktischen Umsetzung herangetragener bildungspolitischer Forderungen und übernehmen in der Regel Konzepte für den Fachunterricht im Allgemeinen mit dem Versuch diese für die Politische Bildung zu adaptieren. Eine Theorieentwicklung aus politikdidaktischer Perspektive findet derzeit kaum statt. Der vorliegende Beitrag stellt den bisherigen Diskurs mit Blick auf die Politikdidaktik vor, um im Anschluss Impulse für eine Konzeptionalisierung sprachsensiblen Unterrichts aus Perspektive der Politischen Bildung zu geben.

J. Neuhof (*)  Universität Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] L. Girnus  Universität Potsdam, Potsdam, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Juchler (Hrsg.), Politik und Sprache, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30305-1_9

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1 Einleitung Mit der zunehmenden Komplexität und Diversität der Gesellschaft steigen auch die Anforderungen und Wünsche, die an die schulische Politische Bildung herangetragen werden. In mehreren Bundesländern werden in diesem Kontext neben dem übergeordneten Ziel der Demokratiebildung Sprach- und Medienbildung als fächerübergreifende Ziele in den Rahmenlehrplänen formuliert (z. B. Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg 2015; Die Senatorin für Bildung und Wissenschaft Hansestadt Bremen 2013). So spielt Sprache gerade im politischen Kontext eine bedeutsame Rolle: Politische Inhalte werden über Sprache vermittelt, politische Auseinandersetzungen bauen auf Sprache auf, politischer Sinn wird über Sprache verhandelt etc. Konträr zu der bildungspolitischen Bedeutsamkeit finden sich in der Fachdidaktik insbesondere mit Blick auf die Sprachbildung nur wenige konzeptionelle oder empirische Arbeiten. Der Aufsatz diskutiert aus diesem Anlass vorliegende politikdidaktisch ausgerichtete theoretische Bausteine der Sprachbildung (vgl. Oleschko 2012; Achour und Sieberkrob 2015; Luft et al. 2015) und eruiert, welche Bedarfe einer politikdidaktischen Forschung und Theoriebildung in diesem Feld vorliegen. Eine besondere Herausforderung scheint in der Frage zu bestehen, wie sich das Erlernen und Ausbilden sprachlicher Fähigkeiten gerade in einem auf Kommunikation angewiesenen Fach integrieren lassen, ohne lebensweltliche Deutungen und Vorstellungen durch fachlich richtige Begriffsbezeichnungen und -verwendungen zu überschreiben sowie der Diskursivität der Gegenstände gerecht zu werden. Der Beitrag setzt an fachdidaktisch offenen Fragen des Forschungs- und Lehr-Lernbereichs Sprachbildung an und schlägt einen Ansatz reflexiver Politikdidaktik zur Diskussion vor. In diesem wird Reflexivität als zentrales Prinzip Politischer Bildung ausgewiesen, über das Unterrichtsgegenstände und Kommunikationen in Beziehung zueinander gesetzt werden (in Anlehnung an u. a. Bonnet und Breidbach 2013; Ziemen 2018).

2 Grundgedanken des sprachsensiblen Fachunterrichts 2.1 Sprachsensibler Unterricht als fächerübergreifende Aufgabe Die Beobachtung, dass der Sprache beziehungsweise der Entwicklung der sprachlichen Fertigkeiten im Unterricht generell vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte, hat in den vergangenen Jahren zu einer Vielzahl an

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Handreichungen und Materialien für Lehrpersonal sowie zu der curricularen Verankerung von Sprachbildung als fächerübergreifende Aufgabe geführt. Konzeptionelle Überlegungen dazu stammen vor allem aus der Fremdsprachendidaktik (z. B. Jostes et al. 2017) beziehungsweise dem Bereich Deutsch als Zweitsprache. Zudem steht seitens der Physikdidaktik namentlich Josef Leisen (http://www.sprachsensiblerfachunterricht.de) für ein Konzept sprachsensiblen Unterrichts. Fächerspezifische Überlegungen zum sprachsensiblen Fachunterricht in weiteren Fächern scheinen nun erst sukzessive zu folgen. Vielleicht auch, weil sich die Forderung, Fachunterricht sprachsensibel zu gestalten, vor allem an die Unterrichtspraxis richtet und teilweise bereits zur curricularen Vorgabe geworden ist, sind vorliegende politikdidaktische Arbeiten zu sprachsensiblem Politikunterricht vornehmlich an Umsetzungsmöglichkeiten in der Praxis orientiert. Eine eigenständige Theorieentwicklung im politikdidaktischen Bereich zu sprachsensiblem Unterricht steht noch aus (vgl. Achour und Sieberkrob 2015). Wobei sogar noch einen Schritt zurückgegangen werden könnte, und sich – jenseits des Bestrebens dieses Beitrages – fragen ließe, ob ein eigenständiger Diskurs innerhalb der Politikdidaktik überhaupt zu führen ist. So steht auch die Möglichkeit beziehungsweise der Zugzwang im Raum, bereits bestehende Konzepte anderer Fächer schlicht analog in die Politische Bildung zu übertragen und zwar ohne einen eigenständigen Theoriediskurs zu führen. (Auch) Insgesamt scheinen die konzeptionellen Überlegungen verstärkt an der Anwendungsebene orientiert zu sein. Die grundlegende These ist die, dass innerhalb einer Gesellschaft verschiedene „Sprachen“ bestehen. Dabei wird in der Regel auf die Unterteilung von Cummins (2000) zurückgegriffen und im ersten Schritt zwischen Alltagssprache (Basic Interpersonal Communicativ Skills) versus Bildungssprache (Cognitiv Academic Language Profiency) unterschieden. Zwischen diesen beiden besteht – was leicht zu antizipieren ist – eine Hierarchie. „Bildungssprache ist jene Sprache, die sowohl die sozialen und kulturellen Praktiken der Sprachverwendung als auch die Formen der Vermittlung und des Erwerbs von Wissen in einer Gesellschaft bestimmt.“ (Schmölzer-Eibinger 2013, S. 25) Die Fähigkeit zur Bildungssprache ist damit das Zielniveau: Wer sie beherrscht, hat die Möglichkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe (Hallet 2013, S. 61) und auch der „Bildungserfolg ist somit abhängig von der Kenntnis der in einer gesellschaftlichen Domäne vorherrschenden Praktiken und Normen des Sprachgebrauchs“ (Schmölzer-Eibinger 2013, S. 25). Hier wird deutlich, dass Bildungssprache sich im zweiten Schritt weiter in Domänen- beziehungsweise Fachsprache untergliedern lässt. Demnach hat jedes Fach bestimmte sprachliche Spezifika, die zu erlernen sind, um die „kommunikativen Aufgaben in einem bestimmten Fach“ zu bewältigen (Ohm

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2010, S. 75). Um nun die Fachsprache des Politikunterrichts zu erlernen, „müssen Unterricht und Aufgaben so gestaltet sein, dass sie fachliches und sprachliches Lernen ermöglichen“ (Oleschko 2012, S. 50). Nicht gänzlich klar wird, ob sprachsensibler Unterricht eine Sprachbildung im additiven oder integrativen Sinne umfasst. So schreiben Sieberkrob und Chmiel (2017, S. 24): „Ausgangspunkt der Überlegungen ist, dass bei der Umsetzung von Sprachbildung im Politikunterricht vor allem das fachliche, d. h. das politik- und gesellschaftswissenschaftliche Lernen profitieren muss.“ Gleichzeitig werden als Zielgruppe sprachsensiblen Politikunterrichts Lernende mit anderem sprachlichen Hintergrund als auch sprachschwache Lernende benannt. Die Benennung von Zielgruppen mit besonderem Förderbedarf lässt eine additive Funktion als angefacht erscheinen. Nimmt man jedoch die Unterteilung in verschiedene Fachsprachen ernst, ist davon auszugehen, dass das Erlernen der Fachsprache ein integratives Element sein sollte, durch das alle Lernenden adressiert werden.

2.2 Maßnahmen und Methoden im sprachsensiblen Politikunterricht Für den sprachsensiblen Fachunterricht werden zwei Maßnahmen beziehungsweise Methoden mit Blick auf Unterricht im Bereich Politischer Bildung angeführt. Zum einen wird auf die Textsortenarbeit verwiesen und zum anderen auf das Scaffolding (vgl. Achour und Sieberkrob 2015; Luft et al. 2015). Die beiden Maßnahmen können als komplementär verstanden werden. Textsortenarbeit Fachsprache ist im Gegensatz zur Alltagssprache nach Koch und Oesterreicher (2011) konzeptionell schriftlich. Hinzu kommt, dass sich in Fächern der Politischen Bildung Informations- und Lernmaterial überwiegend auch medial schriftlich darstellt. Im Sinne der Forderung nach sprachsensiblem Fachunterricht verbirgt sich in den verschiedenen für das Fach relevanten Textsorten die zu erlernende sprachlich getragene fachliche Spezifik: „Die Lerner müssen an die Charakteristika der Fachsprache herangeführt und mit den unterschiedlichen Textsorten vertraut gemacht werden. Nur so kann fachliches Lernen gelingen.“ (Luft et al. 2015, S. 12 f.) Für den Fachunterricht im Bereich der Politischen Bildung können dies Fachtexte, Nachrichten, Berichte, Reportagen, Interviews, Reden, Wahlprogramme etc. sein (Oleschko 2012, S. 50). Hilfestellungen bei der

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Rezeption und Produktion verschiedener Textsorten können Strukturierungshilfen im Erarbeiten der Texte wie auch die Arbeit mit fachlich relevanten oder spezifischen Ausdrucksweisen sein (Sieberkrob und Chmiel 2017, S. 26). Scaffolding Des Weiteren wird das Scaffolding nach Gibbons (2002) vorgeschlagen, „[u] m den Lernenden die Aufnahme von Informationen sowie das Sprechen oder Schreiben über Fachinhalte zu erleichtern und diese langfristig darin zu schulen“ (Böing et al. 2017S. 74). Scaffolding soll den Lernenden eine sprachliche Unterstützung in dem Maße bieten, bis sie das notwendige sprachliche Kompetenzniveau erreichen (Sieberkrob und Chmiel 2017, S. 26). Das Konzept des Scaffolding umfasst vier Elemente, wobei die ersten drei als Makro-Scaffolding und das vierte als Mikro-Scaffolding bezeichnet werden (Kniffka 2010, S. 2). Das Makro-Scaffolding umfasst zunächst eine Bedarfsanalyse, in der die sprachlichen Anforderungen an die Lernenden innerhalb des Fachinhalts geklärt werden. Zweitens folgt eine Lernstandserfassung, um die bestehenden sprachlichen Voraussetzungen in der Lerngruppe zu dokumentieren. Als drittes folgt eine entsprechende Unterrichtsplanung, die fachliche und sprachliche Anforderungen verknüpft. (Vgl. Luft et al. 2015, S. 22 ff.) Das Mikro-Scaffolding zielt als viertes Element auf eine sprachsensibel geleitete Unterrichtsinteraktion ab (Kniffka 2010, S. 3 f.).

3 Wo liegen Bedarfe in der Auseinandersetzung mit sprachsensibler Politischer Bildung? Das Thema Sprachbildung/sprachsensibler Fachunterricht wird bislang in der Politiktidaktik nicht im breiteren Rahmen diskutiert. Erste Arbeiten zum sprachsensiblen Politikunterricht adressieren so auch häufig mehrere und grundsätzliche Fragestellungen (vgl. z. B. Luft et al. 2015; Achour und Sieberkrob 2012), ohne sie umfassend beantworten zu können: Wie kann sprachsensibler Fachunterricht aus der Perspektive Politischer Bildung konzeptualisiert werden? Wo liegen Herausforderungen für mehrsprachige und sprachschwache Schüler:innen? Wo liegen Potenziale sprachsensiblen Politikunterrichts? Welchen Einfluss hat Sprachfähigkeit auf das politische Lernen? Welche sprachlichen Kompetenzen müssen aufgebaut werden, um sprachliches und fachliches Lernen zu verbessern? Was kennzeichnet die Fachsprache im Politikunterricht?

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Gleichzeitig verbleiben die bisherigen Betrachtungen letztlich auf der Ebene des Sprachgebrauchs und bei dem Versuch, in anderen Kontexten gewonnene Erkenntnisse auf Unterricht der Politischen Bildung zu übertragen. Eine eigenständige Betrachtung der theoretischen Grundlagen findet nur vereinzelt ­ statt (vgl. Luft et al. 2015). Auch eine Rückbindung an den politikdidaktischen Diskurs und dessen verschiedene politikdidaktischen Konzeptionen steht bislang noch aus. Zudem werden die Politisierung von Sprache und eine Reflexion von Sprachlichkeit nur wenig konkret im Kontext sprachsensiblen Unterrichts im Bereich der Politischen Bildung in den Blick genommen. Gerade dieser Bereich wird von politikdidaktischer Seite jedoch eher bearbeitet (vgl. z. B. Droll und Partetzke in diesem Band). Ist es nun Ziel sprachsensiblen Fachunterrichts aus der Perspektive Politischer Bildung zu denken, so die Argumentation hier, muss das Thema weitläufiger in den politikdidaktischen Diskurs getragen werden. Die folgenden Überlegungen sollen hierzu einen Beitrag leisten.

4 Sprachsensibler Fachunterricht aus Perspektive Politischer Bildung 4.1 Sprache als Kommunikations-, Erkenntnis- und Sozialisationsmedium Zusammenfassend findet Sprachbildung als eher unspezifische Grundlage von Fachunterricht statt. Entgegen einer statisch-gegenständlichen Verstehensweise, die den Aufbau einer allgemeinen Sprachfähigkeit fokussiert im Sinne einer Fähigkeit, mit systematischer, dekontextualisierter Sprache umzugehen, wird im vorliegenden Beitrag ein diskursiv-dynamisches Verständnis von Sprachbildung grundgelegt. Dieses zeichnet sich durch die Annahme aus, dass Sprache Kommunikations-, Erkenntnis- und Sozialisationsmedium ist. Da die meisten Kognitionen sprachlich transportiert werden (Böing et al. 2017, S. 73), „ist fachliches Lernen über weite Strecken immer auch sprachliches Lernen […]. Daraus folgt, dass sprachliches Lernen in einem themenzentrierten Unterricht […] nicht abgekoppelt von den kognitiven Strukturen und Prozessen des jeweiligen Inhalts erfolgen kann.“ (Zydatiß 2002, S. 37) Didaktische Konsequenz sollte es dementsprechend sein, dass fachliche und sprachliche Bildung „Hand-in-Hand“ gehen. Konkret müssten sprachlich-kommunikative und h­istorisch-gesellschaftliche Aspekte gleichermaßen relevant für einen sprachsensiblen Fachunterricht sein.

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Formuliert werden solche Aspekte unter anderem innerhalb von LiteracyModellen, die Sprachhandlungen als kognitive Prozesse interpretieren. Im Political-Literacy-Ansatz, wie ihn Juchler (2010, S. 193) darlegt, oder Interkulturalitätskonzepten von Breidbach (2004und 2007) und Bonnet (2000 und 2004) wird Sprachhandeln darüber hinaus als Kulturtechnik verstanden, die eine Teilhabe an der (politischen) diskursiven Öffentlichkeit gestattet. Voraussetzung hierfür ist neben politischem Wissen die Fähigkeit, politische Begriffe instrumental je nach Kontext zu gebrauchen und so „Bedeutungsmomente politischer Begriffe im Prozess der politischen Öffentlichkeit adäquat zu nutzen“ (Juchler 2010, S. 195). Dass ein solches Sprachverständnis nicht nur normativ wünschenswert und theoretisch nachvollziehbar ist, sondern auch empirisch sinnstiftend, zeigen Studien zu bilingualem Sachfachunterricht beziehungsweise Interkulturellem Lernen. In einzelnen Studien wird die kognitiv-fachliche Kompetenzentwicklung unter Berücksichtigung der Erkenntnis, dass Wissen sprachlich vermittelt ist, untersucht. Bonnet resümiert: Lernerfolg von Lernenden ist weniger auf die nicht voll entwickelte Sprachkompetenz zurückzuführen als auf die erfolgreiche kooperative Bedeutungsaushandlung und die erfolgreiche Teilnahme am Diskurs (Bonnet 2004). Ein diskursiv-dynamisches Verständnis von Sprachbildung integriert die kommunikativen und kognitiven Funktionen von Sprache. Kennzeichnend für diese Position in der aktuellen fachdidaktischen Auseinandersetzung mit Sprachbildung, die kommunikative und kognitive Aspekte integriert, ist eine diskursive Beschreibung: Bedeutungskonstruktionen erfolgen über Sprache im Dialog oder Diskurs. Der vorliegende Beitrag folgt einem solchen diskursiven Sprachbildungsbegriff. Bedeutungsaushandlungen sind allerdings vom jeweiligen Feld abhängig, in dem sie sich entwickeln und gebraucht werden. Da sich die Lebenswelt der Lernenden grundlegend von dem Feld der Politik und der Wissenschaft unterscheidet, ist zunächst von einer grundlegenden Distanz und Differenz in Bildungssettings auszugehen.

4.2 Differenzerfahrungen Bedeutungsaushandlungen erfolgen im Alltag anders als im Feld der Wissenschaft oder im Feld der Politik. Versteht man Alltag und Wissenschaft als unterschiedliche Kulturen im Sinne von semantischen Netzwerken, in denen durch „kommunikative Prozesse […] konventionalisierte Bedeutungsmuster“ (Bonnet 2000, S. 155) hervorgebracht werden, dann ist von einer grundsätzlichen Distanz

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zwischen den lebensweltlichen Sichtweisen und Erfahrungen von Lernenden sowie der spezifischen Sichtweise wissenschaftlicher Disziplinen auszugehen, weil eine Zugehörigkeit „in dem Maße gegeben ist, wie Bedeutungsmuster zugänglich sind“ (Breidbach 2007, S. 151). Während der Alltag sich durch eine natürliche Einstellung und eine vorwissenschaftliche Erfahrungsnähe auszeichnet (Schütz und Luckmann 2017, S. 33), sind Ordnungs- beziehungsweise Verstehenssysteme wie wissenschaftliche Fachdisziplinen oder das politische Feld durch spezifische sprachliche Operationen (1) und eine spezifische Gegenstandskonstituierung (2) gekennzeichnet. In Bildungssituationen sind Lernende und ihre muttersprachlich verankerten Alltagserfahrungen konfrontiert sowohl mit schulsprachlich eingeübten Praktiken und deren Regeln, was gesagt werden kann und was unsagbar bleibt, hinzu kommen Fachbegriffe und der disziplinäre Diskurs (Tödter 2020). Schüler:innen begegnen im Unterricht der Sicht- und Vorgehensweise der fachlichen Bezugswissenschaften. Konzeptuelle Strukturen in Domänen gründen dabei nicht direkt auf Erfahrungen, sondern zeichnen sich durch deren Überschreitung aus. Typische sprachliche Operationen in der Domäne der Sozialwissenschaften sind u. a. Normierungen von Bedeutungen durch Verengung oder Dekontextualisierung sowie Imaginationen durch Übertragung über Metaphern, Metonymien und Analogien (Klee et al. 2014, S. 98). Im Politischen geht es immer auch um national-kulturelle, ebenso wie historisch, sozial, interessen- oder wertbedingte Differenzen (soziale Milieus, Sex/Gender, Alter, Religion, psychische/physische Gesundheit, Regionalität, Bildungshintergründe usw.), die zur Legitimation von Exklusion und Ungleichheitsverhältnissen herangezogen werden (Tödter 2020). Im politischen Unterricht, in dem es auch um die Frage danach geht, wie Gesellschaften zusammenleben können, ist von Differenzerfahrungen der Lernenden mit gesellschaftlichen Ansprüchen (Scherr 2005, S. 15) auszugehen. In didaktischer Vermittlungsabsicht ist also von einer Unvertrautheit der Lernenden mit wissenschaftlichen und politischen Ordnungs- beziehungsweise Verstehenssystemen auszugehen, deren Zugänge zur Wirklichkeit und Praxen eine Fremdheitserfahrung auslösen können (Breidbach 2007, S. 246). Politik beziehungsweise der politische Erfahrungsbereich und Wissenschaft beziehungsweise der fachlich-wissenschaftliche Erfahrungsbereich sind zwei Arten von kognitiven Differenz- oder Fremdheitserfahrungen (Bonnet 2004). Der vorliegende Beitrag plädiert vor dem Hintergrund der beschriebenen Differenzerfahrungen für eine Erweiterung des diskursiven Sprachgebrauchsverständnisses

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um eine reflexive Bewusstwerdung von Sprachlichkeit und Thematisierung von Fremdheitserfahrungen.

4.3 Bewusstwerdung von Sprachlichkeit Ausgehend davon, dass Sprachbildung unter der Voraussetzung von Differenzerfahrungen stattfindet, schlägt der vorliegende Beitrag einen k­ ritisch-konstruktiven Sprachbildungsansatz vor. Dieser will die Entwicklung guter Sprachkenntnisse oder -verwendung nicht überflüssig machen; Ziel ist es jedoch, nicht nur politische beziehungsweise politikwissenschaftliche Denk- und Erkenntnisweisen selbst ausüben zu können – gefördert werden soll die „[…] Fähigkeit, zu diesen in Distanz treten zu können“ (Breidbach 2007, S. 260). Die didaktische Perspektive kann als Bewusstwerdung von Sprachlichkeit zusammengefasst werden, die durch zwei Dimensionen gekennzeichnet ist, aus denen sich didaktische Inszenierungsprinzipien ableiten lassen. Die erste diskursive Dimension betrifft die Ebene der sprachlichen Operationen (a), die zweite reflexive Dimension die Ebene der Gegenstandskonstituierung (b). Auf der Ebene von sprachlichen Operationen: Sprachsensibilisierung kommt zustande „durch sich gegenseitig abgrenzende und zugleich erläuternde sprachliche Handlungen“ (Peukert 1988, S. 217). Lernende eignen sich Diskurs- und Handlungsmuster einer wissenschaftlichen Disziplin (Kultur) an, indem sie selbst kompetent mit wissenschaftlichen Konzepten, Methoden und Formalisierungen umgehen. Sprache ist in diesem Sinne ein Instrument, mit dem unterschiedliche Perspektiven verhandelt und ausgehandelt werden. Diese konzeptuale, praktische oder formale Dimension fachlicher Kompetenz wird entwickelt beispielsweise durch wissenschaftliche Konzepte und konzeptuelles Lernen, Konzeptwechsel oder Scaffolding. Es geht um die Hervorbringung von Bedeutung durch Interaktionen in Lehr-Lernsettings. Auf der Ebene der Gegenstandskonstituierung: Fremdheit beziehungsweise Differenzerfahrungen werden selbst zum Gegenstand gemacht und ein reflektiertes Welt- und Selbstverständnis der Lernenden zu den Gegenständen des Unterrichts entwickelt, indem Kontexte und Bedingungen wissenschaftlichen Wissens und politischer Praxis rekonstruiert werden. „Das im Lernprozess anzustrebende Verhältnis der Lernenden zu kulturellen oder wissenschaftlichen Gegenständen lässt sich folglich als ein reflexives Verhältnis zu sprachlicher Praxis verstehen.“ (Breidbach 2007, S. 163) Differenzerfahrungen werden

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in Begegnung mit fachlichen und politischen Weisen von Weltzugriffen ausgehandelt sowie Aspekthaftigkeit und Limitiertheit von Weltbildern reflektiert (Bonnet 2004, S. 87). Zusammenfassend lässt sich das im Lernprozess anzustrebende Verhältnis der Lernenden zu Gegenständen als ein diskursives und reflexives Verhältnis zu sprachlicher Praxis verstehen und es lassen sich vorsichtig erste Inszenierungsprinzipien einer sprachsensiblen Politischen Bildung auf der Ebene der Kommunikationsstruktur und der Gegenstandsstruktur explizieren: Ein reflexives Verhältnis des Lernenden zum Gegenstand ist zu fördern, indem dessen Konstruktcharakter thematisch wird (Gegenstandsstruktur) und Geltungsansprüche expliziert werden (Kommunikationsstruktur). Die Erfahrung von Fremdheit soll selbst zum Thema werden, die Fragen Was gilt als etabliert? Was gilt als normal? sind zu problematisieren und Bruchstellen so zu inszenieren, dass widerstreitende Geltungsansprüche sichtbar werden. Ebenso ist die Verwendung von Sprache reflexiv zu machen, also Sprache ist als solche auf ihre machtvollen Wirkungen, ihre Gewordenheit und Bedingtheit zu untersuchen und nicht als neutrales Medium zu verstehen (Gegenstandsstruktur). Verschiedene Diskurse (wie alltagsweltliche, muttersprachliche, didaktische, wissenschaftliche, schulsprachliche) treffen aufeinander, wodurch neue Bedeutungen emergieren (Kommunikationsstruktur) – diese sind zu thematisieren und wechselseitiger Kritik auszusetzen. Konkret ist beispielsweise im Sinne einer wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzung Sprache als ein notwendiges Mittel zur Erzeugung von Wissen und zur Formulierung und Verhandlung von Geltungsansprüchen innerhalb der Gemeinschaft einer Disziplin zu thematisieren und ihre eigenen historischen, sozialen, sprachlich-kommunikativen Prämissen zu reflektieren. Einbezogen werden dadurch politische, historische und/oder soziale Kontexte der Entstehung wissenschaftlichen Wissens. Insgesamt sind dies erste Annäherungen an eine Praxis sprachsensiblen politischen Unterrichts.

5 Entwicklungsaufgaben politikdidaktischer Theorie- und Praxisbildung Politisches Lernen und sprachliches Lernen in ein Verhältnis zu setzen, eröffnet ein neues politikdidaktisches Forschungsfeld. Denkt man nicht a priori von dem Ziel, im Unterricht der Politischen Bildung eine bereits bestehende Bildungssprache zu erlernen, lässt sich eine neue und fruchtbare Perspektive auf politisches Lernen finden. Neben der Ausbildung von Kommunikations-

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fähigkeiten im Rahmen einer kompetenzorientierten Politikdidaktik, die in instrumenteller Hinsicht die Teilhabe an politischer Kultur ermöglicht, wird in diesem Beitrag abschließend für eine bildungsgangorientierte Politikdidaktik plädiert, die in einem sprachsensibel organisierten Bildungsprozess Differenzerfahrungen in gesellschaftlich-politischen Räumen thematisiert und Fremd- und Selbstreflexionsfähigkeiten evoziert. Gerade der Blick auf aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen von Abgrenzung, polarisierenden Konflikten und Vertrauensverlust in die politische Ordnung bestärkt die politikdidaktische Perspektive auf eine sprachsensible Bildung, die eine Thematisierung von Differenz- und Fremdheitserfahrungen und Explikation von Welt- und Wirklichkeitssichten beziehungsweise -praktiken verlangt, wodurch erst ein kritisches und reflexives In-Beziehung-Setzen von „Lebenswelt und Wissenschaft“, „Sich und den Anderen“ oder „Individuum und Kollektiv“ ermöglicht wird. Gleichwohl noch vielerlei Aspekte einer differenzierteren Auseinandersetzung bedürfen, sollte, so die Position dieses Beitrags, der Möglichkeitsraum, den das Verhältnis von Sprachlichkeit und Politik für politisches Lernen erzeugt, genutzt werden. Einen ersten Schritt dorthin möchte dieser Beitrag leisten.

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Henrik Ibsens Volksfeind – Politisches Theater in postfaktischen Zeiten Ingo Juchler

Zusammenfassung

Henrik Ibsen behandelt in seinem Schauspiel Ein Volksfeind (1882) einen Umweltskandal, was das Stück zeitlos aktuell macht. Heutige Inszenierungen können umstandslos an die hier vorgestellten Umweltprobleme und den Umgang damit in der nach dem Mehrheitsprinzip verfahrenden Demokratie anknüpfen. In dem Beitrag wird zunächst der Begriffsgeschichte von „Volksfeind“ nachgegangen, vom Römischen Reich über die Französische Revolution, die totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts bis zur heutigen Bundesrepublik und den USA. Im Weiteren werden die im Stück thematisierten Verhältnisse von Mehrheit und Minderheit sowie Macht und Recht im politisch-gesellschaftlichen Gefüge vor dem Hintergrund demokratietheoretischer Überlegungen von Alexis die Tocqueville, John Stuart Mill und Emma Goldman untersucht. Schließlich werden die im Volksfeind aufgeworfenen Fragen nach der Möglichkeit von Bildung und politischer Mündigkeit vor dem Hintergrund heutiger postfaktischer Tendenzen, von Politik mit „alternativen Fakten“, Bullshit und Lügen diskutiert.

I. Juchler (*)  Universität Potsdam, Potsdam, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Juchler (Hrsg.), Politik und Sprache, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30305-1_10

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1 „Volksfeind“: Konjunkturen eines politischen Begriffs Henrik Ibsen war bereits ein renommierter Bühnenautor, als er im November 1882 in Kopenhagen sein Schauspiel Ein Volksfeind veröffentlichte. Doch war diesem Stück ein Skandal vorausgegangen – ein Jahr zuvor hatte sein Familiendrama Gespenster insbesondere in seiner Heimat Norwegen die Gemüter erhitzt. Und dies über die Parteigrenzen hinweg: „Ein Vulcan von Hass gegen den Dichter brach aus der heimischen Presse. Er wurde verleumdet, verketzert, gescholten, als hätte er Kunst und Vaterland verrathen.“ (Lothar 1902, S. 110) Ibsen, der mit seinen naturalistischen Dramen der Gesellschaft einen Spiegel vorhielt, galt plötzlich nicht wenigen Norwegern als Volksfeind: „Ibsen war seinen Landsleuten nie verhasster als nach dem Erscheinen der Gespenster. Sie schalten ihn einen Feind des Vaterlands, einen Feind des Volkes, einen Brunnenvergifter.“ (Schlenther 1901, S. XX) Angesichts dieser Stigmatisierung als „Feind des Volkes“ durch die norwegische Presse nach der Veröffentlichung eines missliebigen Theaterstücks kam es nicht von ungefähr, dass Ibsen sein nächstes Drama Ein Volksfeind titulierte und darin den Konflikt eines aufrechten Individuums und Einzelkämpfers mit der öffentlichen Meinung und damit der großen Majorität der Bevölkerung darstellte. Henrik Ibsens erstmalige Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex Volksfeind hatte bereits in jungen Jahren in der Zeit revolutionärer Umbrüche stattgefunden: Die Märzrevolution 1848 erschütterte die Ancien Régimes in ganz Europa. Zu dieser Zeit verfasste der knapp zwanzigjährige Ibsen ein Theaterstück, das sich mit Catilina und dessen Verschwörung im Jahr 63 v. u. Z. gegen die römische Republik beschäftigt. Der junge Autor war auf den Stoff während seiner Vorbereitungen auf das Studium durch die Lektüre von Ciceros Reden gegen Catilina gestoßen. Der römische Senat hatte Catilina aufgrund seiner Verschwörung zum Staatsfeind respektive zum Feind des Volkes – hostis publicus – erklärt. Der Begriff des Volksfeinds wurde auf dem Höhepunkt des terreur während der Französischen Revolution wiederum zur Ächtung der vorgeblichen Feinde der Republik instrumentalisiert: Nachdem bereits die Führer der Girondisten am 31. Oktober 1793, die gemäßigten Anhänger des Jakobinerclubs um Georges Danton sowie die radikalen Verfechter einer Entchristianisierung um Jacques Hébert guillotiniert worden waren, erließ der Nationalkonvent nach Anhörung des Wohlfahrtsausschusses am 10. Juni 1794 das Gesetz vom 22. Prairial II. Darin wurde die Einsetzung eines Revolutionstribunals festgelegt, das die „Feinde des

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Volkes zu bestrafen“ hatte. Die Bestimmung derjenigen, die zu den Feinden des Volkes zu zählen seien, wurde in dem Gesetz sehr weit gefasst. Dazu zählten nicht nur Personen, die versuchten, die Monarchie wieder einzuführen oder militärischen Geheimnisverrat betrieben: „Als Feind des Volkes gilt, […] wer falsche Nachrichten ausstreut, um das Volk zu spalten oder zu verwirren; wer die öffentliche Meinung irrezuführen und die Information des Volkes zu behindern, wer die Sitten zu verderben und das öffentliche Bewusstsein zu trüben, wer die Kraft und Reinheit der revolutionären und republikanischen Prinzipien zu verfälschen oder ihren Fortschritt durch gegenrevolutionäre oder Hetzschriften oder mit sonstwie arglistigen Mitteln aufzuhalten versucht […]. Die Strafe für alle Delikte, deren Aburteilung dem Revolutionstribunal vorbehalten ist, ist der Tod.“ (zitiert nach Grab 1973, S. 225). Die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts nutzten wiederum den Begriff des Volksfeinds zur Denunziation ihrer politischen Gegner und zur Brandmarkung missliebiger Personen und Bevölkerungsgruppen. So ließ Wladimir Iljitsch Lenin bereits drei Wochen nach der erfolgreichen Oktoberrevolution 1917 die demokratische Kadettenpartei verbieten und erklärte ihre Mitglieder zu „Volksfeinden“, die umgehend von Rotgardisten verhaftet wurden (vgl. Sebestyen 2017, S. 453). Inflationären Gebrauch fand der Begriff in der Sowjetunion unter der Ägide Josef Stalins. Der Diktator nutzte den Begriff Volksfeind zur Kennzeichnung aller realen und vermeintlichen politischen Gegner und zur Legitimation umfangreicher Repressionsmaßnahmen, die allein in der Zeit des Großen Terrors von 1936 bis 1938 Hunderttausenden das Leben kosteten. Alexej Jepischew, in den 1950er Jahren Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit, beschrieb Stalins Verwendung des Begriffs wie folgt: „ »Volksfeind« , das war eine universelle Formel. Es war eine Art »Auslese« jener, die nicht in Stalins Muster passten.“ (Wolkogonow 1993, S. 377). Adolf Hitler legte bereits in den 1920er Jahren mit seiner Schrift Mein Kampf den Grund für die politisch-rassistische Verwendung des Begriffs Volksfeind während der Diktatur der Nationalsozialisten. So stellte der Parteiführer der NSDAP fest: „Sicher wird auch in der kommenden Zeit der Jude aus seinen Zeitungen ein gewaltiges Geschrei erheben, wenn sich erst einmal die Hand auf sein Lieblingsnest legt, dem Presseunfug ein Ende macht, auch dieses Erziehungsmittel in den Dienst des Staates stellt und nicht mehr in der Hand von Volksfremden und Volksfeinden beläßt.“ (zitiert nach Hartmann et al. 2018, S. 651). Neben den Juden wurden während der Nazi-Diktatur auch andere Volksgruppen, Minderheiten und politische Gegner von den Nationalsozialisten als Volksfeinde stigmatisiert, verfolgt und getötet.

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Doch auch nach der Zeit der totalitären Diktaturen wurde der Begriff des Volksfeinds zur Diffamierung missliebiger Persönlichkeiten in der Bundesrepublik immer wieder aufgegriffen. So etwa während einer »Freiheitskundgebung« am 21. Februar 1968, die vom Westberliner Senat als Antwort der „normalen Bürger“ auf den vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) kurz zuvor an der TU Berlin durchgeführten Internationalen Vietnamkongress organisiert worden war. Bei der Demonstration in Schöneberg, zu der auch vom Springer Verlag, SPD, CDU und ÖTV mobilisiert worden war, kamen etwa 80.000 Menschen zusammen. Die kleine Minderheit der Studentenbewegung wurde hier vielfach kritisiert – und ihren Protagonisten, Rudi Dutschke, der der Bewegung wichtige politische Impulse und auch ein Gesicht gab, diffamierte man mit dem Plakat „Volksfeind Nummer 1 Dutschke“. Sechs Wochen später wurde das SDS-Mitglied Dutschke auf dem Kurfürstendamm bei einem Mordanschlag des Hilfsarbeiters Josef Bachmann lebensgefährlich verletzt. Dutschke starb elf Jahre später an den Folgen des Attentats. In jüngster Zeit wurde der Begriff des Volksfeindes zur Brandmarkung politischer Gegner in Deutschland etwa von Lutz Bachmann verwendet, dem Gründer der Organisation Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (Pegida). So bezeichnete Bachmann bei einer Pegida-Demonstration in Dresden am 7. Oktober 2019 Vertreter der Linken, ­ Grünen und Gewerkschaften als „Volksfeinde“, die man in einen Graben tun und zuschütten müsse (Anonymus 2019). Eine weitere semantische Volte erlebte der Begriff Volksfeind schließlich durch Donald Trump. Der US-Präsident gab am 17. Februar 2017 auf Twitter bekannt: „The FAKE NEWS media (failing @nytimes, @CNN, @NBCNews and many more) is not my enemy, it is the enemy of the American people. SICK!“ (zitiert nach Davis 2018) Nun war es nicht die breite Mehrheit der öffentlichen Meinung im Verbund mit der Presse wie bei Ibsen, die den eigenständigen Individualisten als Volksfeind denunzierte. Trump drehte den Spieß um und stigmatisierte als US-Präsident ihm missliebige Medien als Feinde des amerikanischen Volkes. In seinem Schauspiel Ein Volksfeind schafft Ibsen mit Dr. Tomas Stockmann eine Figur, die mit Vehemenz die Position des freien Individuums vertritt und dafür von der großen Majorität als Feind des Volkes gegeißelt wird. Im Hinblick auf das Verhältnis von Individuum und Masse stimmt Ibsen mit der Haltung der von ihm geschaffenen Figur überein: „Und ich bleibe dabei, dass kein geistiger Avantgardist die Mehrzahl gewinnen kann. In zehn Jahren steht die Mehrzahl auf dem Standpunkt, den Dr. Stockmann

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in der Bürgerversammlung vertrat. Doch diese zehn Jahre stand der Doktor ja nicht still; künftig ist er der Mehrzahl mindestens um zehn weitere Jahre voraus. Die Mehrzahl, die Menge, die Masse holt ihn niemals ein […]. Was mich persönlich betrifft, nehme ich jedenfalls solch ein unaufhörliches Fortschreiten wahr. Wo ich stand, als ich meine verschiedenen Werke schrieb, steht jetzt eine ziemlich dichte Menge; doch ich selbst bin nicht mehr dort; ich bin woanders, weiter vorne, wie ich hoffe.“ (Ibsen 1967, S. 129).

