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German Pages 352 [348] Year 2015
Nadja Thoma, Magdalena Knappik (Hg.) Sprache und Bildung in Migrationsgesellschaften
Kultur und soziale Praxis
Nadja Thoma, Magdalena Knappik (Hg.)
Sprache und Bildung in Migrationsgesellschaften Machtkritische Perspektiven auf ein prekarisiertes Verhältnis
. Wir danken herzlich Inci Dirim (Universität Wien) und Elfie Fleck (BMBF, Österreich) für die Förderung dieser Publikation.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Nadja Thoma, Magdalena Knappik (2014, Wien) Lektorat: Tanja Jentsch Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2707-7 PDF-ISBN 978-3-8394-2707-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Sprache und Bildung in Migrationsgesellschaften Machtkritische Perspektiven auf ein prekarisier tes Verhältnis. Eine Einführung Magdalena Knappik, Nadja Thoma | 9
S prachregime : Z ur D ekonstruk tion nationalstaatlicher und postkolonialer H ierarchisierungen von S prachen Sprache und Nation in Italien Zur Dekonstruktion eines Zusammenhangs Silvia Dal Negro | 27
Über das Kategorisieren von Sprachen und Sprecher_innen Zur Dekonstruktion von Sprachstatistiken Brigitta Busch | 45
Postkoloniale Mehrsprachigkeit und »Deutsch als Zweitsprache« Heike Niedrig | 69
L inguizismus : N aturalisierte A usschlüsse aus B ildungsordnungen »Nein, das kann nur die Muttersprache sein.« Spracherwerbsmythen und Linguizismus Birgit Springsits | 89
Gedanken zum Verhältnis von Rassismus, nationalsprachlicher Diskriminierung und Neolinguizismus Gülden Aygün-Sagdic, Oana Bajenaru, Claus Melter | 109
Lebenslanges Lernen nur für »Native« Speaker!? Alisha M.B. Heinemann | 131
B ildungssprache R evisited : S chule , S prache ( n ) und M achtkritik Die Sprache der Schule Eine migrationspädagogische Kritik der Bildungssprache Paul Mecheril, Thomas Quehl | 151
Ein »neutrales Vergleichsmedium, das niemandes Muttersprache ist«? Zur Bedeutung der (›Bildungs‹)Sprachen Latein und Griechisch in fachdidaktischen Diskursen der amtlich deutschsprachigen Migrationsgesellschaft Nadja Thoma | 179
Wie über sich selbst nachdenken? Machtkritische Reflexionsperspektiven für Pädagog _innen im Kontext von Mehrsprachigkeit Günay Özayli, Rosemarie Ortner | 205
Z wischen U nterwerfung und E rmächtigung : (S prachliche ) H andlungsfähigkeit im K ontext macht voller U nterscheidungen »Alles steht und fällt mit der Deutschnote« Anmerkungen zum »außerordentlichen Status« und Fragen nach einem prekarisier ten Verhältnis von Sprachen und Bildung Natascha Khakpour | 223
Mehrsprachigkeit: Relevant, aber kulturalisierend? Gergana Mineva, Rubia Salgado | 245
Deutsch als Wissenschaftssprache und normativ-korrektes Deutsch als Herrschaftsinstrumente im universitären Kontext Johannes Köck | 263
»Anstatt unsere Bemühungen zu zertrampeln, wäre es gut sie manchmal zu bewundern.« MigrantInnen zwischen bundesdeutscher Sprachkritik und sprachlicher Selbstbehauptung Hans-Joachim Bopst | 283
Hochschuldidaktische Interventionen DaZ-Lehrende und -Studierende eruieren Spielräume machtkritisch positionier ten Handelns İnci Dirim | 299
Von »StaatsbürgerInnen« zu »Regierenden« Philosophieren um die Macht Thomas Stölner, Senad Lacevic | 317
Kurzbiographien Autor*innen | 339
Sprache und Bildung in Migrationsgesellschaften Machtkritische Perspektiven auf ein prekarisiertes Verhältnis. Eine Einführung Magdalena Knappik, Nadja Thoma
Mehrsprachigkeit ist ein charakteristisches Merkmal von Migrationsgesellschaften. Nichtsdestotrotz sind Bildungseinrichtungen, Behörden und politische Vertretungen in diesen Gesellschaften so organisiert, als wären ihre Mitglieder einsprachig. Stimmen, die darauf drängen, den dominanten Sprachen in Gesellschaften einen höheren Stellenwert einzuräumen und sprachliche Verschiedenheit nur begrenzt und nur in ganz bestimmten Kontexten zuzulassen, haben in Migrationsgesellschaften Konjunktur. In wenigen Bereichen bestehen postkoloniale Machtverhältnisse, Logiken und Legitimationsfiguren so unhinterfragt wie im Kontext Sprache fort. Die Parallelen zwischen europäischen Integrations- und Sprachpolitiken auf der einen und kolonialen Kategorisierungen auf der anderen Seite beruhen auf einer Differenzkonstruktion, die die »Anderen« als gänzlich anders herstellt und zu einer Konstituierung und Stabilisierung innergesellschaftlich und transnational bedeutsamer Hierarchien führt (Ha 2010: 417-418). Die »Integrationsindustrie« (Ha 2010) bedient sich dabei Kontrollinstrumenten wie Sprachtests, die der Überwachung von »integrationsbedürftigen« Migrant*innen dienen und unterstellt, dass Migrant*innen zum Erwerb des Deutschen gezwungen werden müssen (Plutzar 2010: 124). Der Versuch, Migrationsbewegungen durch Sprachtests zu steuern, führt zu einer »Exklusion im Namen der Nation(alsprache)« (Gatt 2013: 164).
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Der monolinguale Habitus, der von Gogolin (1994) am Beispiel von Schulen beschrieben wurde, durchzieht auch Bildungsinstitutionen für Erwachsene. Mit der Forderung des Deutschgebrauchs ist zwar das Versprechen einer vermehrten Handlungsfähigkeit verbunden, allerdings ist diese Forderung vielfach von paternalistischen Logiken durchzogen (Mecheril et al. 2012) und mit einer ethnisierenden Subjektivierung verknüpft (Knappik/Dirim 2013). Das Konzept, dass eine Nation nur eine Sprache haben könne, ist trotz der faktischen Mehrsprachigkeit der Migrationsgesellschaften wirkmächtig und wird in allen Bereichen gesellschaftlicher Relevanz reproduziert. Und dort, wo Mehrsprachigkeit zugelassen wird, dient dieses Zulassen oft gerade der Herstellung von Migrationsanderen, der Markierung des Nicht-Wir (Dirim/Mecheril 2010). In einer solcherart hierarchisierten Gesellschaft ist das Verhältnis von Sprache und Bildung prekarisiert. Der Zugang zu Bildung und der Erwerb von Bildungsabschlüssen sind abhängig von der jeweils legitimen Sprache (Bourdieu 1990), die die Sprache der Mehrheitsgesellschaft ist. Nicht nur an Schulen, sondern auch an Hochschulen im amtlich deutschsprachigen Raum werden über das Differenzmerkmal Sprache ausgrenzende Effekte produziert (Dirim 2013a; 2013b). Aber auch jenen Personen, die erfolgreich Bildungsabschlüsse erworben haben, steht der uneingeschränkte und gleichberechtigte Zugang zu beruflicher und politischer Teilhabe nur dann offen, wenn sie als solche gelten, die monolingual aufgewachsen sind – oder sprachlich als ununterscheidbar von Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft gelten (Knappik/ Dirim 2013; Holliday 2006). Somit wird Sprache zu einem Instrument sozialer Distinktion. Der Umgang mit Sprache(n) in gesellschaftlichen Institutionen, vor allem in Bildungseinrichtungen, trägt dabei ebenso zur Herstellung und Reproduktion sprachlicher Hierarchien und ihrer Sprecher*innen bei wie außerinstitutionelle Kommunikationsprozesse. Bei der Frage, in welchen Konstellationen, auf welche Weise und mit welchen Konsequenzen Sprache und Bildung in Migrationsgesellschaften zu einem prekarisierten Verhältnis werden, knüpft dieser Band an die konzeptuelle Arbeit der Migrationspädagogik (Mecheril et al. 2010) und der Rassismuskritik (Melter/Mecheril 2009) an. Mit seinem Fokus auf Sprache versucht dieser Sammelband, einige in diesem Kontext aufgeworfene Fragen weiterzudenken. Sprache ist gleichzeitig Medium der Kommunikation, aber auch Gegenstand und Mittel der Instruktion in
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Bildungseinrichtungen; darüber hinaus werden über den Umgang mit Sprache(n) hegemoniale Diskurse zu Migration reproduziert. Wir gehen davon aus, dass diese Bedeutungsaspekte in jeder sprachenbezogenen Äußerung und Organisationsform von Behörden und Bildungsinstitutionen interagieren und gemeinsam Bedeutung produzieren sowie Sprecher*innen in Migrationsgesellschaften fortwährend (superiore und inferiore) Subjektpositionen nahelegen. Die Beiträge in diesem Sammelband erkunden diese Bedeutungsproduktion, ihre Mechanismen und mögliche Transformationen des prekarisierten Verhältnisses von Sprache und Bildung in Migrationsgesellschaften. Wir sprechen von einem prekarisierten Verhältnis, weil die Abwertung von Sprecher*innen durch die postkoloniale und nationale Hierarchisierung von Sprachen in Migrationsgesellschaften nicht naturgegeben und nicht durch die Sprachen oder die Sprachenvielfalt selbst problematisch ist. Bildungseinrichtungen, Behörden und politische Vertretungen könnten auch so transformiert werden, dass die Menschenrechte auf Bildung (sowohl in der derzeit legitimen als auch in weiteren für Individuen relevanten Sprachen) und freie Berufswahl für alle Menschen sichergestellt sind. Das fortwährende Theater der Einsprachigkeit, das Migrationsgesellschaften trotz der sie prägenden Mehrsprachigkeit mit allen Mitteln weiterzuspielen versuchen, führt zur Erschwerung und/oder Begrenzung von Handlungsmacht und zur Legitimation von Ausschlüssen migrationsbedingt mehrsprachiger Menschen – und gleichzeitig zur Privilegierung jener, die als einsprachig oder »prestige-mehrsprachig« gelten.
Z u den B eitr ägen Die Beiträge des vorliegenden Sammelbands sind in vier Themenbereiche gegliedert, die jeweils einen Diskursstrang der Auseinandersetzung mit Sprache und Bildung in Migrationsgesellschaften beleuchten. Teil 1: Sprachregime widmet sich in drei Beiträgen der Dekonstruktion eines vermeintlich klaren Zusammenhangs, nämlich dem zwischen (postkolonialer) Nation und Sprache(n), und analysiert die so legitimierten Hierarchisierungen von Sprachen in Migrationsgesellschaften. Die drei Beiträge von Teil 2: Linguizismus analysieren Ausschlüsse aus Bildungsinstitutionen und Arbeitsmarkt, die durch einen Rückgriff
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auf Sprache(n) legitimiert werden, als Form des Rassismus. Durch Migrationskontexte mehrsprachige Menschen werden hierbei als (inferiore) Andere konzipiert, die niemals an das überhöhte »Wir« der »Native-Speaker*innen« (vgl. Holliday 2006) heranreichen können. Die Notwendigkeit der Reflexion und Bearbeitung dieser Ausschlüsse aufgrund von Sprache(n) thematisiert Teil 3: Bildungssprache revisited. In drei Texten unterziehen die Autor*innen einen im Feld Deutsch als Zweitsprache seit einigen Jahren zentralen Begriff, den der »Bildungssprache«, einer kritischen Revision. Die Anstrengungen rund um die Vermittlung von Sprache in Migrationsgesellschaften sind notwendig und unumgänglich, doch eine macht- und rassismuskritische Durchdringung dieser Bemühungen erscheint erforderlich, da sonst Unterscheidungen und Konstrukte persistieren, die Ausschlüsse erzeugen, auch wenn die Sprachaneignung gelingt. In Teil 4: Zwischen Unterwerfung und Ermächtigung beschäftigen sich sechs Beiträge mit Möglichkeiten (sprachlicher) Handlungsfähigkeit in Situationen, die durch migrationsgesellschaftliche Unterscheidungen prekarisiert werden. Handlungsfähigkeit, so zeigt sich, wird dabei gerade nicht durch Versuche der Mehrheitsgesellschaft, Personen zu »ermächtigen«, erreicht – diese entpuppen sich als Herrschaftstechniken (Mineva/ Salgado) oder sorgen genau dort für eine Prekarisierung des Verhältnisses von Sprache und Bildung, wo sie in Form von Deutschförderkursen eigentlich zu einer Unterstützung von Lernprozessen beitragen sollten (Khakpour). Die hier diskutierten Möglichkeitsräume reichen von gleichberechtigter Teilhabe (Bopst) und der Haltung der Solidarität (Köck) über die Analyse der eigenen Involviertheit als Lehrperson in Diskurse der Unterscheidung (Dirim) bis hin zum »Philosophieren um die Macht« (Stölner/Lacevic). Anschließend an die Überlegungen von Dirim (2013c)1 möchte dieser Band keinesfalls in Zweifel ziehen, dass die Bemühung um die Entwicklung geeigneter Modelle, um die Sprache(n) der Migrationsgesellschaften als Teil und Voraussetzung von Bildungsprozessen zu vermitteln, notwendig und unumgänglich ist. Es ist erforderlich, Lehrkräfte und Erwachsenenbildner*innen zu befähigen, Sprache(n) sowie die sprachliche 1 | Vgl. Dirims Definition des Fachgebiets Deutsch als Zweitsprache (Dirim 2013c).
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Seite fachlichen Lernens vermitteln zu können. Eine in der Lehrer*innenbildung in allen Fächern verankerte Qualifizierung, um als Sprach(en) vermittler*in im jeweiligen Kontext professionell tätig sein zu können, beginnt sich erst langsam durchzusetzen. Diese Qualifizierung zu ermöglichen, ist die Verantwortung von Institutionen, die Pädagog*innen und Erwachsenenbildner*innen ausbilden. Wird diese Qualifizierung vorenthalten, bedeutet dies, dass Schüler*innen an monolingualen Maßstäben gemessen werden, dass sie nicht in geeigneter Weise in ihren Sprachaneignungsprozessen unterstützt werden und dass sie – so zeigen es die internationalen Leistungsvergleichsstudien – in ihren Chancen auf formale Bildungsabschlüsse stark benachteiligt werden. Jedoch kann nicht davon ausgegangen werden, dass die gewünschte Reduzierung von Benachteiligung und Diskriminierung durch Sprach(en)vermittlung allein gelingen kann. Werden postkoloniale, diskurstheoretische und migrationspädagogische Theoriebestände als Analyseperspektiven herangezogen, wird – und dies ist das Angebot, das dieser Band machen möchte – deutlich, dass jedes pädagogische Handeln in ihm vorgängige Diskurse um Sprache(n), Nationenkonzepte und rassialisierende Subjektkonzeptionen verstrickt ist, welche auch dann ihre Wirkmacht entfalten, wenn Pädagog*innen dies nicht möchten. Der Raum, in dem Bildung in Migrationsgesellschaften stattfindet, ist immer zuerst ein (post-)kolonialer, nationaler Weißer Raum, der Machtverhältnisse unter Rückgriff auf Sprache(n) legitimiert. Dies bedeutet, dass die Vermittlung des Deutschen in amtlich deutschsprachigen Regionen (Dirim 2013b) immer auch ein hegemonialer Akt ist – und dass Personen, die Sprache(n) vermitteln sollen, immer auch in die Position gebracht werden, diesen Raum und diese Machtverhältnisse zu stabilisieren. Um dem zu entkommen – oder vielmehr: entschieden entgegenzutreten (leidenschaftlich oder nüchtern) –, besteht die Notwendigkeit einer mit der Qualifizierung zur Sprach(en) vermittlung aufs Engste zu verwebenden reflexiven Praxis, welche machtund rassismuskritische Theorieangebote nutzt, um schließlich, so die Hoffnung, das prekarisierte Verhältnis von Sprache(n) und Bildung in Migrationsgesellschaften transformieren zu können.
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Teil 1: S pr achregime : Z ur D ekonstruk tion nationalsta atlicher und postkolonialer H ier archisierungen von S pr achen Vor dem Hintergrund einer komplexen soziolinguistischen und historischen Ausgangslange in Italien geht Silvia Dal Negro in ihrem Beitrag der Entwicklung des Italienischen als Nationalsprache nach und dekonstruiert die selbstverständliche Annahme, dass Italiener*innen qua natura italienischsprachig seien. Darauf auf bauend geht sie den sprachlichen Anforderungen nach, denen Migrant*innen nachkommen müssen, um eine langfristige Aufenthaltserlaubnis in Italien zu bekommen, und hebt mehrere problematische Aspekte an aktuell verwendeten Sprachtests hervor. Anschließend wendet sie sich dem Fall Südtirol zu, wo sowohl Italienisch als auch Deutsch Amtssprachen sind, Migrant*innen aber derzeit nur im Italienischen getestet werden. Am Beispiel gesellschaftlicher und politischer Diskussionen darüber zeigt Dal Negro, dass nicht Sprache und soziale Integration der Migrant*innen im Zentrum stehen, sondern die Verteidigung von Prinzipien und nationalen Symbolen, die Hierarchisierung von Sprachen sowie die Perpetuierung und (Re-)Etablierung von Grenzen zwischen sozialen Gruppen. Am Beispiel des Nationalstaats Österreich zeichnet Brigitta Busch die historische Entwicklung von sprachbezogenen Bevölkerungsstatistiken nach. In ihrer Analyse zeigt sie, dass sich in Bevölkerungs- und Schulstatistiken weniger die Sprachen als vielmehr die Kategorien, in die Sprecher*innen eingeordnet wurden und werden, verändert haben. Sich einer (sprachlichen) Kategorie zuordnen zu müssen, versteht Busch als autoritative Aufforderung, die immer auch mit anderen Kategorien (Herkunft, Kultur, Ethnie, Geschlecht usw.) verknüpft ist und dazu führt, dass eine Person »als ein bestimmtes Subjekt wahrgenommen wird und sich als solches zu erkennen gibt« (S. 60). Busch plädiert in Folge für einen Sprecher*innen-orientierten Zugang zu Sprachenrechten, dem nicht Sprachen oder Sprachgemeinschaften als Ausgangspunkt zugrunde liegen, sondern der vielmehr »dem kontingenten und konstruierten Charakter von Sprachen als Kategorien« (S. 63) Rechnung trägt. Für den schulischen Kontext fordert Busch mit Bezug auf Bachtin (1979) die Entwicklung pädagogischer Zugänge, die Heterogenität und Heteroglossie als selbstverständlichen Ausgangspunkt und als Voraussetzung für ein alltagsbezogenes soziales und kooperatives Lernen sehen.
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Aus einer postkolonialen Perspektive beschäftigt sich Heike Niedrig mit der Bildungssituation von jungen Flüchtlingen aus afrikanischen Ländern an Bildungsinstitutionen in Deutschland. Dabei arbeitet sie heraus, in welchem Verhältnis der sprachliche Habitus, der sich in postkolonialen afrikanischen Staaten herausgebildet hat, zum sprachlichen Markt in Deutschland steht. Die Sprachen Englisch und Französisch sieht sie dabei als »transnationale sprachliche Ressourcen« in »transnationale[n] Bildungsverläufe[n]« (S. 74), die in Deutschland allerdings institutionell abgewertet werden. Dadurch werden Jugendliche systematisch aus schulischen Bereichen ausgeschlossen, in denen sie ihr bereits erworbenes sprachliches Kapital einsetzen könnten. Der Fokus auf Deutsch als einzig anerkannte Bildungssprache kann, so Niedrig im Anschluss an Alidou (2006), als Kompensation für verlorene Hegemonialansprüche gelesen werden. Abschließend stellt die Autorin zwei Ansatzpunkte für die kritische Analyse sprachlicher Bildungskonzepte vor, die mit Blick auf das allgemeinbildende Schulsystem entwickelt wurden (vgl. Niedrig 2002), die sich aber auch auf andere Bildungsinstitutionen übertragen lassen.
Teil 2: B ildungsspr ache re visited : S chule , S pr ache (n) und M achtkritik Paul Mecheril und Thomas Quehl befragen das Konzept der Bildungssprache aus einer migrationspädagogischen Perspektive. Sie betonen die Bedeutung vorhandener Forderungen (etwa Gogolin et al. 2013), Bildungssprache nicht als schulische Erwartung vorauszusetzen, was zu einer Perpetuierung von Bildungsungleichheiten führt, sondern Ansätze zu entwickeln, die die Herausbildung von Bildungssprache für alle Schüler*innen ermöglichen. Gleichzeitig laden Sie zu einer kritischen Weiterentwicklung des Konzepts ein. Dabei fokussieren sie auf bisherige Leerstellen, die es zu füllen gilt: Die Autoren sehen es als Bedingung, dass die Vermittlung von Bildungssprache mit einer auch kapitalismuskritischen Thematisierung von Diskriminierungsverhältnissen und -strukturen einhergehen muss, und dass die Auseinandersetzung mit Inhalten nicht zugunsten eines Fokus auf Sprache in den Hintergrund geraten darf. Nadja Thoma geht in ihrer Analyse dem Verständnis von Bildungssprache in altphilologisch-fachdidaktischen Diskursen nach. Sie zeigt, dass der Unterricht in Latein und Altgriechisch in fachdidaktischen Texten als
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in besonderem Ausmaß geeignet für die Herstellung von Bildungserfolg konstruiert wird. Konstitutiv für die untersuchten Diskurse sind die unilineare Darstellung von (Sprach-)Geschichte, die idealisierende Konstruktion von »Europa« als Endpunkt einer im antiken Griechenland wurzelnden kulturellen Entwicklung, und die weitgehende Vernachlässigung der Migrationstatsache. Thoma zeigt, dass einer Konstruktion von Latein als »neutrale[m] Vergleichsmedium, das niemandes Muttersprache ist« (Kipf 2014: 24) die Vielschichtigkeit und Komplexität sprachlicher und sozialer Zusammenhänge und Hierarchien zum Opfer fallen. Unter Rückgriff auf postkoloniale und migrationspädagogische Überlegungen macht sie abschließend Reflexionsangebote für den Umgang mit Latein und Griechisch an Schulen in europäischen Migrationsgesellschaften. Einen ganz anderen Blick werfen Günay Özayli und Rosemarie Ortner auf die Zusammenhänge von Sprache und Bildung. Ausgehend von Diskussionsbeiträgen in einem Seminar der Lehrer*innenbildung, aus denen der Wunsch nach pädagogischen Happy Stories spricht – also nach Beispielen für durch pädagogisches »Modellhandeln« (S. 215) eindeutig erklärbare und »geglückte« Situationen – entwickeln die Autorinnen unter Rückgriff auf die Sprachtheorie Vološinovs (1975) eine Betrachtungsweise des »Nichtverstehens« im unterrichtlichen Kontext, in der »Nichtverstehen« zum Ausgangspunkt einer Reflexion pädagogischen Handelns wird. Mit dem »Nichtverstehen« fokussieren die Autorinnen sprachbezogene Vorstellungen von künftigen Lehrer*innen, die im gegenwärtigen Diskurs zu Sprache(n) und Schule noch kaum vorkommen. Ortner und Özayli plädieren dafür, pädagogisches Handeln nicht als »eindeutig memorierbare Praktik« (S. 217) zu sehen, sondern dafür, durch eine »machtkritische Perspektive« einen »Möglichkeitsraum für situative Reflexion« (ebd.) zu eröffnen, und zeigen damit eine bisher kaum beachtete Facette des Handelns im Zusammenhang von Sprache und Bildung.
Teil 3: L inguizismus : N atur alisierte A usschlüsse aus B ildungsordnungen Ausgehend von Dirims (2010) Definition von Linguizismus als spezieller Form von Rassismus analysiert Birgit Springsits in ihrem Beitrag Interviewmaterial, bei dem Lehrkräfte zu Mehrsprachigkeit in ihren Klassen bzw. in ihrem Unterricht befragt wurden, und dekonstruiert dabei
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Spracherwerbsmythen im Kontext von Migrationsgesellschaften. In Analogie zur Unterscheidung von Rassismuskritik und Anti-Rassismus unterscheidet Springsits in ihrer Analyse zwischen linguizismuskritischen und anti-linguizistischen Ansätzen zum Umgang mit sprachlicher Diskriminierung: Anti-linguizistische Ansätze, so Springsits, zielen darauf, sprachbezogene Diskriminierung zu verringern – etwa indem »weniger prestigeträchtige« Sprachen in monolingual organisierte Bildungsinstitutionen »einbezogen« oder einseitige Sprachgebote durch andere (vermeintlich »vielfältigere«) ersetzt werden. Sie untersuchen jedoch die Wirkmacht der Strukturen nicht, die Ausschlüsse von Sprachen – z.B. aus dem Unterricht – bedingen und auch bei »Einbezug« von Mehrsprachigkeit fortbestehen. Linguizismuskritik versucht hingegen auch dem Linguizismus zugrunde liegende Argumentationsstrukturen und Kontextbedingungen seines Entstehens und Fortbestehens aufzudecken und ihn dadurch zu schwächen. Für eine linguizismuskritische Analyse schlägt Springsits drei zentrale Ebenen vor: das Aufdecken von diskriminierenden Handlungsweisen, Strukturen und Argumentationsweisen, in denen auf sprachbezogene Unterschiede Bezug genommen wird, eine kritische Distanz gegenüber sprachbezogenen Bezeichnungs- und Kategorisierungspraktiken und die Reflexion der eigenen Position bei der Analyse. Gülden Aygün-Sagdic, Oana Bajenaru und Claus Melter beziehen Dirims Konzept des Neolinguizismus (Dirim 2010; 2013a) und Rommelspachers Rassismusdefinition (2009) aufeinander und zeigen, dass Neolinguizismus eine Form von Rassismus ist, die in unterschiedlichen nationalstaatlichen Kontexten zu unterschiedlichen Gewichtungen und Hierarchisierungen von Natiolekten führt. An einem Vergleich des Umgangs mit Sprache(n) in Kindergärten in Luxemburg und Deutschland (Studie von Christmann/Panagiotopoulou 2012) zeigen sie, dass im Linguizismus der Rassismus bereits impliziert ist, und dass Personen trotz »perfekter« Sprachkenntnisse gesellschaftliche Positionen vorenthalten werden, z.B. der Zugang zum Lehrer*innenberuf (vgl. Knappik/Dirim 2013). Alisha M.B. Heinemann nähert sich aus der Perspektive des Linguizismus dem Matthäusprinzip »Wer hat, dem wird gegeben«, das im Kontext von Weiterbildung bis in die Gegenwart seine Gültigkeit hat. In ihrem Text identifiziert sie Exklusionsmechanismen, die Ausschluss über die Differenzlinie »(Nicht-)Beherrschung der deutschen Bildungssprache« produzieren, anhand von empirischem Material und theoretischen Über-
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legungen. Vier der zentralen, mit dem Lebenslangen Lernen verknüpfte Orte werden dabei genauer betrachtet: der eigene Körper, die Weiterbildungsinstitutionen, die Kursangebote und die Mechanismen des Arbeitsmarkts. Neben einer Aufdeckung der Mechanismen aus der Perspektive derjenigen, die vom Ausschluss betroffen sind, werden widerständige Praktiken vorgeschlagen, die Ausschlüsse reduzieren können.
Teil 4: Z wischen U nterwerfung und E rmächtigung : (S pr achliche) H andlungsfähigkeit im K onte x t macht voller U nterscheidungen Natascha Khakpour analysiert in ihrem Beitrag den »außerordentlichen Status« im österreichischen Schulsystem, der an sogenannte Seiteneinsteiger*innen vergeben wird und deren Zuteilung zu Deutschkurseinheiten regelt. Unter Rückgriff auf Laclaus Konzept der Sedimentation (1990) analysiert Khakpour die als selbstverständlich erscheinende Monolingualität des Schulsystems, die es als folgerichtig erscheinen lässt, Schüler*innen außerhalb der Ordnung zu verorten, um sie besser – mittels Deutschförderung – in die Ordnung eingliedern zu können. Die Autorin unterzieht zudem ihre eigene Analyse des außerordentlichen Status einer kritischen Betrachtung, indem sie danach fragt, ob und warum es sinnvoll sein kann, mit einer prekarisierungsinteressierten Perspektive auf den »außerordentlichen« Status zu blicken, wobei das verbindende Element das Moment der »Unsicherheit« darstellt. Gergana Mineva und Rubia Salgado entwickeln ausgehend von ihrer Verortung als in maiz, einer Selbstorganisation von Migrant*innen, tätige Lehrende und Forschende eine machtreflexive Kritik zweier Deutsch als Zweitsprache (DaZ)-Curricula für die Erwachsenenbildung. Aus einer subjektivierungstheoretischen Perspektive erläutern sie, welche positionierenden Effekte von DaZ-Curricula ausgehen, die eigentlich das Ziel der »Ermächtigung« verfolgen, aber in ihrer fehlenden Reflexion von Machtverhältnissen und Zuschreibungen mangelnder Handlungsfähigkeit eine »Zurichtung« (Bröckling 2004) bedeuten. Die Autor*innen fordern den Entwurf widerständiger Handlungen unter Einbezug »historischer Prozesse der emanzipatorischen Veränderung von gesellschaftlichen Verhältnissen, sowie der Analyse der Bedingungen, unter denen solche Prozesse stattgefunden haben« (S. 260).
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Johannes Köck problematisiert aus der Perspektive eines Studenten, wie durch gemeinschaftliches Schreiben von Seminararbeiten Hierarchisierungen zwischen Student*innen aufgrund unterschiedlicher Zugänge zur deutschen Wissenschaftssprache reproduziert werden. Köck arbeitet heraus, wie Student*innen hierdurch in die Situation kommen, eine Herrschaftstechnik anzuwenden, die sie selbst ablehnen. Als Alternative greift der Autor aktuelle Arbeiten zu einem Solidaritätsverständnis in der Migrationsgesellschaft (Mecheril 2014; Stojanov 2014) auf und fasst Solidarität nicht als Solidarität aufgrund von Gleichheit, sondern aufgrund von Differenz auf. Diese, so Köck, kann aber nur dann einer Reproduktion von Ungleichheit entkommen, wenn Solidarität auch im hierarchischen Verhältnis zwischen Dozent*innen und Studierenden eine handlungsleitende Perspektive wird. Aus einer linguistischen Perspektive kritisiert Hans-Joachim Bopst in seinem Beitrag pseudowissenschaftliche Visionen vom Untergang der deutschen Sprache à la Bastian Sick (»Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod« [Sick 2004]). Er zeigt, dass auch migrationsspezifische Elemente der deutschen Sprache öffentlicher Sprachkritik zum Opfer fallen, wenn etwa behauptet wird, dass »Ausländer sich […] mit deutschen Präpositionen besonders schwer tun« (S. 285). Der Frage nachgehend, wie Migrant*innen eine solche »sprachkritische« Umgebung erleben, beschäftigt sich der Autor mit Äußerungen von Student*innen, die ihre Sprachlernbiografien schriftlich reflektierten. Neben verschiedenen schmerzvollen Erfahrungen zeigt sich, dass die Student*innen selbst Sprachkritik an Mehrheitsangehörigen üben, und dass sie auch sprachschöpferisch im Deutschen tätig werden. Der Text endet mit einem Gedicht der Autorin Dragica Rajčić, die in ihrem literarischen Schaffen ein »absichtlich fehlerhaftes Deutsch« als widerständiges Element verwendet. Inci Dirim befasst sich mit der Frage, wie Studierenden der sprachbezogenen Erwachsenenbildung im Bereich Deutsch als Zweitsprache ermöglicht werden kann, zu verstehen, als zukünftige Kursleiter*innen in einen diskursiven Raum von gesellschaftlichen Machtverhältnissen eingebunden zu sein und aus diesem Wissen heraus Entscheidungen in Spielräumen des erwachsenenbildnerischen Handelns zu treffen. Der Artikel fußt auf der Hypothese, dass Studierende sich in einem Raum »diskursiver Totalität« (Laclau/Mouffe 1991) befinden, dass Positionen dieser Totalität jedoch durch hochschuldidaktische methodische Zugriffe der Analyse zugänglich gemacht werden können. Davon ausgehend,
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dass Diskurse von bestimmten dominanten Positionen geprägt werden, es diesen jedoch der umfassenden argumentativen Konsistenz mangelt, allein aufgrund der Unzulänglichkeit von entsprechender sprachlicher Kodifizierung, eröffnet sich für Studierende die Möglichkeit der Selbstpositionierung und der Eruierung von Handlungsoptionen. Im Rahmen des Artikels werden auf der Basis der eigenen Erfahrungen in der Lehre methodische Wege einer migrationspädagogischen (Mecheril et al. 2010) subjektivierungskritischen Ausbildung von Studierenden vorgestellt. Eingebettet in eine Darstellung des Hegemoniebegriffs Antonio Gramscis (2004) zeigen Thomas Stölner und Senad Lacevic in ihrem Beitrag mit dem Philosophieren als pädagogischer Praxis einen Möglichkeitsraum auf, in dem Kinder und Jugendliche unabhängig von ihren jeweiligen Sprachständen im Deutschen philosophische Diskussionen führen können. Angelehnt an Gramscis Begriff des Alltagsverstands, der widersprüchliche Elemente enthalte, durch deren Reflexion – etwa durch eine philosophische Praxis – alle Menschen zu einer Hegemoniekritik gelangen könnten, erläutern die Autoren Grundsätze des Philosophierens mit Kindern und Jugendlichen.
L iter atur Alidou, Ousseina D. (2006): Transnationalism and Educational Institutions in the African Youth Refugee Biographies in Hamburg, Germany: An Outsider’s Reading. In: Gerhardt, Ludwig/Möhle, Heiko/ Oßenbrügge, Jürgen/Weiße, Wolfram (Hg.): Umbrüche in afrikanischen Gesellschaften und ihre Bewältigung (= Beiträge aus dem Sonderforschungsbereich 520 der Universität Hamburg). Berlin: LIT, S. 91-107. Bachtin, Michail M. (1979): Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (1990): Was heißt sprechen? Zur Ökonomie des sprachlichen Tausches. Wien: Braumüller. Broden, Anne/Mecheril, Paul (Hg.) (2014): Solidarität in der Migrationsgesellschaft. Bielefeld: transcript. Bröckling, Ulrich (2004): Empowerment. In: Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.): Glossar der Gegenwart. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 55-63.
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Christmann, Nadine/Panagiotopoulou, Argyro (2012): Institutionalisierte Sprachförderung für mehrsprachige Vorschulkinder: vergleichende Ethnographien in Luxemburg und Deutschland. In: Zeitschrift für Grundschulforschung 5 (2), S. 34-47. Dirim, İnci (2010): »Wenn man mit Akzent spricht, denken die Leute, dass man auch mit Akzent denkt oder so.« Zur Frage des (Neo-) Linguizismus in den Diskursen über die Sprache(n) der Migrationsgesellschaft. In: Mecheril, Paul/Dirim, İnci/Gomolla, Mechthild/ Hornberg,Sabine/Stojanov, Krassimir (Hg.): Spannungsverhältnisse. Assimilationsdiskurse und interkulturell-pädagogische Forschung. Münster u.a.: Waxmann, S. 91-114. Dirim, İnci (2013a): Rassialisierende Effekte? Eine Kritik der monolingualen Studieneingangsphase an österreichischen Universitäten. In: Mecheril et al. (Hg.): Migrationsforschung als Kritik? Konturen einer Forschungsperspektive. Wiesbaden: VS, S. 197-212. Dirim, İnci (2013b): »Ich schäme mich etwas zu sagen, weil ich viel zu viele Fehler mache«. Überlegungen zum integrierten Umgang mit Deutsch als Zweitsprache und Mehrsprachigkeit in der akademischen Lehre. In: Clar, Peter/Greulich, Markus/Springsits, Birgit (Hg.): Zeitgemäße Verknüpfungen. Ergebnisse des DoktorandInnenworkshops der Wiener Germanistik. 10.11-12.11.2012. Wien: Praesens, S. 408-425. Dirim, İnci (2013c): »Deutsch als Zweitsprache« als Fachgebiet. Online: germanistik.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/inst_germanistik/ Definition_DaZ_.docx, abgerufen am 02.12.2014. Dirim, İnci/Knappik, Magdalena (2014): Das Kiezdeutsche als Mimikry? Positionierende Ko-Konstruktionen durch Jugendliche und WissenschaftlerInnen. In: Mecheril, Paul (Hg.): Subjektbildung. Interdisziplinäre Analysen der Migrationsgesellschaft. Bielefeld: transcript, S. 223-237. Dirim, İnci/Mecheril Paul (2010): Die Sprache(n) der Migrationsgesellschaft. In: Mecheril, Paul et al.: Migrationspädagogik, S. 99-120. Gatt, Sabine (2013): Rot-Weiß-Rot exklusiv? Dialektische Diskriminierungen im Namen der Nation(alsprache). In: Mecheril et al. (Hg.): Migrationsforschung als Kritik? Spielräume kritischer Migrationsforschung, S. 161-173. Gogolin, Ingrid (1994): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster/New York: Waxmann.
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Magdalena Knappik, Nadja Thoma
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Sprache und Bildung in Migrationsgesellschaf ten
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Sprachregime: Zur Dekonstruktion nationalstaatlicher und postkolonialer Hierarchisierungen von Sprachen
Sprache und Nation in Italien Zur Dekonstruktion eines Zusammenhangs Silvia Dal Negro
1. E inleitung Italien ist sprachlich ein sehr heterogenes Land, in dem bis vor kurzer Zeit eine Vielfalt von höchst differenzierten Dialekten und Minderheitensprachen die mündliche Kommunikation geprägt haben und dies teilweise immer noch tun. Auch die historischen Prozesse, die zur Entwicklung und Anerkennung einer einheitlichen Sprache geführt haben, hatten in Italien einen besonderen Verlauf und sind relativ neu, insbesondere was die Vereinheitlichung der mündlichen Sprache betrifft. Schließlich ist auch die Verbreitung der (literarischen) Nationalsprache in allen Schichten der Gesellschaft aufgrund des lange Zeit hohen Analphabetismus unter der Bevölkerung ein relativ junges Phänomen. Die Folge ist, dass ein/e Italiener/in nicht unbedingt italienischsprachig ist. Vor diesem komplexen soziolinguistischen und historischen Hintergrund sollen die gesellschaftlichen und institutionellen Einstellungen im Bereich Migration interpretiert werden. In diesem Sinn ist die Einführung eines schriftlichen Sprachtests für Migrant/innen zur Erlangung der langfristigen Aufenthaltserlaubnis in Italien ein problematischer Studienfall1.
1 | Diese Arbeit ist Teil des Projektes PRIN 2010-11 »Rappresentazioni linguistiche dell’identità. Modelli sociolinguistici e linguistica storica« (prot. 2010HXPFF2, Koordinatorin Prof. Piera Molinelli, Bergamo). Ich bedanke mich herzlich bei den Herausgeberinnen für die konstruktive Diskussion über die Inhalte und die Form des vorliegenden Textes.
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Silvia Dal Negro
2. S pr ache als B arriere Da sie ein wichtiges Mittel der Macht darstellen, können Sprachen nicht nur als Auf baupotenzial der kollektiven Identität2 eingesetzt werden, sondern auch als Barriere, sei es auf implizite oder explizite Weise, seien sie von der Gesellschaft oder von einer Institution gesetzt. Schon im klassischen Altertum wurde Sprache eine zentrale Rolle zugeschrieben, um Identität zu definieren, indem Gruppen sich durch die Beherrschung einer Sprache von den »anderen« abgrenzen konnten. Bekannterweise waren für die Griechen alle »Anderssprachigen« Barbaren, d.h. Stotterer, Sprechende von wenig artikulierten Sprachen und daher weniger menschlich als sie. Als Extremfall können wir Sophokles‹ Definition der »Fremden« als aglossos, ›sprachlos‹, betrachten, da als einzig sinnvolle Sprache die eigene betrachtet wurde (Cardona 1976). Ein Paradebeispiel, bei dem Sprache sehr explizit als Barriere verwendet wurde (und zwar mit dramatischen Konsequenzen), kann man in der Bibel finden (1): ein klassischer Topos, der auch von der Soziolinguistik (mit dem Ausdruck shibboleth) verwendet wurde. (1) 5» Und die Gileaditer nahmen ein die Furten des Jordans vor Ephraim. Wenn nun die Flüchtigen Ephraims sprachen: Laß mich hinübergehen! so sprachen die Männer von Gilead zu Ihm: Bist du ein Ephraimiter? Wenn er dann antwortete: Nein! 6 hießen sie ihn sprechen: Schiboleth; so sprach er Siboleth und konnte es nicht recht reden; alsdann griffen sie ihn, schlugen ihn an den Furten des Jordans, daß zu der Zeit von Ephraim fielen zweiundvierzigtausend.« (Buch der Richter, Kapitel 12)
Implizit werden in dem Begriff von Barriere zwei Voraussetzungen angenommen. Die erste ist eine Idealisierung von Gruppen, die eine klar auffassbare innere Homogenität aufweisen müssen. Die zweite ist, dass solche Gruppen im Gegensatz zu anderen stehen sollen, indem die »Anderen« (als Gegensatz zu »uns«) konstruiert werden. Es handelt sich hier um den Prozess des othering (siehe Joseph 2013 für eine historische Darstellung des Begriffes), der sich unter anderem dadurch kennzeichnet, dass die »Anderen« als vage, undefinierte Einheit begriffen werden; eine 2 | Siehe insbesondere die Grundlagen der nationalen Identitäten und das Entstehen der Nationalstaaten in Europa (Anderson 1991).
Sprache und Nation in Italien
Einheit, der die menschliche Eigenschaft der Individualisierung entzogen wird: »Othering […] occurs when an individual or a group of people is denied a clearly defined status.« (Jaworski/Coupland 2005: 672)3 Kategorisierungen, die als Basis des othering wirken, sind oft willkürlich und fragwürdig. Man beachte diesbezüglich den Gegensatz zwischen Autochthonen und Allochthonen, der vor allem in den Niederlanden seit 1989 in der Öffentlichkeit massiv verwendet wird (Extra/Spotti 2009). Zu den Autochthonen zählen nur Individuen, die – abgesehen von der eigentlichen Staatsbürgerschaft – aus einer niederländischen Familie stammen, während die Allochthonen (die »Anderen«) weiter in zwei Gruppen unterteilt werden: westliche (eine Kategorie, die u.a. Japaner/ innen und Indonesier/innen einbezieht) und nicht westliche Allochthonen (u.a. Türk/innen und Marokkaner/innen) (Extra/Spotti 2009: 65). Auf Italienisch wird das Wort extracomunitario (Nicht-EU-Bürger/innen) so verwendet, dass es eigentlich nur »unerwünschte« Einwanderer/innen (die »Anderen«) bezeichnet (teilweise sogar EU-Bürger), aber keine »westlichen« Nicht-EU-Ausländer/innen, wie z.B. aus der Schweiz, aus Kanada oder Australien usw. (siehe z.B. das Stichwort extracomunitario im Treccani-Wörterbuch). In der modernen Zeit wurden die Methoden, durch welche die Sprache als Mittel des gate-keeping eingesetzt wird, immer höher entwickelt und scheinbar objektiver. Noch am Anfang des 20. Jahrhunderts war in Australien der berühmte Dictation Test als Teil der White Australia Policy im Gebrauch, um »unerwünschte« Migration (insbesondere nicht-europäische Einwanderung) auf eine sehr offensichtliche Weise zurückzuhalten. Jedoch führt heute ein übertriebenes Vertrauen in Testverfahren in vielen gegenwärtigen Demokratien Westeuropas zur Verbreitung von Sprach- und Kulturtests für Migranten/innen (van Avermaet 2009; Shohamy 2009; 2013). Der Hintergrund solcher Tests ist eigentlich eine (mehr oder weniger) versteckte Wiederaufnahme sprachlicher Barrieren, im Sinne von modernen »Schiboleths« (McNamara 2005). Zu den Sprachmythen, die einer solchen Testkultur unterliegen, zählen diejenigen der sogenannten Muttersprache und der »muttersprachlichen« Sprachkompetenz. Beides sind auf jeden Fall moderne Begriffe, die aus den nationalistischen Ideologien des 19. Jahrhunderts stammen und 3 | Für Beispiele aus dem italienischen und südtirolerischen Kontext vgl. Dal Negro (2009).
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Silvia Dal Negro
von Exklusivität und Unveräußerlichkeit gekennzeichnet sind (Joseph 2013). Der prototypische Native Speaker ist nämlich einsprachig, so wie die moderne Nation definitionsweise sprachlich homogen sein muss4: nur »echte« nativische Sprecher/innen erhalten den Bürger/innenstatus fraglos. Nativische Sprachkompetenz und volle Sprachkompetenz sind aber keine zusammenfallenden Konzepte; daher ist eine kontinuierliche Definition von Sprachkompetenz wahrscheinlich näher an der Realität, besonders in Kontexten wie dem italienischen, die von Diglossie oder einem Diglossie-ähnlichen soziolinguistischen Profil gekennzeichnet sind (Berruto 2003). Empirische Beweise, wie zum Beispiel die in Lehmann (2007) und Berruto (2012) zitierten, haben dazu beigetragen, dass Sprachkompetenz eher als ein Kompetenzkontinuum mit einer Überlagerung von Nativen und nicht Nativen zu betrachten ist, als eine klare Kluft zwischen beiden5, was es natürlich problematisch macht, solche Begriffe als Mittel der Inklusion bzw. Exklusion zu verwenden. Seit 2010 ist ein Sprachtest für Migrant/innen auch in Italien Pflicht geworden (Favaro 2011; Barni 2012; Favilla 2012). In diesem Beitrag werden der soziolinguistische Hintergrund und die Voraussetzungen dargestellt, um die Ideologie der sprachlichen Homogenität, die dem Testverfahren unterliegt, zu besprechen.
3. W as heisst »I talienisch «? Wenn es im alltagssprachlichen Gebrauch anscheinend relativ einfach zu definieren ist, was mit einer Gruppe (z.B. einer Nationalgruppe) gemeint
4 | Über den Mythos von Muttersprache und Muttersprachlern und seine wissenschaftlichen und politischen Folgen siehe z.B. Ricento (2002) und Pennycock (2002); dazu auch Dal Negro (2011). 5 | »[L]inguistic competence must be taken as something that is subject to variation, just as most other linguistic phenomena. […] Members of a speech community differ in their linguistic competence. […] A given individual may be competent in different languages to different degrees. […] Empirical research turns up enormous differences in the linguistic competence of members of a speech community.« (Lehmann 2007: 270)
Sprache und Nation in Italien
sei6, ist eine zwingende Definition etwas anderes. Wollen wir von einer sprachwissenschaftlichen Sicht ausgehen, ist es interessant zu betrachten, wie Sprachen die Begriffe der Nationalsprache und der nationalen Identität lexikalisch kodifizieren. Anders als deutsch oder englisch, die adjektivische Ableitungen von Völkernamen (Ethnonymen) sind (siehe [3] für das Wort deutsch), ist italiano (als Adjektiv und Substantiv) von Italia, d.h. von einer geografischen Bezeichnung, abgeleitet (2). Also bedeutet italiano etymologisch »aus oder von Italien« und hätte deshalb weder eine ethnische noch eine sprachliche Konnotation. (2) »italiano, agg. e s. m. ›dell’Italia‹ (av. 1292, Bono Giamboni, cit. da P. Aebischer: V. Bibl.). […] Italiano, invece, è foggiato a partire da Italia (come veneziano da Venezia, siciliano da Sicilia, ecc.) […] ›Sintomo di un ravvicinamento fra le sparse membra della penisola è l’apparizione del nome di Italiano‹. Nella latinità medievale accanto a Italia si avevano Italus e Italicus, in volgare mancava ancora un termine complessivo.« [DELI: 829-830] (3) »deutsch, adj. und adv. germanus, teutonicus, ahd. diutisc (Graff 5, 130), mhd. diutisch tiusch (Ben. 1, 325b), altsächs. thiudisc, niederd. düdesk, niederl. duitsch, schwed. tysk, dän. tydsk, die Engländer gebrauchen german, die Franzosen allemand. Da es von diet, goth. þiuda, ahd. diot diota abstammt, wie Gramm. 13, 14 gezeigt ist, so bedeutet es ursprünglich gentilis, popularis, vulgaris; im gothischen heiszt þiudiskô heidnisch, ἐθνικῶς.« [DWB, Band 2: 1043]
Mit dem Gegensatz Italiani ›Italiener‹/Italofoni ›Italienisch Sprechende‹ (vgl. auch De Mauro 1963: 14) kommen wir zum Kernpunkt dieses Beitrags, und zwar aus einer soziolinguistischen und historischen Sicht. Die sogenannte Questione della lingua, ›Sprachfrage‹, gehört zu den linguistischen und politischen Themen, die in Italien seit mindestens 800 Jahren (schon zur Zeit Dantes) aktuell sind. Ohne einen einheitlichen Staat und ohne ein politisches Zentrum haben sich in Italien differenzierte Varietäten des Lateinischen entwickelt 6 | Eine Google-Recherche für das Wort italiano ergibt solche Bilder unter den häufigsten Resultaten: Pizza, Pasta, Fahne, der Stiefel, Venedig, Rom, Dante, Mode der 1950er Jahre, schön bekeidete Männer.
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(sogenannte Dialekte, die aber autonome Sprachsysteme sind), die längst zusammen mit anderssprachigen Varietäten gesprochen wurden. Der Vorrang des Fiorentino (der Florenzer Dialekt), der als Basis der Gemeinsprache fungierte, ist vor allem auf die literarischen Meisterwerke des 14. Jahrhunderts zurückzuführen, was die Folge hatte, dass diese Gemeinsprache lange auf eine kleine Elite beschränkt war und auch sonst als »tote« oder »künstliche« Sprache galt7. Derzeit liegt aber eine allgemeine (wenn auch unterschiedliche) Verbreitung des Italienischen vor, was auch eine Popularisierung der literarischen Sprache mit sich gebracht hat. Schließlich spielte, obwohl die symbolische Rolle der Sprache als konstituierender Faktor der Nation (zur Zeit vor der nationalen Einigung 1861-1871) wirkte, umgekehrt der Prozess der Herausbildung Italiens als Nationalstaat eine entscheidende Rolle in der effektiven Verbreitung der Sprache (durch ein staatliches Schulsystem, Bürokratie, Armee, innere Migration). Daher gelten die wichtigsten und schnellsten Prozesse der sprachlichen Einheit des Landes nicht als Voraussetzung der politischen Einheit, sondern eher als Folge solcher Prozesse. In der Tat bildeten die italienisch Sprechenden 1861 (laut De Mauro 1963) knapp 2,5 Prozent der Bevölkerung (ein Wert, der später korrigiert und auf 10 Prozent erhöht wurde, vgl. Castellani 1983). Das Italienische hat sich dann im Laufe des 20. Jahrhunderts in soziolinguistischen Domänen und geografischen Gebieten verbreitet, in denen früher nur Dialekte in Gebrauch waren. Die Verbreitung der Gemeinsprache ging aber Hand in Hand mit der Marginalisierung der Dialekte. Insbesondere sind sogenannte exklusive Dialektsprecher/innen untergegangen, während sowohl die Zahl Zweisprachiger als auch monolingual italienisch Sprechender in den letzten fünfzig Jahren stark zugenommen hat. Wie aber dieser Italianisierungsprozess tatsächlich verlaufen ist und welche die linguistischen Auswirkungen sind, ist ein ganz anderes Thema. Unter den vielen Aspekten, die hervorzuheben wären, sind die regionalen und populären Varietäten des Italienischen zu erwähnen, die aus einem kollektiven Sprachersatz (language shift) des Dialekts und Zweitspracherwerbsprozesses des Italienischen entstanden sind (vgl. Cerruti 2011). Die stufenweise und problematische Verbreitung der Gemeinsprache in Italien knüpft unter anderem an den hohen Analphabetismus, der die italienische Gesellschaft sehr lange und mit unterschiedlicher geo7 | Siehe die Zitate von Intellektuellen des 18. und 19. Jahrhunderts (unter anderen Alessandro Manzoni) in De Mauro (1963: 14).
Sprache und Nation in Italien
grafischer Verteilung gekennzeichnet hat, wie es in der folgenden Tabelle (Tab. 1) zu sehen ist8. Obwohl eine explizite Schul- und Sprachpolitik seit 1861 für eine Priorität der neuen vereinigten Nation gehalten wurde, war die Hinterziehung der Schulpflicht in der Tat bis nach dem Zweiten Weltkrieg sehr hoch und von Region zu Region sehr unterschiedlich9.
Tabelle 1: Analphabetismus in Italien Jahr
Analphabe-
Analpha-
Analphabe-
Analpha-
Analpha-
tismus
betismus
(Italien
(Piemont)
tismus
betismus
betismus
(Veneto)
(Kalabrien)
(Sardinien)
gesamt) 1861
75 %
54 %
65 %
86 %
90 %
1911
40 %
11 %
25 %
70 %
58 %
1951
14 %
3%
7%
32 %
23 %
Quelle: De Mauro 1963: 95
Die Diskussion über Wege und Mittel der allgemeinen Italianisierung des Landes war zur Zeit der nationalen Einheit (1861-1871) sehr lebhaft; wichtige Intellektuelle der Zeit, wie Alessandro Manzoni, Graziadio Isaia Ascoli und Francesco De Sanctis, wurden über die Rolle der Dialekte und der florentinischen Mundart in Beziehung zur literarischen Sprache und über die sprachliche Ausbildung der Lehrkräfte befragt (De Mauro 1863). Interessanterweise wurde die Sprachfrage in den 1960er Jahren wieder zur öffentlichen Debatte, als die Dauer der Schulpflicht verlängert wurde, und ist auch heute wieder aktuell im Kontext der zunehmenden Anzahl an Migranten/innen in den Schulen (Vedovelli 2001) und (wenn auch mit geringerer Emphase im öffentlichen Diskurs) bezüglich des sogenannten funktionalen Analphabetismus unter der erwachsenen Bevölkerung. Man siehe die aktuellsten Resultate der OECD-Umfrage in Bezug auf Italien 8 | Über direkte und besonders indirekte Methoden, Analphabetenquoten in der Vergangenheit zu erheben, siehe Toscani (2010). Unter anderem wird darauf geachtet, inwiefern öffentliche Akte (wie z.B. Hochzeitszeugnisse) unterschrieben wurden. 9 | Siehe aber auch Testa (2014), der den Spuren einer populären Schriftlichkeit schon seit dem 16. Jahrhundert aufmerksam folgt.