2  Ein Volksfeind – die Handlung Der in Ibsens Volksfeind behandelte Umweltskandal geht auf zwei reale Vorfälle in Norwegen und Deutschland zurück. Diese Elemente des Dokumentarischen machen den Volksfeind zeitlos aktuell, können heutige Inszenierungen doch umstandslos an die hier vorgestellten Umweltprobleme und den Umgang damit in der nach dem Mehrheitsprinzip verfahrenden Demokratie anknüpfen. Vor diesem Hintergrund bietet die Beschäftigung mit dem Volksfeind in der schulischen politischen Bildung mannigfache Möglichkeiten des fächerverbindenden Lernens. Dabei kann auch das spezifische didaktische Moment des Theaters als außerschulischer Lernort – für den Politikunterricht wie auch fächerverbindend – genutzt werden, wie im Weiteren noch ausgeführt wird. Die Themen, insbesondere die Umweltproblematik und die Zumutungen des Liberalismus, erfahren heute vielfältige Bearbeitungen auf den deutschsprachigen Bühnen. Das Stück handelt in einem Kurort, wo der Badearzt und Angestellte des Kurbads, Dr. Tomas Stockmann, eine ungeheuerliche Entdeckung macht: „Das ganze Bad ist eine Pesthöhle“, denn das Wasser, so zeigt seine Analyse, ist „eindeutig gesundheitsschädlich“ (Ibsen 2013, S. 21 f.). Grund hierfür sind die Abwässer einer Gerberei. Stockmann möchte Abhilfe schaffen und in einem ersten Schritt die Öffentlichkeit durch einen Artikel in den ‚Volksnachrichten‘ informieren. Zunächst hat der Badearzt hierfür die volle Unterstützung des Redakteurs Hovstad, des Zeitungsmitarbeiters Billing und des Buchdruckers Aslaksen, der auch Vorsitzender des Hausbesitzerverbandes sowie Delegierter des Mäßigkeitsvereins ist. Stockmanns Antipode ist sein älterer Bruder Peter, Amtsrat und Polizeidirektor, Vorsitzender der Kurbadverwaltung etc. Als der Amtsrat dem Redakteur Hovstad und Aslaksen darlegt, dass die vom Badearzt gewünschten Veränderungen enorme Kosten mit sich brächten, weshalb eine Kommunalsteuer zu erheben sei, und das Kurbad für zwei Jahre geschlossen werden müsste, ändert sich die Haltung der vormaligen Unterstützer von Tomas Stockmann: Sein aufklärerisches Manuskript wird nicht gedruckt. Doch der Badearzt lässt nicht locker

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und lädt zu einer großen Volksversammlung im Haus des Kapitän Horster ein. Dort erklärt sich Stockmann – und wird schließlich von der Menge als „Volksfeind“ gebrandmarkt. Ibsens Schauspiel endet im fünften Akt mit dem Vorhaben des nunmehr ehemaligen Badearztes, zur Vermittlung seiner Ideen eine Schule zu gründen. Seinen Auftritt schließt er mit der Erkenntnis: „Die Sache ist nämlich so, seht ihr, dass der stärkste Mann auf der Welt der ist, der ganz allein dasteht.“ (Ibsen 2013, S. 120). Die deutsche Erstaufführung des Stücks fand am 5. März 1887 im Berliner Ostend-Theater statt. Heutige Inszenierungen des Volksfeinds auf deutschsprachigen Bühnen nehmen eine je spezifische Aktualisierung mit politischer Akzentuierung vor. So werden im Schauspielhaus Zürich in der Bearbeitung des Stückes von Dietmar Dath (Premiere am 10. September 2015) unter der Regie von Stefan Pucher die Fährnisse der Mediendemokratie dargelegt. Statt der von Ibsen thematisierten Problematik mit verseuchtem Wasser geht es in der Züricher Aufführung um den Profit, den eine grüne Mustergemeinde aus dem Verkauf von Fracking-Rechten an eine Ölfirma zu erwirtschaften versucht – und nicht mehr aus dem Vertrag herauskommt. Einen ‚Volksboten‘ gibt es nicht mehr. Seine Aufgabe haben vorgeblich kritische Blogger übernommen, die ihre Beiträge im Internet- bzw. Demokratie-Portal ‚DEMOnline‘ präsentieren. Während der Volksversammlung darf sich das Publikum entscheiden, ob es den aufklärerischen Darlegungen von Doktor Stockmann beiwohnen oder im Foyer basisdemokratisch diskutieren möchte: „Die Folge ist ein Chaos, in dem der sonst so reflektierte Stockmann völlig ausrastet und die Fäulnis der Mediendemokratie mit starken Worten beklagt. ‚Eure Demokratie, das ist die Demokratie der Arschlöcher … Hier wird nicht nur Scheiße in den Boden gepumpt, sondern auch in die Köpfe.‘ In der manipulierten Demokratie, in der (fast) alle einer Meinung sind und nur das Beste wollen, ist niemand schuld und niemand übernimmt Verantwortung. Keiner will die Wahrheit wissen, obwohl alle Fakten zugänglich sind.“ (Gampert 2015) Die in den Boden der grünen Musterstadt sickernde Fracking-Flüssigkeit wird zur Herausforderung für die Bürger in der Mediendemokratie. Die Inszenierung des Volksfeinds durch Jette Steckel am Wiener Burgtheater (Premiere am 18. November 2017) verdeutlicht den Konflikt zwischen umweltschädlicher Profitmaximierung, politisch-moralischem Protest und den Zumutungen der Demokratie für die Bürger. Der Wiener Aufführung liegt eine deutsche Neufassung von Ibsens Schauspiel durch Frank-Patrick Steckel zugrunde. Die damit verbundenen Intentionen sind durchaus didaktisch zu verstehen, wenn Steckel feststellt: „Ibsen hingegen deutet an (und dieser Punkt war in der Bearbeitung zu präzisieren), dass ein ‚Volk‘, von dem gemäß seiner

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grundgesetzlichen Verfasstheit die Staatsgewalt seines Heimatlandes ‚ausgeht‘, tunlichst eine informierte, an ihrem eigenen Schicksal wie an dem Anderer interessierte, politische Körperschaft zu sein hat und kein launisches, phrasenanfälliges, leicht zu betrügendes, zu belügendes, zu betäubendes grobes ‚Stimmvieh‘ sein darf, falls der demokratische Prozess gelingen soll.“ (Steckel 2018) Die Wiener Aufführung mahnt die Urteilsfähigkeit der Bürger in der Demokratie an, wenn diese nicht zu einer inhaltsleeren formalen Hülle verkommen soll. Schließlich wird an der Berliner Schaubühne unter der Regie von Thomas Ostermeier und der Bearbeitung von Florian Borchmeyer (Premiere am 8. September 2012) während der Rede von Tomas Stockmann vor der Volksversammlung ein Dialog mit dem Publikum durchgeführt. Die Reaktionen und die dabei zur Sprache kommenden Themen sind sehr unterschiedlich und stehen im aktuellen politischen Lebensbezug der Zuschauer, je nachdem, ob der Volksfeind in Berlin, Santiago de Chile, Delhi, Seoul, Toruń, Istanbul, London, Moskau oder Peking aufgeführt wird. Im Dialog mit dem Publikum während der Premiere der Aufführung im Nationalen Zentrum für Darstellende Künste am 6. September 2018 in Peking standen – entsprechend der Urfassung – Umweltprobleme im Mittelpunkt: „Es dauerte eine Weile, bis die Pekinger Zuschauer begriffen, dass ihre Meinung gefragt war. Doch dann brach es aus ihnen heraus: In China würden auch Umweltskandale vertuscht. Die Medien würden nicht die Wahrheit sagen. Es gebe keine Redefreiheit.“ (Böge 2018) Nach diesen Zuschauerreaktionen durften die beiden folgenden Aufführungen in Peking nur zensiert auf die Bühne – ohne Dialog mit dem Publikum, doch Tomas Stockmann erklärte an der Leerstelle: „Hier sollte eigentlich ein Dialog mit Ihnen stattfinden.“ (Böge 2018) Die weiteren vorgesehenen Aufführungen in Nanjing wurden aus „bühnentechnischen Gründen“ abgesagt, so die offizielle Begründung.

3 Verhältnisse: Mehrheit und Minderheit, Macht und Recht Die gesamte Dramaturgie von Ibsens Volksfeind läuft auf die Brandrede Tomas Stockmanns vor der Volksversammlung im vierten Akt zu. Im ‚Volksboten‘ war inzwischen eine Darstellung des Amtsrats erschienen, die den Erkenntnissen des Badearztes widersprach. Der Redakteur der Zeitung springt nun bei der Volksversammlung dem Amtsrat zur Seite und erklärt: „In der vorliegenden Sache steht nun völlig außer Zweifel, dass Doktor Stockmann den allgemeinen Willen gegen sich hat.“ (Ibsen 2013, S. 79 f.) Der Badearzt seinerseits kommt denn auch in seiner Rede nicht auf die Vorstellung der Untersuchungsergebnisse im Hinblick

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auf das verseuchte Wasser in der Stadt zu sprechen, sondern erklärt zur eigentlichen Gefahr für das Gemeinwesen: „DOKTOR STOCKMANN: Nun gut, meine Mitbürger, ich will mich nicht näher über unsere führenden Männer auslassen. […] Und außerdem stellt gar nicht diese Art von Leuten die größte Gefahr für die Gesellschaft dar: sie sind es nicht, die die Quellen unseres geistigen Lebens so gründlich vergiften und den Grund und Boden unter uns verpesten; sie sind es nicht, die als die gefährlichsten Feinde unserer Gesellschaft am Werk sind. RUFE VON ALLEN SEITEN. Wer dann? Wer ist es? Heraus damit! DOKTOR STOCKMANN. O ja, Sie können sich drauf verlassen, dass ich sie nennen werde! Denn das ist ja die große Entdeckung, die ich gestern gemacht habe. Der größte Feind der Wahrheit und der Freiheit, das ist die geschlossene Mehrheit. Ja, diese verfluchte, geschlossene, liberale Mehrheit – die ist es! Jetzt wissen Sie’s.“ (Ibsen 2013, S. 84 f.). Tomas Stockmann spricht hier ein vieldiskutiertes Thema des politischen Liberalismus und die elementare Entscheidungsregel bei demokratischen Wahlen an: die Geltung des Mehrheitsprinzips – und dessen Grenzen. In der politischen Theorie der Demokratie hatte sich Alexis de Tocqueville wegweisend dieser Thematik in seiner Arbeit De la démocratie en Amérique angenommen. Er bereiste zusammen mit seinem Freund Gustave de Beaumont zu Beginn der 1830er Jahre die Vereinigten Staaten unter dem Vorwand, das amerikanische Gefängniswesen zu studieren, um auf dieser Grundlage die französischen Gefängnisse zu reformieren. Tatsächlich interessierte sich Tocqueville jedoch vor allem für die junge amerikanische Demokratie und die sie tragende Gesellschaftsordnung. Dazu legte er 1835 und 1840 sein Werk Über die Demokratie in Amerika vor. Was Tocqueville dabei insbesondere beschäftige, waren die politischen Möglichkeiten und Wirkungen, die sich aus der demokratischen Herrschaft auf der Grundlage des Majoritätsprinzips ergaben. In diesem Zusammenhang sprach der Gelehrte und spätere Politiker, der sich gegen die Sklaverei einsetzte, von der Gefahr einer ‚Tyrannei der Mehrheit‘ in der Demokratie: „Und was mich in Amerika am meisten abstößt, ist nicht die dort herrschende äußerste Freiheit, sondern der geringe Schutz gegen die Tyrannei. Erfährt in den Vereinigten Staaten ein Mensch oder eine Partei eine Ungerechtigkeit, an wen sollen sie sich wenden? An die öffentliche Meinung? Gerade sie bildet die Mehrheit.“ (Tocqueville 2001, S. 147). Tomas Stockmann kritisiert in seiner Rede vor der Volksversammlung gleichfalls die Herrschaft der Mehrheit und erklärt, dass diese ihn in seiner Freiheit einschränke und ihn daran hindere, vor dem Hintergrund des mit Mikroben verseuchten Wassers der Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen. Zugleich nimmt der

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Badearzt eine Gleichsetzung der Mehrheit mit den Ungebildeten vor – und steht damit in der Tradition der antiken Demokratiekritik, die Demokratie nicht als Herrschaft von allen, sondern pejorativ als Herrschaft der Vielen, also der Armen und Ungebildeten, verstand: „DOKTOR STOCKMANN. Es ist die große Mehrheit in unserer Gesellschaft, die mich meiner Freiheit beraubt und die mir verbieten will, die Wahrheit auszusprechen. HOVSTAD. Die Mehrheit hat immer das Recht auf ihrer Seite. BILLING. Die Wahrheit auch; verdammt noch mal! DOKTOR STOCKMANN. Die Mehrheit hat nie das Recht auf ihrer Seite, sage ich! Das ist eine dieser Gemeinschaftslügen, gegen die sich ein freier, denkender Mann zur Wehr setzen muss. Wer macht denn die Mehrzahl der Bewohner eines Landes aus? Sind das die klugen Leute oder die dummen? Ich denke, wir sind uns darin einig, dass die dummen Menschen überall auf der Welt in einer erschreckend großen Überzahl vorhanden sind. Aber, zum Teufel, es kann doch nie und nimmer richtig sein, dass die Dummen über die Klugen herrschen!“ (Ibsen 2013, S. 85). Die von Tomas Stockmann vorgebrachte Kritik an der Herrschaft der Mehrheit wurde im Verlauf der Rezeptionsgeschichte des Schauspiels insbesondere auch von einer anarchistischen Position aus unterstützt. So war etwa Emma Goldman eine aufrechte Bewunderin der Werke Henrik Ibsens allgemein. Seinen Volksfeind befand sie als großartiges Stück, denn hier „vollführt Ibsen die letzten Beerdigungsriten für ein zerfallendes und sterbendes Gesellschaftssystem. Aus seiner Asche erhebt sich das erneuerte Individuum, der kühne und mutige Rebell.“ (Goldman 2013a, S. 216) Für Goldman verkörpert Tomas Stockmann einen Neuerer der Gesellschaft, der sich der Herrschaft der ungebildeten Majorität ausgeliefert sieht: „Befremdet fragten die Wenigen, wie die Traditionen der amerikanischen Freiheit von der Mehrheit derart im Stich gelassen werden konnten. Wo war ihr Urteilsvermögen, ihre Vernunft? Und das ist der Punkt: die Mehrheit kann nicht vernünftig sein; sie kann nicht urteilen. Da es ihr völlig an Originalität und moralischer Courage mangelt, hat die Mehrheit stets ihr Schicksal in die Hände anderer gelegt. Da sie unfähig ist, Verantwortung auszuhalten, ist sie ihren Anführern bis in die Zerstörung gefolgt. Dr. Stockmann hatte recht: ‚Der gefährlichste Feind von Freiheit und Gerechtigkeit unter uns ist die kompakte Mehrheit, die verdammte kompakte Mehrheit.‘ Die kompakte Masse verfügt über keinerlei Ambitionen oder Initiative, sie hasst nichts so sehr wie Neuerungen. Stets hat sie sich gegen Erneuerer und Pionierinnen neuer Wahrheiten gestellt, sie verdammt und verfolgt.“ (Goldman 2013b, S. 56).

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Die Kritik der Figur Tomas Stockmann, des Demokratietheoretikers Alexis de Tocqueville und der Anarchistin Emma Goldman an der Macht der Mehrheit deckt sich mit der Position des Nestors des politischen Liberalismus, John Stuart Mill, der im Übrigen Tocqueville freundschaftlich verbunden war. In seinem Werk On Liberty (1859) warnt der liberale Theoretiker vor einer „sozialen Tyrannei“, bei der die Mehrheit aufgrund ihres Drucks durch die öffentliche Meinung die Freiheit des Einzelnen beschneiden kann. Mill gelangt zu dem Schluss: „Es gibt einen charakteristischen Zug in der heutigen Richtung der öffentlichen Meinung, der besonders darauf berechnet ist, sie gegen jede bemerkenswerte Bekundung von Individualität unduldsam zu machen. Der gewöhnliche Durchschnittsmensch ist nicht nur bescheiden an Verstand, sondern auch bescheiden in seinen Neigungen. Er hat nicht genügend starke Regungen und Wünsche, die ihn dazu bringen könnten, etwas Ungewöhnliches zu tun; er versteht daher Menschen gar nicht, die dazu Lust haben, und reiht sie alle unter die Wilden und Zügellosen ein, auf die er herabzublicken gewöhnt ist.“ (Mill 2010, S. 100) In seinen Überlegungen zur amerikanischen Demokratie gelangt Alexis de Tocqueville zu einer ähnlichen Kritik an der Macht der Mehrheit, die den öffentlichen geistigen Austausch massiv einschränke: „Untersucht man einmal genauer, welchen Gebrauch die Amerikaner von ihrem Denkvermögen machen, so wird man besonders eindringlich gewahr, bis zu welchem Grade die Macht der Mehrheit alle Einflüsse übersteigt, die wir in Europa kennen. […] Ich kenne kein Land, in dem im Allgemeinen weniger geistige Unabhängigkeit und wirkliche Diskussionsfreiheit herrscht als in Amerika. […] In Amerika zieht die Mehrheit einen drohenden Kreis um das Denken.“ (Tocqueville 2001, S. 150 f.). Henrik Ibsen bearbeitet dieses Beziehungsgeflecht von Macht und Recht, Mehrheit und öffentlicher Meinung versus Freiheit des Denkens und der Debatte in seinem Schauspiel Ein Volksfeind. Hier erklärt der Verleger Aslaksen in seiner Position als Vorsitzender des Hausbesitzerverbandes und Delegierter des Mäßigkeitsvereins zu einer Zeit, als er die Erkenntnisse des Badearztes noch veröffentlicht sehen wollte und ihn deshalb als einen „Volksfreund“ titulierte, Tomas Stockmann die Macht der Mehrheit und der öffentlichen Meinung: „ASLAKSEN. Denn es könnte notwendig werden, dass wir kleinen Leute Ihnen den Rücken stärken müssen. Wir bilden ja hier in der Stadt sozusagen eine geschlossene Mehrheit – wenn wir wirklich wollen. Und es ist immer gut, die Mehrheit hinter sich zu haben, Herr Doktor.“ (Ibsen 2013, S. 32). Die Macht, die von Aslaksens Person auf diese Mehrheit ausgeht, wird zu Beginn der Volksversammlung in einem Gespräch zwischen Zuhörern deutlich: „EIN MANN. Zu wem soll man in dieser Angelegenheit denn nun halten, häh?

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EIN ZWEITER MANN. Achte nur auf den Buchdrucker Aslaksen und tu, was er macht.“ (Ibsen 2013, S. 75). Der Badearzt seinerseits täuscht sich vor der Volksversammlung noch bezüglich der wahren Machtverhältnisse in der Stadt, weshalb er an die Durchsetzung der Wahrheit (seiner Erkenntnisse im Hinblick auf das verseuchte Wasser) und des Rechts glaubt. In seiner Familie wird diese Frage kontrovers diskutiert: „FRAU STOCKMANN. Aber, lieber Tomas, dein Bruder hat nun mal die Macht auf seiner Seite … DOKTOR STOCKMANN. Ja, aber ich habe das Recht! FRAU STOCKMANN. Ach ja, das Recht, das Recht; was hilft es dir, wenn du recht hast, aber keine Macht? PETRA. Aber Mutter, wie kannst du nur so reden? DOKTOR STOCKMANN. Es sollte in einer freien Gesellschaft also nichts nützen, wenn man das Recht auf seiner Seite hat? Du bist lustig, Katrine. Und außerdem, schließlich habe ich doch die freie, unabhängige Presse auf meiner Seite – und die geschlossene Mehrheit hinter mir, das ist ja wohl genug Macht, möchte ich meinen!“ (Ibsen 2013, S. 47).

Sein Irrtum über die eigentlichen Machtverhältnisse in der Stadt, die Wankelmütigkeit der öffentlichen Meinung und seine Unfähigkeit, den von ihm auf der Grundlage der wissenschaftlichen Analyse des Wassers gewonnenen Erkenntnissen über die wahren Zustände der städtischen Hygiene in der politischen Öffentlichkeit Bahn zu brechen, verleiten schließlich Doktor Stockmann während der Volksversammlung zu seiner Philippika. Darin nimmt er eine Gleichsetzung der Mehrheit mit den Ungebildeten vor – und erinnert so an die Achillesferse der Demokratie: Die politische Mündigkeit der Bürgerinnen und Bürger.

4 Bildung und politische Mündigkeit vor dem Hintergrund postfaktischer Tendenzen Die Abhängigkeit der Demokratie von der Bildsamkeit und politischen Mündigkeit ihrer Bürger war den Gestaltern der ersten demokratischen Staatsform im antiken Athen durchaus bewusst. Dem Theater kam deshalb eine besondere gemeinschaftsbildende Funktion zu: Die Aufführungen dienten – neben kultischen Zwecken – der Selbstreflexion der Bürger in der neuen Staatsform der Demokratie (vgl. Juchler 2016, S. 7 f.). Die Volksherrschaft war im Unterschied zur Monarchie und Tyrannis sowie zur Aristokratie und Oligarchie auf Bürger angewiesen, die sich mit den Gegenständen des Politischen auseinandersetzten.

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In der demokratisch regierten Polis mussten die Bürger über ein bestimmtes Maß an politischer Urteilskraft verfügen. Im Theater wurde diese Fähigkeit gefördert, weshalb im antiken Athen zur Zeit der Demokratie eine umfängliche Subventionspolitik den Theaterbetrieb samt dessen Besuch unterstützte. Die Bürger waren aufgrund ihrer kognitiven Fähigkeiten in der Lage, bewusst zu handeln, ihr Leben und das gemeinsame Zusammenleben in der Polis zu gestalten, was auch misslingen konnte. Doch aus diesen Niederlagen kann der Polis-Bürger gestärkt hervorgehen, wenn er zum Lernen aus den leidvollen Erfahrungen bereit ist. Diese mit der Aufführung von Tragödien verbundene didaktische Intention kam in den Theaterstücken bisweilen auch explizit zum Ausdruck. So erklärt der Chor in der Orestie des Aischylos, mit der dieser 458 v. u. Z. die Dionysien gewonnen hatte: „Zeus gab das Gesetz: Durch Leiden lernen. Tun, leiden, lernen.“ (Aischylos 1997, S. 23). An der politischen Fähigkeit zur angemessenen Urteilsbildung der Bürger, die bei den Volksabstimmungen auf der Pnyx zum Tragen kommen sollte, entzündete sich bereits in der Antike die Kritik der Gegner dieser ersten Demokratie. Prinzipiell waren in der athenischen Demokratie alle Männer, ob arm oder reich, politisch vollberechtigte Staatsbürger. Es galt das Prinzip der Isonomie, der politischen Gleichheit aller frei geborenen Männer – ein Prinzip, das etwa in Preußen erst nach der Novemberrevolution 1918 umgesetzt werden konnte. Ausgeschlossen von jedweder Beteiligung an Entscheidungen des politischen Gemeinwesens blieben in Athen die Frauen, Sklaven und Metöken. Doch sollte wirklich jeder Stimme das gleiche Gewicht zukommen, egal, ob sie von einem gebildeten oder einem ungebildeten Bürger stammte? Die Frage nach der politischen Urteilsfähigkeit der Bürger bildete die Achillesferse der neuen Staatsform, an der die Kritiker der Demokratie ansetzten. So heißt es von einer aristokratischen Warte aus: „Es gilt aber auch wirklich für jedes Land, dass das bessere Element Gegner der Volksherrschaft ist; denn bei den Besseren ist Zuchtlosigkeit und Ungerechtigkeit am geringsten, gewissenhafter Eifer für das Gute und Edle am größten, beim Volke aber Mangel an Bildung und Selbstzucht am größten und Gemeinheit; denn sowohl die Armut verleitet sie viel eher zur Schlechtigkeit als auch der Mangel an Erziehung und Bildung – seinerseits bedingt dadurch, dass es einigen der Leutchen an Mitteln gebricht.“ (Pseudo-Xenophon 1913, 1, S. 5) Dieses Argument gegen die Gleichwertigkeit der Stimmen in der Demokratie begegnet uns noch in der Moderne. So rechtfertigt etwa John Stuart Mill im Jahre 1861 den Ausschluss bestimmter Bevölkerungskreise von Wahlen: „Ich halte es für gänzlich unzulässig, dass jemand wahlberechtigt sein soll, der nicht lesen und schreiben kann und, würde ich noch hinzufügen, die Grundrechenarten nicht beherrscht.“ (Mill 2013, S. 141).

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In Ibsens Volksfeind hält insbesondere Doktor Stockmann keine großen Stücke auf die politische Urteilskraft seiner Mitbürger. Noch vor seiner Brandrede bei der Volksversammlung erklärt er seiner Tochter: „Ja, da kann man sehen, dass die Menschen rumlaufen und wie die blindesten Maulwürfe urteilen.“ (Ibsen 2013, S. 20) Bei Tocqueville findet sich eine Erklärung für die mangelnde Urteilsfähigkeit der großen Mehrheit. Er geht davon aus, dass das Volk „niemals die Zeit und die Mittel [findet], sich an diese Arbeit zu machen. Es muss immer übereilt urteilen und sich an das halten, was ihm am deutlichsten in die Augen springt. Daher kommt es, dass die Scharlatane aller Sorten sich so gut auf die Kunst verstehen, dem Volk zu gefallen, seine wirklichen Freunde bei ihm dagegen meistens durchfallen. Im Übrigen liegt es nicht immer an der mangelnden Fähigkeit, die verdienstvollen Männer auszuwählen, sondern an dem Willen und der Lust dazu.“ (Tocqueville 2001, S. 113). Die hier angeführten „Scharlatane“ würden wir in unserer heutigen Zeit mit den Populisten gleichsetzen, die es aufgrund ihrer geschickten Themensetzung in der öffentlichen Debatte, Agitation und Rhetorik durchaus verstehen, breite Bevölkerungskreise für ihre politischen Zielsetzungen zu gewinnen. Deshalb ist gegenwärtig die politische Mündigkeit in besonderer Weise gefordert. Liberale Demokratien geraten allenthalben unter Druck: Mit dem Versprechen, durch einen autoritären Führungsstil für Sicherheit und Ordnung zu sorgen, gelingt es Populisten zusehends, Wahlen für sich zu entscheiden. Dabei wird vielfach mit „alternativen Fakten“, Bullshit und Lügen Politik gemacht (vgl. Hendricks und Vestergaard 2018). Auch der Badearzt im Volksfeind gelangt nach seinen Erfahrungen während der Volksversammlung zu der Erkenntnis, dass es mächtigen politischen Akteuren gelingt, die Mehrheit der Bürger durch das Verdrehen der Wahrheit und Lügen hinter ihre Positionen zu vereinen: „Drehen und wenden die nicht alle Begriffe nach Belieben? Verrühren sie nicht Recht und Unrecht zu einem Brei? Bezeichnen sie nicht alles als Lüge, von dem ich weiß, dass es die Wahrheit ist? Aber das Allerverrückteste ist, dass hier massenweise erwachsene liberale Menschen umherlaufen und sich selbst und anderen einreden, dass sie Freidenker seien!“ (Ibsen 2013, S. 100) Zwar kam die Lüge auch im Politischen schon immer vor, weshalb eine gesunde Skepsis hier stets angebracht war. Neu ist heute jedoch das Ausmaß an Emotionalisierung und Skandalisierung von Politik auf der Grundlage falscher Tatsachenbehauptungen, Propaganda und Lüge: Das Postfaktische hält Einzug in die politische Kommunikation, was bei den Bürgern zu einem Gefühl der Desorientierung und des Betrogenseins, zu wachsender politischer Entfremdung, Politikverdrossenheit und Apathie führt. Vielen fällt die Unterscheidung von politischen Fakten und Fakes schwer, und der damit einhergehende Vertrauensverlust untergräbt die Legitimität der Regierenden.

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5 Fazit Vor diesem Hintergrund stellen sich für die Anbahnung politischer Mündigkeit neue Herausforderungen, wozu das Theater im Allgemeinen und die Auseinandersetzung mit Ibsens Volksfeind im Besonderen einen Beitrag leisten kann: Die Demokratie steht – im Unterschied zur Diktatur – stets in der Gefahr, dass sie sich mittels Wahlen selbst abschafft. Das Theater ist der Ort, an dem die unterschiedlichsten Perspektiven und Handlungsintentionen mit ihren jeweiligen Auffassungen und Interessen aufeinandertreffen, sich aneinander reiben, kollidieren, zusammenfinden etc. Vor diesem Hintergrund ermöglicht die Beschäftigung mit Theaterstücken das Üben der Wahrnehmung von Perspektiven anderer. Die im Theater vermittelte Pluralität von Handlungen gewährt den Zuschauern eine multiperspektivische Vorstellung unterschiedlichster Meinungen und Lebensvollzüge, die empathisch nachvollzogen, nachempfunden und durchdacht werden können. Die auf diese Weise ermöglichte Übung des Perspektivenwechsels stellt eine allgemein didaktische Aufgabe dar, welche grundsätzlich in jedem Unterrichtsfach durchgeführt werden kann und sollte. Das Theater ermöglicht so auch einen emotionalen Zugang zum Geschehen und den Beweggründen der Handelnden – Aristoteles wies auf den Umstand hin, wonach die Mimesis der Handlungen bei den Rezipienten „Jammer“ und „Schaudern“ hervorrufe, was schließlich zu einer affektiv-moralischen „Reinigung“ führen sollte (Aristoteles 1994, S. 19). Die durch das Theater angebahnte politische Mündigkeit der Zuschauerinnen und Zuschauer wird mithin durch eine Reflexion ermöglicht, die emotional und rational-analytisch geleistet werden kann.

Literatur Anonymus. 2019. Polizei ermittelt gegen Lutz Bachmann nach Pegida-Rede. https:// www.mdr.de/sachsen/dresden/dresden-radebeul/ermittlungen-gegen-pegida-rednereingeleitet-100.html. Zugriffen: 12. Oktober 2019. Aristoteles. 1994. Poetik (Übers. und hg. von Manfred Fuhrmann). Stuttgart: Reclam. Böge, F. 2018. Keine Stimme für niemand. China setzt Schaubühnen-Tournee mit Ibsen ab. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. September 2018, 9. Davis, William S. 2018. „Enemy of the People“: Trump Breaks Out This Phrase During Moments of Peak Criticism. https://www.nytimes.com/2018/07/19/business/media/ trump-media-enemy-of-the-people.html. Zugegriffen: 12. Oktober 2019. Gampert, Christian. 2015. „Ein Volksfeind“ in Zürich. Dietmar Dath bearbeitet Ibsens Klassiker. https://www.deutschlandfunk.de/ein-volksfeind-in-zuerich-dietmar-dathbearbeitet-ibsens.691.de.html?dram:article_id=330934. Zugegriffen: 15. August 2019.

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Goldman, Emma. 2013a. Das moderne Theater – fruchtbarer Boden für radikales Denken. In Anarchismus und andere Essays, Hrsg. Emma Goldman, 202–228. Münster: Unrast. Goldman, Emma. 2013b. Plädoyer für Minderheiten. In Anarchismus und andere Essays, Hrsg. Emma Goldman, 55–63. Münster: Unrast. Grab, W., Hrsg. 1973. Die Französische Revolution. Eine Dokumentation. München: Nymphenburger. Hartmann, C., Vordermayer, T., Plöckinger, O., Töppel, R., Hrsg. 2018. Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition (Band 1., 8. Auflage). München: Institut für Zeitgeschichte München – Berlin. Hendricks, Vincent F. und M. Vestergaard. 2018. Postfaktisch. Die neue Wirklichkeit in Zeiten von Bullshit, Fake News und Verschwörungstheorien. München: Karl Blessing Verlag. Ibsen, Henrik. 1967. Briefe. Eine Auswahl. Stuttgart: Reclam. Ibsen, Henrik. 2013. Ein Volksfeind. Stuttgart: Reclam. Juchler, Ingo. 2016. Politische Bildung im Theater. In Politische Bildung im Theater, Hrsg. I. Juchler und A. Lechner-Amante, 7–15. Wiesbaden: Springer. Lothar, Rudolph. 1902. Henrik Ibsen. Leipzig: Seemann. Mill, John Stuart. 2010. Über die Freiheit. Stuttgart: Reclam. Mill, John Stuart. 2013. Betrachtungen über die Repräsentativregierung. Berlin: Suhrkamp. Pseudo-Xenophon. 1913. Staat der Athener (In Die pseudoxenophontische Athenaion politeia; Einleitung, Übersetzung, Erklärung von Ernst Kalinka). Leipzig: Teubner. Schlenther, Paul. 1901. Einführung. In Henrik Ibsen: Sämtliche Werke in deutscher Sprache. Bd. 7. Durchgesehen und eingeleitet von Georg Brandes, Julius Elias, Paul Schlenther. Berlin: Fischer, S. IX-XXXIX. Sebestyen, Victor. 2017. Lenin. Ein Leben. Berlin: Rowohlt. Seidensticker, Bernd, Hrsg. 1997. Die Orestie des Aischylos (Übersetzt von Peter Stein, 2. Auflage). München: Beck. Steckel, Frank-Patrick. 2017. Anmerkung zur Bearbeitung. In Programmheft zu Henrik Ibsen: Ein Volksfeind. Eine deutsche Neufassung von Frank-Patrick Steckel. Burgtheater Wien. Tocqueville, Alexis de. 2001. Über die Demokratie in Amerika. Stuttgart: Reclam. Wolkogonow, Dimitri. 1993. Stalin. Triumph und Tragödie. Ein politisches Porträt. Düsseldorf/Wien: Econ.

Empirische Analysen zur politischen Fachsprache in Schulbüchern – ein Trendbericht Georg Weißeno und Anke Götzmann

Zusammenfassung

Schulbücher für den Politikunterricht sind ein Gegenstand empirischer politikdidaktischer Forschung. Sie könnten eine Vermittlungsinstanz für eine evidenzbasierte, die theoretischen und empirischen Ergebnisse reflektierende Praxis sein. Der Beitrag stellt zunächst den theoretischen Hintergrund für die produktorientierten Inhaltsanalysen dar. Betrachtet wird die Strukturierung schulbezogenen politischen Wissens mit Hilfe von Fachkonzepten nach dem Modell der Politikkompetenz. Die Trendanalysen zeigen die Ergebnisse einer Begriffsanalyse zur politischen Fachsprache in zwei aktuellen und vier älteren Schulbüchern für die Sekundarstufe I. Als Trend zeigt sich, dass sich die Zufälligkeit der jeweiligen Fachsprache der Schulbücher gegenüber 2013 trotz eines kompetenzorientierten Curriculums nicht signifikant verbessert hat. Der für den Kompetenzaufbau notwendige nachhaltige Fachsprachenerwerb ist in den Schulbüchern weiterhin nicht überzeugend angelegt.

G. Weißeno (*) · A. Götzmann  Pädagogische Hochschule Karlsruhe, Karlsruhe, Deutschland E-Mail: [email protected] A. Götzmann E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Juchler (Hrsg.), Politik und Sprache, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30305-1_11

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1 Ziel der Studie Schulbücher für das Unterrichtsfach Politik sind ein Gegenstand empirischer politikdidaktischer Forschung. Sie werden heute in der Regel von Lehrkräften verfasst. Deshalb ist es interessant zu untersuchen, ob die Schulpraxis von den Neuerungen der Kompetenzorientierung profitiert und welche Bedingungen dafür gegeben sein müssen (Hartmann und Klieme 2017, S. 477). Zu fragen ist, inwieweit empirische politikdidaktische Befunde und die Theorieentwicklung beim Erstellen von Schulbüchern berücksichtigt werden. Mit der Genehmigung durch die Kultusministerien verbindet sich bei den Lehrkräften die Erwartung, dass sie die Kompetenzorientierung des Curriculums angewandt haben. Politikschulbücher übersetzen das abstrakte Curriculum. Sie werden häufig ganz oder in Teilen von den Lehrkräften eingesetzt. Sie können als eine Vermittlungsinstanz für eine evidenzbasierte Praxis vermutet werden. Allerdings ist hier bereits anzumerken, dass die Mitglieder einer kultusministeriellen Prüfkommission Lehrkräfte sind. (Experten-)Lehrkräfte kontrollieren (Schulbuch-)Lehrkräfte. Eine unabhängige Qualitätssicherung, die die erwünschten Steuerungsimpulse durch ein Curriculum gezielt prüfen könnte, ist nicht gegeben. Die Schulbücher verfolgen ‚versteckte‘ eigene Curricula mit einer politischen Ausrichtung und eigenem fachdidaktischen Ansatz. Die Schulbuchverlage möchten möglichst nahe am Denken der Praxis sein und beauftragen deshalb Lehrkräfte als Autor/-innen. Letztlich bleiben die Schulbücher Artefakte, die von den Autor/-innen als politisch-pädagogisches Material entworfen wurden. Die in den Klassen ausgeteilten Schulbücher sagen noch wenig über die tatsächliche Verwendung im Unterricht aus. Ein direkter Transfer der Inhalte zu den Schüler/-innen und von politikdidaktischen Ergebnissen zu den Lehrkräften ist wegen der multikriterialen unterrichtlichen Bedingungen nicht anzunehmen. Gleichwohl dürften die Schulbücher die Inhaltsauswahl der Lehrkräfte beeinflussen. Sie ist andererseits aber auch durch die Curricula vorgegeben, die die Schulbücher abzubilden haben. Eine weitere Perspektive auf die Schulbücher kann sein, dass sie als Modelle für die Möglichkeiten des Unterrichtens anzusehen sind. Zumindest kann an solchen Modellen indirekt erkannt werden, wie die Schulbuchautor/-innen als Teil professioneller Praxis die Kompetenzorientierung rezipiert haben und umzusetzen versuchen. Im Sinne einer Qualitätsverbesserung wäre es wichtig, dass die Autor/-innen die Schulbücher auf der Basis politikdidaktischer Theorie und Empirie evidenzbasiert konzipieren. Vor dem Hintergrund der inzwischen bekannten Qualitätsprobleme des Politikunterrichts ((Überblick in Weißeno, G.

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2019), wäre dies dringend erforderlich. Fraglich ist, ob die Schulbücher so vorgehen. Nach Diederich und Tenorth (1997) ist die traditionelle Aufgabe der Fachdidaktiken, sich mit Lernen und Verstehen, also auch mit dem Erwerb und den spezifischen Bedingungen von konzeptuellem Fachwissen zu beschäftigen. Dazu können die Schulbücher in besonderem Maße beitragen, weil sie viel Wissen beinhalten und für die Schüler/-innen als Wissensspeicher zum Nachlesen und Lernen dienen. Weitere Aspekte für die Lehrkräfte sind die Aufgabenstellungen, methodischen Anregungen, Hinweise etc. Sie werden aber in diesem Beitrag nicht untersucht. Ziel des Beitrags ist zu prüfen, inwieweit es den untersuchten Schulbüchern gelingt, das in der Schule zu erwerbende politische Fachwissen theoriegeleitet so aufzubereiten, dass es nachhaltig erlernbar ist. Um die Schulbücher empirisch untersuchen zu können, wird im Folgenden zunächst der theoretische Hintergrund für die produktorientierten Analysen dargestellt. Hier liegt der Schwerpunkt auf der Strukturierung schulbezogenen politischen Wissens mit Hilfe von Fachkonzepten nach dem Modell der Politikkompetenz. Danach werden ein kleiner Überblick über den Forschungsstand gegeben und die Untersuchungsfragen formuliert. Die folgenden Trendanalysen zeigen die Ergebnisse einer Begriffsanalyse zur verwendeten Fachsprache in zwei aktuellen und vier älteren Schulbüchern für die Sekundarstufe I. Abschließend werden die Ergebnisse diskutiert. 1. Theoretischer Hintergrund Eine Funktion von Schulbüchern ist es, das schulbezogene politische Fachwissen strukturiert aufzubereiten. Unter Verwendung der Fachsprache wird das politische Wissen in Lerngelegenheiten umgeformt. Die benutzte Fachsprache sollte sich von der Alltagssprache unterscheiden. Denn die Alltagssprache ist nicht einheitlich, sondern stark durch unterschiedliche soziale Milieus geprägt. Deshalb sind mit den dort verwendeten Wörtern zu viele Assoziationen möglich und Missverständnisse entstehen leicht. In der Fachsprache wird dagegen um klare und möglichst präzise Begriffe gerungen. Die Fachsprache entlastet die unterrichtliche Kommunikation von unnötigen Assoziationen. „Die Fachsprache einer Disziplin ist demnach durch ein bestimmtes Fachvokabular, ein sprachliches Inventar, um Fachvokabular miteinander zu verbinden, und die Rücksichtnahme auf die jeweils vorliegende Kommunikationssituation gekennzeichnet“ (Rincke 2010, S. 238). Das allgemeine theoretische Modell von Wygotski (1979) beschreibt den Zusammenhang von Alltags- und Fachsprache. Danach gibt es spontane Begriffe in der Alltagssprache, die es in der wissenschaftlichen Sprache mit festen Begriffen nicht gibt. „Das Kind eignet sich die Muttersprache ohne bewusste

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Einsicht und unabsichtlich an, die fremde dagegen von Anfang an mit bewusster Einsicht und absichtlich“ (Ebenda, S. 257). Die Aneignung der Fachsprache sieht das Modell wie folgt: „Die Entwicklung der wissenschaftlichen Begriffe beginnt bei der bewussten Einsicht und der Willkürlichkeit und setzt sich nach unten in die Sphäre der persönlichen Erfahrung und des Konkreten keimend weiter fort“ (Ebenda, S. 255). Der Aufbau einer Fachsprache erfolgt anders als in der Alltagssprache. Er kann auch unvollkommen bleiben (Interlanguage-Hypothese). Dann sind Fehler und Versatzstücke in den sprachlichen Äußerungen feststellbar. Die beiden Sprachebenen sind vermischt. Gleichwohl ist der Erwerb einer basalen politischen Fachsprache ein vorrangiges Ziel des Politikunterrichts. Sie ist die allen Schüler/-innen gemeinsame Sprache im Politikunterricht. Dies sieht auch der Bildungsplan 2016 für die Sekundarstufe I in ­Baden-Württemberg. „Ziel des Unterrichts muss es sein, die Wissensbestände der Schülerinnen und Schüler qualitativ zu erhöhen, quantitativ weiterzuentwickeln und ihnen den Aufbau einer geordneten Fachsprache zu ermöglichen“ (S. 6). Präzisiert wird dies wie folgt: „Der Aufbau von Fachwissen dient dem Erwerb von konzeptuellem Wissen“ (S. 7) In den konkreteren Ausführungen findet man zu den vorgeschriebenen Themen einzelne Begriffe wie Blogs, soziale Netzwerke, aber auch Öffentlichkeit, Konflikt, Frieden, Sozialstaat. Diese Begriffe sind nicht fachlich systematisch geordnet und vernetzbar, sodass offenbleibt, wie sich konzeptuelles Wissen aufbauen kann. Wenn die Begriffe jeweils nur bei einem Thema genannt sind, können die Lernraten nicht groß sein. Hierzu wäre die Vernetzung und Anwendung bei der Mehrzahl der Themen und Lernsituationen jeweils notwendig. Inhaltliche Vorstellungen zu den Begriffen entwickeln sich nur langfristig durch die Anwendungen in verschiedenen Kontexten. Der Politikunterricht wird im Bildungsplan BW noch traditionell allein vom Thema gedacht. Deshalb beschreibt er die Themen mit wenigen Einzelbegriffen und weiteren Fachbegriffen in den Erläuterungen, deren Stellenwert und Zusammenhang aber unklar bleibt. Insgesamt ergibt dies sogar ein größeres Fachspracheninventar als das des Modells der Politikkompetenz Politikkompetenz. Das Begriffsangebot bleibt im Bildungsplan unübersichtlich. Themen mit Begriffsinventar werden anschließend im Bildungsplan vier Kompetenzen zugeordnet. Kompetenzorientierung meint aber etwas anderes. Der Unterricht ist von der Kompetenz (nicht vom Thema) zu denken und anzulegen (Breit und Weißeno 2015). Gleichwohl kann die Begriffswelt des Curriculums als Steinbruch für die Rechtfertigung der Nutzung des theoriebasierten Fachwissensmodells angesehen werden. Die beiden untersuchten Schulbücher für Baden-Württemberg haben die Begrifflichkeiten des Bildungsplans in ihren Materialien berücksichtigt und

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sind genehmigt. Da die Fachbegriffe im fest umrissenen Fachspracheninventar des Modells der Politikkompetenz (Weißeno et al. 2010) enthalten sind, wird es zur Auswertung herangezogen. Das theoretisch entwickelte und empirisch geprüfte Modell des Fachwissens ist in seinen Standards mit den Landescurricula kompatibel. Die Schulbücher sollten die (meisten) Fachbegriffe des Modells der Politikkompetenz enthalten. Das systematische Modell des Fachwissens, über das die Schüler/-innen in Unterrichtssituationen verfügen müssen, weist 30 Fachkonzepte aus (Abb. 1). Der Wissensaufbau geschieht über Begriffsbildungen. Wissen ist danach mit den Merkmalen der Kontexte, in denen es erworben wurde, verbunden. Zu den Begriffen wird ein Vorstellungsraum entwickelt. Nur wenn die Schüler/-innen erkennen, mit welchen Begriffen sich Konzepte bilden lassen, können sie Wissen in seine Begriffe zerlegen und prüfen. Nachhaltiges kumulatives Lernen erfordert die Vernetzung der Fachbegriffe in verschiedenen Kontexten. Das Modell des Fachwissens ist theoretisch am kognitionspsychologischen Modell der Informationsverarbeitung und an politikwissenschaftlichen Theorien ausgerichtet. Es beansprucht, Aussagen mit Wahrheitsanspruch über das schulbezogene politische Fachwissen zu formulieren. Die im Modell benutzten Begriffe sind keine Postulate, sondern politikdidaktisch festgelegte Ergebnisse für die Aufgabenbewältigung im Unterricht und für den Alltag als Bürger. Mit den Begriffen werden erreichbare Standards für den Politikunterricht formuliert.

Abb. 1   Modell des Fachwissens mit 30 Fachkonzepten (Weißeno et al. 2010, S. 15)

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Die Autor/-innen des Modells haben den Fachkonzepten konstituierende Begriffe hinzugefügt. Sie definieren das schulische Grundlagenwissen für die einzelnen Bildungsetappen. Insgesamt entsteht mit diesen 221 Begriffen ein Geflecht, eine strukturierte Vernetzung, die sich dazu eignet, auch unbekannte tagespolitische Phänomene, Ereignisse und Prozesse fachsprachlich zu beschreiben, zu analysieren und zu reflektieren. Dieser Wortschatz entspricht den lernpsychologisch begründbaren Anforderungen für den Erwerb einer Fachsprache. Mit den Fachkonzepten und konstituierenden Begriffen sind inzwischen zahlreiche Items konstruiert und erfolgreich getestet worden. Die vorhandene Empirie bestätigt bisher diese Theorie bzw. dieses Modell (u. a. Goll et al. 2010; Götzmann 2015; Landwehr 2017). Begriffe lernt man über die Benutzung in verschiedenen Anwendungssituationen. Zentral ist die fachlich richtige Benutzung eines Begriffs, um einen Sachverhalt zu beschreiben. Darüber hinaus werden bei derartigem konzeptuellem Lernen Netzwerke von Begriffen im Gehirn aufgebaut. Erst die Vernetzung verleiht dem Wissen Struktur und Organisation. Es wird jederzeit abrufbar (Weißeno 2018). Ziel des Unterrichts ist die gezielte Aneignung und Strukturierung von Wissen. Nur wer die Fachsprache Politik in der Schulzeit lernt, kann das politische Tagesgeschehen auf angemessenem Niveau verstehen und selbst verfolgen. Die Aufarbeitung des theoretischen Hintergrunds hat ergeben, dass die Fachsprache mit ihren Begrifflichkeiten zentral für die Lernraten ist. Das Modell der Politikkompetenz ist geeignet, die Begrifflichkeiten der Bildungspläne abzubilden. Die Schulbücher, so die Annahme, sollten die (meisten) Fachbegriffe des Modells enthalten. Der Fokus liegt allein auf der Nutzung des fachsprachlichen Inventars im Schulbuch. Damit wurde ein hinreichend begrenztes Forschungsfeld für die vorliegende Studie ausgewählt. 2. Stand der Forschung und Fragestellungen Es liegen mehrere Studien vor, die ausgewählte Schulbücher Politik nach normativen Vorgaben untersuchen. Sie vermitteln in der Summe eher ein negatives Bild. Selten dürfte das jeweils Erwünschte die Wirklichkeit darstellen (Überblick in Weißeno 2013). Systematische Studien zu Politikschulbüchern sind selten. Die umfangreiche Studie von Tatje (2017) untersucht die Bewertung und Nutzung der Schulbuchkapitel zur Europäischen Union durch Lehrkräfte und Schüler/-innen. Er erreichte 1076 Schüler/-innen und 123 Lehrkräfte. Danach lässt sich eine intensive Nutzung der Schulbücher feststellen.

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Lehrkräfte mit eher transmissiven Überzeugungen planten häufiger mit dem Schulbuch und nutzen es häufiger für Hausaufgaben. Tendenziell scheinen die Lehrkräfte mit der geringsten Nutzung eher jünger und eher weniger am Gymnasium tätig zu sein, während die Personen, die das Schulbuch sehr häufig einsetzten, fachfremd unterrichteten (S.  128). Transmissive Überzeugungen führen zu einer tendenziell positiveren Beurteilung von Aufgabenstellungen und Kompetenzorientierung, der Darstellung des politischen Systems der EU sowie der Nutzbarkeit des EU-Kapitels insgesamt. Auch die Aktualität und Korrektheit wird von den entsprechenden Lehrkräften besser bewertet. Gleichzeitig empfinden Lehrkräfte mit eher konstruktivistischen Überzeugungen die Schülerorientierung und Kompetenzorientierung negativer und finden das EU-Kapitel zudem nicht zu anspruchsvoll (S. 153). Nach dieser Studie spielen Schulbücher eine wichtige Rolle im Politikunterricht. Allerdings geben die Ergebnisse keine Hinweise zur benutzten Fachsprache. Eine Studie, die mit dem theoretischen Modell des Fachwissens die Schulbücher untersucht, liegt bereits vor (Weißeno 2013). Danach ist die durchschnittliche Häufigkeit des Auftretens des Fachvokabulars gering und somit der fachliche Ertrag niedrig. Die geringe Dichte der benutzten Fachbegriffe erschwert einen konzeptuellen Wissensaufbau. Die Vernetzung des Fachwissens fehlt. Die Schulbücher bemühen sich nicht um Fokussierung. Genauso bedenklich ist die hohe Zahl an nicht und ganz selten genannten Fachbegriffen. Aus anderen Fachdidaktiken sind weitere Ergebnisse relevant. In Biologieschulbüchern (Graf 1989a, 1989b) wurden für die Klassen 5 und 6 zwischen 1595 und 2360 Begriffe, für die Klassen 7 bis 10 von 1481 bis 3918 gezählt. Mehr als die Hälfte der Wörter wird jeweils nur ein einziges Mal benutzt. Zudem wird die Hälfte der Wörter in den oberen Jahrgangsstufen nicht mehr benutzt. In 8 Schulbüchern kommen weniger als 5 % der biologischen Begriffe übereinstimmend vor, was auf große Disparatheit hindeutet. Dies mag daran liegen, dass es in der Biologiedidaktik kein Modell eines Grundwortschatzes oder von Fachkonzepten gibt. Aufgrund einer weiteren empirischen Untersuchung mit concept maps wurde die Anzahl der Begriffe herausgefiltert, die in zwei Jahren vermittelbar sind. Es waren weniger als die Hälfte. Bei etwa 300 Biologiestunden in der Sek I können etwas mehr als 150 Begriffe gelernt werden. Aus der Physikdidaktik ist bekannt, dass eine vereinheitlichte Begriffsbildung mit reduzierter Sachstruktur wie im Karlsruher Physikkurs zu besseren Lernergebnissen im Sinne einer größeren Anzahl physikalischer Konzepte führt (Stauruschek 2002, S. 17). Eine neuere physikdidaktische Studie (Rincke 2011) untersucht neun videografierte Unterrichtsstunden zum Fachkonzept Kraft in

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Kombination mit Textaufgaben. Die Schüler/-innen benutzen die Alltags- und Fachsprache gleichzeitig. Weil beim Erlernen der Fachsprache ein Netz mit Fachbegriffen entsteht, kann Kraft nicht mehr alltagssprachlich gefasst werden. Die Fachsprache führt auch zu anderen Satzmustern. Fachinhalte und Fachsprache können nur zusammen vermittelt werden. Die Verbalisierung der Fachinhalte in der Alltagssprache gelingt Schüler/-innen nicht. Für die Lernraten durch die Mathematikschulbücher in der Grundschule (N = 1664) kommt eine aktuelle Studie zu folgendem Ergebnis: „Our study provides empirical evidence that textbook choice has a substantial effect on student achievement even when textbooks are aligned with the same curriculum“ (van den Ham und Heinze 2018, S. 139). Die Ergebnisse zur Schulbuchauswahl zeigen, dass „textbook approval regulations based on theory-based quality indicators could be an instrument to avoid that textbooks with disadvantageous effects are used in schools and lead to an improvement of overall textbook quality“ (Ebenda). Die Studien aus verschiedenen Fachdidaktiken weisen auf die Bedeutung der Schulbücher für die Lernraten hin. Ein Problem scheint die Häufigkeit der benutzten Fachbegriffe zu sein, die für den konzeptuellen Wissensaufbau entscheidend ist. Die Schulbücher unterscheiden sich dadurch in den kognitiven Anforderungen. Ob sich inzwischen an den Befunden etwas geändert hat, soll in zwei aktuell erschienenen Schulbüchern – #Politik1 (2017) und #Politik2 (2018) für Baden-Württemberg aus dem C.C. Buchner Verlag – im Vergleich zu vier bereits älteren Schulbüchern (siehe Weißeno 2013) neu untersucht werden. Zwischenzeitlich war die Umstellung des Baden-württembergischen Bildungsplans auf die Kompetenzorientierung erfolgt. Die Fragestellungen lauten: a) Wie werden die Fachbegriffe und konstituierenden Begriffe im Textvolumen benutzt? b) Welche Schwerpunkte zeigen sich in der Präferenz für einzelne Fachbegriffe und konstituierende Begriffe? 3. Ergebnisse Die Schulbücher sind danach zu beurteilen, ob sie Fachvokabular systematisch aufbauen und immer wieder verwenden. Die Fachkonzepte und dazu gehörenden konstituierenden Begriffe bilden das sprachliche Inventar ab. Nachhaltiges Lernen ist auf ständige Wiederholungen in verschiedensten Anwendungssituationen angewiesen. Die Nutzung der Fachbegriffe ermöglicht den Schüler/-innen, strukturierte und vor allem vernetzte Wissensbestände aufzubauen. Daraufhin untersucht wurden die o.g. beiden Schulbücher für die Klassen 7–8 und 9–10

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in Baden Württemberg. Das Modell des Fachwissens mit 221 Begriffen lag zugrunde. Ausgezählt wurden alle Fachkonzepte und konstituierenden Fachbegriffe in Texten, Materialien, Lernaufgaben, Überschriften, nicht in den Seiten Methoden, Grundwissen, Inhaltsverzeichnis, Serviceanhang und in sonstigen Hinweisen. Zur Überprüfung des Inventars der Fachsprache werden Häufigkeitsanalysen berechnet. Singular/Plural und Flexion wurden nicht beachtet. Zusammenfügungen (Einzelinteresse – Interesse europäischer Akteure) wurden per Hand geprüft; Verbformen (Anfrage – anfragen) blieben unberücksichtigt; Wörter in der Alltagssprache wie Verbrechen wurden nicht in die Fachsprache (Kriminalität) übersetzt. Alle weiteren, nicht im Modell enthaltenen Fachbegriffe blieben gleichfalls unberücksichtigt. Jedes Schulbuch wurde getrennt ausgewertet. Folgende Daten wurden berechnet: a) Anzahl der Fachwörterzeichen (a) b) Nennung von Fachbegriffen (b) c) Zeichenzahl aller Fachbegriffe (c) d) Gesamtzeichenzahl aller Wörter (d) e) Durchschnittliche Häufigkeit der Fachwörterzeichen (e = c:d) f) Dichte der genannten Fachwörterzeichen (f = a:d). Darüber hinaus werden die in den beiden Büchern am häufigsten genannten Fachbegriffe (Tab. 1) genannt. Hinzugefügt werden in den Tabellen die Ergebnisse von jeweils vier weiteren Schulbüchern aus der Veröffentlichung von 2013 (S. 163 ff). Einen hinreichenden Gebrauch des Fachvokabulars innerhalb von zwei Schuljahren können 41 und mehr benutzte Fachbegriffe darstellen. Die Auszählung deutet darauf hin, dass ein Fachbegriff in verschiedenen Anwendungssituationen genannt ist. Tab. 1 zeigt die Disparatheit der Fachbegriffe und die unterschiedlichen Häufigkeiten in den Schulbüchern. #Politik1 fällt aus dem Rahmen, weil es nur einen Begriff häufig verwendet. Kein anderes Schulbuch hat so wenig Fachbegriffe. #Politik1 ist zu leicht, weil es kognitiv nicht herausfordert. Es beinhaltet noch weniger Fachbegriffe als Terra für BW aus dem Jahre 2010. #Politik2 ist ein wenig besser. Hier kann lediglich das parlamentarische System fachsprachlich vertiefend erschlossen werden. Zudem sind die wenigen Begriffe fast ausschließlich auf die staatliche Ordnung gelegt. Begriffe des politischen Prozesses wie etwa Kritikfunktion, Lobbying, Manipulation, Mehrheitsprinzip etc. werden in beiden Büchern nicht benutzt. Deutlicher wird dieser Befund, wenn man die Anzahl der insgesamt nicht benutzten Fachbegriffe betrachtet. In #Politik 1 sind es 123, in #Politik2 98

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Tab. 1   Fachbegriffe, die mehr als 40 Mal (b) in den untersuchten Schulbüchern genannt sind

­achbegriffe. #Politik2 hat im Vergleich zu den anderen Schulbüchern die F wenigsten Begriffe nicht benutzt. Ungefähr die Hälfte der in der Sekundarstufe I zu erwerbenden Fachbegriffe kommt in den beiden Schulbüchern nicht vor. Hier gibt es keine große Verbesserung gegenüber den älteren Schulbüchern. Die Alltagssprache dürfte weiterhin dominieren. Vergleicht man diese Ergebnisse mit denen zu den Schülerkompetenzen, ergibt sich folgendes Bild. Die Trendanalysen für Baden-Württemberg zeigen, dass sich die Kompetenzen im vergangenen Dezennium im Politik- bzw. Gemeinschaftskundeunterricht nicht verbessert haben (Weißeno, S. 2020). In den Fächern mit nationalen Bildungsstandards ist dies anders. Hierzu passt in einer Zusammenschau der vorliegende Trend der Zufälligkeit der jeweiligen Fachsprache der Politikschulbücher, der sich gegenüber 2013 trotz des jetzt kompetenzorientierten Curriculums nicht verändert hat. Darüber hinaus wird der Befund der fachsprachlichen Zufälligkeit auch aus der Perspektive der zu geringen Umwälzung des Fachvokabulars deutlich (Tab. 2). Die Anzahl der sehr wenig genannten Fachbegriffe ist hoch. Wenn ein Fachbegriff nur ein- oder zweimal vorkommt auf ca. 200 Seiten, dann ist dies eher zufällig und beliebig, jedenfalls ohne systematisierenden Anspruch. Berücksichtigt man ferner, dass im Modell des Fachwissens lediglich 221 Fachbegriffe vorkommen und in Schulbüchern für Französisch (2. Fremdsprache bis Klasse 10) im Vergleich dazu ca. 600 Wörter neu eingeführt werden, wird der Befund

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Tab. 2   Absolute und relative Häufigkeiten der in den Schulbüchern genannten Fachbegriffe

problematisch. Mit der Fachsprache Politik kann durchaus mehr geschehen. Ein Konzeptaufbau ist dann nachhaltig erfolgreich, wenn es viele Anwendungssituationen für das jeweilige zu erwerbende Fachvokabular gibt. Insgesamt zeigen sich in der Verteilung der genannten Fachbegriffe im Vergleich zu den älteren Schulbüchern keine größeren Veränderungen. Die Hauptaufgabe des Politikunterrichts ist nicht die Vermittlung von Faktenwissen oder eines bestimmten Weltbildes, sondern die Förderung und Strukturierung konzeptuellen Wissens. Die Betrachtung der durchschnittlichen Häufigkeit (e) und der Dichte (f) des Fachvokabulars (Tab. 3) gibt Hinweise darauf, ob das Ziel mit den häufig genutzten Schulbüchern erreicht werden kann. #Politik1 und #Politik2 benutzen im Gesamttext im Schnitt etwas mehr Fachwörterzeichen als die anderen Schulbücher. Gleichwohl kann der leicht gestiegene Anteil noch nicht überzeugen. Die Zahlen zur durchschnittlichen Häufigkeit (e) des Auftretens der Fachwörterzeichen sind in allen untersuchten Schulbüchern zu gering. Dadurch ist der Wiedererkennungswert der Fachbegriffe für die Schüler/-innen kaum vorhanden. Für nachhaltigen Wissenszuwachs ist sehr viel mehr erforderlich. Ein geringes Fachvokabular kann ein Hinweis darauf sein, dass die Informationsdichte der Materialien gering ist. Der Wert der Dichte der Fachwörterzeichen (f) ist aber auch abhängig von der Gesamtzahl der benutzten

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Tab. 3   Durchschnittliche Häufigkeit (e) und Dichte des Fachvokabulars (f)

Fachwörterzeichen. #Politik1 und #Politik2 haben eine leicht höhere Dichte als die anderen Schulbücher, obwohl die benutzten Fachwörterzeichen am Gesamttext nur in #Politik2 niedriger als bei den anderen Schulbüchern sind. Die Dichte der genannten Fachwörterzeichen hat sich ganz leicht zum Positiven verändert. Aber insgesamt sind die Schulbücher weiterhin nicht anspruchsvoll genug, um eine kognitiv herausfordernde Lernsituation zu ermöglichen. Die Schulbücher stützen sich auf keine fachlich und kognitionspsychologisch abgesicherte Liste wie die des Fachwissensmodells. Materialien ohne Ansprüche in der Fachsprache sind leicht verständlich und nicht kognitiv aktivierend. Das ökonomische Interesse der Verlage, die Situation zu verbessern, wird davon abhängen, was die ­Lehrer/-innen für sich als notwendig erachten und deshalb kaufen bzw. verlangen. Ökonomischen Druck gibt es solange nicht, bis die Schuladministration die geringe Qualität des Gemeinschaftskundeunterrichts verbessern will. 4. Diskussion Die Durchsicht der neuen Schulbücher hat ergeben, dass die in Schulbüchern benutzte fachlich systematische Information sehr gering ist. Die Dichte der benutzten Fachbegriffe ist nicht überzeugend. Hierin hat sich das Schulbuchangebot seit 2008 nicht wesentlich verbessert. Weiterhin bedenklich ist die hohe Zahl an nicht und ganz selten genannten Fachbegriffen. Das konzeptuelle Lernen erfordert es, dass die Materialien nach dem Vorkommen von Fachbegriffen auszuwählen sind. Erst dann besteht die Chance, dass das Fachspracheninventar unterrichtlich genutzt wird. Schulbuch und Fachunterricht dürfen nicht in der Alltagssprache verharren. Die Schulbuchautor/-innen denken weiterhin vom Thema her, nicht vom Kompetenzaufbau. Dieser Trend ist ungebrochen und führt dazu, dass die Kompetenzorientierung weiterhin nicht im Schulbuch stattfindet. In den systematisch evaluierten Fächern wie Deutsch, Mathematik oder Naturwissenschaften ist eine Weiterentwicklung der Schulbücher bereits festzustellen.

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Der Fachsprachenerwerb ist in den Schulbüchern für Politik bisher nicht überzeugend angelegt. Die Materialien sind nicht vom fachlichen Ertrag her ausgewählt, weil das Fachvokabular vernetzend ausgebreitet und die in Schulbüchern benutzte fachlich systematische Information sehr gering sind. Dadurch sind die Schulbücher zu leicht. Die Umsetzung der Ansprüche an den kognitiv aktivierenden Kompetenzaufbau ist sicher ein Prozess, der das Verfassen von Schulbüchern am Anfang erschwert. Es ist aber keine unlösbare Aufgabe, wenn man sich in das System hineingedacht hat. Einzelne Beispiele für den Politikunterricht gibt es bereits (Breit und Weißeno 2013, 2015; Weißeno et al. 2010; Landwehr 2007). Tradierte Erfahrungswerte der Schulbuchautor/-innen scheinen bisher eine Qualitätsverbesserung zu verhindern. Die Limitationen des vorliegenden Trendberichts liegen zum einen darin, dass nur sehr wenige Schulbücher aus wenigen Bundesländern untersucht wurden. Zum anderen kann nicht direkt vom Schulbuch auf die Unterrichtswirklichkeit geschlossen werden. Der hier nicht untersuchte tatsächliche Einsatz kann entscheidend für den Kompetenzaufbau sein. Es kann lediglich festgehalten werden, dass das in den Politikbüchern angebotene Fachspracheninventar noch zu gering und unsystematisch ist, um den nachhaltigen Wissensaufbau zu fördern, der für das spätere Leben als Bürger erforderlich ist. Bisher fehlt eine Untersuchung des Unterrichtseinsatzes im Zusammenhang mit der professionellen Kompetenz von Lehrkräften. Deshalb bleibt die Beantwortung der Frage eine Blackbox, wie das Schulbuch die Leistung der Schüler/-innen beeinflusst und ob die professionelle Kompetenz die Schulbucheffekte moderiert. Das Ergebnis, dass ein Politikunterricht in einer Interventionsstudie mit dem Schulbuch zu weniger Lernerfolg führt als ein nach den Fachkonzepten angelegter (Landwehr 2017), ist nur ein erster Hinweis auf die Notwendigkeit der Qualitätsverbesserung. Zu einem vergleichbaren Ergebnis kommt eine Studie zur Schülerperzeption des Politikunterrichts, die auf die Qualitätsprobleme aufmerksam macht (Weißeno et al. 2017). Die Schulbücher sind von der empirischen politikdidaktischen Forschung als ein wichtiger Faktor für das politische Lernen anzusehen. Es gibt zu wenig Erkenntnisse über die Schulbuchauswahl und den tatsächlichen Einsatz. Schulbuchproduktion und -verwendung sollten sich indes am theoriebasierten Fachspracheninventar des Modells der Politikkompetenz und nicht an den Zufallskriterien eines Themas orientieren. Dies wäre eine Maßnahme zur Qualitätsverbesserung. Die Kompetenzorientierung macht theoriegeleitetes Vorgehen möglich und die empirischen Hinweise weisen deutlich in diese Richtung.

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Literatur Breit, G. & Weißeno, G. (2013). Entwicklung von Urteilsaufgaben im kompetenzorientierten Politikunterricht. In S. Frech & D. Richter (Hrsg.), Politische Kompetenzen fördern (S. 145–163). PID: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-56103-8 Breit, G., & Weißeno, G. (2015). Kompetenzorientierter Politikunterricht – in neun Schritten vom Modell zur Unterrichtsplanung. In S. Frech & D. Richter (Hrsg.), Politikunterricht professionell planen (S. 167–187). PID: https://nbn-resolving.org/ urn:nbn:de:0168-ssoar-67621-1 Diederich, J., & Tenorth, H.E. (1997). Theorie der Schule. Berlin: Scriptor. Götzmann, A. (2015). Entwicklung politischen Wissens in der Grundschule. https://doi. org/10.1007/978-3-658-09116-3 Goll, T., Richter, D., Weißeno, G., & Eck, V. (2010). Politisches Wissen zur Demokratie von Schüler/-innen mit und ohne Migrationshintergrund (POWIS-Studie). In G. Weißeno (Hrsg.), Bürgerrolle heute (S. 21–48). PID: https://nbn-resolving.org/ urn:nbn:de:0168-ssoar-53461-8 Graf, D. (1989a). Begriffsaufzählungen in Biologiebüchern der Sekundarstufe I. MNU, 42, 4, 231–239. Graf, D. (1989b). Begriffslernen im Biologieunterricht der Sekundarstufe I: empirische Untersuchungen und Häufigkeitsanalysen. Frankfurt: Lang. Hartmann, U. & Klieme, E. (2017). Vom wissenschaftlichen Wissen zur Wissensnutzung in der pädagogischen Praxis: Erträge der Forschung am IDeA-Zentrum. In U. Hartmann, M. Hasselhorn & A. Gold (Hrsg.), Entwicklungsverläufe verstehen – Kinder mit Bildungsrisiken wirksam fördern (S. 477–496). Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer. Landwehr, B. (2017). Partizipation, Wissen und Motivation im Politikunterricht. Eine Interventionsstudie. https://doi.org/10.1007/978-3-658-16507-9 Rincke, K. (2010). Alltagssprache, Fachsprache und ihre besonderen Bedeutungen für das lern4en. ZfDN, 16, 235–260. Rincke, K. (2011). It’s rather like learning a language. Development of talk and conceptual understanding in mechanics lessons. International Journal of Science Education, (33) 2, 229–258. https://doi.org/10.1080/09500691003615343 Starauscheck, E. (2002). Ergebnisse einer Evaluationsstudie zum Physikunterricht nach dem Karlsruher Physikkurs. Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften (ZfDN), 8, 7 – 21. Tatje, C. (2017). Die Rolle des Schulbuchs bei der Vermittlung der Europäischen Union. https://doi.org/10.1007/978-3-658-17683-9 van den Ham, A.-K. & Heinze, A. (2018). Does the textbook matter? Longitudinal effects of textbook choice on primary school students‘ achievement in mathematics. Studies in Educational Evaluation, 59, 133–140. https://doi.org/10.1016/j.stueduc.2018.07.005 Weißeno, G., Detjen, J., Juchler, I., Massing, P. & Richter, D. (2010). Konzepte der Politik – ein Kompetenzmodell. PID: http://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0111-pedocs-120091 Weißeno, G. (2013). Fachsprache in Schulbüchern für Politik/Sozialkunde – eine empirische Studie. In P. Massing & G. Weißeno (Hrsg.), Demokratischer Verfassungsstaat und Politische Bildung (S. 151–170). PID: https://nbn-resolving.org/ urn:nbn:de:0168-ssoar-61027-5

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Weißeno, G., Köhle, N., Schmidt, A., Weißeno, S., & Landwehr, B. (2017). Sind die Lernumgebungen im Politikunterricht lernförderlich? Eine Studie zu den Tiefenstrukturen. In P. Mittnik (Hrsg.), Empirische Einsichten in der Politischen Bildung (S. 9–21). PID: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-62226-4 Weißeno, G. (2018). Die politische Fachsprache im qualitätsvollen Politikunterricht. In V. Reinhardt (Hrsg.), Wirksamer Politikunterricht (S. 210–220). Baltmannsweiler: Schneider Verlag. Weisseno, G. (2019). Guter Politikunterricht – eine Zusammenschau empirischer Ergebnisse. In M. Lotz & K. Pohl (Hrsg.), Gesellschaft im Wandel (S. 187–195). Frankfurt: Wochenschau. PID: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-64391-4 Weißeno, S. (2019). Trendanalyse politisches Fachwissen: Wie haben sich die Kompetenzen zwischen 2009 und 2016 entwickelt? In G. Weißeno (Hrsg.), Politik lernen – Studien und theoretische Ansätze (S. 75–88). DOI: https://doi.org/10.1007/9783-658-27896-0_6 Wygotski, L.S. (1979). Denken und Sprechen. Frankfurt/M.: Fischer Verlag.

political framing – Alter Wein in neuen Schläuchen oder echtes Novum? Marc Partetzke

Zusammenfassung

Nicht zuletzt angesichts der derzeitigen Popularität des Themas political framing geht der Beitrag der Frage nach, ob es sich dabei wirklich um ein neues Konzept handelt oder nicht doch eher um ein wiederentdecktes Phänomen. Besprochen werden in diesem Zusammenhang auch die Fragen, a) was frames überhaupt sind, b) worum es sich beim framing recht eigentlich handelt, c) warum überhaupt geframed wird und d) ob und – falls ja – welche Konsequenzen sich daraus für Politikwissenschaft, Politikdidaktik und Politische Bildung ergeben. Im Rahmen dieser Besprechung wird sich des Themas auch und insbesondere aus einer kognitionswissenschaftlichen bzw. -linguistischen Perspektive angenähert.

1 Einleitung Spätestens seit der medialen Berichterstattung über das sog., von netzpolitik.org geleakte ARD Framing-Manual (siehe Onlinequelle 1) stehen sowohl die Begriffe frame und political framing als auch die mit ihnen vermeintlich untrennbar verbundene Autorin, Elisabeth Wehling, im Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit (siehe hierzu beispielhaft die Onlinequellen 1–5). Ja, es scheint geradezu so zu M. Partetzke (*)  Stiftung Universität Hildesheim, Hildesheim, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Juchler (Hrsg.), Politik und Sprache, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30305-1_12

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sein, als ob schier nichts mehr ohne frames und framing möglich ist, redet sich nach Wehling (2016) doch eine ganze Nation ihr Denken ein und macht daraus dann auch noch Politik (so jedenfalls der Untertitel ihres Buches). Angesichts dieser enormen Popularität – sowohl von Konzept als auch von Autorin – möchte ich in diesem Beitrag insbesondere der bereits im Titel formulierten Frage nachgehen. Von Interesse ist damit auch, was frames überhaupt sind (Kap. 2), worum es sich beim framing handelt (Kap. 3), warum überhaupt geframed wird (Kap. 4) und ob und – falls ja – welche Konsequenzen sich daraus ggf. für Politikdidaktik und Politische Bildung ergeben (Kap. 5). Erwähnenswert ist, dass ich bei dem Versuch der Beantwortung all‘ dieser Fragen insbesondere aus einer kognitionslinguistischen Perspektive heraus argumentiere, was – hoffentlich – den mitunter in der Politikdidaktik und Politischen Bildung recht ungewohnten Sprachduktus erklärt.