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und den allgemeinen Mittelwert (Tabelle 2): Offensichtlich sind die Werte für Italien in den niedrigsten Schriftkompetenzen höher als der Mittelwert (abgesehen von nicht beantworteten Fragebogen), während knapp ein Drittel der Befragten die drei höchsten Niveaus erreicht (im Vergleich zur Hälfte der gesamten Befragten, s. Tabelle 2). Obwohl die Verbreitung der Gemeinsprache in Italien nach 150 Jahren fast vollendet ist, ist also eine volle funktionale Alphabetisierung noch nicht erreicht (De Mauro 2008). Tabelle 2: Alphabetisierungsniveaus Kann
Unter
den Test
Niveau 1
Niveau 1
Niveau 2
Niveau 3
Niveau 4
Niveau 5
nicht durchführen* Italien
0,7 %
5,5 %
22,2 %
42,0 %
26,4 %
3,3 %
0,1 %
Mittelwert
1,2 %
3,3 %
12,2 %
33,3 %
38,2 %
11,1 %
0,7 %
*
Sogenannter primärer Analphabetismus
Quelle: OECD 2013: Literacy levels
Ein letzter Punkt in Bezug zum Italienischen ist der Bereich »Amtssprache«. Ähnlich wie z.B. Deutschland, aber anders als u.a. Frankreich, macht die italienische Verfassung keine expliziten Angaben zur Amtssprache. Ganz im Gegenteil wollte die 1946 entstandene Republik sehr stark die Prinzipien der demokratischen Gerechtigkeit hervorheben, und die Betonung auf die nationale Sprache konnte zur Zeit noch als Symbol des Faschismus und dessen Nationalismus gesehen werden. Die amtliche Rolle des Italienischen wird erst indirekt (z.B. in der Straf- und Zivilprozessordnung oder in der ersten Verordnung über Amts- und Arbeitssprachen der Europäischen Union) oder bezüglich Sprachminderheiten festgelegt, d.h. genau an der Stelle, wo ein Prozess des othering ins Spiel kommt. Eine explizite Sprachregelung findet sich daher im AutonomieStatut Südtirols; aber erst im lange umstrittenen Gesetz Nr. 482/99 zum Schutz der sprachlichen Minderheiten wurde 1999 offiziell festgelegt (Art. 1), dass Italienisch die Amtssprache Italiens ist (Dal Negro 2000). Die von verschiedenen politischen Gruppen geforderte Einbeziehung der italienischen Amtssprache als Ergänzung von Artikel 12 der Verfas-
Sprache und Nation in Italien
sung (der die Farben und die Form der Nationalflagge bestimmt) erfolgte bis jetzt nicht, unter anderem wegen des passiven Widerstands der lokal-autonomistischen Partei »Lega Nord« im Sinne einer vermehrten Anerkennung der Dialekte im Gegensatz zur Nationalsprache (Guerini 2011). Aus diesem soziolinguistischen und historischen Blick, der unterschiedliche Aspekte betrachtet hat, lässt sich folgern, dass besonders in Italien der Begriff von sprachlicher Homogenität als Faktor der nationalen Identität und Einheit als sehr umstritten gilt.
4. S pr ache als A ufenthaltsvor ausse t zung In den letzten Jahren wird, in Zusammenhang mit der steigenden Immigration, der Platz der italienischen Sprache im öffentlichen Diskurs, ausgerechnet auch bei der »Lega Nord« und ähnlichen rechtspopulistischen und separatistischen Parteien und Bewegungen, allmählich größer und offensichtlicher. Die Gemeinsprache, die bis jetzt fast im Hintergrund blieb und von autonomistischen Parteien oft als nationalistisches Symbol abgelehnt wurde, wird nun zum allgemeingültigen Mittel der Exklusion. Der Titel der veronesischen Ausgabe des Gazzettino (eine viel gelesene Zeitung in der nord-östlichen Region Veneto) lautete am 1.12.2010: »Verona. Nuove licenze di bar e ristoranti. Il Comune: obbligatorio sapere l’italiano.«10 Laut dem »Lega«-Bürgermeister Flavio Tosi sollen nämlich alle ausländischen Unternehmer eine angemessene (im Artikel nicht detaillierter angeführte) schriftliche und mündliche Kompetenz des Italienischen durch einen Test beweisen. Es ist natürlich vernünftig zu behaupten, dass eine Alphabetisierung auf Italienisch wichtig (oder sogar notwendig) sei, um in Italien einen Betrieb aufzunehmen: Es ist aber fragwürdig, dass dieselbe Voraussetzung von italienischen Staatsbürger/ innen nicht erfüllt zu werden braucht, umso mehr in einer Region, wo die Anzahl von (oft exklusiven) Dialektsprechenden noch heute relativ hoch ist und eine negative Einstellung dem Italienischen gegenüber bisher sehr verbreitet war. In der Tat scheint die Beschränkung auf Ausländer/ innen und auf das Gaststättengewerbe die zahlreichen Kebab-Läden und
10 | Übersetzung: »Verona. Neue Gewerbescheine für Betriebe in der Gastronomie. Die Gemeinde: Italienisch können ist Pflicht.«
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chinesischen Betriebe im Visier zu haben und enthüllt somit eher eine rassistische Begründung als eine funktionale Motivation. Vorfälle wie jener, der hier erwähnt wurde, gehören aber zu den lokalen Nachrichten und beweisen eher einzelne und vorläufige Initiativen, die sich oft nicht durchsetzen; trotzdem geben sie wichtige Hinweise auf die Einstellung der Öffentlichkeit11. Eine Neuheit, die im Dezember 2010 vom italienischen Innenministerium eingeführt wurde, ist die eines Sprachtests zur Feststellung der Kenntnis der italienischen Sprache, der für die Ausstellung der dauerhaften EU-Aufenthaltsberechtigung erforderlich geworden ist. Mit diesem Schritt folgt die italienische Regierung den meisten europäischen Staaten, die stufenweise eine Verschärfung der sprachlichen (und oft auch kulturellen12) Voraussetzungen entweder für Einwanderung, Aufenthalt oder Einbürgerung eingeführt haben. Die Sprache wird also als erstes und wichtigstes Mittel der sozialen Integration angesehen, wie schon in verschiedenen Kommentaren von Seiten der italienischen Sprachwissenschaft festgestellt (Ciliberti/Anderson 2008, Barni 2012, Favilla 2012). Abgesehen von der Legitimität, Bürgerschaftsrechte an das Beherrschen einer (einzigen) Nationalsprache zu knüpfen, sind mehrere problematische Aspekte hervorzuheben (oder schon hervorgehoben worden13). Der Test stellt sich als Mittel vor, die Integration der Migranten/innen zu fördern. Er ist aber nur an die Nicht-EU-Einwanderer/innen gerichtet: Europäische Bürger/innen oder eingebürgerte Ausländer/innen (die die Staatsbürgerschaft z.B. durch Heirat erhalten haben) müssen keine Sprachkentnisse im Italienischen nachweisen. Wäre das Ziel eine vermehrte Integration der Migranten/innen, sollten eher Sprachkurse an-
11 | In diesem Sinn sind die Kommentare, die Leser/innen zu solchen Artikeln posten, sehr lehrreich. In diesem Fall konnte man Kommentare finden, die die wichtige Rolle der Dialekte in der Region unterstrichen und Sprachtests in veneto (dem lokalen Dialekt) vorschlugen. 12 | Siehe z.B. die sehr kritische Stellung von Extra/Spotti (2009) über den niederländischen Fall. 13 | Eine Reihe von treffenden und technischen Anmerkungen wurde u.a. von Barni (2012) hinzugefügt. Auffallend ist die Tatsache, dass das Ministerium die wissenschaftlichen Institutionen, die seit Jahren über die Bewertung und das Zeugnis der italienischen Sprache als Zweitsprache entscheiden, in den Vorgang der Vorbereitung und Einführung des Tests nicht mit einbezogen hat.
Sprache und Nation in Italien
geboten werden als Sprachtests. Praktisch wirkt aber der Test als Barriere zur Regulierung der Immigration. Der Test bezieht sich auf die Richtlinien des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens (GER), in dem die Niveaustufe A2 verlangt wird. Es ist aber bekannt, dass der Referenzrahmen und die relativen Deskriptoren nicht völlig geeignet sind, die Sprachkompetenzen der meisten Migrant/innen zu bewerten (u.a. van Avermaet 2009). Auf jeden Fall ist die Niveaustufe A2 zu niedrig, um eine volle Teilnahme am öffentlichen Leben zu gewährleisten, wenn das das Ziel des Sprachtests wäre14. Bedauerlicherweise wurde die Prüfung eingerichtet, ohne dass entsprechende Sprachkurse vorgesehen wurden (Favaro 2011), eine Situation, die jetzt merklich verbessert wurde, wenn auch ohne klaren und einheitlichen Entwurf. Der Test besteht aus einer schriftlichen Prüfung, die das Hör- (30 Punkte) und Leseverständnis (35 Punkte) und die schriftliche Produktion (35 Punkte) bewertet. Die Prüfung zeichnet sich angeblich durch eine kommunikative Orientierung aus, obwohl sie die mündliche Produktion kaum berücksichtigt. Mit 80 (von 100!) Punkten ist die Prüfung bestanden (siehe Barni 2012 für eine Kritik zu diesem Aspekt). Der letzte Punkt ist wahrscheinlich der wichtigste: Wie schon von vielen bemerkt, ist die ausschließlich schriftliche Form des Tests sehr problematisch für die vielen Bewerber/innen, die wenig alphabetisiert sind, und für diejenigen, die mit solchen Tests wenig vertraut sind, schon gar nicht in elektronischer Form, obwohl die Richtlinien diese empfehlen. Dieser Akzent auf die Schriftlichkeit wurde von vielen Wissenschaftler/ innen kritisiert; eine schriftliche Prüfung kostet allerdings viel weniger als eine mündliche und ist einfacher zu handhaben, auch was die Validierung betrifft. Dazu gehört Schriftlichkeit (in einer westeuropäischen Standardsprache) zu den verbreiteten Mythen der modernen Sprachideologie (vgl. Blommaert Creve/Willaert 2006): Wer die Schriftsprache nicht beherrscht, der kennt die Sprache überhaupt nicht. 14 | Der internationale Verein Association of Language Testers in Europe (ALTE) hat eine Arbeitsgruppe gefördert, die spezifisch zum Thema der Sprachtests für Migranten/innen arbeitet (LAMI: Language Assessment for Migration and Integration) und Beratung und Materialien für Behörden anbietet (www.alte.org/projects/ language_assessment_for_migration_and_integration_lami). Ob das von den zuständigen Behörden in Anspruch genommen wird, ist mir aber nicht bekannt.
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5. S üdtirol als S onderfall Südtirol ist eine autonome Provinz Italiens, die aufgrund ihrer ethno-linguistischen Besonderheit eine besondere politische, wirtschaftliche und kulturelle Verwaltung genießt. In Südtirol gilt eine Gleichberechtigung der deutschen und italienischen Sprache, die beide Amtssprachen der Provinz sind; eine kleinere Sprachgruppe, die ladinische, genießt sprachliche Anerkennung in dem Gebiet, in dem diese Minderheit ansässig und noch sprachlich lebendig ist. Außerdem verfügen die drei Sprachgruppen über drei unabhängige Schulsysteme. Ein komplexes proportionales System regelt die Verteilung der Ressourcen unter der Bevölkerung aufgrund der (amtlich selbst erklärten) sprachlichen Zugehörigkeit15. Das gesamte Verwaltungssystem bezieht sich daher auf die Aufteilung der Bevölkerung in Sprachgruppen, was natürlich unter der Perspektive der Sprachideologie interessant ist. Bezüglich des Sprachtests für Migranten/innen, der 2010 in Italien (und daher auch in Südtirol) eingeführt wurde, wird der Fall Südtirol zur Kraftprobe der sprachlichen Asymmetrien auf lokaler und nationaler Ebene. Bis heute ist der Sprachtest für Migrant/innen in Südtirol nur für Italienisch erforderlich, und alle Versuche, einen obligatorischen deutschen Test einzuführen, waren vergebens. Es wurde auch angedacht, mit dem Erwerb der Deutschkenntnisse besondere Begünstigungen zu verknüpfen; es ist aber noch nicht klar, in welcher Form; und bis jetzt gibt es keine explizite Regelung16. Wenn der öffentliche Diskurs die Schlüsselwörter Integration, Kommunikation, Teilnahme auf nationaler Ebene verwendet, stellt sich die Argumentation in Südtirol auf eine andere Ebene, weil Sprache in Südtirol einen anderen Wert hat als sonst in Italien. Von der italienischsprachigen Gruppe wird die Argumentation vorgebracht, Südtirol sei in Italien und nur Italienisch sei die Sprache, die man sprechen sollte. Auf deutschsprachiger Seite wird dagegen unterstrichen, dass, wenn Deutsch nicht getestet wird, Deutsch dem Italienischen nicht gleichgestellt sei, und das sei gegen die internationalen und nationalen 15 | Vgl. das neue Autonomiestatut Südtirols (www.provinz.bz.it/lpa/download/ statut_dt.pdf). 16 | Eine ähnliche Situation besteht angeblich für Katalan in der zweisprachigen Region Katalonien (Paffey/Vigers/Mar-Molinero 2012). Vgl. auch Horner (2009) bezüglich Luxemburg.
Sprache und Nation in Italien
Abkommen, die die Sprachsituation Südtirols regeln. Man sehe u.a. den folgenden Auszug aus einer Presseaussendung zweier Landtagsabgeordneter der autonomistischen Partei »die Freiheitlichen«: (4) »Südtirol ist also doch Italien und auch das Autonomiestatut garantiert bei der Zuwanderung nicht die Gleichstellung der Sprachen. Also ist für die Ausländer nur Italienisch Amtssprache. […]«17
Dass es nicht um die sprachliche und soziale Integration geht, sondern darum, Prinzipien zu verteidigen und neue Grenzen zu setzen, wird nochmals von den Kommentaren bestätigt, die unter dem Artikel gepostet sind, wie der folgende unter (5). (5) »Das ist alles richtig, aber es wäre noch besser, wenn wir die Grenzen sperren, so daß die Zuwanderer nicht eintreten können. Man muß unbedingt die einheimische Bevölkerung verteidigen und eine multiethnische Gesellschaft vermeiden. […]«18
Mit diesem letzten Zitat kehren wir zu den Überlegungen zurück, mit denen dieser Beitrag begonnen wurde, und zwar zur Verwendung der Sprache als Mittel der Macht und der Diskriminierung zwischen »uns« und den »anderen«. Lokale Identitäten, wie zum Beispiel die venetische oder die südtirolerische, werden gegenüber dem Nationalstaat und den Migrant/innen infrage gestellt. Als Effekt von Migration, Migrationssprachen und Mehrsprachigkeit erleben die meisten Europäischen Staaten eine neue Welle von Nationalismus und eine Stärkung der Symbole (wie Sprache) sowohl der nationalen als auch der lokalen Identität. Die Förderung der Mehrsprachigkeit zieht sich in der Tat in den öffentlichen Diskurs der europäischen Behörde zurück und beschränkt sich auf die »legitimen« Standardsprachen der autochthonen europäischen Bürger/innen.
17 | Vgl. www.die-freiheitlichen.com/index.php/unsere-arbeit/pressemitteilungen/ 4032-suedtirol-ist-also-doch-italien-autonomiestatut-auf-zuwanderer-nicht-an wendbar. 18 | Vgl. ebd.
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Silvia Dal Negro
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Über das Kategorisieren von Sprachen und Sprecher_innen Zur Dekonstruktion von Sprachstatistiken 1 Brigitta Busch
E inleitung Wie in vielen anderen Ländern auch wird in Österreich bei jeder Schuleinschreibung die Frage nach der oder den Sprachen gestellt, die im Familienkreis gesprochen werden. Gefragt wird nach der »Muttersprache« der Schülerin oder des Schülers, wobei gemäß Erhebungsbogen bis zu drei Angaben möglich sind. Diese werden in den Schülerstammdaten festgehalten, die den einzelnen Schüler oder die Schülerin durch ihre Schulkarriere hindurch begleiten. Die Angabe einer anderen »Muttersprache« als Deutsch bildet die Voraussetzung, um gegebenenfalls Deutsch-Förderunterricht oder – bei ausreichender Zahl von Anmeldungen – sogenannten muttersprachlichen Unterricht in Anspruch nehmen zu können2. Die erhobenen Daten fließen darüber hinaus in die Schulstatistik ein und dienen zum Beispiel dazu, den Bedarf an Lehrenden zu ermitteln. Und schließlich werden die erhobenen Zahlen Jahr für Jahr in einer 1 | Teile dieses Beitrags sind bereits erschienen in Busch 2013. 2 | Nicht immer finden Sprachen, die zu Hause gesprochen werden, tatsächlich Eingang in die Schülerstammdaten. Dies ist auf verschiedene Gründe zurückzuführen, wie Verständigungsprobleme zwischen Eltern und Lehrperson, fehlendes Wissen über die Möglichkeit des muttersprachlichen Unterrichts, Sorge um Benachteiligungen, die aus dem Bekenntnis zu einer gesellschaftlich diskriminierten Gruppe erwachsen können. Auch kann jede_r Schüler_in den muttersprachlichen Unterricht nur für eine Sprache in Anspruch nehmen (vgl. Busch 2006).
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Statistik (Bundesministerium für Bildung und Frauen 2004) publiziert, in der die nunmehr zu einer Gruppe zusammengefassten »SchülerInnen mit anderer Erstsprache als Deutsch«, aufgeschlüsselt nach Schultypus und Bundesland, in absoluten Zahlen und in Prozenten ausgewiesen werden3. Diese Statistik, deren Veröffentlichung regelmäßig Stoff für bildungs-, sprach- und migrationspolitische Debatten in der Öffentlichkeit liefert, stellt aus der heterogenen Gesamtheit der Schüler_innen, von denen jede oder jeder über ein komplexes sprachliches Repertoire verfügt, statistisch eine binäre, Eindeutigkeit suggerierende Opposition her zwischen einer markierten Kategorie (»SchülerInnen mit anderen Erstsprachen als Deutsch«) einerseits und einer nicht markierten, dominanten, stillschweigend als gegeben vorausgesetzten andererseits, die auch dann noch als ›Normalfall‹ angenommen wird, wenn ihr, wie das in den Wiener Volksschulen seit Jahren der Fall ist, weniger als die Hälfte der Schüler_innen zugerechnet wird. Sprachstatistiken werden in politischen, aber auch in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Fragen im Zusammenhang von Zuwanderung, Sprachkonflikten, Sprachminderheiten oder indigenen Sprachen herangezogen, meist ohne dass Rechenschaft darüber abgelegt wird, welche Grundannahmen ihnen zugrunde liegen. In diesem Beitrag soll untersucht werden, welche Sprachideologien bzw. welche Diskurse über Sprache in Sprachstatistiken im Einzelnen zum Tragen kommen. Zunächst wird am Beispiel der österreichischen »Statistik zur Bevölkerung nach Umgangssprache« danach gefragt, wie statistische Kategorien betreffend Sprache erstellt werden, welche Vorstellungen von der Welt sie transportieren und mithilfe welcher Mechanismen die erfassten Personen diesen Kategorien zugeordnet werden. Im folgenden Teil werfen wir einen Blick auf die Geschichte der Sprachstatistik, auf Motive ebenso wie auf Folgewirkungen. Und schließlich sollen Überlegungen dazu angestellt werden, wie starre Kategorien sprachlicher Zugehörigkeit sich verflüssigen lassen, um der Heterogenität und Mehrdeutigkeit von Sprache als lebendiger, situativer Interaktion zwischen Menschen eher gerecht zu werden. An den Anfang seiner wissenschaftsgeschichtlichen Abhandlung »Die Ordnung der Dinge« stellt Michel Foucault (1974: 17) einen Text von 3 | Die statistische Zuordnung erfolgt im Fall von Mehrfachangaben nach der ersten Angabe zum Erhebungsmerkmal Muttersprache.
Über das Kategorisieren von Sprachen und Sprecher_innen
Jorge Luis Borges, der, so Foucault, »alle Vertrautheiten unseres Denkens aufrüttelt«, weil er die in unserem Raum herrschende »tausendjährige Handhabung des Gleichen und des Anderen schwanken läßt«. In dem Text, den Borges (1996: 212) einer chinesischen Enzyklopädie zuschreibt, heißt es, dass die Tiere sich wie folgt gruppieren: »a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppe gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem feinen Pinsel gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen.« Foucault spricht vom Erstaunen und Unbehagen, das einen bei der Lektüre dieses Textes ergreift. Etwas davon mag uns begleiten, wenn wir uns im Folgenden der Frage zuwenden, wie bevölkerungsstatistische Sprachkategorien gebildet werden.
Ü ber das K ategorisieren von S pr achen : Ö sterreich als B eispiel Am Beispiel der österreichischen Bevölkerungsstatistik soll zunächst dargelegt werden, wie komplex jeder Versuch einer systematischen Kategorisierung von Sprachen ist. Statistisch erfasst wird in Österreich die Umgangssprache4, der Definition nach jene Sprache, »die gewöhnlich im privaten Bereich (Familie, Verwandte, Freunde usw.) gesprochen wird« (Statistik Austria 2005). Angeführt wird die Statistik der Bevölkerung nach Umgangssprache (Statistik Austria 2007a) von der Mehrheitskategorie »Ausschließlich Deutsch«. Dahinter folgen die Kategorien, denen jene Personen zugeordnet werden, die andere Umgangssprachen angegeben haben, auch in Kombination mit Deutsch. Die Zuordnung zu einer Kategorie folgt einer binären Logik: etwas gehört dazu (1) oder es gehört nicht dazu (0). Derrida (1967) zeigt, dass in einer solchen binären Logik immer ein Begriff des Gegensatzpaares den anderen dominiert, paradoxerweise 4 | Die letzten Angaben zur Bevölkerung nach Umgangssprache fußen auf Zahlen der Volkszählung von 2001. Inzwischen wird in Österreich, wie in anderen Ländern auch, auf Daten des Melderegisters und anderer Stellen zurückgegriffen; Angaben zum Sprachgebrauch werden nur noch im Zusammenhang mit der Schule (BilDok) und im Rahmen von Befragungen zum Bildungsstand (in Form von Zufallsstichproben) erhoben.
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der dominante Begriff aber gerade durch das definiert wird, was von ihm ausgeschlossen und marginalisiert wird. In unserem Fall wird die oberste Kategorie »Ausschließlich Deutsch« also dadurch gebildet, dass alles, was als anders- oder mehrsprachig taxiert wird, von ihm ausgeschieden wird. Dasselbe Prinzip gilt auch für die weiteren Kategorien, wobei alle übrigen Sprachen der Welt sieben übergeordneten Rubriken zugeordnet werden: Sprachen der anerkannten österr. Volksgruppen Sprachen des ehem. Jugoslawien und der Türkei Englisch, Französisch, Italienisch Sonstige europäische Sprachen Afrikanische Sprachen Asiatische Sprachen Andere Sprachen, unbekannt Schon auf den ersten Blick wird deutlich, dass diese Rubriken keinem einheitlichen Ordnungsprinzip folgen, sondern nach gänzlich unterschiedlichen Kriterien gebildet werden. Für die Sparte »Sprachen der anerkannten österr. Volksgruppen« ist der rechtliche Status, die verfassungsmäßige Anerkennung als Volksgruppensprache, maßgebend. Mit »Sprachen des ehem. Jugoslawien und der Türkei« wird auf Herkunftsregionen Bezug genommen, die mit der Arbeitsmigration seit den 1960er Jahren verknüpft werden. Die von »Sonstige europäische Sprachen« getrennte Rubrik »Englisch, Französisch, Italienisch« fasst drei Sprachen zusammen, die keine andere Gemeinsamkeit haben, als dass sie in Österreich über ein hohes Prestige verfügen und an Schulen traditionell gern als Fremdsprachen unterrichtet werden. Die drei folgenden Kategorien werden nach geografisch-territorialen Gesichtspunkten gebildet, wobei jede Sprache entweder dem europäischen oder dem afrikanischen oder dem asiatischen Kontinent zugeordnet wird. Dass einzelne Sprachen bestimmten Kontinenten zugesprochen werden, hat beispielsweise zur Folge, dass Spanisch unter den europäischen Sprachen rangiert, obwohl es in 22 Staaten der Welt als Amtssprache fungiert und allein in Mexiko, in den USA und in Kolumbien jeweils mehr Spanischsprecher_innen leben als in Spanien selbst. Die letzte Spalte »Andere Sprachen, unbekannt« bildet die Restkategorie all dessen, was nicht einer der darüber liegenden Gruppen zugeteilt werden konnte. Wie sehr Sprachen mit territorialen, nationalstaatlichen oder ethnischen Vorstellungen gleichgesetzt werden,
Über das Kategorisieren von Sprachen und Sprecher_innen
zeigt sich noch deutlicher eine Ebene unterhalb der besprochenen Rubriken, wo »Indisch« oder »Philippinisch« als Bezeichnungen für Sprachen firmieren. Auf dieser unteren Ebene werden Einzelsprachen alphabetisch angeführt, allerdings werden »Russisch, Ukrainisch, Weißrussisch« sozusagen als eine Sprache klassifiziert. Deutlich wird die Aussichtslosigkeit des Unterfangens, jede statistisch erfasste Sprache einer übergeordneten Kategorie zuzuweisen, nicht nur auf der kontinentalen Makroebene, sondern gerade auch im Detail, also zum Beispiel, wenn es darum geht, die Sprachen der sechs in Österreich anerkannten Volksgruppen von den übrigen nichtdeutschen Sprachen abzugrenzen. Nehmen wir Slowenisch als Beispiel: Obwohl auch eine Sprache des ehemaligen Jugoslawien, wird Slowenisch nicht unter dieser Rubrik, sondern unter den Volksgruppensprachen geführt. Wie aber lassen sich Volksgruppenangehörige von anderen Slowenisch-Sprecher_innen unterscheiden? Das zugrunde liegende Problem ist, dass sich Sprachen weder an geopolitische Grenzziehungen noch an rechtlich-politische Kategorisierungen halten. Die daraus resultierende begriffliche Konfusion mag einer der Gründe sein, warum die Zahlen für Sprecher_innen jeder Sprache nicht nur gesamthaft angegeben werden, sondern auch danach aufgeschlüsselt, ob sie die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen oder nicht, und wenn ja, ob sie auch in Österreich geboren wurden. Noch komplexer wird die Sache, weil für das in Österreich gesprochene Slowenisch auch die Bezeichnung »Windisch« in Verwendung ist, die im 20 Jahrhundert vor allem benutzt wurde, um innerhalb der Slowenisch sprechenden Bevölkerung eine Differenz zu konstruieren und ideologisch zu begründen (Priestly 1997). Die Statistik der Bevölkerung nach Umgangssprache behilft sich damit, dass Windisch-Sprecher_innen wohl der Rubrik »Sprachen der anerkannten österr. Volksgruppen«, nicht aber der Kategorie »Slowenisch« zugerechnet werden. Noch deutlicher wird das Dilemma, was als ›eine Sprache‹ gefasst und anerkannt werden soll und was nicht, und wie eine Sprache, wenn sie einmal als solche anerkannt wurde, zu klassifizieren ist, wenn man die Zeitachse mit berücksichtigt, wie das in der Statistik »Bevölkerung mit österreichischer Staatsbürgerschaft nach Umgangssprache seit 1971« (Statistik Austria 2007b) der Fall ist. Hier lässt sich verfolgen, wie ›neue‹ Sprachen ins Blickfeld der Statistik rücken, während ›alte‹ daraus verschwinden. Tabelle 1 zeigt (ohne Angabe der entsprechenden Zahlen), wie signifikant
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sich in der Statistik die Kategorien der ausgewiesenen Sprachen bzw. ihre Bezeichnung innerhalb von nur vier Jahrzehnten verändert haben. Tabelle 1: Bevölkerung mit österreichischer Staatsbürgerschaft nach Umgangssprache seit 1971 1971
1981
1991
2001
Ausschließlich Deutsch
Ausschließlich Deutsch
Ausschließlich Deutsch
Ausschließlich Deutsch
Andere Sprachen
Andere Sprachen
Andere Sprachen
Andere Sprachen
• Kroatisch
• Kroatisch
• Kroatisch
• BurgenlandKroatisch • Romanes
• Slowenisch
• Slowenisch
• Slowenisch
• Slowenisch
• Tschechisch
• Tschechisch
• Tschechisch
• Tschechisch
• Ungarisch
• Ungarisch
• Ungarisch
• Ungarisch
• Slowakisch
• Slowakisch
• Slowakisch • Kroatisch
• Sonstige (einschl. unbek.)
• Serbokroatisch
• Serbokroatisch
• Serbisch, Bosnisch, Mazedonisch
• Türkisch
• Türkisch
• Türkisch
• Sonstige (einschl. unbek.)
Quelle: eigene Darstellung nach Statistik Austria (2007b).
• Sonstige (einschl. unbek.)
Über das Kategorisieren von Sprachen und Sprecher_innen
Allen vier Kolonnen gemeinsam ist die Grundeinteilung in »Ausschließlich Deutsch« als nicht markierte Normalität und »Andere Sprachen«, die davon abgehoben werden. 1971 beziehen sich die Angaben in der Rubrik »Andere Sprachen« ausschließlich auf die zum damaligen Zeitpunkt vier anerkannten Volksgruppensprachen Kroatisch, Slowenisch, Tschechisch, Ungarisch. Alle anderen Sprachen rangieren unter »Sonstige (einschl. unbek.)«. 1981 kommt einerseits Slowakisch als inzwischen fünfte anerkannte Volksgruppensprache hinzu, andererseits wird die Liste um Serbokroatisch und Türkisch erweitert, um auch Sprachen, die mit der Arbeitsmigration assoziiert werden, zu erfassen. Dem Begriff »Kroatisch«, der sich lediglich auf die Volksgruppe der Burgenland-Kroat_innen bezieht, steht nun der Begriff »Serbokroatisch« gegenüber, mit dem die Sprache der Migrant_innen gemeint ist. Neuerliche Brüche und Verschiebungen werden 2001 sichtbar: Nach der Anerkennung der österreichischen Roma als sechste Volksgruppe im Jahr 1993, scheinen unter dem Begriff Romanes nun auch die in Österreich gesprochenen Varietäten des Romani auf. Besonderes Kopfzerbrechen scheinen die Benennung und Kategorisierung der Sprachen aus dem Raum des ehemaligen Jugoslawien zu bereiten, das 2001 bereits in fünf – inzwischen in sieben – unabhängige Staaten zerfallen ist. Die bisherige Bezeichnung »Serbokroatisch« findet nun keine Verwendung mehr, obwohl nicht wenige Sprecher_innen dieser Sprache den Begriff weiterhin verwenden, um sich einem ethnisch-nationalen Bekenntnis zu entziehen5. Anstelle dessen steht jedoch nicht etwa der Begriff »Bosnisch/Kroatisch/Serbisch«, der sich international eingebürgert hat, sondern die Sprachen Serbisch, Bosnisch und Mazedonisch werden zu einer Kategorie zusammengefasst, während Kroatisch eine eigene Kategorie bildet, die sich aber von dem unterscheidet, was früher als »Kroatisch« bezeichnet wurde, nämlich die Sprache der Volksgruppe, die auf der Basis lokaler Dialekte kodifiziert wurde und neu als »BurgenlandKroatisch« firmiert. Anders als beispielsweise für Slowenisch wird im Fall von Kroatisch also unterschieden, ob es sich um eine ›autochthone‹ oder ›allochthone‹ Sprache handelt. Bemerkenswert ist nicht nur, dass »Kroatisch« als Kategorie von Serbisch und Bosnisch getrennt wird (was vermutlich auf die engen Beziehungen zwischen Österreich und Kroa5 | Die Spracherhebung auf Ebene der Schulen (s.o.) lässt daher weiterhin auch die Bezeichnung Serbokroatisch zu.
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tien zurückzuführen ist), sondern auch, dass Mazedonisch nun einfach dem Serbischen und Bosnischen zugeschlagen wird, obwohl Mazedonisch seit seiner Anerkennung als offizielle Sprache Jugoslawiens im Jahr 1945 nie als Varietät des Serbokroatischen-Kroatoserbischen aufgefasst wurde (Busch 2013: 103). Das Auftauchen und Verschwinden, das Benennen und Umbenennen von Sprachen im Rhythmus der alle zehn Jahre stattfindenden Zählung weckt den Eindruck von Unbeholfenheit, Willkürlichkeit oder Beliebigkeit, spiegelt im Grunde aber das redliche Bemühen, die Bevölkerungsstatistik fortzuschreiben und zugleich den veränderten politischen und demografischen Parametern irgendwie Rechnung zu tragen. Deutlich wird anhand dieser Tabelle, dass Sprachen keine natürlichen, vorgegebenen Kategorien sind, weil die Kriterien, die besagen, was eine Sprache ist und was nicht, nicht ›objektiv‹ und nicht allgemein gültig sein können, sondern einer ständigen politischen und ideologischen Auseinandersetzung und Aushandlung unterliegen. »Es ist unmöglich, die Sprachen abzuzählen«, gibt Jacques Derrida (1997: 25) zu bedenken und führt dazu aus: »Es gibt keine Abzählbarkeit [comptabilité] der Sprachen, weil die Einheit der Sprache, die sich aller arithmetischen Abzählbarkeit entzieht, niemals bestimmt ist.« Was als ›eine Sprache‹ aufgefasst und anerkannt wird, bleibt zwangsläufig strittig, ist Resultat von Kämpfen um Anerkennung und lässt sich allenfalls temporär, im Hinblick auf einen gegebenen historischen Moment beantworten. »In fact, the existence of ›language‹ and ›languages‹ – objects that are countable and have a name, such as English, Zulu, or Japanese – is a powerful language-ideological effect, the result of a long historical process of construction and elaboration of a metaphysics of mind vs. world […].« (Blommaert 2006: 512) Die Vorstellung, die hinter jeder Form von Kategorisierung und Auflistung steht, ist im Grunde die, dass Sprachen Gegenstände sind, die nach bestimmten Kriterien systematisch erfasst, katalogisiert und mittels eines universellen und ahistorischen, also allgemeingültigen Ordnungssystems klassifiziert werden können.
Über das Kategorisieren von Sprachen und Sprecher_innen
N och einmal Ö sterreich : W ie S precher -innen den S pr achk ategorien zuge teilt werden Als Nächstes stellt sich die Frage, wie die gezählten Einwohner_innen den einzelnen Kategorien in einer Weise zugeordnet werden, die Eindeutigkeit suggeriert, da jede_r Gezählte immer nur in einer davon aufscheint. Im Erhebungsbogen zur Volkszählung war explizit die Möglichkeit zu Mehrfachnennungen in Bezug auf Umgangssprachen gegeben. Wie also wird die erhobene Mehrsprachigkeit in der Statistik zum Verschwinden gebracht? Die Operation der ›Vereindeutigung‹ erfolgt in zwei Schritten: Im ersten Schritt wurden Personen, die neben Deutsch weitere Umgangssprachen angegeben haben, den entsprechenden »nichtdeutschen Umgangssprachen« zugeschlagen. Im zweiten Schritt wurden jene Personen, die mehrere »nichtdeutsche Umgangssprachen« nannten, mithilfe eines speziellen Verfahrens einer einzigen »nichtdeutschen« Kategorie zugeordnet6. Die Entscheidung darüber, welche das sein sollte, konnte jedoch nicht von den Befragten selbst getroffen werden, sondern erfolgte auf der Basis einer hierarchischen »Rangordnungstabelle« der Statistik Austria (2007c: 209), in der Umgangssprachen von 1 für »Deutsch« bis 54 für »Weltsprachen sonstige« durchnummeriert werden (Tabelle 2). Wurde mehr als eine »nichtdeutsche Umgangssprache« angegeben, so wird nur eine davon ausgewertet, nämlich jene, die weiter oben in der Liste steht.
6 | In den bereits zitierten Metainformationen zur Volkszählung (Statistik Austria 2007c) heißt es dazu: »Mehrfachangaben wurden nur ausgewertet, wenn eine nichtdeutsche Sprache und Deutsch markiert waren. Bei zwei oder mehreren nichtdeutschen Sprachen wurde nur eine Angabe ausgewertet (hier kam in der Aufarbeitung eine Rangordnungstabelle zum Einsatz).«
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Tabelle 2: Rangordnungstabelle der Statistik Austria 1 Deutsch 2 Burgenland-Kroatisch 3 Romanès 4 Slowakisch 5 Slowenisch 6 Tschechisch 7 Ungarisch 8 Windisch 9 Bosnisch 10 Kroatisch 11 Mazedonisch 12 Serbisch 13 Türkisch 14 Kurdisch 15 Englisch 16 Französisch 17 Italienisch 18 Albanisch 19 Bulgarisch 20 Dänisch 21 Finnisch 22 Griechisch 23 Holländisch 24 Isländisch 25 Ladinisch, Romantsch 26 Maltesisch 27 Norwegisch 28 Polnisch
28 Polnisch 29 Potugiesisch 30 Rumänisch 31 Russisch, Ukrainisch, Weißrussisch 32 Schwedisch 33 Spanisch 34 Europäische Sprachen sonstige 35 Arabisch 36 Suaheli 37 Westafrikan. Eingeborenensprachen 38 Afrikanische Sprachen sonstige 39 Chinesisch 40 Hebräisch 41 Indisch 42 Indonesisch 43 Japanisch 44 Koreanisch 45 Persisch 46 Philippinisch 47 Punjabi 48 Singhalesisch 49 Tamilisch 50 Thailändisch 51 Vietnamesisch 52 Asiatische Sprachen sonstige 53 Indianersprachen 54 Weltsprachen sonstige
Quelle: eigene Darstellung nach Statistik Austria (2007c).
Dem Verfahren, mit dessen Hilfe Mehrfachangaben zu Umgangssprachen, die im Familien- und Freundeskreis Verwendung finden, der statistischen Übersichtlichkeit zuliebe auf eindeutige Zuordnungen reduziert werden, liegen unterschiedliche sprachideologische Vorstellungen zugrunde. Zum einen ist dies eine Ideologie des Monolingualismus,
Über das Kategorisieren von Sprachen und Sprecher_innen
derzufolge Einsprachigkeit als Normalfall angenommen wird, während Zwei- oder Mehrsprachigkeit als Abweichung gewertet werden. Indem sie entweder der einen oder der anderen Kategorie zugezählt werden, werden reale Menschen mit ihrem mehrsprachigen, heteroglossischen Sprachrepertoire im Sinne einer nationalstaatlichen Doktrin statistisch ›monolingualisiert‹. Zum anderen kommt hier eine sprachideologisch geprägte Hierarchisierung von Sprachen zum Tragen, derzufolge ›weniger wichtige‹ Sprachen zugunsten von ›wichtigeren‹ statistisch zum Verschwinden gebracht werden. Das geht folgendermaßen vor sich: Nennt jemand zum Beispiel (zusätzlich zu Deutsch oder auch nicht) Türkisch und Kurdisch als Umgangssprachen, so wird Kurdisch mit der Ordnungszahl 14 zugunsten von Türkisch mit der Ordnungszahl 13 gestrichen. Nur so lässt sich erklären, dass die auf der Volkszählung 2001 basierende Statistik 183.445 Einwohner_innen mit türkischer, aber nur 2.133 mit kurdischer Umgangssprache ausweist. Zu welchen Fehlinterpretationen dies führen kann, lässt sich auch am Beispiel afrikanischer Sprachen zeigen. Die Statistik »Bevölkerung 2001 nach Geburtsland« (Statistik Austria 2007a) weist für den Zensus 2001 24.480 Personen aus, die in einem afrikanischen Land geboren wurden. Davon entfällt etwas mehr als die Hälfte auf die Kategorie »Nordafrika«, während 11.480 in der Kategorie »Übriges Afrika« gezählt werden. Dagegen führt die Statistik der Bevölkerung nach Umgangssprachen für denselben Zeitpunkt unter »Sonstige afrikanische Sprachen« (gemeint sind alle außer Arabisch) gerade einmal 1.816 Personen an. Wohin also sind die restlichen 9.964 Menschen verschwunden, die im subsaharischen Afrika geboren wurden? Die Antwort ergibt sich aus der Rangordnungstabelle: Der weitaus überwiegende Teil der im subsaharischen Afrika lebenden Menschen beherrscht neben einer oder mehreren afrikanischen Sprachen mindestens eine der ehemaligen Kolonialsprachen Englisch, Französisch oder Portugiesisch, die in den meisten Staaten weiterhin als Amtssprachen fungieren. Diese rangieren mit den Ordnungszahlen 15 (Englisch), 16 (Französisch) bzw. 29 (Portugiesisch) vor den drei Kategorien, unter denen (von Arabisch abgesehen) die Sprachen Afrikas subsumiert werden: »Suaheli« (Nr. 36), »Westafrikan. Eingeborenensprachen« (Nr. 37) und »Afrikanische Sprachen sonstige« (Nr. 38). So fiele zum Beispiel eine Person aus Mali, die bei der Zählung Bambara, Französisch und Deutsch als ihre wichtigsten Umgangssprachen genannt hätte, in der Statistik in die Kategorie »Französisch«. Eurozentrische und rassistische Bezeichnungen wie »Westafrikan. Ein-
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geborenensprachen« oder »Indianersprachen« zeugen zudem davon, in welchem Ausmaß Sprachgebrauch und Weltsicht des Kolonialismus im Hintergrund wirksam bleiben. Die Rangordnungsliste, nach der Sprachen ausgeschieden werden, ist ein geradezu idealtypisches Beispiel dafür, wie einzelne Sprachen (unabhängig von der Zahl der in Österreich lebenden Sprecher_innen) auf einer Achse zwischen nah und entfernt, vertraut und fremdartig, wichtig und unwichtig verortet werden – immer in Bezug zu einem imaginären ›Wir‹, das den Mittelpunkt dieser konzentrischen Anordnung bildet. Die zu statistischen Zwecken vorgenommene Hierarchisierung entspricht dem, was Irvine und Gal (2000) als sprachideologischen Mechanismus des Ausblendens [erasure] beschreiben: Sie trägt dazu bei, die tatsächliche sprachliche Diversität zu verwischen, indem jede individuelle Mehrsprachigkeit, die über einen mit Deutsch verbundenen Bilingualismus hinausgeht, ebenso aus der öffentlichen Wahrnehmung ausgeblendet wird wie jene Sprachen, die als marginal und wenig relevant bewertet werden.
W ozu S pr achen z ählen : ein B lick zurück Die Frage nach Sprachgebrauch bzw. nach sprachlicher Zugehörigkeit in Zensuserhebungen geht auf das 19. Jahrhundert zurück. Wie Dominique Arel (2002) darlegt, wurde die Frage, ob eine ethnische/nationale Identität erhoben werden sollte, auf dem internationalen Statistikkongress in Wien im Jahr 1857 erstmals breiter diskutiert. Eine direkte Frage nach Selbstzuschreibungen wurde mit der Begründung verworfen, dass viele der Befragten nicht gewohnt seien, in nationalen Kategorien zu denken und daher subjektiv gefärbte, unzuverlässige Antworten zu erwarten seien. Die Frage nach der Sprache wurde demgegenüber als verlässlichster ›objektiver‹ Marker für Zugehörigkeit identifiziert. Daraus resultierte die Empfehlung, eine Frage nach der Umgangssprache (»langue parlée«, französisch im Original) in den Zensus aufzunehmen (ebd.: 95). Ausgehend von der Annahme, dass für jeden Menschen eine einzige Sprache die dominante sei, vermied man hybride Kategorien und reihte auch Personen, die zwei oder mehr Sprachen nannten, als monolingual ein (ebd.: 98). Kertzer und Arel (2002) zeigen, wie das Bedürfnis, die Bevölkerung zu kategorisieren und zu zählen, eng mit der Entstehung des modernen Staates, insbesondere des Kolonialstaates verknüpft ist. Unter Berufung
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auf Benedict Andersons einflussreiches Buch Imagined communities: Reflections on the origines and spread of nationalism (Anderson 1991) sprechen sie von einem totalisierenden und klassifizierenden Netz, mit dem die Kolonien überzogen wurden, um sich alles, was sich innerhalb eines in sich geschlossenen Territoriums befand, in Besitz zu nehmen. In den nachmaligen Kolonien begann das Zählen und Klassifizieren, wie Peter Uvin (2002) am Beispiel Burundis und Ruandas darlegt, mit der Ankunft der ersten Abenteurer und Ethnografen und intensivierte sich mit der tatsächlichen Kolonisierung. Für die flächendeckende Bevölkerungserhebung zum Zweck der Steuereintreibung zur Finanzierung des kolonialen Systems wurden Soldaten und Polizisten eingesetzt. Die Bevölkerung reagierte häufig mit Misstrauen und Angst. Im kolonialen System wurden die Zensuskategorien nicht – wie in Europa bereits üblich – mit den sozialen Gruppen ausgehandelt, sondern aus europäischer Warte konstituiert, aufgezwungen und mit Rassenideologien aufgeladen. Das koloniale Projekt, die Bevölkerung in essentialisierte Gruppen aufzuspalten – im Fall von Ruanda und Burundi in Hutu, Tutsi und Twa –, simplifizierte und verfestigte, was zuvor komplexere, sozial eingebettete Differenzierungen gewesen waren. Durch das Benennen und Zählen wurden ethnische Identitäten und Kategorien geschaffen, soziale Durchlässigkeit und Mobilität dagegen reduziert oder verunmöglicht (ebd.: 160). Eine besondere Bedeutung erlangte die Frage nach der ethnischen bzw. nationalen Zugehörigkeit im östlichen Teil Europas, insbesondere im Zarenreich und in der Donaumonarchie, wo, anders als im Westen, nicht das Ideal des (homogenen) Nationalstaats als Modell diente, sondern die Vorstellung des Vielvölkerstaates (Kertzer/Arel 2002: 9). Wie Wolf (2012: 62ff.) ausführt, wurden in der Habsburger Monarchie – nicht jedoch in den Territorien, die der ungarischen Krone unterstellt waren – die Fragen nach Religion und Sprache zu zentralen Instrumenten einer Kategorisierung der Bevölkerung nach nationaler Zugehörigkeit. Das Staatsgrundgesetz von 1867 sicherte das Grundrecht auf »Wahrung und Pflege von Nationalität und Sprache«; Sprache wurde als konstitutiv für Nationalität postuliert, womit die Sprachenfrage unversehens in den Mittelpunkt der Kämpfe um die politische Machtverteilung rückte. Entscheidend war nun, welche ›Nation‹ wo wie viele Sprecher_innen für sich beanspruchen konnte. Durch die Frage nach der Umgangssprache (nur eine Antwort war zulässig), die im Übrigen nur für Staatsangehörige erhoben wurde, wurden die Volkszählungen häufig zu einem Ringen
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um das nationale Bekenntnis jedes und jeder Einzelnen und trugen maßgeblich dazu bei, nationale Identitäten zu verfestigen. Bis zum Fall der Donaumonarchie im Jahr 1918 wurde nach der Umgangssprache gefragt. Danach kam es, so Brousek (1980: 30ff.), in Österreich von einem Zensus zum anderen zu unterschiedlichen Fragestellungen. 1923 wurde nach der »Denksprache« gefragt, die als jene Sprache definiert wurde, »in der die zu zählende Person am besten spricht und in der sie denkt«. Ebenso wurden die »ethnische« und die »rassische« Zugehörigkeit erhoben, jedoch nicht publiziert. 1934 wurde nach der Sprache gefragt, »deren Kulturkreis sich der Befragte zugehörig fühlt«. Einzig die »Zigeuner« wurden angehalten, ihre ethnische Zugehörigkeit zu deklarieren. Die im folgenden Jahr eingerichtete Zentralevidenz diente später dem nationalsozialistischen Regime als Grundlage für die systematische Verfolgung und Ermordung der österreichischen Roma. 1939, also nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich, wurde nach der »Muttersprache« gefragt. Darüber hinaus waren die Befragten unter Strafandrohung verpflichtet, wahrheitsgemäß über ihre »Volkszugehörigkeit« und gegebenenfalls über die jüdische Herkunft von Großeltern Auskunft zu erteilen. Welche dramatischen Folgen das für die Betroffenen hatte, ist bekannt. Ab der Volkszählung von 1951 kehrte man zur Frage nach der Umgangssprache zurück, wobei die Art, wie diese definiert wurde, fallweise geringfügig modifiziert wurde. Wie sehr Zensuserhebungen auch heute dazu beitragen können, ethnisch-nationale Kategorien zu konstruieren und Selbstzuordnungen zu diesen zu forcieren, wird beispielsweise in Bosnien-Herzegowina deutlich, wo in der Volkszählung von 2013 in den Fragen 24, 25 und 26 nach Nationalität, Glaube und Sprache gefragt wurde (Wölfli 2013). Nachdem die gemeinsame serbokroatisch-kroatoserbische Sprache in die Sprachen Bosnisch, Kroatisch und Serbisch aufgeteilt wurde, die in Bosnien-Herzegowina alle drei als Amtssprachen fungieren (Busch 2010), und da das religiöse Bekenntnis weitestgehend mit dem ethnisch-nationalen gleichgesetzt wird, sind alle drei Fragen als Identitätsfragen zu werten. Die letzte Volkszählung fand 1991, also unmittelbar vor Ausbruch des Krieges, statt. Auf der Basis der damaligen Volkszählungsergebnisse wurde im Vertrag von Dayton 1995 der Proporzschlüssel festgelegt, nach dem politische Funktionen und Verwaltungsämter nach Zugehörigkeit zur bosniakischen, kroatischen bzw. serbischen Nationalität zu vergeben sind. Obwohl der Schlüssel nicht vom Ergebnis der neuen Zählung abhängig gemacht werden soll, wurden von allen Seiten Aufrufe erlassen, sich zur jeweiligen
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Nationalität zu bekennen. Insbesondere wurden von bosniakischer Seite Befürchtungen geäußert, dass viele der Befragten der im Hinblick auf ein ethnisches Bekenntnis ›neutralen‹, sich auf die Staatsangehörigkeit beziehenden Bezeichnung »Bosnier« den Vorzug geben könnten. Bisher liegen erst provisorische Ergebnisse vor, die keinen Aufschluss über sprachliche oder ethnische Zuordnungen geben. Ähnlich wie in BosnienHerzegowina wurde auch in Kroatien bei der Volkszählung 2011 nach der Nationalität (narodnost), der Muttersprache (materinski jezik) und dem Glauben (vjera) gefragt. Zum Ankreuzen vorgegeben war bei den Fragen 19, 20 und 21 jeweils eine Antwort, nämlich »Kroate/Kroatin«, »kroatisch« und »katholisch«. Alternativ konnte jeweils »andere« (drugi/druga) oder »bekennt sich nicht« (ne izjašnjava se) angekreuzt werden; zur Spezifizierung von »andere« stand ein freies Feld zur Verfügung7.
Z wischen A nerkennung und V erkennung : das k ategorisierte S ubjek t Pierre Bourdieu (1990: 95) hat sich damit auseinandergesetzt, wie Kämpfe um ethnische Identität und damit verbundene Klassifizierungen nicht nur neue Sichtweisen auf die soziale Realität bilden, sondern diese gewissermaßen umformen. Solche Auseinandersetzungen »um Merkmale (Stigmata oder Embleme)«, die mit Herkunft verbunden sind, bezeichnet er als Klassifizierungskämpfe, in denen es »um das Monopol auf die Macht über das Sehen und Glauben, Kennen und Anerkennen, über die legitime Definition der Gliederung der sozialen Welt und damit über die Bildung und Auflösung sozialer Gruppen« geht (ebd., Hervorh. im Original). Die Herkunft oder bestimmte Herkunftsmerkmale wie Sprache oder Akzent können Bourdieu zufolge nicht als ›objektive‹ Kriterien für Gruppenzugehörigkeit gewertet werden, sondern stellen zunächst ein Arsenal in der Auseinandersetzung um Macht und Machtverteilung zur Verfügung, das erst nach und nach – indem solche Merkmale immer wieder aufgerufen und untereinander verknüpft werden – neue soziale Realitäten schafft.
7 | http://www.dzs.hr/Hrv/censuses/census2011/forms/P1-WEB.PDF, abgerufen am 27.06.2014.
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»Es geht bei diesen Kämpfen in der Tat um die Macht, Prinzipien der sozialen Gliederung (di-vision) und mit ihnen eine bestimmte Vorstellung (vision) von der sozialen Welt durchzusetzen, die, wenn sie für eine ganze Gruppe verbindlich werden, ihr einen Sinn und jenen Konsens über den Sinn und vor allem über die Identität und Einheit der Gruppe geben können, der die Realität dieser Gruppeneinheit und -identität ausmacht.« (Ebd.)
Zählung und Befragung im Rahmen des Zensus sind ein vom Staat gesetzter Akt, dem man sich in der Regel nicht entziehen kann. Das gilt auch für die Aufforderung, gegenüber dem Zählorgan Angaben über den eigenen privaten Sprachgebrauch zu machen. Es ist ein Akt, mit dem die gezählte Person (in ihrer Eigenschaft als Staatsbürger_in oder zumindest Einwohner_in eines Landes) als ein bestimmtes Subjekt wahrgenommen wird und sich als solches zu erkennen gibt. Im Sinne von Louis Althusser (2008) kann dieser Akt als ideologische Anrufung verstanden werden. Um den Mechanismus einer ideologischen Anrufung zu verdeutlichen, verwendet Althusser die Metapher eines Polizisten, der einen Passanten mit »He, Sie dort!« (hé, vous là-bas!) anruft, wobei dieser augenblicklich stehen bleibt, weil er weiß, dass er gemeint ist. Erst durch die ideologische Anrufung wird das Individuum in Althussers Verständnis zum Subjekt: Es wird als unverwechselbar identifiziert, wird im Sinne Hegels »anerkannt« und unterwirft sich sozusagen aus freien Stücken der Ideologie, die es als solche aber kaum erkennen kann, weil es ein Spezifikum der Ideologie ist, etwas unbemerkt als eine Evidenz zu etablieren, die anzuerkennen man nicht umhinkommt. Wenn nach der ›Umgangssprache‹, ›Muttersprache‹, ›Denksprache‹ oder was immer gefragt wird, so lässt sich das als autoritative Aufforderung verstehen, sich selbst einer ideologischen Kategorie zuzuordnen, die – weil sie diskursiv mit anderen Kategorien wie Herkunft, Kultur, Identität, Rasse, Ethnie, Klasse, Geschlecht usw. verknüpft ist – anderen und einem selbst darüber Auskunft gibt, wer man ist. Im Namen der Ideologie werden Althusser zufolge die Rituale der gegenseitigen Anerkennung praktiziert, die der Vergewisserung der eigenen Identität dienen: die Anerkennung zwischen den Subjekten und dem absoluten Subjekt der Ideologie, zwischen den Subjekten untereinander und jedes Subjekts durch sich selbst (ebd.: 56). Bereits Althusser weist darauf hin, dass jeder Akt des Anerkennens als Kehrseite zugleich ein Verkennen beinhaltet. Nancy Fraser (2000) führt diesen Gedanken weiter, wobei sie die wachsende Bedeutung der Kämpfe um ›Anerkennung von Differenz‹ gegenüber solchen um egalitä-
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re Umverteilung als Ausgangspunkt nimmt. Wenn Anerkennung an die Bedingung geknüpft wird, dass Individuen sich zu bestimmten ›authentischen‹, sich selbst behauptenden kollektiven Identitäten zu bekennen haben, dann sieht Fraser (ebd.: 112) darin eine Umkehrung des Hegelschen Gedankens, wonach Anerkennung idealerweise ein wechselseitiger Akt ist, in dem einer den anderen als Subjekt anerkennt und von diesem als Subjekt anerkannt wird (Hegel 1807: 117). Dann, so Fraser, wird Anerkennung, weil sie die Komplexität des Lebens, das Menschen führen, verneint, zur Verkennung, wird zu einem Mittel, Menschen in Identitätskategorien einzusperren, ihnen die volle, egalitäre Partizipation am sozialen Leben und die soziale Interaktion über Differenz hinweg vorzuenthalten (Fraser 2000: 113). Fraser plädiert demgegenüber für eine »universalist recognition, deconstructive recognition, affirmative recognition of difference« (ebd.: 116), die in erster Linie darauf abzielt, jene Hindernisse zu beseitigen, die sich einer gleichberechtigten Teilhabe am sozialen Leben in den Weg stellen. In eine ganz ähnliche Richtung geht Michel Foucault (2007), wenn er vom Widerstand und von Kämpfen gegen eine Machtform oder Machttechnik spricht, die er folgendermaßen charakterisiert: »Diese Machtform gilt dem unmittelbaren Alltagsleben, das die Individuen in Kategorien einteilt, ihnen ihre Individualität zuweist, sie an ihre Identität bindet und ihnen das Gesetz einer Wahrheit auferlegt, die sie in sich selbst und die anderen in ihnen zu erkennen haben. Diese Machtform verwandelt die Individuen in Subjekte. Das Wort Subjekt hat zwei Bedeutungen: Es bezeichnet das Subjekt, das der Herrschaft eines anderen unterworfen ist und in seiner Abhängigkeit steht; und es bezeichnet das Subjekt, das durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis an seine eigene Identität gebunden ist. In beiden Fällen suggeriert das Wort eine Form von Macht, die unterjocht und unterwirft.« (Ebd.: 86).
D ekonstruk tion und R ekonstruk tion : ein B lick nach vorn Will man Kategorien einer kollektiven Identifikation aufgrund von Sprache, in die Menschen eingeteilt oder eingesperrt werden, im Alltagsleben dekonstruieren und verflüssigen, so gilt es Sprachenpolitiken zu entwerfen, die sich tendenziell davon lösen, Sprachenrechte auf bestimmte Kategorien von Sprecher_innen (z.B. anerkannte nationale Minderheiten) zu beschrän-
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ken, sie vom Nachweis ihrer zahlenmäßigen Stärke abhängig zu machen oder sie territorial (z.B. auf sog. traditionelle Siedlungsgebiete) zu limitieren. Im Folgenden soll am Beispiel des Europäischen Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten, einem Rechtsinstrument des Europarats, dargestellt werden, in welche Richtung sich sprachliche Rechte so weiterentwickeln lassen, dass keine essentialisierende Verknüpfung von Sprache, Identität und Territorium vorgenommen und festgeschrieben wird. Der Beratende Ausschuss für das Rahmenübereinkommen (der für das Monitoring zuständige Expert_innenausschuss) hat 2012 seine Positionen in Bezug auf Sprachenrechte in einem Kommentar (Advisory Committee 2012) dargelegt. Das Dokument verweist in verschiedener Hinsicht auf eine neue Interpretation und Konzeption von Sprachenrechten. Das in der Rahmenkonvention festgelegte Prinzip des freien Bekenntnisses zu einer Minderheit wird dahingehend präzisiert, dass es den Einzelnen zusteht, Zugehörigkeit zu mehreren Gruppen geltend zu machen, wobei bestimmte Sprachenrechte auch situations- und kontextspezifisch wahlweise in Anspruch oder nicht in Anspruch genommen werden dürfen. Die Inanspruchnahme solcher Rechte darf nicht an den Nachweis sprachlicher Kompetenzen gebunden werden. Als unzulässig werden Regelungen bewertet, die den Genuss von Rechten davon abhängig machen, dass sich Personen exklusiv und dauerhaft zu einer Sprachgruppe bekennen müssen. Kritisiert wird in diesem Zusammenhang etwa die Praxis in Südtirol, der zufolge eine Beschäftigung im öffentlichen Dienst nur für Personen vorgesehen ist, die sich einer der drei vorgegebenen Sprachkategorien Deutsch, Italienisch oder Ladinisch zuordnen. Im Dokument des Advisory Committee (2012) wird hervorgehoben, dass Befragungen zu statistischen Zwecken anonym sein müssen, nicht nur vorgegebene Kategorien umfassen dürfen und – besonders wichtig – Mehrfachnennungen zulassen sollen. Das Dokument geht explizit davon aus, dass Sprache und Identität keine statischen Kategorien sind, sondern sich im Verlauf des Lebens verändern (Absatz 13). Auch soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass viele Menschen ihren Lebensalltag in mehr als einer Sprache organisieren. Generell sollen Sprachenpolitiken dem Dokument zufolge sicherstellen, dass die in einer Gesellschaft gesprochenen Sprachen im öffentlichen Bereich präsent, hörbar und sichtbar sind, damit der multilinguale Charakter der Gesellschaft für alle erfahrbar wird und sich jede Person als integraler Teil der Gesellschaft wahrnehmen kann. Da die Hürden für die
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Ausübung einer wirksamen Gleichstellung weit über Sprache hinausgehen, ruft der beratende Ausschuss dazu auf, in umfassender Weise gegen die Verbreitung von Stereotypen, gegen diskriminierende Behandlung und die reale Ungleichheit in allen Lebensbereichen vorzugehen (Absatz 30). Inklusive Sprachenpolitiken müssen den Bedürfnissen aller gerecht werden, auch jenen von Einwohner_innen, die die Staatsbürgerschaft des Landes nicht besitzen (Absatz 33). Zusammenfassend heißt es in Absatz 95, dass die Anerkennung des Rechts auf Differenz nicht dazu führen darf, Identitäten festzuschreiben und zu reifizieren: »Recognition of difference shall be based on full and effective equality of all members of society, irrespective of their identity and language affiliation. Promotion of such equality requires the adoption of measures that enable an equal access to resources and rights despite differences, and allow for social interaction across differences.« (Advisory Committee 2012: 30)
Ein Sprecher_innen-orientierter Zugang zu Sprachenrechten nimmt nicht Sprachen oder Sprachgemeinschaften als Ausgangspunkt, sondern trägt dem kontingenten und konstruierten Charakter von Sprachen als Kategorien Rechnung. Statt Sprecher_innen zu kategorisieren, fokussiert er auf sprachliche Interaktionen und Praktiken, er erkennt die Verschiedenheit individueller sprachlicher Ressourcen und den heteroglossischen Charakter sprachlicher Repertoires an. Er geht von situativen Identifikationsakten aus, in denen Einzelne ihre Differenz zu und ihre Identifikation mit anderen zum Ausdruck bringen, und nimmt kollektive Identitäten, denen die Einzelnen zugeordnet werden, nicht als gegeben an. Anstatt eine naturgegebene Verknüpfung zwischen Sprache und Territorium anzunehmen, trägt ein solcher Zugang dem Umstand Rechnung, dass wir in unserem Alltag an einer Vielzahl sozialer Netzwerke und Räume teilhaben, die jeweils durch unterschiedliche Sprachpraktiken und Sprachregime begründet werden. Im Bildungsbereich erweisen sich Statistiken, die Schüler_innen einer bestimmten sprachlichen Kategorie zuordnen, nicht nur als unverlässlich, sondern auch als problematisch, weil sie dazu beitragen, jene Realitäten zu schaffen, die sie abzubilden vorgeben. Aus Sicht der einzelnen Schüler_innen bedeuten Erhebungen, die auf eine Feststellung der ›Muttersprache‹, ›Erstsprache‹ oder ›Herkunftssprache‹ abzielen, dass sie Kategorien zugeordnet werden, die ihnen oft über die ganze Schul-
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karriere hartnäckig anhaften, auch wenn sich ihr sprachliches Repertoire verändert hat und zum Beispiel Sprachen des weiteren sozialen Umfelds gegenüber jenen der engeren Familie dominant geworden sind. Es geht dabei um die Erfahrung, einer Macht unterworfen zu sein, die einem im Sinne Foucaults (2007) eine Identität zuweist und einen an sie bindet und die einen letztlich der einen oder der anderen Seite zuordnet: jenen mit deutscher Erstsprache und jenen mit »anderer Erstsprache als Deutsch«, die als Sonderfall abgestempelt werden und von denen a priori angenommen wird, dass sie ›sprachliche Defizite‹ und ›Förderbedarf‹ aufweisen. Auch im Hinblick auf die Entwicklung von Schulsprachenpolitiken erweisen sich statistische Erhebungen, die vom Prinzip ›eine Person – eine Sprache‹ ausgehen, als wenig geeignet, da sie dazu tendieren, die Komplexität heteroglossischer Sprachrepertoires auf die Zugehörigkeit zu einer Sprachkategorie zu reduzieren. Schüler_innen wachsen in mehrsprachigen Lebenswelten auf, ihre Erstsprache ist oft schon eine Mehrsprachigkeit, und zwar eine, die nicht nur in der Dichotomie Herkunftssprache–Deutsch gedacht werden kann. Ihr Sprachrepertoire weist oft in mehrere Richtungen, zum Beispiel auf Mehrfachmigration, auf Angehörige, die im Zuge von Migration und Exil über mehrere Länder verstreut wurden, auf berufliche Mobilität der Eltern, auf Sprachen und sprachliche Praktiken unter Gleichaltrigen. Wenn es darum geht, standortspezifische Schulsprachenpolitiken zu entwickeln, ist es zielführender, genau hinzusehen, also nach den sprachlichen Repertoires, den Ressourcen, Praktiken und Aspirationen zu fragen, die alle Beteiligten, Schüler_innen, Lehrer_innen und Eltern, in die Schule ›mitbringen‹. Solche detaillierten Bestandsaufnahmen sind oft in der Lage, Interessen an und Einstellungen zu bestimmten Sprachen oder Sprachpraktiken zum Vorschein bringen, die nicht den allgemeinen Erwartungen entsprechen (Busch 2010). Der zunehmenden sprachlichen Diversifizierung, wie sie in vielen Schulklassen längst Realität ist, kann weder eine Politik gerecht werden, die von einer Ideologie des Monolingualismus getragen wird, noch eine solche, die einer Kulturalisierung Vorschub leistet und im Grunde nur eine Spielart derselben Ideologie ist, weil sie von einem Nebeneinander verschiedener Einsprachigkeiten ausgeht. Demgegenüber geht es darum, pädagogische Zugänge zu entwickeln, die Heterogenität und Heteroglossie als selbstverständlichen Ausgangspunkt nehmen und als Lernprinzip verankern. Eine Pädagogik der Heteroglossie (Blackledge/Creese 2014) nimmt die Schule als Raum wahr, in dem verschiedenartige sprachliche Praktiken, die ih-
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rerseits wieder mit anderen Räumen verbunden sind, aufeinandertreffen. Wenn wir von Mehrsprachigkeit oder Heteroglossie sprechen, dann gehen wir mit Bachtin (1979) also von einem Konglomerat aus, das verschiedene Sprachen, Stimmen und Diskurse umfasst und das in Schulen, genauso wie in anderen Kontexten, immer wieder neu verhandelt werden muss. Es geht also darum, die mehrsprachige Realität der Gesellschaft in der Schule aufzugreifen, sichtbar und im Unterrichtsalltag positiv erfahrbar zu machen und die (sprachliche, altersmäßige, soziale) Heterogenität einer Schulklasse nicht als Lernhindernis zu sehen, sondern im Gegenteil als Voraussetzung für ein alltagsbezogenes soziales und kooperatives Lernen.
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Postkoloniale Mehrsprachigkeit und »Deutsch als Zweitsprache« Heike Niedrig
E inleitung »Als ich meinen ersten Tag in Deutschland hatte, konnte ich kein Deutsch und ich fühlte mich ganz/also ich fühlte mich nicht so wohl. […] deswegen hab’ ich also auch Vollgas gegeben, um Deutsch zu lernen. Und das hab’ ich geschafft, das freut mich auch.« (Simon, 18 Jahre, aus Togo)1
Das Zitat stammt aus einem Forschungsprojekt in Hamburg zur Bildungssituation von jungen Flüchtlingen aus Afrika (vgl. Neumann et al. 2003). Als Simon das Interview gab, lebte er seit dreieinhalb Jahren in Deutschland und war gerade dabei, den Realschulabschluss zu erwerben. Kurz nach der erfolgreichen Abschlussprüfung musste er ›untertauchen‹, um sich einer Abschiebung nach Togo zu entziehen. Wie er fortan in der ›Illegalität‹ lebt und welche Rolle seine hervorragenden Deutschkenntnisse dabei spielen, wissen wir nicht. Die Sozialpädagogin aus seiner Jugendwohnung, die noch in Kontakt mit ihm stand, konnte oder wollte uns keine weiteren Auskünfte erteilen (vgl. Niedrig 2003b: 349). Simon steht hier stellvertretend für viele Jugendliche aus dieser Studie, die »Vollgas gegeben« haben, um Deutsch zu lernen – ohne jegliche Garantie, dass das daran geknüpfte ›Integrationsversprechen‹ auch erfüllt wird. Die asylpolitische Demontage von Bildungs- und Lebenschancen in Deutschland ist als Hintergrund für jegliches Bildungsangebot, das sich an Jugendliche mit Flüchtlingsstatus richtet, von zentraler Bedeutung 1 | Zitiert nach Niedrig (2003a: 326). Alle Namen von Jugendlichen sind selbstverständlich Pseudonyme.
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und soll hiermit eingangs in Erinnerung gerufen werden. Im Folgenden werde ich mich aber auf die Erfahrungen der Jugendlichen mit ihrem schulischen Deutschunterricht konzentrieren, um einen Beitrag zur Frage der Realisierungsbedingungen eines hegemoniekritischen Unterrichts in Deutsch als Zweitsprache (DaZ) zu leisten. In den ersten Abschnitten meines Texts werde ich zunächst einige Ergebnisse der Jugendlichenstudie vorstellen, theoretisch rahmen und dabei zeigen, inwiefern der sprachliche Habitus, der sich im postkolonialen Afrika herausgebildet hat, in Übereinstimmung oder in Widerspruch zum sprachlichen Markt in Deutschland steht, um anschließend zwei Thesen zur postkolonialen Deutung dieser Befunde zur Diskussion zu stellen.2 Im letzten Abschnitt werde ich zwei Ansatzpunkte für die kritische Analyse sprachlicher Bildungskonzepte skizzieren, die mit Blick auf das allgemeinbildende Schulsystem entwickelt wurden (vgl. Niedrig 2002), mir aber in weiten Teilen auch auf den Bereich der Erwachsenenbildung übertragbar erscheinen.
1. J ugendliche Tr ansmigr ant-innen – M ehrspr achigkeitsprofile und kritische S timmen zum D eutschunterricht Von den 76 Interviews, die wir mit jugendlichen Flüchtlingen über ihre Bildungslauf bahnen durchführten, konnten 73 auch im Hinblick auf Sprachkenntnisse ausgewertet werden.
1.1 Überblick über das mehrsprachige Repertoire Das sprachliche Repertoire der befragten Jugendlichen umfasste 37 Sprachen, darunter 29 afrikanische Sprachen, unter anderem Fula, Amharisch, Ewe, Dioula, Mandingo und Tigrinya3, sowie Arabisch, Englisch, Französisch und Portugiesisch sowie einige weitere europäische Spra2 | Die hier zusammengefassten Befunde wurden in Teilen bereits publiziert (vgl. Niedrig 2006), werden in diesem Beitrag aber aus postkolonialer Theoriesicht neu kommentiert. 3 | Dies sind diejenigen afrikanischen Sprachen, die jeweils von mehr als drei Jugendlichen genannt wurden.
Postkoloniale Mehrsprachigkeit und »Deutsch als Zweitsprache«
chen. Alle Jugendlichen besuchten zum Zeitpunkt der Interviews eine deutsche Schule und verfügten daher auch über entsprechende Deutschkenntnisse. Nach dem selbst zugeschriebenen »Grad der Mehrsprachigkeit« lassen sich drei Gruppen unterscheiden: Elf Jugendliche stellten sich nach Abzug von Deutsch als »monolingual« dar. Meist gaben sie nur die Amtssprache ihres Herkunftslandes an; höchstwahrscheinlich haben sie jedoch weitere Sprachkenntnisse, insbesondere in afrikanischen Sprachen, die sie aus unterschiedlichen Gründen nicht nannten. Die große Mehrheit (53) spricht neben Deutsch zwei bis vier Sprachen. Neun Jugendliche sprechen (inkl. Deutsch) sogar sechs und mehr Sprachen. Für meine weiteren Überlegungen von Bedeutung ist, dass insgesamt 13 Jugendliche keine Angaben zu afrikanischen Sprachkenntnissen machten. Hier gibt es eine Überschneidung mit der Gruppe, die sich als »monolingual« präsentierte. Die Jugendlichen, die in den folgenden Zitaten zu Wort kommen, hatten sehr unterschiedliche Bildungswege in den jeweiligen afrikanischen Herkunftskontexten vorzuweisen. In Hamburg besuchten sie zunächst alle eine sog. BVJ-M-Klasse, d.h. ein »Berufsvorbereitungsjahr für MigrantInnen«, in dem der deutsche Hauptschulabschluss erreicht werden kann. Neben den üblichen Fächern des allgemeinbildenden Unterrichts werden im BVJ zwei berufspraktische Fächer unterrichtet und im BVJ-M zusätzlich das Fach »Deutsch als Zweitsprache«. Wie äußern sich nun diese Jugendlichen zum DaZ-Unterricht?
1.2 Kritik der mehrsprachigen Jugendlichen am DaZ-Unterricht Harona ist zum Zeitpunkt des Interviews ca. 19 Jahre alt und lebt seit fünf Jahren in Deutschland. In Sierra Leone hatte er eine Koranschule besucht. Er spricht Fula, Krio, Englisch und Deutsch. Seine Erfahrungen mit dem Unterricht im BVJ-M resümiert er wie folgt: »[The teachers] always forced us to do this, do this! Normally, they forced us to learn more German. You know, more German, more German, more German. They say: Here is Germany, anyone who is here must understand the language. And we said: Yea, of course, we are interested to know the German language. But not only
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the German language. For they say, that is more good for us, you know. We said: Yea, we came here – because of our problem. We don’t come here only to learn German. We need another subject again. Like English, they never encouraged us to do it much. They said: More German, more German, more German! You know. «
Mireille aus Guinea-Conakry ist 17 Jahre alt und kam vor anderthalb Jahren nach Deutschland. Sie spricht fünf Sprachen: Fula, Mandingo, Susu, Französisch und Deutsch. In Guinea-Conakry besuchte sie die Sekundarschule und erwarb das BEPC (Brevet d’Études de Premier Cycle), die staatliche Prüfung nach Abschluss der 10. Klasse im französischen Schulsystem. Über ihren Deutschlehrer sagt sie: »Mon professeur d’allemand – chaque fois qu’il demande la version française d’un mot et que je réponds, il demande à Paul, un jeune Français qui est dans ma classe: ›Est-ce que ce que Mireille dit c’est vrai?‹ Un jour j’étais vraiment sur les nerfs et je lui ai dit: ›Écoute ! Mon français, je ne l’ai pas appris dans la rue; je l’ai appris à l’école. Et chaque fois que tu poses des questions et que je réponds tu lui demandes si c’est vrai ce que j’ai dit. Le fais-tu parce qu’il est Français et moi Africaine? Il ne faudrait pas oublier que la France nous a colonisé pendant des années, pendant 40 ans.‹ – Je le lui ai dit en Allemand!« 4
Harona und Mireille kritisieren ihre Deutschlehrer aus verschiedenen Gründen: Harona mokiert sich über den monolingualen Habitus seiner Lehrer, über das bornierte Insistieren auf Deutsch als einziger Sprache, auf die es ankomme, und er fordert insbesondere Unterricht in Englisch, der Amtssprache von Sierra Leone. In Mireilles Deutschunterricht wird das mehrsprachige Repertoire der Schüler_innen zwar zur Kenntnis ge4 | Übersetzung H.N.: »Mein Deutschlehrer – jedes Mal, wenn er nach der fran zösischen Bedeutung eines Wortes fragt und ich ihm antworte, fragt er noch mal Paul, einen jungen Franzosen in meiner Klasse: ›Stimmt das, was Mireille da sagt?‹ – Eines Tages hat mich das wirklich genervt, und ich habe ihm gesagt: ›Hör mal! Mein Franz ös isch habe ich nicht auf der Straße gelernt; ich habe es in der Schule gelernt. Und jedes Mal, wenn du eine Frage stellst und ich antworte, fragst du ihn noch mal, ob das stimmt, was ich sage. Machst du das, weil er Franzose ist und ich Afrik an er in? Man sollte nicht vergessen, dass Frankreich uns viele Jahre kolonialisiert hat, 40 Jahre lang.‹ – Das habe ich ihm auf Deutsch gesagt!«
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nommen und in den Deutschlernprozess einbezogen, was im Grundsatz begrüßenswert ist. Doch erfolgt dieser Einbezug in einer Weise, die Mireille als eine Form von »native speakerism« (vgl. Knappik/Dirim 2013) wahrnimmt und kritisiert. Mireille möchte, dass ihre Kompetenz in Französisch als Schulsprache anerkannt wird. Um die Legitimität ihres Französischrepertoires zu untermauern, verweist sie gar auf die französische Kolonialzeit, die zu der postkolonialen Schulsprachpolitik in GuineaConakry führte. Der Lehrer hingegen sieht in ihr nur die »FranzösischFremdsprachlerin« und setzt Pauls Sprachgefühl als legitime Instanz für sprachliche Korrektheit. Hier zeigt sich, dass auch ein Unterricht, der die Mehrsprachigkeit der Lerner_innen einbezieht, auf einem monolingualen Konzept von Sprachlichkeit basieren kann, z.B. auf der Grundüberzeugung, dass man nur eine Sprache auf einem wie auch immer definierten »muttersprachlichen Niveau« sprechen könne. Wieso aber sollte Pauls Französisch »richtiger« sein als dasjenige Mireilles? Sind event uelle Abweichungen im französischen Sprachgebrauch ein Beleg für das fehler hafte Sprechen des Mädchens? Oder unternimmt der Lehrer hierbei nicht vielmehr einen Vergleich zwischen zwei Varietäten des Französischen, wie es in Frankreich und in Guinea-Conakry gesprochen und in der Schule gelehrt wird? Welches ist die »legitime« Varietät?
1.3 Geteilter postkolonialer »Common Sense« zwischen Afrika und Europa Trotz ihrer scharfen Kritik, in einem Punkt befinden sich die beiden interviewten Jugendlichen unausgesprochen in vollkommener Übereinstimmung mit dem Common Sense ihrer Lehrer_innen: Weder Harona noch Mireille äußern die Erwartung, dass afrikanische Sprachen in der deutschen Schule in irgendeiner Form präsent sein sollten. Und diese Ausblendung eines wichtigen Teils ihrer sprachlichen Kompetenzen im Hinblick auf Bildungskontexte ist durchaus repräsentativ für die afrikanischen Jugendlichen in unserer Studie: Wie erwähnt, gab es bereits bei der systematischen Erhebung des sprachlichen Repertoires das Problem, dass 13 Jugendliche keine Angabe zu afrikanischen Sprachen machten. So entspann sich beispielsweise zwischen Patrik aus Sierra Leone (20 Jahre, seit dreieinhalb Jahren in Deutschland) und der deutschen Interviewerin zunächst folgender Dialog:
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»I: Du hast gesagt, du sprichst verschiedene Sprachen. Sag noch mal, welche du sprichst. P: Ah, ich spreche [lacht] meine Sprache Zime und Krio und ja, ein bisschen Limba und ein bisschen Mende, nur ein bisschen, nicht ganz gut. Ja, und Englisch, meine Liebe! I: Magst du gerne? P: Ja, ich liebe Englisch mehr als Zime. Weil wenn du in Sierra Leone in die Schule gehst oder in den Kindergarten, kannst du nur Englisch reden. Ja, wenn du zur Schule gehst, redest du nur Englisch. Kein Zime oder andere Sprachen, andere als Englisch.«
Im Anschluss an das Interview bittet die Interviewerin Patrik, seine sprachlichen Kompetenzen, mündlich wie schriftlich, mithilfe deutscher Schulnoten zu evaluieren. Das macht er auch umstandslos und sorgfältig für Englisch und Deutsch. Aber für die afrikanischen Sprachen verweigert er eine solche schulische Bewertung. »I: Okay, dann nächste Sprache! P: Nein, nur das. [lacht] Nur Deutsch und Englisch. I: Nur Deutsch und Englisch? Aber du kannst doch noch so viele andere Sprachen. P: Mm [verneinend]. I: Nein? Okay.«
Offenkundig besteht ein Konsens zwischen den Jugendlichen und den deutschen Bildungsinstitutionen, demzufolge afrikanischen Sprachen kein Platz im Bildungssystem zugestanden wird. Auf diesen Befund werde ich in meinen Schlussüberlegungen kurz zurückkommen. Im Folgenden liegt mein Analysefokus aber auf dem Dissens im Hinblick auf den Marktwert der mitgebrachten transnationalen sprachlichen Ressourcen.
2. P ostkoloniale M ehrspr achigkeit und S pr achmärk te Analysiert man die Bildungswege der befragten Jugendlichen als »transnationale Bildungsverläufe« zwischen Afrika und Europa, so handelt es sich bei Englisch und Französisch ohne Zweifel um »transnationale sprachliche Ressourcen«. Mit diesem sprachlichen Kapital sind die Ju-
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gendlichen in unserer Studie nach eigener Aussage wie folgt ausgestattet (Abb. 1).
2.1 Die Kompetenzen der Jugendlichen in Englisch und Französisch 55 der Jugendlichen sprechen Englisch, 35 Französisch, 21 von diesen sogar beide Sprachen. Nur vier der Befragten (5 %) sprechen weder Englisch noch Französisch. 44 der Jugendlichen bezeichneten ihre mündlichen Fähigkeiten in mindestens einer der beiden Sprachen als gut oder sehr gut; von diesen sind 32 der Meinung, auch über mindestens gute Schriftsprachkenntnisse zu verfügen. Abb. 1: Sprachkompetenz der 73 Flüchtlingsjugendlichen in den ehemaligen Kolonialsprachen Englisch und Französisch (Selbstevaluation der Jugendlichen)
2.2 Entstehung und Reproduktion des (postkolonialen) sprachlichen Markts Die beiden ehemaligen Kolonialsprachen erinnern zum einen an die historische Entstehung der transnationalen Verflechtung zwischen Afrika und Europa als einer Geschichte der kolonialen Herrschaft und Ausbeu
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tung. Zudem verweist ihr heutiger Status als Amtssprachen auf eine fortdauernde kulturelle Hegemonie im postkolonialen Afrika, wo sich die Innen/Außen-Differenz zwischen Kolonisatoren und Kolonialisierten ins Innere verschoben hat: Die Kenntnis der exogenen Amtssprache ermög licht den Eliten eine symbolische Distinktion von der breiten Masse, die diese Amtssprachen nur unzureichend beherrscht, und stabilisiert ihre politische und ökonomische Dominanz (Goke-Pariola 1993). Die hegemoniale Position bedarf keiner Ausübung von direktem Zwang, sondern sie basiert auf einer stillschweigenden Akzeptanz durch die Beherrschten, auch wenn dieses Arrangement keineswegs mit »freiwilliger Entscheidung« verwechselt werden darf. Wie dieses Arrangement zustande kommt, lässt sich anhand Bourdieus Theorie der »Ökonomie des Sprachlichen Tauschs« (Bourdieu 1990) genauer erläutern: Demnach ist jeder sprachliche Markt durch das hierarchische Verhältnis einer dominanten, statushohen Sprache bzw. Sprachform zu in der Regel vielen weiteren statusschwachen Sprachen und sprachlichen Varietäten strukturiert.5 Bourdieu zufolge ist die Position eines jeden Sprechers und einer jeden Sprecherin in der sprachlichen Hierarchie bestimmt durch die jeweilige Nähe oder Distanz der eigenen Sprache6 zur »legitimen Sprache« des jeweiligen sprachlichen Markts, das heißt zu der Sprachform, die von allen Mitgliedern einer »Sprachgemeinschaft« stillschweigend als die einzig legitime Form des Sprechens 5 | Dieses »Grundmuster« nationalsprachlicher Märkte zeichnet sich jeweils durch spezifische Komplexität aus, die für die sprachlichen Strategien im jeweiligen nationalen Kontext oft von großer Bedeutung ist, auch wenn ich hier auf diesen Aspekt nicht genauer eingehen kann. So war im Apartheid-Südafrika beispielsweise eine »Dreieckstruktur« der Sprachenkonstellation kennzeichnend, die sich aufgrund der historischen Konkurrenz der beiden dominanten Sprachen Englisch und Afrikaans um die Position der legitimen Sprache Südafrikas bei gleichzeitiger Marginalisierung der afrikanischen Sprachen herausgebildet hat. In Deutschland lässt sich beo bachten, dass neben der internen dominanten Sprache (»Amtssprache ist Deutsch«) insbesondere Englisch als externe dominante Sprache eine zunehmend herausgehobene Rolle im Bildungswesen spielt. Zudem konkurrieren weitere – »alte« und »neue« – prestigebesetzte schulische »Fremdsprachen« (v.a. Latein, Französisch, Spanisch) um ihren relativen Rang als kulturelles Kapital in der schulischen Sprachenhierarchie. 6 | Hierzu zählen auch regionale und soziale Varietäten (»Dialekte«, »Soziolekte«).
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in offiziellen Kontexten anerkannt wird. Die legitime Sprache gilt mithin nicht als eine Sprache unter anderen, sondern als die Sprache. In der Terminologie der postkolonialen Theorie ist dies die »hegemoniale Sprache«. Die beiden Hauptinstanzen bei der Produktion von Sprachkompetenz sind die Familie bzw. soziale Nachbarschaft des Kindes einerseits, und das Bildungssystem andererseits. Die Sprache/n, die man als Kind in seiner Familie und sozialen Gemeinschaft erlernt und sich im psychoanalytischen Sinne »einverleibt« hat, gehen in die Konstruktion der eigenen Identität unauflöslich ein. Die Bewertung der eigenen sprachlichen Produkte auf den sprachlichen Märkten außerhalb der Herkunftsgemein schaft ist daher ein wichtiger Faktor in der Aushandlung der jeweiligen relationalen Positionierung im »sozialen Raum«. »Wir haben nicht nur durch das Hören eines bestimmten Sprechens sprechen gelernt, sondern auch indem wir selber gesprochen, also ein bestimmtes Sprechen auf einem bestimmten Markt angeboten haben, nämlich im Austausch innerhalb einer Familie, die eine bestimmte Position im sozialen Raum hat und ihrem neuen Mitglied damit Modelle und Sanktionen für die prakt is che Mimesis anbietet, die vom legitimen Sprachgebrauch mehr oder weniger weit entfernt sind. Und wir haben gelernt, welchen Wert die angebotenen Produkte samt der Autorität, die auf dem Ursprungsmarkt mit ihnen verbunden ist, auf anderen Märkten bek ommen (etwa auf dem Bildungsmarkt). Der Sinn für den Wert der eigenen sprachlichen Produkte ist eine grundlegende Dimension des Sinnes für den Ort, auf dem man sich im sozialen Raum bef ind et.« (Bourdieu 1990: 62f.)
Die Rolle der nationalen Bildungsinstitutionen in diesem Zusammenhang lässt sich, ausgehend von Bourdieus Analyse, wie folgt darstellen: Sie haben offiziell und dem eigenen Anspruch nach die Aufgabe, kulturelles und sprachliches Kapital zu vermitteln, also Kenntnisse zu erweitern. In gewissen Grenzen tun sie dies auch. Doch erfüllen sie vor allem eine weitere, nicht explizit gemachte Aufgabe, nämlich die Förderung der allgemeinen Anerkenntnis der im jeweiligen Kontext »legitimen Sprache« und somit unausweichlich die Abwertung vielfältiger lebensweltlicher Sprachressourcen der Schüler_innen. Wenn Lehrerinnen und Lehrer die von den Kindern in den schulischen Raum mitgebrachten kulturellen und sprachlichen Ressourcen bewerten, adressieren sie die Kinder in einer Weise, die ihnen bzw. ihrem Herkunftskontext eine bestimmte Position im sozialen Raum zuweist. Indem sie sich daran machen, Kin-
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dern mit als mangelhaft bewerteten sprachlichen Vorkenntnissen den Zugang zur legitimen Sprache zu eröffnen, ihnen also in der allerbesten Absicht z.B. Deutsch, Hochdeutsch, »richtiges Deutsch« beizubringen, stellen sie zugleich sicher, dass alle sozialen Gruppen in einem Sprachraum lernen, die Legitimität einer bestimmten (hegemonialen) Sprachform anzuerkennen – und somit auch die Autorität derjenigen, die diese Sprachform sprechen und die ihre privilegierte soziale Position auf diese Weise symbolisch begründen und unterstreichen. Dieses Spannungsverhältnis zwischen »Kenntnis« und »Anerkenntnis« der hegemonialen Sprache scheint mir auch für den DaZ-Unterricht in der Erwachsenenbildung von Bedeutung zu sein, wie ich weiter unter ausführen werde.
2.3 Der postkoloniale Sprachmarkt in Afrika aus transnationaler Sicht Ausgehend von Bourdieus Überlegungen skizziert der nigerianische Soziolinguist Goke-Pariola (1993) die spezifische Entwicklung postkolonialer Sprachmärkte in Afrika: Indem die europäischen Kolonisatoren in ein multilinguales Territorium eindrangen und die Nationalsprache des »Mutterlandes« als koloniale Amtssprache etablierten, griffen sie in eine meist komplexe Ökonomie des multilingualen sprachlichen Tauschs ein – mit weitreichenden Folgen. In diesem Kontext entstand eine neue intellektuelle Elite, die sich durch »kolonialen Bilingualismus« (Memmi 1965) auszeichnet, d.h. durch ein sprachliches Repertoire, das neben einer (oder mehreren) afrikanischen Sprache(n) die Kenntnis der Kolonialsprache umfasst. Aus der Perspektive der postkolonialen Kritik enthält die Aneignung der ehemaligen Kolonialsprachen durch die Kolonialisierten aber auch ein subversives Potenzial: Sie lässt sich als eine »Enteignung« der früheren Kolonialmächte deuten, in dem Sinne, dass einige afrikanische Intellektuelle Englisch und Französisch heute als »afrikanische Sprachen« sehen, deren Verwendung und Weiterentwicklung sich der europäischen Kontrolle tendenziell entziehe (vgl. z.B. Ngugi 1995). Und diese Argumentationsfigur steckt ja im Kern auch in Mireilles Kritik an der Haltung ihres Deutschlehrers. Für Jugendliche, die nach Europa migrieren, ist die Kenntnis dieser postkolonial-transnationalen Sprachen – so könnte man meinen – eine wichtige Ressource. Schließlich sind Englisch und Französisch in Deutschland die beiden wichtigsten schulischen Fremdsprachen. Die
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mitgebrachten Sprachkenntnisse könnten ihnen also einen Vorsprung gegenüber gleichaltrigen monolingual deutschsprachigen Schülerinnen und Schülern sichern und somit einige Nachteile durch den »Quereinstieg« ins deutsche Bildungssystem kompensieren.
3. F orschungsbefunde – der M echanismus institutioneller A bwertung spr achlicher R essourcen von J ugendlichen aus A frik a Die Bildungsbeteiligung der Flüchtlingsjugendlichen in unserem Sample ist – auch im Vergleich zu durchschnittlichen Bildungserfolgen aller »aus dem Ausland zugewanderter« Jugendlicher (vgl. Söhn 2011: 28) – desolat. Die asylpolitischen Rahmenbedingungen und flüchtlingsspezifischen Zugangsbarrieren zu Bildungseinrichtungen in Deutschland haben wir an anderer Stelle ausführlich analysiert (Neumann et al. 2003). Darüber hinaus zeigen unsere Projektergebnisse aber auch, dass die sprachlichen Ressourcen der jungen Flüchtlinge innerhalb des Bildungssystems wenig genutzt und kaum entfaltet werden, und in aller Regel findet noch nicht einmal eine symbolische Anerkennung statt. Es kristallisiert sich folgender, von den Bildungsinstitutionen zu verantwortender struktureller Diskriminierungsmechanismus heraus: So werden die Flüchtlingsjugendlichen (aus Afrika) systematisch aus denjenigen Bereichen des Bildungssystems ausgeschlossen, in denen sie ihr sprachliches Kapital gewinnbringend einsetzen könnten; das ist insbesondere das Gymnasium mit seinen relativ anspruchsvollen Sprachlernangeboten. Die überwiegende Mehrheit der von uns befragten Jugendlichen waren einer BVJ-M-Klasse zugewiesen worden, d.h. einer Schulform, die dem berufsvorbereitenden Bereich angegliedert ist. Von den acht Jugendlichen, die den Übergang ins allgemeinbildende Schulsystem geschafft hatten, besuchten vier eine Haupt-/Realschule und vier eine Gesamtschule.7 Sowohl im Hauptschul- als auch im BVJ-Bereich wird allenfalls Englisch als Regelfremdsprache unterrichtet und auch dies nur auf einem äußerst niedrigen Niveau. Französisch wird nur am Gymnasium als zweite oder 7 | Nach einer Schulreform im Stadtstaat Hamburg sind nun alle Schulformen neben dem Gymnasium, d.h. Haupt/Realschulen und Gesamtschulen, in einer neuen Schulform namens »Stadtteilschule« zusammengefasst.
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dritte Pflichtfremdsprache angeboten; in Real- und Gesamtschulen kann diese Sprache lediglich im Wahlpflichtbereich ab der siebten bzw. achten Klasse gelernt werden; das heißt: zwei Stunden Unterricht pro Woche konzipiert für Anfänger_innen ohne jegliche Vorkenntnisse. Die Zuweisung von jungen Flüchtlingen in die unteren Bildungsgänge des deutschen Schulsystems ließe sich aus rassismuskritischer Perspektive genauer untersuchen. Offiziell begründet wird diese Schullauf bahnentscheidung vor allem mit ihren mangelnden deutschen Schriftsprachkenntnissen. Gerade in diesen unteren Bildungsgängen des deutschen Bildungssystems aber ist wiederum (wie gezeigt) der Nutzen der mitgebrachten Englisch- und Französischkenntnisse besonders gering bzw. meist gar nicht gegeben. Während also für monolingual deutschsprachige Kinder der Erwerb insbesondere von Englisch-, aber auch von Französischkenntnissen hoch im Kurs steht, werden die mitgebrachten Sprachkenntnisse der afrikanischen Jugendlichen ignoriert und missachtet. Für sie wird Deutschlernen zum zentralen Bildungsziel erklärt: »More German, more German, more German!« Abschließend möchte ich zwei Thesen zur Diskussion stellen, die diese Befunde aus postkolonialer Theoriesicht kommentieren und deuten: These 1: Meine Analyse konzentrierte sich auf Englisch und Französisch, zwei Sprachen, für die in Deutschland sowohl qualifizierte Lehrkräfte als auch Unterrichtsmaterialien auf unterschiedlichstem Niveau zur Verfügung stehen. Im Unterschied zu den afrikanischen Sprachen, die die Jugendlichen sprechen, geht es offenkundig nicht um statusschwache Sprachen, deren Marktrelevanz infrage steht. Das Dis-Empowerment der Jugendlichen erfolgt vielmehr über die Weigerung der Mehrheitsgesellschaft und ihrer Bildungsinstitutionen, die statushohen Sprachressourcen der postkolonialen »Anderen« als deren legitimen Besitz anzuerkennen. These 2: Die Linguistin Ousseina D. Alidou aus Niger, die an der State University of New Jersey (USA) lehrt, kommentiert diesen Befund mit Blick auf koloniale Traditionslinien: Ihr zufolge ließe sich die Bildungs situation der afrikanischen Flüchtlinge in Deutschland im Sinne einer Kompensation für (nach 1919) verlorene Hegemonialansprüche als »postcolonial linguistic germanization« interpretieren: Das heißt, den afrikanischen Jugendlichen werden die Sprachen Englisch und Französisch der
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»kolonialen Rivalen« geradezu ausgetrieben, um sie durch Deutsch zu ersetzen (vgl. Alidou 2006: 99ff.).
4. Z wei D imensionen zur A nalyse von S tr ategien im U mgang mit spr achlicher V ielfalt Die beiden Analysedimensionen wurden auf der Basis einer umfangreichen Diskursanalyse in Südafrika während der Umbruchzeit nach dem Ende des Apartheid-Regimes entwickelt. In dieser Phase diskutierten südafrikanische Expert_innen sprachbildungspolitische Konzepte für die Post-Apartheid-Schulen vor allem mit der Zielsetzung eines »empowerment« der historisch besonders benachteiligten Sprecher_innen afrikanischer Sprachen. Diese Konzepte und ihre diskursiven Begründungen lassen sich zum einen unter der Perspektive analysieren, welche Effekte sie für den sprachlichen Markt haben (könnten), zum anderen unter der Perspektive, welches implizite Verständnis von Mehrsprachigkeit ihnen unterliegt. Diese beiden Perspektiven sind miteinander verschränkt (vgl. Niedrig 2002).
4.1 Ansatzpunkte der Strategien auf dem sprachlichen Markt Im Projektantrag der Gruppe MAIZ »Deutsch als Zweitsprache (DaZ) in der Migrationsgesellschaft: reflexive und gesellschaftskritische Zugänge« (Stand: Oktober 2012) heißt es, eine Zielsetzung sei die »Annäherung an ›Deutsch als Zweitsprache‹ (…) unter Berücksichtigung der Spannung zwischen der Notwendigkeit der Vermittlung/Aneignung des als legitim geltenden Wissens und der Forderung nach Aufwertung und Anerkennung des marginalisiert en Wissens der Lernenden«.
Was hier als ein Verhältnis der »Spannung« thematisiert wird, bezeichne ich, ausgehend von Bourdieus Analysen des sprachlichen Marktes, als »Kenntnis-Anerkenntnis-Dilemma«. Bourdieu zufolge ist die legitime Sprachkompetenz ein sprachliches Kapital, das bei jedem sozialen Austausch einen sozialen Distinktionsprofit abwirft. Die relative Höhe dieses Profits hänge insbesondere von der Seltenheit legitimer sprachlicher Produkte ab. Das heißt, je weniger Mitglieder einer Sprachgemeinschaft
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Zugang zu legitimen sprachlichen Ressourcen haben, desto größer der potenzielle Profit in Form von guten Noten in der Schule, Chancen bei der Bewerbung auf hochdotierte Arbeitsplätze, Autorität beim Sprechen in der (politischen) Öffentlichkeit u.v.m. Voraussetzung hierfür ist eine möglichst universale »Anerkenntnis« der besonderen Legitimität dieses Sprechens; und die (Re)-Produktion dieser allgemeinen Anerkenntnis ist Bestandteil des »heimlichen Curriculums« des allgemeinbildenden Schulwesens. Theoretisch lassen sich zwei Ansatzpunkte für eine Reduktion der Kluft zwischen allgemeiner Anerkenntnis der dominanten Sprache und der Verbreitung ihrer Kenntnis identifizieren: Entsprechend wäre zu unterscheiden zwischen bildungspolitischen Strategien, die ausschließlich oder vorwiegend die Verbreitung der legitimen Sprache zum Ziel haben, und bildungspolitischen Strategien, die auf eine »Legitimierung« anderer sprachlicher Ressourcen als der jeweils dominanten abzielen. Kurse für Deutsch als Zweitsprache lassen sich m.E. zunächst einmal am ersten Pol einordnen: Das Problem dieser Strategie, die am Kenntnisstand ansetzt, besteht darin, dass durch diesen Fokus das AnerkenntnisMonopol der ohnehin dominanten Sprache nur schwer infrage zu stellen ist, selbst wenn curricular eine kritische Hinterfragung beabsichtigt sein mag. Eine der von mir interviewten Expertinnen in Südafrika bringt das Dilemma mit folgendem Satz auf den Punkt: »It is not possible to promote equal status of all languages while you are saying that one is more important and validating that one.« (Kathleen Heugh, Universität Kapstadt, Mai 1996, zitiert nach Niedrig 2000: 150) Allein schon dadurch, dass die hegemoniale Sprache zentraler Lerngegenstand des Unterrichts ist, wird ihre herausragende Bedeutung unterstrichen. Das Problem der zweiten Strategie, die Umwertung sprachlicher Ressourcen, besteht darin, dass die Legitimität sprachlicher oder kultureller Produkte nicht verordnet werden kann. Vertreter_innen einer Bildungspolitik der Mehrsprachigkeit, die insbesondere afrikanische Sprachen aufwerten wollen, wurde daher in Südafrika oft der Vorwurf zuteil, dass sie auf diese Weise den Sprecher_innen statusschwacher Sprachen den Zugang zu legitimen sprachlichen Ressourcen und somit zu sozialem Aufstieg erschwerten. Der Ausweg aus diesem Dilemma wäre eine Doppelstrategie: Den Zugang zur legitimen Sprachkompetenz eröffnen und zugleich andere sprachliche Ressourcen aufwerten. Aber wie kann das funktionieren?
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Nach Überzeugung der südafrikanischen Expert_innen ist eine Voraussetzung, dass die beteiligten Sprachen im Unterricht tatsächlich gleichberechtigt sind, und das heißt: Es müsste ein bi- oder multilinguales Programm sein – mit entsprechenden Bildungszertifikaten. Darüber hinaus ist eine Verzahnung der Bildungspolitik mit anderen gesellschaftlichen Bereichen für den Erfolg dieser Strategie unverzichtbar, vor allem der Arbeitsmarkt spielt eine zentrale Rolle, wenn nicht-dominante Sprachen aufgewertet werden sollen.
4.2 Perspektiven auf Mehrsprachigkeit In der zweiten Analysedimension geht es um Sichtweisen auf Mehrsprachigkeit. Aus analytischen Gründen unterscheide ich zwischen drei »Typen«, die in der Praxis in unterschiedlichen Mischformen auftreten können.
i. Mehrsprachigkeit als Durchgangsstadium mit dem Ziel der Einsprachigkeit: Reduktion von Komplexität Die erste Position fasst die real existierende Mehrsprachigkeit primär als Kommunikationshindernis auf und nimmt diejenigen Personen, deren Erstsprache nicht die statushohe Sprache ist, als sprachlich defizitär wahr. Die Sprecher_innen statusschwacher Sprachen sind konsequenterweise die Hauptadressat_innen von entsprechenden Sprachlehrprogrammen. Eigentliches Ziel ist die Perfektionierung der legitimen Sprache. Das heißt, die Rolle der Sprachen der Lerner_innen im Unterricht besteht lediglich in einer unterstützenden Funktion beim Erlernen der Zielsprache Deutsch. Diese Form des Einbezugs des mehrsprachigen Repertoires einer Gruppe als »Brücke« im Erwerb der hegemonialen Sprache kann für die DaZ-Lerner_innen ohne Zweifel sehr hilfreich sein. Alle Beteiligten sollten sich aber bewusst sein, dass es sich hierbei nicht automatisch um eine Aufwertung der marginalisierten Sprachkompetenzen handelt, solange am Ende des Lernprozesses lediglich die Kompetenzen in der »Zielsprache« Deutsch geprüft und zertifiziert werden.
ii. Mehrsprachigkeit als Qualifikation und als Ziel von Bildung: ein Bildungsprodukt Im Kontrast zur transitorischen Perspektive gilt Mehrsprachigkeit in der zweiten Konzeption als Bildungsziel und als Qualifikation. Dies ist die übliche Sprachbildungskonzeption für Kinder der sprachlichen Mehr-
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heit, die durch schulischen Fremdsprachenunterricht oder in bilingualen Schulprogrammen zusätzliche Sprachenkenntnisse erwerben, zugleich aber selbstverständlich auch ihre (statushohe) Erstsprache differenziert weiterentwickeln sollen. Was heißt das aber, wenn es um marginalisierte Sprachen geht? Im Rahmen von DaZ-Lehrgängen in der Erwachsenenbildung wäre zum Beispiel denkbar, die Fähigkeit, zwischen Sprachen zu übertragen, als Teil der curricular angestrebten Qualifikation zu zertifizieren. Diese Sicht auf Mehrsprachigkeit korrespondiert mit der Doppelstrategie, die Zugang zur »legitimen Sprachkompetenz« mit der Aufwertung von marginalisierten Sprachen verknüpfen will. Wie bereits erwähnt, hängt der Erfolg dieser Strategie insbesondere von einer effektiven Verzahnung mit außerschulischen Domänen ab. In dem Maße, in dem mehrsprachige Kompetenzen in Kontexten wie z.B. der öffentlichen Verwaltung, den Medien, dem Gesundheitssektor erwartet und honoriert werden, dient der Einbezug von Mehrsprachigkeit in Sprachkursen einer tatsächlichen Qualifizierung.
iii. Mehrsprachigkeit als Ausgangspunkt von Bildung: Bildung als sprachlicher Prozess In der dritten Konzeption schließlich interessiert Mehrsprachigkeit, verstanden als sprachliche Varianz im weitesten Sinne, als unhintergehbare Bildungsvoraussetzung. Bei diesem Ansatz steht nicht der Erwerb (multilingualer) sprachpraktischer Fertigkeiten im Vordergrund. Mehrsprachigkeit soll nicht erst schulisch erzeugt werden, sondern gilt als immer schon gegeben. Die freie Verfügung über alle sprachlichen Ressourcen im individuellen Sprachenrepertoire wird als selbstverständliches Recht einer und eines jeden in Lernprozessen aufgefasst. Die Minimalforderung für jeglichen schulischen Kommunikationskontext, sei er formal oder informell, wäre aus dieser Sicht: Es gibt keine »Sprach-/Sprechverbote«. Curricular geht es in dieser Konzeption vor allem um einen reflexivkritischen Umgang mit Sprache und mit den an Sprache geknüpften sozialen Bewertungen, Konflikten und Machtkämpfen. Wichtig erscheint mir in diesem Zusammenhang unter anderem, den postkolonialen sprachlichen Habitus marginalisierter Sprecher_innen zu berücksichtigen: Wie das Zitat von Patrik exemplarisch zeigt, wird der Einbezug von afrikanischen Sprachen in den Unterricht höchstwahrscheinlich auch bei ihren Sprecher_innen nicht auf ungeteilte Zustimmung stoßen. Vor-
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schläge zum reflexiven Umgang mit solchen internalisierten Sprachenhierarchien finden sich u.a. in südafrikanischen Publikationen (ELTIC 1997; vgl. auch die Beiträge zu afrikanischen Sprachen und »Language awareness«-Unterricht in Kleifgen/Bond 2009).