2 frames – eine Begriffsbestimmung Laut Elisabeth Wehling und ihrem Doktorvater, George Lakoff, zufolge handelt es sich bei frames um Deutungsmuster bzw. Rahmen, „die unser generelles Verständnis von der Welt strukturieren […] und die für uns schlicht wahr sind“ (Lakoff und Wehling 2008, S. 73). Mit dieser Definition einher geht die – empirisch bislang allerdings ungeprüfte – Grundannahme der framing-Forschung, dass es „weniger die Fakten und Informationen [sind], die politische Diskurse und Einstellungen prägen, sondern die Frames, in die politische Themen eingebettet sind“ (Peyer 2018, S. 90). Verwiesen wird damit m. E. zunächst einmal auf die Frage, wie unser (Welt-)Wissen überhaupt mental repräsentiert ist. Freilich kann auf diese Frage keine empirisch befriedigende Antwort gegeben werden, immerhin bewegt man sich mit ihr in einem erkenntnistheoretischen Problemkreis. Die weithin geteilte „Kernannahme“ innerhalb der Kognitionsforschung und auch der Kognitiven Linguistik ist aber die, dass es sog. Konzepte sind, die „die elementaren Einheiten unserer strukturellen Kognition“ darstellten und in denen – als Einheiten in unserem Langzeitgedächtnis (LZG) – unser Wissen über die Welt gespeichert ist (Schwarz 1996, S. 87). Diese, auch als „semantische Lexikoneinträge“ (Schwarz 2000, S. 31) bezeichneten Einheiten lassen sich wiederum in sog. Type- und Tokenkonzepte unterscheiden; m. a. W.: Es existiert stets sowohl eine abstrakte, vom jeweiligen Kontext unabhängige Bedeutung (Prototyp) als auch eine jeweils kontextspezifische

political framing – Alter Wein in neuen …

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Abb. 1   Type- und Tokenkonzepte nach Labov (1973) am Beispiel des Wortes „Glas“ © Partetzke

Äußerungsbedeutung eines jeden Wortes. Nur deshalb begreifen wir etwa, was gemeint ist, wenn uns bei einem Abendessen eine Freundin darum bittet, ihr ein bestimmtes Glas zu reichen, auch wenn Gestalt und Form dieses Glases nicht mit unserer prototypischen mentalen Repräsentation eines Glases übereinstimmen (siehe Abb. 1). Im Übrigen wird anhand dieses Beispiels auch deutlich, was passiert, wenn wir sprechen/schreiben: Mittels eines sprachlichen Zeichens nehmen wir – metasprachliche Äußerungen ausgenommen – auf ein außersprachliches Phänomen Bezug (dieser Prozess wird i. d. R. als sog. Referentialisierung bezeichnet; dazu siehe auch Abschn. 3.2). Damit eine solche sprachliche Äußerung vom Gegenüber verstanden werden kann, muss diese wiederum mindestens kohäsiv und kohärent sein – sie muss also einerseits einen Oberflächenzusammenhang aufweisen, der über grammatikalische Verknüpfungsmittel hergestellt wird (Kohäsion), und es muss andererseits ein semantisch-inhaltlicher Zusammenhang zwischen den einzelnen Teilen einer solchen Äußerung bestehen (Kohärenz; Schwarz 2001, S. 151 ff.; zu diesen und anderen sog. Textualitätskriterien siehe insb. Beaugrande und Dressler 1981). Da nun aber bei keiner sprachlichen Äußerung wirklich alles expliziert, also wirklich jeder einzelne Textweltreferent erwähnt wird (siehe dazu Abschn. 3.2), weist jede dieser Äußerungen

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sog. referentielle Unterspezifikationen auf, die wir beim Textverstehen – freilich in Abhängigkeit von dem in unserem Langzeitgedächtnis gespeicherten enzyklopädischen Wissen – inferieren können (Schwarz 2006, S. 64). Wichtig zu erwähnen ist außerdem, dass Konzepte gewöhnlich nicht isoliert voneinander stehen, sondern stattdessen „durch verschiedene Relationen mit anderen Konzepten verknüpft [sind]. Die interkonzeptuellen Beziehungen stellen kognitive Strukturen dar, die Zusammenhänge eines Realitätsbereichs repräsentieren“ (Schwarz 1996, S. 91).1 Entscheidend für unseren Zusammenhang ist nun, dass mehrere Konzepte, die verschiedene „Aspekte von Realitätsbereichen kohärent abbilden“ (ebd.), in den Kognitionswissenschaften zumeist zwar als sog. Schemata bezeichnet werden (hierzu zuerst Bartlett 1932), völlig geläufige Synonyme aber etwa auch „Rezepte (Wettler 1980), Orientierungsbereiche (Klix 1980), Skripts oder Szenarios (Sanford/Garrod 1981)“ oder aber eben „Frames bzw. Rahmen“ (Minsky 1977) sind (Schwarz 1996, S. 91 f.; dort nicht hervorg.). Als ein erster Hinweis darauf, wie neu die Rede von frames und framing tatsächlich ist, mag dies zunächst genügen. Interessanter scheint mir – jedenfalls vorerst – ein anderer Aspekt zu sein. So stellen Schemata nicht nur. „komplexe Wissensstrukturen dar, welche die Erfahrungen repräsentieren, die ein Mensch im Laufe seines Lebens macht“ (ebd., S. 92), gleichzeitig sind sie auch „Voraussetzungen und (aufgrund ihrer potentiellen Veränderbarkeit durch neue Erfahrungswerte) […] Ergebnis aller Informationsverarbeitungsprozesse. […] Sie werden in Form von Netzwerken dargestellt, wobei die konzeptuellen Einheiten als Variablen bzw. Slots (die allgemeine stereotypische Charakteristika – Defaults – aufweisen) konzipiert sind. Die Variablen werden in Verstehensprozessen mit konkreten Werten (Fillers) besetzt“ (ebd.).

Dieser Aspekt ist freilich alles andere als trivial, ergeben sich aus ihm doch mindestens drei zentrale Schlussfolgerungen:

1Denkt

man an das o.g. ­Glas-Beispiel zurück, so stehen mit dem Konzept Glas also bspw. die Konzepte trinken, Flüssigkeit, Tasse, Teller, Messer, Gabel usw. in Verbindung.

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1. Man kann offenbar nicht nur nicht kommunizieren (Watzlawick 2015), sondern auch nie wirklich neutral, da Schemata i. d. R. eine emotionale Valenz aufweisen.2 So zu tun, als gäbe es auf der einen Seite die reine Information (also eine Art objektive Bedeutung) und auf der anderen Seite einen Rahmen, durch den erst perspektiviert, fokussiert, gedeutet usw. wird, ist also reichlich absurd. 2. Medien schlicht als Informationsträger zu bezeichnen und damit zu suggerieren, materielle Manifestationen von Bedeutungsinhalten ließen sich zwischen zwei oder mehreren Kommunikationspartner(inne)n durch eine Art ›Container‹ übermitteln, ist zumindest einfältig (siehe dazu Burkart 2002, S. 35 f.). 3. Dass Kommunikation als Akt der Bedeutungsver(nicht -über-)mittlung funktioniert, ist im Grunde ziemlich bemerkenswert (stellvertretend für die Vertreter*innen der sog. Skeptischen Hermeneutik, die ja gerade das ­Nicht-Verstehen als default-Fall setzen, siehe Hunfeld 2004).

3 framing 3.1 Was ist framing? Will man sich nun dem Begriff framing nähern, so ist dafür zunächst ein tentativer Zugang hilfreich. Ausgehend davon, dass das Suffix -ing (dt.: -ung) eine Prozesshaftigkeit anzeigt (schließlich handelt es sich um ein Substantivierungsmittel), handelt es sich beim framing offenbar um einen Prozess, der wiederum entweder

2Hierzu

abermals pointiert Schwarz-Friesel (2007, S. 32): Eine „sprachliche Darstellungsrepräsentation vermittelt über den referenziellen Wert hinaus emotionale Bewertungen und kognitive Fokussierungen. Jede sprachliche Darstellung eines außersprachlichen Sachverhalts enthält somit immer eine Perspektive, eine Deutung, eine bestimmte Stellungnahme, die sich explizit oder implizit über die jeweiligen Lexeme und ihre syntaktische Anordnung ausdrückt. Somit erzeugen sprachliche Äußerungen eigene Textwelten und jeder Text spiegelt eine eigene konzeptuelle Textwelt wider. Die Sprache hat also neben der realitätsabbildenden Funktion auch eine realitätskonstituierende Rolle.“

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(a) auf Sprachrezipient(inn)en- oder aber (b) auf -produzent(inn)enseite stattfinden kann. Bei den Rezipient(inn)en könnte damit die Aktivierung bestimmter Konzepte/Schemata aufgrund von etwas Gehörtem/Gelesenem gemeint sein, bei den Produzent(inn)en entweder (b.1) eine ›normale‹ Begleiterscheinung der allgemeinen Sprachproduktion (wenn wir sprechen/schreiben, erzeugen wir ja immer schon ein Schemataaktivierungspotential bei unseren Hörer(inne) n/Leser(inne)n) oder aber (b.2) ein strategisch eingesetztes Kommunikationsmittel. Freilich folgt Wehling (2016) – und mit ihr viele andere – diesem letzten Verständnis, was weder sonderlich originell noch wirklich neu ist, denn dass Sprechen/Schreiben mehr ist als die ›bloße‹ Bedeutungsvermittlung zwischen zwei oder mehreren Individuen, wissen wir ja bereits seit der antiken Rhetorik,3 spätestens aber seit der sog. Sprechakttheorie (siehe dazu insb. Austin 1962; Searle 1969u. Grice 1975).4

3.2 Paradigmen der framing-Forschung ›Die‹ framing-Forschung gibt es nicht, wohl aber eine im Wesentlichen gemeinsam geteilte Frage, nämlich: „welche Blickwinkel und Argumente hervorgehoben und welche vernachlässigt werden; und damit auch (…), welche Perspektiven sich in öffentlichen Diskursen letztlich durchsetzen“ (Peyer 2018, S. 90). Unterschiede existieren wiederum v. a. hinsichtlich der Frage, „wer oder was den entscheidenden Faktor im Prozess der Frameproduktion darstellt“ (ebd., S. 95; dort nicht hervorg.), wobei sich diesbezüglich drei Paradigmen ausfindig machen lassen (D’Angelo 2002, S. 875 ff.; Peyer 2018, S. 94 ff.). Beim kognitiven Paradigma (I.) werden insbesondere die Rezipient(inn)en in den Fokus gerückt. Hier interessieren also v. a. individuelle Informationsverarbeitungsprozesse sowie „die Entstehung und Wirkung von Frames auf neuronaler bzw. psychologischer Ebene“ (ebd., S. 96). Innerhalb des kritischen Paradigmas (II.)

3Gemäß

den sog. officia oratoris geht es bei der Rede immer um docere et probare, conciliare et delectare sowie um flectere et movere. Dazu Cicero (2, 116): „Ita omnis ratio dicendi tribus ad persuadendum rebus est nixa: ut probemus vera esse, quae defendimus; ut conciliemus eos nobis, qui audiunt; ut animos eorum, ad quemcumque causa postulabit motum, vocemus.“ 4Danach lassen sich Sprechakte unterscheiden in a) Assertiva, b) Direktiva, c) Kommissiva, d) Expressiva sowie e) Deklarativa.

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werden Frames wiederum „in erster Linie als das Resultat der Informationsverarbeitung von Journalistinnen und Journalisten verstanden. Forschungsleitende Grundannahme ist hier, dass jene Frames, die die Nachrichten und die öffentliche Berichterstattung beherrschen, auch den Diskurs des Publikums dominieren“ (ebd., S. 95). Das konstruktivistische Paradigma (III.) schließlich ist eine Art ›Mittelweg‹ zwischen den beiden vorangegangenen, da es in Rechnung stellt, dass stets eine Interaktion zwischen Medien und Öffentlichkeit stattfindet (ebd., S. 95 f.). Freilich ist dieses Paradigma das aufgeklärteste, zumal, wenn man sich ins Bewusstsein ruft, was aus linguistischer Perspektive beim Textverstehen passiert (grundlegend hierzu Schwarz 2000, 2000a sowie Schwarz-Friesel 2007, S. 31 ff.). Textverstehen So ist ein Text nicht nur eine „kommunikative Okkurrenz“ (Beaugrande und Dressler 1981, S. 3), die bestimmte Kriterien erfüllen muss (siehe dafür ebd.), sondern setzt sich i. d. R. aus mehreren Sätzen zusammen, die eine grammatikalische Struktur aufweisen und „denen bestimmte semantische Repräsentationen (die als Propositionen beschreibbar sind) zugeordnet werden können“ (Schwarz 2000, S.  28). Diese Propositionen wiederum beziehen sich „auf bestimmte referentielle Sachverhalte“ (ebd.; siehe oben: Referentialisierung). Textverstehen ist demnach ein hochkomplexer Prozess, schließlich erstellt ein Rezipient „auf der Basis des Textes T eine mentale Struktur S, indem er Informationen von T mit Informationen aus seinem Gedächtnis G so verbindet, daß ein Modell der in T dargestellten Welt entsteht. S ist das Textweltmodell (TWM)“ (ebd., S. 41). Mithin finden beim Textverstehen stets bottom-up- (vom Text zum Kopf) und top-down-Prozesse (vom Kopf zum Text) statt (siehe Abb. 2) Schlussfolgern lässt sich daraus nun wiederum erneut wenigstens dreierlei: 1. In aller Regel ist ein Textweltmodell „weitaus komplexer und informativer als die textsemantische Propositionsbasis“ (ebd., S. 45). 2. Es existiert ein fundamentaler Unterschied zwischen Kohärenz (Verstehen) und Textsinn (Interpretieren), auf den insbesondere Monika Schwarz (2006) hinweist. 3. Lineare Modelle, wie sie etwa im o. g. kritischen Paradigma entworfen werden, oder – schlimmer noch – reißerische Formulierungen wie die, dass man sich selbst oder jemand anderes einem das Denken einredet, sind aus kognitionslinguistischer Perspektive zumindest reichlich uninformiert.

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Abb. 2   Textverstehen aus kognitionslinguistischer Perspektive. (Quelle: eigene Darstellung nach Schwarz 2000, S. 46)

So verwundert es denn auch nicht wirklich, dass innerhalb der ­framing-Forschung ein ziemlicher Wildwuchs an unterschiedlichen Verständnissen, Perspektiven, Zugriffen usw. existiert, den Lisa Peyer (2018, S. 97) – unter Bezugnahme auf Bertram Scheufele (2004) – wie folgt zu systematisieren versucht: Hinsichtlich der Untersuchungsebene kann die framing-Forschung danach unterschieden werden, ob sie sich „1. auf das politische System und seine Akteure, 2. auf das Mediensystem und seine Akteure oder 3. auf Rezipienten und die Öffentlichkeit“ fokussiert (Peyer 2018, S. 97). Hinsichtlich der Verständnisebene wiederum können frames – wie weiter oben bereits angedeutet – untersucht werden „1. als kognitive Strukturen und Prozesse, 2. als Prozesse öffentlicher Diskurse oder 3. als Produkte von Diskursen (Zeitungsartikel, Pressemitteilungen usw.)“, wobei zudem unterschiedliche Forschungsansätze in Rechnung gestellt werden müssen (ebd.). Als besonders ungünstig nimmt sich dabei freilich aus, dass multiparadigmatische Ansätze und/oder komplexere Modelle nach wie vor auf sich warten lassen (ebd., S. 98).

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4 political framing – warum? Will man nun die Frage beantworten, warum politisch geframed wird, so geht dies eingedenk der bisherigen Ausführungen nicht ohne gewisse Einschränkungen bzw. Präzisierungen. Wenn ich im Folgenden von political framing spreche, dann verstehe ich framing a) als ein strategisch eingesetztes Kommunikationsmittel, lege b) den Fokus primär auf die Produzent(inn)enseite (also politische Akteure und Akteure des Mediensystems) und konzentriere mich c) auf die Ebene der Prozesse und Produkte öffentlicher Diskurse. Erst auf dieser Folie lässt sich dann konstatieren, dass es denjenigen Akteuren, die politisch framen, offenbar darum geht, mittels ihres Sprachgebrauchs (Wortwahl, syntaktische Verknüpfungen, rhetorische Mittel wie Methapern usw.) bestimmte Perspektiven, Foki, Bewertungen usw. hervorzuheben und andere entsprechend zu vernachlässigen und damit gezielt Einfluss auf Diskurse zu nehmen – mitunter auch, manche Diskurse überhaupt erst zu etablieren und andere möglichst zu vermeiden. Wer hier eine Nähe zur antiken Rhetorik vermutet, der liegt freilich ganz richtig, handelt es sich damit – linguistisch formuliert – beim framing doch um nichts anderes als um ein suggestives Verfahren der Absicherung von Bewertungen, mit denen uns Josef Klein (1994) längst vertraut gemacht hat.5 Erinnert sei in diesem Zusammenhang übrigens auch an die von Gerhard Mahler und Kurt Biedenkopf bereits 1974 einberufene Projektgruppe Semantik und den von Biedenkopf – freilich auch nicht zuerst – gegebenen Hinweis, Sprache sei ein wichtiges strategisches Mittel in der politischen Auseinandersetzung (Onlinequelle 6). Im Übrigen wird spätestens jetzt auch deutlich, in welchen genuin politikwissenschaftlichen Kontext sich die gesamte framing-Thematik ohne Weiteres einbetten lässt: den der Politischen Kultur bzw. den ihrer Erforschung (grundlegend dazu Pickel und Pickel 2006). So versteht bspw. Karl Rohe – anders als die Begründer dieses Konzepts, Gabriel Almond und Sidney Verba (1965), – unter Politischer Kultur nicht etwa ein Verteilungsmuster politischer Orientierungen innerhalb einer Gesellschaft, aus dem Almond/Verba drei prototypische, über die (In-)Stabilität eines politischen Systems Aussagen ermöglichende Beziehungsstrukturen zwischen den Bürger(inne)n eines Landes und

5Absichern

wird von Klein (1994, S. 3) als ein Verfahren verstanden, um die Akzeptanz der von den Produzent(inn)en bewusst und strategisch vollzogenen Perspektivierungen, Fokussierungen, Deutungen usw. bei den Rezipient(inn)en zu fördern.

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ihrem politischen System ableiten (Partetzke 2017sowie Partetzke i.E.), sondern stattdessen die hinter diesen Orientierungen liegenden „Grundannahmen“ der Bürger*innen „über die politische Welt“ (Rohe 1994, S. 1). Diese Annahmen beinhalten nach Rohe (1987, S. 39) fundamentale Vorstellungen „über die Welt der Politik und damit verknüpfte operative Normen […], die sich insgesamt als das mit spezifischem Sinn gefüllte ideelle Design eines Kollektivs für sein politisches Leben begreifen lassen.“ Relevant ist zudem der von Rohe (1994, S. 7) betonte, „subjektive und objektive Doppelcharakter“ politischer Kultur. Danach hat diese nicht nur eine „Inhalts-“, sondern stets auch eine „Ausdrucksseite“ (ebd.). Neben der „politischen Soziokultur“ (ebd., S. 8; dort nicht hervorg.), die gewissermaßen den politischen Alltag darstellt, existiert also noch eine weitere Dimension, die Rohe „politische Deutungskultur“ (ebd.; dort nicht hervorg.) nennt. Diese „ist gleichsam eine […] Metakultur, deren Funktion nicht zuletzt darin besteht, die auf der Ebene der Soziokultur gespeicherten, mehr oder minder unbewußten Denk-, Rede- und Handlungsgewohnheiten zu thematisieren“ (ebd.). Insofern stellt diese Dimension die Sinn- und Deutungsangebote mal mehr, mal weniger professionalisierter Sinnproduzenten bzw. -interpreten dar, die das auf der Ebene der politischen Soziokultur nicht Diskutierte zum Inhalt haben. Allerdings – und dies ist von entscheidender Bedeutung – ist „politische Soziokultur […] niemals nur gesunkene politische Deutungskultur“ (Rohe 1987, S. 43), sondern stets „das kollektive Ergebnis von Prozessen, an denen viele mitgewirkt haben“ (Rohe 1994, S. 9; siehe Abb. 3). Da nun – wie auch Abb. 3 verdeutlicht – ›die‹ Elite als ein wie auch immer geartetes homogenes Kollektiv nicht existiert, sondern stattdessen eine Vielzahl an unterschiedlichen, mehr oder minder professionellen Sinnproduzenten und -interpreten, die zudem mit ganz unterschiedlichen Durchsetzungspotenzialen ihrer jeweiligen Sinn- und Deutungsangebote ausgestattet sind, stellt die politische Öffentlichkeit mithin zweifellos „eine Arena dar, in der die politischen Kommunikatoren um die Deutungshoheit ihrer Perspektiven kämpfen (müssen)“ (Peyer 2018, S. 90).6 Ob man nun aber gleich so weit gehen muss zu konstatieren, diese Kommunikatoren würden sich deshalb in „andauernden ›framing wars‹“ (ebd.) befinden, sei an dieser Stelle dahingestellt. Fest steht jedenfalls abermals, dass sich in der ganzen Debatte um frames und political framing i.e.S. nichts wirklich Neues, schon gar nichts Innovatives, finden lässt. Aus meiner

6Als Beispiele mögen hier das Gute-KiTa-Gesetz, die Respekt-Rente oder etwa die Obergrenze genügen.

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Abb. 3   Politische Kultur nach Karl Rohe. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Deichmann 2004, S. 157)

Sicht liegen Wehlings (2016) Leistungen daher zum einen v. a. in der ReSensibilisierung für dieses Thema und zum anderen in den Hinweisen auf seine zahlreichen (politischen) Implikationen.

5 Schlussfolgerungen Bevor ich nun im Folgenden aus dem bislang Dargelegten Konsequenzen für Politikdidaktik und Politische Bildung formuliere, seien mir – wenigstens schlaglichtartig – einige andere gestattet. Wünschenswert wäre (1.) angesichts des o.g. Wildwuchses auf der einen und der Tatsache, dass man framing durchaus als ein „wissenschaftliche[s] Brückenkonzept“ (Peyer 2018, S. 98) begreifen kann, auf der anderen Seite die Etablierung interdisziplinärer Forschungsverbünde, mindestens aber der Anschub entsprechender Forschungsprojekte. Die Existenz der wenigen Lehrstühle/Professuren für Politolinguistik (auch als Teil der

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Denomination) bspw., die überwiegend der Allgemeinen Linguistik und damit sprachwissenschaftlichen Instituten zugeordnet werden, oder aber der ­DVPW-Arbeitskreis Politik und Kultur, in dem sich auch Kolleg(inn)en finden, die zu der hier zur Disposition stehenden Thematik forschen, allein (und jeweils für sich genommen) vermag die o.g. Forschungslücke bezüglich der multiparadigmatischen Ansätze und komplexeren Modelle jedenfalls aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zu schließen. (2.) Innerhalb der Politikwissenschaft bzw. der politischen Soziologie wären noch deutlich mehr Studien wünschenswert, die sich in Anschluss an Karl Rohe und dessen Nachfolge durch Andreas Dörner (siehe bspw. Dörner und Rohe 1991) jenseits der gängigen Umfrageforschung dem Erfassen politischer Weltbilder und deren Entstehung und Veränderung widmen. (3.) Ebenfalls innerhalb der Politikwissenschaft ergibt sich für die empirische Wahlforschung die Konsequenz, über alternative Modellierungen des Wähler*innenverhaltens nachzudenken, illustriert doch bspw. Peyer (2018, S. 104 ff.) die Anschlussfähigkeit des framing-Konzepts für diesen Forschungszweig nachdrücklich. Eng damit verbunden wäre (5.), dass auch innerhalb der Politikwissenschaft (wie auch in der Politikdidaktik) der mehrere Jahrhunderte alte Dualismus von Kognition und Emotion noch weiter aufgebrochen wird. Zwar existieren diesbezüglich inzwischen durchaus einige Forschungsprojekte und Publikationen (siehe dazu u. a. Korte 2015; Prell und Prell 2015; Weber 2016; Breit 2016; Schröder 2020), insgesamt ist jedoch zu konstatieren, dass Politikwissenschaft und -didaktik die sog. emotionale Wende, die sich in anderen Disziplinen deutlich früher niedergeschlagen hat (dazu bspw. Damasio 1994, 2000 o. Schwarz-Friesel 2007), lange Zeit schlicht verschlafen und/oder einfach ignoriert haben. Schließlich wäre (6.) – auch im Lichte durchaus komplexer Medienkompetenzmodelle (siehe dazu Baacke u. a. 1999 sowie Treumann u. a. 2007) – dringend über eine Erweiterung der sozialwissenschaftlichen Analysekompetenz als einer der zentralen Kompetenzen unserer Domäne (siehe hierzu May 2007) im Sinne einer Text- und Medienkompetenz nachzudenken (dazu ausführlicher Partetzke 2016). Hiernach sollten Lernende beim Lesen7 eines Textes erfassen, dass … • ein ihnen vorliegender Text von (mind.) einer bestimmten Person verfasst worden ist, • diese Person mit dem Verfassen dieses Textes eine bestimmte Intention verfolgt hat, nach der es zu fragen gilt,

7Gilt

freilich auch für das gesprochene Wort.

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• diese Intention durch den Einsatz unterschiedlicher Strategien (z.  B. argumentativer, persuasiver) zu stützen versucht werden kann und man sich dieser Strategien deshalb gewahr werden muss, • Intention und Verfassen eines Textes an institutionelle Rahmenbedingungen geknüpft gewesen sind, innerhalb derer bestimmte Logiken, Ziele und Strategien existiert haben, die es sich bewusst zu machen gilt,8 • ein Text über eine eigene Produktionsgeschichte verfügt, er also in einem spezifisch historischen, politischen, gesellschaftlichen sowie kulturellen Kontext produziert worden ist, dieser Kontext Einfluss auf die Produktion genommen hat und der deshalb aufzudecken ist (vergangene ›Bedeutsamkeit‹), • durch die Eigenschaften der Sprache und deren spezifische Verwendung stets Perspektivierungen, Fokussierungen und damit Wertungen entstehen, die offenzulegen sind, • sie die Adressat(inn)en eines Textes und der darin enthaltenen Informationen sind, • auch ihre Rezeption in einem spezifischen Kontext stattfindet, den es sich bewusst zu machen gilt (gegenwärtige ›Bedeutsamkeit‹), • sie als Adressat(inn)en – nicht zuletzt auch aufgrund dieses Kontextes – immer schon ein bestimmtes Vorwissen, bestimmte Prägungen, aber auch eine Vielzahl von Erwartungen, an die Rezeption eines Textes anlegen und damit Aspekte, die die Textrezeption entscheidend beeinflussen, • sie (deshalb) an der Etablierung eines Textweltmodells aktiv beteiligt sind und darüber hinaus ebenso aktiv versuchen, „die Intention des Textproduzenten bzw. den übergeordneten Textsinn zu rekonstruieren“ (Schwarz-Friesel 2007, S. 34) und sie schließlich • bei diesem Versuch maßgeblich von den eingesetzten Strategien des/der Textproduzent(inn)en sowie den o.g. Perspektivierungen, Fokussierungen, Wertungen usw. beeinflusst werden (sollen). Bezüglich der im Titel dieses Beitrags aufgeworfenen Frage bleibt damit insgesamt festzuhalten, dass es sich beim (political) framing um ziemlich alten Wein

8An

dieser Stelle greift auch die sog. Medienkritik als eine der vier Dimensionen des Medienkompetenzmodells Treumanns u. a. (2007, S. 33), also die Fähigkeit, sich analytisch, ethisch und reflexiv auf Medien beziehen zu können oder in den Worten der Autor(inn)en: die „Logik, Ziele und Strategien des Mediensystems zu erkennen, (…) eigene Position in diesem System und (…) eigenes Medienhandeln reflexiv einzuschätzen (…) sowie (…) normative Standards (…) zu entwickeln.“

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in gar nicht mal so neuen Schläuchen handelt. Einen Beitrag zum Nachdenken über seine z. T. weitreichenden Implikationen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen hat seine Wiederentdeckung aber in jedem Fall geleistet.

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Politisches Framing — sprachbezogene Kompetenzentwicklung im Politikunterricht Max Droll

Zusammenfassung

Eine relevante und höchst aktuelle Überschneidung fachübergreifender und fachspezifischer sprachlicher Phänomene hat Elisabeth Wehling mit ihrem 2016 erschienenen Buch „Politisches Framing“ einer breiten Öffentlichkeit, die weit über fachwissenschaftliche Kreise hinaus geht, dargelegt. Wehling erläutert darin an zahlreichen Beispielen, dass in politischen Debatten und für ihre Wirkung nicht zuerst die vorgetragenen Fakten entscheidend sind, sondern gedankliche Deutungsrahmen — in den Kognitionswissenschaften Frames genannt — die den Fakten eine Bedeutung verleihen. Informationen werden demnach in Relation zu Erfahrungen und Vorwissen als relevant oder irrelevant eingeordnet sowie durch Frames bewertet und interpretiert. Dadurch beeinflussen Frames — häufig unbewusst — Denken und Handeln. (Wehling, S. 17 ff.) Eine Auseinandersetzung mit den von Wehling dargelegten Erkenntnissen im Rahmen des Politikunterrichts ermöglicht die Entwicklung und Förderung von sprachlicher und fachlicher Kompetenz. Dieser Beitrag fasst die von Wehling dargelegten Erkenntnisse zusammen und erläutert das didaktische Potenzial des Themas Politisches Framing anhand kompetenzbezogener Aufgaben für den Politikunterricht.

M. Droll (*)  Universität Potsdam, Potsdam, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Juchler (Hrsg.), Politik und Sprache, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30305-1_13

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1 Einleitung Sprachbezogene Kompetenzentwicklung wird durch die Kultusministerkonferenz der Länder als „sprachliche Bildung in fachlichen Kontexten“ (KMK 2019) und somit als eine Aufgabe aller Schulfächer angesehen. Der für einen exemplarischen Bezug herangezogene gemeinsame Rahmenlehrplan der Bundesländer Berlin und Brandenburg konkretisiert diese fächerübergreifende Aufgabe im Basiscurriculum Sprachbildung: „Im Unterricht findet fachliches Lernen im Wesentlichen durch sprachliches Handeln statt. Sachverhalte und Zusammenhänge werden primär durch Sprache angeeignet. […] Sprachkompetenz entwickelt sich in der gesamten Schulzeit in erster Linie in den vier Fertigkeiten verstehendes Hören und Lesen sowie Sprechen und Schreiben. […] Jeder Unterricht trägt dazu bei, die bildungssprachlichen Kompetenzen aufzubauen. […] Die fachübergreifenden und die fachspezifischen sprachlichen Kompetenzen ergänzen einander.“ (MBJS 2017a, S. 4) Die gezielte Entwicklung sprachbezogener Kompetenzen im Unterrichtsfach Politische Bildung oder einem entsprechenden Fach mit anderer Bezeichnung ist demnach nicht nur legitim sondern wird explizit gefordert. Eine relevante und höchst aktuelle Überschneidung fachübergreifender und fachspezifischer sprachlicher Phänomene hat Elisabeth Wehling mit ihrem 2016 erschienenen Buch „Politisches Framing“ einer breiten Öffentlichkeit, die auch auf Grund einer Publikation des Buchs durch die Bundeszentrale für politische Bildung weit über fachwissenschaftliche Kreise hinaus geht, dargelegt. Wehling erläutert darin an zahlreichen Beispielen, dass in politischen Debatten und für ihre Wirkung nicht zuerst die vorgetragenen Fakten entscheidend sind, sondern gedankliche Deutungsrahmen — in den Kognitionswissenschaften Frames genannt — die den Fakten eine Bedeutung verleihen. Informationen werden demnach in Relation zu Erfahrungen und Vorwissen als relevant oder irrelevant eingeordnet sowie durch Frames bewertet und interpretiert. Dadurch beeinflussen Frames — häufig unbewusst — Denken und Handeln. (Wehling, S. 17 ff.) Eine Auseinandersetzung mit den von Wehling dargelegten Erkenntnissen im Rahmen des Politikunterrichts ist eine Möglichkeit die Forderungen der KMK und des Rahmenlehrplans Berlin-Brandenburg bzw. der Rahmenlehrpläne anderer Bundesländer zur Sprachbildung in der Praxis umzusetzen. Der vorliegende Beitrag fasst die von Wehling dargelegten Erkenntnisse zum Einfluss des Framing auf die Bedeutung von Worten, auf die Informationsaufnahme sowie auf politische Urteilsbildung und daraus resultierende Entscheidungen zusammen. Daran anschließend zeigt er das didaktische Potenzial

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des Themas Politisches Framing für die Entwicklung sprachbezogener Kompetenzen im Politikunterricht auf. Dabei werden die Kompetenzmodelle Sprachbildung und Politische Bildung, wie sie exemplarisch im gemeinsamen Rahmenlehrplan der Länder Berlin und Brandenburg dargestellt sind, zusammenhängend betrachtet und darauf bezogene Möglichkeiten zur unterrichtspraktischen Umsetzung aufgezeigt.