4.3 Abschließende Fragestellung Wenn Mehrsprachigkeit im Kontext des DaZ-Unterrichts zur Geltung kommen soll, so stellt sich also die Frage: mit welcher Funktion? Als »Sprungbrett« (oder »Brücke«) beim Erlernen der dominanten Sprache? Mit dem Ziel der symbolischen Anerkennung? Als pädagogisch-methodische Bereicherung? Zur Anregung eines reflexiven Umgangs mit den eigenen Bewertungsmaßstäben von sprachlicher Varianz? Die dritte Perspektive auf Mehrsprachigkeit ist mit der im MAIZProjektantrag anvisierten hegemoniekritischen Stoßrichtung sicher in besonderem Maße kompatibel. Ich denke allerdings, dass auch andere Funktionen eine Berechtigung in der Gestaltung des DaZ-Unterrichts haben (können) und dass sie miteinander kombinierbar sind, solange sich die Lehrenden, gemeinsam mit den DaZ-Lerner_innen, immer wieder die Frage stellen: Inwiefern trägt diese Form des Einbezugs von Mehrsprachigkeit zu einer sprachlichen Ermächtigung bei?
L iter atur Alidou, Ousseina D. (2006): Transnationalism and Educational Institutions in the African Youth Refugee Biographies in Hamburg, Germany: An Outsider’s Reading. In: Gerhardt et al. (Hg.): Umbrüche in afrikanischen Gesellschaften und ihre Bewältigung, S. 91-107. Bourdieu, Pierre (1990): Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tauschs (frz. 1980). Braumüller: Wien. ELTIC (1997): Multilingual Learning. Working in multilingual classrooms. A Diteme Tsa Thuto project developed for teachers by ELTIC. Maskew Miller Longman: Cape Town. Gerhardt, Ludwig/Möhle, Heiko/Oßenbrügge, Jürgen/Weiße, Wolfram (Hg.) (2006): Umbrüche in afrikanischen Gesellschaften und ihre Bewältigung (= Beiträge aus dem Sonderforschungsbereich 520 der Universität Hamburg). Berlin: LIT.
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Linguizismus: Naturalisierte Ausschlüsse aus Bildungsordnungen
»Nein, das kann nur die Muttersprache sein.« Spracherwerbsmythen und Linguizismus Birgit Springsits Mythen und Legenden, die sich um den Erwerb von Sprache(n) ranken, gibt es viele; besonders zahlreich scheinen sie zu sein, wenn es dabei um den Erwerb von mehr als einer Sprache – insbesondere im Kindesalter – geht. Früher Fremdsprachenunterricht wird dabei meist als positiv dargestellt oder zumindest nicht als »Gefahr« für die sprachliche Entwicklung der Kinder gesehen; Mehrsprachigkeit von Kindern im Kontext von Migration wird jedoch häufig als zumindest potenziell problematisch betrachtet, nicht zuletzt aufgrund zahlreicher Untersuchungen, die mehrsprachigen Schülern und Schülerinnen schlechtere schulisch relevante Kompetenzen bescheinigen als ihren als einsprachig betrachteten MitschülerInnen (vgl. Stanat/Rauch/Segeritz 2010; Schwantner/Schreiner 2010), oder die zeigen, dass Jugendliche, die als »mit Migrationshintergrund« gelten, schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben als solche »ohne Migrationshintergrund« (vgl. z.B. Unterwurzacher 2007). Im Zusammenhang mit diesen festgestellten Differenzen wird von verschiedensten AkteurInnen auf mehr oder weniger empirisch gestützte Hypothesen zum Erwerb mehrerer Sprachen Bezug genommen, teils um die Ungleichheiten zu erklären und die Verantwortung dafür bestimmten Personen(-Gruppen) zuordnen zu können, teils um Wege zu finden, als ungerecht wahrgenommene Differenzen zu vermindern. Zu beobachten ist dabei, dass zunächst in der Wissenschaft als zu prüfende Hypothesen aufgestellte Aussagen sich zu verselbstständigen scheinen und in den Köpfen der – an Bildungsfragen interessierten – Öf-
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fentlichkeit sowie bei im Bildungswesen beschäftigten Personen als »bewiesene Tatsachen« wieder auftauchen. Als Beispiele für solche zu Sprachlern-Mythen verfestigte Hypothesen können die von Kersten et al. (2011: 96) gesammelten Aussagen dienen, die sie durch Erkenntnisse aus neueren wissenschaftlichen Untersuchungen zu widerlegen versuchen, etwa die folgenden: »Auch nicht-deutsche Eltern sollen mit ihren Kindern mehr Deutsch sprechen«, »Zunächst muss ein Kind seine Muttersprache beherrschen, bevor es eine andere Sprache lernen kann« oder »Mehrsprachige Kinder lernen keine Sprache richtig«. Ähnliche Aussagen werden auch im Zusammenhang mit Schule immer wieder getätigt – etwa in Fortbildungsveranstaltungen für LehrerInnen des Primar- oder Sekundarschulbereichs, in informellen Gesprächen mit PädagogInnen oder auch in Interviews im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung von Projekten im Zusammenhang von Sprach(en)- bzw. Mehrsprachigkeitsförderung. Im Folgenden soll nicht versucht werden, den Wahrheitsgehalt solcher Mythen oder Legenden empirisch zu prüfen oder das gesamte Diskursfeld um Spracherwerb und Sprachigkeit (vgl. Dorostkar 2014: 52f.) von SchülerInnen darzustellen. Vielmehr soll anhand einer weit verbreiteten Vorstellung – nämlich jener, dass es für den Spracherwerb (in diesem Fall Deutscherwerb) lebensweltlich mehrsprachiger Kinder von essenzieller Bedeutung sei, zunächst »ihre« »Muttersprache« zu erwerben, um zu verhindern, dass sie »keine Sprache« beherrschen oder »halbsprachig« werden – nachgezeichnet werden, welche Funktion einer solchen Legendenbildung und -tradierung im Kontext Sprache(n)-Macht-Schule zukommen kann. Als Analyseperspektive soll die Linguizismuskritik dienen, die zunächst vorgestellt werden soll.
1. L inguizismus und L inguizismuskritik 1.1 Linguizismus als spezifische Form des Rassismus In ihrem Artikel »Wenn man mit Akzent spricht, denken die Leute, dass man auch mit Akzent denkt oder so« definiert Dirim (2010: 91f.) Linguizismus folgendermaßen:
»Nein, das kann nur die Muttersprache sein.«
»[Z]u verstehen ist darunter eine spezielle Form des Rassismus, die in Vorurteilen und Sanktionen gegenüber Menschen, die eine bestimmte Sprache bzw. eine Sprache in einer durch ihre Herkunft beeinflussten spezifischen Art und Weise verwenden, zum Ausdruck kommt. Linguizismus erscheint als ein Instrument der Machtausübung gegenüber sozial schwächer gestellten Gruppen mit der Funktion der Wahrung bzw. Herstellung einer sozialen Rangordnung. Die Sprache einer Elite wird dabei zur Norm erhoben; die sprachlichen Merkmale der darunter platzierten gesellschaftlichen Gruppen abgewertet.«
Linguizismus ist also als Form des Rassismus zu betrachten, wobei Rassismus als Praxis beschrieben werden kann, bei der Unterschiede zwischen Menschen konstruiert und relevant gesetzt werden, um unterschiedlichen Zugang der dadurch entstehenden Gruppen zu materiellen oder symbolischen Ressourcen zu begründen, zu legitimieren und damit fortzuschreiben (vgl. Mecheril/Melter 2010). Rommelspacher (2011: 26) bezeichnet Rassismus daher als »Legitimierungslegende«. In einer sich als demokratisch verstehenden Gesellschaft werden diese Legenden benötigt, um Diskriminierungen, sobald sie aufgedeckt und öffentlich gemacht werden, fortbestehen zu lassen. Diskriminierung wird durch rassistische Legitimierung in vielen Fällen erst möglich gemacht und hergestellt, oder ihre Fortsetzung wird ermöglicht. Wichtig ist auch zu erwähnen, dass Rassismus nicht einfach nur in Vorurteilen bestimmten Menschen oder als einheitlich vorgestellten Menschengruppen gegenüber besteht. Von Rassismus kann erst dann in einem Vollsinn gesprochen werden, wenn rassistische Gruppenkonstruktionen so mit Macht verbunden sind, dass diese Unterscheidungsweisen auch wirksam werden, z.B. dadurch, dass der Gruppe, die von der normgebenden als unterschieden konstruiert wird, weniger materielle oder symbolische Ressourcen zugebilligt werden (vgl. Mecheril/Melter 2010: 156). Im Rassismus der Moderne wurde »Rasse« als Unterscheidungsmerkmal zwischen Menschen konstruiert, um die Überlegenheit bestimmter Gruppen gegenüber anderen zu rechtfertigen. Dies ist besonders in kolonialen Zusammenhängen bedeutsam, wo bei gleichzeitiger Betonung einer allgemeinen Würde aller Menschen und der Erklärung der Menschenrechte die unterschiedliche Zuteilung von Ressourcen und Rechten an Angehörige der Kolonialmächte und an Angehörige der Kolonien erklärt werden musste (vgl. Rommelspacher 2011: 25f.).
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In dieser prototypischen Form des Rassismus erfolgt Rassekonstruktion v.a. über biologische Merkmale, von denen das am häufigsten zur Unterscheidung genutzte das der »Hautfarbe« ist. Eine Ungleichbehandlung aufgrund von Hautfarbe ist heute im öffentlichen Diskurs nicht mehr so leicht vertretbar, jedoch spielt auch eine solche Unterscheidungspraxis bis heute eine Rolle, z.B. wenn im Rahmen eines »racial« oder »ethnic profiling« vermehrt Personen mit dunkler Hautfarbe oder anderen körperlichen Merkmalen, die sie als Angehörige einer bestimmten ethnischen oder religiösen Gruppe erscheinen lassen, von der Polizei kontrolliert, durchsucht oder festgehalten werden (vgl. Melter im Ersch.). Häufiger sind heute jedoch andere Formen rassistischer Legitimationsfiguren, die nicht auf biologische Unterschiede, sondern auf die Zugehörigkeit von Menschen zu bestimmten »Kulturen« Bezug nehmen. Balibar (1998: 28) nennt diesen »Neo-Rassismus« einen »Rassismus ohne Rassen«. In vielen Fällen dieses »Kulturrassismus« wird keine grundsätzliche Überordnung einer Kultur über eine andere behauptet, jedoch herrscht die Vorstellung einer grundsätzlichen Unvereinbarkeit der einzelnen »Kulturen«, die jeweils einer bestimmten Nation und Region oder einer Ethnie zugehörig gedacht werden. Die Schlechterstellung von Personen oder Personengruppen, die nun nicht mehr über das Unterscheidungsmerkmal »Rasse«, sondern »Kultur« gebildet werden, kann dann damit erklärt werden, dass sie mit der ihnen zugeschriebenen Kultur »hier« nicht am richtigen Ort sind und somit nicht erfolgreich sein können (vgl. Mecheril/Melter 2010: 156). Die Forderung der Anpassung an die Kultur des Aufenthaltsortes wird mit dem Versprechen verbunden, man müsse ihr nur nachkommen, um Zugang zu den gleichen Ressourcen wie Mehrheitsangehörige zu erhalten, wobei das Erreichen dieses Ziels meist gleichzeitig als unerfüllbar gedacht wird. Linguizistische Argumentationen folgen häufig einem ähnlichen Muster, jedoch wird mit dem Merkmal »Sprache« in unterschiedlichen Ausprägungen hantiert. Um unterschiedlichen Zugang zu Ressourcen, Chancen oder Rechten zu legitimieren oder um eine Ungleichbehandlung zu erlauben, werden Personen nach ihrer realen oder zugeschriebenen »Sprachigkeit« in als (weitgehend) homogen gedachte Gruppen eingeteilt, die untereinander hierarchisiert werden. Diesen Gruppen werden dann bestimmte (u.a. sprachbezogene) Eigenschaften zugeordnet, die sie für bestimmte Kontexte als tauglicher oder weniger geeignet qualifizie-
»Nein, das kann nur die Muttersprache sein.«
ren. Ein Scheitern in oder ein Ausschluss aus diesen Kontexten scheint dann völlig natürlich. Wenn z.B. einer älteren, pflegebedürftigen Frau, die Türkisch und nur wenig Deutsch spricht, von einer Hausverwaltung unmissverständlich klar gemacht wird, dass an sie keine Wohnung vermietet wird, da sie den Mietvertrag nicht selbstständig lesen könne (vgl. ADNB des TBB 2008: 14), ist eine linguizistische Argumentation unschwer zu erkennen. Die Praxis, das Wohnhaus von als »türkisch« identifizierten Personen frei zu halten und möglicherweise nur an als »einheimisch« geltende Personen zu vermieten, wird über die Zugehörigkeit zu einer sprachlich definierten Gruppe legitimiert. Obwohl im zitierten Fall mehrere DolmetscherInnen zur Verfügung stünden (der Sohn, MitarbeiterInnen des Pflegedienstes), wird die Frau ausgeschlossen, weil sie nicht genügend Deutsch versteht. Diese an den Haaren herbeigezogene Begründung wird als empirisch nachweisbarer Hinderungsgrund für die Anmietung der Wohnung präsentiert, der die Frau als zur Anmietung nicht geeignet qualifiziert. Wie Berichte verschiedener Organisationen, die sich gegen Rassismus und Diskriminierung stark machen, zeigen, stellt das vorgestellte Beispiel in Österreich und Deutschland keinen Einzelfall dar (vgl. z.B. ADNB des TBB 2008; ZARA 2014.). In linguizistischen Argumentationen wird die Schuld an der Schlech terstellung dem Individuum, dessen Eigenschaften als nicht passend konstruiert werden, zugeschoben. Der Kontext und die rassistischen Handlungen dieser Person gegenüber müssen so nicht verändert werden. Ob die der Person zugeschriebenen Eigenschaften tatsächlich vorhanden sind, ist dabei zweitrangig. Daher möchte ich vorschlagen, den Begriff »Linguizismus« nicht nur für »Vorurteile[…] und Sanktionen gegenüber Menschen, die eine bestimmte Sprache bzw. eine Sprache in einer durch ihre Herkunft beeinflussten spezifischen Art und Weise verwenden« zu verwenden, sondern auch für rassistische Praktiken gegenüber Personen, denen eine bestimmte Sprachverwendung zugeschrieben wird oder die einer bestimmten Sprachgruppe zugeordnet werden, selbst wenn die Kompetenzen in den Sprachen völlig falsch eingeschätzt werden. Dies geschieht z.B., wenn »Migrationshintergrund« einfach mit bestimmten (fehlenden) Sprachkompetenzen gleichgesetzt wird oder von den »eigenen« Sprachen von Kindern »mit Migra-
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tionshintergrund« gesprochen wird und damit nur andere Sprachen als die Mehrheitssprache gemeint sind. Damit wird auch deutlich, dass in vielen Fällen der Bezug auf Sprache nicht nur verwendet wird, um tatsächlich Menschen, die eine bestimmte Sprache sprechen, auszuschließen oder schlechter zu stellen, sondern um Ausschlüsse von Gruppen, die durch andere Merkmale gekennzeichnet sind (eigene oder familiale Migrationsgeschichte, Hautfarbe, Religionszugehörigkeit etc.), zu legitimieren. Die Argumentation läuft über das Stichwort »Sprache«, gemeint sein kann aber auch »Kultur«, »Religion« oder »Rasse«. Der Bezug zu Sprache kann jedoch auch ein weiterer sein: Rassistische Praxen können auch über Sprache(n) durchgesetzt werden, z.B. indem Sprachgebote oder -verbote für bestimmte in rassistischer Weise unterschiedene Gruppen ausgesprochen und durchgesetzt werden, indem bestimmten Menschen die Möglichkeit genommen wird, sich zu äußern, da dies nur in bestimmter Sprache bzw. auf bestimmtem sprachlichem »Niveau« möglich ist, oder indem der Zugang zu Informationen nur in bestimmter sprachlicher – unterschiedlichen Gruppen in unterschiedlicher Weise zugänglicher – Form angeboten wird etc. Das Unterscheidungsmerkmal »Sprache« bezieht sich nun nicht immer auf unterschiedliche nationale Standardsprachen (inkl. standardsprachlicher Varietäten plurizentrischer Sprachen – z.B. australisches Englisch, österreichisches Deutsch etc.). Wenn Dirim (2010: 91) davon spricht, dass Linguizismus u.a. gegenüber Menschen ausgeübt wird, die »eine Sprache in einer durch ihre Herkunft beeinflussten spezifischen Art und Weise verwenden«, geht es dabei auch um von Standardsprachen abweichende Formen der Sprachverwendung. Darunter fallen z.B. Dialekte, Regiolekte, Ethnolekte, Sprachmischungen, schichtspezifische Sprachverwendung, Gruppensprachen (z.B. Jugendsprachen) etc. Die sprachlichen Normen werden dabei zentral über Bildungsinstitutionen mitbestimmt, ihre Wirkung bleibt aber nicht auf diese beschränkt. Die Norm, über die das die eigene privilegierte Stellung legitimierende Wir gebildet wird, wird konstituiert durch die die Bildungsinstitutionen dominierende Gruppe und ihre Sprachverwendung. Im Kontext Österreichs und Deutschlands sind zentrale Merkmale, über die diese normgebende Gruppe bestimmt werden kann (gleichwohl nicht alle Mitglieder der Gruppe sich durch alle diese Merkmale auszeichnen müssen) u.a.
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Mittelschichtangehörigkeit, Selbstverständnis als Deutsch-Erstsprachler Innen, hohe Bildungsabschlüsse, als Weiß wahrgenommen zu werden, die Möglichkeit sich öffentlich zu artikulieren etc. Dabei gilt ein gewisses »Reinheitsgebot«, Einflüsse von außen werden mit Skepsis betrachtet und als unterschiedlich »gefährlich« eingestuft, je nach dem Prestige oder Marktwert der Einfluss nehmenden Sprache oder Varietät innerhalb des gesellschaftlichen Kontexts. Als Beispiel für eine linguizistische Argumentationsfigur können in diesem Zusammenhang z.B. die von Knappik (2013) beschriebenen Aussagen von Lehrenden an Pädagogischen Hochschulen in Österreich stehen, in denen davon ausgegangen wird, dass Fehler, die migrationsbedingt mehrsprachige Studierende beim Verfassen studienrelevanter Texte machen (z.B. Fallfehler), sie ungeeignet für den Beruf als LehrerIn machen. Bei StudentInnen, die ähnliche Fehler machen, von denen aber angenommen wird, dass sie »keinen Migrationshintergrund« haben und dass die Fehler dialektbedingt sind, werden diese sprachlichen Abweichungen vom Standard als vorübergehendes und vernachlässigbares Problem gewertet (vgl. ebd.: 359-364). Es ist anzunehmen, dass solche Bewertungsdifferenzen sich auch in der Beurteilung von Studienleistungen und Rückmeldungen an Studierende niederschlagen. Deutlich erkennbar ist auf jeden Fall die starke Unterrepräsentation von migrationsbedingt mehrsprachigen Studierenden an Pädagogischen Hochschulen in Österreich und an Lehrkräften in allen Schulformen. Offizielle Statistiken liegen dazu jedoch nicht vor. Da bei der Erklärung dieser Ungleichheit zwischen Personengruppen auf die Zugehörigkeit zu einer sprachlichen Gruppe und (vermeintliche) (fehlende) Sprachkompetenzen (im Standarddeutschen) verwiesen wird, wobei die einzelnen Sprachgruppen (Deutsch-StandardsprecherInnen1, Deutsch-DialektsprecherInnen, DeutschsprecherInnen mit Migrationshintergrund) als einheitliche Gruppen imaginiert, untereinander hierarchisiert und unterschiedlich behandelt werden, kann eindeutig von Linguizismus gesprochen werden. Selbstverständlich ist dabei davon 1 | Hier ist natürlich darauf hinzuweisen, dass auch der Begriff der »Stan dard«sprache ein Konstrukt darstellt, der in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich gebraucht wird (Vorstellung eines »richtigen« Deutsch, das ortsübergreifend gilt, nationale Standards, die in Wörterbüchern kodifiziert sind etc.).
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auszugehen, dass die befragten PH-DozentInnen nicht linguizistisch handeln bzw. argumentieren möchten und sich nicht völlig frei für eine solche Praxis entschieden haben. Jedoch wird deutlich, wie sehr sie in linguizistische Diskurse verstrickt sind und dass sie durch ihre Argumentationsweise diese Diskurse perpetuieren.
1.2 Linguizismuskritik als Analyseperspektive Um linguizistische Praxen, Strukturen und Diskurse aufdecken und schwächen zu können, soll nun der Vorschlag gemacht werden, eine linguizismuskritische Perspektive einzunehmen. Der Begriff »Linguizismuskritik« lehnt sich dabei an den der »Rassismuskritik« an, der in Abgrenzung zu antirassistischen Ansätzen entstand (vgl. Mecheril/Melter 2010: 170-177). Antirassistische Theorien und Initiativen werden dabei u.a. dafür kritisiert, dass sie in ihrem Bemühen, Diskriminierungen bestimmter »Rassen« zu verhindern, die Konstruktion von Rassekonzepten bestätigen und fortschreiben, ein Schwarz-Weiß-Denken begünstigen und ein einheitlich gedachtes »Schwarzes« bzw. »Weißes« Subjekt konstruieren. Schwarzsein wird dabei meist mit der Opferrolle identifiziert. Außerdem werden durch antirassistische Betrachtungsweisen Diskriminierungen häufig einseitig ausschließlich durch rassistische Motive erklärt. Unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten verschiedener Personen innerhalb der anhand von Rassekonstruktionen konstruierten Gruppen aufgrund anderer Heterogenitätsmerkmale (z.B. Geschlecht, sozioökonomischer Status etc.) werden dadurch häufig ausgeblendet (vgl. ebd.). Ebensolche Gefahren bringen nun m.E. auch »anti-linguizistische« Betrachtungs- und Argumentationsweisen mit sich. Mit dem Bemühen, Diskriminierungen, die auf unterschiedliche (angenommene) Sprachkompetenzen in verschiedenen Sprachen zurückgehen, zu vermindern, geht häufig eine Verfestigung von einheitlich gedachten Gruppenkonstruktionen (»die förderbedürftigen türkischsprachigen SchülerInnen«, »die DaZ-Kinder«, »die MuttersprachlerInnen« etc.) und starren Sprachkonzepten (Sprache als überzeitliches, kodifiziertes und normiertes, an bestimmte Nationen gebundenes System) einher. Daher scheint eine linguizismuskritische Perspektive geeigneter zu sein, um Linguizismus aufzudecken und zu schwächen.
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Eine linguizismuskritische Analyse muss daher auf mindestens drei Ebenen »kritisch« vorgehen: Eine erste Ebene der Kritik richtet sich darauf, Handlungsweisen, Strukturen und Argumentationsweisen aufzudecken, in denen Diskriminierung dadurch ermöglicht und legitimiert wird, dass auf sprachbezogene Unterschiede Bezug genommen wird. Dazu bietet sich folgendes, an Rommelspacher (2011) angelehntes Analyseschema an: (1) Es werden Gruppen gebildet, die über Sprachigkeit definiert sind (z.B. Erst- oder Zweit- oder FremdsprachlerInnen, ein- oder mehrsprachige Menschen, Deutsch- oder Albanischsprechende …). (2) Es findet eine Naturalisierung statt. Sprachigkeit wird zum Persönlichkeitsmerkmal, das nicht aufgegeben werden kann und teilweise sogar als vererbbar gedacht wird. (3) Eine Homogenisierung der Sprachgruppen wird konstruiert, indem Personen, die als zur Gruppe zugehörig gedacht werden, einheitliche Eigenschaften zugeschrieben und die Heterogenität innerhalb der Gruppen nicht beachtet wird. (4) Mehrfachzugehörigkeiten oder unscharfe Grenzen der Gruppen sind nicht Teil der Argumentation (man ist Erst- ODER ZweitsprachlerIn, ein- ODER mehrsprachig …). Dadurch findet eine Polarisierung der Gruppen statt. (5) Eine Hierarchisierung dieser nun klar unterscheidbaren Gruppen wird dadurch erzeugt, dass den Gruppen zugeordnete Personen durch diese (zugeschriebene) Zugehörigkeit als mehr oder weniger geeignet für bestimmte Aufgaben angesehen werden, dass die Gruppenzugehörigkeit als generell mehr oder weniger wertvoll angesehen wird oder dass Menschen, die nicht einer bestimmten sprachbezogenen Gruppennorm entsprechen, ausgegrenzt werden oder ihnen Ressourcen vorenthalten werden. (6) Durch eine solche linguizistische Denk- und Argumentationsweise werden Diskriminierungen erzeugt, durch Legitimation weitergeführt bzw. verstärkt. Auf einer zweiten Ebene ist es für eine linguizismuskritische Analyse zentral, sich kritisch gegenüber sprachbezogenen Bezeichnungsund Kategorisierungspraktiken zu verhalten. In die Analyse einbezogen werden soll also z.B., wie Menschen zu Sprachgruppen zugeteilt werden und welche Gruppen anhand welcher Merkmale definiert werden, welche Vorstellungen von Sprache(n) und Sprachnormen dabei zum Tragen
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kommen oder in welchen Kontexten Sprache(n) aus welchen Gründen relevant werden. Drittens muss bei einer linguizismuskritischen Perspektive immer die eigene Position, aus der die Analyse durchgeführt wird, mitbedacht werden, da es keinen Standpunkt außerhalb rassistischer und linguizistischer Strukturen gibt. Dabei kann ein Paradox nicht vermieden werden, nämlich dass das Schreiben über Linguizismus in einer durch Linguizismus geprägten Sprache erfolgt (z.B. um gehört zu werden in einer als legitim geltenden Form von Wissenschaftssprache), dass durch das Aufzeigen von Ungleichstellungen bestimmter Gruppen diese Gruppenkonstruktionen bis zu einem gewissen Grad bestätigt werden oder dass von WissenschaftlerInnen stellvertretend über bestimmte Menschen(-Gruppen) geschrieben wird, ohne sie selbst zu Wort kommen zu lassen (z.B. um die Chance zu erhöhen, ihre Perspektive im Diskurs relevant werden zu lassen), während doch gleichzeitig daran gearbeitet werden soll, linguizistische Praxen und Strukturen aufzudecken, um sie zu schwächen. Im Folgenden soll nun eine Analyse der Hypothese zum Spracherwerb, dass Kinder zunächst »ihre« »Muttersprache« erwerben müssen, um zu verhindern, dass sie »halbsprachig« werden, versucht werden. Es soll geprüft werden, ob diese Hypothese als linguizistisch betrachtet werden kann bzw. welche Funktion ihr (möglicherweise) in linguizistischen Argumentationen zukommen kann.
2. E ine wirkmächtige H ypothese zum S pr acherwerb Der folgende Ausschnitt2 stammt aus einem Interview, das an einer Schule stattfand, in der von der Schulleitung Interesse daran geäußert worden war, die Förderung von Mehrsprachigkeit zu forcieren. Anwesend sind neben der Interviewerin (I) zwei Lehrerinnen (eine Begleitlehrerin [P1] und eine Lehrerin für »Muttersprachlichen Unterricht« [P2]) und die Direktorin (D). Die PädagogInnen arbeiten zum Zeitpunkt des Interviews gemeinsam an einer Grundschule in einer österreichischen Großstadt.
2 | Im Originaltranskript Zeilen 240-265.
»Nein, das kann nur die Muttersprache sein.«
»P1: […] Weil, wenn man sieht, bei einem Kind geht auf Deutsch nichts weiter, dann fragt man mal nach: ›Wie ist denn das eigentlich in der Muttersprache?‹ Das ist oft sehr – ja – erklärend. I: Haben Sie eine Hypothese, wie die Kinder dann zu Hause kommunizieren? P2: Eine Mischung, ich sage immer, Mischmasch reden die zu Hause. Eine Mischung von – ich rede jetzt von der BKS3 -Sprache – BKS und Deutsch. Eltern reden so und Kinder leider auch so. Und das ist ganz schwierig dann, so was wirklich richtig zu kriegen jetzt, entweder Deutsch oder die Muttersprache. Das ist jetzt… Das ist wirklich eine Mischung und das ist schwierig. I: Das heißt, Sie haben den Eindruck, dass es dann schwerer geht für die Kinder, dass sie mehr Schwierigkeiten haben? P2: Natürlich, ja. P1: Stimmt, ja. D: Kinder, die ihre eigene Muttersprache sehr gut können, die sie kennen und können, haben beim Erlernen einer Zweitsprache weniger Schwierigkeiten und weniger Probleme als umgekehrt. P2: Genau. Die müssen eine Basis haben. D: Das ist ganz entscheidend. P1: Sie müssen eine Sprache gut können … D: Ja. P2: Und das ist Basis. P1: Und abgesichert haben, wenn sie in die Schule kommen eigentlich. Ja? D: Ja. P1: Das ist sehr wichtig. P2: Und das kann nur die Muttersprache sein. P1: Mhm. P2: Also, viele Eltern oder viele Menschen denken, das kann auch die zweite Sprache sein. Nein, das kann nur die Muttersprache sein.«
In diesem Interviewausschnitt ist deutlich zu erkennen, dass die angesprochene Hypothese im Schulalltag angekommen und dort häufig als unumstößliche Wahrheit fest verankert ist. Die von der Direktorin getätigte Äußerung: »Kinder, die ihre eigene Muttersprache sehr gut können, die sie kennen und können, haben beim Erlernen einer Zweitsprache weniger Schwierigkeiten und weniger Probleme als umgekehrt.« erscheint als festste-
3 | Bosnisch-Kroatisch-Serbisch.
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hender Satz, der nicht infrage gestellt wird, was von den beiden Lehrerinnen auch mehrfach bestätigend unterstrichen wird. Es wird deutlich, dass der Argumentation die Vorstellung zugrunde liegt, dass Kinder zunächst eine bestimmte Sprache, nämlich »ihre eigene Muttersprache« erwerben müssen, um dann eine Zweitsprache, in diesem Fall das Deutsche, erlernen zu können. In Familien, in denen Familienmitglieder eine Migrationsgeschichte aufzuweisen haben, wird diese »Muttersprache« auf jeden Fall als »Nicht-Deutsch« gedacht. Falls die Erwerbsreihenfolge »Muttersprache«-Deutsch nicht eingehalten wird, wird damit gerechnet, dass es zu Problemen im Spracherwerb kommt und dass die Kinder dann keine der beiden (als getrennt und nationalen Standards folgend gedachten) Sprachen »richtig« beherrschen würden. Obwohl der Begriff hier nicht direkt genannt wird, klingt doch ein Topos durch, der immer wieder mit »(doppelte) Halbsprachigkeit« bezeichnet wurde, wobei dieser Begriff und das Konzept bereits vielfach kritisiert worden sind (vgl. z.B. Wiese et al. 2012). Als Grundlage für diese Argumentation wird häufig auf die Interdependenzhypothese von Cummins Bezug genommen, die in einer Version folgendermaßen lautet: »To the extent that instruction in Lx is effective in promoting efficiency in Lx, transfer of this proficiency to Ly will occur provided there is adequate exposure to Ly (within school or environment) and adequate motivation to learn Ly.« (Cummins 1981: 29) Diese Hypothese stützt sich auf zahlreiche empirische Untersuchungen, die belegen, dass bestimmte sprachbezogene Kompetenzen nicht sprachgebunden, sondern von einer auf eine andere Sprache übertragbar sind, sofern die Rahmenbedingungen dies zulassen. Cummins selbst gibt als Beispiel an: »[A] Spanish-English bilingual program in the United States, Spanish instruction that develops Spanish reading and writing skills is not just developing Spanish skills, it is also developing a deeper conceptual and linguistic proficiency that is strongly related to the development of literacy in the majority language (English).« (Cummins 2008: 52)
Eine Übertragung von sprachbezogenen Kompetenzen ist jedoch auch umgekehrt möglich, z.B. von der Mehrheits- auf eine oder mehrere Minderheitensprachen. Diese Hypothese ist vielfach kritisiert worden, in letzter Zeit z.B. auch von Dirim und Knappik (2014), die feststellen, dass die Hypothese die mi-
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grationsgesellschaftliche Sprachsituation nicht einzubeziehen vermag, da sie mit der Vorstellung von getrennt voneinander existierenden Sprachen (Lx, Ly) arbeitet, migrationsspezifische Formen von Sprachalternation oder -mischung jedoch außer Acht lässt. Ungeachtet dessen hat die Hypothese aber auch eine beachtliche Karriere gemacht und wurde und wird an vielen Hochschulen gelehrt. Unter anderem wird und wurde sie als Argument für die Einführung bilingualer Unterrichtsmodelle oder die Stärkung von Unterricht in Migrationssprachen in der Schule eingesetzt. Wenn Deutschgebote bzw. das Verbot des Gebrauchs von Migrationssprachen als linguizistisch angesehen werden können (vgl. Dirim 2013), kann das Bemühen darum, die Monolingualität des Schulsystems der amtlich deutschsprachigen Länder aufzubrechen, durchaus als hehres Ziel und »anti-linguizistische« Maßnahme gesehen werden. Problematisch dabei ist allerdings neben der eben erwähnten Stärkung eines starren Sprachkonzeptes die Vorstellung, mit der »Einbeziehung« von Mehrsprachigkeit sei schon alles getan, um Linguizismus zu vermeiden. Verstärkt wird die Problematik dadurch, dass Cummins’ Hypothese häufig in einer stark verkürzten und einseitigen Weise aufgegriffen wird. Caprez-Krompàk (2010: S. 63) formuliert diese weit verbreitete Missinterpretation folgendermaßen: »Ein anspruchsvolles Niveau kann nur erreicht werden, wenn die Erstsprache gut entwickelt ist« und zeichnet auch nach, wie Cummins selbst sich gegen ein solches Verständnis wehrt. Abgesehen davon, dass Cummins selbst also nicht herangezogen werden kann, um die z.B. im Interviewausschnitt sichtbar werdende Argumentationsfigur zu stützen, ist zu fragen, ob sie – solange nicht empirisch eindeutig widerlegt – aus linguizismuskritischer Sicht zulässig oder inwiefern sie problematisch ist. Dabei möchte ich nochmals betonen, dass ich nicht in den Chor derjenigen einstimmen möchte, die einsprachige, auf Deutsch ausgerichtete Schulbildung fordern. Auch möchte ich nicht bestreiten, dass eine Förderung in Sprachen, die von der Unterrichts- oder Herkunftssprache abweichen, zu denen die Kinder aber einen biografischen Bezug haben, keinen Nutzen brächte oder gar schädlich wäre. Vielmehr sollen Gefahren aufgezeigt werden, die eine einseitige und vereinfachende Argumentation haben kann.
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Wird zur Analyse des zu Beginn des Kapitels abgedruckten Interviewausschnitts und der darin enthaltenen Hypothesen zum Spracherwerb das an die Ausführungen Rommelspachers (2011) angelehnte Schema verwendet, lassen sich mehrere interessante Gesichtspunkte festhalten. (1) Gruppenbildung: Neben der Gruppe der Kinder, bei denen Deutsch als Erstsprache angenommen wird und der Gruppe der Kinder, bei denen eine andere Erstsprache angenommen wird, wird eine als besonders »problematische« Gruppe konstruiert, nämlich die jener SchülerInnen, die in ihren Familien mit Formen von Sprachalternation »konfrontiert« sind. (2) Naturalisierung: Sprachen werden hier nicht in erster Linie als etwas wahrgenommen, was Menschen lernen und auch wieder vergessen können. Die »Muttersprache« ist scheinbar angeboren. Schon der Ausdruck »ihre eigene Muttersprache« weist auf ein biologistisches Konzept hin. Nicht nur die Vorstellung, eine Sprache müsse die Basis sein, auf die dann jegliches andere Sprachenlernen auf bauen könne (was übrigens empirisch nicht haltbar ist, man denke nur an bilingualen Spracherwerb von Anfang an) herrscht hier vor, sondern es wird vehement die Meinung vertreten, eine bestimmte Sprache müsse diese Basis sein, nämlich die Erstsprache: »Und das kann nur die Muttersprache sein.« Die Möglichkeit, das Deutsche als dominante Sprache könne als Basis dienen, wird kategorisch ausgeschlossen: »Also, viele Eltern oder viele Menschen denken, das kann auch die zweite Sprache sein. Nein, das kann nur die Muttersprache sein.« Was die »Muttersprache« eines Kindes ist, hat hier allem Anschein nach nichts damit zu tun, welche Sprache dem Kind als erste oder zumindest in sehr frühem Alter weitergegeben wurde, sondern ist von den Vorfahren abhängig, wie der Begriff nahelegt, wohl besonders von der sprachlichen Zuordnung der Mutter. Sprache wird so zu einem vererbbaren Persönlichkeitsmerkmal. (3) Homogenisierung: Die »Problemgruppe« wird als homogen wahrgenommen: »Eine Mischung, ich sage immer, Mischmasch reden die zu Hause.« Es geht nicht um die Sprachkompetenz eines bestimmten Kindes, sondern um eine General-Diagnose. (4) Polarisierung: Sichtbar wird hier nur das Nicht-Wir, das Wir bleibt implizit. Es gilt als selbstverständlich und muss daher nicht eigens benannt werden. Dem Nicht-Wir (»die«, die »Mischmasch reden«) stehen die Deutsch-ErstsprachlerInnen gegenüber oder auch die Kinder, die einen »richtigen« Spracherwerb durchlaufen und zuerst eine (einzige)
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Erst- und dann erst eine Zweit- oder Fremdsprache erworben haben und die keine Sprachalternation gebrauchen. (5) Hierarchisierung: Die Gruppe der Kinder, deren sprachliche Defizite im bildungssprachlichen Deutsch mit einer nicht standardsprachlichen Sprachverwendung in der Familie erklärt wird, wird als problematisch angesehen. Ihr wird eine inferiore Position zugewiesen, diese SchülerInnen scheinen weniger geeignet, Schulerfolg zu haben. Misserfolg bzw. Probleme können dadurch erklärt werden. Im Interviewausschnitt wird dies folgendermaßen ausgedrückt: »Weil wenn man sieht, bei einem Kind geht auf Deutsch nichts weiter, dann fragt man mal nach: ›Wie ist denn das eigentlich in der Muttersprache?‹ Das ist oft sehr – ja – erklärend.« (6) Diskriminierung: Es ist sicherlich nicht die Intention der PädagogInnen, Kinder zu diskriminieren. Vielmehr ist anzunehmen, dass sie den besten Unterricht für alle SchülerInnen ermöglichen möchten, der unter den derzeitigen Kontextbedingungen möglich ist. Dabei versuchen sie auch, außerschulische Einflussfaktoren zu berücksichtigen und Migrationssprachen in dieses Konzept einzubeziehen. Jedoch schließen die im Moment gegebenen Bedingungen auch ein, dass der angebotene Unterricht nicht bei allen Kindern gleichermaßen zum angestrebten Ziel führt, dass dies scheinbar irgendetwas mit Sprache(n) zu tun hat und dass die PädagogInnen dieser Situation bis zu einem gewissen Grad hilflos gegenüberstehen. Die Argumentation im Interview kann u.a. als Versuch verstanden werden, das »Problem« sprachlich zu fassen und zu deuten. Eine Strategie, mit der eigenen Hilflosigkeit umzugehen, ist das Abgeben der Verantwortung an andere. Zunächst wird das Problem ins Innere der SchülerInnen bzw. in deren Familien verlagert und so die Schule entlastet. Die Erstsprache soll schon vor dem Schuleintritt als Basis vorhanden sein (»Und abgesichert haben, wenn sie in die Schule kommen eigentlich. Ja?«). Die Schule muss nun nicht mehr (allein) die Verantwortung tragen, den Kindern die Unterrichtssprache bzw. (in dieser Sprache) Wissen zu vermitteln. Unterschiede im Schulerfolg können nun einfach dadurch erklärt werden, dass Kinder mit falschen Voraussetzungen in die Schule kommen. Der Teil an Verantwortung, der der Schule zugesprochen wird, wird aus dem Regelunterricht ausgeklammert. Später im Interview wird dies dadurch explizit gemacht, dass als Lösung vorgeschlagen wird den »Muttersprachlichen Unterricht« zu forcieren.
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Gleichzeitig sind aber die Sprachen strikt getrennt zu halten, nur im Muttersprachlichen Unterricht und in Stunden, in denen Mehrsprachigkeit zum Thema gemacht werden soll, sind Migrationssprachen erlaubt, sonst soll ausschließlich Deutsch gesprochen werden. Die Direktorin meint dazu: »Aber ansonsten versuchen wir, dass die Kinder innerhalb dieses Zeitraumes so viel und so oft als möglich Deutsch sprechen, damit sie… ein Tag hat 24 Stunden. Wenn man die Zeit, die sie schlafen, abzieht, bleibt 12 Stunden. Bei vielleicht manchen weniger, ja? Wenn man die Zeit noch abzieht, jetzt die Schulzeit usw. Wie viele Stunden sind es denn wirklich, die die Kinder dann Deutsch sprechen? Und da versuchen wir diese 4 bis 5 Stunden so effektiv wie möglich zu nutzen.« Unterrichtskonzepte im Regelunterricht, z.B. durchgängige Sprachbildung (Gogolin et al. 2011) oder auch das Überdenken der Monolingualität des Unterrichts in Richtung zwei- oder mehrsprachiger Unterrichtskonzepte sind in dieser Logik nicht mehr nötig und werden teilweise auch explizit abgelehnt. Diskriminierung ist also nicht intendiert, wird aber insofern in Kauf genommen, dass nicht weiter nach Unterrichtskonzepten gesucht wird, die geeignet sind, unterschiedliche Zugangsweisen zu Bildung für alle Kinder, unabhängig vom Sprachgebrauch in der Familie, zu erreichen. Altbewährtes (für eine als monolingual gedachte SchülerInnenschaft Angelegtes) kann weiterhin Verwendung finden, das Unbehagen über die eigene Hilflosigkeit wird gemindert. Die institutionell angelegte und in die einzelnen Klassenzimmer hineinreichende Diskriminierung wird dadurch scheinbar rational erklärbar, legitimiert und kann problemlos(er) fortgeführt werden.
3. F a zit und A usblick Wenn also Cummins’ Interdependenzhypothese schon aufgrund eines zu starren Sprachenkonzeptes und der Gefahr, aus ihr in simplifizierender Weise kausale Zusammenhänge abzuleiten (»Wenn ich Lx fördere, dann …«), kritisiert werden kann, so ist die aus ihr – von ihrem Autor unbeabsichtigt – hervorgegangene Ansicht, Kinder müssten zunächst »ihre Muttersprache abgesichert haben«, um eine Zweitsprache lernen zu können, aus linguizismuskritischer Sicht noch um vieles problematischer. Neben
»Nein, das kann nur die Muttersprache sein.«
einer starken Vereinfachung und der nicht der migrationsgesellschaftlichen Realität entsprechenden Annahme, Kinder hätten in der Regel nur eine Erstsprache, die eine nationalsprachliche Standardsprache sei, ist v.a. die Tatsache höchst bedenklich, dass mit dem Einsatz der beschriebenen Argumentationsstruktur häufig das Unbehagen über institutionelle Diskriminierung in Bildungsinstitutionen zugedeckt und dass die Verantwortung für Ungleichstellungen den SchülerInnen und ihren Familien zugeschoben wird. Diskriminierungen mögen zwar nicht intendiert sein, zumindest wird aber die Schwächung indirekter Diskriminierung durch eine solche Argumentation behindert. Auch für das Fach Deutsch als Zweitsprache kann dieses Beispiel als Warnung davor dienen, eine allzu simplifizierende Argumentation zu wählen, um gegen sprachbezogene Diskriminierung und Linguizismus vorzugehen. »Nebenwirkungen« solcher anti-linguizistischer Bemühungen – z.B. der Forderung nach dem Auf brechen der Monolingualität des Schulsystems in amtlich deutschsprachigen Ländern – müssen sorgfältig beobachtet und in die Überlegungen einbezogen, einfache Lösungen mit Skepsis betrachtet und die Beunruhigung über fehlende Antworten ausgehalten werden. Dieser Artikel kann und will also weder die Frage beantworten, in welcher Sprache denn nun Eltern mit ihren Kindern sprechen sollen, noch die beste aller Fördermöglichkeiten für Schule in der Migrationsgesellschaft aufzeigen und verzichtet auch bewusst auf ein »aber mit Sicherheit kann gesagt werden, dass …« zum beruhigenden Abschluss.
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Gedanken zum Verhältnis von Rassismus, nationalsprachlicher Diskriminierung und Neolinguizismus Gülden Aygün-Sagdic, Oana Bajenaru, Claus Melter
Sprachen und die »Kulturen« – verstanden als lokale soziale Handlungspraxen in veränderbaren historischen Machtverhältnissen – einer Region sind eng miteinander verknüpft, auch weil Begriffe durch kulturelle Deutungen und Verwendungen von Worten historisch vorgeprägt sind (Schröder 1995). Menschen sprechen nicht nur eine Sprache, um ihre »Kulturen« im Sinne sozialer Handlungspraxen zu praktizieren, sondern sie üben diese soziale Handlungspraxis in konkreten Machtverhältnissen in variierenden Konstellationen und sich stets neu entscheidend aus. So ist beobachtbar, dass es seit Jahrtausenden und in einer globalisiert-digitalisierten Welt zunehmend Sprachverbindungen verschiedener Sprachen und Sprachmischungen gibt. Sprache ist auch im Sinne von Keupp (Keupp et al. 1999) mit der Identitätsarbeit der Individuen verbunden: »Sing me a song in your language. It doesn’t matter it´s for who, as long as it’s your voice« (Yilmaz Güney – Yilmaz Pütün, Erasmus IP 2013)1. Es kann neben Sprachen ohne oder mit wenig Sprachmischungen auch Texte mit vielen Sprachverbindungen geben – und diese können auch verbunden sein mit dem Verständnis hybrider Identitäten. Da Sprache die Menschen zu beeinflussen vermag und ein Ausdrucksmittel darstellt, ist sie einerseits als wesentliches Mittel der Perfor1 | Im ERASMUS-IP-Seminar, das im Juli 2013 an der Universität Wien statt fand, wurden in neolinguizismuskritischer Perspektive Mono- und Mehr sprachigkeitspraxen in Bildungsinstitutionen von Studierenden und Lehrenden aus fünf Ländern untersucht.
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manz und des Denkens von Personen zu sehen, und andererseits, durch die subjektivierende Wirkung im Sinne Foucaults, auch ein mögliches Instrument der Herrschaft über Menschen. Sprachen können mit ihren unendlichen Möglichkeiten des Kombinierens und Inszenierens sowohl ein Mittel der Machtausübung als auch des Widerstands sein. Die fehlende, eingeschränkte oder gekonnte und von der Mehrheit anerkannte Beherrschung von Sprachen kann selbst zum Mittel der Macht werden. Zudem gibt es den Einsatz von Sprachen und Worten: als politische Rhetorik und Demagogie, als Ideologie und Verblendung, als Verführung durch Worte und zur »Überredung«. Diese Macht der Sprache erstreckt sich von den großen politischen Zusammenhängen, politischen Diskursen über Interaktionen bis hin zu Selbstbildern – wie dies bereits 1947 Klemperer in Bezug auf den Nationalsozialismus geschildert hat (Klemperer 1947). Die beschriebenen Wirkungen von Sprache, öffentlich-medialen sowie alltagssprachlichen Wiederholungen in Relation zu Denkmustern gelten für Diktaturen und totalitäre Regierungen, jedoch auch demokratischkapitalistische Herrschaftsordnungen, die den beherrschten Menschen Begriffe und Deutungen nahelegen, bis hin zu den kleinen Szenen des Alltags, den Verführungskünsten der Werbesprache, den Verkaufstricks im Telefonmarketing oder den drohenden Untertönen am Arbeitsplatz und in der Familie (Schwietring/Weiß 2008).
Z um V erhältnis von N eolinguizismus , S pr achpolitiken und R assismus In verschiedenen Texten benennen İnci Dirim (2010, 2013, 2014) und Richard Bourhis (2009) Linguizismus und Neolinguizismus (s.u.) als Teil von Rassismus. Im Folgenden soll anhand der Rassismusdefinition von Birgit Rommelspacher (2009) und der Neolinguizismus-Definition von İnci Dirim geprüft werden, ob die Aussage, dass Neolinguizismus ein Teil von Rassismus ist, argumentativ überzeugend hergeleitet werden kann oder nicht. Zur Klärung der Frage, ob Neolinguizismus als Teil des Gesellschaftsverhältnisses Rassismus im Sinne von Rommelspacher anzusehen ist oder nicht, werden außerdem Studien von Christmann und Panagiotopoulou (2012) sowie von Dirim, Döll und Knappik (2013) herangezogen.
Rassismus, nationalsprachlicher Diskriminierung und Neolinguizismus
G edanken zu N ationalsta aten und N atiolek ten Im Rassismus werden beliebige Merkmale wie Sprache, Herkunft, »Hautfarbe«, Religion etc. zugrunde gelegt, um einzelne Personen Gruppen zuzuordnen. Die Gruppenzugehörigkeit entscheidet über die Teilhabechance der/des Einzelnen an Bildung, dem Erwerbsleben und der Gesellschaft. Im Kolonialismus diente diese Kategorisierung dazu, die Ausnutzung und Unterdrückung von People of Color zu legitimieren (vgl. Rommelspacher 2009: 25). Durch rassistische Konstruktionen wurde behauptet, dass die Bevölkerungen der Kolonien unentwickelt und primitiv seien, um so den zeitgleich stattfindenden europäischen Kampf um Menschenrechte zu begründen und andererseits die Missachtung von Menschenrechten auf anderen Kontinenten zu legitimieren (vgl. ebd.: 25-26). Diese Praxis wird in Deutschland nach wie vor täglich ausgeübt. Während das Grundgesetz in der BRD und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz die Diskriminierung von Menschen wegen ihrer Herkunft, Sprache, ihrer sexuellen Orientierung, ihrem Geschlecht, aufgrund von physischen, psychischen oder kognitiven Beeinträchtigungen und weiteren Differenzkategorien verbietet, legalisiert wiederum das Zuwanderungs-, das Asylverfahrens- und Asylbewerber_innenleistungsgesetz weiterhin die Missachtung von Menschenrechten. Ebenso sind Menschen mit Migrationsgeschichte alltäglich von Einzelnen und Gruppen ausgeübtem Rassismus als auch institutionellem, strukturellem und medialem Rassismus ausgesetzt (vgl. Melter 2006: 25-27). Gesellschaftliche und kulturelle Unterschiede werden als biologische Differenzen gesehen, die Rangordnungen vorgeben und an nächste Generationen weiter »vererbt« werden (Naturalisierung). Heutige Rassismuserscheinungen haben Jahrhunderte lange Tradition. Dabei erfolgt eine Einteilung der Menschen in einheitliche Gruppen (Homogenisierung), wodurch sie als grundlegend Andere definiert werden, die mit den eigenen Vor- und Einstellungen in absolutem Widerspruch gesehen werden (Polarisierung) und eine hierarchische Ordnung legitimieren (Hierarchisierung) (vgl. Rommelspacher 2009: 29). Rassismus stellt somit eine Differenzierung dar, die sich in unterschiedlichen Ausgrenzungspraxen in wichtigen Lebensbereichen spiegelt. Beispielsweise zeigt sich diese Praxis an Zugangsbarrieren zu Bildung, zum Arbeitsmarkt und gesellschaftlichem Leben, sowohl in einzelnen Interaktionen als auch in Institutionen (ebd.: 30). Persönliche Lebensumstände und -situationen von Menschen stehen in Abhängigkeit zu ihrer Herkunft, weswegen Menschen mit Mi-
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grationsgeschichte nicht in allen Berufsgruppen ihrem gesellschaftlichprozentualen Anteil entsprechend vertreten sind. Sie werden bewusst aus bestimmten Bereichen oder auch Wohngebieten ausgeschlossen (vgl. Miles 1989 in Terkessidis 2004: 99). Es erfolgt sowohl bei der durch Staat und Bildungsinstitutionen vorgenommenen Dominanzsetzung eines Natiolektes eine Hierarchisierung von als nicht der nationalen imagined community (Anderson 1988) zugehörig definierten Natiolekten. Bestimmte Natiolekte werden als »Fremdsprachen« im Bildungssystem gelehrt, gelernt und wertgeschätzt, andere abgewertet und verboten. Typischerweise sind es europäische Kolonialsprachen wie Englisch, Französisch, Deutsch und Spanisch, die in europäischen Bildungssystemen besondere Wertschätzung erfahren. Hegemoniale Sprachpraxen, bei denen bestimmte nicht-hegemoniale Sprachpraxen abgewertet werden, finden nicht nur global (Hegemonie der Kolonialsprachen, des Englischen, Französischen, Spanischen usw.) statt. Beispielsweise manifestierte sich die russische Sprache durch ihren politischen Status als Kommunikationssprache in einer Föderation aus fünfzehn Republiken und wurde zur offiziellen Amts- und Bildungssprache der ganzen Sowjetunion, obwohl etwa 130 andere Sprachen auf diesem Territorium existierten und gesprochen wurden. Über einen Zeitraum von 70 Jahren transportierte die russische Sprache – wie jede andere auch – Denkweisen, Ideologien und Vorstellungen von sozialen Handlungspraxen. Die Unterdrückung der dominierten Sprachen führte letztlich zur Gefahr der Abwertung und des Verlustes anderer Denkweisen, Ideologien und Vorstellungen und den damit verbundenen Zugehörigkeitsund Identitätsvorstellungen (Guţu 2009). Die traditionsreiche Gleichsetzung von Sprache, Kultur und Menschen, welche seit dem Zeitalter der Romantik in homogenisierender und nationalisierender Weise postuliert wurde, ist immer noch aktuell und stellt problematische Konstellationen dar (Mecheril 2003). Sprache impliziert nur dann eine »imaginierte Gemeinschaft« (Anderson 1988), wenn sich alle Sprechenden einer Sprache auch als Gemeinschaft bezeichnen (vgl. Schröder 1995: 56-66). Die Menschen, z.B. als ein »sowjetisches Volk« gesehen, verband ausschließlich das übergeordnete politische System. So gab es zum Beispiel keine in Bildungsinstitutionen und anderen staatlichen Einrichtungen praktizierte Sprachenvielfalt, sondern – es sei denn im Fremdspracheunterricht – ausschließlich Russisch. Durch das Einführen des kyrillischen Alphabets in den Schulen und der dominanten und kompromisslosen Präsenz der
Rassismus, nationalsprachlicher Diskriminierung und Neolinguizismus
Sprache in den Medien und in der Literatur wurde dies herbeigeführt. Die Autorin Ana Guţu erzählt über die Erinnerungen ihrer Mutter nach der Unabhängigkeitsbewegung von 1944. Laut ihrer Erzählung wurde über Nacht vom lateinischen Alphabet zum kyrillischen Alphabet umgestellt, was als sehr macht- und gewaltvoll erlebt wurde (Guţu 2009). Ähnliche Mechanismen sind bei der Einführung der Nationalsprache »Deutsch« im Zusammenhang mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht in Deutschland im 19. Jahrhundert festzustellen (vgl. Gogolin 1994). Die beherrschende Eigenschaft der Sprache liegt in der Vermittlung, Nahelegung und Durchsetzung von Einstellungen, Handlungsweisen und der Positionierung innerhalb von umkämpften Diskursen und deren Verbindung zu strukturellen Gesellschaftsverhältnissen. Hierbei stellt sich die Frage, wie Identität im Sinne von ständiger Selbstbildkonstruktion in diesem babylonischen Abenteuer beibehalten werden kann (Guţu 2009). Calvet eruierte dazu, dass jedes Land – nicht nur in Europa – versucht, die »eigene Sprache« zu verteidigen oder diese über die Grenzen hinaus zu verbreiten (Calvet 2010). Des Weiteren stellt sich die Frage, ob und wie die (Mehrfach-)Zugehörigkeit zu einer, mehreren oder der anderen »Kultur« oder Nation auf einer makrogesellschaftlichen Ebene Einfluss auf die Dominanz einer Sprache und die Benachteiligungen anderer Sprachen hat (Guţu 2009). Spricht eine Person mehrere Sprachen, riskiert diese weniger negative Konsequenzen, wenn sie die Dominanzsprache verwendet. Allerdings ist bedeutsam, um welche Sprachen es sich handelt. Die Macht der Sprache lässt sich selbst von rhetorisch begabten Redner_innen nie völlig in Beschlag nehmen, denn die »Macht der Sprache« liegt letztlich nicht nur bei den Sprechenden, sondern auch bei den die Sprache Hörenden und deren Beurteilungen sowie in den Inhalten der Sprache und deren umkämpften Deutungen im Diskursraum. Wer die Sprache und ihre Deutungen beherrscht, verfügt über ein bedeutsames Machtinstrument (Schwietring/Weiß 2008). Andererseits implizieren die Benachteiligung oder der Verlust der bisher verwendeten Sprache die Übernahme einer neuen Herrschaftssprache und damit neuer kultureller Normen. Die Verbreitung der »eigenen« Sprache auch außerhalb eines Territoriums, in dem eine Sprache systematisch bevorzugt wird, sowie die Förderung derer, die sie lernen, erscheinen insoweit legitim, als ethische Grundlagen des Zusammenlebens nicht verletzt und Menschen nicht in ihren Sprachpraxen in Formen der Selbstrepräsentation und des Selbstausdruckes in großem Maße beschränkt werden
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(Schröder 1995). Das Maß von Bevorzugung und Benachteiligung ist kontextuell mit den Beteiligten auszuhandeln. Dies sollte unseres Erachtens bedeuten, dass eine Sprache nur so gelehrt, gelernt und bevorzugt werden soll, dass die »anderen« Sprachen aller Beteiligten in Bildungseinrichtungen und öffentlichen Diskursen erlaubt, praktiziert, gehört und berücksichtigt werden. In diesem Zusammenhang besteht zudem die Forderung, die Sprachpolitik nicht nur Bestandteil der Kulturpolitik sein zu lassen, sondern ebenso im Sinne möglichst vielfältiger Sprachen eine Ingredienz der Innenpolitik, Außenpolitik und auch der Wirtschaftspolitik (ebd.).