2 Theoretische Erkenntnisse und praktische Relevanz Gelesene und gehörte Worte simulieren nicht nur das unmittelbare Konzept, sondern auch noch weitere Konzepte. Um Worte und Ideen zu begreifen aktiviert das Gehirn einen Deutungsrahmen bzw. Frame. Inhalt und Struktur eines Frames — die Frame-Semantik — ergeben sich aus Erfahrungen und Wissen. Erfahrungen, die gleichzeitig bzw. gemeinsam auftreten, werden als Teile eines Frames abgespeichert. Zur Verdeutlichung dieses Phänomens verweist Wehling auf ein Experiment (Brans-Ford und Johnson 1972) zur frame-basierten Sprachverarbeitung. Dabei las Gruppe 1: „John wollte das Vogelhaus reparieren. Er schlug auf den Nagel, als sein Vater hinzukam.“ Gruppe 2 las: „John wollte das Vogelhaus reparieren. Er suchte den Nagel, als sein Vater hinzukam.“ Etwas Später wurde getestet, ob die Personen dachten, dass sie u. a. das Wort Hammer gelesen hätten. Im Ergebnis zeigte sich, dass über 50 % aus der ersten Gruppe, die das Wort schlug gelesen hatte, angaben, das Wort Hammer gelesen zu haben. Aus der zweiten Gruppe gaben dies nur 20 % an. Das Wort schlug aktivierte einen Frame mit semantisch angegliederten Ideen, zu denen Hammer gehört. Frames geben Worten Bedeutung, indem Sie mit unserem Weltwissen verknüpft werden. Dies kann so weit gehen, dass mit einem Frame gedachte Ideen als gehört oder gelesen erinnert werden (Wehling, S. 27 ff.). Informationen bzw. Fakten, die in einen sprachlich aktivierten Frame passen, werden leichter aufgenommen, als Informationen, die diesem Deutungsrahmen widersprechen. Auch zum Einfluss von Frames auf die Informationsverarbeitung verweist Wehling auf ein Experiment (Yaxley und Zwaan 2007): Dabei las Gruppe 1: „Der Skifahrer sah den Elch nur schwer und durch die beschlagene Brille.“ Gruppe 2 las: „Der Skifahrer sah den Elch gut und durch die saubere Brille.“ Beiden Gruppen wurden Bilder eines Elchs gezeigt, der einmal stark verschwommen und einmal klar erkennbar abgebildet war. Dabei zeigte sich folgender Unterschied: Mitglieder der Gruppe 1, die von einem mit beschlagener Brille nur schwer sichtbaren Elch gelesen hatten, erkannten die verschwommene

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Abbildung signifikant schneller als Mitglieder der Gruppe 2. Die Mitglieder der Gruppe 2 wiederum, die von einem mit sauberer Brille gut sichtbaren Elch gelesen hatten, erkannten die scharfe Abbildung signifikant schneller. Durch das lesen des Textes simulierten die Teilnehmer entweder gute oder schlechte Sicht. In ihrem Gehirn ist ein Deutungsrahmen aktiviert worden, in dem die in den Kontext passenden Fakten eingeordnet wurden. Stimmten Fakt und Frame überein, ergab die Information schneller und einfacher einen Sinn. Und das, obwohl die Information — der verschwommen abgebildete Elch — objektiv schwerer zugänglich war. Die Aufnahme von Fakten wird demnach stärker von sprachlich erzeugten Frames als von einer objektiv leichteren oder objektiv schwereren Zugänglichkeit beeinflusst (Wehling, 34 ff.). Weil der alltägliche politische Sprachgebrauch das Denken über politische Fakten und Themen beeinflusst, kann kognitive Pluralität nur durch sprachliche Pluralität bestehen. (Wehling, S. 43) Frames selektieren, indem bestimmte Gegebenheiten hervorgehoben und andere ausgeblendet werden. Wehling führt als Beispiel den Begriff Euro-Rettungsschirm an. Dieser Begriff aktiviert einen Frame, dessen Semantik folgende Schlussfolgerungen ermöglicht: Der Schirm schützt den Euro vor einer natürlichen Gefahr, wie Regen oder Sonne. Die Gefahr geht also nicht von anderen Menschen oder uns selbst aus. Menschliches Handeln, wie eine mangelnde Bankenaufsicht oder eine dysfunktionale Finanzverwaltung, wird durch den Frame Schirm als Ursache der Probleme gedanklich ausgeblendet (Wehling, S. 44). Politische Entscheidungen werden den Ausführungen Wehlings folgend nie rein objektiv und rational auf der Grundlage von Fakten getroffen. Politisches Denken und daraus resultierende Entscheidungen werden vorwiegend unbewusst durch sprachliche Frames beeinflusst. Auch zur Verdeutlichung dieses Phänomens verweist Wehling auf ein Experiment (Thiebodeau und Boroditsky 2011): Zwei Gruppen lasen je einen Zeitungstext und nahmen danach an einer Meinungsumfrage über Maßnahmen zur Kriminalitätsbekämpfung teil. In den beiden Texten wurde über einen vermeintlichen Kriminalitätsanstieg in der fiktiven Stadt Addison berichtet. Beide Texte enthielten die selben Zahlen und Statistiken, nutzten allerdings unterschiedliche Frames für die Kriminalität. Im Text der ersten Gruppe wurde die Kriminalität als Virusinfektion bezeichnet, die alle Wohngegenden befällt. Im Text der zweiten Gruppe wurde die Kriminalität als Raubtier bezeichnet, das in allen Wohngegenden lauert. In der anschließenden Meinungsumfrage zu Maßnahmen gegen Kriminalität sprachen sich die Teilnehmer der ersten Gruppe eher für präventive Maßnahmen, wie eine bessere Bildung, den Abbau von Armut und eine Stärkung des sozialen Systems aus. Die Teilnehmer der zweiten Gruppe sprachen sich eher für repressive Maßnahmen,

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wie eine stärkere Polizei und längere Gefängnisstrafen aus. Trotz gleicher Fakten und Statistiken wurde die Entscheidung zwischen präventiven oder repressiven Maßnahmen durch dass sprachliche Framing mit nur wenigen Worten beeinflusst. In einem zweiten Teil der Studie wurde untersucht, inwiefern den Probanden die Ursache für Ihre Entscheidung bewusst war. Dabei verwies nicht eine einzige Person auf das Bild der Kriminalität als Virus oder Raubtier als Begründung für ihre Entscheidung. Alle verwiesen stattdessen auf die genannten Statistiken zum Kriminalitätsanstieg. Das Framing als maßgeblicher Einflussfaktor blieb ihnen verborgen. (Wehling, S 49 ff.) Indem sprachlich aktivierte Frames Informationen selektieren und interpretieren, beeinflussen sie — häufig unbewusst — politisches Denken und Handeln. Deshalb ist es für die politische Handlungsfähigkeit wichtig, dass die verwendete Sprache die vertretene Perspektive wirksam kommuniziert. Die verbalisierte Ablehnung einer anderen Position aktiviert dennoch den entsprechenden Frame. Das menschliche Gehirn ist nicht in der Lage Ideen bewusst nicht zu denken. (Wehling, S. 52 ff.) Deshalb werden Frames durch Gegenargumentation bestärkt. Insbesondere in einer Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Werthaltungen kommt es laut Wehling darauf an, den anderen zu verstehen und gleichzeitig seine eigene Perspektive begreifbar zu machen. Denn, wenn man in politischen Debatten gegen bestimmte Maßnahmen, wie z. B. zur Kriminalitätsbekämpfung, oder gegen Ideologien argumentiert, verfängt man sich sprachlich und gedanklich in der Perspektive des Gegners. Stattdessen sollte man bei den Zuhörer*innen oder Leser*innen einen Frame aktivieren, der die eigene politische Sichtweise erzählt (Wehling, S. 56). Der bewusste Einsatz von Sprache ist nicht nur in einer zeitlich befristeten Diskussion oder Debatte relevant, sondern wirkt auch nachhaltig. Je häufiger politische Ideen, Ereignisse und Entwicklungen sprachlich in einen Zusammenhang gestellt werden, um so stärker werden diese Zusammenhänge bzw. Frames Teil des alltäglichen unbewussten Denkens und Handelns. Frames, die selten oder nie über Sprache aktiviert werden, schwächen sich als Alternative ab oder verschwinden vollständig. Deshalb braucht eine pluralistische Gesellschaft laut Wehling pluralistische Diskurse. Um unterschiedliche Perspektiven eines Diskurses wahrzunehmen und in die eigene politische Urteilsbildung einzubringen, brauchen Menschen sich widersprechende Frames zur selben Angelegenheit. Nur dann ist eine Übernahme der anderen Perspektive(n) und eine konstruktive Auseinandersetzung über politische Alternativen möglich. Werte und Ideologien, die nicht regelmäßig sprachlich aktiviert und mit aktuellen politischen Themen in einen Zusammenhang gebracht werden, können im gesellschaftlichen Diskurs nicht dauerhaft bestehen. (Wehling, S. 56 ff.) Das Kontroversitätsgebot

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des Beutelsbacher Konsens hat vor diesem Hintergrund nicht nur eine formale didaktische Bedeutung, sondern entwickelt und erhält bei den SuS eine kognitive Offenheit für alternative Frames bzw. alternative Perspektiven, Maßnahmen und Politik. Politische Kommunikation ist dann erfolgreich, wenn die Ideologie bzw. Werthaltung des Absenders transparent ist und der Adressat durch aktivierte Frames an diese Ideologie bzw. Werthaltung anknüpfen kann. Unterschiedliche Werthaltungen und Moralvorstellungen werden durch ideologisches Framing versprachlicht. Wer Menschen für seine politischen Ziele begeistern und sie als Unterstützer gewinnen möchte, muss Frames aktivieren, die der eigenen Werthaltung und moralischen Weltsicht entsprechen. (Wehling, S. 61 ff.) Um diese Schlussfolgerung zu verdeutlichen, führt Wehling die folgende Aussage aus der kontinuierlichen finanzpolitischen Debatte als Beispiel an: Wir brauchen Steuererleichterung für den Mittelstand! Das abstrakte politische Konzept der Steuern wird hierbei in einen Zusammenhang mit dem konkreten alltäglichen Konzept der Erleichterung gebracht und dadurch geframt bzw. in einem Deutungsrahmen kommuniziert: Der Mittelstand trägt eine Last von der er befreit werden muss. — Eine Befreiung von der Last bringt Erleichterung. — Menschen bzw. Parteien, die einen belasten bzw. die Steuern nicht senken wollen, sind schlecht. — Menschen bzw. Parteien, die einen entlasten bzw. die Steuern senken wollen, sind gut. (Wehling, S. 62) Um die finanzpolitischen Debatte in eine andere Richtung zu lenken, wäre die folgende Aussage bzw. das folgende Framing denkbar: Wohlhabende Bürger*innen müssen mehr Steuerverantwortung zur Finanzierung unseres Bildungssystems und der öffentlichen Sicherheit in unserem Land übernehmen! Das Konzept Steuern wird mit dem Konzept Verantwortung geframt bzw. gerahmt. Das Bildungssystem und die öffentliche Sicherheit müssen finanziert werden. — Wer dazu durch Steuerzahlungen einen Beitrag leistet, übernimmt Verantwortung. — Höhere Steuern sind keine Strafe für ein hohes Einkommen oder Vermögen, sondern entsprechen der bürgerlichen Verantwortung für ein gutes Bildungssystem und öffentliche Sicherheit. — Menschen bzw. Parteien, die höhere Steuern für Wohlhabende fordern, unterstützen das Bildungssystem und die öffentliche Sicherheit. Metaphern haben für die politische Meinungs- und Urteilsbildung sowie den Austausch in einer demokratischen Gesellschaft eine hohe Relevanz, weil sie Informationen selektieren und einordnen, Anknüpfungspunkte für Ideologien und Werthaltungen schaffen sowie abstrakte Konzepte emotional zugänglich machen. Da abstrakte politische Themen nicht ohne Metaphern gedacht werden können, ist die Auswahl der für die sprachliche Vermittlung verwendeten Metaphern relevant. Die kognitionswissenschaftlich so genannten konzeptuellen Metaphern

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strukturieren das alltägliche Denken weitgehend unbewusst. Eine Metapher hat eine Quell-Domäne und eine Ziel-Domäne. Durch Metaphoric Mapping — oder metaphorisches Übertragen — werden Teile der Quell-Domäne auf die Ziel-Domäne übertragen. (Wehling, S. 68 ff.) Dieses Phänomen kann anhand bereits bekannter Beispiele Wehlings erläutert werden: Durch die Verwendung des Begriffs Schirm im Zusammenhang mit der Absicherung in der Euro-Krise werden die Ursachen der Krise in einem natürlichen bzw. nicht von Menschen zu verantwortenden Bereich verortet; mit der Assoziation von Kriminalität und Viruskrankheit wird die im medizinischen Kontext positiv bewertete Prävention auch als geeignete Maßnahme gegen Kriminalität eingeordnet; durch die Bezeichnung von Steuern als Last wird eine Erleichterung von dieser Last durch Senkung der Steuern als geboten dargestellt. Auch während der seit mehreren Jahren anhaltenden Debatte über die Migration von Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten ist das sprachliche Phänomen des Framing durch Metaphoric Mapping feststellbar: Der damalige Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble warnte 2015 (Frankfurter Allgemeine Zeitung) vor einer Flüchtlings-„Lawine“. Das soziale Phänomen der Migration wird dadurch analog zu dem Naturphänomen der Lawine als eine Gefahr dargestellt, vor der Menschen Schutz suchen und beschützt werden müssen. Dieses Framing führt zu einer die Symptome in den Fokus nehmenden Sicherheitsdebatte, die von einer Auseinandersetzung mit den Ursachen der Migration bzw. Flucht ablenkt. Der Begriff „Asyltourismus“, wie er vom Bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder 2018 (Welt) verwendet wurde, suggeriert, dass Menschen auf der Suche nach Asyl eher nach Erholung und Vergnügen streben, als nach Schutz vor Krieg und Krisen in ihrer Heimat. Auch, wenn Söder den Begriff mittlerweile nicht mehr verwenden möchte (Zeit 2018), ist ein entsprechender Frame in der politischen Debatte gesetzt und kann eine politische Wirkung entfalten.

3 Didaktisches Potenzial zur Kompetenzförderung im Politikunterricht Das theoretische und praktische didaktische Potenzial des Themas Politisches Framing für die Entwicklung sprachbezogener Kompetenzen zeigt sich bei einer verknüpfenden Betrachtung von Kompetenzmodellen zur sprachlichen Bildung und zur politischen Bildung, wie sie exemplarisch im gemeinsamen Rahmenlehrplan der Bundesländer Berlin und Brandenburg dargestellt werden. Das entsprechende Modell des Basiscurriculums Sprachbildung stellt die Kompetenzen

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Interaktion, Rezeption, Produktion und Sprachbewusstheit dar. Rezeption bezieht sich auf das Hör- und Leseverstehen, Produktion auf das Sprechen und Schreiben. Im Zentrum des Modells steht die Bildungssprachliche Handlungskompetenz (MBJS 2017a, S. 4 f.). Auch der Rahmenlehrplan Politische Bildung richtet sein Modell auf kompetentes — insbesondere mündiges — Handeln aus. Dieses soll durch die Kompetenzen Analysieren, Urteilen und Methoden anwenden ermöglicht werden (MBJS 2017b, S. 4 f.). Die Auseinandersetzung mit politischem Framing im Politikunterricht kann die sprachlichen Kompetenzen der Rezeption und Sprachbewusstheit in Verbindung mit der fachlichen Kompetenz der Analyse fördern: Schüler*innen analysieren sowohl gesprochene als auch geschriebene politische Reden und Texte. Dabei markieren sie Begriffe und/oder Metaphern, die Frames aktivieren und erläutern diese. Ein anschließender Vergleich der Ergebnisse mehrerer SuS kann sowohl die Kontroversität verschiedener Deutungen als auch mögliche politische Absichten der Reden bzw. Texte aufzeigen. Die fachlichen Kompetenzen der Analyse und Urteilsbildung in Verbindung mit den sprachlichen Kompetenzen der Sprachbewusstheit und Rezeption können ebenso gefördert werden: Schüler*innen analysieren fremde politische Urteile hinsichtlich der mit Begriffen und/oder Metaphern durch Framing aktivierten Werthaltungen zum politischen Gegenstand. Kompetente Urteilsbildung und Methodenanwendung in Verbindung mit kompetenter sprachlicher Interaktion und Produktion kann durch einen bewussten Umgang mit politischem Framing gefördert werden und zur Entwicklung politischer Mündigkeit beitragen: Schüler*innen formulieren in der politischen Diskussion/Debatte eigene politische Urteile. Dabei unterstützen sie ihre Argumentation bewusst mit positiv bestärkenden und Frames aktivierenden Begriffen und/oder Metaphern. Die Förderung politischer Mündigkeit durch sprachliche und fachliche Handlungskompetenz kann durch die bewusste Verwendung politischen Framings gefördert werden: Schüler*innen formulieren politische Texte bzw. Reden, um Ihre Interessen und Positionen zu vertreten. Dabei verwenden Sie bewusst Begriffe und Metaphern, die Ihre Absicht durch Framing unterstützen. Sie stellen die eigene Position in den Vordergrund und vermeiden eine Aktivierung damit konkurrierender Frames. Alternativ formulieren Schüler*innen politische Botschaften mit Begriffen und/oder Metaphern, die kontroverse Frames zur selben Angelegenheit aktivieren. Dadurch fördern sie bei sich und anderen eine kognitive Offenheit für kontroverse Positionen bzw. diese unterstützende Frames. Sprachlichen Kompetenzen, wie sie mit den Erkenntnissen zum sprachlichen Phänomen des Politischen Framings entwickelt werden können, befähigen

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Schüler*innen neben einer entsprechenden Analyse politischer Reden und Texte ihre eigenen Interessen zu vertreten und in der politischen Diskussion, im Wettstreit kontroverser politischer Beurteilungen und Konzepte, andere Menschen zu überzeugen. Eine kompetente Anwendung der erlernten und eingeübten Methoden kann die Schüler*innen einerseits vor Manipulation durch politisches Framing bewahren, andererseits kann es sie zur Anwendung einer entsprechenden manipulativen Sprache befähigen. Deshalb müssen zum Kompetenzerwerb geeignete Aufgaben und Übungen angemessen reflektiert werden. Dabei geht es um die Herausbildung eines Bewusstseins für die mit politischer Mündigkeit einhergehende politische Verantwortung gegenüber anderen — insbesondere weniger mündigen — Menschen. Und es geht um die Verantwortung für den Bestand der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und die Wahrung der Menschenrechte. Wie an diesen beiden Grundpfeilern unserer demokratischen Ordnung durch politisches Framing und manipulative Sprache gerüttelt wird, kann anhand exemplarischer Aussagen von Politiker*innen in Deutschland, der Europäischen Union, den USA und anderen Ländern analysiert werden: Schüler*innen analysieren politische Texte und Reden hinsichtlich der mit Begriffen und/oder Metaphern durch Framing aktivierten Werthaltungen, die Institutionen einer freiheitlich demokratischen Ordnung diskreditieren. Ein exemplarischer Begriff aus aktuellen politischen Diskursen wäre „Lügenpresse“, mit dem die Arbeit von Journalisten pauschal als unwahrhaftig geframt wird. Neben der Diskreditierung einer essenziellen Institution freiheitlicher Demokratien resultieren aus diesem Framing auch verbale und tätliche Angriffe, die eine freie Berichterstattung über Ereignisse politischer und gesellschaftlicher Relevanz einschränken oder verhindern könnten. Anhand der Ergebnisse kann der Unterschied zwischen konkreter, objektiv begründeter Kritik an staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen und einer pauschalen Diffamierung erläutert werden. Bezüglich der Einhaltung von Menschenrechten können Schüler*innen politische Texte und Reden hinsichtlich eines Framings analysieren, mit dem Personen oder Personengruppen pauschal negative Eigenschaften zugeschrieben werden oder welches Menschen entwürdigt. Zur Entwicklung einer diesbezüglichen analytischen Sensibilität kann die Auseinandersetzung mit einer breit angelegten Definition von Rassismus sinnvoll sein, wie sie zum Beispiel von Christoph Butterwegge vorliegt. Demnach „ist Rassismus ein (…) Denken, das nach körperlichen bzw. nach kulturellen Merkmalen gebildeten Großgruppen unterschiedliche Fähigkeiten, Fertigkeiten und/oder Charaktereigenschaften zuschreibt, wodurch selbst dann, wenn keine gesellschaftliche Rangordnung

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(Hierarchie) zwischen ihnen entsteht, die Ungleichverteilung sozialer Ressourcen und politischer Rechte erklärt, also die Existenz von Privilegien bzw. der Anspruch darauf legitimiert, die Gültigkeit universeller Menschenrechte hingegen negiert wird.“ (Butterwegge, S. 123)

Literatur Brans-Ford, J.D., & Johnson M.K. (1972). Contextual prerequisites for understanding: Some investigations of comprehension and recall. Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior, 11 (6), S. 717–726. https://doi.org/10.1016/S. 0022-5371(72)80006-9. Butterwegge, C. (1996). Rechtsextremismus, Rassismus und Gewalt. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Frankfurter Allgemeine Zeitung (2015). Schäuble warnt vor Flüchtlings-„Lawine“. https:// www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/wolfgang-schaeuble-warnt-vor-lawine-influechtlingskrise-13907768.html. Zugegriffen: 06.10.2019. KMK (2018). Medienbildung in der Schule. https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/ veroeffentlichungen_beschluesse/2012/2012_03_08_Medienbildung.pdf. Zugegriffen: 15.08.2019. KMK (2019). Sprachförderung — Bund-Länder-Initiative BISS. https://www.kmk.org/ themen/allgemeinbildende-schulen/individuelle-foerderung/sprachfoerderung.html. Zugegriffen: 22.08.2019. MBJS (2017a) Ministerium für Bildung Jugend und Sport des Landes Brandenburg, Rahmenlehrplan Jahrgangsstufen 7–10, Teil B. MBJS (2017b) Ministerium für Bildung Jugend und Sport des Landes Brandenburg, Rahmenlehrplan Jahrgangsstufen 7–10, Teil C Politische Bildung. Thibodeau, P, & Boroditsky, L (2011). Metaphors We Think With: The Role of Metaphor in Reasoning. PLoS ONE 6(2): e16782. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0016782. Wehling, E. (2018). Politisches Framing. Berlin: Ullstein Verlag. Welt (2018). „Wir müssen endlich den Asyl-Tourismus beenden“. https://www.welt.de/ politik/deutschland/article177596828/Markus-Soeder-Wir-muessen-endlich-den-AsylTourismus-beenden.html. Zugegriffen: 06.10.2019. Yaxley, R.H., & Zwaan, R.A. (2007). Simulating visibility during language comprehension. Cognition, 105 (1), S. 229–236. https://doi.org/10.1016/j.cognition.2006.09.003. Die Zeit (2018). Markus Söder will den Begriff “Asyltourismus” nicht mehr verwenden. https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-07/csu-markus-soeder-asyltourismus. Zugegriffen: 06.10.2019.

Die Arbeit an Grundrechten im Politikunterricht. Grundrechtstheoretische und politikdidaktische Überlegungen mit Fallbezug Christian Fischer Zusammenfassung

Grundrechte sind ein wichtiger Lerngegenstand der politischen Bildung. Für Jugendliche kann es allerdings schwierig sein, die Bedeutung der einzelnen Grundrechte zu verstehen. Die Schwierigkeit für sie besteht darin, die abstrakten sprachlichen Formulierungen der Grundrechte im Grundgesetz in ein Verhältnis zu ihrer Lebenswelt zu setzen. Die Aufgabe des Politikunterrichts besteht deshalb darin, wechselseitige In-Bezug-Setzungen zwischen den Grundrechten und der Lebenswelt der Jugendlichen zu ermöglichen; oder anders ausgedrückt: es geht um das Anbahnen von Übersetzungsleistungen. Aber wie kann diese Aufgabe im Unterricht realisiert werden? Im vorliegenden Beitrag werden grundrechtstheoretische und politikdidaktische Überlegungen zur Arbeit an Grundrechten im Politikunterricht entwickelt. Auf der Basis dieser Überlegungen wird dann eine erprobte Idee aus der Unterrichtspraxis vorgestellt, die versucht, eine wechselseitige ­In-Bezug-Setzung von Grundrechten und Lebenswelt zu ermöglichen. Diese Idee wird schließlich anhand der Arbeitsergebnisse einer Schülerin fallbezogen ausgewertet und didaktisch reflektiert.

C. Fischer (*)  Universität Erfurt, Erfurt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Juchler (Hrsg.), Politik und Sprache, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30305-1_14

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1 Einleitung Die Grundrechte im Grundgesetz bieten dem Einzelnen Schutz vor Übergriffen des Staates. Sie können weiterhin als normative Basis für das gesellschaftliche Zusammenleben verstanden werden. Vor dem Hintergrund der zunehmenden sozialen und kulturellen Vielfalt in unserer Gesellschaft wird diese zweite Bedeutung aktuell stark betont (z. B. Merkel 2019). Die öffentliche Aufmerksamkeit, die die Grundrechte im Jahr 2019 genießen, begründet sich daneben mit dem Jubiläum, das das Grundgesetz in diesem Jahr feiert. Aus Sicht der politischen Bildung, die sich den Zielen politische Mündigkeit und Demokratiefähigkeit verpflichtet sieht, haben die Grundrechte eine hohe Relevanz als Lerngegenstand. Für Jugendliche kann es allerdings schwierig sein, die Bedeutung der einzelnen Grundrechte zu verstehen. Die Schwierigkeit für sie besteht darin, die abstrakten sprachlichen Formulierungen der Grundrechte im Grundgesetz in ein Verhältnis zu ihrer Lebenswelt zu setzen (vgl. Reinhardt 1997, S. 72). Die Aufgabe des Politikunterrichts besteht deshalb darin, wechselseitige In-Bezug-Setzungen zwischen den Grundrechten und der Lebenswelt der Jugendlichen zu ermöglichen; oder anders ausgedrückt: es geht um das Anbahnen von Übersetzungsleistungen (vgl. Reinhardt 1997, S. 72). Aber wie kann diese Aufgabe im Unterricht realisiert werden? Im vorliegenden Beitrag entwickle ich grundrechtstheoretische und politikdidaktische Überlegungen zur Arbeit an Grundrechten im Politikunterricht. Auf der Basis dieser Überlegungen stelle ich eine erprobte Idee aus der Unterrichtspraxis vor, die versucht, eine wechselseitige In-Bezug-Setzung von Grundrechten und Lebenswelt zu ermöglichen. Diese Idee wird fallbezogen ausgewertet. Die kasuistische Auswertung gibt schließlich Impulse für die politikdidaktische Reflexion und Weiterentwicklung dieser Idee.

2 Grundrechtstheoretische Überlegungen Die Frage, wie Grundrechte im Unterricht thematisiert und welche ihrer Komponenten bildungswirksam gemacht werden sollen, ist im Wesentlichen auch an ihr theoretisches Verständnis rückgekoppelt. Entscheidend ist in diesem sachanalytischen Zusammenhang, auf welche Grundrechtstheorie man sich bezieht. Unter einer Grundrechtstheorie versteht man eine „systematisch orientierte Auffassung über den allgemeinen Charakter, die normative Zielrichtung und die inhaltliche Reichweite der Grundrechte“ (Böckenförde 1974/1976, S. 221–222). Im vorliegenden Kontext ist vor allem auf zwei Grundrechtstheorien einzugehen,

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auf die liberale (bürgerlich-rechtsstaatliche) und auf die werteorientierte Grundrechtstheorie. Nach der liberalen Grundrechtstheorie sind Grundrechte vor allem als Schutz- und Abwehrrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat zu verstehen. Sie sollen den Einzelnen vor unzulässigen Über- und Eingriffen des Staates schützen und seine freie, individuelle Lebensführung garantieren. Übertragen auf die Gesellschaft sichern sie damit einen bürgerlichen Entfaltungsraum, „in dem die einzelnen und ihre sozialen Gebilde selbst für die Verhaltensregulierung und Leistungsorganisation zuständig sind“ (Böckenförde 1974/1976, S. 225). Bezogen auf die Staatsstruktur der Demokratie schützen Grundrechte als Freiheits- und Gleichheitsrechte vor Benachteiligungen und Übergriffen durch die Macht der politischen Mehrheit (vgl. Di Fabio 2017, S. XII). Ausgangspunkt der in den Artikeln 1 bis 19 des Grundgesetzes festgelegten Grundrechte ist die Menschenwürde. Als unmittelbar geltendes Recht binden die Grundrechte „Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung“ (Art 1 Abs. 3 GG). Im Verständnis der liberalen Grundrechtstheorie bedeutet das, dass staatliche Gewalt nicht gegen die Grundrechte verstoßen darf und der Einzelne seine Grundrechte gegenüber dem Staat gegebenenfalls auch rechtlich geltend machen kann. Im Rahmen der liberalen Grundrechtstheorie sind die Grundrechte vor allem in Opposition zur Macht des Staates zu denken (vgl. Böckenförde 1974/1976, S. 227–228). Im Gegensatz dazu fragt die werteorientierte Grundrechtstheorie – Böckenförde (1974/1976, S. 232) spricht von der „Werttheorie der Grundrechte“ – nach den Wertegehalten der Grundrechte und danach, wie sie sich rechtlich und politisch im staatlich verfassten Gemeinwesen realisieren lassen. Die Grundrechtsinhalte sind dafür normativ zu bestimmen und für das ­politisch-gesellschaftliche Zusammenleben auszudeuten, was jeweils vor dem Hintergrund des aktuellen „geistig-kulturellen Wertbewußtseins“ geschieht (Böckenförde 1974/1976, S. 233). In diesen Kontext lässt sich unter anderem die Schutzfunktion des Staates für die Verwirklichung von Grundrechten einordnen. So ist der Staat nämlich dazu verpflichtet, „die grundrechtlich geschützten Rechtsgüter gegen Beeinträchtigungen durch private Dritte, durch nichtdeutsche staatliche Stellen oder durch Naturgewalten in Schutz zu nehmen“ (Manssen 2016, S. 15; vgl. auch Epping 2019, S. 64). Weil die werteorientierte Grundrechtstheorie die Grundrechte wertebezogen interpretiert und sich auf die politisch-rechtliche Umsetzung der Grundrechtsgehalte konzentriert, folgt sie im Kern einer geistes- und sozialwissenschaftlichen Ausrichtung (vgl. Böckenförde 1974/1976, S. 232–233). Ich möchte nun an zwei Beispielen den Blick auf das Verständnis der Grundrechte lenken, das sich aktuell häufig in öffentlichen Erklärungen und Broschüren

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finden lässt (vgl. auch Merkel 2019). Zunächst führe ich den Beschluss „Projekt Zukunft – Neue Gerechtigkeit: Neues Miteinander – Einwanderungsland Deutschland“ der SPD-Bundestagsfraktion an, in dem das Grundgesetz und damit auch der Grundrechteteil nicht nur als rechtliche Grundlage des Zusammenlebens, sondern auch als Wertordnung herausgestellt wird. In dem Beschluss heißt es: „Dieses Gesetz [gemeint ist das Grundgesetz; Anm. C.F.] ist die rechtliche Grundlage für unser Zusammenleben in einer vielfältigen Gesellschaft. Es beschreibt heute und auch in Zukunft die Wertordnung, die für jeden Menschen gilt, der in unserem Land lebt.“ (SPD 2016)

In gleicher Weise erklärt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in seiner Broschüre „Das Grundgesetz. Die Basis unseres Zusammenlebens“: „Die Grundrechte stehen über allen Gesetzen. Sie regeln zum einen die Rechte von Bürgerinnen und Bürgern gegenüber dem Staat […]. […] Das Grundgesetz lebt, indem wir es alle achten. Seine Werte sind nicht nur die Grundlage unseres Staates, sie sind auch die Basis unseres Zusammenlebens.“ (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2016, S. 7–8)

Aus Sicht einer streng liberalen Grundrechtstheorie muss die Übertragung der Grundrechte auf das gesellschaftliche Zusammenleben, so wie sie in den zitierten Textabschnitten erfolgt, wie eine Fehlvorstellung erscheinen, denn aus ihrer Perspektive sind die Grundrechte ausschließlich gegen den Staat gerichtete Schutz- und Abwehrrechte. Tatsächlich liegt aber keine Fehlvorstellung vor, sondern lediglich ein anderes Grundrechtsverständnis, nämlich eines, das sich (auch) an die Wertetheorie der Grundrechte anlehnt und damit die Grundrechte als eine Wertebasis des staatlich verfassten Gemeinwesens versteht (vgl. Lennartz 2019, S. 71–76). Gleichzeitig dürfen hier aber auch nicht die problematischen Elemente einer werteorientierten Grundrechtstheorie vernachlässigt werden. Mit der werteorientierten Grundrechtstheorie können vor dem Hintergrund des aktuellen Zeitgeistes einzelne Grundrechte in ihrer Wertedimension absolut gesetzt und ihre rechtliche Umsetzung auf Kosten anderer, als nachrangig empfundener Grundrechte gefordert werden (vgl. Böckenförde 1974/1976, S. 235). Denkbar wäre auch ein Fehl-Verständnis, das die eigenmächtige Umsetzung von Grundrechten – jeweils nach einem für „universell“ erklärten persönlichen Werteverständnis – rechtfertigt und dabei die bestehende Gesetzeslage ignoriert.

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3 Grundrechte als Lerngegenstand – politikdidaktische Überlegungen Die Grundrechte im Grundgesetz basieren auf abstrakten Formulierungen; sie umfassen rechtliche Rahmenregelungen und beziehen sich auf universelle politisch-moralische Wertvorstellungen. Mit dem Modell der Wissensformen aus der Kommunikativen Fachdidaktik lassen sie sich daher der Ebene des institutionellen und der des sozialwissenschaftlichen Wissens zuordnen (vgl. Grammes 1998, S. 70–91; Petrik 2007, S. 177). In ihrer textlichen Formulierung scheinen sie zunächst keinen Bezug zur Lebenswelt der Lernenden und zu ihrem Alltagswissen aufzuweisen. Der Text bleibt für sie „äußerlich, distanziert, fremd“, was Sibylle Reinhardt als Lernproblem beschreibt (Reinhardt 1997: 72). Versteht man die Rolle der Fachdidaktik als „‚Dolmetscherin‘ zwischen Mikro- u. Makrowelt“ (Petrik 2007, S. 177), dann ist aus politikdidaktischer Perspektive darüber nachzudenken, wie im Unterricht eine Übersetzung zwischen der Lebenswelt der Lernenden und den abstrakten Formulierungen der Grundrechte in ihrer institutionellen und sozialwissenschaftlichen Bedeutungsebene angebahnt werden kann. Es geht um eine wechselseitige In-Bezug-Setzung der verschiedenen Ebenen (vgl. Grammes 1998, S. 448). Abb. 1 fasst die Grundstruktur dieser Herausforderung zusammen. Die Herausforderung wird noch größer, wenn sprachbedingte Lese- und Verstehensprobleme bei den Lernenden auftreten. Die Frage nach dem „Wie?“ in Abb. 1 verweist auf die ­methodisch-didaktische Dimension, also darauf, wie der konkrete Zugang zum Lerngegenstand „Grundrechte“ und der Weg der Auseinandersetzung mit ihm gestaltet werden kann. Es geht hier um die Entwicklung einer Unterrichtsidee und ihre Umsetzung in der Praxis (vgl. Abschn. 5 und 6). Daneben ist politikdidaktisch auch zu reflektieren, wie der Lerngegenstand auf inhaltlicher Ebene im Unterricht bearbeitet werden soll. Bezug nehmend auf die vorangegangenen grundrechtstheoretischen Überlegungen sollten Grundrechte aus meiner Sicht nicht nur als Schutz- und Abwehrrechte gegen unzulässige Eingriffe des Staates thematisiert, sondern auch in ihrem Wertegehalt betrachtet werden. Wenn in öffentlichen Erklärungen und Stellungnahmen die Grundrechte als Richtschnur für das gesellschaftliche Zusammenleben hervorgehoben werden, dann sollten sie auch im Politikunterricht unter dieser Perspektive reflektiert werden, um damit den Jugendlichen eine Orientierung und Positionierung im politischen Diskurs zu ermöglichen. Daneben überzeugt auch die Überlegung von Jürgen Habermas, wonach die Umsetzung und Ausgestaltung einer Verfassung voraussetzt, dass sich die

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Abb. 1   Der Lerngegenstand „Grundrechte“ – Grundstruktur der didaktischen Herausforderung (eigene Darstellung)

Werte der Verfassung in den Überzeugungen und Motiven der Bürgerinnen und Bürger wiederfinden lassen (vgl. Habermas 1990/1993, S. 642–643). Die Auseinandersetzung mit den Grundrechten auf der Ebene ihres Wertegehalts und ihre Ausdeutung für das Zusammenleben im Gemeinwesen kann die persönliche Werteklärung der Lernenden unterstützen. Gleichzeitig sind im Politikunterricht aber auch die Risiken einer werteorientierten Betrachtungsweise mit zu berücksichtigen.

4 Die Ebene des konkreten Unterrichts: Die didaktische Idee Um die didaktische Idee, um die es hier gehen soll, nachvollziehbar vorstellen zu können, ist es wichtig, zuvor die Bedingungen des Unterrichts, für den sie entwickelt wurde, näher zu erläutern. Den Kontext bildet der Politikunterricht in einer Sekundarschulklasse der Klassenstufe 9 in einem Plattenbaugebiet einer ostdeutschen Großstadt. Bei ca. einem Drittel der Schülerinnen und Schüler war Deutsch nicht die Muttersprache. Ein großer Teil der Lernenden hatte Verstehensprobleme auf der wörtlichen Sinnebene. Das wörtliche Ver-

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stehen von Textpassagen stellte für die Schülerinnen und Schüler eine mühevolle Arbeitsleistung dar. Daneben traten wiederholt Konzentrationsprobleme vor allem im Unterrichtsgespräch auf. Der kommunikative Austausch im Unterricht – das gegenseitige Zuhören, das wechselseitige Beziehen aufeinander und das Verfolgen einer gegenstandsbezogenen Kommunikation – gestaltete sich für etliche Jugendliche als echte Herausforderung. Bei den meisten Lernenden war ferner eine Distanz zur Ebene der institutionellen Politik festzustellen. Insgesamt handelte es sich um eine Lerngruppe, in der sich der Politikunterricht als „Politische Bildung unter erschwerten Bedingungen“ (Nonnenmacher und Widmaier 2012, S. 5) beschreiben lässt. Der Themenbereich „Grundrechte“ wurde zunächst anhand von zwei Fällen bearbeitet, in dem es um die Kollision unterschiedlicher Grundrechtsgehalte und ihre Regelung durch das Strafgesetzbuch ging. Die Fälle bezogen sich … • auf das Phänomen „Internethetze“ gegen Asylbewerber/-innen (Meinungsfreiheit vs. Menschenwürde, Regulierung durch § 130 Abs. 1 StGB; vgl. Fischer 2017) und • auf das Phänomen „Schwangerschaftsabbruch“ (Recht auf Leben vs. Recht auf freie Entfaltung der Person, Regulierung durch § 218 StGB und § 218a StGB). Die Arbeit an den beiden Fällen wurde in Form von Fallanalysen im Gesamtumfang von ca. sieben Einzelstunden durchgeführt. Didaktisch stellte sich nach der Fallarbeit die Frage, wie sich das Verständnis der behandelten Grundrechte durch die Anwendung auf andere Situationen/ Sachverhalte erweitern lässt und wie darüber hinaus noch andere Grundrechte im Unterricht erschlossen werden können. Hierfür entwickelte ich die folgende didaktische Idee, auf die sich der Beitrag im weiteren Verlauf bezieht: Die Schülerinnen und Schüler versuchen, sich die Bedeutung ausgewählter Grundrechte zu erschließen, indem … • sie sich eine Situation ausdenken, in der gegen ein ausgewähltes Grundrecht verstoßen wird, • sie diese Situation ausführlich als Text und/oder Bild darstellen und • sie anschließend beurteilen, ob/inwieweit dieses Grundrecht aus ihrer Sicht wichtig sei. Die leitende Annahme der hier vorgestellten Idee lautet, dass die Lernenden mit diesem Vorgehen eigenständig über den Bedeutungsgehalt der Grundrechtsformulierungen nachdenken und ihn für sich klären. Dabei können sie an ihre

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Schutz der Menschenwürde Artikel 1, Absatz 1 GG: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Aufgabenstellung: 1. Denke dir eine Situation aus, in der gegen die Menschenwürde verstoßen wird. 2. Stelle diese Situation ausführlich dar: als Text und/oder Bild oder Comic. 3. Erkläre anschließend, warum das Grundrecht auf Achtung und Schutz der Menschenwürde wichtig ist. Halte deine Gedanken schriftlich unter deinem Text oder unter deinem Bild/Comic fest.