N eolinguizismus İnci Dirim definiert Neolinguizismus folgendermaßen: »Der in den migrationsbezogenen Diskursen möglicherweise vorhandene Neo-Linguizismus ist – zusammengefasst – durch die folgenden Merkmale gekennzeichnet: a) Neo-Linguizismus argumentiert mit Geboten statt mit Verboten (›Wir halten uns alle daran Deutsch zu sprechen‹). b) Neo-Linguizismus argumentiert mit dem Nutzen für die Anderen, für die ›Beherrschten‹ (›Es ist für die Jugendlichen gut, auf dem Schulhof Deutsch zu sprechen‹). c) Neo-Linguizismus sieht den Einbezug ›der sprachlich Anderen‹ programmatisch vor; sie werden nicht schlicht exkludiert, sondern durch eine bestimmte Sprachen ausschließende Inklusion ihrer Dispositionen beraubt (›Die Kinder sollten mit Türkisch keine Zeit verlieren, sondern lieber Deutsch lernen‹). d) […] Deutsch wird nicht als die glänzende Krönung dargestellt, aber auf eine bestimmte Weise zum unerreichbaren Standard gehoben, die der sprachlichen Realität nicht entspricht (›Es müssen Briefe geschrieben werden, auch wenn im Alltag alles per SMS erledigt werden kann‹). e) Neo-Linguizismus ignoriert die multilinguale Realität der Gesellschaft und verkennt die Potenziale verschiedener Sprachen (›German only‹).« (Dirim 2010: 112)
Im Folgenden geht es darum, die Beziehung zwischen der hiesigen Majoritätssprache, d.h. der Staatssprache Deutsch, und den Migrant_innensprachen in Deutschland, einer machtkritischen Analyse nach neolinguizistischen Tendenzen zu unterziehen und damit der reflexiven Betrachtung zugänglich zu machen.
Rassismus, nationalsprachlicher Diskriminierung und Neolinguizismus
F rühkindliche R assismus - und (N eo -)L inguizismusförderung Anhand einer Vergleichsstudie (Christmann/Panagiotopoulou 2012) kann nachvollzogen werden, wie bereits in Kindergärten/Kindertagesstätten Segregationslinien zwischen Kindern mit und ohne Migrationsgeschichte produziert werden, und wie Kinder mit Migrationsgeschichte ihre durch Diskriminierung beeinflusste Bildungsbiografie in Deutschland durchlaufen. Oftmals erfahren mehrsprachige Kinder nicht die ausreichende Unterstützung, um sich die Bildungssprache Deutsch angemessen aneignen zu können (vgl. Gogolin 2008: 215). Diese Perspektive wird unseres Erachtens zu sehr außer Acht gelassen. Die Gründe hierfür liegen in der alltäglichen Praxis von Linguizismus/Neolinguizismus und Rassismus, was die im Folgenden dargestellte Studie, in der der Umgang mit Mehrsprachigkeit von Vorschulkindern in Luxemburg und in Deutschland verglichen wurde, aufzeigt: Auffallend ist, dass in Luxemburg die Sprachförderung und Sprachbildung von ausgebildetem Fachpersonal, nämlich einer Lehrerin, durchgeführt wird, die im Vorschulalltag für alle Kinder zuständig ist. In den in der Studie untersuchten Einrichtungen in Deutschland hingegen erfüllen diese Aufgaben Sprachförderkräfte, die meist gegen eine Entschädigungspauschale arbeiten und mit dem Thema Sprachförderung in Deutsch als Zweitsprache, aus ihrem beruflichen Werdegang nicht vertraut sind. In diesem konkreten Fall ist eine Kinderpflegerin, zu deren Hauptaufgaben das Pflegen und Versorgen von Säuglingen und Kleinkindern gehört, als Sprachförderkraft tätig und wird als fachlich geeignet definiert (vgl. Christmann/Panagiotopoulou 2012: 37-40). Es kann hier die These aufgestellt werden, dass in dieser Berufsausbildung vermutlich keine pädagogisch-didaktische Ausbildung erfolgt, um Kinder in der Zweitsprache Deutsch zu fördern. Diese Tatsache zeigt, wie wenig verantwortlich oftmals Gelder im Bereich Sprachförderung ausgegeben und Kinder weiterhin in ihren prekären sprachlichen Situationen belassen werden. Der Soziologe Hartmut Esser (2010a, 2010b) fordert in seinem nicht gesellschafts- und nicht diskriminierungsreflexiven Integrationskonzept an zentraler Stelle, dass Kinder mit Migrationsgeschichte die deutsche Sprache erwerben sollen. Ebenso verbindet die deutsche Bundesregierung schulische und berufliche Integrationsbemühungen zentral mit dem Erwerb der deutschen Sprache (Deutscher Bundestag
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2013: 207). Die Umsetzungsrealität zeigt jedoch erhebliche Defizite. Es liegt ein impliziter Rassismus vor, der unseres Erachtens zum expliziten Rassismus wird, wenn kein ausgebildetes Fachpersonal eingesetzt wird, um die Kinder professionell beim Spracherwerb zu unterstützen und andere Sprachen nicht einbezogen und oftmals verboten werden. Zudem erhärtet sich eine tendenziell rassistische Defizitperspektive auf die migrationsgesellschaftlich zu »Anderen« gemachten, wenn laut medialen Berichterstattungen und Veröffentlichungen wie den Bildungsberichten (vgl. Melter/Karayaz 2013) keine Erfolge oder Fortschritte in Sprachkompetenzen und dadurch bedingt durchschnittlich weniger erfolgreiche Bildungsbiografien von Kindern mit Migrationsgeschichte zu verzeichnen sind und die Verantwortung für die unzureichenden Sprachkompetenzen in Deutsch weiterhin auf die Fähigkeiten der Kinder, ihre »Kultur« und fehlende Unterstützung des Elternhauses reduziert und auf genetische Veranlagungen zurückgeführt wird (typisch für diese Argumentation steht das zu Recht als rassistisch kategorisierte Buch von Sarrazin 2010). Die tägliche Förderung der Luxemburger Vorschulgruppe findet innerhalb des Vorschulalltags statt. Im untersuchten Beispiel in Deutschland werden die von Erzieher_innen im Deutschen als »förderbedürftig« eingestuften Kinder zwei Mal wöchentlich aus dem Kindergartenalltag herausgerissen und finden sich in einem anderen Raum als separate und somit stigmatisierte Gruppe wieder (vgl. Christmann/Panagiotopoulou 2012: 37-40). Die Separierung signalisiert den Kindern bereits Zugehörigkeiten. Sie gehören nicht der »normalen« Gruppe und der Mehrheit an. Sie sind diejenigen, die die deutsche Sprache nicht beherrschen. Die »gut« gemeinte Förderung der Kinder wirkt in der Methodik oftmals eher diskriminierend, da Kinder »mit Migrationsgeschichte« wegen, überzogen ausgedrückt, der »falschen« Erstsprache aussortiert werden. Es wird ein indirektes linguizistisches Vorgehen praktiziert. Überdies wird den als nicht förderbedürftig »nicht-migrantischen« Kindern das Bild der »anderen« Kinder vermittelt, die separat Fähigkeiten erlernen sollen, die sie als Mehrheitsangehörige – so die Annahme – bereits beherrschen. In der Vorschule in Luxemburg werden Schwerpunktthemen mit Einsatz von Bildkarten bearbeitet. Die Bedeutung des Bildes ist in mehreren Sprachen aufgeführt, sodass die Lehrerin die Antworten in Erstsprachen als richtig oder falsch beurteilen kann, Einblick in die Sprachkenntnisse in der Erstsprache erhält, und der Erstsprache im ›Unterricht‹ Platz einräumt. Die Kinder berichten über Alltagserfahrungen mit dem
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Wort auf der Bildkarte, was von der Lehrerin anerkennend und lobend angenommen wird. Alle Kinder nehmen rege teil (vgl. ebd.: 41-42). Das Sprechen über ihre Erfahrungen und das Einbringen ihrer Kenntnisse in ihrer Erst- und Zweitsprache unterstützen nicht nur die Erweiterung ihrer Sprachkompetenzen, sondern wirken sich genauso positiv auf ein selbstbewusstes Auftreten aus. Die Kinder werden in ihrer Sprache bestätigt und erfahren Lob und Anerkennung, was ebenso ihre Identität im Sinne einer Zugehörigkeits- und Selbstbildarbeit, die von der Umgebung akzeptiert und begleitet wird, stärkt. Der Einsatz der Erstsprachen ist nicht auf die täglichen Förderstunden begrenzt, sondern diese werden in fast allen Interaktionen als gleichwertige Sprachen angenommen (vgl. ebd.: 42). Ein weiterer bedeutender Unterschied im Umgang mit Mehrsprachigkeit zeigt sich in der Vermittlung. Mehrsprachigkeit gehört zur Lebenswelt der Kinder. Der Landessprache wird nicht die Machtposition zugeordnet, die zu Sprachhierarchien führt. Es findet keine Auf- oder Abwertung von Sprachen und Ressourcen der Sprecher_innen statt. In den untersuchten Einrichtungen in Deutschland hingegen findet die Sprachförderung in der Regel nur monolingual statt. Kenntnisse der Kinder in anderen Sprachen werden nicht abgefragt bzw. haben keinen Platz (vgl. ebd.: 43-44). Die Förderkraft arbeitet ebenso mit Bildkarten, auf denen ein Gegenstand abgebildet ist, welchen die Kinder benennen und auf einem großen Bild zeigen sollen. In einer Fördersituation fragt sie direkt ein Kind nach dem Namen des Gegenstandes, erhält aber keine Antwort. Die Sprachförderkraft fragt ein zweites Mal nach und möchte die deutsche Antwort (»Spiegel«) hören. Das Kind bleibt ihr die Antwort schuldig, obwohl es das Wort in seiner Erstsprache wahrscheinlich wüsste. Es zeigt auf dem großen Bild auf den Spiegel und sagt: »Das da« (ebd.: 43), was aber von der Förderkraft nicht als richtig kommentiert wird. Die Erstsprachen werden nicht abgefragt, noch viel weniger honoriert oder als gleichwertig angesehen. Es finden keine fließenden Sprechanregungen statt, wie im Beispiel von Luxemburg, sondern diese sind auf einzelne Wörter begrenzt. Die Kinder können ihre bereits erworbenen Deutschkompetenzen ebenso wenig einsetzen wie ihre Erstsprache. Diese Studie verdeutlicht die Vorgehensweisen in den untersuchten und mit diesen Konzepten arbeitenden Kindergärten und Kindertagesstätten in Deutschland, die täglich sowohl rassistische als auch linguizistische Handlungspraxen anwenden, die aber nicht als solche wahrge-
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nommen werden und Kinder mit Migrationsgeschichte segregieren. Mit dieser Studie lässt sich ebenso nachvollziehen, wodurch die Erlangung von Deutschkompetenzen für den weiteren Bildungsweg der Kinder u.a. erschwert wird. Später spielt die Schule sicherlich eine sehr bedeutsame Rolle für die Aneignung der Bildungssprache.
W enn » perfek t« nicht mehr gut genug ist Eine weitere Studie aus Österreich zeigt, welchen Einfluss Rassismus und Linguizismus auf die Bewertung von Fähigkeiten und Ressourcen angehender oder bereits praktizierender Pädagog_innen mit Migrationsgeschichte nehmen (vgl. Dirim/Döll/Knappik 2013: 2). Die Zahl der Lehrenden mit Migrationsgeschichte soll an österreichischen Schulen erhöht werden, weshalb das österreichische Ministerium für Unterricht, Kunst und Kultur eine Studie an sieben Pädagogischen Hochschulen zu »Diversität und Mehrsprachigkeit in pädagogischen Berufen« (vgl. ebd.: 1) durchführen ließ. Im Vorfeld löste eine Ankündigung in einer Pressekonferenz des zuständigen Ministeriums (das BMUKK), mehr Lehrkräfte mit Migrationshintergrund einzustellen, in Österreich bereits heftige Proteste aus. Zu diesem Projekt wurden Interviews mit Dozent_innen und Praxisbegleiter_innen mit ganz unterschiedlichen Fächern durchgeführt. In den Interviews zeigen sich ambivalente Kritikmaßstäbe der Deutschkompetenzen von angehenden Lehrenden mit und ohne Migrationsgeschichte. Während österreichischen und mit Dialekt sprechenden Personen das Recht zugesprochen wird, ihre sprachlichen Defizite während des Studiums aufzuarbeiten und dies als »Vermittlungsaufgabe der Hochschule« (vgl. ebd.: 4) gesehen wird, ist die Auffassung für Personen mit einer anderen Erstsprache, deren Deutschkompetenzen vorher im Interview als perfekt bewertet wurden, nicht kompatibel. »[U]nd scheinbar war dann die Schulpraxis der Ort, wo man dann irgendwie befunden hat, ahm es geht jetzt gar nicht, also ein und zwei Artikelfehler und es war zu viel.« (ebd.: 4: Interviewausschnitt) Es werden – so wird in diesem Beispiel deutlich – andere Maßstäbe angewendet und die Personen mit Migrationsgeschichte nicht nach ihren Fähigkeiten bewertet, sondern durch die Brille ihrer natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit betrachtet. Während die als eigene »Gruppenmitglieder« angesehenen Personen sich Dialekte »abge-
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wöhnen« können, schaffen es – so wird gedacht – vermeintlich »Andere« nicht, ein oder zwei Artikelfehler zu verändern. Als ein weiterer Grund, warum Lehrkräfte mit Migrationsgeschichte nicht an österreichischen Schulen unterrichten könnten (sollten), wird angeführt, dass die Lehrkraft wegen der »Fehler« nicht als Vorbild von der Schüler_innenschaft angesehen werde (vgl. ebd.: 4). Es wird hervorgehoben, dass Kinder mit deutscher Erstsprache weder mit den Deutschkompetenzen noch mit einem eventuellen Kopftuch der Lehrerinnen ein Problem hätten. Vielmehr seien es die Kinder mit Migrationsgeschichte, die damit Schwierigkeiten bekämen und sich von der Lehrerin distanzieren würden, um sich nicht »antimuslimischer Diskriminierung« (ebd.: 3) auszusetzen. Die eigenen Bedenken der Interviewpartnerin finden in wenig inhaltlich überzeugenden Erklärungen ihren Ausdruck, die sie mit Pseudoannahmen und mit eventuellen negativen Einstellungen und Vorbehalten von Schulleitungen, Eltern und Schüler_innenschaft begründet (vgl. ebd.: 3-4). Eine mehrsprachige Lehrerin äußert sich hingegen eher positiv über Reaktionen von Eltern, die sie in bisherigen persönlichen Gesprächen für sich gewinnen konnte. Vielmehr sei es das Kollegium, gegen das sie sich behaupten müsse (vgl. ebd.: 3). Das Fach Deutsch zu unterrichten wird aus hegemonialer Sicht zur Ehrensache erklärt, die denen vorbehalten ist, die Deutsch als Erstsprache sprechen. An diesem Beispiel kann sehr gut nachvollzogen werden, dass im Linguizismus der Rassismus bereits impliziert ist. An Menschen mit Migrationsgeschichte werden sehr große Ansprüche gestellt. Auch wenn sie bereits entsprechend der durchschnittlichen Anspruchsanforderungen an national-zugehörig angesehene Personen »perfekte« Leistungen erbringen und Kompetenzen besitzen, werden sie der Erwartungshaltung, »Österreicher_in« oder »Deutsche_r« zu sein, niemals gerecht werden können. Und solange sie diesen Zustand nicht erreichen, werden sie von Teilen dieser Gesellschaften nicht als gleichwertige Bürger_innen anerkannt.
M igr ationsgesellschaf t und D iskriminierung Da Deutschland seit mehreren Jahrhunderten ein Ein- und Auswanderungswanderungsland ist (zur historischen Migrationsforschung Bade 2000), kann von der Migrationstatsache gesprochen werden. Im Migra-
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tionsland Deutschland kann zudem von der Tatsache der sozialen Diskriminierung (Uslucan/Yalcin 2012) und der Tatsache der rechtlichen Diskriminierung in der Migrationsgesellschaft (Dern 2012) sowie von der Rassismustatsache gesprochen werden (Mecheril/Melter 2010; Deutscher Bundestag 2013). Ebenso sind die Verleugnung-der-Rassismus-Tatsache (Terkessidis 2004) und die Tatsache bisher geringer Veränderungsbestrebungen im Bereich Rassismus und Rechtsextremismus seitens staatlicher Behörden (Amadeu-Antonio-Stiftung/Initiative für Zivilgesellschaft und demokratische Kultur 2012) festzustellen. Der historische Zusammenhang von Kolonialismus, Nationalsozialismus, Rassismus und nationalstaatlicher Diskriminierung wird zudem wenig thematisiert (Zimmerer 2011).
G eschichte , N ationalsta aten , R echt, E ntrechtung Während Sklaverei und Kolonialismus gaben die Vertreter_innen der kolonialisierenden Nationalstaaten den versklavten Personen in den Kolonien weniger oder keine Rechte (Brumlik 2004; Plumelle-Uribe 2004). So wurde beispielsweise die Prügelstrafe im deutschen Kolonialrecht beibehalten, während sie im neu gegründeten Deutschland nicht mehr als gesetzliches Sanktionsmittel im Strafgesetzbuch enthalten war (vgl. Zollmann 2010). In Bezug auf Gesetze und Verordnungen (vgl. ebd.: 32) etablierte Deutschland nach der Berliner Kongokonferenz (1884-1885), auf der europäische Staaten in Abwesenheit afrikanischer Regierender den afrikanischen Kontinent unter sich zur Kolonisation, Unterwerfung und Ausbeutung aufteilten (vgl. Zimmerer 2011), ein Rechts- und Verordnungssystem in den deutschen Kolonien, bei dem die »Zweiteilung des Kolonialrechts in ›Europäerrecht‹ und ›Eingeborenenrecht‹ […] grundlegend für die koloniale Herrschaftsordnung [wurde]« (Zollmann 2010: 31). Bildungsbezogen wurde im Rahmen der Missions- und Kolonialpädagogik (Addick/Mehnert 2001) ein rassistisches und geschlechtergetrenntes Schulsystem zur Etablierung der deutschen rassistischen Herrschaft etabliert (vgl. ebd.) In Bezug auf Sprachverbote schildert Grada Kilomba eindrücklich, wie auf Plantagen verschiedener Länder den Versklavten Metalle im Mund befestigt wurden, die die Nahrungsaufnahme und vor allem auch das gemeinsame Sprechen und Sich-Verbünden verhindern sollten (vgl. Kilomba 2008). Heutige neolinguizistische Sprachverbote
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scheinen manchmal ebenso der Angstfantasie geschuldet zu sein, dass beim Sprechen »anderer Sprachen« Aufruhre gegen die Mehrheitsangehörigen geplant seien. Juristisch gibt es auch heute verschiedene Rechte im Nationalstaat BRD: einerseits die Rechte der Staatsbürger_innen sowie gleichgestellter bestimmter EU-Bürger_innen und Schweizer_innen und andererseits weniger Rechte der Nicht-Bürger_innen, die nicht die deutsche oder bestimmte EU-Staatsbürgerschaften besitzen (Dern 2012). Historisch und aktuell stehen die Entrechtung bestimmter Bevölkerungsgruppen in Relation zu praktizierten Diskriminierungen, Übergriffen und Morden (»Vogelfreie«, Morde an Herero und Nama 1904-1905, Nürnberger Gesetze). Auch das heutige Aufenthalts- und Asylverfahrensgesetz in Deutschland ist eine systematische, rechtlich legale Diskriminierung der Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit. So besteht z.B. im Asylverfahren in Deutschland die menschenrechtswidrige Verpflichtung, sich nur in einer Kommune oder einem Bundesland zu bewegen (»Residenzpflicht«), und kein Anspruch auf die Behandlung chronischer Krankheiten. Rassismus und die Konstruktion angeblicher »weißer Überlegenheit« und die Durchsetzung der Privilegierung von »Weißen« und die Diskriminierung der »Nicht-Weißen […] sind wie Türen, die von vornherein für Weiße Menschen offen stehen und von ihnen nicht bewusst wahrgenommen werden, weil sie sich deren Durchgang nicht verdienen bzw. erkämpfen müssen. »Die Position des Weißseins ist gekennzeichnet von einer unhinterfragten Abwesenheit rassistischer Diskriminierung aufgrund der Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft, die in vielen Bereichen selbstverständliche Vorteile bietet« (Amesberger/Halbmayr 2008: 130, zitiert nach Marschner 2009).
S oziale H erstellung der V erbindung der K onstruk tion D eutsch -S ein mit der K onstruk tion W eiss -S ein Es wird bei diesem Vorgang intern formal und sozial eingeteilt in »höherund minderwertige« und in Voll-, Teil- und weniger Berechtigte z.B. auf dem Territorium Deutschland, dessen »Eingeborene« und »Menschen ohne Migrationsgeschichte« ausschließlich als »Weiße« fantasiert werden. Zwischen den Territorien wird materiell (Grenzanlagen) und ideolo-
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gisch (z.B. Erfindung von nationalen Identitäten) eine Grenze gebaut. Es kann nationale Territorien übergreifende rassistische Konstruktionen der unterschiedlichen Wertigkeit bestimmter Bewohner_innen von Kontinenten und bestimmten Nationen geben (z.B. rassistische Einteilung von Großgruppen wie bei Kant und Hegel, vgl. Hund 2007). Die rassistische Ideologie »weißer europäischer Überlegenheit« oder die Feindlichkeit gegen Menschen mit Beeinträchtigung, die durch Barrieren und Diskriminierung behindert werden, ist durch Platon und Aristoteles (vgl. Rommelspacher 1999) sowie die Ideologie männlicher Überlegenheit wie in den abrahamitischen Buchreligionen (vgl. Mürner 1996) in unterschiedlicher Weise stetig (re-)artikuliert worden.
R assismus und N eolinguizismus Rassismus, mittels rassistischer Konstruktionen von Gruppen, deren Homogenisierung, Naturalisierung, Polarisierung und Hierarchisierung (Rommelspacher 2009), operiert sowohl mit der Zuschreibung angeblich einheitlicher und unveränderlicher kultureller Praxen und Eigenschaften, Leistungs- und Intelligenzfähigkeiten als auch mit äußerlichen Markierungen (sei es Körperliches oder Kleidungsbezogenes wie ein Kopftuch). Kulturelle Zuschreibungen sind also auch integraler Bestandteil des biologisch argumentierenden Rassismus. Der »Rassismus ohne Rassen« (Balibar/Wallenstein 1992) benutzt das Konzept »Kultur« ebenfalls in homogenisierender, naturalisierender, hierarchisierender und polarisierender Weise und verwendet als überhistorisch und unveränderlich angesehene Gruppenkonstruktionen. Um zu klären, ob »Kultur« als »Sprachversteck für Rasse« (Leiprecht 2001) verwendet wird, kann zum einen ausprobiert werden, ob die Sätze auch inhaltlich ebenso funktionieren, wenn anstatt des Wortes »Kultur« das Wort »Rasse« eingesetzt wird. Zum anderen kann geprüft werden, ob das Kulturkonzept auch mit den Konstruktionsmerkmalen Homogenisierung, Polarisierung, Hierarchisierung und Naturalisierung beschrieben wird. Beim Neolinguizismus geht es um Sprachgebote und indirekte oder offene Sprachverbote UND um die Abwertung der Sprecher_innen bestimmter Sprachen, ihrer Leistungsfähigkeit, ihrer Intelligenz, ihrer als homogen vorgestellten »Kultur«. Im Bereich der Hierarchisierung von
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Sprachen und deren Sprecher_innen benennen Knappik und Dirim auch das Konzept »Native Speakerism« von Holliday: »Der Begriff ›Native-Speakerism‹ kritisiert die Vorstellung, dass erstsprachliche Sprachkompetenz automatisch mit ›perfekter‹ Sprachkompetenz gleichzusetzen sei. Holliday (2006) verortet diese Überhöhung erstsprachlicher Sprachkompetenz in kolonialen Denktraditionen. Zwei Zuschreibungen werden hier vorgenommen und ›vernatürlicht‹, wobei wir davon ausgehen, dass dies unbewusst geschieht: Die Sprachkompetenz von ›native speakern‹ sei ›perfekt‹, und Sprecher_innen mit anderen Erstsprachen könnten diese Stufe der Perfektion nicht erreichen. Damit geht eine Überhöhung der SprecherInnen mit ›native-speaker‹Status einher sowie eine Abwertung der SprecherInnen, die diese Sprache als eine weitere erlernt haben.« (Knappik/Dirim 2013)
F a zit Aufgrund der Überschneidung und Übereinstimmung der Konstruktionsmerkmale von »Rasse«- und »Kulturgemeinschafts«-Konstruktionen, wobei letztere auch zentral mit dem Mittel Sprache argumentieren, ist eine große Gemeinsamkeit von biologisch und kulturell argumentierendem Rassismus festzustellen. Auch beim Neolinguizismus sind die Elemente der Hierarchisierung, Naturalisierung, Homogenisierung und Polarisierung von Sprach- und »Kultur«-Gruppen festzustellen. Es kann davon gesprochen werden, dass der Neolinguizismus ein Teil von Rassismus ist, da Sprach-Hierarchisierungen einhergehen mit homogenisierenden und kulturalisierenden Gruppenzuschreibungen und der systematischen diskriminierenden Behandlung der Sprecher_innen der abgewerteten Sprachen. Beispiele für Praktiken der institutionellen Diskriminierung und des Neolinguizismus sind Jugendzentren in Österreich und Deutschland, in denen Deutsch oder der regionale Ethnolekt gesprochen werden dürfen, jedoch als nicht dem Nationalstaat zugehörig angesehene Natio- und Ethnolekte nicht. Auch wird – so berichten Studierende im Rahmen eines Praktikums vor einigen Wochen in der Hochschule – bei Jobcentern in Deutschland und Einrichtungen Sozialer Arbeit in Deutschland mehrsprachigen Mitarbeitenden verboten, mit Adressat_innen in einer anderen Sprache als Deutsch zu sprechen – auch wenn es die Erstsprache aller
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Beteiligten ist und dies die Kommunikation über die relevanten Inhalte massiv erleichtern würde. Diskriminierungen beinhalten neben Stereotypen und Vorurteilen auch unabhängig davon beobachtbare Handlungen sowie die Effekte von Handlungen, Regelungen und Ressourcenverhältnissen, die bestimmte Gruppen oder Personen in Bezugnahme auf ihre Gruppenangehörigkeit benachteiligen. Da es keine negativen Auswirkungen auf Dritte hätte, sind die oben genannten Sprachverbote als Diskriminierung zu sehen, weil sie die Ausdrucks- und Handlungsfähigkeiten zum Nachteil der Beteiligten einschränken, zudem sind sie unnötig. Es scheint ausschließlich um die Durchsetzung der Privilegierung einer Sprache und ihrer Sprecher_innen zu gehen. So kann in Bezug auf die Stephen Lawrence Inquiry2 und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz gefragt werden: Wer hat mit welchen zugeschriebenen oder tatsächlichen (Sprach-)Fähigkeiten Zugang zur Organisation – als Mitarbeitende oder Adressat_in – und wer wird wie behandelt? Und erhalten Personen und Gruppen den gleichen professionellen Service, die gleiche Förderung, wie sie Angehörige anderer als national zugehörig geltende Gruppen erhalten oder entsprechend der allgemeinen Regelungen erwarten können, und können sie in gleicher Weise mitwirken (Melter 2013)? Wie sowohl in Bezug auf Zugangsermöglichungspraxen als auch in weniger diskriminierender, sondern in fördernder Weise Sprachen, Mehrsprachigkeit und mehrsprachige Sprecher_innen gleichberechtigt berücksichtigt werden können, wird von Dirim (2010; 2013; 2014) sowie in Arbeiten von Knappik (2013) und Dirim (2013) im österreichischen Kontext auf überzeugende Weise dargestellt. Diese Ansätze gilt es nach unserem Erachten auch für den bundesdeutschen Kontext in Schulen, Hochschulen und Universitäten zu untersuchen, anzuwenden, zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Für die
2 | Am 22. April 1993 wurde Stephen Lawrence, ein ›Schwarzer‹ junger Mann, von mehreren ›Weißen‹ jungen Männern an einer Bushaltestelle getötet. Die Täter wurden nicht gefasst, und es gab massive Proteste gegen die nachlässigen Ermittlungstätigkeiten der britischen Polizei. Es wurde vom Parlament eine Untersuchung der Ermittlungstätigkeiten angeordnet. Im Februar 1999 wurde der Macpherson-Report dem Parlament vorgelegt (vgl. Bünger 2002: 239ff.).
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E inleitung In den gegenwärtigen Diskursen zum »Lebenslangen Lernen« im amtlich deutschsprachigen Raum Deutschlands und Österreichs werden zwei wesentliche Forderungen transportiert: In dem einen eher wirtschaftsorientierten bildungspolitischen Verständnis wird die lebenslange Teilnahme an Weiterbildung als ein notwendiger Beitrag jedes Individuums zum Erhalt der eigenen Erwerbsfähigkeit hochgehalten. Nur durch eine beständige Weiterentwicklung und Anpassung der eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen an die sich verändernden (Arbeits-)Marktanforderungen sei die eigene vielseitige Einsetzbarkeit auf diesem gewährleistet. Auf den Onlineseiten des deutschen Bundesministeriums für Bildung und Forschung ist in diesem Zusammenhang ausformuliert: »Daher ist eine Konzeption zum Lernen im Lebenslauf dem Ziel verpflichtet, Deutschlands wichtigste Ressource ›Bildung‹ stärker für wirtschaftliche Dynamik und persönliche Aufstiegschancen zu erschließen« (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2014). Ähnlich wird auch in der 2011 ausformulierten bildungspolitischen Strategie zum lebensbegleitenden Lernen in Österreich (LLL : 2020) argumentiert. So ist dort zu lesen, dass die Strategie das Ziel verfolge, »[…] einen entsprechenden Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung von Wissens- und Kompetenzressourcen in Österreich und in der EU zu leisten. Europa und damit auch Österreich dürfen im Wettlauf der Wissensökonomien nicht zurückstehen. Bildungsausgaben werden dabei als Investition in die Zukunft unserer Gesellschaft verstanden und müssen
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unabhängig von ihrer konkreten inhaltlichen Ausprägung auch unter Effektivitäts- und Effizienzgesichtspunkten gesehen werden.« (Republik Österreich 2011: 5) In dem anderen eher humanistischen Verständnis, das ca. seit den 1970er Jahren im Zusammenhang mit Weiterbildung diskutiert wird, sind es soziale Ideen wie die Entfaltung des ganzen Menschen, die Verbesserung der Lebensbedingungen und eine Demokratisierung der Gesellschaft, die im Vordergrund der Diskurse stehen, wenn es um den Topos des Lebenslangen Lernens geht (vgl. Pongratz 2010: 156). Es wird dabei davon ausgegangen, dass Weiterbildung ein zentrales Instrument sei, um mehr Chancengleichheit in der Gesellschaft zu schaffen. Daher sollte es einerseits unbedingt für alle möglich sein, teilzunehmen, andererseits schwingt aber auch eine implizite Aufforderung mit, die dadurch ermöglichten Chancen eben auch wahrzunehmen, um sich selber beruflich – aber eben vor allem auch persönlich – weiterzuentwickeln. Trotz eines scheinbar über weite Teile der Gesellschaft hinweg herrschenden Konsenses, dass Teilnahme an Weiterbildung auf die eine oder andere Weise für alle Mitglieder einer Gesellschaft für unterschiedliche Ziele doch summa summarum etwas Gutes und Weiterführendes sei, bleiben die Exklusionsmechanismen, die es bestimmten Personen ermöglichen, an Fort- und Weiterbildung umfänglich teilzuhaben, und andere Personen auf unterschiedlichen Ebenen konsequent ausschließen, doch überraschend unverändert. So konnte bereits in den 1950er und 1960er Jahren im Rahmen der großen Leitstudien der deutschen Adressat_innenforschung festgestellt werden, dass eine sogenannte »Weiterbildungsschere« existiert (vgl. Hildesheim Studie [Schulenberg 1957]; Göttinger Studie [Strzelewicz/Raapke/Schulenberg 1966]; Oldenburger Studie [Schulenberg 1978]). Die Metapher der »Weiterbildungsschere« steht für das Phänomen, dass vor allem diejenigen an Weiterbildung teilnehmen, die bereits über ein hohes sozioökonomisches und kulturelles Kapital verfügen, und diejenigen, die diesbezüglich über wenig Ressourcen verfügen, nur sehr eingeschränkt die Angebote von Weiterbildungseinrichtungen in Anspruch nehmen. Auch gegenwärtig – mehr als fünfzig Jahre nach den großen Leitstudien – findet sich diese Problematik in aktuellen Studienergebnissen bestätigt (vgl. Expertenkommission Finanzierung Lebenslangen Lernens 2004; Kuwan 2006; Bremer 2007; Barz/Tippelt 2007; Öztürk 2011; Sprung 2011; Bilger/AES 2013; OECD 2014 u.a.). Doch warum sind es genau diejenigen, die es doch anscheinend »am nötigsten
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haben«, die nicht oder nur sehr reduziert an Weiterbildung teilnehmen? Bezogen auf die Zielgruppe von Migrant_innen macht Gerhild Brüning vor allem die strukturelle Benachteiligung für die reduzierte Weiterbildungsteilnahme verantwortlich. Diese bezieht sie auf den rechtlichen Status, die Nicht-Anerkennung von Abschlüssen, die eingeschränkten Zugangsmöglichkeiten zum Arbeitsmarkt, geringe Deutschkenntnisse sowie die Unübersichtlichkeit des Bildungssystems (vgl. Brüning 2002: 19). Diese und weitere in den bisherigen Studien der Adressat_innenforschung ausgearbeiteten Gründe konnten im Rahmen eines in Norddeutschland durchgeführten qualitativ angelegten Forschungsprojektes: »Weiterbildungsteilnahme in der Migrationsgesellschaft – Warum deutsche Frauen mit einem sogenannten Migrationshintergrund (nicht) an Weiterbildung teilnehmen« (Heinemann 2014) noch weiter ausdifferenziert und aus der Perspektive der (Nicht-)Teilnehmerinnen spezifiziert werden. Deutsche Frauen, denen ein Migrationshintergrund zugeschrieben wird, wurden nach ihren subjektiven Teilnahmegründen befragt, und somit ihre jeweilige persönliche Heran- und Umgehensweise mit der Forderung nach der Teilnahme am Lebenslangen Lernen in den Vordergrund gestellt. Aus der Fülle der im Datenmaterial zu findenden Begründungen wird im Folgenden nur eines der Teilergebnisse vertiefter vorgestellt, welches von den Interviewpartnerinnen als besonders relevant gesetzt wurde, nämlich die Beherrschung der deutschen Bildungssprache als Voraussetzung für Weiterbildungsteilnahme. Diese Teilnahme bezieht sich dabei sowohl auf Angebote allgemeiner und politischer Bildung, welche eher auf die persönliche Weiterentwicklung und gesellschaftliche Teilhabe zielen, als auch auf berufsqualifizierende Angebote, die eine Einmündung in den Arbeitsmarkt bzw. Aufstiegschancen oder eine berufliche Veränderung ermöglichen wollen. Die in qualitativen Interviews befragten Frauen waren bezüglich verschiedener Aspekte sehr heterogen. Dies bezieht sich beispielsweise auf ihre Aufenthaltsdauer, ihr Einwanderungsalter, ihren Bildungsstand, ihr Alter während des Interviews und auch auf ihre Weiterbildungsteilnahme. Übergreifend bei allen, die nicht in einem amtlich deutschsprachigen Raum beschult wurden, schließt jedoch – unabhängig von allen anderen Aspekten – eine der zentralen genannten Begründungen für (Nicht-)Teilnahme die eigene Einschätzung der Beherrschung der deutschen Sprache mit ein. Neben der zentralen Begründungsfigur, die sich auf die den
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Befragten zugeschriebene natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit1 bezieht, geht es konkret um ihre Befürchtung, die deutsche Sprache nicht so zu beherrschen, wie es in Bildungsinstitutionen nötig wäre, um mithalten zu können. Denn auch wenn sie im Alltag sprachlich gut zurechtkommen, wird in den regulären Bildungsinstitutionen ein anderes Sprachregister genutzt, mit dem sie nur eingeschränkt vertraut sind. Dieses Sprachregister kann nach Gogolin u.a. (2013) als Bildungssprache bezeichnet werden. Im Rahmen des Modellprogramms »Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund – FörMig« wurde dieser schon länger existierende Begriff in umfänglichen Studien für die Bezeichnung und Beschreibung des besonderen, sich von der Alltagssprache unterscheidenden Sprachgebrauchs in schulischen Bildungsinstitutionen fruchtbar gemacht (vgl. Gogolin 2013: 11). Es konnte dabei nicht nur aufgezeigt werden, dass die Beherrschung dieses Registers eine notwendige Voraussetzung ist, um am institutionalisierten schulischen Lehr-Lern-Geschehen teilhaben zu können. Auch die besondere Struktur der Bildungssprache konnte ausdifferenziert dargestellt werden (vgl. Riebling 2013). Sie unterscheidet sich in der Struktur und dem Vokabular insofern von der Alltagsund Fachsprache, dass sie von einer anderen Art der grammatikalischen Strukturen geprägt ist – beispielsweise von einer Tendenz zu Objektivierungen, Nominalisierungen, Passivkonstruktionen, Funktionsverbgefügen, hypotaktischen Satzgefügen und erweiterten Attributen. Die Alltagssprache grenzt sich dagegen mit ihrem konkreten, parataktischen und dem Einbezug von para- und nonverbalen Mitteln deutlich ab (vgl. ebd.: 134f., 142ff.). Bisherige Untersuchungen zur Bildungssprache beziehen sich vor allem auf den schulpädagogischen Bereich. Im Rahmen der Interviewauswertung kann gezeigt werden, dass auch im Feld der Erwachsenenbildung die Beherrschung dieses speziellen Sprachregisters und die mit diesem Aspekt zusammenhängenden Ein- und Ausschlussmechanismen einen bedeutsamen Unterschied machen. Die Interviewpartnerin Yasemin betont: »Ja. Also für mich die große Grund ist die erste Grund ist die Sprache. Das kommt von Sprache. Äh, wenn eine Ausländer haben ganz gute Sprache, dann … bestimmt die machen alles.« 1 | Zum Begriff der natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit vgl. Mecheril (2003: 211).
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Im Folgenden werden anhand des Interviewmaterials vier zentrale Ausschlussorte herausgearbeitet, die im Zusammenhang mit Weiterbildung und Sprache wirksam werden. Der erste ist der eigene Körper, in dem sich das Erleben stets defizitär zu sein, nicht »gut« genug Deutsch sprechen zu können, eingräbt und zu einer Entscheidung gegen eine Weiterbildungsteilnahme führen kann. Der zweite ist die Ansprache durch die Bildungsinstitutionen, die sich traditionell in ihrer Ansprache und in der Wahl ihrer Inhalte auf eine bürgerliche Mittelschicht beziehen, wobei in den meisten Fällen zumindest der Bereich der Basisbildung durch aufsuchende Bildungsarbeit auch an andere gesellschaftliche Gruppen herangetragen wird. Der dritte sind die Kursangebote selber, in denen durch Lehrende fachliche Inhalte vermittelt werden, wobei implizit vorausgesetzt wird, dass die Bildungssprache durch die Teilnehmenden beherrscht wird, sodass keine sprachlichen Unterstützungsmaßnahmen mit eingeplant werden. Hinzu kommt, dass Kursleitende im Weiterbildungssektor nur in den wenigsten Fällen für eine explizite Didaktisierung der sprachlichen Anforderungen ihrer Fachinhalte ausgebildet sind. Der vierte Ort des Ausschlusses ist der Arbeitsmarkt, auf welchem sprachliche Anforderungen durch Entscheidungsträger_innen noch immer als legitimes Selektions- und Ausschlusskriterium herangezogen werden, sodass Verwertbarkeit von Weiterbildungsinhalten fraglich wird. Im Folgenden wird anhand theoretischer Überlegungen und mithilfe des Interviewmaterials aus dem oben erwähnten Forschungsprojekt zur Weiterbildungsteilnahme in der Migrationsgesellschaft (Heinemann 2014) ein kurzes Schlaglicht auf jeden dieser vier Orte geworfen, um die Ausschlussprinzipien nachzuvollziehen, und um den Raum auszuloten, in dem durch positioniertes pädagogisches Handeln eine Veränderung der aktuellen Ausgangslage ermöglicht werden kann.
A usschlussort : K örper Sich nicht sicher im Deutschen zu fühlen, bedeutet für viele der von diesem Gefühl Betroffenen gleichzeitig, sich nicht sicher im Umgang mit deutschsprachigen Menschen zu fühlen, sich nicht verständlich machen zu können, nicht ernst genommen zu werden und sich dadurch ständig als defizitär zu erleben. Die Grenzen zu der Frage, wann spricht jemand eigentlich »gut« Deutsch, sind dabei fließend. Deutsch sprechen können
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heißt unter Umständen gleichzeitig auch »zwischen den Zeilen« lesen können, den jeweiligen vor Ort geforderten Dialekt sprechen oder verstehen zu können und zu wissen, welches Sprachregister in welchem sozialen Kontext das Angemessene ist. Bourdieu fasst das Verfügen über kulturelle Techniken, in diesem Fall die Sprachkompetenz, als einen Bestandteil des inkorporierten kulturellen Kapitals auf (vgl. Bourdieu 1983: 186). Er beschreibt die Kontextualität von Sprache und Sprachgebrauch und macht deutlich, in welchem Umfang Sprache ein Teil des gesamten Körpers ist und nicht nur eine extern zu erlernende Kompetenz, die sich erwerben lässt, wie zum Beispiel die Fähigkeit, eine bestimmte Software zu bedienen. Nicht die korrekt beherrschte Grammatik ist ausschlaggebend, sondern das Wissen darum, was mit welchen Worten wann gesagt werden sollte und was nicht: »Die Grammatikalität ist keine notwendige und zureichende Bedingung der Sinnproduktion, und die Sprache ist nicht für die sprachwissenschaftliche Analyse gemacht, sondern um gesprochen und umständegerecht gesprochen zu werden. (Die Sophisten pflegten zu sagen, das Wichtigste beim Erlernen einer Sprache sei, zu lernen, im rechten Augenblick – kairos – das Rechte zu sagen.).« (Bourdieu/ Wacquant/Beister 2006: 176, Hervorh. im Original)
Die sprachliche Fähigkeit, Bourdieu fasst sie insbesondere als die phonologische Fähigkeit bestimmte Laute zu produzieren, ist wiederum der Teil, der direkt mit dem eigenen Körper, der eigenen Leiblichkeit verbunden ist und von Geburt an trainiert und in den Körper eingeschrieben wird. »Die Sprache ist eine Technik des Körpers, und die sprachliche und vor allem die phonologische Kompetenz ist eine Dimension der hexis des Körpers, in der die ganze Beziehung zur sozialen Welt zum Ausdruck kommt.« (Ebd.: 184)
Dies bestätigt auch die Interviewpartnerin Zara, wenn sie sagt, dass sie sich am Anfang in Deutschland durch das Nicht-Beherrschen der deutschen Sprache als vollständig handlungsunfähig wahrnahm: »ZARA: Hier konnte ich nichts machen, weil ich konnte keine Sprache. Ich konnte auch nicht sagen: ›Hallo, ich heiße Zara.‹«
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Die als junge Frau aus politischen Gründen aus dem Iran geflüchtete Leyla holt gleich zu Beginn des Interviews ihr Wörterbuch, weil sie befürchtet, ihr Deutsch könnte für das Interview nicht ausreichen. Sie arbeitet seit vielen Jahren als Verkäuferin und ist im täglichen Kontakt mit deutschsprachigen Kund_innen. Dennoch befürchtet sie, dass ihr in dieser besonderen Sprechsituation die Wörter fehlen könnten. Das Thema »Sprache« in Verbindung mit dieser Art »offizieller Interviewsituation« verunsichert sie offenbar, und sie beugt erwarteten Schwierigkeiten aktiv und vorausschauend mit der Zuhilfenahme des Wörterbuchs vor. »LEYLA: Erstmal hole ich meine Wörterbuch. I: Dein Wörterbuch? Warum? LEYLA: Meine Wörterbuch. Manche Wörte kenne ich nicht.«
Sie gebraucht das Wörterbuch letztlich im Gespräch nicht und sichert sich lediglich ab. Dies vermutlich aus Angst davor, im Interview als defizitär wahrgenommen zu werden. Tatsächlich teilen viele der Befragten die Erfahrung, dass ihre Fähigkeit, Deutsch zu sprechen, immer als eine mangelhafte wahrgenommen wird, wenn sie einen Akzent haben und teilweise das jeweils der Situation angemessene Wortregister nicht zur Verfügung zu haben. Mit dieser Wahrnehmung geht häufig gleichzeitig einher, dass ihnen durch Angehörige der Mehrheitsgesellschaft unterstellt wird, dass sie auch in anderen Bereichen weniger kompetent seien. İnci Dirim benennt diese Form von Linguizismus sehr klar und zitiert zur Verdeutlichung der Problematik die Aussage einer Migrantin aus Osteuropa, die formuliert: »Wenn man mit Akzent spricht, denken die Leute, dass man auch mit Akzent denkt oder so.« (Dirim 2010: 91)2 Eine hohe Sprachfertigkeit senkt die individuelle Hemmung an institutionalisierten Bildungsprozessen teilzunehmen, da die Sorge, allein aufgrund von Sprachschwierigkeiten dem Lernstoff nicht folgen zu können, sinkt. Vielfältige Diskriminierungserfahrungen hingegen können bei Personen zu der Entscheidung führen, sich nicht in formale Weiter2 | Dies gilt auch für deutschsprachige Kinder, die einen Dialekt sprechen und dadurch in der Schule mit dem Vorurteil konfrontiert werden, weniger leistungsfähig zu sein als Kinder, die Hochdeutsch sprechen (vgl. dazu die Ausführungen von Ulrich Ammon [1973: 131] zu den Fragen von »Dialekt, soziale Ungleichheit und Schule«).
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bildungszusammenhänge zu begeben, in denen sie sich täglich mit dem Erleben eigener Unzulänglichkeit auseinandersetzen müssten. Eine wertschätzende und fehlerfreundliche Haltung und eine Anerkennung der Fähigkeiten von Menschen, die nicht die Sprachkompetenz im Deutschen als Bewertungsmaßstab zugrunde legt, ist damit in pädagogischen Kontexten eine Grundvoraussetzung, um Teilnahmebarrieren abzubauen. Auch die Bildungsinstitutionen selbst senden diesbezüglich Doppelbotschaften.
A usschlussort : B ildungsinstitution Während einerseits nach außen zumindest durch die staatlich subventionierten Weiterbildungseinrichtungen eine Offenheit und Wertschätzung für alle Bevölkerungsgruppen verbalisiert wird, bleibt es im Konkreten bei einem Habitus, der ganz selbstverständlich monolingual deutsche Webseiten, Programmhefte, Mitarbeiter_innen und Kursangebote produziert. Nur dann, wenn es um zielgruppenspezifische und – dies heißt meist quasi automatisch – um Angebote aus dem niedrigqualifizierten Bereich geht, werden auch Methoden der aufsuchenden Bildungsarbeit angewandt und Menschen in ihren Stadtteilen mit mehrsprachigen Faltblättern und durch mehrsprachige Mitarbeiter_innen angesprochen. Wie wichtig es für den Zugang zu Einrichtungen sein kann, dass dort auch Personen arbeiten, die mehrsprachig sind und diese Kompetenz einsetzen dürfen, berichtet die persischsprachige Leyla im Interview. Sie erinnert sich an eine Beraterin im Jobcenter, die Persisch sprach, »alles« für sie gemacht hätte und ihr schließlich eine Weiterbildungsmaßnahme zur Erzieherin vermittelt hätte. »LEYLA: Dann sie hat mir geholfen und dann sie hat für mich alles gemacht. […] Wir konnten nicht sprechen, dann sie machen für uns, ja? Das war vorher so. Und das war Frau K. . Unsere Kollegin war eine persische Frau. Eine persische Frau gewesen und sie hat für mich gemacht. Weißt du, sie hat für mich gemacht und das war eine andere ausländische zum Beispiel türkische und das war für andere Länder auch. Ja? Das war viele Frauen. Sie hatten für Arbeitsamt gearbeitet.«
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Aus dieser Erfahrung heraus fordert Leyla Berater_innen einzusetzen, die die jeweilige Erstsprache ihrer Klient_innen sprechen und zudem in der Lage sind, ihnen Ängste vor den Bildungsinstitutionen zu nehmen, da durch die gemeinsame Sprache Informationen viel besser vermittelt und damit die Unsicherheiten gesenkt würden. »LEYLA: Zum Beispiel persisch. Zum Beispiel für indianisch für indische Leute. Dann sie machen die Information [für] die andere[n] Leute. Dann die Leute kommen mehr. Die Leute kommen mehr, weil ich weiß, aaah, [das] kann ich so machen. Dann genau wie Frau K. Ich sage dir, Frau K. hat viel gemacht, weil wir verstehen gar nicht Deutsch und sie informiert uns. Das war besser auch, weil die arbeitslos auch wurde weniger.«
Leyla ist sich aus ihrer eigenen Erfahrung heraus sicher, dass durch eine verbesserte Informationspolitik, die vor allem Beratung in der Erstsprache mit einschließt, sowohl die Arbeitslosigkeit als auch die Ängste und Hemmschwellen der bisher nicht oder nur wenig teilnehmenden Migrant_innen gesenkt werden können. Sie würden dadurch motiviert werden, »nach vorne gehen«. »LEYLA: Bestimmt viele Leute kommen. Weil vertrauen wir, weißt du, für diese Information. Dann haben wir keine Angst. […] Ich hatte keine Angst, was hat sie gesagt und dann ich geh vorne. […] Ich glaube, es wär gut, wenn […] eine Person gute Information gebe, mit Muttersprache. Dann sie können vorne gehen. Dann sie sind sicher.«
Leyla überträgt ihr eigenes Gefühl, sich durch die Ansprache in der Erstsprache sicher und aufgehoben zu fühlen, in die generelle Forderung, Informationen in jedem Fall in der Sprache zu vermitteln, in der sich die angesprochene Person kompetent und handlungssicher fühlt. Dies ist sicher nicht realistisch für jede der vorhandenen Sprachen in den Migrationsgesellschaften möglich. Dennoch wäre ein Beratungs- und Informationsangebot, das mehr Sprachen als das Deutsche einschließt, für eine Ansprache von mehrsprachigen Personen ein in jedem Fall noch immer an vielen Einrichtungen fehlender Zugangsort zu der geforderten und gewünschten Teilhabe am Lebenslangen Lernen. Ist die Zugangsschwelle an dieser Stelle gesenkt worden, muss der nächste Blick auf die Kursangebote selbst gerichtet werden.