Abb. 2   Beispiel Aufgabenstellung

Lebenswelt und das daran gebundene Alltagswissen anknüpfen, um eine Situation, in der nach ihrem Verständnis gegen das ausgewählte Grundrecht verstoßen wird, zu entwerfen. Im Grunde liegt hier ein „umgekehrtes“ Fallprinzip vor. Bei den ausgewählten Grundrechten handelte es sich um den Schutz der Menschenwürde (Art. 1, Abs. 1 GG), die Gleichheit von Männern und Frauen (Art. 3, Abs. 2 GG), das Recht auf Gleichbehandlung/Verbot von Diskriminierung (Art. 3, Abs. 3 GG) und die Glaubens- und Religionsfreiheit (Art. 4, Abs. 1 und 2 GG). Die Formulierungen dieser Grundrechte lagen den Lernenden jeweils in zum Teil stark gekürzten Fassungen vor. Aufgrund der Lese- und Verstehensschwierigkeiten in der Lerngruppe war eine solche Reduzierung didaktisch geboten. Abb. 2 zeigt exemplarisch die Aufgabenstellungen für das Grundrecht „Schutz der Menschenwürde“. Hier noch ein Hinweis zur Aufgabenstellung Ich schlage vor, die Aufgabe 3 für den weiteren Einsatz in der Unterrichtspraxis folgendermaßen umzuformulieren: „Beurteile anschließend, ob/inwieweit das Grundrecht auf Achtung und Schutz der Menschenwürde wichtig ist. Halte deine Gedanken schriftlich unter deinem Text oder unter deinem Bild/Comic fest.“

5 Fallbezogene Auswertung und politikdidaktische Reflexion Die Auswertung der Unterrichtsidee erfolgt hier beispielhaft anhand des Arbeitsergebnisses der Schülerin Fina, das in Dokument A aufgeführt ist. Dieses Arbeitsergebnis wird als Fall verstanden und interpretiert. Es liegt eine typische

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Fallauswahl vor (vgl. Flick 2010, S. 165). Die Schülerin Fina hat im Unterricht die Aufgabenstellung zum Grundrecht „Schutz der Menschenwürde“ bearbeitet (siehe Abb. 2). Dokument A:  A  rbeitsergebnis der Schülerin Fina (anonymisierende Namensgebung; Rechtschreibung im Dokument angepasst)

Forschungsmethodisch richtet sich die Interpretation an der politikdidaktischen Hermeneutik nach Kuhn (1999, S. 196–199) aus. Ich beschränke mich im Folgenden darauf, die Ergebnisse der Interpretation zusammenfassend darzulegen, um sie anschließend tiefergehend politikdidaktisch zu reflektieren und Impulse für die Weiterentwicklung auszuloten. Ergebnisse der Interpretation Fina entwirft in ihrem Arbeitsergebnis eine Situation, in der gegen die Würde eines Menschen verstoßen wird, indem eine Fotoaufnahme, die etwas „Peinliches oder Intimes“ zeigt, im Internet von einer anderen Person veröffentlich wird. Begrifflich und gestalterisch bringt sie das in der Reihung „Kotze = Kamera = Social Media/Facebook = online stellen = Scham ist groß!“ zum Ausdruck. Sie stuft den Schutz der Menschenwürde als „sehr wichtig“ ein, weil das Fotografieren oder Filmen einer Person „in einem peinlichen Moment“ und das Onlinestellen dieser Aufnahmen durch andere die aufgenommene Person „blamiert“ und ihre Menschenwürde verletzt. Fina füllt also den abstrakten Begriff Menschenwürde kontrastiv am Beispiel „Bloßstellen im Internet“ mit Bedeutung. Sie versteht die Menschenwürde als Schutz- und Privatbereich einer Person, als einen Bereich, auf den niemand zugreifen darf. Die Menschenwürde stellt sich für sie als zu schützender Eigenwert eines Menschen wie auch als zu schützender Entfaltungsraum für die private

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Lebensführung dar. Betrachtet man die Art und Weise ihrer Erschließung, so zeigt sich, dass Fina den abstrakten Begriff in einen alltagsweltlichen Bezug setzt, denn „Shaming“ und „Mobbing“ im Internet (soziale Netzwerke) sind ein bekanntes Problem der digitalen Lebenswelt. Gleichzeitig ist aber hervorzuheben, dass in Finas Erschließung kein Bezug zum Staat vorkommt. Im Ergebnis handelt es sich um eine werteorientierte Erschließung des Grundrechts „Schutz der Menschenwürde“ auf einer lebenspraktischen Ebene, die sich auf das Zusammenleben der Menschen bezieht. Weiterführende politikdidaktische Reflexion Als positiv ist zu reflektieren, dass Fina mit dem hier vorgestellten methodischen Vorgehen eine Klärung der Bedeutung des Begriffes „Menschenwürde“ vornehmen konnte. Die Würdenorm zeichnet sich vor allem durch ihre Unbestimmtheit aus, weshalb sie stets interpretativ zu bestimmen ist (vgl. Baldus 2019, S. 53–59). Fina gelang das hier negativ, also aus der Perspektive der Verletzung der Menschenwürde heraus. Nach meiner Interpretation führt genau diese Deutungshandlung zur Verwicklung mit der Sache. Gleichzeitig zeigt sich am vorliegenden Beispiel aber auch die Schwierigkeit, die in einer werteorientierten Zugangsweise zu Grundrechten angelegt ist, denn es kommt in Finas Ausführungen kein Bezug zur gesetzlichen Umsetzung dieses Wertes vor, was aus rechtsstaatlicher Sicht als problematisch erscheint. Den Bezug zur Ebene der Gesetze kann sie auch gar nicht von selbst herstellen, weil ihr hierfür das notwendige rechtliche Wissen fehlt. Hieraus folgt die Schlussfolgerung, dass Finas Arbeitsergebnis einer weiteren Bearbeitung in der Unterrichtspraxis bedarf. Diese Bearbeitung sollte möglichst auch auf ein erweitertes Verständnis des Grundrechtes „Schutz der Menschenwürde“ abzielen, das seinen Status als antiautoritäres Abwehrrecht mit erfasst (vgl. Baldus 2019, S. 50–51). Impulse für die Weiterentwicklung Das Arbeitsergebnis von Fina eignet sich gut, um im Politikunterricht weiterführend die gesetzlichen Regelungen zu erarbeiten, mit denen die Menschenwürde im Kontext von Bild- und Filmaufnahmen geschützt wird. Relevant ist hier zunächst § 22 des Kunsturhebergesetzes. In § 22 KUG heißt es: „Bildnisse dürfen nur mit Einwilligung des Abgebildeten verbreitet oder öffentlich zur Schau gestellt werden“ (§ 22 KUG). Ausdrücklich bezieht sich dieser Paragraph auch auf die Veröffentlichung von Bildaufnahmen im Internet (vgl. Dreyer 2018, S. 1922, Rn. 14).

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Der zu schützende Bereich ist hier das „Allgemeine Persönlichkeitsrecht“, das sich aus der Rechtsprechung heraus entwickelt hat. Es rekurriert unmittelbar auf das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) und den Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) (vgl. Manssen 2016, S. 73). Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht zielt auf die Sicherung eines „autonomen Bereich[s] privater Lebensgestaltung, in dem der Einzelne seine Individualität entwickeln und wahren kann“ sowie auf den „Schutz der Privatsphäre“ ab (Manssen 2016, S. 74). Ausgehend von dieser grundrechtlichen Basis wird mit § 22 KUG sichergestellt, dass der Einzelne selbst darüber entscheiden kann, „wie er sich gegenüber Dritten oder gegenüber der Öffentlichkeit darstellen will“ (Manssen 2016, S. 74). Relevanz im vorliegenden Kontext besitzt weiterhin § 201a StGB (Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen). Dieses Gesetz sieht in Absatz 1 unter anderem vor, dass mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft wird, wer „eine Bildaufnahme, die die Hilflosigkeit einer anderen Person zur Schau stellt, unbefugt herstellt oder überträgt und dadurch den höchstpersönlichen Lebensbereich der abgebildeten Person verletzt“ (§ 201a Absatz 1, Punkt 2 StGB). Das zu schützende Rechtsgut, der höchstpersönliche Lebensbereich, bildet einen Teilbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und ist damit direkt an das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) und den Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) rückgekoppelt (vgl. Eisele 2019, S. 1981–1982, Rn. 3; Manssen 2016, S. 73). Als ein Beispiel für Hilflosigkeit lassen sich Personen im Zustand der Trunkenheit anführen, was auf das Beispiel des Sich-Übergebens in der bildlichen Darstellung von Fina passen würde (vgl. Kindhäuser 2017, S. 780, Rn. 7). Die gesetzlichen Regelungen können hier nur fragmentarisch dargestellt werden. Im Einzelnen wären sie noch zu vertiefen, was den vorgegebenen Umfang des vorliegenden Beitrags aber überfordern würde. Die wirkliche Herausforderung für die Weiterentwicklung besteht aus meiner Sicht jedoch darin, ein Unterrichtsmaterial zu diesen abstrakten Zusammenhängen zu entwickeln, mit dem Schülerinnen und Schüler, die über die in Abschn. 4 beschriebenen Lernvoraussetzungen verfügen, arbeiten können. Eingehen möchte ich noch auf den zweiten Impuls zur Weiterentwicklung, nämlich auf das zu fördernde Verständnis des Schutzes der Menschenwürde als antitotalitäre Grundnorm – ganz im Sinne einer liberalen Grundrechtstheorie. Hier wäre auf Maßnahmen seitens der Staatsgewalt einzugehen, die diese Grundrechtsnorm verhindern soll, wie „polizeistaatlichen Terror“, „Zwangsarbeit“,

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„Versklavungen“, „Zwangssterilisierungen“ oder „Sippenhaft“ (Baldus 2019, S. 51). Hier ließen sich im Unterricht hypothetische Szenarien entwickeln oder reale historische Beispiele heranziehen, um die Bedeutung des Schutzes der Menschenwürde im Sinne einer liberalen Grundrechtstheorie kontrastiv zu erarbeiten.

6 Fazit Zusammenfassend lässt sich sagen, dass im vorliegenden Beitrag die Chancen, Risiken und Weiterentwicklungsmöglichkeiten der Idee, Grundrechte kontrastiv zu erschließen, theoretisch und am konkreten Beispiel aufgezeigt und reflektiert werden konnten. Im vorgegebenen Rahmen des Beitrags war es lediglich möglich, ein Arbeitsergebnis exemplarisch zu untersuchen. Damit konnten andere Fälle, die auch andere Grundrechte zum Gegenstand hatten, nicht berücksichtig werden. Dennoch versuche ich drei Aussagen über die vorgestellte Unterrichtsidee abstrahierend zu formulieren: • Das entworfene Vorgehen fördert eine Klärung der Grundrechtsformulierungen vor allem auf der Wertebene, die hier auf die Alltagswelt der Jugendlichen orientiert ist. • Um ein angemessenes Rechtsverständnis zu fördern, sollte die konkrete gesetzliche Ausgestaltung des entsprechenden Grundrechtsgehalts zusätzlich thematisiert werden. • Ergänzend sollte außerdem der liberale Bedeutungsgehalt des jeweiligen Grundrechts als Schutz und Abwehrrecht besprochen werden. Um den zweiten und dritten Punkt im Unterricht realisieren zu können, empfiehlt es sich, dass die Lehrkraft exemplarisch ein oder mehrere Arbeitsergebnisse auswählt und ihre weitere gemeinsame Bearbeitung in der Lerngruppe vorbereitet. Dazu sind dann auch entsprechende Materialien zu entwickeln. Aus meiner Sicht eignet sich das vorgestellte Arbeitsergebnis der Schülerin Fina auch als Fall, der in anderen Lerngruppen thematisiert werden kann. An ihm ließen sich die skizzierten rechtlichen Zusammenhänge (aufgeführt unter dem Stichwort „Impulse für die Weiterentwicklung“) erarbeiten. Abschließend sei darauf hingewiesen, dass sich der vorliegende Beitrag an meinem Verständnis einer unterrichtsbezogenen hermeneutischen Politikdidaktik ausrichtet, nach dem erst der Anwendungsbezug eine wirkliche Durchdringung

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politikdidaktischer Theorie ermöglicht. Es sind vor allem die kasuistische Auswertung und die auf ihrer Basis erfolgende Weiterentwicklung der Unterrichtsidee, die Theorie und Praxis in ein produktives Verstehensverhältnis zueinander setzen.

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Worüber sprechen wir eigentlich? Zur Explizität von Legitimationsargumenten in politischen Lehr-Lernarrangements Luisa Girnus Zusammenfassung

Die tagespolitische Auseinandersetzung stellt sich als eine Für- und Gegenrede zu politischen Problemen, Herausforderungen oder Handlungsinitiativen dar: Verschiedene Akteure äußern sich kritisch oder befürwortend zu vollzogenen oder geplanten politischen Maßnahmen wie auch – ebenso kritisch oder befürwortend – zu getätigten Äußerungen anderer politischer und medialer Akteure. Insgesamt werden dabei eine Vielzahl von Argumenten mit unterschiedlicher Reichweite und Intensität ausgetauscht, aufgegriffen und verworfen. Der Beitrag argumentiert, dass solche sprachlich verfassten Auseinandersetzungen Legitimationsdiskurse sind, in denen Legitimität anhand normativer Werte verhandelt wird. Dort genutzte Wertkategorien bleiben jedoch deutungsoffen und oft implizit. Um politisches Lernen zu fördern, erweist sich eine gemeinsame Bearbeitung solcher Legitimationsdiskurse als gewinnbringend. Zentral dafür ist, dass Legitimationsargumente in ­Lehr-Lernarrangements explizit und verhandelbar werden.

L. Girnus (*)  Universität Potsdam, Potsdam, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Juchler (Hrsg.), Politik und Sprache, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30305-1_15

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1 Einleitung In unserer Lebenswelt sind wir alltäglich von Bewertungen in Form sprachlich verfasster Botschaften umgeben. Auch im politischen Raum findet fortlaufend eine Für- und Gegenrede zu politischen Problemen, Herausforderungen oder Handlungsinitiativen statt. Dabei vorgebrachte Bewertungen erfolgen auf verschiedenen vor allem medialen Kanälen. Diese wertenden, sprachlich verfassten Botschaften bleiben aber oftmals hinter rhetorischen Figuren verborgen und aufgrund der Vielseitigkeit sprachlicher Ausdrucksformen implizit und deutungsoffen. Kriterien, anhand derer politisches Handeln im weitesten Sinne bewertet wird, müssen seitens der Rezipient:innen verstanden beziehungsweise innerhalb ihrer subjektiven Verstehensweise interpretiert werden. Als Beispiel zeigt Abb. 1 die Antwort von mac seeräuberbatman vom 29.09.2019 auf einen Tweet von WDR aktuell, in dem eine Aussage des Landesvorsitzenden der Jungen Union, Florian Braun, verbreitet wird. Der Tweet ist ein Beitrag in der Debatte zu politischen Handlungen beziehungsweise dem politischen Handlungsbedarf in Sachen Klimaschutz. Als Bewertungskriterien, an denen der politische Diskursbeitrag von Florian Braun

Abb. 1   Inszenierung sprachsensibler Politischer Bildung. (Quelle: Schreiber 2019)

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gemessen wird, können in den Tweet von mac seeräuberbatman Aspekte wie Expertise, Deliberation, Nachhaltigkeit, Innovation, Effizienz oder auch Ernsthaftigkeit hineingelesen werden. Welcher oder welche Aspekt(e) durch die Autorin angesprochen werden sollte(n), bleibt der Deutung der Rezipient:innen überlassen. Damit zeigt sich, dass die Deutung vorgetragener Bewertungen nicht nur abhängig von den Verstehensweisen der Autor:innen, sondern auch denen der Rezipierenden ist. Es besteht aber nicht nur Deutungsunsicherheit über die übermittelten Bewertungskriterien, vielmehr ist nicht einmal vorauszusetzen, dass jene Kategorien von Sendern und Empfängern bewusst und/oder weitergehend reflektiert verwendet werden. Eine Vielzahl von Begriffen und Wendungen im politischen Sprachgebrauch sind inhaltlich überdehnt oder werden gewohnheitsmäßig genutzt und verstanden ohne die inhaltliche Bedeutung erneut zu klären. Beispiele hierfür sind Wendungen wie ‚konservative Werte‘, ‚Solidarität‘, ‚Wohlstand‘ und ähnliches. Aus politikwissenschaftlicher Perspektive sind sprachlich verfasste Bewertungen politischen Handels interessant, weil sie als Erscheinungsform politischer Legitimation verstanden werden können (vgl. Keller et al. 2013; Nullmeier et al. 2010). Aus politikdidaktischer Sicht wiederum findet sich in einem solchen Legitimationsverständnis Relevanz und Anschlussmöglichkeit für politisches Lernen. Der vorliegende Beitrag erläutert dieses Verhältnis politischer Legitimation und politischen Lernens. Zunächst wird dazu politische Legitimation als Begründen und Bewerten politischen Handelns als deskriptives Legitimationsverständnis vorgestellt. Im Anschluss daran gilt es zu prüfen, inwieweit ein solches Legitimationsverständnis relevant für politisches Lernen sein kann. Darauf folgend werden anhand empirischer Befunde entsprechende Lernvoraussetzungen mit Blick auf die Konzeptionalisierung von Lernarrangements diskutiert. Im Ergebnis der Betrachtungen in diesem Betrag steht die Schlussfolgerung, dass die gezielte Analyse von Sprache ein Teil politischer Bildung sein kann und sollte.

2 Politische Legitimation als Begründen und Bewerten politischen Handelns Blickt man in Handwörterbücher oder Lexika, wird dort in Bezug auf Legitimation in der Regel auf die Unterteilung in einen normativen und einen empirischen Legitimationsbegriff verwiesen (vgl. z. B. Nohlen 2011; Schmidt

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2004, Braun und Schmitt 2009).1 Bei beiden Begriffen steht eine Bemessbarkeit von Legitimität im Vordergrund. Beim normativen Legitimationsbegriff gilt es, mittels theoretischer Überlegung eine oder mehrere Kategorien, anhand derer Legitimität (in der Regel von Herrschaft) sich messen lassen muss, festzulegen. Beim empirischen Legitimationsbegriff wird Zustimmung (in der Regel innerhalb der Bevölkerung), welche innerhalb dieses Verständnisses Legitimität impliziert, anhand vorgelegter normativer Kategorien gemessen. Legitimität wird somit über die Unterteilung in empirischen und normativen Legitimationsbegriff von zwei Seiten beleuchtet (vgl. Kielmansegg 1997). Möchte man jedoch politische Legitimation als gesellschaftliches Phänomen beschreiben, bedarf es einer umfassenderen Begriffsauslegung. In diesem Sinne wird die Verstehensweise politischer Legitimation als Begründen und Bewerten politischen Handelns vorgeschlagen (vgl. Girnus 2019, S. 48 f.). Sie ist als deskriptives Konzept zu sehen, welches die grundsätzlichen Ideen von normativem und empirischem Legitimationsbegriff verknüpft. Wie beim empirischen Legitimationsbegriff – wird der Blick auf die vorzufindenden Befindungen innerhalb der Gesellschaft gerichtet, wobei die Gesellschaft selbst die Autorin normativer Maßstäbe ist, an denen sie ihre Bewertung orientiert (vgl. Kielmansegg 1997). Das heißt, anders als beim klassischen normativen Legitimationsbegriff, wird nicht von einer idealtypischen Warte aus ein bestimmter, wohl definierter Legitimationsmaßstab festlegt oder objektiv vergeben (vgl. Heidorn 1982, S. 262). Zudem wird die Trennung von legitimationsgebender und zu legitimierender Instanz aufgehoben. Je nach aktueller Position im politisch-gesellschaftlichen Gefüge mag eine Person als ein:e Sprecher:in ihr eigenes politisches Handeln begründen und damit legitimieren oder das politische Handeln anderer bewerten und damit legitimieren/delegitimieren (vgl. Leeuwen 2007, Barker 2001).2 Damit ist Legitimation ein sprachvermittelter Prozess (Sarcinelli 2012, S. 277).3 ­Insgesamt

1Die

Verwendung der Begriffe ‚Legitimation‘ und ‚Legitimität‘ ist in der Literatur nicht einheitlich. Im vorliegenden Beitrag wird Legitimation als Prozess zum Erlangen von Legitimität verstanden (vgl. Hurrelmann et al. 2007, S. 8 f.). Dieser Prozess wird als fortwährend beziehungsweise Legitimität als nie endgültig verstanden (Hurd 2005, S. 502). 2An dieser Stelle öffnet sich die Verstehensweise politischer Legitimation als Begründen und Bewerten politischen Handelns der Einwirkung von Machtverhältnissen. So lassen sich Legitimationsdiskurse beispielsweise im Sinne Foucaults (2008) (vgl. z. B. Hiller 2017) oder in Bezug auf Framing Theorien (vgl. z. B. Marcinkowski 2014) analysieren. 3Diese Perspektive lässt sich um die Wirkkraft von Symbolen und symbolischem Handeln erweitern.

Worüber sprechen wir eigentlich? …

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Abb. 2   Legitimation auf den verschiedenen Betrachtungsebenen (Girnus 2019, S. 72)

werden dabei eine Vielzahl von Argumenten mit unterschiedlicher Reichweite und Intensität ausgetauscht, aufgegriffen und verworfen (vgl. Kornprobst 2014). Die Gründe, die zur sprachlich verfassten Begründung und Bewertung angelegt werden, können a) vielfältig sein und sind b) selbst Gegenstand eines Diskurses (vgl. Forst und Günther 2011). Damit bricht auch die Dichotomie zwischen absoluter Legitimität und Delegitimität politischer Einheiten (vgl. Nullmeier 2009) auf. Diese sind nicht legitim oder delegitim, sondern bewegen sich zwischen Legitimität und Delegitimität. Politische Legitimation erklärt sich somit als ein fortlaufender und komplexer politischer Prozess, der sich in auf der Makro-, Meso- und Mikroebene jeweils unterschiedlich beobachten lässt (siehe Abb. 2). Auf der Makroebene stellt Legitimation sich als ein stetige Erneuerung von Legitimität dar. Auf der Mesoebene lässt sich Legitimation als kommunikatives Handeln beobachten. Hier werden normative Maßstäbe für und gegen bestimmte politische Entscheidungen als auch die Befugnis in Legitimationsdiskursen vorgeschlagen, verhandelt und weitergegeben. Auf der Mikroebene ergibt sich Legitimation als ein Erklären und Deuten politischen Handelns, auf das subjektive Zustimmung oder Ablehnung folgt. Politische Legitimation als Begründen und Bewerten politischen Handelns ist damit umfassend und vermag es – was für politikdidaktische Belange interessant ist –, das Subjekt im politisch Ganzen zu verorten beziehungsweise Subjekt und Politik in ein Verhältnis zueinander zu setzen (Siehe Abb. 2).

3 Relevanz politischer Legitimation im Zusammenhang politischen Lernens Politische Legitimation als ein Wesenselement des Politischen zu verstehen, erfährt wohl kaum großen Widerspruch. In dieser Zentralität könnte nun bereits ausreichend Grund gefunden sein, um politischer Legitimation eine Wichtigkeit

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für politisches Lernen zuzuschreiben (vgl. z. B. Weißeno et al. 2010). Allerdings lohnt es sich, das Verhältnis politischen Lernens und politischer Legitimation jenseits der Deklaration zum standardisierten Lerngegenstand weitergehend zu betrachten. Um politisches Lernen greifbar zumachen, wird derzeit gern auf den Ausbau bestimmter Fähigkeiten verwiesen. Politische Kompetenzen entwickeln sich in der Auseinandersetzung mit Lerngegenständen, die entsprechend in Lernarrangements inszeniert werden. Die Autorengruppe Fachdidaktik (2016, S. 143 f.) schlägt drei Kompetenzen vor, anhand derer politisches Lernen strukturiert werden kann: Sozialwissenschaftliches Analysieren, politische Urteils- und Handlungsfähigkeit. Politische Legitimation wird im Folgenden im Kontext dieser drei Kompetenzen betrachtet.

3.1 Kontext: Sozialwissenschaftliches Analysieren Politische Legitimation als Begründen und Bewerten politischen Handelns zeigt einen Zugang auf, politische Argumentationen kriteriengeleitet zu verstehen und zu reflektieren. Analysegegenstand sind dabei stets sprachlich verfasste Botschaften entsprechend relevanter Akteure. Arbeitet man zur Konzeptionalisierung von Lernarrangements beispielsweise mit den drei Dimensionen des Poltischen (vgl. Hilligen 1991), könnte politische Legitimation wie folgt aufgegriffen werden. Die Dimension der Politics repräsentiert die Analyse von sprachlich verfassten Legitimationsstrategien politischer Akteure. Im Vordergrund steht dabei das Aufdecken von Legitimationskriterien hinter rhetorischen Figuren und sprachlicher Umschreibung. Politische Legitimation wird hier sinngemäß als Phänomen auf der Mesoebene adressiert. Legitimationsstrategien lassen sich zudem auch im Verlauf von Entscheidungen zu bestimmten Politikfeldern analysieren. So ließe sich z. B. in Bezug auf die Verkehrspolitik fragen, mit welchen Argumenten der Ausbau einer bestimmten Infrastruktur befördert und eine andere vernachlässigt wird. Über die angelegten Legitimationskriterien lässt sich dann eine Policy beschreiben beziehungsweise lassen sich die jeweiligen Policies der relevanten Akteure beschreiben. Letztlich lässt sich auch die Ausgestaltung der vorzufindenden politischen Ordnung(en) über die Analyse angelegter Legitimationskriterien bestimmen. Indem Gründe für Fortbestand und Wandel politischer Ordnungen analysiert werden, ließe sich Legitiamtion darüberhinaus auch innerhalb der Polity-Dimension als Phänomen auf der Makroebene adressieren.

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3.2 Kontext: Politische Urteilsfähigkeit Versteht man – wie hier – das legitimierende und delegitimierende Bewerten politischen Handelns als Wesensmerkmal politischer Legitimation, ist eine Nähe zur politischen Urteilsbildung augenfällig: Offensichtlich sind Bewerten und Urteilen ähnliche Tätigkeiten.4 Politische Urteile im politikdidaktischen Sinn werden jedoch in der Regel in ihrer Qualität bemessen (vgl. z. B. GPJE 2004). Schließlich gilt es seitens der Lernenden ihre politische Urteilsfähigkeit auszubauen. Entsprechend muss eine Abstufung im Niveau des jeweiligen politischen Urteils angenommen werden. Als Kriterien, an denen die Qualität eines politischen Urteils bemessen werden kann, werden zum Beispiel der Grad der Reflexivität, der Einbezug anderer Positionen/bestimmter Wertkategorien wie beispielsweise Gemeinwohl in das eigene Urteilen oder die schlüssige Argumentation in der Darlegung des eigenen Urteils diskutiert (vgl. z. B. Schröder und Klee 2017; Detjen et al. 2012, S. 49; Juchler 2005). Legitimatorische Aussagen unterscheiden sich dagegen in ihrer Wirkkraft eher an Kategorien wie Reichweite und Suggestionsmacht der sich äußernden Person oder Institution und bedürfen in ihrer Funktion im politischen Prozess zunächst einmal keiner externen Qualitätsbemessung, um zu gelten. Hinzu kommt, dass sich legitimierende bzw. delegitimierende Aussagen auf eine Vielzahl von Legitimationskriterien zurückführen lassen. Diese müssen, obgleich Legitimation a priori unter demokratischen Gegebenheiten betrachtet wird, nicht unbedingt im demokratischen Sinne sein.5 Nullmeier et al. (2010) verweisen auf 29 Legitimationskriterien, welche sie in Diskursanalysen nachweisen können. Diese differenzieren sie entlang der Achsen input- und output-orientiert (nach Scharpf 1999) sowie zwischen demokratie- und ­nicht-demokratiebezogen. So verstehen Nullmeier et al. (2010) zum Beispiel eine Aussage, die ein bestimmtes Handeln aufgrund der Einhaltung der Menschenrechte legitimiert, als output-orientiert und demokratiebezogen (vgl. Schneider 2010, S. 53).6 4Eine

allgemein gültige Unterscheidung ist tatsächlich nicht zu treffen, sondern bleibt eine Frage der jeweiligen, kontextuellen Begriffsdefinition. 5Demokratisch heißt hier, wenn es sich bezieht auf „a System of governance in which Ruders are held accountable for their actions in the public realm by citizens, acting indirectly through the competition and cooperation of their elected representatives“ (Schmitter und Karl 1996, zit. nach Schneider 2010, S. 52). 6Die Einordnung jeweiliger Aussagen und auch die Ausdifferenzierung der Einordnung in die jeweiligen Kategoriedimensionen ist sicherlich diskutabel. Der zentrale Punkt ist jedoch, dass eine Vielzahl von differenzierbaren Kriterien aufgedeckt wurde.

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Kriterien, die im politikdidaktischen Diskurs vorgeschlagen werden, sind dagegen in der Regel theoriegeleitet formuliert (vgl. z. B. Manzel und Weißeno 2017, S. 80). Auch ist das Kategorisieren von Urteilen im politikdidaktischen Kontext nicht unbekannt. Verbreitet ist der Vorschlag von Massing (1997), der politische Urteile (offenbar in Anlehnung an Easton (1965) und damit ähnlich zu der Unterscheidung zwischen input- und outputorientiert) in die Kategorien Legitimität und Effizienz unterteilt.7 Dies steht nicht im Gegensatz zu den hier geführten Überlegungen. Es schient jedoch unter Annahme eines Verständnis politischer Legitimation als Bewerten und Begründen politischen Handelns sinnvoll, diese Kategorien deutlich zu erweitern beziehungsweise auszudifferenzieren.8 Letztlich hängt die Frage, welche Schnittmenge/inhaltliche Übereinstimmung zwischen politischen Urteilen im politikdidaktischen Sinn und politischen Legitimieren zu finden ist, am jeweiligen Ideal politischer Urteilsfähigkeit. Jenseits dieser Frage kann die Adressierung politischer Legitimation als Bewerten und Begründen politischen Handelns in jedem Fall zu einer Ausdifferenzierung politischer Urteile beitragen. Beispielsweise indem sprachlich verfasste Botschaften auf darin enthaltende Legitimationsargumente (Kriterien) untersucht, diskutiert und letztlich beurteilt werden. Legitimation lässt sich dabei auf allen drei oben vorgeschlagenen Betrachtungsebenen adressieren.

3.3 Kontext: Politische Handlungsfähigkeit Kriterien, anhand derer politisches Handel legitimiert oder delegitimiert wird, sind (im gewissen Maße formbares) Produkt gesellschaftlicher Auseinandersetzung. Ihre Gültigkeit und Ausdeutung muss stets im Diskurs aus-

7Massings

Kategorie ‚Legitimität‘ erscheint zunächst aufgrund der begrifflichen Überschneidung schwierig handhabbar. Problematisch ist allerdings lediglich das Aufmachen der anscheinend gegensätzlichen Kategorie Effizienz. Denn eine Bewertung über die Kategorie Effizienz hat gleichwohl legitimierende/delegitimierende Wirkung. Tatsächlich ist Effizienz eine von den von Nullmeier et al. (2010) herausgestellten Legitimationsmustern. Es wird als output-orientiert und nicht demokratiebezogen eigeordnet. 8Ähnliches kann auch für die Unterteilung in Wert- und Sachurteil (vgl. GPJE 2004) gelten, je nach dem wie das ‚Sachurteil‘ konkret verstanden wird und ob es als Argument in einem Argumentationskontext eingesetzt wird oder lediglich Ergebnis einer sozialwissenschaftlichen Analyse ist.

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gehandelt werden (vgl. Forst und Günther 2011). Entsteht Legitimation im kommunikativen Austausch über politisches Handeln, bedeutet die aktive Teilhabe am Legitimationsdiskurs somit selbst politische zu handeln. Auch wenn die Wirkkraft des individuellen Legitimieren oder Delegitimieren in der Regel nur gering ist, ergibt sich hier doch ein politisches Moment. Um subjektivrelevante Legitimationskriterien gezielt vorzutragen und auch im Diskurs zur Disposition zu stellen, ist es zunächst notwendig, sich der eigenen Legitimationskriterien bewusst zu werden. Dazu gehört, entsprechende Kriterien herauszustellen. Das heißt, sie zu benennen und ihren inhaltlichen Gehalt in der jeweiligen subjektiven Vorstellung zu klären. Beispielsweise sei für eine Lernende relevant, dass Menschen ohne Arbeit vergünstigt kulturelle Angebote nutzen können. Dies ließe sich auf ein Legitimationskriterium wie gesellschaftliche Solidarität bringen. Zu klären wäre im Weiteren, welche Konturen dieser Begriff hat. Umfasst Solidarität eventuell auch deutlich höhere Steuerabgaben Besserverdienender? Orientiert sich Solidarität an Gleichheit und/oder vielleicht an Mitgefühl? Über das inhaltliche Ausgestalten subjektiv relevanter Legitimationskriterien lässt sich so auch die eigene politische Identität entfalten, denn die Lernenden werden befähigt, ihre politische Position ausdifferenziert zurück in den Legitimationsdiskurs zu tragen. Dies kann zum einen als politisches Handeln geltend gemacht werden, als auch zum anderen als Ausbau politischer Handlungsfähigkeit verstanden werden: Gerade wenn die normativen Maßstäbe, mit denen politisches Handeln begründet wird, und diejenigen, die innerhalb der Bevölkerung herangezogen werden, in eine Schieflage geraten, gilt es im Sinne politischer Mündigkeit Lernende in die Lage zu versetzen, individuell politisch Position zu beziehen (vgl. GPJE 2004, S. 17). In Bezug auf politische Handlungsfähigkeit wird politische Legitimation damit auf der Meso- und Mikroebene angeschnitten.

4 Ansatzpunkt: Lernvoraussetzungen Die Auseinandersetzung mit sprachlich verfassten Legitimationsargumenten hat hohes Potenzial für politisches Lernen. Schließlich vermag dadurch – je nach Einbindung in jeweilige Lehr-Lernarrangements – jede der oben betrachteten Kompetenzen geschärft zu werden. Mit Blick auf weitergehende, konzeptionelle Überlegungen stellt sich nun zunächst die Frage nach vorhandenen Lernvoraussetzungen. Welche Legitimationsaussagen sind also für Lernende relevant?

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Diese Frage ist empirisch untersucht worden (vgl. Girnus 2019).9 Die Ergebnisse dieser Studie unterstreichen die Wichtigkeit, Legitimationskriterien in Lernarrangements explizit zu machen und nach Möglichkeit auszudifferenzieren. So implizieren die Befunde erstens, dass mit Blick auf das Bewerten und Begründen politischen Handelns verschiedene Relevanzstrukturen vorliegen. Das heißt, politisches Handeln wird zum einen nach mehreren Kriterien beurteilt, wobei jeweilige Kriterien zum anderen für die Befragten jeweils nicht gleichermaßen relevant sind. Zweitens lassen sich bezüglich der Relevanzzuschreibungen zu den verschiedenen Legitimationsargumenten gruppenspezifische Unterschiede feststellen.10 Gleichwohl sich die Relevanzzuschreibung zwischen den Gruppen in Bezug auf einzelne Aspekte teilweise ähnelt, ergeben sich insgesamt gut identifizierbare, gruppenspezifische Relevanzstrukturen. Zudem zeigt sich, dass bestimmte Legitimationsargumente zwischen den Gruppen konträr eingestuft werden. So wirkt beispielsweise eine Begründung politischen Handelns über religiöse Werte teils delegitimierend, teils irrelevant und teils legitimierend. Drittens finden sich keine auffälligen Zusammenhänge zwischen den Variablen im Datensatz. Dies wird dahingehend interpretiert, dass eine dazu notwendige verallgemeinerte Begriffsbildung innerhalb der Befragtengruppe nicht vorliegt. Mit anderen Worten: Eine begriffliche Definition von Legitimationskriterien, wie sie beispielsweise von Nullmeier et al. (2010) praktiziert wird, entspricht einem wissenschaftlichen Abstraktionsniveau, das sich von der erhobenen subjektiven Sicht in zweierlei Weise unterscheidet. Zum einen kann angenommen werden,

9Die

Untersuchung lief 2013 als Paper-Pencil-Befragung im Land Bremen. Unter Abwägung der Ausschöpfungsquote bei einer zufälligen Stichprobenziehung fiel die Entscheidung auf eine willkürliche, räumlich begrenzte, aber vielseitige Stichprobe (vgl. Gordon 1999, S. 8 f.). Die Grundgesamtheit stellt die Schülerschaft der damaligen allgemeinbildenden gymnasialen Oberstufen im Land Bremen (10.104 Schüler:innen). Die Stichprobe umfasst 939 Schüler:innen aus 20 der 31 Oberstufen und aus nahezu allen Stadtteilen. Der Erhebungsbogen umfasste zwei Teile: Zum einen ein Rating mit 118 Items mit neunstufiger Antwortskala, die in Anlehnung an Nullmeier et al. (2010) operationalisiert wurden. Zum zweiten Ranking mit 29 Karten, die jeweils ein Aussage ebenfalls in Anlehnung an Nullmeier et al. (2010) beinhalteten. Die Teilnehmenden waren aufgefordert von diesen 29 Aussagenkarten zehn subjektiv bedeutsame Aussagen auszuwählen und ihrer Relevanz nach zu ordnen. 10Zum Aufdecken der Gruppenstruktur im Datensatz wurde eine Clusteranalyse in Anlehnung an Fromm (2012) durchgeführt, anhand derer im Datensatz sieben unterschiedliche Gruppen identifiziert werden konnten. In die Berechnung konnte eine Fallzahl von N = 450 einfließen.

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dass die Homogenität der Wahrnehmung hier nicht in gleicher Weise gegeben ist, zum anderen lässt sich vermuten, dass die Befragten bei der Beantwortung der Aussagen nicht auf theoretisch deduktive Schemata zurückgreifen. Es lässt sich also interpretieren, dass sich hierin der Unterschied zwischen dem Grad an Elaboriertheit zwischen Lebenswelt und Wissenschaft zeigt. Daraus folgt viertens, dass Legitimationskriterien in Lernarrangements nicht als gegeben und ausformuliert adressiert werden können. Eine Klärung übergeordneter (abstrakter) Begrifflichkeiten sowie der bestehenden Vorstellungen dazu ist notwendig, um nicht aneinander vorbei zu kommunizieren. Legitimationskriterien müssen in rezipierten und vorgetragenen Legitimationsargumenten explizit gemacht werden, um intendiertes politisches Lernen (anhand politischer Legitimation) anzustoßen.