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A usschlussort : K ursangebote Selbst wenn Personen bis zu dem Punkt kommen, den Weg in eine Weiterbildungseinrichtung geschafft zu haben und sich für ein Qualifizierungsangebot anzumelden, muss dieses Angebot sprachlich so gestaltet sein, dass Personen nicht nur am Kursort anwesend sein können, sondern eine aktive Teilnahme ihrerseits auch auf der fachlichen Ebene möglich ist. Nur dann können Lernziele erreicht und vorzeitige Abbrüche reduziert werden. Die abgeschlossene Teilnahme an den in Deutschland und Österreich gesetzlich verankerten sogenannten Integrationskursen, in denen Deutsch unterrichtet wird, bildet die Teilnehmenden dieser Kurse lediglich auf einer alltagssprachlichen Ebene im Deutschen aus. Bildungssprachliche Elemente kommen auf dem in den Kursen unterrichteten Niveau bis B13 nur sehr reduziert vor. Selbst wenn Teilnehmende also schon in einer Weiterbildungseinrichtung waren und dort Kurse besucht haben, ist der Übergang vom Deutschkurs in einen nicht-sprachbezogenen allgemeinbildenden oder fachlichen Qualifizierungskurs nicht so einfach möglich, wenn in diesem nicht weiterhin auf ihre sprachlichen Ausgangslagen Rücksicht genommen wird. Konkret heißt dies, dass die Fachinhalte durch Kursleitende auf eine Art und Weise vermittelt werden müssen, die die sprachlichen Anforderungen getrennt von den Fachthemen explizit macht (vgl. Lange/Gogolin 2010: 30f.). Was die besonderen sprachlichen Anforderungen des Lernstoffs sind, muss im jeweiligen Kontext ermittelt und in der Unterrichtsplanung mit berücksichtigt werden. Gemeint sind hier nicht nur die jeweils genutzten Fachbegriffe, sondern auch andere Elemente der Bildungssprache, die oben bereits kurz erwähnt wurden und deren ausführliche Erläuterung sich beispielsweise in den in Hamburg entwickelten FörMig-Materialien (Gogolin et al. 2013) finden. Sie sind vom Kontext Schule auch auf die Inhalte von Erwachsenenbildung übertragbar. Kursleitende der Erwachsenenbildung sind jedoch – wenn sie nicht gerade in Deutschkursen unterrichten – in den seltensten Fällen für eine sprachsensible Arbeit in den Kursen qualifiziert.
3 | B1 entspricht der Niveaustufe des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen, auf dem eine sogenannte »fortgeschrittene Sprachverwendung« möglich ist, wobei es nur um vertraute alltagsnahe Sprachverwendung geht (vgl. Glaboniat 2010).
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Auch für sie müssten Fortbildungs- und Unterstützungsangebote durch die Bildungseinrichtungen zur Verfügung gestellt werden. Neben der sprachbezogenen Didaktisierung der Lernhinhalte und einer diesbezüglichen Professionalisierung von Kursleitenden geht es gleichzeitig auch um eine pädagogische Haltung, die Normabweichungen von der Standardsprache Deutsch nicht gleichsetzt mit einer Dequalifizierung der Kursteilnehmer_innen. Vielmehr ist ihr Sprachstand als Ausgangslage für das eigene pädagogische Handeln zu verstehen, um allen Teilnehmenden einen maximalen Möglichkeitsraum für die eigenen Lernprozesse zur Verfügung zu stellen. Dies beinhaltet auch die immer neue Überlegung, an welcher Stelle im Bildungsprozess und für welche Art der Qualifizierung es eigentlich wirklich notwendig ist, »korrektes« Deutsch zu sprechen und orthografisch der Norm entsprechend zu schreiben. So ist für die Interviewpartnerin Zara bei der Wahl eines Weiterbildungsangebotes eines der relevantesten Kriterien die Frage danach, wie relevant das Beherrschen der deutschen Sprache für den Erhalt des Abschlusszertifikats sein würde. Zara nimmt schließlich an einer Fortbildung teil, bei der ihr zugesichert wird, dass es letztlich um inhaltliche (!) und nicht um sprachliche Aspekte in der Bewertung der Prüfung gehen wird: »ZARA: Ich möchte vielleicht, wenn er ins Kindergarten kommt, arbeiten, weil ich habe mir jetzt so eine Ausbildung doch gemacht als medizinische Fußpflege. […] I: Ok. Und dafür passte das jetzt doch mit dem Deutschen? Also da musstest du jetzt auch nichts schreiben wahrscheinlich? ZARA: Doch! Da war eine schriftliche Prüfung, aber, weißt du, […] ist es [ihnen] egal, was da steht, ob es richtig geschrieben ist oder falsch. Hauptsache der Antwort passt. […] Deswegen habe ich es gemacht (lachend).«
Wenn es den Teilnehmenden möglich war, nicht nur einen Zugang zur Bildungseinrichtung zu finden, sondern zudem durch eine förderliche und sprachsensible Lernumgebung ihre Qualifikation erfolgreich abzuschließen, wird die Frage der Sprachbeherrschung noch an einem vierten Punkt wirksam, nämlich dann, wenn es darum geht, die Weiterbildungsmaßnahme auch nachhaltig zu verwerten und mithilfe dieser am Erwerbsleben teilzuhaben.
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A usschlussort : A rbeitsmark t Personen, die seit Längerem im amtlich deutschsprachigen Raum leben und für sich bereits die Erfahrung gemacht haben, dass sie trotz ihrer Qualifikationen aufgrund des hohen Anspruchslevels, der an das »richtige« Deutsch gelegt wird, nicht die berufliche Stellung erreichen können, die sie anstreben, bezweifeln nachvollziehbarer Weise die Sinnhaftigkeit einer Weiterbildungsteilnahme. So befürchtet die sehr gut ausgebildete Milagros, niemals eine Leitungsposition bekommen zu können, da sie davon ausgeht, dass vor allem ihre schriftliche Sprachkompetenz nie ganz »perfekt«, das heißt den Erwartungen ihrer Arbeitgeber_innen entsprechend sein würde. Gleichzeitig wird ihr vermittelt, dass alle anderen Fähigkeiten und Qualifikationen, über die sie verfügt, dahinter unbedeutend würden. »MILAGROS: Und ich merke so, wenn ich am Anfang habe gedacht, ja ich würde super gerne in einer großen Stiftung arbeiten und habe ich gefragt. Und es gibt Null eh nicht gebürtige oder fast gar nicht eh … ausländische Mitarbeiter. Und das habe ich mir direkt an der, an der Personalleiter gefragt, bei der K.-Stiftung und bei der Plan I-Stiftung. […] Und das gibt’s nicht. Der Grund war, ja sie müssen sich perfekt ausdrücken können, schriftlich und das werde ich, das kann ich auch zugeben, ich kann mich sehr, sehr bemühen. Ich bin überzeugt, dass viele können das, aber ich werde das nicht, wahrscheinlich nicht schaffen. […] Und dann habe ich gemerkt, wenn ich eine gute Position erreichen möchte […]. Und das hat mich erstmal zu dieser Tragik gebracht. Und habe ich rumgefragt bei Freunden, die auch Ausländer sind und die finden das ein bisschen auch so.«
Bei Milagros Nachfrage in der Personalabteilung von zwei Stiftungen, wieso im gesamten Leitungsbereich dieser Stiftungen keine Personen arbeiten, die nicht schon in Deutschland geboren wurden, wird sie auf die hohe Sprachhürde verwiesen, die es zu überwinden gilt, wenn sie einen solchen Arbeitsplatz besetzen wollen würde. Die Vermutung, dass sie unabhängig von jeder anderen erworbenen Qualifikation nicht in der Lage sein wird, die deutsche Sprache so perfekt zu beherrschen, dass die ihr vermittelte Hürde des in Führungspositionen geforderten Sprachgebrauchs genommen werden kann, die orthografisch und grammatikalisch weitgehend fehlerfreies Schreiben einfordert, hat für Milagros eine »tragische Dimension«. Sie individualisiert das Problem zunächst und
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schreibt sich selbst eine »Schuld« zu, wenn sie sagt, dass sie »zugeben« muss, dass sie eine solche Perfektion bei allem Bemühen ihrerseits nicht erreichen wird. Sie bleibt jedoch nicht ausschließlich dabei, sondern sichert sich ab, dass es nicht (nur) um ein individuelles, sondern letztlich um ein strukturelles Problem geht, indem sie ihr Umfeld dazu befragt. Viele ihrer Freund_innen, die sie genau wie sich selbst als »Ausländer_ innen« beschreibt, kennen diese Problematik ebenfalls. Hier wirkt eine scheinbar »legitime Form« des Ausschlusses durch eine künstlich hoch gesetzte, kaum zu überwindende Sprachbarriere, die zudem nicht hinterfragbar scheint. Diese quasi unsichtbar wirkende Schranke wird auch schon bei Bourdieu und seinen Ausführungen zur symbolischen Gewalt beschrieben (vgl. Bourdieu 2005) und lässt sich hier im direkten Zusammenhang mit Weiterbildungsteilnahmen zeigen. Denn besteht aufgrund der eigenen Schriftsprachkompetenzen trotz hoher Qualifikation und der Teilnahme an hochqualifizierter Weiterbildung keine realistische Chance, einen dieser Ausbildung entsprechenden Arbeitsplatz zu erhalten, wird der Sinn einer weiteren Teilnahme fraglich. So ist die akademisch sehr gut ausgebildete Milagros verunsichert und betont: »MILAGROS: Manchmal ich denke, warum mache ich eine Weiterbildung, wenn ich sowieso nicht, fast null Chancen habe, eine Führungsposition zu bekommen?« (MZ: 57f)
Konkreter spricht sie im Gesamtzitat davon, dass es für sie als »Ausländerin« quasi unmöglich sei, eine Führungsposition zu bekommen. Mit dem Begriff »Ausländerin« verbindet sie außer dem Umstand, nicht in Deutschland geboren zu sein und einen nicht-deutschen Pass zu haben, eben auch einen bei ihr vorhandenen Frust darüber, die deutsche Schriftsprache nicht auf dem Niveau einer_s »Native Speaker« beherrschen zu können. Folglich zweifelt sie oft an der Sinnhaftigkeit ihrer Weiterbildungsteilnahme und zum Zeitpunkt des Interviews ist auch nicht klar, ob sie Deutschland nicht wieder verlässt, um an einem anderen Ort, an dem sie als »Native Speaker« anerkannt ist, beruflich Fuß zu fassen. So kommt es auch bei einer hochqualifizierten Akademikerin wie Milagros zu dem Punkt, dass Sprache für sie zu einem Exklusionskriterium wird. Wenn dies in ihrem Fall auch erst nach der Weiterbildungsteilnahme selbst wirksam wird, wirkt dieses Erleben doch auch wieder auf weitere Qualifizierungsmaßnahmen zurück. Eine Teilhabe am Lebenslangen
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Lernen in Deutschland, dessen Inhalte sie dann anschließend aufgrund des gesellschaftlichen Linguizismus nicht verwerten kann, erscheint für die gerade einmal 31-Jährige zukünftig nicht mehr sinnvoll.
F a zit Evident ist damit bei allen Befragten, die nicht in Deutschland geboren wurden, die hohe Relevanz, die das Erlernen und die Verfügbarkeit von (schriftlicher) Sprachkompetenz im Deutschen in Bezug auf Weiterbildungsteilnahme hat. Vier Zusammenhänge sind dabei besonders wichtig: Erstens wird die Teilnahme an Weiterbildung dann subjektiv sinnvoll, wenn Personen das Gefühl haben, durch die Teilnahme am Kurs handlungsfähiger und damit unabhängiger zu werden. Voraussetzung dafür ist eine verinnerlichte Einstellung, dass sie überhaupt in der Lage dazu sind, sich positiv weiterzuentwickeln. Diese Einstellung wiederum ist unter anderem abhängig von den eigenen Anerkennungs- bzw. Diskriminierungserfahrungen, wobei hier gesellschaftlich die Frage nach der (Nicht-)Beherrschung der Normsprache Deutsch auf bildungssprachlichem Niveau eine zentrale Legitimation für Unterscheidung und Hierarchisierung darstellt. Zweitens ist ein Zugang nur dann möglich, wenn es Personen gelingt, sich mit den eigenen sprachlichen Mitteln über vorhandene Kursangebote zu informieren. Hier kommt den Bildungsinstitutionen selbst die Aufgabe zu, ihre Angebote orientiert an den Erfordernissen einer mehrsprachigen Migrationsgesellschaft zu entwickeln und mehrsprachige Beratungsangebote zur Verfügung zu stellen. Drittens kommt Weiterbildungsteilnahme nur dann infrage, wenn die Annahme besteht, die Anforderungen des Kurses mit bereits vorhandenen Sprachkenntnissen erfolgreich bewältigen zu können. Dazu ist eine sprachliche Didaktisierung der Fachinhalte durch dafür qualifizierte Kursleitende notwendig und eine fehlerfreundliche Haltung, die undogmatisch mit dem Konzept der Normsprache umgeht. Viertens ist die Teilnahme an beruflich qualifizierender Weiterbildung nur dann eine naheliegende Option, wenn realistisch angenommen werden kann, dass die damit zusammenhängenden beruflichen Positionen nach der Weiterbildungsteilnahme durch die Teilnehmer_innen auch erreicht werden können. Die Sorge davor, am Arbeitsmarkt an der hohen Messlatte, die an die Sprachbeherrschung im Deutschen gelegt wird, zu scheitern, lässt den Sinn einer Teilnahme frag-
Lebenslanges Lernen nur für »Native« Speaker!?
lich werden und es kann eine klügere Entscheidung sein, sich gegen eine Teilnahme zu entscheiden. In einer Gesellschaft, die von Mehrsprachigkeit geprägt ist, bleiben Bildungssysteme gegenwärtig monolingual ausgerichtet, und die (Nicht-) Beherrschung des bildungsprachlichen Registers in der deutschen Sprache wird als Legitimation genutzt, um Menschen nicht nur von Arbeitsplätzen und Wohnungsmöglichkeiten fernzuhalten, auch staatsbürgerliche Rechte werden in direkter Abhängigkeit von ihrer Sprachkompetenz im Deutschen vergeben. Obwohl dieser Umstand keineswegs ein neuer ist, bleibt die Diskussion dazu seit Jahren an der Oberfläche der Problematik stecken. Umfassende empirische Studien und Projekte, wie sie etwa zur Bildungssprache Deutsch im Elementar- und Schulbereich existieren, stehen für die Institutionen der Erwachsenenbildung und Weiterbildung noch aus. Eine weitergehende Sensibilisierung von Gesellschaft und Bildungseinrichtungen für die Ausschlussmechanismen, die über Sprache legitimiert werden, und ein diesbezüglich bewusstes und widerständiges Handeln durch Institutionen der Weiterbildung wäre wünschenswert. Perspektivisch wäre so eine Teilhabe am Lebenslangen Lernen – unabhängig von den jeweiligen Motiven – auch für diejenigen sinnvoll und möglich, die keine Native Speaker sind und es aus der Perspektive der sie umgebenden Gesellschaft auch niemals sein werden.
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Bildungssprache Revisited: Schule, Sprache(n) und Machtkritik
Die Sprache der Schule Eine migrationspädagogische Kritik der Bildungssprache Paul Mecheril, Thomas Quehl »Der so genannte Standard ist ein in hohem Maße ideologisches Konzept, doch ist es notwendig, den richtigen Gebrauch zu lehren, während man gleichzeitig seine politischen Implikationen kritisiert.« (Paulo Freire in Shor/Freire 1987: 71)
M igr ation – B ildung – S pr ache Institutionen der formalen Bildung sind in mehrfacher Weise an der Produktion von gesellschaftlichem Wissen beteiligt. In der sozialen Praxis der Bildungsinstitutionen wird der Zugang zu symbolischen und materiellen Ressourcen ermöglicht und unterstützt oder aber eingeschränkt und im ungünstigsten Fall blockiert. Zugleich mit dieser mehr oder weniger gelingenden Vermittlung von in den Lehrplänen festgelegtem Wissen erfolgen aber auch Subjektivierungsprozesse, und Lerner/innenIdentitäten werden geschaffen, bekräftigt oder eingeschränkt. Ob Lernprozesse gelingen oder nicht, hängt in wesentlichem Maße davon ab, ob die Lernenden eine Möglichkeit erhalten, ihre eigenen Disponiertheiten in die schulischen Lernprozesse einzubringen bzw. ob es umgekehrt der Institution Schule gelingt, sich auf die unterschiedlichen Disponiertheiten der Schüler/innen einzustellen.1 Dabei ist Sprache gleichsam am 1 | Wir beschäftigen uns in diesem Beitrag mit der Bildungsinstitution Schule im amtsdeutschsprachigen Raum als derjenigen Einrichtung formaler Bildung, die dem gesellschaftlichen Selbstverständnis nach von allen besucht wird. Da dieses
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Schnittpunkt der Erweiterung des individuellen Handlungsraums durch Lernprozesse und des curricularen Wissens verortet. Dieser Zusammenhang gilt allgemein, gesellschaftliche Aufmerksamkeit findet er häufig jedoch erst mit Blick auf sprachlich ›Andere‹ (vgl. Dirim/Mecheril 2010: 128). Damit wird nicht nur die Frage relevant, wie sich im gesamtgesellschaftlichen Gefüge vorhandene Dominanzverhältnisse auf die Bedingungen und Praktiken der Bildungsinstitutionen auswirken, sondern zugleich, wie bildungspolitische Debatten auf die Konstruktion und Wahrnehmung von Gruppen Einfluss nehmen. Angesichts der im deutschen Bildungssystem besonders engen Koppelung zwischen der sozioökonomischen Situation sowie dem kulturellen Kapital einer Familie und den Bildungserfolgschancen ihrer Kinder in der Schule (vgl. Gogolin 2013: 7) kann die in den vergangenen Jahren unter dem Begriff ›Bildungssprache‹ erfolgte zunehmende Thematisierung des Zusammenhangs von Bildungsprozessen und Sprache die Möglichkeiten des Eingreifens in die bestehenden Bildungs(ungleichheits)verhältnisse potenziell erweitern. Auch etliche Jahre nach der ersten PISA-Veröffentlichung besteht jedoch nach wie vor das Problem einer Deutsch-als-Zweitsprache-Förderung, die beim Feld Migration und Bildung – letztlich in ausländerpädagogischer Manier – einseitig die Förderung von Kompetenzen bei einer dadurch ›anders‹ werdenden migrationsgesellschaftlichen Zielgruppe im Blick hat. Assimilation erlebt ein bildungspolitisches Comeback (vgl. Fürstenau 2012: 8). Aus migrationspädagogischer Perspektive können die Bemühungen um die Überwindung der Bildungsbenachteiligung beispielsweise lebensweltlich mehrsprachiger Schüler/ innen den symbolischen Grenzposten ›deutsche Sprache‹ (vgl. Terkessidis 1997: 179) nur dann außer Kraft setzen, wenn der Zusammenhang von Schulerfolg und Sprache grundsätzlich angesprochen und nicht auf die Figur ›Erwerb der deutschen Bildungssprache‹ beschränkt wird, und wenn dabei jene Zugehörigkeitsordnungen, in denen Verknüpfungen von Nation und Sprache erfolgen, infrage gestellt werden.
Selbstverständnis der Ausländergesetzgebung untergeordnet ist, ist dieses ›von allen‹ zugleich einzuschränken. Denn aufgrund ihres Flüchtlingsstatus oder der illegalisierten Lebenslage ihrer Eltern werden – regional unterschiedlich – Kinder und Jugendliche von der Schulpflicht oder vom Schulbesuch ausgeschlossen (siehe z.B. Klingelhöfer/Rieker 2003).
Die Sprache der Schule
Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, das Konzept der Bildungssprache angesichts der einflussreichen Rolle, die ihm in aktuellen Diskussionen über Bildungsungleichheiten zukommt, aus einer migrationspädagogischen Perspektive kritisch zu beleuchten – durchaus als Offerte zu seiner Weiterentwicklung. In einem ersten Schritt wird gefragt, welches Potenzial mit dem Konzept der Bildungssprache für eine Kritik an der Schule als Institution einhergeht. In einem zweiten Teil erläutern wir in drei Punkten eine Kritik am Konzept der Bildungssprache und umreißen abschließend, welche Konsequenzen daraus für eine nüchterne Pädagogik sprachlicher Vielfalt resultieren.
Bildungssprache als Institutionenkritik Das Konzept der Bildungssprache wurde im Zuge des Modellprogramms »Förderung von Kindern und Jugendlichen mit MigrationshintergrundFörMig« im deutschsprachigen Raum in die fachwissenschaftliche, bildungspolitische und unterrichtliche Entwicklung eingebracht (zusammenfassend Gogolin 2013) und ist seitdem zu einem verhältnismäßig etablierten Bestandteil der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen schulischen Bildungsmodellen geworden.2 Bei der Beschäftigung mit dem Konzept hinsichtlich der Frage, welche neuen Handlungsräume es für die Thematisierung von Sprache und Schulerfolg in der Migrationsgesellschaft eröffnet, ist zu berücksichtigen, dass es sich um ein ›Feld in Bewegung‹ handelt. Es beschreibt ein theoretisch interdisziplinär verortetes Feld, bei dem auf den Zusammenhang von schulischem Wissenserwerb und sprachlichen Kompetenzen und deren Verflechtung mit Aspekten sozialer Herkunft fokussiert wird (vgl. Riebling 2013: 108). Unter Rückgriff auf die wissenssoziologische Konzeption von Bildungssprache, wie sie Jürgen Habermas (1977) beschrieben hat, trägt der aktuelle Ausdruck ›Bildungssprache‹ der Tatsache Rechnung, dass für Schulerfolg nicht die Beherrschung alltagssprachlicher Sprachvarianten, sondern jener Sprachkompetenzen entscheidend ist, die eine fortlaufende Aneignung von schulischem Wissen ermöglichen. Bildungssprache wird verstanden als ein Register, »mit dessen Hilfe man sich mit den Mitteln der Schulbildung ein Orientierungswissen verschaffen kann« (Gogolin et al. 2011a: 2 | Für ausführliche Darstellungen siehe z.B. Cummins (2000: 57ff.); Gogolin et al. (2013); Vollmer/Thürmann (2013).
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15f., Hervorh. im Original). Eine solche Beschreibung verweist einerseits auf institutionelle Aspekte – Schule als der Ort, an dem die sprachlichen Fähigkeiten fortlaufend erweitert werden müssen, um die Schüler/innen in die Lage zu versetzen, sich die schulischen Inhalte in ihrer wachsenden Komplexität und als eben im Medium Sprache vermitteltes Wissen anzueignen – und andererseits auf den sprachtheoretischen Rahmen der systemisch-funktionalen Linguistik nach Michael A.K. Halliday. Der Ansatz der Functional Grammar (Halliday 1985) ermöglicht es, bestimmte Strukturmerkmale einer sprachlichen Variante oder eines Registers zu beschreiben, die diese in Abhängigkeit zu der Funktion, die sie erfüllen sollen, entwickelt haben. Dieser sprachtheoretische Zusammenhang ist für das grundlegende Verständnis von ›Bildungssprache‹ als dem im Kontext der Bildungseinrichtungen funktional entstandenen und relevanten sprachlichen Register bedeutsam. »Bildungssprache ist (Bildungs-)Ziel und Handwerkszeug der Institution Schule gleichermaßen« (Döll 2013: 171) und somit durch Ziele und Traditionen der Bildungseinrichtungen geprägt, doch in systematischer Weise auch nur in ihnen zu erwerben. Zu diesen Traditionen der Schule in Deutschland gehört es bezeichnenderweise, nicht nur von der Einsprachigkeit der Schüler/innenschaft auszugehen, sondern zugleich davon, dass die Sprachentwicklung der Kinder und Jugendlichen im Laufe der Schulzeit quasi natürlich oder implizit erfolgen würde (vgl. Gogolin 1994: 41ff.). In diesem Sinne ist das Handwerkszeug zwar hör- und sichtbar, doch bleibt Sprache zugleich das ›geheime Curriculum‹ (vgl. Christie 1985) in einer Schule, die es traditionell nicht als ihre Aufgabe angesehen hat, die für den Schulerfolg erforderliche Sprache systematisch zu vermitteln. Zumal sich in der Schule auch die mündliche Sprache am bildungssprachlichen Register orientiert, sind jene Gruppen von Schüler/innen, die nicht die Gelegenheit haben, sich diese Sprachvariante außerhalb der Schule anzueignen, strukturell benachteiligt. Die Entstehungsbedingungen der Benachteiligung sind in den schulischen Routinen normalisiert und somit unsichtbar gemacht worden. Eine funktionale Perspektive und eine Beschreibung von Sprache, die davon ausgeht, dass Sprache und ihre grammatischen Strukturen nicht als regelgesteuerte Einheiten und Kombinationen, sondern im Gebrauch und in der Interaktion mit anderen Sprecher/innen und im Prozess eines gemeinsamen Herstellens von Bedeutungen erworben werden, bieten wichtige didaktische Perspektiven. Es ist in diesem Rahmen von beson-
Die Sprache der Schule
derer Bedeutung zu klären, wie Unterrichtsprozesse so zu gestalten sind, dass Schüler/innen den Übergang von der Alltags- zur Bildungssprache bewusst vollziehen und sich dabei neue sprachliche Mittel aneignen können (siehe z.B. Tajmel 2009; Gogolin et al. 2011b; Quehl/Trapp 2013). Ein zentrales Anliegen der Forschungsarbeiten im Feld von Bildung und Migration der vergangenen 20 Jahre (z.B. Gogolin/Neumann 1997; Blair/ Bourne 1998; Cummins 2000; Gomolla 2005; Gomolla/Radtke 2007) war die Frage, auf welchen Ebenen der Schule Veränderungen vorgenommen werden müssen, um die Benachteiligung jener Schüler/innen im System Schule zu überwinden, die man – im deutschen Sprachgebrauch – zuerst ›Ausländerkinder‹, dann ›Migrantenkinder‹ und schließlich ›Schüler/innen mit Migrationshintergrund‹ nannte. Dieser institutional turn zielte auf eine Abkehr von der Defizitperspektive, die die Ursachen für Bildungsmisserfolg bei den Familien der Kinder und Jugendlichen verortete, und rückte stattdessen Routinen und Abläufe der Institution Schule in den Fokus. Zugleich wurde es möglich, Mechanismen institutioneller Diskriminierung zu thematisieren und damit auch zu fragen, wie sich gesellschaftlich existierende Macht- und Dominanzverhältnisse in diesen schulischen Routinen und Abläufen widerspiegeln. Der sprachlichen Gestaltung der Schule und beispielsweise der Art und Weise, in der im Unterrichtsalltag existierende sprachliche Erwartungen explizit gemacht werden, kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu. Die Kinder und Jugendlichen bringen unterschiedliche Erfahrungen mit Sprache(n) in die Schule mit, und diese Erfahrungen konstituieren heterogene Lerngruppen (vgl. Fürstenau 2012: 6f.). »Gleichwohl wird die Bedeutung sprachlicher Differenz für das erfolgreiche Lernen im Unterricht in der Schule erst hergestellt.« (Ebd.: 7) Von großer Relevanz ist daher die Frage, wie grundsätzlich der Zusammenhang zwischen sprachlicher Gestaltung der Schule und der Bildungsbenachteiligung zum Thema gemacht wird. Eine Auseinandersetzung mit Ansätzen, die sich in grundsätzlicher Weise mit dieser Verknüpfung beschäftigen, erfolgte im deutschsprachigen Raum nur kurz in den 1970er Jahren und verschwand dann wieder »sang- und klanglos aus den Debatten« (Gogolin 2006: 83). Vor diesem Hintergrund ist festzustellen, dass die Konzeption ›Bildungssprache‹ den Themenkomplex ›Schule und Sprache‹ wieder auf die bildungspolitische Tagesordnung setzte. Indem die institutionelle Zuständigkeit für die Vermittlung der sprachlichen Kompetenzen eingefordert
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wird, eröffnet das Konzept Möglichkeiten, über die Lehrer/innenaus- und Fortbildung und die Schul- und Unterrichtsentwicklung/Didaktik in die Institution Schule einzugreifen. Aus migrationspädagogischer Sicht lässt sich mit der bildungssoziologischen Analyseperspektive von Basil Bernstein die potenzielle Reichweite des Konzepts abstecken: »Wie eine Gesellschaft das schulische Wissen, das sie als offizielles begreift, auswählt, in Kategorien einteilt, verteilt, vermittelt und evaluiert, spiegelt sowohl die Verteilung von Macht als auch die Prinzipien der sozialen Kontrolle wider.« (Bernstein 1971: 47) Dabei wird das formale Bildungswissen durch drei Übermittlungssysteme umgesetzt: das Curriculum definiert, was als gültiges Wissen zählt, die Pädagogik definiert, was als gültige Übermittlung von Wissen gilt, und die Evaluation legt schließlich fest, was als gültige Umsetzung dieses Wissens auf der Seite der Schüler/innen angesehen wird (vgl. ebd.). Das Konzept Bildungssprache greift potenziell in das gesamte Spektrum dieser drei Übermittlungssysteme ein: Sprachbildung erhält im Curriculum, d.h. im System des offiziellen Wissens, einen eigenständigen Stellenwert. Dieser Platz muss in der Schule allgemein pädagogisch gestaltet und dabei durch die Routinen der Fachdidaktiken realisiert werden (siehe z.B. Becker-Mrotzek et al. 2013). Der Ansatz der systemisch-funktionalen Linguistik kann tragfähige Anknüpfungspunkte für eine dominanzkritische Perspektive bieten. Denn ein Verständnis von Sprache als einer in funktionalen Kontexten erworbenen und dabei in der Interaktion fortlaufend erweiterten ermöglicht es, Aspekte von Macht- und Dominanzverhältnissen und von Partizipation auf den verschiedenen gesellschaftlichen, institutionellen oder auch interaktionellen Ebenen in eine Auseinandersetzung mit den ›sprachlichen Verhältnissen‹ in der Schule einzubeziehen. So kommen die Unterrichtsforscherinnen Jenny Hammond und Pauline Gibbons zu dem Schluss, dass eine solche Auffassung von Sprache-im-Kontext die Defizitperspektive, mit denen zwei- und mehrsprachig aufwachsende Kinder und Jugendliche oft konfrontiert sind, infrage stellt, weil Sprachentwicklung als ein Lernprozess deutlich wird, bei dem eine zunehmende Zahl von Registern und Genres beherrscht wird, »statt Entwicklung in den relativen Begriffen von ›mehr‹ oder ›weniger‹ Sprache zu verstehen« (Hammond/Gibbons 2005: 10). Das ist ein Hinweis auf den grundlegenden (migrations-)pädagogisch bedeutsamen Zusammenhang von Sprache und Handlungsfähigkeit. Die Handlungsfähigkeit, die die/der Einzelne durch die Aneignung einer
Die Sprache der Schule
Sprache erlangt, ist dabei mehrschichtig: Sie hat eine soziale Komponente, insofern die/der Einzelne das Vermögen erlangt, sich mitzuteilen und in diesem Prozess die Erfahrung macht, in sozialen Verhältnissen an-erkannt und geachtet zu werden. Sprache ist aber auch sozial in dem Sinne, dass sie den Einzelnen vorgängig ist. Das Erlernen der Wörter ist immer auch ein sich zunehmend ausdifferenzierendes Erlernen von Bedeutungen, Deutungsmustern und Norminhalten, und im Zuge dessen wird individuelle und soziale Handlungsfähigkeit erlangt. Dabei fungiert Sprache als Vermittlerin zwischen der kollektiven Lebensform3 (der Gruppe, die diese Sprache spricht) und der individuellen Lebensweise, die die Einzelne entwickelt, indem sie diese Lebensform und Sprache, diesen Sprachstil oder diese Sprechweise nicht einfach kopiert, sondern in aktiver Aneignung, Auslegung und auch Umgestaltung des Vorgegebenen reproduziert und dabei zu ihren eigenen macht. Sprache schafft so eine Orientierung durch die Einbindung der Einzelnen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gesellschaftlicher Kontexte. In der Sprache aber muss jede Einzelne auch ihre Stimme finden, die sie für sich selbst und für die anderen identifizierbar macht. Wenn im alltäglichen Handeln der angenommene Bezugsrahmen einer geteilten Sprachwelt bestätigt wird, ist die wichtige Voraussetzung von sozialer Handlungsfähigkeit qua Sprachpraxis erfüllt. Sprache ist so eine Voraussetzung von sozialer Teilhabe und Wirksamkeit. Doch auch das Umgekehrte gilt: Da das fortlaufende Erlernen von Sprache ein Lernen in Bedeutungskontexten durch Praxis und Interaktion ist, ist die handelnde Teilhabe an diesen Kontexten die Voraussetzung, um die Sprache zu erlernen. Sprache ist so ein bedeutender Weg zur Erschließung von Welt oder immer neuer Welten im Sinne von sozialen Kontexten, die sich im Laufe der Zeit zunehmend von der Reichweite des Alltags der Sprecher/innen entfernen und damit öffentlicher und formeller werden und zu deren Bewältigung eine zunehmend kontextunabhängige Sprache erforderlich ist. Je selbstbewusster und differenzierter der mündliche und schriftliche Sprachgebrauch, desto selbstverständlicher kann sich die/ der Sprechende im jeweiligen Kontext aufhalten und als desto wirksamer kann sie/er ihr/sein (Sprach-)Handeln erfahren (vgl. Mecheril/Quehl 2006b: 356ff.). 3 | Der Begriff Lebensform verweist auf kulturelle und kollektive Grundlagen individueller Handlungsfähigkeit im Anschluss an Wittgenstein (1977: Ab. 19,23).
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Das Konzept der Bildungssprache richtet den Blick auf die Institution Schule als Handlungsfeld und auf die sprachlichen Fähigkeiten, die erforderlich sind, um sich darin als Schüler/in erfolgreich aufzuhalten. Zugleich folgt aus dem zuvor beschriebenen Zusammenhang von Sprache, Anerkennungsverhältnissen und Handlungsfähigkeit sowie aus der spezifischen Position der Schule zwischen dem Kontext der Familie einerseits und der perspektivisch daran anschließenden beruflich-ökonomischen Sphäre andererseits, dass die an Schule professionell Beteiligten sich mit den Übergängen zwischen diesen Kontexten auseinandersetzen müssen. Denn es ist der Bildungsauftrag der Schule, sicherzustellen, dass diese Übergänge gelingen und die Grenzen zwischen den Handlungssphären nicht zu unüberwindlichen oder einschränkenden Hindernissen werden, die einer fortlaufenden Handlungserweiterung im Wege stehen. Es ist die Stelle der Übergänge zwischen den Kontexten, an der Aspekte von Dominanz und Zugehörigkeitsordnungen besondere Wirksamkeit entfalten. Wenn die aktuelle gesellschaftliche Verfasstheit und ihre Dominanzverhältnisse Einfluss auf die Gestaltung der Schule haben, so sind diese Verhältnisse sowohl materiell als auch symbolisch wirksam und schlagen sich in Einschluss- oder Ausschlusspraxen nieder. Daher sind beide Ebenen gleichermaßen relevant. Um am Übergang zwischen dem familiären Kontext und der Schule4 die unterschiedlichen Disponiertheiten der Schüler/innen aufzugreifen und zu einem tragfähigen Passungsoder Resonanzverhältnis (vgl. Mecheril et al. 2010a) zu kommen, müssen das Kind, der/die Jugendliche oder die Eltern sich selbstverständlich im Kontext Schule aufhalten und ihr Sprachhandeln als in der Teilnahme wirksam und erfolgreich erfahren können.
K ritik der B ildungsspr ache Geht man über die binneninstitutionelle und vornehmlich didaktisch interessierte Reflexion der Schule hinaus, so zeigt sich, dass der Umstand, dass ›Bildungssprache‹ gegenwärtig »zu einer Art Leitvokabel im aktuellen bildungspolitischen und pädagogischen Diskurs geworden« (Feilke 4 | Übergang bezeichnet hier nicht den des Schuleintritts, sondern denjenigen vom Kontext der Familie zum Kontext der Schule als einen die gesamte Schullaufbahn hindurch zu vollziehenden Übergang.
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2012: 4) ist, in mehrfacher Hinsicht mit Verkürzungen einhergeht, die problematisch sind. Denn sowohl hinsichtlich der in der Migrationsgesellschaft vorhandenen natio-ethno-kulturellen Dominanzverhältnisse als auch im Hinblick auf die Gesamtbedingungen des unter Bedingungen kapitalistischer Produktivitätslogik stark selektierenden deutschen Schulsystems muss sich das implizite Versprechen ›Sprich (bildungssprachliches) Deutsch, und alles wird gut‹ in seiner reduktiven Suggestion als illusionär erweisen. Wir wollen im Wesentlichen auf drei Schwierigkeiten aufmerksam machen, die mit der Reduktion des Themenfeldes Migration und Bildung auf ›Bildungssprache‹ verbunden sind: a) Diskriminierungsstrukturen werden zu wenig benannt und beachtet, b) das Bildungsversprechen im Konzept der Bildungssprache verschleiert kapitalistische Ungleichheitsverhältnisse, c) durch den Sprachfokus gerät die Auseinandersetzung mit Inhalten in den Hintergrund.
a) Diskriminierungsverhältnisse Wenn außerhalb der Schule wirksame Diskurse und informell in der Schule bedeutsame Deutungspraktiken festlegen, wer jeweils als die (natio-ethno-kulturelle) Andere gilt und was im Zuge dessen als sprachliche ›Andersartigkeit‹, dann steht das Konzept der Bildungssprache hierzu in einem spannungsvollen Verhältnis. So eröffnet das Konzept die Möglichkeit, bei Übergangsentscheidungen in die Sekundarstufe auf die Einschätzung der bis zu diesem Zeitpunkt von den Schüler/innen erworbenen sprachlichen Fähigkeiten in der deutschen Sprache als Selektions- und Diskriminierungskriterium zu verzichten. Auch werden mit der Argumentation, dass »dichotome Kategorisierungen wie ›Kinder deutscher Herkunftssprache vs. Kinder nichtdeutscher Herkunftssprache‹ oder ›zugewanderte vs. einheimische Kinder‹ die Komplexität des sprachlichen Kompetenzerwerbs nicht ausreichend erfassen und weitere Differenzlinien einzubeziehen sind« (Lengyel 2010: 599), binäre Teilungen entlang des rassismuskritisch bedeutsam zu kritisierenden natioethno-kulturellen Unterscheidungsschemas infrage gestellt; etwa auf der schulorganisatorischen Ebene die Zweiteilung, die mit additiven Formen der Sprachförderung einhergeht (vgl. Dirim 2014: 96). Wenn Bildungssprache mit einer quasi objektiv gegebenen Notwendigkeit der Aneignung schulischer Wissens- und Sprachformen be-
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gründet wird, treten Aspekte des außercurricular bei den Schüler/innen vorhandenen Wissens, ihrer biografischen Lagerungen und darin sich spiegelnde Zugehörigkeits- und Diskriminierungserfahrungen, aber auch Diskriminierungsverhältnisse in der Schule in den Hintergrund. Gerade durch die Hervorhebung des Umstandes, dass zum Wissenserwerb die Aneignung von Bildungssprache erforderlich ist, erscheint das Risiko einer Vernachlässigung der Auseinandersetzung mit anderen Aspekten groß. Aus einer migrationspädagogischen Perspektive ist die Auseinandersetzung mit lebensweltlichen und schulischen Diskriminierungsverhältnissen und das heißt auch mit der Position von Lehrer/innen in migrationsgesellschaftlichen Diskriminierungsverhältnissen unverzichtbar. Welchen Wissensbeständen ein legitimer Status zu- oder abgesprochen wird, wem Wissen zugänglich gemacht wird und wem nicht, »ist eng verknüpft mit Machtverhältnissen und ist von zentraler Bedeutung für die Partizipation an und die Erfahrung von schulischer Bildung« (Youdell 2011: 8). Rassismus beispielsweise kann als soziale Ordnung verstanden werden, als über die iterative Performanz von Bildern, Worten und Normen hergestellte und gesicherte Rahmungen, die (sprachliche) Handlungen und Selbstverständnisse zur Folge haben. Rassistische Rede verletzt, weil Rassismus als moderne soziale Ordnung – obschon offiziell verfemt – Geltung beansprucht und realisiert. In dieser Ordnung hat die Zuordnung von Menschen zu symbolischen Positionen und materiellen Orten etwa durch sprachliche Praxen – die unabhängig von der Intention der Sprechenden wirken können – gewichtige Bedeutung. Diese rassistischen Unterscheidungen sind wirksam, weil sie – wie auch hegemoniale Geschlechterverhältnisse oder die Unterscheidung zwischen behindert und nicht-behindert – zu grundlegenden modernen Verfahren der Unterscheidung und der Positionierung des Menschen gehören. Solche Unterscheidungen stellen aufgrund ihrer Geschichte und ihrer Verankerung auf den relevanten Ebenen gesellschaftlichen Funktionierens wie den Medien, der Politik und der Bildung (vgl. die Beiträge in Scharathow/Leiprecht 2009; Jennessen/Kastirke/Kotthaus 2013) nach wie vor Bestandteile des Wissenshaushalts von Menschen und Institutionen dar. Vor diesem Hintergrund ist etwa die Auseinandersetzung mit der Überführung von lebensweltlichen Erfahrungen in schulisches Wissen ein
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wichtiger Bereich pädagogisch-didaktischer Arbeit im Klassenzimmer und ist relevant für das Gelingen oder Scheitern von Partizipations- und Bildungsprozessen. Die Rekonstruktion von Alltagswissen auf einer abstrakteren Ebene in Form von schulischem Wissen und die daran anschließende Konstruktion von Wissen in fachsprachlichen Begrifflichkeiten (vgl. Schleppegrell 2004: 23), die dem Konzept der Bildungssprache zugrunde liegen, kann subjektiv nachhaltig und bildungsrelevant nur dann gelingen, wenn die Schule Alltagswissen und damit auch subjektiv unterschiedliche Erfahrungs- und Wissensbestände zur Kenntnis nimmt – dazu gehören auch Diskriminierungs- und Zugehörigkeitserfahrungen. Es ließe sich daher sagen, dass eine pädagogische Beschäftigung mit Bildungssprache von einem solchen Zusammenhang und diesen sozialen Bedingungen als Erfahrungsraum der Schüler/innen nicht absehen kann, will sie nicht Gefahr laufen, zu einer Perspektive beizutragen, in der Sprache verdinglicht wird. Eine verdinglichende Sichtweise auf Sprache widerspricht der in der Diskussion um Bildungssprache eingenommenen Perspektive von ›Sprache-im-Kontext‹ und ihrer prozessualen Orientierung. Sie spielt aber zugleich sowohl in der von ökonomistischen Erwägungen gekennzeichneten gesellschaftlichen Debatte um eine Veränderung der Bildungssituation benachteiligter Gruppen als auch bei der ›Kitt-Funktion‹ der deutschen Sprache zwischen den Kategorien ›Nation‹, ›Ethnizität‹ und ›Kultur‹ eine wichtige Rolle. Dass Diskriminierungsphänomene weiterhin vorrangig als individuelles Vorurteil behandelt werden und so strukturelle Diskriminierung weitestgehend de-thematisiert bleibt, trägt dazu bei, dass Assimilationsforderungen auf vielfältige Weise vorgebracht werden und bestehen bleiben. Die ›deutsche Sprache‹ spielt dabei eine so wichtige Rolle, weil sich ihre Bedeutung für formelle schulische Bildungsprozesse scheinbar von selbst versteht und eine Augenscheinvalidität oder -evidenz zu haben scheint. Konzepte, die die Vermittlung von Bildungssprache nicht an die reflexive Auseinandersetzung mit (zumeist indirekten, subtilen) Diskriminierungsroutinen knüpfen, sind insofern gefährdet, einen Beitrag zur Stärkung von Assimilationspraktiken zu leisten, mit und in denen die ›anderen Sprachen‹ herabgestuft und ihren Sprecher/innen ein inferiorer Ort zugewiesen wird. İnci Dirim hat den Begriff des ›Neo-Linguizismus‹ in die Debatte eingebracht, um analytisch zu fassen, dass es sich beim Diskurs um Sprache(n) und gesellschaftsanalytisch abstinenten, mithin
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reduktiven Praktiken der ›Sprachförderung‹ um eine Form an rassistische Unterscheidungsmuster anschließender Phänomene handeln kann, die als eine eigenständige Ausgrenzungsdynamik mittels Sprache verstanden werden sollte (vgl. dies. 2010: 95). Es zeigt sich hier nicht nur das, was als monolingualer Habitus bezeichnet worden ist (Gogolin 1994), sondern die auf ökonomische Rationalität (s.u.) und nicht mehr ›Volk‹ setzende Forderungshaltung eines mittlerweile reflexiven und expliziten Sprachassimilationismus. An rassistische Muster der Unterscheidung anschließende natioethno-kulturelle Deutungen stehen in allen Bereichen des Zugehörigkeitsraums Deutschland5 zur Verfügung und können unabhängig von formellen Einschlussregelungen und -semantiken in vielfältigen Zusammenhängen aktiviert werden (vgl. Mecheril 2010: 14). Dabei erhöht der Topos ›Sprache‹ die Flexibilität des natio-ethno-kulturellen Distinktionsschemas noch einmal, weil ihm zusätzlich eine ›Kitt-Funktion‹ zukommt, mit der Ausgrenzungen symbolisch aufrechterhalten werden, während rhetorisch für den materiellen Einbezug ›der Anderen‹ eingetreten werden kann. Materielle und symbolische Ein- und Ausgrenzungspraxen werden also auf widersprüchliche Weise miteinander verschränkt. Während sich entsprechend den theoretischen Grundlegungen der Bildungssprache Hinweise darauf finden, dass binäre Trennungen zwischen Schülern deutscher und nicht-deutscher ›Herkunftssprache‹ zu vermeiden seien (vgl. Lengyel 2010: 599; siehe auch Gogolin 2013), sind solche differenzierenden Aussagen im Integrationsdispositiv (vgl. Mecheril 2011)6 insgesamt nicht von Belang.7 Integriert werden stets ›die Anderen‹ mit ihrer als solche konstruierten sprachlichen ›Andersartigkeit‹. 5 | Entsprechend lässt sich dies geografisch auf den amtlich deutschsprachigen Raum erweitern. 6 | Im Anschluss an Foucault (1978) kann das Integrationsdispositiv als Reaktion auf einen strategischen Handlungsbedarf verstanden werden, der dadurch entstanden ist, dass die imaginierte Einheit ›Nation‹ nicht nur durch Migrationsphänomene, aber auch durch diese in eine Krise geraten ist (vgl. ausf. Mecheril 2011). 7 | Die flexible Funktion des Topos ›deutsche Sprache‹ und die so entstehenden ›Querverweise‹ im natio-ethno-kulturellen Geflecht sichern den Diskurs der ›Sprache der Anderen‹ ab. Solche Querverweise spielen z.B. eine Rolle, wenn die (deutsche) Sprache als soziale Distinktion bei der Schulwahlentscheidung benutzt wird und dabei ›ethnische‹ Segregationen zwischen Schulen unterstützt werden
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In der Post-PISA-Ära potenziell auch denkbare weitere bildungspolitische Entwicklungsräume wurden und werden selten ausgelotet und die gegenwärtige Fokussierung auf Bildungssprache ist in nicht unerheblichem Maße mit dem Risiko verbunden, diese anderen, ›außersprachlichen‹ Möglichkeiten zur Überwindung bildungsinstitutionell strukturierter Ungleichheiten auszublenden. Auch wenn die Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang zwischen sozialer und sprachlicher Herkunft, Disponiertheiten, Diskriminierung und Schulerfolg überfällig war, so ist es erforderlich, ›außersprachliche‹ Aspekte von Bildungsungleichheit zu berücksichtigen und nach den gesellschaftlichen Verhältnissen zu fragen, die die aktuelle Thematisierung von Bildungssprache einerseits ermöglichen, andererseits überformen.
b) Kapitalismuskritik Eine dieser wesentlichen Überformungen besteht darin, dass »in der deutschen Diskussion um die Konsequenzen aus PISA 2000 Strukturdiskussionen ausgeblendet (wenn nicht gar ›verboten‹) sind, dafür aber universelle Leistungsstandards und -tests als Allheilmittel der deutschen Bildungsmisere behandelt werden« (Solga 2008: 33). Auf das Schulsystem als Ganzes bezogen sind die Grenzen durch das funktionalistische Grundmuster und die strategische Dominanz eines ökonomisch motivierten Interesses an der ›Ausschöpfung ungenutzter Begabungsreserven‹ sowie die damit einhergehende Deutungsfigur von Bildungsgerechtigkeit als einer ›Begabungsgerechtigkeit‹ (vgl. Stojanov 2010: 81ff.) eng gesteckt. Die zunehmenden marktförmigen Elemente wie der Wettbewerb unter Schulen, die Positionierung der Eltern als ›Kunden‹ bei der Schulwahl, größere Autonomien der Einzelschule bei gleichzeitiger Zentralisierung von Standards und Leistungstests, ein expandierender Markt an Nachhilfeeinrichtungen und Privatschulen sowie die wachsende Bedeutung (»der Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund an der Schule …«). Oder es erfolgt zwar eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Bildungserfolg und Sprache, die dann aber doch im bzw. für den medialen Diskurs in Formulierungen subsumiert wird, die lediglich auf Deutsch fokussieren (siehe z.B. Kerstan/Kammertöns 2011). Darüber hinaus kommt es zur Verschränkung der Diskurse ›Integration/Einwanderung‹ und ›Unterschicht‹ (vgl. Friedrich 2012: 101ff.) und so zu einer Ethnisierung des Topos der ›bildungsfernen Familien‹.