5 Fazit und Ausblick In der Zusammenschau zeigt sich, dass ein zeitgemäßes Verständnis politischer Legitimität, in dem diese in gesellschaftlichen Legitimationsdiskursen über sprachlich verfasste Botschaften produziert wird, äußerst anschlussfähig für politisches Lernen ist. Misst man politisches Lernen anhand des Ausbaus sozialwissenschaftlicher Analyse-, politischer Urteils- und politischer Handlungsfähigkeit, eignet sich politische Legitimation in allen drei Fällen als Lerngegenstand. Das Erfassen und Verhandeln von Legitimationskriterien innerhalb vorgetragener und eigener Legitimationsargumente ist dabei zentral. Mit anderen Worten: Es geht darum, herauszustellen, über welche Gründe gesprochen wird, wenn politisches Handeln kommentiert wird. Dies ist in keiner Weise trivial. Begriffe, Sprachfiguren und Argumentationen können unterschiedlich verstanden werden. Auch können sprachlich verfasste Botschaften mehr als ein Legitimationskriterium transportieren. Zudem werden nach Verständnis und eigener Auffassung Legitimationskriterien in unterschiedlicher weise aktiviert. Jenseits der Rezeption verändert sich der inhaltliche Gehalt von Legitimationskriterien im Diskurs. Es handelt sich nicht um statische Werte, selbst wenn sich ihre Benennung über größere Zeiträume wenig verändert. Hierin ist sicherlich eine Analogie zu Sprache insgesamt zu sehen. In der praktischen Umsetzung geht die Forderung, politische Legitimation in Lernarrangements zu adressieren, damit einher, sprachsensibles Analysieren von kommunikativem Material als lernpraktisches Element insgesamt zu stärken. Gleichwohl politische Bildung in der Praxis sowieso als ein ‚textlastiger‘ Lernbereich gesehen wird, reicht ein ‚einfaches Besprechen‘ sprachlich verfasster Bot-

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schaften nicht aus. Sprache muss vielmehr im hermeneutischen Sinne verstanden werden. Legitimationskriterien in bewertenden, sprachlich verfassten Botschaften explizit zu machen, bedeutet diese sprachanalytisch und inhaltlich deutend in einem diskursiven Setting mit Blick auf mögliche Kriterien zu dekonstruieren, zu deuten und zur Disposition zu stellen.

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Konfliktlösende Räume in Schulbüchern Andreas Kegel

Zusammenfassung

Metaphern spielen in der Sprache eine wesentliche Rolle. Einzelmetaphern lassen sich zu konzeptuellen Metaphern systematisch verknüpfen. Konzeptuelle Metaphern verdeutlichen, wie Menschen einen Ausschnitt der Realität verstehen. Metaphern tauchen auch in Schulbüchern auf. Schulbücher stellen Politik metaphorisch als konfliktlösendes Handeln in einem sozialen und komplexen Raum dar. Die Handlungen sind eine wiederkehrende Abfolge von Ereignissen, also ein Kreislauf. Beide Räume stehen sich trennscharf gegenüber, weil der soziale Raum wie die Schule keinen politischen, aber der komplexe Raum wie das Parlament einen politischen Zweck erfüllt. Politik als Kreislauf unterstützt Menschen darin, den komplexen Raum besser zu verstehen. Die trennscharfe Gegenüberstellung beider Räume erschwert das Politik-Lernen. Schulbücher vermitteln, dass der Alltag und die institutionalisierte Politik sich nicht gegenseitig beeinflussen. Dadurch motivieren Schulbücher nicht, politische Zusammenhänge zu verstehen; vielmehr sollten sie den Begriff ‚Politik‘ alltagsbedeutend darstellen, indem sie zwischen beiden Räumen eine metaphorische Verbindung schaffen. Forschungsrelevant wäre eine didaktische Rekonstruktion von themengleichen Schülermetaphern und Metaphern in Schulbüchern.

A. Kegel (*)  Kurt-Körber-Gymnasium Hamburg, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Juchler (Hrsg.), Politik und Sprache, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30305-1_16

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1 Metaphern Menschen nutzen Sprachbilder, die aus ihren konkreten Erfahrungen stammen. Sie verstehen Streit als Kampf, weil sie sich in der Diskussion wie im Kampf verteidigen, angreifen und zerstören (vgl. Lakoff und Johnson 2011, S. 5). Eher konkret-erfahrbarere Konzepte helfen, eher abstraktere Konzepte besser zu verstehen. Metaphern sind hilfreich, führen jedoch zu einer einseitigen Wahrnehmung (vgl. ebenda, S. 10). Sie konstruieren Realität. Konzeptuelle Metaphern entstehen durch eine systematische Zusammenführung von Metaphern. Solche Zusammenhänge sind für den Fachunterricht relevant (vgl. Rütten 2016; Kegel 2018). Schulbücher sind bedeutend. Sie helfen, Inhalte zu vermitteln, Prüfungen vorzubereiten und Lernerfolgskontrollen durchzuführen. Ihre Inhalte sind selektiv: Herausgeber und Autoren wählen Materialien aus und beeinflussen den Sozialkundeunterricht (vgl. Oberle und Tatje 2017). Diese Materialien enthalten Metaphern, wodurch Realität für Lehrkräfte und Lernende konstruiert wird – wie beim abstrakten und umstrittenen Begriff ‚Politik‘. Das Ziel der Studie liegt darin aufzuzeigen, anhand welcher konzeptuellen Metaphern ‚Politik‘ in Schulbüchern dargestellt wird.

2 Zum Stand der Forschung 2.1 Metaphorische Konzepte Metaphern nutzen eher konkretere Handlungen, um eher abstraktere Sachverhalte verständlicher zu machen. Konzeptuelle Metaphern ermöglichen, die Wirklichkeit systematischer, aber einseitig zu verstehen. Der Begriff ‚Metapher‘ ist umstritten (vgl. Schmitt et al. 2018, S. 1 ff; Schmitt 2017, S.  39). Eine Metaphernanalyse bedarf einer brauchbaren Definition: Metaphern ermöglichen, „to comprehend one aspect of a concept in terms of another […]“ (Lakoff und Johnson 2011, S. 10; vgl. Bischof 2015, S. 11). Eine Metapher ist eine bildlich übertragene Sprache. Jede Metapher hat einen Quellursprung im eher konkreten Erfahrungsraum (source domain). Diese Quelle ermöglicht es, ein eher abstrakteres Phänomen verständlich zu machen – dem Zielbereich (target domain). Metaphorisches Sprechen ist das Sprechen und das Verstehen im übertragenen Sinn (vgl. Köveceses 2015, S. 2; Schmitt et al. 2018, S. 2); sie bilden eine Brücke zwischen zwei mentalen Ideen. Die Brückenpfeiler bestehen aus dem körperlichräumlichen und kulturellen Bereich (siehe Abb. 1). Der Erstere ist für Menschen durch ihre Handlungen und Beobachtungen konkret erfahrbar (vgl. Lakoff und Johnson 2011, S. 56–57). Die positive Idee des gesellschaftlichen Aufstiegs ist beispielsweise mit der räumlichen Erfahrung oben verknüpft. Weil physische Bewegungen

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Abb. 1   Was ist eine Metapher?

universell gelten, sind Metaphern intersubjektiv verständlich. Ihre Intersubjektivität entsteht auch durch kulturelle Prägung. Weil ein fitter und schlanker Körper gesellschaftlich positiv besetzt ist, nehmen viele Menschen einen solchen Staat positiv wahr – wie im Neoliberalismus. Das menschliche (Sprach-)Verständnis ist durch kulturelle Sozialisation geprägt (vgl. ebenda). Metaphern sind systematisch und subjektiv. Ein metaphorisches Konzept bzw. konzeptuelle (vgl. Rütten 2016) bzw. systematische Metapher (vgl. Cameron 2010, S. 91) bündelt mehrere Metaphern mit einem vergleichbaren Quell- und Zielbereich (siehe Abb. 2). „Metaphorische Konzepte fassen mehrere metaphorische Redewendungen zusammen, die aus einem gemeinsamen (meistens s­ innlich-konkreten) Bereich von Erfahrung auf einen (meist abstrakten) Bereich übertragen werden“ (Schmitt et al. 2018, S. 6; vgl. Lakoff und Turner 2001, S. 51; Lakoff 2014, S. 131; Kövecses 2015, S. 2). Ein metaphorisches Konzept ist subjektiv. Es hebt bestimmte Bereiche besonders hervor und blendet andere aus (vgl. Lakoff und Johnson 2011; Schmitt et al. 2018, S. 23); so verweist die Forschung auf ihre Wirkmächtigkeit: Obama versteht den Kampf

Abb. 2   Konzeptuelle Metaphern

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gegen den Klimawandel als Rennen; die US-Regierung legitimierte den Golfkrieg in den 1990ern mit einer märchenhaften Narration; Schüler*innen haben metaphorische Konzepte zu ‚Politik’; Metaphern werden in Lehrbüchern unkritisch verwendet (vgl. Negrea-Busuioc 2017; Lakoff 1991; Bischof 2015, 24 ff; Kegel 2018; Graupe und Steffestun 2018). Lernen wird als Reise verstanden. Lernen als Container betont deutlicher das Speichern von Wissen (vgl. Szuluka 2011, S. 67). Weil konzeptuelle Metaphern unsere Realitätswahrnehmung verdeutlichen und steuern, sind sie forschungsrelevant.

2.2 Schulbücher in der politikdidaktischen Forschung Obgleich Schulbücher wirkmächtig sind, setzt sich die politikdidaktische Forschung kaum damit auseinander (vgl. Oberle und Tatje 2017, S. 113; Weißeno 2013, S. 151). Weißeno (2013) beklagt eine mangelnde Möglichkeit, den Fachsprachenerwerb mithilfe des Schulbuches umzusetzen. Manzel und Schelle (2017) geben einen Überblick zum Forschungsstand.

3 Das Forschungsdesign 3.1 Das Material Das Material bezieht sich auf aktuelle Schulbücher unterschiedlicher Verlage. Aktualität gewährleistet Praxisnähe; unterschiedliche Verlage ermöglichen ein breites Spektrum. Aus zeit- und arbeitspragmatischen Gründen bezieht sich die Analyse auf wenige Seiten, die sich explizit mit der Definition von ‚Politik‘ beschäftigen. Weitere Themen würden die Analyse überfordern. Bei Jockel und Lange (2015) bezieht sich die Analyse auf die Seiten 162–163 sowie 180–182, bei Kurz-Gieseler (2015) auf 9–11 und 14–16 und bei Becker et al. (2018) auf 238 und 342. Die theoretische Sättigung wird nicht erreicht (vgl. Schmitt 2017, S. 518). Die gefundenen metaphorischen Konzepte erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Texte und Definitionen stammen aus unterschiedlichen Quellen. Insofern die Verfasser die Materialauswahl vornehmen, werden sie als Quelle angegeben.

3.2 Die konkreten Analyseschritte Die Analyse findet in zwei aufeinander bezogenen Schritten statt: Der erste sammelt Metaphern. Der zweite gruppiert sie (vgl. ebenda, S. 470 ff. und S. 485 – 6),

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indem er metaphorische Konzepte mithilfe metaphorischer Vehikel erstellt. „Metaphor vehicles are central to the various metaphor phenomena covered by the framework, and can be connected theoretically to other aspects of metaphor at other timescales“ (Cameron 2010, S. 79). Ähnlich wie bei Kegel (2018) werden die Materialien nach Vehikeln kategorisiert, die vergleichbare Verbindungen zwischen der Bildsprache und den Politikideen verdeutlichen, also metaphorische Konzepte ergeben. Der Kontext der Metapher ist wichtig. Die Funktion einer Metapher ergibt sich daraus, was der Verwender ausdrücken will – in linguistischer, affektiver, physischer und kultureller Dimension (vgl. Cameron 2010, S. 78; ­Negrea-Busuioc 2017). Beide Schritte bedingen sich gegenseitig. Einzelmetaphern lassen sich mithilfe gefundener metaphorischer Konzepte aufspüren (vgl. Schmitt 2017, S. 487). Weil sich Metaphern aus einem Diskurs zwischen dem Leser und den Texten ergeben, ist die Analyse hoch interpretativ. Gefundene Metaphern sind kursiv dargestellt, um Sprachbilder der Schulbücher transparent darzustellen. Sie können nicht mit anderweitigen – auch in diesem Text vorkommenden – Metaphern verwechselt werden.

4 Politik als metaphorische Konzepte in Schulbüchern Die Schulbücher bedienen sich eines komplexeren Bildes: Politik ist konfliktlösendes Handeln und ein Kreislauf. Politik ist auch ein sozialer und komplexer Raum. Beide Räume stehen sich getrennt gegenüber.

4.1 Politik ist konfliktlösendes Handeln Politik wird als ein Interessenskonflikt dargestellt. Politisches Handeln ist konfliktlösend. Jockel und Lange (2015, S. 163) verdeutlichen Politik als „gesellschaftliches Handeln, […] welches darauf gerichtet ist, gesellschaftliche Konflikte verbindlich zu regeln.“ Sie verbildlichen Politik als „Kampf um die Veränderung oder Bewahrung bestehender Verhältnisse“ (ebenda) und als ein „Kampf um die rechte Ordnung“ (ebenda). Dem setzen sie den Frieden als „Gegenstand und das Ziel der Politik“ entgegen. Im Zusammenhang der drei Dimensionen des Politischen veranschaulichen sie policy als interessensabhängig, weswegen „der inhaltliche Gestaltungsraum von Politik mit Konfliktstoff gefüllt“ (ebenda, S. 182) sei. Ob sich Politik auf Handlungen, gesellschaftliche Bedingungen bzw. Ordnung oder

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der Gestaltung eines Raums bezieht, bleibt Politik konflikthaft. Das Konflikthafte entsteht durch Interessenskollision. Politik befriedet den Konflikt. Ähnlich betont Kurz-Gieseler (2015, S. 15) die Interessenskollision. Als Handeln entsteht Politik bei folgenden Merkmalen: „der ausdrückliche Bezug auf konflikthafte Situationen, das Streben nach Macht, die Führung von Menschen, das Ordnen und Zuordnen von Gruppe, das Verhandeln, das verbindliche Entscheiden.“ Er differenziert zwar zwischen dem institutionellen Fernraum und dem lebensweltlichen Nahraum. Er sieht jedoch die gemeinsame Schnittmenge in der „Regelung des Zusammenlebens. Auch hier gibt es Streit um diese Regelung und in diesem Streit spielen ebenfalls Gruppierungen, Interessen, Macht und Überzeugungen eine Rolle. In beiden Fällen bedarf es offensichtlich der Fähigkeit, die Situationen zu erfassen, im rechten Augenblick einen Kompromiss zu formulieren und eine Mehrheit zu finden“ (ebenda). Er definiert Politik im weiteren Sinne als „alles Handeln, bei welchem Menschen […] um die Bewältigung konflikthafter Situationen ringen, um die Vermittlung und Vereinbarung unterschiedlicher, möglicherweise aus gegenteiliger Interessen und Absichten“ (ebenda). Auch in verschiedenen Definitionen des Politischen metaphorisiert Kurz-Gieseler (2015, S. 16) Politik als „Kampf um die rechte Ordnung“, denn sie enthüllt „ihren kontroversen Charakter im historischen Konflikt angebbarer, auf Herrschaftserhaltung oder Herrschaftsaufhebung gerichteter Tendenzen“ (ebenda). Interessen sind vordergründig: „Politische Aktionen und Interessen führen zurück auf Interessenskonflikte, die notwendig aus dem gesellschaftlichen Reproduktionsprozess hervorgehen“ (ebenda). Politik steht nicht still: „Politik ist die bewegliche Regelung der Verhältnisse von Menschen untereinander […]“ (ebenda). Das Konflikthafte von Politik bezieht sich auf die gesamte Gesellschaft, denn es ist „der alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens durchdringende Kampf […] um die Verwirklichung ihrer sozialökonomisch bedingten Interessen und Ziele sowie die Stellung der Schichten und Klassen zur Macht“ (ebenda). Politik wird „vergehen, wenn der volle Sieg des Kommunismus im Weltmaßstab erreicht ist und die gesellschaftliche Entwicklung ihren politischen Konflikt verliert“ (ebenda). Kurz-Gieseler (2015) metaphorisiert also das Konflikthafte: Menschen streiten, kämpfen und ringen um ihre Interessen. Politik findet durch Konflikte zu Lösungen. Er formuliert einen Kompromiss. Politik verschwindet, wenn Gesellschaft nicht mehr konflikthaft ist. Becker et al. (2018, S. 238) betrachten ‚Politik‘ neutraler, aber doch als Konflikt. Obgleich der Begriff „zur Beschreibung unterschiedlichster Phänomene verwendet“ (ebenda) wird, bleibt es eine Form menschlichen Handelns. Dies gilt, „wenn das Zusammenleben von Menschen als solches zu Problemen führt bzw. etwas Konflikthaftes in ihm besteht und das Handeln auf eine Lösung des Problems bzw. des Konflikts gerichtet ist“ (ebenda). Die Autoren unterscheiden

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beim konflikthaften Handeln zwischen Politik im weiteren und engeren Sinne. Das Konflikthafte politisiert den sozialen Nahraum, weil es „bei Konflikten zwischen Menschen in Gruppen (z. B. Verein, Schulklasse) zu einer spezifischen Form der Konfliktregelung führt“ (ebenda) und „ein konfliktlösendes Handeln erforderlich [macht]“ (ebenda). Dies gilt auch für den institutionellen Fernraum. Dessen Ziel sei es, „durch politisches Handeln Konflikte, die durch die verschiedenen Interessen der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen entstehen, zu regeln“ (ebenda).1 Dass Politik von Konflikten geprägt ist, verdeutlichen die Autoren auch im Online-Zusatzmaterial des Buches. Demnach ist Politik das „gesellschaftliche Handeln, […] welches darauf gerichtet ist, gesellschaftliche Konflikte über Werte verbindlich zu regeln“ (Becker et al. 2018, Online-Zusatzmaterial). In weiteren Definitionen entfernen sich die Autoren vom Konflikt. Sie sprechen zum Beispiel vom „Kampf um die Veränderung oder Bewahrung bestehender Verhältnisse“ (ebenda) bzw. „Kampf um die rechte Ordnung“ (ebenda). Der Kampf zeigt sich auch in der Machtverfügung: „Politik ist die Summe der Mittel, die nötig sind, um zur Macht zu kommen und sich an der Macht zu halten und um von der Macht den nützlichsten Gebrauch zu machen“ (ebenda). Dabei bezieht sich Politik auf das „Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung […]“ (ebenda). Auch hier bedarf das Konflikthafte einer Lösung; entsprechend handelt Politik: Politik kämpft, sorgt für die gute Ordnung und regelt Konflikte, die aus Interessensdivergenzen entstehen. Im Gegensatz zu Jockel und Lange (2015) thematisieren Becker et al. (2018) und Kurz-Gieseler (2015) auch die Machtverteilung. Das Gemeinsame zwischen den Schulbüchern äußert sich im konfliktlösenden Handeln, sodass sich das metaphorische Konzept ‚Politik ist konfliktlösendes Handeln‘ ergibt.

4.2 Politik ist sozialer Raum Schulbücher verstehen Politik auch als einen sozialen Raum. Obgleich es ein abstraktes Gebilde ist, findet Politik im Alltag statt. Jockel und Lange (2015, S. 162) metaphorisieren Politik als einen Raum, der für Jugendliche besonders interessant ist. Jugendliche sind aber auch desinteressiert. Das Desinteresse erfährt „Brüche, wenn es darum geht, in der eigenen Lebenswelt etwas zu verändern“ (ebenda). Sie verstehen Politik als jugendliches

1Auf

der Seite 239 erläutern Becker et al. (2018) den ‚Staat‘, das ‚politische System‘, das ‚Input und Output des politischen Systems‘ und das ‚politische Entscheidungssystem‘. Sie beziehen sich aber auf vergleichbare Metaphern bzgl. des konfliktlösenden Handelns.

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Engagement. Sofern Jugendliche „ihre Stärke einbringen können […], lassen sie sich auf politische Themen ein – aber eben nur auf solche, die ihnen interessant, bearbeitungswürdig und –bedürftig erscheinen“ (ebenda, S. 163). Jugendliches Interesse steigt bei Themen, „die im (sozialen) Nahraum kommunikativanschlüssig, sozialräumlich erreichbar und empathisch nachvollziehbar sind […]“ (ebenda). Das Politikinteresse hänge vom Nahraum ab. Sie haben ein „Interesse an Gestaltung von Lebensräumen“ und suchen ein „Sprachrohr […], die die eigenen Probleme, Sehnsüchte, aber auch (politische und soziale) Interessen artikulieren können – und zwar in ‚ihrer‘ Sprache und mit Bezug zu ‚ihren‘ Themen“ (ebenda). Dies gilt, wenn sie „sich persönlich für eine konkrete soziale Sache im Nahumfeld […] engagieren“ (ebenda) können. Die Autoren beschreiben Politik als „das dem Menschen angeborene Streben nach dem Leben in der Gesellschaft mit Freunden.“ Politik ist interessant, wenn es eine soziale Nähe hat; es betrifft also das Nahumfeld, den Lebensraum bzw. den Sozialraum. In diesen Räumen dominiert eine jugendliche Sprache. Der Raum ist ‚anschlüssig‘ an die jugendliche Kommunikation. Politik ist räumlich respektive emotional nachvollziehbar. Auch metaphorisieren Becker et al. (2018) Politik im Nahraum. Sie beziehen sich auf Gruppen mit einem nicht-politischen Zweck. Obgleich Schulklassen, Schulen, Jugendgruppen und Betriebe unpolitisch seien, „kommt auch in diesen sozialen Gebilden, gleichsam nebenher (sekundär), Politik vor, nämlich Regelung des Zusammenlebens“ (Kurz-Gieseler 2015, S. 15). Am Beispiel einer Schulsituation, in der es um die Einführung eines webbasierten Oberstufenforums geht, erläutert Kurz-Gieseler (2015, S. 10–11) die Kategorien des Politischen. Hier wird „eine verbindliche Regelung gefunden“ (ebenda, S. 11). Jeder Betroffene versucht, „möglichst viel vom eigenen Interesse einzubringen“ (ebenda). Weil jeder unterschiedliche Macht, aber auch „Überzeugungskraft, Verbindungen, Abhängigkeiten“ hat, können einige „delegierte Macht, andere Amtsautorität in die Waageschale werfen. Man agiert in Gruppen und versucht evtl. [sic], durch Kompromiss eine Koalition zu bilden“ (ebenda). Diese Metaphern erklären zwar, was Politik ist, nämlich konfliktlösendes Handeln. Primär erläutert Kurz-Gieseler (2015) jedoch, warum eine beispielhafte Schulsituation politisch ist. Bei Becker et al. (2018, S. 238) ist Politik in einem Verein oder in einer Schulklasse „nicht der eigentliche Zweck der Gruppe. Der Zweck eines Sportvereins ist z. B. das Sportmachen und doch kann es zu verschiedenen Ansichten über die Gestaltung der Sportstätte kommen […].“ Ob Schulklasse, Jugendgruppe oder Betrieb: Politik findet in diesen sozialen Gebilden statt. Diese Gebilde, also lebensnahe Räume wie die Schulklasse, der Betrieb oder Sportverein sind von unterschiedlichen Interessen geprägt. Politik findet in einem sozialen Raum statt, in der Menschen zwar keinen politischen Zweck verfolgen, aber dennoch politisch agieren. Für Kurz-Gieseler (2015), Becker et al. (2018) und Jockel und Lange (2015) ist Politik ein sozialer Raum.

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4.3 Politik ist komplexer Raum Die Schulbücher verstehen Politik nicht nur als sozialen, sondern auch als einen komplexen, jungen Menschen entrückten Raum. Obgleich sie nicht direkt von einem Raum sprechen, stellen sie die Komplexität dem Nahraum gegenüber. Jockel und Lange (2015) verbildlichen Politik als komplexe Institution. Sie metaphorisieren Politik als „Rahmen von Institutionen zur Herrschaftsausübung“ (ebenda, S. 162). Themen finden statt, die für Jugendliche unterinteressant sind. Diese Themen bringen sie „mit institutionalisierter beziehungsweise parlamentarischer Politik in Verbindung […]“ (ebenda). Die institutionalisierte Politik sei eine Form von Politik, bei der „die jugendlichen ‚Bildungsfernen‘ […] als ‚politikfern‘ bezeichnet werden können […]“ (ebenda). Politikferne entstünde, wenn es darum geht, „die politische Berichterstattung systematisch zu verfolgen“ (ebenda) oder „der Diskussion der politischen Kreise zu folgen“ (ebenda) oder „[i]n Kategorien der politischen Klasse zu denken“ (ebenda). Dies verorten Jugendliche „auf einem anderen, uninteressanten Planeten“ (ebenda), wenn nicht gar „in einem anderen Sonnensystem“ (ebenda). Politik ist fern von der jugendlichen Lebenswelt. Politik sei in einem anderen Sonnensystem mit einer anderen Denkweise. Diese Ferne suggeriert Komplexität; zu weit entfernt erscheint Politik für Jugendliche. Politik ist kaum bis gar nicht zu verstehen, wenn man nicht in vergleichbaren Kategorien denkt. Komplexität aufgreifend, metaphorisiert Kurz-Gieseler (2015) Politik als ein kaum zu verstehendes Gebilde, also ein abstraktes Bild. Beschäftigt man sich mit politischen Informationen, „stößt man an seine Grenzen, wenn grundlegende Sachinformationen fehlen oder Fachbegriffe unbekannt sind“ (ebenda, S. 9). „[M]an versteht nicht, was ‚hinter den Kulissen‘ in der Politik passiert“ (ebenda). Daher stünde die in den 1990ern stattgefundene Verhüllung des Reichstags „für die Undurchsichtigkeit politischer Prozesse und zugleich Aufforderung, ihre Komplexität zu durchschauen“ (ebenda). Obgleich dieser Komplexität hat der Reichstag eine „Anziehungskraft“ (ebenda). Dies entstünde durch „das unmittelbare Erleben politischer Debatten und seiner Repräsentanten, das die Menschen in einer ansonsten weitgehend medial vermittelten Politik anzieht“ (ebenda). Begriffe wie ‚hinter den Kulissen‘ und Verhüllung sowie das Erleben von Debatten verdeutlichen, dass Politik auf einer Bühne stattfindet. Auf dieser Bühne spielen Repräsentanten eine Rolle. Die Bürger sind gespannte Zuschauer (Anziehungskraft). Sie müssen lernen, das komplexe Politik-Stück zu verstehen. Es ist weit entfernt von den Menschen, wenn sie nicht die Codes kennen – wie in denselben Kategorien zu denken oder Sachinformationen zu haben; nur dann können sie auf der Bühne mitspielen respektive das Bühnenstück verstehen. Politik ist ein komplexer Raum. Bezüglich der drei Dimensionen des Politischen sprechen Becker et al. (2018, S. 238) von „der komplexen Wirklichkeit von Politik“. Diese verdeutlichen die

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Autoren bei ihren Politikbegriffen. Dabei schimmert die politische Unübersichtlichkeit indirekt durch. So ist „Politik […] der Komplex sozialer Prozesse […]. Politik soll verantworten, legitimieren und die erforderliche Machtbasis für die Durchsetzung der sachlichen Verwaltungsentscheidungen liefern“ (Becker et al. 2018, Online-Zusatzmaterial). Politik wäre „die autoritativ […] verfügte Verteilung von materiellen und immateriellen Werten in der Gesellschaft“ (ebenda). Politik bezieht sich auf „die Gesamtheit aller Aktivitäten zur Vorbereitung und Herstellung gesamtgesellschaftlich verbindlich und/oder am Gemeinwohl orientierter und der ganzen Gesellschaft zugute kommender Entscheidungen“ (ebenda). Ferner sei Politik „die Lehre von den Staatszwecken und den besten Mitteln (Einrichtung, Formen, Thätigkeiten [sic]) zu ihrer Verwirklichung“ (ebenda). Becker et al. (2018) thematisieren nicht die Auswirkungen von Politik auf den Alltag; vielmehr verbildlichen sie Politik als einen komplexen Prozess. Politik ist vieles: materielle und immaterielle Werte, Gesamtheit aller Aktivitäten oder ein Komplex sozialer Prozesse. Unabhängig, was Politik ist, hat Politik eine Machtbasis; also einen Ort, der Politik ermöglicht, sich zu entfalten. Becker et al. (2018) suggerieren eine Ferne vom Alltag. Sie unterstellen Komplexität – wie Jockel und Lange (2015) und Kurz-Gieseler (2015). Sie sprechen von einem entfernten Sonnensystem bzw. von einer Bühne, auf der Politiker ein kaum zu verstehendes Stück aufführen, es sei denn man denkt in entsprechenden Kategorien bzw. Codes; und doch ist das Stück spannend. Diese Komplexität findet in einem anderen Raum statt. Politik ist ein komplexer Raum.

4.4 Politik ist ein Kreislauf Komplexität muss verstanden werden. Die Schulbücher verbildlichen Politik als einen Kreislauf. Anhand des Politikzyklus verdeutlichen sie Politik als wiederkehrende Ereignisse. Die angesprochene Komplexität versuchen Jockel und Lange (2015, S. 180) mithilfe des Politikzyklus aufzuschlüsseln. Sie stellen Politik dar „als ein komplexes Geschehen der Problembearbeitung […], das in verschiedenen Entwicklungsstadien auf unterschiedlichen Ebenen stattfindet […].“ Es sei ein „Modell, das das vielschichtige politische Geschehen strukturieren und verstehen hilft […]“ (ebenda). In diesem Verlauf „wird ein bestimmtes politisches Problem aufgeworfen“ (ebenda). Hierbei vertreten Interessensgruppen Forderungen (vgl. ebenda): „Aus diesem Diskurs heraus kann die Bedeutung des Themas hervorgehoben und die politische Handlungsrelevanz bestimmt werden“ (ebenda). Diese Diskussionen „führen letztendlich auf dem offiziellen Weg zum Entscheidungsprozess […]“ (ebenda). Das Ergebnis ruft Reaktionen hervor, „die positive oder auch negative Aspekte beinhalten können“ (ebenda, S. 181). Dabei zielen sie auf einen erweiterten Politikzyklus, um

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„eine Schablonisierung solcher komplexen Vorgänge“ (ebenda) auszuschließen. Daher „müssen weiterführende Aspekte, die zum Erfolg oder Misserfolg bestimmter politischer Bewältigungsstrategien beitragen, in den Analyseprozess einbezogen werden. […] In diesem Analysesystem werden die Phasen aus dem Politikzyklus mit den Einflussfaktoren verknüpft und bilden damit einen analytischen Rahmen für die Betrachtung politischer Prozesse […]“ (ebenda). Durch das Ergebnis des Prozesses „kommt es zu einer erneuten Diskussion […] oder es führt zur Beendigung von Politik“ (ebenda, S. 180–181). Die Analyse politischer Probleme führt zu wiederholenden Schritten. Sie bildet einen – auch grafisch dargestellten – Kreislauf. Der Kreislauf wird durchbrochen, falls eine Problemlösung stattfand. Ansonsten fängt der Kreislauf von neuem an. Politik ist die wiederkehrende Abfolge von Ergebnissen. Kurz-Gieseler (2015) versteht den Politikzyklus als einen von mehreren „Analyseinstrumente[n]“ (ebenda, 14). Anstatt ihn näher zu erläutern, belässt er es bei einer bildlichen Darstellung. Die bildliche Darstellung entspricht einem Kreislauf, der aus wiederholenden Schritten besteht. Obgleich als solches nicht gekennzeichnet, definieren Becker et al. (2018) mit dem Politikzyklus Politik. Er ist zwar „ein Analyseinstrument“ (ebenda, S. 342), jedoch versteht er Politik „als ein[en] dynamische[n] Prozess, in dem stets wiederkehrende politische Probleme neu thematisiert werden. Ausgangspunkt sind somit Probleme, die im Zusammenleben der Menschen entstehen, die die Politik lösen soll“ (ebenda). Mit dem Politikzyklus lässt sich „Politik und dessen Prozesscharakter […] gut darstellen“ (ebenda). Hier ist Politik ein Prozess, also ein Ablauf mit wiederkehrenden Problemen. Der Kreislauf bleibt im Vordergrund. Es zeigen sich vier metaphorische Konzepte: Politik ist konfliktlösendes Handeln. Es bringt divergierende Interessen zusammen und befriedet Streit. Politik ist ein sozialer Raum, der ohne politischen Zweck für Jugendliche interessant ist. Politik ist ein komplexer Raum, der durch Institutionen der Lebenswelt entrückt ist und einem politischen Zweck dient. Politik ist ein Kreislauf: Eine wiederkehrende Abfolge von Ereignissen durchdringt Komplexität. Obgleich konfliktlösendes Handeln im sozialen und komplexen Raum stattfindet, stehen sich beide Räume getrennt gegenüber. Dies demotiviert zum Lernen. Komplexität stellt eine Lernhürde dar (siehe Abb. 3).

5 Evaluation von Metaphern in Schulbüchern 5.1 Zwei Praxisvorschläge zu Schulbüchern Das Problem zeigt sich darin, dass der komplexe Raum keinen lebensweltlichen Zugriff leistet. Undurchsichtigkeit und jugendliches Desinteresse sind prägend. Kurz-Gieseler (2015, S. 17–24) führt die Alterssicherung als Beispiel für ein

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Abb. 3   Metaphorisches Verständnis von Politik in Schulbüchern

politisches Problem an. Er bezieht sich zwar auf den Generationsvertrag, verdeutlicht aber nicht, inwiefern sich eine veränderte Rentenversicherung auf das Alltagsleben auswirken könnte (höhere Rentenbeiträge verringern das Familieneinkommen; ein niedrigeres Rentenniveau wirkt sich auf den Alltag der Großeltern aus). Auch Jockel und Lange (2015, S. 182) sowie Becker et al. (2018) trennen den sozialen und komplexen Raum. Schulbücher bedürfen Fallbeispiele, um aufzuzeigen, inwiefern sich beide Räume gegenseitig bedingen. Dies zeigt sich beispielsweise in den fridays for future-Demonstrationen. Eine weitere Idee ist das Bleistiftspiel (vgl. Besand und Arenhövel 2014). Es stellt das Konflikthafte von Individualinteressen dar. Die Spiellösung liegt in echter, vorgetäuschter oder verweigerter Kooperation. Das Spiel leistet einen handlungsorientierten Zugriff auf ‚Politik‘; Spiellösungen lassen sich auf allgemeine Definitionen von Politik übertragen. Beide Praxisideen leisten einen lernstiftenden Zugriff auf ‚Politik‘, ohne entpolitisierend zu wirken. Sie verknüpfen den sozialen und komplexen Raum (siehe Abb. 4).

5.2 Didaktische Rekonstruktion Eine didaktische Rekonstruktion metaphorischer Konzepte könnte sprachsensible Lernzugänge schaffen. Metaphern sind Teil der Sprache. Schüler*innen metaphorisieren Politik unter anderem als die Formung von Gesellschaft (Kegel 2018, S. 32–36). Ein Vergleich von ‚Politik ist konfliktlösendes Handeln‘ und ‚Politik ist Formung‘ offenbart Politik als Mittel, um die Welt zu verbessern. Schulbücher zentrieren Konfliktlösung; Schüler*innen fokussieren Interessensausgleich. Durch die Zusammenführung beider Sprachwelten könnten Leitlinien

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Abb. 4   Metaphorische Darstellung von Politik in Schulbüchern

entstehen, wie Schulbücher zwischen fachlichen und schülerbezogenen Sprachbildern vermitteln können. Die Leitlinien könnten helfen, den fachwissenschaftlichen und schülerbezogenen Sprachgebrauch bewusster einzusetzen.

6 Schlussfolgerung Metaphern sind wesentlich im Sprachgebrauch. Sie konstruieren Realität. Schulbücher müssen eine lernstiftende Verknüpfung des sozialen und komplexen Raums leisten. Solche Settings wirken lernmotivierend. Eine Verknüpfung unterstützt auch Lehrkräfte darin, reflektierend mit Schulbüchern umzugehen. Weitere Untersuchungen sind zwingend notwendig.

Literatur Schulbücher Becker, Helmut, M. Bauer, S. Benzmann, P. Brügel, S. Kailitz, S. Kailitz, H. Riedel, K. Tessmar, M. Tschirner. 2018. Buchners Kompendium Politik. Politik und Wirtschaft für die Oberstufe. Bamberg: C. C. Buchner Verlag. Jöckel, Peter und D. Lange, Hrsg. 2015. Politik und Wirtschaft. Sekundarstufe II. Berlin: Cornelsen Schulbuchverlage GmbH. Kurz-Gieseler, Stephan. 2015. Sozialkunde. Politik in der Sekundarstufe II. Braunschweig: Bildungshaus Schulbuchverlage Westermann Schroedel Diesterweg Schöningh Winklers GmbH.

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Sekundärliteratur Besand, A., und M. Arenhövel. 2014. Logbuch Politik. Bonn: Bundeszentrale für Politik. Bischoff, Karin. 2015. Global Player EU? Eine ideologiekritische Metaphernanalyse. Bielefeld: DeGruyter. Cameron, L. 2010. The discourse dynamics framework for metaphor. In Metaphor Analysis. Research Practice in Applied Linguistics, Social Science and the Humanities. Hrsg. L. Cameron und R. Manson, 77–95, London: Equinox Publishing. Graupe, S. und T. Steffestun. 2018. „The market deals out profits and losses“ – How standard economic textbooks promote uncritical thinking in metaphors. In JSSE. 17: 5–18. Kegel, A. 2018. Politics as shapping. An approximation to students‘ metaphorical understanding. In JSSE. 17: 26–39. Kövecses, Zoltán. 2015. Where metaphors come from. Reconsidering context in metaphor. Oxford University Press: Oxford. Lakoff, G. 1991. Metaphor and War. The Metaphor System Used to Justify War in the Gulf. https://georgelakoff.files.wordpress.com/2011/04/metaphor‐and‐war‐the‐metaphor‐ system‐used‐to‐justify‐war‐in‐the‐gulf‐lakoff‐1991.pdf. Zugegriffen am 04.06.2019. Lakoff, George, und M. Turner. 2001. More than a cool reason: a field guide to poetic metaphor. Chicago: University of Chicago Press. Lakoff, George, und M. Johnson 2011. Metaphors We Live By. Chicago and London: The University of Chicago Press. Manzel, S. und C. Schelle, Hrsg. 2017. Empirische Forschung zur schulischen Politischen Bildung. Wiesbaden: Springer VS. Negrea‐Busuioc, Elena. 2017. Leading the war at home and winning the race abroad: Metaphors used by President Obama to frame the fight against climate change. In Metaphor in communication, science and education, Hrsg. F. Ervas, E. Gola und M. G. Rossi, 119–134. De Gruyter Mouton: Berlin und Boston. Oberle, M., V. Eck und G. Weißeno 2008. Metaphern der Politik. Eine Studie zu Politikbildern bei Schülerinnen und Schüler. In: politische Bildung. 41: 126–136. Oberle, M., und Ch. Tatje. 2017. Schulbuchnutzung im Politikunterricht – eine empirische Untersuchung. In Empirische Forschung zur schulischen Politischen Bildung, Hrsg. S. Manzel und C. Schelle, 113–126. Wiesbaden: Springer VS. Rütten, Christian. 2016. Sichtweisen von Grundschulkindern auf negative Zahlen. Metaphernanalytisch orientierte Erkundungen im Rahmen didaktische Rekonstruktion. Wiesbaden: Springer VS. Schmitt, Rudolf. 2017. Systematische Metaphernanalyse als Methode der qualitativen Sozialforschung. Wiesbaden: Springer VS. Schmitt, Rudolf, J. Schröder und L. Pfaller. 2018. Systematische Metaphernanalyse. Eine Einführung. Wiesbaden: Springer VS. Szukala, A. 2011. Metaphors as Tool for Diagnosing Beliefs about Teaching and Learning in Social Studies Teacher Education. In JSSE. 10: 53–73. Weißeno, G. 2013. Fachsprache in Schulbüchern für Politik/Sozialkunde – eine empirische Studie. In Demokratischer Verfassungsstaat und Politische Bildung. Eine Festschrift für Joachim Detjen zum 65. Geburtstag, Hrsg. P. Massing und G. Weißeno, 151–170. Schwalbach/ Ts.: Wochenschau-Verlag.

Empörend, verstörend, verwerflich – Zur Genese und Anatomie des politischen Skandals in der repräsentativen Demokratie und seine Relevanz für die (schulische) politische Bildung Sabine Kehr und Frank Schiefer Zusammenfassung

Grundsätzlich kann man in historischer Betrachtung konstatieren, dass (politische) Skandale so alt sind, wie die öffentliche Kommunikation selbst. Politische Skandale fungieren nach Dörner (2001) vorwiegend als Ausprägungen der medialen Erlebnisgesellschaft und werden zudem als Phänomen des sogenannten „Politainment“-Effekts bezeichnet. Demnach wird ein Skandal dann politisch, wenn vorwiegend Akteure des politischen Systems aktiv und passiv (medienwirksam) in ihn verwickelt sind und das normative politische Kategoriensystem tangiert wird. Die sogenannte „Skandal-Triade“ (Neckel 1989) bestehend aus Skandalierten, Skandalierern und Dritten stellt ein weiteres Merkmal für einen politischen Eklat dar. Typische Kennzeichen einer skandalspezifischen Kommunikation basieren auf asymmetrischen Interaktions- und Machtstrukturen, M ­ ismatching-Strategien sowie „superioren“ und „inferioren“ Kommunikationsverhältnissen. Der Scheu mancher Lehrkräfte zum Trotz lassen sich Skandalereignisse im S. Kehr (*) · F. Schiefer  Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Würzburg, Deutschland E-Mail: [email protected] F. Schiefer E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Juchler (Hrsg.), Politik und Sprache, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30305-1_17

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Politikunterricht didaktisch konstruktiv und kreativ realisieren, indem Unterrichtsprinzipien wie heuristisches, exemplarisches, problem- und handlungsorientiertes Lernen sowie Kontroversität gezielt kompetenzorientiert Anwendung finden. Zudem können Makromethoden wie Fall-, Problemstudien und Podiumsdiskussionen thematisch gewinnbringend eingesetzt werden, wodurch verstärkt in tiefgründige Lern- und Erfahrungsprozesse vorgedrungen werden kann.

1 Ecce scandalum – Der Skandal als kontinuierliches (politisches) Phänomen in der Gesellschaft „Wer den großen Skandal betrachtet, empfindet Vergnügen und Schauder; wer ihn betreibt, braucht Nerven und altert rascher; wer ihn erleidet, der wird verwandelt; wer ihn übersteht bleibt gezeichnet.“ (Schütze 1985, S. 350). Wie aus diesem Zitat hervorgeht, sind in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft Skandale allgegenwärtig und wirken einerseits als Belastungsprobe für die betroffenen Akteure (Skandalierte) und andererseits als Spektakel sowie Entertainment für die aus sicherer Distanz nicht selten höhnisch urteilenden Voyeure. Wulff, zu Guttenberg, Edathy, Hartmann und Weidel sind nur einige Beispiele für bedeutsame politische Skandale resp. Skandalierte, die aufgrund ihrer hohen Interessens- und Medienfokussierung in der Bevölkerung, den Enthüllungsjournalismus in seinem detektivischen Grundcharakter stimulieren. Diese Art der journalistischen Berichterstattung impliziert einen Unterhaltungswert, der mit dem Begriff des „Politainment“ (Dörner 2001, S.  31) gleichzusetzen ist und mit einem „Politik-Unterhaltungs-Syndrom“ (Dörner 2001, S. 34) sowie „als Paradigma der medialen Erlebnisgesellschaft“ (Klingelhöfer 2002, S. 159) näher umschrieben werden kann. Im politischen Skandal werden etablierte und nicht selten vormals gehypte Politiker in ihrer Integrität und Identität dekonstruiert und dadurch stigmatisiert. Diese mediale Katharsis zielt neben der Aufmerksamkeitspotenzierung politischer Akteure und Beobachter darauf ab, Selbstreinigungskräfte sowie die Kontrollfunktion des politischen Systems zu initiieren.1 In Anlehnung an Hannah Arendts Topos der

1Schütze

(vgl. 1985, S. 22 f.) bemerkt in diesem Zusammenhang, dass bei fehlenden Skandalen in einer Gesellschaft etwas faul sei.

Empörend, verstörend, verwerflich …

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„Vergnügungsindustrie“2 (Arendt 1958, S. 1124) vertritt Dörner für den Politikbetrieb ebenfalls die Unterhaltungshypothese und schreibt dem empörenden Ereignis in der Politik zusätzlich einen Katalysatoreffekt zu, aus welchem politische Handlungskompetenz und Performanz hervorgehen können und daraus politische Partizipation letztlich resultieren kann (vgl. Arendt 1994, S. 19 ff.). Neben Dörners (vgl. 2001, S. 34) Politainment-Aspekt, der durch die Massenmedien die Expressivität politischen Handelns evoziert, spielen auch ökonomische Kriterien, die sich in einer stärkeren (medialen) Aufmerksamkeit infolge gesteigerter Auflagezahlen und höherer Einschaltquoten widerspiegeln, eine entscheidende Rolle bei skandalösen Ereignissen (vgl. Bergmann und Pörksen 2009, S. 9; Oelrichs 2017, S. 38 ff.). „Sowohl die quantitative Verbreitung der Medien, die die potentielle Erreichbarkeit aller Bürger gewährleistet, als auch die qualitative Weiterentwicklung nehmen Einfluß auf das politische Geschehen und seine Darstellung.“ (Käsler 1991, S. 35) Wesentliche Charaktereigenschaften eines Skandals beruhen in der Regel neben der Personalisierung, Visualisierung und moralisierenden Simplifizierung zudem auch auf der Emotionalisierung eines Konflikts, denn Skandale existieren nicht von Grund auf, sondern müssen zuerst entdeckt und anschließend situations- und adressatenorientiert im oben genannten Sinne aufgedeckt und kreiert werden, um erfolgversprechend zu sein (vgl. Bergmann und Pörksen 2009, S. 22). Ein Skandal ist jedoch in der Regel keine (rein) autopoietische Entität, sondern beruht meist auf bestimmten (externalen) Ursachen. Zudem werden als Gründe „die (linke) politische Ausrichtung von Journalisten, das Machtverständnis von Politikern, die politische Polarisierung und/oder die Medienmacht für das Aufkommen und den Verlauf von Skandalen verantwortlich“ (Bösch 2011, S. 22) gemacht sowie die hochgradige Professionalisierung von Journalismus und Politik (vgl. Bösch 2011, S. 45) angeführt. So beschreibt Roth in dieser Hinsicht dieses Ereignis als „Flucht aus der politischen Verantwortung“ (Roth 2005, S. 91).

2 Skandal – Etymologische Grundlegung und terminologische Deutung Der Begriff Skandal findet in fast allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens wie beispielsweise in den Sozialwissenschaften, in der politischen Rede, in den meinungsbildenden Medien und in der Alltagssprache inflationären

2Dörner

spricht in diesem Kontext von einer „Unterhaltungsindustrie“ (Dörner 2001, S. 32).

226

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Anklang3 (vgl. Käsler 1991, S. 69) und deutet durch seine stete (mediale) Präsenz und Allgegenwärtigkeit auf eine (vermeintliche) Moralisierung vieler Lebensbereiche hin (vgl. Bergmann und Pörksen 2009, S. 30). Beim Terminus Skandal handelt es sich etymologisch um ein Lehnwort aus dem Griechischen, σκανδάληθρον (skandalethron), das – aus der altgriechischen Jagdfachsprache kommend – bezogen auf den politischen Skandal sinngemäß als Metapher eines Köders in der Falle oder Stellholz einer Falle fungiert. Ebenso wird in der Literatur das griechische Substantiv σκάνδαλον (skandalon) angeführt, das mit den Nomen Lockung, Lust, Anstoß und Ärgernis übersetzt werden kann. Eine andere Begriffsumschreibung findet sich im Kontext des Schauspiels bzw. des Schaugewerbes wieder. Hier versteht man unter den so genannten Σκανδάλισαι (skandalistai) eine Gruppe von komischen Spielern und Gauklern, die ihr Publikum damit belustigend unterhielten, dass sie sich mit überraschendem Beinstellen und sonstigen Kniffen fortwährend zu Fall brachten (vgl. Stählin 1930, S. 323 zit. nach Käsler 1991, S. 71 ff; Neckel 1989, S. 55 ff.). Im allgemeinen Begriffsverständnis werden mit dem Begriff Skandal im übertragenen Sinne Phänomene wie Ärgernis, aufsehenerregendes, schockierendes Vorkommnis und Lärm (vgl. Drosdowski u. a. 1982, S. 707) wiedergegeben. Nach Hondrich (vgl. 2002, S. 59 f.) kann der Skandal als ein sozialer Prozess, der durch eine moralische Verfehlung gekennzeichnet ist, deren Verhüllung von einem Skandalisierer aufgedeckt und bei einem Skandalrezipienten öffentliche Empörung auslöst, verstanden werden. Die reine Fokussierung auf moralische Missstände in Hondrichs Begriffsdefinition greift nach neuerer Auffassung (vgl. Bergmann und Pörksen 2009, S. 14) für eine universale und aktuelle Interpretation eines solchen Eklats zu kurz, da gerade im digitalen Zeitalter Sachverhalte und alltägliche Personen in kürzester Zeit durch die Medien „zum Objekt von kollektiver Empörung werden“ (Bergmann und Pörksen 2009, S. 15) und dadurch als Zielscheibe sich medialer Hetze und Diffamierungen zunehmend ausgesetzt sehen. Zudem könnte die Definition nach Hondrich um alternative diskursanalytische Perspektiven erweitert werden, weil die bloße Reduktion auf das rein normative Begriffsverständnis sich als ein sehr einseitiges Deutungsmuster erwiesen hat. In sozialphänomenologischer Hinsicht kann der Skandal als Fragwürdigwerden der politischen Alltagsroutine gedeutet werden. Gängiges handlungsspezifisches Rezeptwissen wird dabei obsolet und für die Alltagsbewältigung unbrauchbar. Der Skandal fordert neue Handlungsstrategien und Bewältigungsmuster von den beteiligten bzw. betroffenen (politischen) Akteuren.

3Zur

religiösen Herleitung des Skandalbegriffs siehe Käsler 1991, S. 70 ff.

Empörend, verstörend, verwerflich …

227

Ziel ist die Restrukturierung und Integration des außeralltäglichen Skandalereignisses in ein neues alltagsrelevantes Routinehandeln (vgl. Schütz et al. 1971, S. 265 ff., S. 390)4.

3 Skandalspezifische Interaktionsmodi zwischen medialer Inszenierung und journalistischem Wahrheitsanspruch 3.1 Idealtypisches Setting eines Skandals Fernab vom politischen Skandal dominieren auch in anderen Lebensbereichen mitunter empörende Ereignisse wie die Berichterstattung, die sich durch eine „Dramaturgie, Anfang, Ende, Höhepunkt, überraschende Wendungen“ (Bergmann und Pörksen 2009, S. 23) als besonderes Kennzeichen des Skandals in einer erlebnisgesellschaftlich-angelegten Mediendemokratie und der daraus resultierenden spezifischen Unterhaltungskultur gepaart mit dem P ­olitainment-Gedanken (vgl. Dörner 2001) herauskristallisieren. Ein Skandal wird dann politisch, wenn vorwiegend Akteure des politischen Systems situationsabhängig aktiv und/oder passiv in ihn verwickelt sind und das normative politische Kategoriensystem tangiert wird. Die sogenannte „Skandal-Triade“ (Neckel 1989, S. 58) beruht auf einem Netzwerk folgender Protagonisten: Skandalierte (homo publicus, politische Person der Öffentlichkeit), Skandalierer (private „Meinungsmacher“/etablierte Journalisten, Oppositionsparteien) und Dritte (Öffentlichkeit, individuelle Medienkonsumenten und -produzenten, anonymisiertes Publikum) (vgl. Neckel 1989, S. 58 ff.)5, die ein empörendes Ereignis formal zu Akteuren eines Skandals werden lassen. Erstere repräsentieren beispielsweise einflussreiche, öffentliche Personen wie Politiker, Großunternehmer u. a., die aufgrund meist fragwürdiger moralischer Handlungsweisen in die öffentliche Kritik geraten sind. Durch Enttäuschungen und moralisch verwerfliche Ereignisse gerät das Vertrauensverhältnis zwischen Wählern und Politikern in eine Schieflage und führt zu öffentlicher Empörung,

4Zudem

vgl. Schütz und Luckmann 1979, S. 25, 220. Schütz und Luckmann 1984, S. 171 ff. 5In Anlehnung an Neckel verwenden Milbrath and Goel für ihre Akteurskonstellation die Begriffe Gladiatoren, Zuschauer und Apathische: „gladiators, spectators, and apathetics“ (Milbrath und Goel 1977, S. 11).

228

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weil die Bevölkerung den politischen Akteuren auf Zeit per Wahlplakat ihr Vertrauen entgegengebracht hat und die Skandalierten durch unmoralisches Verhalten oder Handeln dieses missbrauchen. Manche der skandalierten Personen erholen sich nach einem empörenden Ereignis und können auf der politischen Plattform ihr Gesicht wahren. Meist geht mit dem Skandal die Dekonstruktion individueller (politischer) Identität sowie der Verlust und die Beschädigung der vertrauensspezifischen, politischen und persönlichkeitsbasierten Integrität einher. Rücktritt oder zumindest Imageschädigung sind die Konsequenzen für skandalierte Politiker und andere Personen mit öffentlichem Ansehen. Bei den Skandalierern dagegen handelt es sich um etablierte (investigative) Journalisten sowie (private/ öffentliche) Influencer, die empörende Ereignisse aufdecken und den sogenannten Dritten bzw. Skandalrezipienten zugänglich machen, damit dadurch ein öffentlicher Diskurs ermöglicht werden kann. Waren es früher eher professionelle Journalisten, die (politische) Skandale inszenierten und die Politiker in Rechtfertigungszwang brachten, so verlagert sich durch die Digitalisierungstendenzen in der gegenwärtigen Mediendemokratie, dieser Aufgabenbereich zunehmend auf den vormals weitgehend passiven Skandalrezipienten, der neben den investigativen Journalisten ebenso die Funktion als „Grenzwächter“ (vgl. Brüggen und Sander 2005, S. 175) zwischen Politik und Moral einnimmt. Durch die anonymisierte und in sich meist differenzierte Personengruppe, wie Influencer und (Enthüllungs-)Journalisten, die zum Teil auch die sogenannten Dritten repräsentieren, wird ein moralisches Fehlverhalten einer oder mehrerer Skandalisierter öffentlich angeprangert und über skandalöse Verhaltensweisen und Begebenheiten durch soziale Netzwerke und/oder konventionelle (­Massen-) Medien informiert. Somit wird die empörende Debatte stimuliert und öffentliches Aufsehen erregt. Die anonymisierte Öffentlichkeit fungiert somit als „fünfte“ Gewalt über die herrschaftsausübenden politischen Akteure und sichert durch ihre Kontrollfunktion auf das politische Geschehen Freiheitsrechte wie Meinungsbzw. Pressefreiheit. Die sogenannten Dritten reagieren dabei öffentlich auf das skandalös Verwerfliche bzw. normativ Unmoralische und intensivieren den Skandal durch ihr gesteigertes Aufmerksamkeits- und Interessegefühl sowie durch ihre aktivierte Teilnahme und Teilhabe in sozialen Netzwerken, da der politische Skandal von der öffentlichen Reaktion und Empörung lebt. In Zeiten publizistischer Skandaleuphorie spielt bloße Attraktion lediglich eine sekundäre Rolle. Die damit verbundenen publizistischen Anforderungen an einen Skandal nehmen unaufhörlich zu, sodass die Publizistik immer mehr Skandale produziert und konstruiert, die im eigentlichen Sinne keine darstellen (vgl. Schütze 1985, S. 22). Indem die Dritten Einfluss auf die (öffentliche) politische Meinungs- und Urteilsbildung

Empörend, verstörend, verwerflich …

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nehmen, führt das Skandalereignis mitunter zu einer Diskursivierung normativer Grenzen, weil Diskurse als „bevorzugte Techniken und Verfahren der Wahrheitsfindung“ (Foucault 1978, S. 51) fungieren. In diesem Sinne hat „Diskursmacht und -ohnmacht“ (Burkardt 2011, S. 132) bei empörenden Ereignissen die Funktion „in Gemeinschaften und Gesellschaften Machtverhältnisse auszuhandeln“ (Burkhardt 2011, S. 132) und kann wie im Parteispendenskandal Verrechtlichungstendenzen (vgl. Harré 1983; Schiefer 2007, S. 161 ff.) zur Folge haben, etwa durch eine Reform des Parteispendengesetzes (im Parteiengesetz), indem derartige skandalrelevante gesellschaftliche Missstände und Eklats angeprangert und beseitigt werden. Solche genuin skandalspezifischen Diskurse erweisen sich im internationalen Kontext bisweilen als sehr divergent, da unterschiedliche normative und kulturelle Vorstellungen für unterschiedliche Ländertraditionen verantwortlich sind. So gilt die Ideologie des Nationalsozialismus aufgrund der Historie als ein skandalträchtiges Tabuthema, welches in Deutschland besondere Sensibilität erfordere, was u. a. beim sogenannten Historikerstreit deutlich wurde, während in den USA nicht selten eine einseitige Fokussierung auf den Terrorismus auf Kosten anderer wichtiger Themen erfolge (vgl. Bergmann und Pörksen 2009, S. 23).

3.2 Skandaltypische Kommunikationsstruktur Die konventionellen Gatekeeper wie Pressevertreter verlieren im digitalen Zeitalter an Bedeutung, indem die mediale Berichterstattung durch das Phänomen der „Disintermediation“ (Pörksen 2018, S. 64) abgelöst wurde (vgl. Pörksen 2018, S. 63 f.). Digitale Medien werden in diesem Kontext vornehmlich als Hybridmedium (vgl. Beck 2017, S. 88) wahrgenommen, welches eine Zwischenform von Massen- und Individualmedien repräsentiert.6 In dieser Hinsicht fungieren die Sender zugleich als Empfänger und vice versa, was eine strikte Trennung zwischen Skandalierer und den Skandalrezipienten (Dritten) aufzuheben vermag. Zudem ist die Rolle der Skandalierer, die sich besonders im digitalen Zeitalter über die neuen Medien wie soziale Netzwerke behaupten, ambivalent, da sie als Imageprovider Karrieren öffentlicher und privater Personen forcieren und fördern, jedoch diese auch im Sinne eines Identitätsdestroyers beenden können. Bei dieser Inszenierung nimmt die medial gestützte Kommunikation die

6Zur

Unterscheidung zwischen Individual-, Massen- und Hybridmedien siehe Beck (vgl. 2017, S. 88 f.).

230

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Position einer normativen Dominanz und Überlegenheitsstellung ein, die mitunter bei Berichterstattungen fragwürdig und obsolet werden kann. Bezogen auf den politischen Skandal kann die Aussage formuliert werden, dass Politiker und Bevölkerung in der freiheitlichen Demokratie in einem machtspezifischen Reziprozitätsverhältnis zueinanderstehen7 und somit fungiert der politische Skandal als „eine institutionalisierte Konfliktform, in der die jeweiligen Rechte und Pflichten von Herrschaftsausübenden und Herrschaftsunterworfenen [neu] ausgehandelt werden“ (Käsler 1991, S. 13). In der Interaktion beider Akteursgruppen herrscht ein genuin asymmetrisches Kommunikations- und Machtverhältnis (vgl. Brock und Meer 2004)8 vor, welches durch kommunikative Mismatching-Strategien wie Herabsetzungen und Provokationen im Skandalereignis durch (oppositionelle) politische Akteure, Medienvertreter und politisch interessierte Beobachter verändert bzw. verschoben wird (vgl. Käsler 1991, S. 13). Derartige „superiore“ und „inferiore“ Kommunikationsverhältnisse finden beispielsweise dann statt, wenn in Pressekonferenzen und/oder im Rahmen von Untersuchungsausschüssen skandalierte Politiker Journalisten und Medienvertretern sowie oppositionellen Politikern Rede und Antwort stehen müssen und somit unter Rechtfertigungszwang geraten. In diesem Zusammenhang lassen sich asymmetrische bzw. komplementäre (vgl. Watzlawik und Beavin 2007, S. 53 ff.) Kommunikationsmuster wie Unterbrechungen, ungleich verteilte Redeanteile, argumentative Abschwächungen und manipulative Gesprächsführung innerhalb der Skandalkommunikation anführen (vgl. Brock und Meer 2004, S. 200 ff.). Ein wesentliches Strukturmerkmal des Skandals ist die stakkatohafte journalistische Darstellungsweise, welche punktuell und in Form schnell abfolgender Schlagzeilen und Nominalisierungen auftritt. Dieser charakteristische Schreibstil forciert eine aufgeheizte, provozierende und kurzlebige Berichterstattung, die durch pejorative Protagonisten, Headlines und Schlagwörter pointiert wird (vgl. Corsten 2005, S. 105). Des Weiteren bedient sich die skandalspezifische Kommunikation der bildhaften Sprache bzw. sprachlichen Rhetorik. So nehmen bildhafte Stilmittel wie Übertreibungen, beispielsweise in Form der Darstellung eines überquellenden Geldkoffers bei einer Spendenaffäre, Metaphern am Beispiel einer

7Sarcinelli

betrachtet diese Politikvermittlung als „Legitimationsbeschaffung in offenen Kommunikationsprozessen“ und Wahlen demnach als „legitimatorische Sonderphasen einer kommunikativen Rückkopplung“ (Sarcinelli 2000, S. 21). 8Siehe dazu auch Schulz von Thun (vgl. 1992, S. 181 f.).

Empörend, verstörend, verwerflich …

231

Karikatur, in der ein Politiker bildlich an den Pranger gestellt wird oder eine Parodie, bei der ein politisch Verantwortlicher als Boulevard-König bezeichnet wird, eine dominierende Stellung ein (vgl. Roth 2005, S. 91 ff.). Zusammenfassend kann man nach Reimann die skandalspezifischen Kommunikationsstrategien der Massenmedien wie folgt charakterisieren: Massenmedien können eine „grundsätzlich generalisierende, vereinfachende, verkürzende und akzentuierende Tendenz mit einer besonderen Präferenz für unterhaltsame (Feature), aufsehenerregende, emotionalisierende Sachverhalte (Ereignisse, Stoffe, Persönlichkeiten) mit hohem ‚Nachrichtenwert‘“ (Reimann et al. 1991, S. 226) zugeschrieben werden. Für ein idealtypisches Ablaufszenario des Skandals formuliert Hondrich (vgl. 2002, S. 15 f.) insgesamt vier Phasen: Moralische Verfehlung, Enthüllung, Entrüstung und Empörung sowie Genugtuung. Etwas differenzierter benennt Steffen Burkhardt (vgl. 2011, S. 141 ff; 2006, S. 181 ff.) in Anlehnung an Steffen Kolbs (vgl. 2005) „Skandaluhr“ fünf Stufen des Skandals. Die erste Phase bezeichnet er als Latenzphase und impliziert damit Schlüsselereignisse, die kurzzeitig eine starke Medienpräsenz erlangen. Die daran anschließende Aufschwungphase bringt den Eklat durch die Medien an die Öffentlichkeit, indem diese Schlüsselereignisse medial kontextualisiert werden und das öffentliche Interesse am Skandal zunimmt. In der Etablierungsphase mit Klimax gewinnt das Ärgernis an Popularität und (Eigen-) Dynamik, indem der Skandalisierte öffentlich angehört und eine Entscheidung gefunden wird, um in der darauffolgenden Abschwungphase die Entscheidung zu qualifizieren und die Reaktion des Skandalisierten auf die öffentliche Bewertung zu beurteilen. In der abschließenden Rehabilitierungsphase verliert der Skandal sowie die Empörung am Eklat an Aktualität und eine Normalisierung der Situation tritt ein.

4 Skandal im Unterricht – ein noch verborgener Schatz 4.1  In medias res: Methodische Umsetzungsmöglichkeiten Die Ambivalenz des politischen Skandals stellt in der bisherigen politischen Bildung einen noch verborgenen Schatz dar, da er im Unterrichtsalltag nur selten thematisiert wird und zum Tragen kommt. Gründe, die hierfür angeführt werden können, sind, dass unterrichtliche Skandalthemen in der politischen Bildung aufgrund des oftmals hohen Aktualitätsgehaltes eine intensive Einarbeitungszeit in die Thematik voraussetzen, sowie die meist mangelnde Wiederverwendbarkeit der

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mit aktuellen Ereignissen angereicherten Unterrichtsmaterialien. Zudem herrscht bei den Lehrkräften nicht selten eine Scheu vor, weil unterrichtsrelevante Skandalthemen über wenig finite politische Wissensinhalte verfügen und aufgrund der nicht selten längeren Beobachtungs- und didaktisch ausgedehnten unterrichtlichen Bearbeitungszeit einen höheren Komplexitätsgrad aufweisen als konventionelle curriculare Themen im Politikunterricht. Dabei tangiert und vereint der politische Skandal als Unterrichtsgegenstand domänenspezifische Unterrichtsprinzipien und -methoden, die insbesondere im Rahmen der Kompetenzorientierung an Bedeutung gewinnen. Die (semantische) Mehrdeutigkeit des politischen Skandals setzt in seiner Auseinandersetzung beispielsweise die unterrichtlichen Prinzipien wie heuristisches Lernen, exemplarisches Lernen, Kontroversität, Schüler-, Problemund Handlungsorientierung voraus bzw. zueinander in Beziehung. Aber auch Unterrichtsmethoden wie beispielsweise ein Planspiel9 mit beteiligten Politikern und Journalisten oder konkret eine Fallanalyse (vgl. Reinhardt 2007, S. 124) über einen mit breiter Medienwirkung geführten Skandal wie etwa am Beispiel der Modellautoaffäre des Ehepaares Haderthauer kann anhand verschiedener Presse- und Rundfunkmitteilungen durchgeführt werden: Beginnend mit der schier objektiven Außenbetrachtung der wirtschaftlichen Verstrickung der ehemaligen Ministerin, Staatskanzleichefin und Generalsekretärin Haderthauer in die Modellbaufirma ihres Mannes, der Strafgefangene für Niedriglohn extrem teure Modellautos bauen ließ und aufgrund der hohen Verkaufspreise sich dem Vorwurf der persönlichen Bereicherung aussetzen musste, kann von den Schülern beispielsweise in einer Fallanalyse nachvollzogen werden. Mit einem Perspektivwechsel zur Innenbetrachtung in simulativer Eigenbeteiligung versetzen sich die Lernenden in die Lage und Gefühlswelt der am Skandal beteiligten Protagonisten (in diesem Fall der C. Haderthauer) und können so das empörende Ereignis aus der eigenen Sichtweise heraus analysieren und somit persönliche Involviertheit und Betroffenheit an den Tag legen. In der Phase der politischen Urteilsfähigkeit sollen die Schüler angeregt werden, die problemhafte Situation einzuschätzen und diese hinsichtlich etwaiger (politischer) Handlungs- und Lösungsstrategien möglichst objektiv bewerten zu können. Bei der abschließenden Generalisierungsphase prüfen die Schüler die Möglichkeit der Übertragung des vorliegenden Falls auf ähnlich ablaufende Skandalprozesse. Dabei ist dem Indoktrinations- und Kontroversitätsgebot des Beutelsbacher Konsenses besondere Beachtung zu schenken. Als methodisches

9Beispiele

für Planspiele zu dieser Thematik finden sich in der Planspieldatenbank der bpb sowie bei Petrik und Rappenglück 2017.

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Pendant hierzu kann weitgehend auch die Problemstudie mit ihren Phasen der Definition, Ursachen, Interessen, Überlegungen zur Problemlösung, Konsequenzen mit eigenen Stellungnahmen (vgl. Hoppe 2007, S. 54) angeführt werden, die private, gesellschaftliche sowie politische Konflikte und somit skandalöse Ereignisse in den Mittelpunkt rückt. Diese handlungsorientierte Methode zeichnet sich durch ein hohes Maß an Eigeninitiative aus, die an forcierter Recherchekompetenz sowie der Förderung sozialer Kompetenzen (vgl. Hoppe 2007, S. 54) festgemacht werden kann. Beide Methoden erlauben es, in tiefgründige Strukturen politischer Lern- und Erfahrungsprozesse vorzudringen (vgl. Sander 2008, S. 178). Des Weiteren könnten Podiumsdiskussionen zusammen mit Schülern durchgeführt werden, in denen reale Politiker in kontroverser parteipolitischer Zusammensetzung sich über ein Aufsehen erregendes Ereignis einen Schlagabtausch liefern. In dieser Form der Realbegegnung ist es möglich, dass Schüler durch kritisches Nachfragen die „Profipolitiker“ im Plenum konfrontieren und verschiedene Perspektiven zu dem Skandal kennen lernen und nachvollziehen. Der große Vorzug dieser Methode gilt der Multiperspektivität, in der Schüler verstehen lernen, dass derartige (politische) Ereignisse oftmals hochkomplex, mehrdimensional und intransparent anzusehen sind. Alternativ können Lernende in simulativer Weise Politiker im Podium repräsentieren, nachdem sie sich mit den verschiedenen parteipolitischen Positionen in einem Skandalereignis auseinandergesetzt haben. Eine andere Methode der didaktischen Aufarbeitung dieser Thematik stellt die Pro-Contra-Debatte dar. Dabei könnte eine mögliche Fragestellung für die Schüler lauten: „Soll Michael Hartmann aufgrund seines Drogenkonsums als Bundestagsabgeordneter zurücktreten?“ Da bei diesem unterrichtlichen Vorgehen nur zwei grundlegende Entscheidungspositionen nachvollzogen werden müssen, dürfte eine derartige Thematisierung im Unterricht unter Umständen fachdidaktisch effizienter zu realisieren sein. Eine allgemeine unterrichtliche Konfrontation mit skandalösen Zuständen in Politik und Gesellschaft kann durch Zeitungsberichte, Karikaturen und Schlagzeilen etc. insbesondere in der Einstiegs-, Erarbeitungs-, Vertiefungs- bzw. Transferphase einer politikdidaktischen Unterrichtseinheit erfolgen.

4.2 Zielsetzungen und Chancen der skandalthematischen Unterrichtsrealisierung Auch wenn in der Literatur Zweifel für die Thematisierung des Skandals im Unterricht formuliert wurden, sollte dennoch sein didaktischer Mehrwert in

234

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exemplarischen und problemorientierten Lernprozessen dargelegt werden, da durch diese spezifische Thematik die Katharsisfunktion des politischen Systems in der freiheitlichen Demokratie induktiv herausgestellt werden kann. Nach Breit und Reichenbach obliegt der politischen Bildung in diesem Kontext die Aufgabe als Ziel- und Lernvoraussetzungen, „sowohl Wissen über das komplexe System zivilgesellschaftlicher Institutionen und rechtsstaatlicher Prozesse [zu] vermitteln, moralische Haltungen gegenüber dem Allgemeinwohl [zu] fördern, als auch Interesse an demokratische[m] Handeln in zivilgesellschaftlichen Kontexten [zu] wecken, d. h. zu Diskurs und Partizipation in öffentlichen und politischen Kontexten an[zu]halten“ (Breit und Reichenbach 2005, S. 19). Weitere mit der Skandalthematik kompatible Zielsetzungen liegen in der Anbahnung und Förderung der politischen Urteilsbildung und Handlungsfähigkeit. Mithilfe sozialer Netzwerke können aktuellste Informationen über Skandalereignisse von Schülern im Politikunterricht und in der Freizeit wahrgenommen, recherchiert und diskutiert werden. Dadurch können die Voraussetzungen für die politische Teilhabe geschaffen bzw. die damit verbundenen Hürden gesenkt und somit aktuelle Themen im Unterricht leichter eingebettet werden. Diese Vorgehensweise vermag das Schülerinteresse für Politik anzuregen und zugleich domänenspezifische Diskussionen zu intensivieren. Bei der politischen Auseinandersetzung mit dem Skandal, erscheint es sinnvoll, nicht den Skandal auf der Ebene der reinen Darstellungspolitik (vgl. Sarcinelli 2006, S. 16 ff.) per se ins Zentrum des Unterrichtsgeschehens zu rücken, sondern ebenfalls die Entscheidungsprozesse auf der politischen Hinterbühne (vgl. Sarcinelli 2006, S. 18) zu beleuchten und kritisch zu reflektieren. Emotionalisierende und bisweilen stark polarisierende politische Themen wie das Skandalereignis bieten einerseits Chancen, um bei den Schülern das Interesse für politische Themen zu wecken sowie politisches Denken und Handlungsfähigkeit anzubahnen. Andererseits bergen sie bei nur oberflächlicher unterrichtlicher Behandlung auch Gefahren, Desinteresse und Politikverdrossenheit zu verstärken. Bei der vertieften Auseinandersetzung mit dem spezifischen Thema werden zudem kognitive Kompetenzaspekte durch einen vertieften Einblick in politische und zivilgesellschaftliche Institutionen geschult, da sich die Schüler in optimaler Weise intrinsisch anhand des exemplarischen Skandalereignisses weiterführende (Hintergrund-)Informationen erarbeiten, diese vernetzen und neue themenrelevante Wissensinhalte in bereits vorhandene Strukturen integrieren. Ein Nebenprodukt dieser induktiven Vorgehensweise entsteht dabei in der Anbahnung und Förderung der politischen Urteilsfähigkeit in Anbetracht kritischer Auseinandersetzung mit einem aktuellen Skandalereignis, das idealiter zu einem aktiven politischen Engagement (vgl. Sander 2009,

Empörend, verstörend, verwerflich …

235

S. 10)10 im künftigen Leben des Schülers führen kann, wodurch dann politische Mündigkeit parallel dazu gefördert wird. Wesentliche Voraussetzung dafür bietet die Medienkompetenz angesichts der skandaltypischen Kommunikationsstrukturen traditioneller und neuer Medienformate. In dieser Hinsicht spielt auch die Diversifikation in politischer Vorder- und Hinterbühne (vgl. Sarcinelli 2006, S. 18) eine entscheidende Rolle, da über diese bereichsspezifischen medialen Kommunikationsmodi die Skandalberichterstattung eine besondere Dynamik in der öffentlichen Wahrnehmung erfährt. Zugleich wird in dieser Hinsicht die Funktionslogik der Politik (vgl. Sarcinelli 2006, S. 18) für die Schüler transparent und konkret vorstellbar. Grundsätzlich sollten im Politikunterricht vordergründige Phänomene wie „Personalisierung und Dramatisierung“ (Käsler 1989, S. 317) sowie „Theaterdonner“ (Hitzler 1989, S. 346) eher in den Hintergrund treten und die Bedeutung des politischen Skandals auf der Metaebene für den politischen Prozess auf entscheidungspolitischem Fundament in den Vordergrund rücken.

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10Siehe

hierzu auch das Modell „Politik in Tiefenschichten“ (Sander 2008, S. 178).

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