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von Unternehmensstiftungen im Bereich der Schulentwicklung sind Teil von ›Re-Regulierungsprozessen‹ (vgl. Ball 2006: 145) im Bildungsbereich. Als solche sind sie eingebunden in gesellschaftliche neoliberale Umgestaltungsprozesse. Unter den aktuellen gesellschaftlichen Gegebenheiten soll das Bildungssystem signifikant zur Mehrung der Qualifikationen, Kompetenzen und Subjektformen beitragen, die dem Funktionieren und der ständigen flexiblen Weiterentwicklung eines auf Gewinn und Akkumulation zielenden kapitalistischen Gesellschaftssystems dienen, welches die Menschen auf Vermögen – im doppelten Sinne – und Ansehen unterscheidet. Auch eine auf Bildungssprache zielende Bildung ist unter diesen Bedingungen darauf festgelegt, zur Formung und Ermöglichung jener Subjektformen beizutragen, die dem Bedarf einer individuelle Flexibilität, Selbstüberwachung und instrumentelle Selbstperfektionierung erfordernden Gesellschaft – im Sinne einer ›Kapitalisierung des Geistes‹ (vgl. Liessmann 2006: 10) – nachkommt. Gleichzeitig besteht die Funktion des Bildungssystems darin, Anerkennungsressourcen unterschiedlich zu verteilen und Bildung entsprechend so zu organisieren, dass Unterschiede zwischen den Gesellschaftsmitgliedern entstehen, bekräftigt und letztlich in einer Weise codiert werden, die unterschiedliche Anrechte auf Privilegien gerechtfertigt erscheinen lässt. Dies ist ein Anspruch der aktuellen, kapitalistisch ausgerichteten Wissensgesellschaft, in den auch jene Bildungseinrichtungen eingebunden sind, die der Vermittlung der Bildungssprache verpflichtet sind. Für die in der Schule tätigen Pädagog/innen ergibt sich daraus die große Herausforderung, bei der Vermittlung bildungssprachlicher Fähigkeiten um diese generelle Einbindung zu wissen und eine Skepsis zu entwickeln, ohne die eigenen pädagogischen Bemühungen zu entwerten oder zu blockieren. Bereits in seiner Beschreibung der Entstehung jener die Wissenschaften prägenden sprachlichen Formen weist Michael A.K. Halliday darauf hin, dass die sprachlichen Merkmale der Wissenschaften »in weiten Teilen der geschriebenen Sprache, die ständig auf uns eindringt, zu finden sind; nicht nur im [natur]wissenschaftlichen Diskurs, sondern auch in nicht-fachlichen Zusammenhängen – insbesondere jenen, denen es um die Herstellung und Aufrechterhaltung von Prestige oder Macht geht« (2006: 18, Hervorh. P.M./T.Q.). In der internationalen Diskussion haben auch andere Autor/innen auf diese untrennbare Verzahnung von
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bildungs- und fachwissenschaftlichen Grammatik-, Sprach- und Textformen mit Fragen von Macht- und Dominanzverhältnissen hingewiesen. Das daraus für die in der Schule Tätigen resultierende Spannungsverhältnis kann nur als Dilemma gedacht werden. So beschreiben Wissenschaftler/innen, die unter Rückgriff auf die systemisch-funktionale Linguistik Projekte der Genre-Pädagogik8 entwickelten, dass in postkolonialen Gesellschaften die Kontrolle über gesellschaftliche Genres »abhängig ist von bestimmten Bildungswegen und [dass] der Zugang zu diesen Bildungslauf bahnen in hohem Maße von unserer Position im Hinblick auf sozioökonomische Macht (d.h. unsere sozioökonomische Klassenposition) abhängt« (Martin/Rose 2008: 19). Auf der anderen Seite argumentiert Lisa Delpit in ihrer Auseinandersetzung mit Lehrkräften, die für ein NichtLehren dominanter sprachlicher Formen (Grammatik, Form, Stil usw.) plädieren, dass die dominante Sprache in einem befreiendem Sinne verwendet, verändert, angeeignet werden könne und dass die Schüler/innen ein Recht darauf haben, in solche Formen von Sprache und Reden eingeführt zu werden (vgl. dies. 1995: 160ff.). Doch ist es der gesamte aktuelle Artikulationsraum für Bildungsgerechtigkeit, der mit einem Dilemma konfrontiert ist: Einerseits ist die Forderung nach mehr Bildungsgerechtigkeit Ausdruck eines Postulats der Gleichheit, das eng mit der Vorstellung des modernen Individuums als Subjekt und seiner Idee der Autonomie und Selbstbestimmung verbunden ist. Diese Vorstellung bildet die Voraussetzung, die Freiheit einer autonomen und selbstbestimmten Lebensführung für sich einzufordern. Andererseits kommt es hier zu einer Verschmelzung der Forderungen nach Vielfalt, Freiheit und Teilhabe der Individuen mit jenem ›erweiterten‹ Individualismus, der das Anliegen eines globalisierten Marktes und bestrebt ist »die Zirkulation von Waren und Arbeitskräften zu beschleunigen und das Verhalten der Menschen zu flexibilisieren« (Waldschmidt 2012: 46). So stehen im Zentrum des dominanten Verständnisses von Bildung funktionale Aspekte und Fragen der Qualifizierung für einen Markt der (zunehmend immateriellen) Arbeit. Die aktuelle Thematisierung von Sprache und Migration kann sich der ökonomistischen Einsei8 | Im hier genannten, als ›Sydney School‹ bekannt gewordenen Forschungskontext, wurden Unterrichtsmodelle zur Überwindung von Bildungsbenachteiligung erprobt. Die Schüler/innen werden dabei auf sehr systematische Weise in die in der Gesellschaft bedeutsamen Textsorten eingeführt.
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tigkeit dieser Fokussierung nicht entziehen und es ist bedeutsam, eine entsprechende Reflexion in die Diskussion um Bildungssprache mit einzubeziehen. Dies ist umso mehr erforderlich, als die im Kern ökonomistisch geführte Debatte um eine Verbesserung der Bildungssituation zur Sicherung des ›Wirtschaftsstandortes Deutschland‹ im Bereich von ›Migration und Bildung‹ besonders zugespitzt verläuft. Seit Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts in Deutschland im Jahre 2000 war der Umstand einer zu gewissem Grade verschobenen Zugehörigkeitsordnung nicht zuletzt durch die zeitliche Koppelung mit der Greencard-Debatte von Beginn an sehr stark mit utilitaristischen Argumentationen unterlegt. Daraus folgt eine implizite, teilweise explizite Unterscheidung zwischen ›nützlichen‹ und ›nicht-nützlichen‹ Migranten – es ließe sich auch sagen, dass es zu einer Modernisierung des traditionell instrumentellen Zugriffs auf Migrant/innen kommt. Vor dem Hintergrund des Verständnisses von Bildungsgerechtigkeit als einer Begabungsgerechtigkeit und der utilitaristischen Perspektive bildungspolitischer Reformen stellt die Leerstelle der Bildungssprache hinsichtlich des sozusagen nicht-sprachlichen Sozialen ein erhebliches Risiko für Bemühungen um mehr Bildungsgerechtigkeit dar. Gelingt es nicht, die Spannung zwischen den sprachbezogenen und nicht-sprachbezogenen Komponenten unterschiedlichen Schulerfolges mit zu thematisieren, kann auch nicht erfasst werden, dass in dem Moment, in dem die ›Sprachkompetenz‹ bei Schüler/innen vorhanden ist, das Schulsystem in eine nächste gesellschaftliche Pflicht genommen würde. Denn unter der Voraussetzung der Existenz gegenwärtig geltender gesellschaftlicher Produktionsbedingungen müssten in einem in Bezug auf die Vermittlung von Bildungssprache erfolgreichen Bildungssystem die Selektion und Allokation von Einzelnen trotz ihrer insgesamt relativ höheren Schulleistungen beibehalten und diese Praxis mit Bezug auf die ›Gerechtigkeit‹ dieser Unterscheidung legitimiert werden. Will das Paradigma der Bildungssprache nicht zu einem Versprechen werden, das auf lange Sicht neue Ungleichheitsverhältnisse, womöglich auf einem Niveau, auf dem diejenigen, denen Chancen verwehrt werden, ›gebildeter‹ sind, produziert, ist die Diskussion der Grenzen des Pädagogischen in gegenwärtigen neoliberalen Verhältnissen erforderlich. In den Worten des Regionalverbandes Ruhr: »Negative Effekte sozialer Armut auf den Bildungserfolg sind allein durch Bildungsinstitutionen nicht aufzufangen und verweisen somit auf dringend notwendige umfassende
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Interventionen, die weit über den Bildungsbereich hinausgehen« (Regionalverband Ruhr 2012: 38). Zum anderen erfordert dies aber zugleich eine kritische Beschäftigung mit der Logik des öffentlichen bildungspolitischen Raums, in dem Bildungssprache gegenwärtig thematisiert wird. Der bildungspolitische Diskurs ist Bestandteil einer gesellschaftlichen Praxis, die soziale Ungleichheiten durch den Abbau sozialer Sicherungssysteme ausweitet (vgl. Butterwege 2006), während die Bedeutung von ›Bildung‹ für gesellschaftliche Teilhabe eine zunehmende und große öffentliche Aufmerksamkeit erfährt. Nicht wenig spricht dafür, hierin den Ausdruck eines Mythos von Bildungsgerechtigkeit zu verstehen, der programmatisch demokratische Gesellschaften charakterisiert und durch eine meritokratische Rhetorik gestützt wird, der jedoch in der Legitimierung von Ungleichheit (Solga 2008) bei einem fortlaufenden Anspruch auf eine flexible Selbstführung der Subjekte seine eigentliche Funktion hat. So werden im Bildungsbereich Inklusionsansprüche artikuliert und als Erwartungen an die Institutionen herangetragen, die gesamtgesellschaftlich unter den Vorzeichen des ›erweiterten‹ Individualismus unterlaufen werden. Der Topos des ›Forderns und Förderns‹ spielt sowohl in pädagogischen Diskursen als auch in Diskursen zu Migration und zu Hartz IV eine wichtige Rolle. Die individualisierte Gesellschaft ist dadurch charakterisiert, »dass die Subjekte nicht nur normativ, sondern faktisch auf sich selbst verwiesen werden; der Gewinn der Inklusionsstrategie verkehrt sich also gegen sie« (Winkler 2010: 16). Daher ließe sich in Anlehnung an Paulo Freire sagen, es ist notwendig, den Gebrauch der Bildungssprache zu lehren, während man gleichzeitig um ihre Begrenzung als Konzept für eine umfassendere Bildungsgerechtigkeit weiß.
c) Bildungsinhalte In den Diskussionen um Bildungssprache erfolgt zwar fortlaufend eine Auseinandersetzung mit der Verbindung inhaltlichen und sprachlichen Lernens, selten jedoch mit der Frage, welche Unterrichtsinhalte eine Rolle spielen (sollten). Auch diese Vernachlässigung scheint der ökonomistischen Indienstnahme von Bildung dienlich: Denn Inhalte kanalisieren und begrenzen; genau dies gilt es, in der grenzenlosen und entgrenzten (Selbst-)Inanspruchnahme der Subjekte in den ›postfordistischen Verhältnissen‹ zu vermeiden. Diese Vernachlässigung der Bildungs- und Unterrichtsinhal-
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te in dem Paradigma der Bildungssprache erscheint zugleich paradox angesichts des der Bildungssprache zugrunde liegenden Verständnisses von Sprache in ihrer Funktion zur Herstellung von Bedeutungen im Gebrauch und in der Interaktion (siehe z.B. Bainski et al. 2013; Riebling 2013). Um einer technisch-formalistischen Verkürzung von Bildungssprache zu begegnen und der Sprache als grundlegendem Mittel zur Handlungsbefähigung und Teilhabe gerecht zu werden, ist es bedeutsam, ›Bildungssprache‹ in einem kritischen Sinne als eine Sprache zur würdevollen gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Teilhabe und als einen Einsatz für einen Bildungsbegriff zu verstehen, der in den Anforderungen einseitig ökonomistischer Interessen nicht aufgeht. Damit aber geraten auch die Zielrichtung schulischer Bildung sowie die Idee einer anderen Gesellschaftlichkeit in den Blick. Ohne eine solche Richtung und ohne eine Kritik sprachlicher und anderer sozialer Ausgrenzungsmechanismen würde das Konzept der Bildungssprache Gefahr laufen, lediglich die ›Kapitalisierung des Geistes‹ unter den bestehenden Bedingungen zu affirmieren. Schulische Veränderungen können gesellschaftliche Veränderungen nicht ersetzen. Der Schule kommt aber die Aufgabe zu, Bildungsräume zu öffnen, in denen Veränderungen gedacht und besprochen werden können. In diesem Sinne kann Bildung verstanden werden als ein Prozess der Auseinandersetzung mit Erfahrungen, in dem sich das Vermögen bildet, sich zu allgemeinen gesellschaftlichen Fragen und Anforderungen zu verhalten und dies in einer Art und Weise zu tun, die sich an einer Minderung von Ungerechtigkeit orientiert. Die Frage, welche (welt-) gesellschaftlichen Verhältnisse nun von besonderem, da allgemeinem Interesse sind, wäre selbst als ein Gegenstand der Auseinandersetzung zu konzipieren. Aus migrationspädagogischer Perspektive wäre es nicht zuletzt von Bedeutung, auf weltgesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse und ihre historischen Hintergründe einzugehen: die Beschäftigung mit dem Antisemitismus in Deutschland, die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust, die Thematisierung des Kolonialismus des 19./20. Jahrhundert, der bis heute nachwirkt, nicht zuletzt auch in pädagogischen Kontexten, in der Sprache usw., aber auch die Vermittlung von Kenntnissen ›lokaler Rassismen‹ (und Anti-Rassismen) bezogen auf ein Stadtviertel, einen Betrieb oder eine Schule. Auf einer abstrakteren Ebene wird es zudem darum gehen, die Partikularität und Kontingenz von nationalen Einheiten, ethnischen Lebensformen und
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kulturellen Lebenspraxen zu verdeutlichen. Rassismuskritisch-migrationspädagogische Perspektiven beziehen sich nicht allein auf abstrakte Gegenstände, sondern beschäftigen sich zudem immer auch mit konkreten Erfahrungen, Selbst- und Fremdwahrnehmungsmustern und eigenen Zugehörigkeitskonzepten. Dies bedeutet auch, zu lernen, die postfordistische Subjektivierungsanforderung, ökonomisch brauchbar zu sein, nicht schlicht zu erfüllen, sondern sich zu ihr zu verhalten. Ein solches Verständnis könnte eine Orientierung bereitstellen zur Diskussion und Gestaltung des Zusammenhangs von (Migration und) Bildung, bei der Bildung nicht allein am Maß der Entwicklung von bestimmten individuellen Fertigkeiten bemessen wird, die von gesetzten funktionalen Standards bestimmt werden.
Für eine nüchterne Pädagogik sprachlicher Vielfalt Der eingangs mit Paulo Freire bezeichnete Widerspruch kann nicht aufgelöst, doch ebenso wenig sollte er übergangen werden. Unter den Bedingungen der gegebenen gesellschaftlichen Verfasstheit und ihrer auch rassistischen Teilungen, entlang derer über Sprache und ›Andere‹ gesprochen wird, ist es möglich, die Vermittlung der Bildungssprache ernst zu nehmen, allerdings nur, wenn die Problematik ihrer normativen Setzungen, Implikationen und Nebenwirkungen zum Thema werden. Wir haben eine solche Perspektive als ›nüchterne Pädagogik sprachlicher Vielfalt‹ bezeichnet (vgl. Mecheril/Quehl 2006b: 371ff.). Damit kommt zum Ausdruck, dass eine sprach(differenz)sensible Pädagogik in zweifacher Hinsicht eine angemessene und realistische Pädagogik ist. Im Gegensatz zu sprachassimilativen Postulaten und ihren nicht nur gesamtgesellschaftlich, sondern auch in der Schule wirkenden offenen oder verdeckten Diskriminierungen erfasst und respektiert sie nüchtern die faktische Mehrsprachigkeit ihrer Schüler/innenschaft und der Gesellschaft. Gleichzeitig setzt sie sich mit den strukturellen und (schul-)institutionellen Voraussetzungen auseinander, die die migrationsgesellschaftlichen Bedingungen von Differenz und Dominanz bestimmen. Pädagog/innen, die mit dieser Perspektive arbeiten, können sich mit der nicht einseitig auflösbaren Spannung innerhalb der sprachlichen Vermittlungsprozesse unter den als ›sprachlich anders‹ konstruierten Schüler/innen auseinandersetzen. Die damit einhergehende Angleichung ist einerseits unvermeidlich, andererseits unmöglich. Unvermeidlich ist sie, weil unter den aktuellen
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Bedingungen nationalstaatlicher Zusammenhänge, in denen Teilhabechancen und Kapitalien selektiv verteilt werden und individuelle Handlungsfähigkeit von Formen sprachlicher Angleichung an hegemoniale Ansprüche abhängig bleibt, die Ermöglichung individueller sprachlicher Handlungsfähigkeit von Professionellen nicht zurückgewiesen werden kann. Pragmatisch ergibt sich so die Notwendigkeit einer Angleichung an diese Bedingungen eines zwar kontingenten und folglich veränderbaren, aber realistischerweise als gegeben anzusehenden Rahmens sprachlicher Verhältnisse. In anderen Worten: Solange Deutschland und Österreich germanozentrische Sprachkontexte sind, ist das Sprechen der deutschen Sprache eine Voraussetzung für zahlreiche monetär effektive, zukunftssichernde und soziale Anerkennung ermöglichende Handlungen. Migrationspädagogisch ergibt sich daraus die Konsequenz, Bildungsräume zu schaffen, in denen es möglich wird, sich ein respektables Deutsch anzueignen. Hinsichtlich der genannten, nicht einseitig aufzulösenden Spannung ist jedoch relevant, dass dies Pädagog/innen nicht von der Notwendigkeit entbindet, Kritik an sprachlichen Herrschaftsverhältnissen zu üben und im Rahmen ihrer Arbeit dafür einzutreten, dass (linguale) Herrschaft so weit wie möglich reduziert wird. Dabei können Pädagog/innen aus ihrer professionellen Erfahrung heraus um den Umstand wissen, der für das Aushalten und konstruktive Wenden der Spannung zwischen gleichzeitiger Unvermeidbarkeit und Unmöglichkeit der Angleichung entscheidend ist; dass nämlich der pädagogisch sinnvolle angleichende Einbezug der als ›Andere‹ konstruierten paradoxerweise nur möglich ist, wenn die vermeintlich ›anderen‹ Disponiertheiten respektiert und in diesem Sinne anerkannt werden. Bemühungen gelingender Angleichung, denen es um tatsächliche Handlungs- und Partizipationsmöglichkeiten geht, werden daher auf die den Integrationsdiskurs bestimmende rhetorische Forderung nach Anpassung verzichten. Jene im Diskurs immer wieder aufscheinende Figur, die die ›Anderen‹ durch einen inhaltlich unangemessenen Voluntarismus als ›unwillig‹ zum Deutschlernen und als solche darstellt, deren Bereitschaft (zur ›Integration‹) mangelhaft sei, muss auch von Lehrer/innen (gleich welcher Erstsprache) ernstgenommen werden, freilich allein in dem Sinn, die Konsequenzen ihrer diskursiven Involviertheit selbstkritisch zu reflektieren. Diese Widersprüchlichkeiten zeigen sich auch bei der Auseinandersetzung mit der Bildungssprache als Reformansatz der Schulentwick-
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lung. Denn neben der lerntheoretisch wie soziologisch grundlegenden Bedeutung von Sprache für schulische Prozesse kommen hier zwei Momente zum Tragen, die die Beziehung zwischen Schule und gesellschaftlichen Dominanzverhältnissen grundsätzlich kennzeichnen: Schule ist ein Ort, an dem soziale Bedeutungen nicht einfach ›aufgeprägt‹, sondern ›hergestellt‹ werden (vgl. Apple 1982: 26), und in seiner Gesamtheit ist das »Schulwesen gleichzeitig das Ergebnis von Widersprüchen und die Quelle neuer Widersprüche« (ebd.: 50). Eine Reflexion der Widersprüche, die im Zuge der Fokussierung gegenwärtiger Schulentwicklung auf die Vermittlung der Bildungssprache entstehen, ist daher ein Prozess, der unabgeschlossen bleiben muss. Aus einer als nüchterne Pädagogik sprachlicher Vielfalt skizzierten Perspektive ließe sich für Lehrer/innen, Schulkollegien und andere an Schulentwicklungsprozessen beteiligte Akteure eine Position der Skepsis ableiten, die sich für institutionelle und didaktische Entwicklungen der mit dem Konzept von Bildungssprache verbundenen Möglichkeiten einsetzt und gleichzeitig um seine Grenzen und das Risiko von Verkürzungen weiß. In den Interaktionen der alltäglichen Unterrichtsarbeit wird das Spannungsverhältnis zwischen der Anerkennung sprachlicher Dispositionen einerseits und den sprachlichen Formen der Bildungssprache und des ›Standards‹ andererseits immer wieder erfahren und ausgehandelt. Daher kann eine pädagogische Position als ›Akteur der Skepsis‹ auch bedeuten, Verantwortung für solche Aushandlungsprozesse zu übernehmen und nach Wegen zu suchen, Formen lingualer Herrschaft im Unterricht zu reduzieren ohne auf die Vermittlung bildungssprachlicher Fähigkeiten zu verzichten. Bestandteil der pädagogischen Reflexion muss es sein, sich pädagogisch-didaktisch im Hinblick auf individuelle Schüler/innen und institutionell hinsichtlich der lokalen Bedingungen mit diesem Spannungsfeld zu beschäftigen. Entsprechend wird es möglich, die bildungssprachlich orientierte Gestaltung der Schule um eine konkrete, eine diskriminierungskritische und auch performativ bedeutsame mehrsprachige Perspektive zu ergänzen und Unterrichtssettings zu entwickeln, in denen Schüler/innen verschiedene Sprachen sprechen und mit ihnen lernen können. Um nicht im Gestus einer bloßen Anerkennung ›anderer‹ Sprachen – und so der letztendlichen Bestätigung der ›Andersheit‹ mehrsprachiger Sprecher/innen – zu verbleiben, ist es wichtig, dass dieses Handeln in verschiedenen Sprachen als Teil des schulischen Kernanliegens, d.h. des Lernens verstanden und erfahren wird (siehe auch Reich 2013: 67). Eine solche Öffnung der Bil-
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dungseinrichtungen für mehrsprachige Praktiken ist auch deshalb bedeutsam, weil sie gleichzeitig die Artikulation von sprachlichen Mehrfachzugehörigkeiten, Hybriditäten oder unterschiedlichen Sprechstilen ermöglichen kann. Wie mehrsprachige Unterrichtsarrangements sind auch bildungssprachförderliche Unterrichtsformen selbst in der Entwicklung. Bei der Entwicklung bildungssprachförderlichen Unterrichts sind die Erfahrungen der Lehrkräfte mit der Wechselbeziehung zwischen der Anerkennung der Disponiertheiten der Schüler/innen und der Erweiterung ihrer sprachlichen Handlungsräume relevant. Diese Kenntnisse der Pädagog/ innen über die Alltagserfahrungen und sozialen Positionen der Schüler/ innen wären für die Generierung von Themen und Inhalten nutzbar. In diesem Sinne skeptisch nach Unterrichtsthemen zu fragen, heißt »einen expliziten Fokus des Unterrichts auf soziale Gerechtigkeit und Gleichheit durch eine kritische Analyse von sozialen Themen und von Texten (im weitesten Sinne)« (Cummins/Early/Stille 2011: 31) zu richten. Es gehört zu den professionellen Herausforderungen von Pädagog/innen, solche (migrationsgesellschaftlich relevanten) Themen und Inhalte in der Interaktion mit Schüler/innen herauszuarbeiten und bei der Beschäftigung damit auch bildungssprachliche Formen von Sprache zu vermitteln. Sowenig Sprache ohne Bedeutungen vorstellbar ist, sowenig ist es möglich, die Diskussion über sprachliches Handeln in den Schulen der Migrationsgesellschaft zu führen ohne gleichzeitig in eine Diskussion darüber einzutreten, welches Wissen diese Gesellschaft sinnvollerweise in ihren Bildungseinrichtungen vermitteln möchte – und darüber zu streiten. In diesem Sinne ist der kritische Moment letztlich weniger bei der Entwicklung sprachlicher Formen zu finden und einzubringen, sondern vielmehr bei den Inhalten. Pädagog/innen kommen nicht umhin, sich in solche Diskussionen einzumischen, auch wenn sie dabei mit den schulischen Grenzen aktueller Gesellschaftlichkeit konfrontiert werden. Es gibt keine kritische Bildungssprache, wohl aber zahlreiche Inhalte und unterschiedliche Wissensbestände, über die kritisch gesprochen werden muss – umgangssprachlich, bildungssprachlich, mehrsprachig.
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Ein »neutrales Vergleichsmedium, das niemandes Muttersprache ist«? Zur Bedeutung der (›Bildungs‹)Sprachen Latein und Griechisch in fachdidaktischen Diskursen der amtlich deutschsprachigen Migrationsgesellschaft Nadja Thoma [C]ertain dualisms have been persistent in Western traditions; they have all been systemic to the logics and practices of domination […] of all constituted as others, whose task is to mirror the self. Donna Haraway (1989:200)
1. E inleitung Legitimität und Bedeutung von Latein und Griechisch an Schulen und Universitäten sind immer wieder Gegenstand zum Teil heftig geführter Diskussionen innerhalb des amtlich deutschsprachigen Raumes. Dabei werden Argumente ins Feld geführt, die unterschiedliche Aspekte von Sprache, Bildung und Gesellschaft betreffen. Ein zentraler Aspekt, nämlich die Bedeutung von Latein und Griechisch in europäischen Migrationsgesellschaften, wird dabei – wenn überhaupt – nur am Rande berührt. Im vorliegenden Text zeichne ich zunächst die schul(polit)ische Geschichte der altphilologischen Fächer im amtlich deutschsprachigen Raum nach (1). Danach folgt eine Annäherung an den Begriff ›Bildungssprache‹ (2). Am Beispiel des fachdidaktischen Diskurses gehe ich der Frage nach, wie der Zusammenhang von Sprache/n und Gesellschaft/en
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darin konstruiert wird und welche Rolle Migration dabei spielt (3). Zuletzt werfe ich die Frage auf, wie die Potentiale der Fächer Latein und Griechisch an Schulen in europäischen Migrationsgesellschaften produktiv genutzt werden könnten (4).
2. A ltspr achlicher U nterricht 1 in B ildungsinstitutionen im amtlich deutschspr achigen R aum Auch wenn der Latinisierungsprozess seit dem 5.Jh.v.Chr. nicht parallel mit der Ausweitung der römischen Macht verlief und Latein nie die einzige Sprache der Römer*innen war, so war es doch »die Sprache derer, die die Macht hatten« (Leonhardt 2009: 46), und die Sprache, die unverzichtbar für militärische Kontrolle und Administration war (ebd.: 51). Im alltagsweltlich mehrsprachigen Römischen Reich wurde Latein durch die Expansion zur lingua franca der gebildeten Eliten aus den unterschiedlichen Bereichen von Politik, Philosophie, Wirtschaft und Religion. Zugleich wurden in der späten Republik und in der Kaiserzeit (1.Jh.v. bis 1.Jh.n.Chr.) Griechisch-Kenntnisse für die Adeligen in Rom zur unverzichtbaren Bildungsvoraussetzung (Karvounis 2010: 2)2. Inhaltlich stand die Lektüre bekannter Autor*innen, allen voran Homer, Vergil und Horaz, im Zentrum. Das antike Bildungskonzept stützte sich mit Bezug auf Texte von Cicero oder Quintilian »auf die Annahme vielfältiger Transferwirkung von Sprach- und Literaturunterricht« (Töchterle 1996:25). Dieses Argument führte zu einer zentralen Position des altsprachlichen Unterrichts im Fächerkanon von Schulen über Jahrhunderte hinweg. Auch während des Mittelalters blieb die Vorherrschaft des
1 | Der Schwerpunkt des fachdidaktischen Diskurses liegt auf Latein, was sich aus der zahlenmäßigen Verteilung der beiden Fächer an Schulen erklären lässt (zur Situation in Deutschland vgl. Merkler/Meurer 2013) und sich dementsprechend in diesem Text wiederspiegelt. 2 | Zu den Zusammenhängen von Nation und Sprache im alten Griechenland und in Rom vgl. Bonfiglio 2013: 31f. und ausführlicher Bonfiglio 2010.
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Lateinischen als europäische Wissenschafts- und Verkehrssprache sowie als Schulsprache ungebrochen3. Erst mit dem zunehmenden Ausbau eines öffentlichen Schulwesens gegen Ende des 18. Jahrhunderts, der mit einer Emanzipation des Bürger*innentums gegenüber dem Adel einherging, entwickelte sich allmählich ein Verständnis von ›Allgemeinbildung‹, die auch als Bildung im Medium der Nationalsprachen und somit auch der deutschen Sprache verstanden wurde. Damit verbunden war die Hoffnung, »daß die elitären Schranken [...] zu überwinden seien, indem der altsprachliche Unterricht sein Privileg verliere« (Gogolin 2008: 36). Daneben hing die Verstärkung der jeweiligen Nationalsprachen eng mit der Herausbildung nationalstaatlicher Ideologien zusammen. Gleichzeitig formulierte Wilhelm von Humboldt die leitenden Ideen für das humanistische Gymnasium, das er als Vorbereitung zum Studium verstand, und brachte den alten Sprachen, vor allem dem Griechischen, das im Sinne einer ›Geistesschulung‹ »die besten Kräfte des Menschen wecken« solle (Töchterle 1996: 26), wieder größere schulpolitische Bedeutung ein. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde Latein wegen zunehmender Beschränkungen beim Zugang zu Universitäten zum Selektionsfach gemacht. Die privilegierte Position des Faches änderte sich mit der Abschaffung des lateinischen Aufsatzes als Abituranforderung 1890 und mit der Aufhebung des gymnasialen Monopols bei der Hochschulberechtigung 1900 (Töchterle 1996: 26). Sowohl in Deutschland als auch in Österreich wurden die altsprachlichen Fächer im Sinne des Nationalsozialismus und des Austrofaschismus ideologisch benützt (ebd.: 27). Die totalitären Unterrichtsziele wurden nach 1945 von Bekenntnissen zu Demokratie, »Europa« und »abendländische[m] Menschentum« (ebd.) ersetzt und Latein als »Schlüsselfach der europäischen Tradition« (Fuhrmann 1976) definiert. Wahlmöglichkeiten außerhalb von Latein und Griechisch, v.a. im Bereich moderner Fremdsprachen, führten in den letzten Jahrzehnten zu einem starken Rückgang des altsprachlichen Unterrichts in den amtlich deutschsprachigen Ländern4 und zu einer Diskussion, die zum Teil stark apologetischen Charakter hat, was auch in den hier analysierten fachdidaktischen Argumentationen sichtbar wird. 3 | In den exakten Wissenschaften war das Arabische weiter entwickelt, was sich an lexikalischen Einflüssen auf das Mittellatein zeigt (vgl. Tazi 1994: 385). 4 | Zur Situation in Deutschland vgl. Merkler/Meurer 2013.
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3. W as ist ›B ildungsspr ache ‹? Im Zuge internationaler Schulleistungsstudien und öffentlichkeitswirksam geführter wissenschaftlicher Debatten über den Zusammenhang von sprachlichem und fachlichem Lernen haben Begriffe wie ›Bildungssprache‹ (Gogolin/Lange 2011, Gogolin et al. (Hrsg.) 2013, Berendes u.a. 2014, Uesseler/Runge/Redder 2014) und ›Schulsprache‹ oder language of schooling (Feilke 2012, Schleppegrell 2001) Konjunktur. Da in altphilologischen und altphilologisch-fachdidaktischen Texten Latein und Griechisch u.a. als ›Bildungssprachen‹ bezeichnet werden (etwa Leonhardt 2009, Waiblinger o.J.), ist es an dieser Stelle notwendig, sich diesem Begriff definitorisch zu nähern: Einem alltagsweltlichen Verständnis zufolge wird ›Bildungssprache‹ häufig so verstanden, wie sie in einem Pädagogischen Lexikon Ende der 1920er Jahre definiert wird, nämlich als ›hohe‹ und ›reine‹ Sprache (DRACH 1928, Sp. 665 und 671, zitiert nach Gogolin/Lange 2011: 107). Damit ist die (Aus-)Sprache der ›Gebildeten‹ gemeint, die in einen Gegensatz zur Mundart gestellt wird, die als Sprache der ›gesellschaftlichen Unterschichten‹ verstanden wird5. Mit der Unterscheidung der beiden Varietäten ist zugleich eine Bewertung der Personen bzw. Gruppen, die diese benutzen, verknüpft (Gogolin/Lange 2011: 107f.). In der Bedeutung »Sprache, die in den Bildungsinstitutionen gebraucht wird« findet sich der Terminus ›Bildungssprache‹ seit 1971 in der deutschsprachigen Lexikographie (Ortner 2009: 2229) und wird etwa dann verwendet, wenn darauf hingewiesen wird, dass Latein bis ins 16. Jahrhundert die Bildungssprache in Europa bzw. im deutschsprachigen Raum war (Löffler 2005: 24f.). Aus den meisten Texten des altphilologisch-didaktischen Fachdiskurses geht die Annahme oder Überzeugung hervor, dass sich Latein und Griechisch in besonderem Maße als Bildung fördernde Sprachen eignen (siehe Kapitel 5). Um die Logik, die diesen Argumenten zugrunde liegt, systematisch herausarbeiten zu können, wird diesem Text die von Miriam Morek und Vivien Heller (2012) vorgeschlagene Dreiteilung im Zugang zu ›Bildungssprache‹ zugrunde gelegt, die die Autorinnen aus einer linguistischen Perspektive vornehmen. Darin wird Bildungssprache a) als 5 | Über eine solche Dichotomisierung einer Sprache der ›Gebildeten‹ (›Standard‹) und einer Sprache der ›gesellschaftlichen Unterschichten‹ (›Dialekt‹) wird eine Vorstellung einheitlicher Sprachen suggeriert. Allerdings sind nicht nur Dialekte, sondern auch standardsprachliche Varietäten in sich höchst ausdifferenziert.
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Medium von Wissenstransfer, b) als Werkzeug des Denkens und c) als Eintritts- und Visitenkarte verstanden. Verbunden mit dieser Differenzierung sind a) eine kommunikative, b) eine epistemische und c) eine sozialsymbolische Funktion (Morek/Heller 2012: 70): In einer systemisch-funktional-linguistischen Logik kann Bildungssprache als Register (Halliday 1978) bezeichnet werden, dessen sprachliche Mittel und Strukturen auf die spezifischen Anforderungen wissensvermittelnder Kommunikation ausgerichtet sind. Konstitutiva einer so verstandenen Bildungssprache und Wissenskommunikation sind Dekontextualisierung, Explizitheit, Komplexität sowie argumentative Klarheit und Berücksichtigung der Leser*innenperspektive (vgl. Morek/Heller 2012: 71, Ortner 2009: 2228). Lexikalische und morphosyntaktische Besonderheiten bildungssprachlicher Texte – etwa hochfrequent vorkommende Nominalphrasen – stehen funktional in einem engen Zusammenhang mit der kommunikativen Funktion dieser Texte (vgl. Schleppegrell 2001, Morek/Heller 2012). Nachdem Bildungssprache in einer solchen (idealisierten) Vorstellung »primär vom zu kommunizierenden Gegenstand und den kommunikativen Bedingungen wissensvermittelnder und wissenskonstruierender Genres des Bildungs- und Wissenschaftskontextes her bestimmt [ist]« (Morek/Heller 2012: 74), lässt sich folgern, dass Bildungssprache notwendig ist, um komplexe Inhalte nachvollziehen und sprachlich äußern zu können. Neben dieser kommunikativen Funktion wird Bildungssprache in ihrer Funktion als »kognitive[s] Werkzeug« (Vollmer-Thürmann 2010: 110) auch eine epistemische Rolle zugeschrieben: Ausgangspunkt dafür waren die im Bereich der Mehrsprachigkeitsforschung lange Zeit breit rezipierten Forschungsergebnisse von Jim Cummins, der zwei Formen von Sprachbeherrschung voneinander unterschied, nämlich die einzelsprachabhängigen Basic Interpersonal Communicative Skills (BICS) im Sinne kontextualisierter Alltagssprache, und die einzelsprachunabhängige Cognitive Academic Language Proficiency (CALP) als kontextentbundene Bildungssprache (Cummins 1979). Ausgehend von Cummins’ Unterscheidung wurde der Terminus »Bildungssprache« von Ingrid Gogolin in den deutschsprachigen Diskurs eingeführt (Gogolin 2006). Aus bildungswissenschaftlicher Perspektive wird Bildungssprache als sprachliches Register verstanden, das maßgeblich für Bildungserfolg ausschlaggebend ist. In diesem Sinne wird in der Forschung zu Deutsch als Zweitsprache vor allem danach gefragt, wie Bildungssprache vermittelt und möglichst vielen Schüler*innen zugänglich gemacht werden kann (Gogolin 2006, Gogolin/Lange 2011).
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In der Logik der systemisch-funktionalen Grammatik werden kognitive Entwicklung und sprachliches Lernen als »zwei aufs engste miteinander verzahnte Prozesse« (Morek/Heller 2012: 75) verstanden. Halliday etwa geht davon aus, dass mit dem Erwerb von Bildungssprache zugleich inhaltliche Konzepte angeeignet werden, ohne die eine sprachliche Bearbeitung der Inhalte gar nicht möglich wäre (Halliday 1993, zitiert nach Morek/Heller 2012). Indem sich Lernende bildungssprachliche Mittel und Strukturen immer umfassender aneignen, wachsen sie in kommunikative Praktiken bestimmter fachlicher Gemeinschaften hinein (vgl. Morek/Heller 2012, Ortner 2009). Neben diesen beiden Funktionen steht Bildungssprache als »Manifestation der Reproduktions- und Selektionsfunktion von Bildungsinstitutionen« (Morek/Heller 2012: 76). Die Erforschung von Sprache als Faktor für die Reproduktion von Bildungsungleichheit geht auf Bourdieu zurück, der darauf verwies, dass nicht allein der Grad der Sprachkompetenz zu fragloser Zugehörigkeit führt, sondern dass vielmehr die Frage ausschlaggebend ist, ob die sprachliche Kompetenz im sozialen Raum anerkannt wird (Bourdieu 2012). Jede Sprachsituation fungiert, so Bourdieu, »als ein Markt, auf dem etwas getauscht wird«, als Markt, auf dem Sprecher*innen ihre Produkte absetzen, und zwar abhängig von der Antizipation der Preise, die dafür (auch zu einem späteren Zeitpunkt) erzielt werden können. Auf den schulischen und universitären Markt kommen Kinder und junge Erwachsene mit einer Antizipation der Bildungsabschlüsse (Bourdieu 1993: 94) und in Zusammenhang damit beruflicher Möglichkeiten und eventueller gesellschaftlicher Statuspassagen. Hatte Bourdieu das Konzept des sprachlichen Marktes mit Blick auf die soziale Herkunft entwickelt, so wurde es in anderen Studien auf die Bedeutung von Sprachen in Migrationsgesellschaften hin fokussiert (Brizić 2007, Fürstenau/Niedrig 2011, Mathé 2009). Bildungssprache hat neben den bereits besprochenen beiden Funktionen auf jeden Fall auch die der sozialen Positionierung.
4. D ie (›B ildungs ‹-)S pr achen L atein und G riechisch in der F achdidak tik Wie schon erwähnt, nehmen fachdidaktische Texte häufig Bezug auf Latein und Griechisch als ›Bildungs‹- oder ›Reflexionssprachen‹ und konstruieren den altsprachlichen Unterricht als in besonderem Ausmaß geeignet, um Bildungserfolg herzustellen. Im Folgenden wird ein Überblick über die am
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häufigsten vorgebrachten Argumente gegeben, die das Bild der alten Sprachen aus der Perspektive der Fachdidaktiken Latein und Griechisch formen. Dabei steht die Frage im Zentrum, wer wie worin gebildet werden soll.
4.1 Sprachbezogene Argumente Ein häufig vorgebrachtes Argument für die Bedeutung von Latein und Griechisch betrifft die Lexik der beiden Sprachen, deren Beherrschen den Wortschatzerwerb in anderen Sprachen (genannt werden v.a. romanische Sprachen, Englisch und Neugriechisch6) erleichtert bzw. deren rezeptives Verständnis ermöglicht (Waiblinger o.J., Töchterle 2004). Zudem trägt, so ein damit zusammenhängendes Argument, das Beherrschen der alten Sprachen zum Verständnis vieler wissenschaftlicher Termini sowie Neubildungen in Wissenschafts- und Fachsprachen bei, die aus lateinischen oder griechischen Lexemen und Morphemen bestehen (Töchterle 2004). Allerdings »passiert« die Transferwirkung der alten Sprachen nicht von selbst: Müller-Lancé weist darauf hin, dass die Frage, ob etwa Latein als Transferquelle wirksam wird, u.a. stark von der in dieser Sprache erreichten Kompetenz und von der Art des Unterrichts abhängt (Müller-Lancé 2001). Empirisch untersucht wurde die Frage des Transfers von Haag/ Stern, die Latein im Vergleich mit Französisch als »probably not an optimal preparation for modern language learning« (Haag/Stern 2003: 174) bezeichneten, was verständlicherweise dazu führte, dass ihre Studie in der fachdidaktischen Community der Altphilolog*innen nicht besonders positiv rezipiert wurde (etwa von Westphalen 2003 und Wirth 2011 7 ). Neben dem Transfer wird die Frage des Sprachvergleichs diskutiert, hinsichtlich dessen manche Autor*innen Latein für besonders geeignet halten (Kipf 2014a: 28, Schulz-Koppe 2014, Töchterle 2004). Sprachvergleich fördere die ›muttersprachliche Kompetenz‹8 und baue Sprachbarrieren ab 6 | Es werden allerdings auch Einflüsse auf das Deutsche (Kuhlmann 2010) und auf das Türkische (Schulz-Koppe 2014) besprochen. 7 | Dass den Ergebnissen einer empirischen Studie allerdings mit »schlichten Lebenserfahrungen« (Wirth 2011: 36) begegnet wird, ist keine besonders günstige Strategie. 8 | Auf die den meisten Texten selbstverständlich zugrunde gelegte Annahme, dass alle Schüler*innen Deutsch als »Muttersprache« hätten, weist erstmals Kipf (2010a) kritisch hin. Fengler warf bereits 2000 die Frage auf, ob »Lateinunter-
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(Töchterle 2004: 163). Auf einer allgemeineren Ebene wird auch auf eine vermeintlich höhere »Studierfähigkeit« von Absolvent*innen altsprachlicher Gymnasien hingewiesen (Töchterle 20049). Insgesamt lässt sich aus den meisten Texten herauslesen, dass Latein und Griechisch ein Alleinstellungsmerkmal als ›Reflexions‹- oder ›Bildungssprachen‹ zugeschrieben wird (Waiblinger o.J.). Als solche böten sie die ›Möglichkeit vermehrter Sprachreflexion‹ (Töchterle 2004: 163), eigneten sich im Sinne eines »Modell[s] von Sprache« (ebd.) besonders gut dafür, ein »Bewusstsein dafür zu schaffen, wie eine Sprache funktioniert« (Kipf 2014a: 23) und seien im Sinne eines »universellen Sprachpropädeutikums« für Vergleiche »grammatischer Strukturen und die Erläuterung von Wortschatzverwandtschaften in den verschiedenen Schulsprachen« (MüllerLancé 2001: 104) besonders förderlich. Die Spracharbeit im Lateinunterricht ermögliche »durch Sprachreflexion und Sprachkontrastierung Einsicht in die Sprache als System, in ihre Strukturen und in sprachenübergreifende Prinzipien« (Siebel 2011: 102) und eigne sich in besonderem Maße für eine ›Schulung des logischen Denkens‹ (Töchterle 1996: 31). Latein sei – kurz gesagt – ein ›Instrument der formalen Bildung‹ (Fuhrmann 2001: 97). An dieser Konstruktion von ›Bildungssprache/n‹, die den Schwerpunkt auf die epistemische und kommunikative Funktion von Sprache legt, sind zwei Aspekte interessant: Zum einen wird darin – mehr oder weniger explizit – ein Gegensatz zwischen ›Reflexions-‹ bzw. ›Bildungssprachen‹ (Latein und Griechisch) und ›Kommunikationssprachen‹ (Englisch, Französisch und andere) konstruiert. Der Unterschied wird dabei nicht in einer Differenz zwischen richt einem solchen ›ausländischen‹ Schüler Nutzen für die Kenntnis der bisher erlernten Sprachen und für das Finden der eigenen kulturellen Identität bieten [kann]« (Fengler 2000). Auch wenn der Text von Fengler nicht auf grundlegende Erkenntnisse aus Migrations- und Mehrsprachigkeitsforschung sowie Deutsch als Zweitsprache eingeht und ihm darüber hinaus ein essentialisierendes Kulturverständnis zugrunde liegt, stellt er dennoch die erste Beschäftigung mit einer als solchen (an-)erkannten natio-ethno-religio-kulturell und sprachlich heterogenen Schüler*innenschaft in der altphilologischen Fachdidaktik dar und kann deswegen als wegweisend betrachtet werden. 9 | Allerdings handelt es sich bei der von Töchterle zitierten Studie um den Maturajahrgang 1973/74. Inwieweit sich der Befund dieser Studie auf die aktuelle Situation übertragen lässt, müsste überdacht werden.
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den Einzelsprachen gesehen. Vielmehr wird auf der Ebene unterschiedlicher Unterrichtsprinzipien argumentiert, die den Unterricht moderner Sprachen mit mündlicher und spontaner Kommunikation in Verbindung bringt, während dem Unterricht der alten Sprachen das Erlernen schriftbasierter Fertigkeiten10 und ein damit in Verbindung gebrachtes stärkeres Einüben von Sprachreflexion zugeschrieben wird (Waiblinger o.J., Wirth 2011: 134). Es wird also behauptet, dass im altsprachlichen Unterricht im besonderen Maße sprachliche Kompetenzen und metasprachliche Fähigkeiten eingeübt werden, die mit der kommunikativen und epistemischen Funktion von ›Bildungssprache‹ einhergehen. Ob diese starke Dichotomisierung alter versus moderner Sprachen empirisch haltbar ist, ist eine komplexe Frage. Fürstenau, Beckmann & Galling (im Druck) beschäftigen sich im Rahmen der Studie »Bildungssprachförderliches Lehrerhandeln (BilLe)« u.a. mit der Frage, wie Sprachbetrachtung im Lateinunterricht realisiert wird. Am Beispiel von Unterrichtssequenzanalysen zeigen sie, dass das Fach Latein »sowohl handlungsentlastete als auch handlungspraktische Sprachbetrachtung nahelegt«, dass die Potentiale des Unterrichts jedoch »in hohem Maße vom Handeln der Lehrkraft abhäng[en]« (ebd.), und dass die Einübung »bildungssprachlicher Praktiken« (Morek/ Heller 2012) im Lateinunterricht keineswegs selbstverständlich sind. Tajmel (2009) zeigt am Beispiel des Physikunterrichts, dass auch im naturwissenschaftlichen Unterricht bildungssprachliche Fertigkeiten durch den Einsatz sprachlernfördernder Unterrichtsmaterialien unterstützt werden können. Im Sinne des Konzepts einer Durchgängigen Sprachbildung (Gogolin/Lange 2011) setzt die Vermittlung bildungssprachlicher Fertigkeiten ein Gesamtkonzept voraus, das Lehrer*innen aller Fächer und Schulstufen und auch andere Partner*innen, etwa Eltern, miteinbezieht. Diese Befunde legen nahe, dass zum einen der hervorgehobene Status von Latein und Griechisch innerhalb der Sprachfächer nicht unbedingt haltbar ist, und dass zum anderen die sogenannten Sachfächer, in denen sprachliche Bildung bis vor wenigen Jahren kein zentrales Thema war, wichtige Beiträge zur Förderung bildungssprachlichen Handelns leisten können.
10 | Für eine Kritik an der ausschließlichen Vermittlung schriftlicher Fertigkeiten im altsprachlichen Unterricht vgl. den (in Latein verfassten) Text von Kuhlmann (2013). Darin plädiert der Autor für eine ›lebendige‹ und stärker an mündlichen Fertigkeiten orientierte Vermittlung der Sprache.
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Die Hervorhebung der alten Sprachen als besonders geeignet für Sprachförderung und die in den Vergleichen mit modernen Sprachen hergestellte Hierarchisierung zugunsten von Latein und Griechisch lassen sich möglicherweise auch mit der Konkurrenzsituation erklären, in der die modernen und alten Sprachen an vielen Schulen zueinander stehen, und die auch mit Arbeitsplätzen für Lehrer*innen verbunden ist und somit eine existentielle Bedeutung erfährt. Der zweite Aspekt erscheint im Kontext von Migrationsgesellschaften noch bemerkenswerter: Zum einen wird Latein als »Modell distanzierter Sprachbetrachtung, gewissermaßen als neutrales Vergleichsmedium, das niemandes Muttersprache ist« (Kipf 2014a: 24) idealisiert11. Zum anderen werden den Sprachen Latein und Griechisch bestimmte Merkmale zugeschrieben, die deren besondere schulische Eignung im Gegensatz zu anderen Sprachen suggerieren. Diese doppelte Positionierung von Latein und Griechisch als ›neutrale‹ Sprachen einerseits – als ›Modelle‹ also, die einen außerhalb der Einzelsprache stehenden vermeintlich neutralen Blick auf Sprache ermöglichen –, und als überlegene Sprachen andererseits, denen hinsichtlich bestimmter Eigenschaften Alleinstellungsmerkmale zugeschrieben werden, stabilisiert die Hierarchie zwischen Sprachen und macht sie gleichzeitig unsichtbar12.
11 | Dass Latein und Griechisch »niemandes Muttersprache[n]« (Kipf 2014a: 24) sind, kann zweifelsfrei einer bestimmten Form von Hierarchisierungen innerhalb von Schüler*innen vorbeugen, womit Kipf implizit auf die potentiell ungleichheitsreproduzierende Funktion von Sprache Bezug nimmt. Allerdings ist es zu weit gegriffen, die Sprachen deshalb als »neutral« zu bezeichnen. Zum einen wären in dieser Logik vor allem eingedenk der Transfer-Argumente, die auch von Kipf vorgebracht werden, Schüler*innen, die etwa einer romanischen Sprache oder des Neugriechischen mächtig sind, anderen Schüler*innen gegenüber im Vorteil. Daneben führt eine von Professionellen intendierte ›Neutralität‹ nicht notwendigerweise dazu, dass Sprachen von Schüler*innen auch als neutral wahrgenommen werden. 12 | Diese doppelte Positionierung weist eine erstaunliche Parallele zum Geschlechterverhältnis auf, das nicht damit erklärbar ist, dass »der Mann sich als das erste und vorrangige Geschlecht setzt und die Frau zum zweiten, nachrangigen Geschlecht degradiert, sondern [darauf, dass] der Mann für sich zwei Positionen beansprucht, die des überlegenen Geschlechts und die des geschlechtsneutralen Menschen zugleich« (Klinger 2005: 334).
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Dass eine Sprache nicht auf vermeintlich »neutrale« grammatische Merkmale oder Besonderheiten reduziert werden kann, sondern vor allem vor dem Hintergrund der in ihr vermittelten Inhalte betrachtet werden muss, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass in fachdidaktischen Texten lateinische Texte als »Inhaltsträger« bezeichnet werden, »die in das weite Gebiet der antiken Kultur einführen und die SuS [Schülerinnen und Schüler, Anm. N.T.] zur Auseinandersetzung mit antiken Vorstellungen anregen sollen« (Buhl 2011: 5). Dass diese Inhalte keineswegs »neutral« sind, wird Gegenstand des folgenden Kapitels sein.
4.2 Auf »Kultur« bezogene Argumente Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, einer der prägenden Altphilologen des 20. Jahrhunderts, sagte 1892 in einer Prorektoratsrede: »Mögen die beiden Sprachen, denen Europa seine Kultur verdankt, ruhig aus dem obligatorischen Jugendunterrichte verschwinden. Wie Deutschlands Zukunft dabei fahren wird, das frag’ ich nicht« (zitiert nach Lossau 2013: 9). Neben der Vorstellung einer linearen Entwicklung von Kultur und einem als einheitlich konstruierten Europa wird hier auch die Bedeutung sichtbar, die Latein und Griechisch im schulischen Kontext zugeschrieben wird. Die Rede Wilamowitz-Moellendorffs, die er zwei Jahre nach der Berliner Schulkonferenz 1890 hielt, im Rahmen derer Wilhelm II. dazu aufgerufen hatte, »nationale Deutsche [...], nicht junge Griechen und Römer« (Detjen 2013: 54) zu erziehen, stellt den Anfangspunkt einer starken apologetischen Grundhaltung im Sprechen und Schreiben über die Schulfächer Latein und Griechisch dar, die sich bis dato durch fast alle Texte zieht, wenngleich sich der Diskurs seither diversifiziert hat. Der Lateinunterricht wird in diesem Sinne nach wie vor als »Schlüsselfach der europäischen Tradition« (Fuhrmann 1976) betrachtet (explizit u.a. von Kipf 2014a: 23 und 2014b: 139) und damit vor allem mit der Vermittlung bestimmter Inhalte verknüpft. Für Fuhrmann war ›Bildung‹ mit dem als europäisch verstandenen »bürgerlichen Bildungskanon« synonym. 2002 konstatierte Fuhrmann, dass es Bildung »nicht mehr gibt«, weil »der bürgerliche Bildungskanon und mit ihm die bürgerliche Bildungsinstitution, das humanistische Gymnasium, zerfallen sind« (Fuhrmann 2002: 109). Die zuvor angesprochenen elitären Schranken (Gogolin 2008: 36), die mit einem öffentlichen Schulwesen im Sinne einer Stärkung des Bürger*innentums dem Adel gegenüber abgebaut werden
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sollten, werden hier in veränderter Weise wieder sichtbar: das Bürger*innentum wird als Repräsentant*in von Bildung schlechthin konstruiert – als »Säulen« der Bildung werden neben dem humanistischen Gymnasium »das Theater, das Konzert und das Museum« (ebd.: 111), also Elemente bürgerlicher ›Hochkultur‹, bezeichnet. Was an der Darstellung von Bildung in den Texten Fuhrmanns fehlt, ist ein Blick für soziale Barrieren und Ausschlüsse, die in dieser Form der Bildung (re)produziert werden. Fuhrmann spricht auf affirmative Weise von »der kleinen Elite [...], aus der sich die obere Beamtenschaft und die akademischen Berufe rekrutierten [und die] zu formaler Strenge und intellektueller Sorgfalt [geschult war]« (Fuhrmann 2003: 5). Diejenigen, die nicht zu dieser Elite gehören, und deren eingeschränkte Bildungsmöglichkeiten, ent_erwähnt er. Neben dem Ausschluss weiter gesellschaftlicher Teile aus der sog. »bürgerlichen Bildung« zeigt sich am Fuhrmannschen Bildungsideal außerdem, dass etwas außerhalb der »europäischen Tradition« nicht angesprochen wird, wodurch impliziert wird, dass es »Tradition« nur in Europa gäbe. Die Abwesenheit dessen, was als außerhalb von Europa gedacht wird, zieht sich als Strukturmerkmal durch die meisten fachdidaktischen Texte. In den Diskussionen der letzten Jahre wurden Gruppen außerhalb der Fuhrmannschen bürgerlichen Elite durchaus in den Blick genommen, und auch die Migrationstatsache lässt sich zumindest als Ahnung aus manchen Texten herauslesen. Allerdings erzeugt diese Erweiterung des Blickfeldes auch neue Probleme: Wie Fuhrmann sieht auch Maier das Gymnasium als »zentrale[n] Ort der Vermittlung« dessen, was er als »Weltwissen« (Maier 2002: 121) bezeichnet, was de facto aber ein in Europa produziertes Wissen über die Welt darstellt. Europa wird in zahlreichen fachdidaktischen Texten unhinterfragt als in der Nachfolge der europäischen Antike entstandene Einheit gesehen (etwa von Töchterle 2004: 163). Als solche ist die Konstruktion Europas mit Andersons ›imagined community‹ (Anderson 1983) vergleichbar, allerdings in einer geographisch und politisch anderen Ausprägung. Diese Einheit wird zum einen als in der Tradition des Christentums begründet (Fuhrmann 2001 und 2002, Schwillus 2006) und zum anderen als Synonym für »Abendland« (Lossau 2013, Schwillus 2006) verstanden. Die verkürzte Verknüpfung Europa*Christentum*Abendland wird in einem neueren Text von Maier (2013a) besonders deutlich, in dem zwar sich historisch verschiebende und jeweils geographisch, politisch oder kulturell gedachte Grenzen als grundsätzlich
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dynamisch und konstruiert beschrieben werden, in dem aber gleichzeitig die Geschichte Europas als Geschichte des »Abendlandes« gegenüber dem »Morgenland« und als Abfolge von kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Christentum und Islam konstruiert wird (Maier 2013a: 14-16)13. Während auf der Seite der ›Anderen‹ von einer »ungeheuren Zerstörungswut« (Maier 2013a: 16) gesprochen wird, werden die mit Eroberungen und Expansion verbundenen kriegerischen Auseinandersetzungen der Römer*innen und Griech*innen entthematisiert14. Besonders auffällig zeigt sich im Argumentationsverlauf, dass mehrfach von einem »in der frühen Antike angelegte[n] genetische[n] Potential« von Freiheit und Demokratie die Rede ist (Maier 2013a: 14). Auch wenn man die mehrfach vorkommende Rede von in Begriffen »angelegten Gene[n]« (ebd.: 15) als Metaphern liest, so stellt sich im Kontext der so stark gemachten Gegenüberstellung von »Morgenland« und »Abendland« bzw. »Islam« und »Christentum« die Frage, welche Vorstellungen des »genetischen Potentials« auf der Seite des »Morgenlandes« und des »Islam« durch diesen Text nahegelegt werden bzw. in weiterer Folge, wie sich Schüler*innen solche Formen von Wissensproduktion aneignen. Auch bei anderen Autor*innen findet sich eine weitgehend affirmative Bezugnahme auf römische Expansion und Kriege, etwa in einem (in lateinischer Sprache verfassten) Text von Kuhlmann (2013), in dem eine didaktisierte Filmsequenz des Schulfernsehens »Planet Schule« über das antike Rom als positives Beispiel für die Verwendung moderner Medien im Lateinunterricht besprochen wird. Von acht didaktischen Filmen widmen sich zwei der (Grenz-)Verteidigung des Römischen Reiches bzw. römischen Waffen und Soldaten (Experimentum Romanum). Dabei fällt vor allem die technizistische Sicht (Leistungsfähigkeit von Patrouillenbooten, Grenzverteidigungssysteme an Flüssen, Waffen- und Kampftechnik etc.) auf Krieg auf, die mit der an anderen Stellen propagierten humanistischen Grundhaltung, die in den altsprachlichen Fächern vermittelt werden soll, nicht vereinbar ist. Mit Ausnahme von Maier finden sich in aktuelleren Texten kaum noch explizit essentialisierende Vorstellungen von Kultur. Auch im Stile Fuhrmanns geäußerte Befürchtungen eines Untergangs des »Abendlandes« ohne Latein und Griechisch werden seltener. Eine grundsätzliche 13 | Zur Verbindungen zwischen Antike und Christentum vgl. Maier 2013b. 14 | Dabei gibt es innerhalb der Altphilologie sehr wohl eine durchaus differenzierte Diskussion zu antiken Fremdbildern (Holzberg 2008) oder zu Gewalt und Krieg (Girardet 2007), die aber in der Fachdidaktik kaum rezipiert wird.
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Tendenz zum Eurozentrismus, die Europäisch-Sein als unmarkierte und unsichtbar herrschende Normalität festlegt, findet sich jedoch nach wie vor in vielen Texten, etwa, wenn die klassischen Texte der Antike als »Anfang der Weltliteratur« (Holzberg 2006: 145-146) dargestellt werden, womit einerseits Einflüsse aus anderen Sprachen und Literaturen auf Latein und Griechisch marginalisiert werden und andererseits die ›Weltliteratur‹ als europäische bzw. ›westliche‹ konstruiert wird15. Wie stark und unhinterfragt dieses europäische bzw. eurozentrische Selbstverständnis ist, zeigt sich daran, dass es kaum irgendwo thematisiert wird16. Wiewohl in vielen Texten »Kultur« an sich im alten Griechenland und Rom begründet wird und eine starke und einheitliche Kontinuität europäischer kultureller Entwicklung zugrunde gelegt wird, werden in manchen fachdidaktischen Texten der »antike« und der »moderne« Mensch miteinander kontrastiert. Das ist ganz im Sinne der von Uvo Hölscher in den 1960er Jahren entwickelten Paradoxie der Antike: »Rom und Griechenland sind uns das nächste Fremde, und das vorzüglich Bildende an ihnen ist nicht sowohl ihre Klassizität und ›Normalität‹, sondern daß uns das Eigene dort in einer anderen Möglichkeit, ja überhaupt im Stande der Möglichkeiten begegnet« (Hölscher 1994: 278). Wird also auf der einen Seite eine starke, von Maier sogar als »genetisch« (s.o.) bezeichnete Kontinuität des Europäischen konstruiert, so werden auf der anderen Seite auch Gegensätze zwischen Menschen der Antike und der Gegenwart aufgezeigt. In diesem Sinne schlägt Schmude (2012) einen Vergleich von Vespuccis Mundus Novus und Caesars ethnographischer Exkurse im Bellum Gallicum17 vor, anhand dessen die Frage aufgeworfen wird, welche Bilder des »Fremden« in diesen Texten konstruiert werden. Als Abrundung der 15 | Analog zu den sprachbezogenen Argumenten zeigt sich auch hier wieder eine doppelte Positionierung: einerseits eine als ›neutral‹ im Sinne einer ›Weltliteratur‹ konstruierte Literatur, die aber zugleich implizit als die höherwertige konstruiert wird, was sich an der Ent_Erwähnung von Literaturen oder literarischen Traditionen, die nicht in dieser Tradition aufgehen, zeigt. 16 | Eine Ausnahme bildet Kipf 2014a: 40. 17 | Zu einer kritischeren Sicht auf Caesars Bellum Gallicum in schulischen Curricula und Caesars »scheinbar ganz sachlichen, objektiven, den Verhältnissen ganz angemessenen Sprache« vgl. Paul 2011: 219-220.
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Lektüre schlägt Schmude die Briefe aus der Türkei des Gesandten Ogier de Busbecq vor (Behrens 2008). Im Gegensatz zu hasserfüllten Türkeiberichten seiner Zeitgenossen seien diese Briefe von einer »vorurteilsfreien, von Toleranz geprägten Sicht auf das Fremde« (Schmude 2012: 45) charakterisiert. Aufgrund einer Reihe darin behandelter Themen, u.a. »Zusammentreffen der Kulturen«, Tierhaltung, Mode, »Umgang mit Andersgläubigen« und Stellung der Frau in der osmanischen Gesellschaft, weist Schmude den Briefen hohe Aktualität »angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskussion um Miteinander oder Nebeneinander, Integration oder Parallelwelten, Toleranz oder Abgrenzung gegenüber der größten anders geprägten Bevölkerungsgruppe in Deutschland« (Schmude 2012: 45) zu. Lässt sich aus Schmudes Text auch eine klare Ablehnung von Rassismus und v.a. von Islamfeindlichkeit herauslesen, so zeigen sich in seinen Reflexionen trotzdem stark essentialisierende Vorstellungen von Kultur und Religion. Die Aktualität antiker Texte für »Kulturvergleiche« bzw. »interkulturelle Fragen« wird auch an anderen Stellen hervorgehoben. So behauptet Fengler (2000), dass die durch Latein ermöglichte »Kulturerfahrung [...] eigene Identitätsfindung möglich [macht]« und dazu befähige, »fremden Kulturen vorurteilsfrei gegenüberzutreten« (Fengler 2000: 9). Durch den zeitlichen Abstand zur Antike sei eine Betrachtung »von einer ›höheren Warte‹ aus« möglich. Am Beispiel der eigenen Unterrichtserfahrung stellt Fengler dar, wie unterschiedliche Lebensplanungen von Schülerinnen unmittelbar vor dem Abitur Gegenstand heftiger Diskussionen in einer Klasse werden18. »Der Blick auf antike Frauengestalten«, so Fengler, »mildert in dieser Unterrichtssituation die Schärfe der Konfrontation, erweitert andererseits das Spektrum möglicher Lebenspläne für Frauen (und Männer) damals und heute« (Fengler 2000: 9). Was Fengler trotz bester Absicht übersieht, ist die Parallele, die sie in dieser Argumentation herstellt zwischen antiken Frauen einerseits und heutigen Schülerinnen, die einer als »anders« konstruierten Gruppe angehören, andererseits. Die Betrachtung »von einer höheren Warte aus« führt somit zu einer kulturalisierenden Hierarchisierung von Lebensentwürfen im Klassenraum.
18 | Zwei Schülerinnen bereiten während des Schuljahres ihre Hochzeit vor. Der Plan für die Zeit danach sieht einjährige Arbeit im Haushalt der Großfamilie des Ehemannes und danach eine Berufsausbildung vor. Ein Großteil der Klasse begegnet diesen Plänen mit Unverständnis.
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Kipf greift das von Fengler gebrachte Beispiel auf und konstruiert Lateinunterricht »als neutrales Vergleichsmedium, durch dessen zeitliche und räumliche Distanz ein Perspektivwechsel erleichtert und somit das Fremdverstehen gefördert werden kann« (Kipf 2014a: 107). In diesem Zusammenhang kritisiert er das »Barbarenschema« (vgl. Vogt-Spira 1996: 18) im alten Griechenland und die damit verbundene »bequeme Zweiteilung der Welt« und Abdrängung »alle[r] Nicht-Griech[*inn]en in eine inferiore Position« (Vogt-Spira 1996, zitiert nach Kipf, ebd.: 111). Allerdings schlägt er in diesem Zusammenhang vor, »das gerade für Schüler[*innen] mit Migrationshintergrund bestens bekannte Problemfeld Identitätsbildung und kulturelle Fremdheit in den Blick zu nehmen und auf der Basis des Textes verschiedene Lösungswege für das jeweils betroffene Individuum in Vergangenheit und Gegenwart zu diskutieren« (ebd.). Auch wenn dieser Ansatz um Individualisierung bemüht ist, so ist dennoch zweierlei daran problematisch: Zum einen kommt es auch hier unter Vorspiegelung einer »neutralen« Betrachtung zu einer Parallelisierung »antiker Mensch« und »Mensch mit Migrationshintergrund«, zum anderen wird die Bedeutung der Auseinandersetzung mit Identitätsbildung in einer als den Schüler*innen »fremd« konstruierten, »vermeintlich oder tatsächlich wirkmächtigeren Kultur« (ebd.: 109) – gemeint ist die Mehrheitskultur – auf der Seite der Schüler*innen mit Migrationshintergrund verortet. Eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Hierarchien in der Migrationsgesellschaft, auch von Schüler*innen ohne Migrationshintergrund oder Lehrer*innen, wird ausgespart.
5. E in migr ationspädagogischer B lick nach vorne Edward Said zeigte bereits in den 1970er Jahren, dass willkürliche Grenzziehungen der Art »unser Reich« versus »Barbarenreich«, die mit Konstruktionen von »Wir« versus »die Anderen« einhergehen, bis in die Literatur der griechischen Antike zurückreichen. Bereits in Homers Ilias lassen sich starke Grenzziehungen zwischen dem »Orient« und dem »Westen« finden. Die hierarchisierende Darstellung des Orients als heimliche Gefahr und als komplementäres Gegenstück zum Westen, sowie die Konstruktion der darin lebenden Menschen als unvernünftig waren bereits Teil der Tragödien von Euripides und Aischylos (Said 2012: 70-76). Auch in der römischen Antike wurde Wissen geschaffen, das oft das Ziel hatte »zu zeigen, dass die Griechen und Römer allen Anderen überlegen waren« (Said
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2012: 74)19. Mehr oder weniger explizit finden sich solche Vorstellungen auch in den fachdidaktischen Diskursen zu Latein und Griechisch wieder. Eine Skandalisierung dieser Diskurse wäre aus meiner Sicht allerdings nicht zielführend, zumal fehlende migrationspädagogische Perspektiven in fachdidaktischen Diskursen auch mit der Dethematisierung von (sprachlicher) Bildung in Migrationsgesellschaften in den meisten fachdidaktischen Curricula und in vielen pädagogischen Curricula der Lehrer*innenbildung erklärbar sind. Diesem Manko könnte mittelfristig durch interdisziplinäre Kooperationen in den Fachdidaktiken begegnet werden. Auch den häufig vorgebrachten Vorschlag, die Fächer Latein und Griechisch aus schulischen Curricula zu verbannen, halte ich nicht für sinnvoll. Vielmehr möchte ich die Frage aufwerfen, wie vereinfachenden Dualismenbildungen, die den analysierten Diskursen zugrunde liegen (antik vs. modern, abendländisch vs. morgenländisch, das Fremde vs. das Eigene etc.) begegnet werden kann. In diesem Sinne möchte ich abschließend auf Potentiale der Fächer Latein und Griechisch eingehen und Reflexionsangebote für deren Bedeutung in der schulischen Realität in Migrationsgesellschaften machen. Eine Reihe von fachdidaktischen Publikationen argumentiert mit dem epistemischen Potential der Bildungssprachen Latein und Griechisch. Dabei kommt es oft zu einer Auflistung von Lehnwörtern, die den Einfluss dieser Sprachen auf andere verdeutlichen sollen (etwa auf das Türkische, vgl. Schulz-Koppe 2014: 50). Die Bedeutung, die lateinische und griechische Termini in verschiedenen, vorwiegend als »europäisch« kategorisierten Sprachen haben, ist enorm. Eine bloße Sichtbarmachung dieser Bedeutung würde aber einen bedeutenden Teil der (Sprach-)Geschichte ausblenden. Aus einer postkolonialen Perspektive ist es notwendig, danach zu fragen, unter welchen historischen und gesellschaftspolitischen Bedingungen sich Sprachen oder Wörter verbreitet haben bzw. verbreitet oder verdrängt wurden. Eine Thematisierung der Bedeutung 19 | Zwei Sammelbände aus dem englischsprachigen Raum, die sich mit dem griechischen und römischen Altertum aus postkolonialer Perspektive beschäftigen, zeigen, wie vielschichtig Thematisierungsmöglichkeiten in der Verschränkung von Klassischer Philologie und Postkolonialer Theorie sind (Goff (Hrsg.) 2005, Hardwick/Gillespie (Hrsg.) 2010). Aus den in diesen Bänden versammelten Ansätzen ließen sich eine Reihe fachdidaktischer Fragestellungen und Perspektiven ableiten.
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wissenschaftlicher Termini aus anderen Sprachen würde die historische Bedeutung nicht-europäischer Wissenschaftskulturen verdeutlichen. Am Beispiel wissenschaftlicher Termini aus dem Arabischen, vor allem in Natur- und Wirtschaftswissenschaften oder in der Mathematik (vgl. Tazi 1998), ließen sich vielschichtige Überlieferungsketten und deren Geprägtheit von kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen thematisieren. Zudem ließe sich an diesem Beispiel zeigen, dass lateinische und griechische Begriffe nicht auf »natürliche« Art Eingang in die wissenschaftliche Terminologie fanden, sondern dass aufgrund sprachpuristischer Bestrebungen während des Humanismus viele arabische Termini aus der lateinischen Fachliteratur eliminiert und durch lateinische oder griechische Äquivalente ersetzt wurden (Tazi 1998: 75, 385). Solche und ähnliche Beispiele würden die Aufmerksamkeit der Schüler*innen dafür entwickeln bzw. stärken, dass die aktuelle Bedeutung von Latein und Griechisch, wie auch anderer für die Schüler*innen in und außerhalb der Schule relevanter Sprachen, ein Ergebnis sich wandelnder gesellschaftlicher Bedingungen und Machtkonstellationen ist. Auch wenn Latein und Griechisch »niemandes Muttersprache[n]« (Kipf 2014a: 24) sind, so können sie vor dem Hintergrund dieser Überlegungen jedenfalls nicht als »neutrale Vergleichsmedien« gelten. Neben auf Sprache bezogenen Fragen könnte eine Beschäftigung mit griechischen und lateinischen Texten im Original zu einer intensiven Auseinandersetzung mit Welt- und Selbstbildern führen. Allerdings wird im Versuch oder in der Überzeugung, von einer vermeintlich »höheren« oder »neutralen« Warte aus sprachliche und inhaltliche Fragen zu analysieren, Komplexität reduziert, die produktiv genutzt werden könnte, wenn die Perspektivität in der Wahrnehmung von Geschichte, der Interpretation von Literatur und den darin zugrunde gelegten Menschenbildern zum konstitutiven Teil der Analyse gemacht wird und Schüler*innen und Lehrer*innen in diesem Sinne ihre eigene Involviertheit (vgl. Messerschmidt 2009) in gesellschaftliche Verhältnisse mitreflektieren. Die Lektüre von altgriechischer und lateinischer Literatur kann – und darin stimme ich mit fachdidaktischen Positionen überein – vielfältige Anregungen bieten, um über kulturelle Fragen zu diskutieren. Allerdings ist eine Gleichsetzung von »Kultur« mit »Nationalkultur« oder »europäischer Kultur« wenig gewinnbringend – gerade auch hinsichtlich des Ertrags von literarischen Interpretationen.
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Zudem erhalten durch die Konstruktion eines ausnahmslos positiv besetzten »Europa«, das unauflösbar mit dem Christentum und dem Abendland verwoben wird, manche Schüler*innen durch den Unterricht in alten Sprachen keine besonders attraktiven Identifikationsangebote. Vor dem Hintergrund der Bedenken Derridas, dass es »eine gewissermaßen gefährliche Tendenz gibt, aus dem kommenden Europa ein rein christliches Europa zu machen« (zitiert nach Englert 2009: 35), spielen diese Überlegungen vor allem hinsichtlich religiöser Differenzlinien eine Rolle, die an Schulen relevant sind bzw. gemacht werden. Eine Reflexion darüber, welche möglichen Subjektpositionen die oben erwähnte Trias Europa*Christentum*Abendland für mehrheitsangehörige Schüler*innen einerseits und für als natio-ethno-religio-kulturell Andere geltende Schüler*innen andererseits bereithält, halte ich für dringend notwendig. In diesem Sinne könnten antike Texte nach Konstruktionen unterschiedlicher Gruppen und damit zusammenhängender gesellschaftlicher Bedingungen im antiken Griechenland (vgl. Flaig 2005, Gronau 2013, Klinger 2005, Weiler (Hrsg.) 1988) befragt werden. Eine Aufmerksamkeitsrichtung auf die Entstehung sozialer Differenzlinien wie etwa Gender, Milieu, Behinderung, Natio-Ethno-Kultur, Religion etc. und deren Entwicklung bzw. Veränderungen in der europäischen Geschichte bzw. in den Geschichten der einzelnen Nationalstaaten würde den Blick der Schüler*innen für die Vielschichtigkeit und Komplexität sozialer Zusammenhänge schärfen und deutlich machen, dass es zu kurz gegriffen wäre, Europa als idealen Endpunkt einer geradlinigen kulturhistorischen Entwicklung zu sehen. Vielmehr könnte etwa die Lektüre philosophischer Texte im Original die europäische Tradition dualistischer Kategorisierungen (vgl. Klinger 2005) deutlich machen. In diesem Sinne könnten Schüler*innen beispielsweise antike Texte hinsichtlich der ihnen zugrunde liegenden essentialistischen und naturalisierenden Geschlechterkonzepte analysieren und sich auf diese Weise Denkräume aneignen, in denen eine vorschnelle Gleichsetzung antiker (Geschlechter-)Verhältnisse mit denen von Migrationsanderen zumindest unwahrscheinlich würde. Ein solcher Blick würde ein Denken ermöglichen, das über eine unilineare Entwicklung vom antiken Griechenland bis zum aktuellen Europa als idealisierten Endpunkt hinausreicht. Zudem würde dadurch der dichotomisierte Raum »Antike – Heute« differenziert und erweitert und zugleich ein hierarchisierender Vergleich mit dem, was sich außerhalb Europas befindet oder als außerhalb gedacht wird, verhindert.
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Wie über sich selbst nachdenken? Machtkritische Reflexionsperspektiven für Pädagog _innen im Kontext von Mehrsprachigkeit Günay Özayli, Rosemarie Ortner
Sich im Zuge ihrer Ausbildung ›Reflexionskompetenz‹ anzueignen, ist mittlerweile für angehende Lehrer_innen eine viel zitierte Aufgabe geworden (vgl. u.a. Publikation der Arbeitsgruppe EPIK: Paseka/Schratz/ Schrittesser 2010). Worauf sich die geforderte Reflexion und die Fähigkeit dazu beziehen, kann allerdings sehr unterschiedlich verstanden werden. Dieser Beitrag möchte dazu einen Vorschlag machen. Das erziehungswissenschaftliche Nachdenken über pädagogisches Handeln im migrationsgesellschaftlichen Kontext hat den Blick für die konstitutive Ungleichheit in pädagogischen Situationen und deren Verquickung mit gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen geschärft. Lehrer_innenhandeln ist aus dieser Perspektive immer auch das Handeln von in Differenzordnungen der Migrationsgesellschaft Verorteten; etwa als Sprecher_innen der hegemonialen Sprache gegenüber Sprecher_ innen, die in delegitimierten Sprachen kompetenter sind als in Deutsch oder denen ein solcher Kompetenzunterschied zugeschrieben wird. Diese Verortungen in gesellschaftlichen Machtverhältnissen anzuerkennen bedeutet auch, von einem Involviert-Sein in die Herstellung von Ungleichheit und in Diskriminierung, etwa in die Reproduktion von Linguizismen (vgl. Dirim 2010), auszugehen. Für Theorien und Praktiken zu pädagogischer Professionalisierung ergibt sich daraus ein Bemühen um machtkritische Perspektiven auf pädagogisches Handeln und professionelles Selbstverständnis. Kessl und Heite (2009) diagnostizieren in den Debatten um Professionalisierung einen Mangel an Machtanalyse (auch)
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auf der Ebene des pädagogischen Handlungsvollzugs (vgl. ebd: 687). Anliegen dieses Beitrags ist es, dieser Diagnose durch Konkretisierung der oben skizzierten Perspektive für pädagogische Ausbildungen zu begegnen. Im Folgenden wollen wir uns mit der Vermittlung einer machtkritischen Perspektive auf pädagogisches Handeln im Kontext von Diskursen über Mehrsprachigkeit in Migrationsgesellschaften beschäftigen und die Möglichkeiten befragen, mit dieser theoretischen Brille spezifische Formen von Reflexion zu befördern. Dies erscheint uns auch deswegen sinnvoll und notwendig, da in machtkritischen Überlegungen ein spezifisches Verhältnis von pädagogischem Handeln und Reflexion gedacht werden kann: Deutlich werden soll, dass ein durch machtkritische Perspektiven inspiriertes Nachdenken über (eigenes) pädagogisches Handeln ein Mehr an Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Wir greifen dazu eigene Erfahrungen aus Seminaren für angehende Lehrer_innen in Österreich auf und versuchen, einige der dort erfahrenen ›Hürden‹ vor dem Hintergrund von sprachtheoretischen und rassismuskritischen Überlegungen zu bearbeiten. Die ausgewählten Situationen erlebten wir mit einer Gruppe angehender Lehrer_innen in einem Proseminar an der Universität Graz unter dem Titel »Sprache – Macht – Bildung«. Die Basislektüre präsentierte den Studierenden eine machtkritische Perspektive auf Sprache generell und auf den Erwerb der dominanten Sprache Deutsch im Kontext von Migrationsgesellschaft. Den Ausgangspunkt der Auseinandersetzungen bildete die These, dass in europäischen urbanen Räumen von einer »sprachlichen ›Super-Diversity‹« (Gogolin 2010, im Anschluss an Vertovec 2006) auszugehen ist, was das traditionell monolinguale Selbstverständnis europäischer Bildungsinstitutionen (vgl. Gogolin 1994) herausfordert. Die Vielzahl von Verständigungssprachen innerhalb einer Gesellschaft und die daran geknüpften Prozesse von Dominanz und Hegemonie zeigen sich auch in den Schulklassen und verlangen von pädagogisch professionell Tätigen ein neues Nachdenken über damit verbundene schulische Lehr- und Lernprozesse. Wir konzipierten unsere Lehre als Arbeit an diese migrationsgesellschaftliche Situation bestimmenden Diskursen über Sprache und Schule – als Auseinandersetzung, die den Studierenden Angebote machen will, ihre Profession und sich selbst in diesen Diskursen kritisch und dabei handlungsfähig zu positionieren. Die im Folgenden impulsgebenden Situationen in unseren Kursen erscheinen uns als wiederkehrend, da tief in Diskursen über Sprache
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und Schule verstrickt und gerade deshalb als besonders herausfordernd für die eigene Lehrtätigkeit. In diesen Situationen kamen unserer Lesart nach hegemoniale Vorstellungen über Nicht-Verstehen und über Normvermittlung sowie der Wunsch nach pädagogischen Happy Stories zum Ausdruck.
M ehr als N icht-V erstehen In einer Plenumssituation kommt die Frage auf, wie denn unterrichtet werden könne, wenn eine Schülerin bzw. ein Schüler der Klasse die Unterrichtssprache nicht versteht. Wie es möglich ist, mit nur geringen oder gar keinen Kenntnissen der Unterrichtssprache am Unterricht teilzunehmen. Die Studierenden können sich nicht vorstellen, wie didaktisch und methodisch mit einer solchen Situation umgegangen werden könnte. Es scheint, als wäre das eine Grenze pädagogischen Handelns im Unterricht. Dieses Nicht-Vorstellen-Können verweist uns nicht nur auf die unzureichende Auseinandersetzung mit Deutsch als Zweitsprache-Erwerb in der Lehrer_innenbildung, sondern auch auf grundlegende Vorstellungen von Sprache in Hinblick auf ihre Konzeption und dadurch entstehende Probleme. Deutlich wird dies, wenn man fragt, wie eigentlich eine Situation zustande kommt, in der sich zwei oder mehrere Sprecher_innen einig werden, nicht dieselbe Sprache zu sprechen. Spricht jemand in einer Sprache, die ich nicht verstehe, erscheint eine unüberbrückbare Kluft zwischen dem Gehörten und dem Prozess der Identifizierung, das Gesagte kommt als unverständliches Gemurmel an, ohne dass dessen Bedeutung identifiziert werden kann. Die Bedeutung des Gesagten ist nicht identifizierbar, wenn Wissen einer bestimmten Sprache fehlt, aber das Gesagte wird doch identifiziert, nämlich als unverständlich. Und um zu dieser Erkenntnis zu kommen, braucht es ein anderes Wissen. Es braucht ein Wissen um Sprache_n und um deren Grenzen, also beispielsweise das Wissen, dass jede Sprache (z.B. Deutsch) eine – mehr oder minder normative – Einheit darstellt. Wir verstehen etwas, indem wir etwas nicht verstehen, d.h. wir greifen auf ein Wissen zurück, welches nicht unmittelbar aus der konkreten Situation heraus entstanden ist. Der Zugriff auf Wissen oder nach Valentin N. Vološinov (1975) »Ideologien« befähigt Bedeutungen zu entschlüsseln. Es wird also das Kriterium Verstehen bzw. Nicht-
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Verstehen herangezogen, um etwas Gehörtes zu erkennen und dessen Bedeutung hervorzubringen. Die Differenzierung ist nicht nur für den Prozess der Entschlüsselung wesentlich, sondern macht (im doppelten Sinne) die Identifizierung erst möglich. Das Nicht-Verstandene erlangt Bedeutung, indem es als bedeutungslos identifiziert wird. Als Gesagtes hat es aber immer heterogene Bedeutungen, erst durch den Rückgriff auf die spezifische Ideologie erscheint es als bedeutungslos. Diese Ideologie verleitet zu dem Schluss, dass pädagogisches Handeln unmöglich wird, sobald eine Sprache nicht verstanden wird. Oder aber auch, dass pädagogisches Handeln ein bestimmtes Ausmaß an Sprache benötigt.1 Valentin N. Vološinovs sprachtheoretische Sicht verortet das Problem der Mehrdeutigkeit schon auf der Ebene des Zeichens. Das Zeichen wird »ideologisch« und ermöglicht es zwischen Zeichen und der Wirklichkeit eine weitere Ebene einzuziehen: die Ideologien. Vološinov markiert somit jede Referenz als ideologisch (vgl. Vološinov 1975: 100). Es handelt sich aber nicht um eine Ideologie, vielmehr spricht Vološinov von Ideologien, welche durch ihre Mannigfaltigkeit unterschiedliche Bedeutungen und unterschiedliche Aspekte der Wirklichkeit hervorrufen können. Die hegemoniale Ideologie beispielsweise, so Vološinov, stützt sich auf die Vorstellung von der Einheit der Sprachen, der Sprachgemeinschaft und deren Bedeutungskonstitution und (re-)produziert somit die Vorstellung einer identitären Struktur in Hinblick auf Sprache, Gemeinschaft, auf bauend darauf aber auch die Identifizierung und Zuordnung von Subjekten anhand dieser identitären Einheiten. Soziolinguistisch charakterisierte Gruppen (beispielsweise Zuschreibungen von Soziolekt oder Ethnolekt) produzieren, so Vološinov, keine anderen Zeichen, im Gegenteil, unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen laden ein bestimmtes Zeichen durch ihre ideologische Setzung auf. Die Bedeutung von Zeichen konstituiert sich demnach in Machtverhältnissen. Es geht nicht darum, dass manche Gruppen eine Sprache sprechen, die die anderen nicht verstehen, sondern: Die ideologische Prägung der Bedeutung und auch des Wortes wird durch hegemoniale Praxen homogenisiert. Der Diskurs um Sprache_n und ihre Differenzierungen zueinander reproduziert also nicht nur die Ideologie der Nation, der Ethnie/›Rasse‹ und Kultur, 1 | Dieses Argument wird auch in der Praxis der Elementarpädagogik und in bildungspolitischen Debatten darum aufgegriffen, indem »migrantischen« Kindern generell ein Mangel an Deutschkenntnissen zugeschrieben wird.
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sondern produziert gleichzeitig dazu auch die Vorlage für ein Subjekt, welches sich zu diesem Diskurs verhält und sich als Teil dieser konstruierten Einheiten versteht. In der Konzeption von Vološinov hingegen wird von den heterogenen Ereignissen der Rede als soziale Artikulation aus gedacht. Die Bedeutung individueller Rede entsteht nicht durch den Bezug auf die Spracheinheit_en, das Kollektiv oder durch die hegemoniegeschaffene Bedeutungsfixierung, sondern die individuelle Rede wird bei Vološinov zur Antwort, indem sie sich auf das soziale Gefüge bezieht: im Gespräch, in einem antwortenden Text, aber selbst dann, wenn das Gesagte des Gegenübers als unverstehbar oder als antwortlos betrachtet wird. Die Bedeutungen des Wortes zirkulieren und ermöglichen somit auch die Heterogenität von Bedeutungen. Dies funktioniert nur, weil die »Vieldeutigkeit […] ein konstitutives Merkmal des Wortes« (ebd.: 167) ist. Vološinov beschreibt die Veränderung zur Aktivität, indem er das Wort im Werden begreift: »[E]in solches Wort hat eigentlich überhaupt keine Bedeutung; es ist ganz Thema. Seine Bedeutung ist von der konkreten Situation seiner Verwirklichung nicht zu trennen.« (Ebd.) Welche Antwort können wir mit Vološinov auf die Frage nach pädagogischem Handeln in heterolingualen Kontexten geben? Etwas Gesagtem oder Nicht-Gesagtem nach normativen Kriterien Bedeutung zu entziehen, indem es als unverständlich identifiziert wird, und somit der Frage nach pädagogischem Handeln auszuweichen, bedeutet, die ideologische Konstellation in der pädagogischen Situation zu reproduzieren. Was also tun, wenn Kriterien der Sprachkenntnisse pädagogisches Handeln als unmöglich erscheinen lassen? Der Versuch mehr an Bedeutungen zu produzieren und somit pädagogischen Situationen gerecht zu werden wäre ein Ansatz. Nämlich sich nicht an den Grenzen des Verstehbaren zu orientieren, sondern an dem Gesagten und dessen Bedeutungsmöglichkeiten. Nicht eine gemeinsame Sprache zu sprechen bedeutet somit nicht das Ende pädagogischer Überlegungen. Der hier vorgestellte sprachtheoretische Zugang bietet eine andere Sichtweise auf pädagogische Situationen des vermeintlichen Nicht-Verstehens und ermutigt Studierende zu kreativen didaktischen Überlegungen, um das Gesagte zur Geltung zu bringen, und zu reflexiver Befragung eigener Konstruktionen von Verstehen und Nicht-Verstehen.
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H andelnde Teilhabe und N ormvermit tlung »Ich muss die Fehler korrigieren, damit sie es richtig machen.« »In der Schule wird die Sprachnorm vermittelt, d.h. ich muss im Unterricht die Norm vermitteln.« »Zum Beispiel ist Biologieunterricht kein Unterricht, in dem kreatives Schreiben möglich ist, hier müssen Fakten genannt werden.« »Heißt das jetzt, sie müssen kein Deutsch lernen?«
In Diskussionen im Kurs kam des Öfteren das Problem der Normvermittlung als Aufgabe der Schule bzw. von Lehrenden zur Sprache. Einige angehende Lehrer_innen, die Lehramt für Deutsch studieren, orientieren sich an der Vorstellung, dass die Vermittlung korrekten Schreibens und Sprechens eine wesentliche Aufgabe im Unterricht ist, und dementsprechend die Korrektur der fehlerhaften Grammatik und Rechtschreibung auch in anderen Fächern als zentral betrachtet werden muss, da ja – so die Argumentation – die Fehler durch diese Vorgehensweise erkannt und verlernt werden können. Die Auswirkungen von schlechten Rechtschreib- bzw. Grammatikkenntnissen ließen sich beispielsweise an Texten im öffentlichen Raum festmachen, wo »kein richtiges Deutsch mehr verwendet wird«. Ob die Botschaft etwa eines Werbeplakats bei nicht »korrekter« Anwendung dennoch ankomme oder aber nicht lesbar und/oder verstehbar wird, wurde dabei nicht diskutiert. Als weitere Begründung für die ständige Fehlerkorrektur und die strikte Orientierung an korrekter Sprachverwendung wurde aber auch die Partizipation am Arbeitsmarkt genannt. Wer die sprachlichen Regeln nicht richtig anwende, könne nicht davon ausgehen eine Anstellung beispielsweise als Sekretär_in zu bekommen. Der Sprachlern- und auch Schreibprozess wird hier verstanden vor dem Hintergrund, dass Fehler nicht gemacht werden dürfen, und wenn diese sich trotzdem ereignen, die Korrektur als Werkzeug der Normvermittlung eingesetzt wird. Angenommen wird, dass das Aufzeigen der Abweichung von der Norm für den Sprachlernprozess wesentlich ist. Hier gerät die Erfahrung der Lehrenden in den Vordergrund, und die Erfahrung der lernenden schreibenden/sprechenden Subjekte wird im Verhältnis zur Norm als Abweichung markiert. Sie werden somit nicht als vollwertig legitime Sprecher_innen anerkannt.
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Das Machtverhältnis, das in der Korrektursituation zugespitzt zum Ausdruck kommt, organisiert sich aber nicht nur durch die Hierarchisierung von Erfahrungen, sondern gleichzeitig um ein spezifisches Wissen herum, nämlich Wissen um Norm und Abweichung. Hinter diesem Wissen verbirgt sich die Vorstellung, dass die Sprache ein stabiles Gebilde darstellt, welches erlernt werden kann. Wenn von einer Norm aus gedacht wird, erscheint die Sprachform als identisch und eindeutig, sie lässt keinen Spielraum für anderweitige Bedeutungen zu und ist somit auch stabil gedacht und im Weiteren auch als stabile Einheit für alle zugänglich und erlernbar. Die Frage, wer Zugang zu dieser normativ identischen Sprachform hat bzw. durch ihr_sein Sprechen und Schreiben Anerkennung findet oder nicht, erscheint in einem solchen Denken als nicht relevant. Das Werden der Sprache – also der Prozess der Aneignung – und die soziologischen Bedingungen der Ressourcen geraten nicht in den Blick. Eine machtkritische Perspektive hingegen ermöglicht es, die Entstehung der Norm als Praktiken der (Re-)Produktion von gesellschaftlichen Machtverhältnissen zu verstehen. Wenn Sprache nicht als Einheit und Normformation konzipiert wird, können sprachliche Lehr- und Lernprozesse nicht als bloße Aneignung der Norm verstanden werden. Die Spracheinheiten und somit die Vorstellung von Norm und Abweichung können demgegenüber vielmehr als sprachliche Ordnungsstrukturen gefasst werden, welche geteiltes Sprechen – z.B. in Hinsicht ihrer Wertung die Teilung in »richtig oder falsch« quasi »legitimes bzw. illegitimes Sprechen« – produzieren. Die ständige Orientierung an der Norm verstellt in Lernverhältnissen den Blick auf das Wesentliche, nämlich auf die Singularität der Situation, in der etwas gesagt wird. Valentin N. Vološinov (1975) beschreibt in seiner sprachtheoretischen Auseinandersetzung genau jenen konstitutiven Teil, in dem die sprachliche Form wie auch das Zeichen, also das Gesagte wie auch das Geschriebene, in jeweils verschiedenen Kontexten gebraucht werden können. Nicht die Identität, sondern die Potenzialität ist hier konstitutives Merkmal der Sprache. Um Sprache zu konzipieren, wird kein normativer Rahmen gebraucht, der etwas verstehbar macht, sondern vielmehr die »Orientierung im Werden«, d.h. »in der lebendigen Redearbeit nicht mit dem abstrakten System normativ identischer Sprachformen, sondern mit der Sprache als Rede im Sinne der Gesamtheit der möglichen Kontexte, in denen eine bestimmte sprachliche Form gebraucht werden kann.« (ebd: 126). Die Möglichkeit und die Singulari-
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tät der Kontexte geben den sprachlichen Vollzügen erst die Bedeutung. Nicht die Notwendigkeit der Wiederholung der Norm, sondern die Möglichkeiten des Gebrauchs verändern den Sprachgebrauch und somit auch die Sprache_n. Unter dieser Perspektive erscheint die Schule als Ort, an dem Sprache werden und folglich auch gelernt werden kann. Die Orientierung im Werden als Rahmen in Lehr- und Lernsituationen spielt für die Aneignung der Sprache_n und Bedeutungsfindung eine nicht zu vernachlässigende Rolle: Indem die Sprache nicht an normativen identischen Sprachformen gemessen wird, sondern die Veränderung als konstitutives Moment gesehen wird, erscheinen Lehr- und Lernverhältnisse zwar an Stabilität zu verlieren, aber es entsteht dadurch die Möglichkeit, Lernprozesse als Teilhabe am sozialen Geschehen Unterricht zu verstehen. »Handelnde Teilhabe ist das Medium, in dem Sprache erlernt wird«, schreiben Mecheril und Quehl (2006: 358) und betonen den Aspekt der Handlung. Die Möglichkeit der handelnden Teilhabe aller, auch derjenigen, die durch ein Konzept von Norm und Abweichung mit ihrer Sprache als auf der »falschen« Seite stehend betrachtet werden, bringt also nicht nur diejenigen zum Sprechen, welche durch ihre soziolinguistischen Bedingungen »fehlerfrei« sprechen und schreiben, sondern auch jene, die diese Ressourcen nicht mitbringen. Und wenn eine pädagogische Maxime darin zu sehen ist, dass »jedes Kind, das die Schule betritt, […] seine Stimme finden (muss)« (ebd.: 371), dann ist die Abwendung von der sprachlichen Norm pädagogisch notwendig, denn darin liegt genau jener Moment, welcher zu Handlungsbefähigung und Aktivität anregt (vgl. ebd.). Pädagogisch professionell wäre, begründet entscheiden zu können, wann der Rekurs auf sprachliche Normen institutionell gefordert oder in Hinblick auf Kenntnisse der Norm pädagogisch sinnvoll ist, und wann dieser Rekurs zugunsten von handelnder Teilhabe aller ausgesetzt werden muss. Der vorgestellte theoretische Zugang ermöglicht, Studierende für die Problematik des Handelns innerhalb dieses pädagogischen Paradoxons zu sensibilisieren.
Wie über sich selbst nachdenken?
E chte F r agen hinter pädagogischen H appy S tories »Die Texte sind alle so negativ.« »Es gibt doch sicher genug gelungene Beispiele, wo Migrant_innen in Österreich gut aufgenommen werden.« »Ich hab beim Lesen das Gefühl bekommen, ich kann nicht Lehrerin werden, ich muss mich schlecht fühlen, weil ich nicht mehrsprachig bin. Die kritisieren mich, uns und unsere Gesellschaft.«
Der in den Zitaten ausgedrückte Widerstand gegen das Theorieangebot in unserem Kurs wurde insbesondere von einigen mehrheitsösterreichischen Studierenden eingebracht und spitzte sich gegen Ende der ersten zweitägigen Einheit so weit zu, dass in einem Video repräsentierte negative Erfahrungen von Migrant_innen mit der Hegemonie der deutschen Sprache sowie ähnliche Erfahrungen beschreibende Wortmeldungen von Anwesenden teilweise als nicht legitim behandelt wurden. So interpretieren wir nonverbale Reaktionen sowie den wiederholten Verweis auf die ›doch bestimmt zur Genüge vorhandenen positiven Erfahrungen‹, die im Kurs/in den Texten zu wenig Aufmerksamkeit erhalten würden. In solchen Äußerungen lässt sich ein Diskurs erkennen, der das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft als eines präsentiert, in dem sich Zugehörigkeit über Identifikation herstellt. Die Kritik an strukturellen Verhältnissen in Österreich, die für bestimmte Personen zu Diskriminierungserfahrungen führen, wird als Kritik an der eigenen Person verstanden oder gefühlt. Daraus resultiert Hilflosigkeit im Handeln – »ich bin nun mal nicht mehrsprachig aufgewachsen« –, der mit Zurückweisung der Kritik, als kollektive Schuldzuweisung verstanden, begegnet wird. Mit dieser Zurückweisung ist eine Delegitimierung verletzender Erfahrungen verknüpft, die lediglich als Rand- oder Ausnahmeerscheinung in einem doch eigentlich gelingenden (und als solches in den Grundlagentexten des Kurses zu wenig gezeigten) ›Integrationsgeschehen‹ erscheinen. Darin wird auch eine Haltung sichtbar, nach der das Augenmerk auf schwierige und leidvolle Erfahrungen und damit offene Fragen pädagogischen Handelns zu legen nicht legitim erscheint – insbesondere nicht, wenn keine Handlungsempfehlungen damit verknüpft werden, und nicht für den Ausbildungskontext, in dem Handlungsfähigkeit entstehen soll.
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Ein genauerer, theoriebezogener Blick auf die in dieser Kurssituation angesprochenen Affekte erscheint uns lohnenswert. Astrid Messerschmidt (2010) analysiert den Umgang mit Rassismus in Bildungssituationen, und eines der von ihr beschriebenen Muster bietet sich auch als Interpretationsfolie für die beschriebene Kurssituation an: das von Messerschmidt in Lehrkontexten beobachtete Phänomen, dass die Benennung von Rassismus skandalisiert, als Beschuldigung verstanden und als solche zurückgewiesen wird, ohne dass aber die Betreffenden in der Benennung überhaupt persönlich angesprochen wären. Die Aufmerksamkeit verlagert sich dabei von der geäußerten Diskriminierungserfahrung hin zur Vorstellung, beschuldigt zu werden (vgl. ebd.: 43). Messerschmidt weist darauf hin, dass insbesondere in emotional vorgetragener Kritikabwehr dieser Art zum Ausdruck kommt, dass etwas ›getroffen‹ wurde, eine Ahnung von der eigenen Verstrickung in strukturelle Diskriminierungsverhältnisse. Mit Ingmar Pech (2006) schlägt sie vor, in Bildungssituationen zwischen Schuld- und Verantwortungsübernahme zu unterscheiden, um dieser Reaktion zu begegnen. Dieses diskursive Angebot an ein Selbstverständnis der Studierenden – sich als verantwortlich zu begreifen, aber nicht zugleich automatisch als schuldig – geht allerdings mit einem bestimmten Verständnis des Zusammenhangs von Individuum und Gesellschaft einher, das herausfordernd sein kann. Der Begriff »Involviert-Sein« könnte dies markieren: Dass ich als Pädagog_in mit meinem Selbstverständnis und Handeln immer in gesellschaftliche (diskursive) Verhältnisse verstrickt bin und ein Aussteigen daraus nicht möglich ist – dass aber verantwortliches pädagogisches Handeln innerhalb dieser Verhältnisse die professionelle Anforderung darstellt (vgl. Ortner/ Hammerl 2015). Die Anerkennung von leidvoller Erfahrung, die durch die beschriebene Kritikabwehr und mit Fokussierung auf den Wunsch nach Geschichten des Gelingens verweigert wird, könnte auch als pädagogisch notwendig und als theoretische Ressource begriffen werden. Eine solche Haltung lässt sich im Anschluss an Sara Ahmed (2013 [2007]) der oben skizzierten Kurssituation entgegensetzen. In ihrer Auseinandersetzung mit »cultural politics of happyness« analysiert Ahmed Glücksversprechen und das Verlangen nach Happy Stories, an die ein ›Sich-gut-Fühlen‹ andocken kann, vor dem Hintergrund feministischer und postkolonialer Theorie. Mit der Figur der feministischen Spaßverderberin (»killjoy feminist«) und der Figur des_der melancholischen Migrant_in regt sie an, sich nicht
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mit »happy surfaces« zufrieden zu geben, sondern zu analysieren, was durch diese verdeckt wird. Die verdeckten Erfahrungen in Happy Stories über Mulikulturalismus oder Integration und die Akteur_innen, die an den leidvollen Erfahrungen festhalten und sie artikulieren, erscheinen in ihrer Analyse als Potenzial, von dem ausgehend alternative Bilder von Glück überhaupt erst entstehen können. Bezieht man Ahmeds Argumentation auf Bildungsprozesse, so müsste es in Bildungsbemühungen und im Versuch, Gesellschaft zu verstehen, zuallererst darum gehen, solcher Verweigerung von glücklichen Geschichten nachzugehen. Einer Verweigerung, die eben auch auf ein grundlegendes Nicht-Gelingen von pädagogischem Handeln verweist. Wer sich darauf einlässt – und das wäre ein Angebot an angehende Lehrer_innen –, könnte auf Fragen stoßen, die in einem forschenden und politischen Sinn tatsächlich offen und zu bearbeiten sind. Fragen, die sich im Versuch ergeben, Gesellschaft, Pädagogik und ihre Grundbegriffe zu verstehen, aber auch und insbesondere in den Anforderungen pädagogischen Handelns. Angehende Lehrer_innen können mit einer solchen Haltung Anregung und Ermutigung finden, pädagogische Probleme anzugehen, für die es kein Rezeptwissen, kein Modellhandeln gibt, die aber drängen. Das Angebot wäre, sich in diesem Sinne als professionell zu verstehen. Die Perspektive, in pädagogischen Ausbildungssituationen den Verdeckungen durch Happy Stories auf der Ebene der Affekte nachzugehen, hält allerdings eine weitere Herausforderung bereit. Ahmed führt im oben zitierten Text aus, dass man auf Affekte (bzw. Objekte, denen bestimmte Affekte anhaften) immer mit ›Voreinstellung‹ trifft. Das kann situativ zu verstehen sein (ich betrete einen affektiv geladenen Raum bereits in einer bestimmten Stimmung), es kann aber auch strukturell gedacht werden: Jede Person ist aus ihren Positionierungen in gesellschaftlichen Machtverhältnissen heraus bestimmten Affekten gegenüber ›eingestellt‹ und wird so durch sie affiziert (vgl. ebd.: 521-523). Das ist pädagogisch relevant und wird in der oben beschriebenen Kurssituation deutlich: Das Verlangen nach Happy Stories ist in dieser Gruppe kein von allen Geteiltes, aus bestimmten Positionierungen heraus ist vielmehr die Verweigerung von Geschichten des Gelingens wesentlich. Daher ist Verletzbarkeit in dieser Situation grundsätzlich unterschiedlich verteilt: Das Verlangen nach Happy Stories, das leidvolle Erfahrung delegitimiert, kann jene erneut verletzen, die diese zum Ausdruck bringen. Mit der ungleichen Verteilung von Verletzbarkeit muss in der Gestaltung pädagogi-
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scher Situationen umgegangen werden; es gilt abzuwägen zwischen dem Reflexionspotenzial einer Auseinandersetzung mit Affekten und dem Verletzungspotenzial, das damit für einige Personen einhergeht. Dieses Abwägen geschieht allerdings immer ohne letztendliche Gewissheit, wer zu welchen Dimensionen von Machtverhältnissen wie positioniert ist. Verletzbarkeit ist nicht eindimensional und haftet Personen nicht an sich an. Das Risiko der vorgeschlagenen Strategie betrifft auch die Pädagog_ innen in ihren professionellen Entscheidungen. Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Positionierungen innerhalb von Machtverhältnissen muss in pädagogischen Situationen notwendig zwischen geteilter und nicht geteilter Erfahrung angesiedelt sein: zwischen Einfühlung in (Diskriminierungs-)Erfahrungen anderer einerseits sowie der Einsicht in die Grenzen von Empathie und in die Differenzen der Differenzerfahrungen andererseits. Das kann am Umgang mit individuellen Erfahrungen in Sprachkontexten reflektiert werden – in Abgrenzung zu einem Mehrsprachigkeitsdiskurs, der immer schon weiß, wer die Anderen, Mehrsprachigen sind, und der zwischen Überhöhung der Bedeutung von Sprachkompetenzen für gesellschaftliche Teilhabe, insbesondere in hegemonialen Sprachen, und Abwertung von marginalisierten Sprachen oszilliert. Brigitta Busch (2012) entwirft einen Mehrsprachigkeitsbegriff, der anders als herkömmliche Definitionen geeignet ist, Othering-Prozesse vorerst zu umgehen. Ihr Text trägt den Untertitel »Niemand ist einsprachig«. Damit meine sie »eine Erfahrung, die jede_r kennt, jene des Dazu-Gehörens oder eben nicht Dazu-Gehörens aufgrund unterschiedlicher Arten des Sprechens. Einsprachig wäre demnach nur, wer diese Erfahrung nie gemacht hat, wer sich im Sprechen nie als ›anders‹ erlebt hat. (Ebd: 7)« Mit dieser Sichtweise grenzt sie sich von Fragen nach der Anzahl von erlernten Sprachen oder deren Abfolge als L1 bis Lx ab und stellt das Spracherleben als von machtvollen Prozessen produziertes in den Mittelpunkt. Das Beispiel, das sie dazu bringt, ist das einer jungen Frau, die sich an den Schulwechsel vom Land ins Gymnasium in der Landeshauptstadt erinnert und dabei ihre Erfahrung der Nicht-Zugehörigkeit aufgrund ihres Sprechens, das sie von den Mitschüler_innen aus »höheren Schichten« und mit »landeshauptstädtischem Hochdeutsch« unterschied (ebd: 8). Für Bildungssituationen bietet ein solcher Zugang zum Begriff Mehrsprachigkeit das Potenzial, allen Teilnehmer_innen zugänglich zu sein und eigene Erfahrungen von sprachlicher Nicht-Passung und Nicht-Zugehörigkeit aufrufen zu können. Zugleich ist dies proble-
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matisch, nivelliert es doch diese Erfahrungen, die in einer Migrationsgesellschaft strukturell unterschiedlich gelagert sind. Für Bildungsprozesse müsste daher im Anschluss die Differenz der Differenzerfahrungen sichtbar gemacht werden, um sich nicht mit einer pädagogischen Happy Story (›Wir sind alle mehrsprachig‹) zufrieden zu geben. Und dazu ist es notwendig, das eigene Involviert-Sein zum Thema zu machen: Je nach thematisierter Machtdimension bedeutet das, an manchen Punkten Erfahrungen anderer anzuerkennen und Verantwortung zu übernehmen für die sie verursachenden Strukturen, oder sich im Zur-Verfügung-Stellen eigener Erfahrungen dem Risiko der Verletzbarkeit und Nicht-Anerkennung auszusetzen. Solche Reflexion im Ausbildungskontext anzuregen ist allerdings notwendig wie risikoreich.
F a zit Unter machtkritischer Perspektive bedeutet Reflexion ein Nachdenken über eigenes professionelles Handeln vor dem Hintergrund eigenen Involviert-Seins in Machtverhältnisse. Anhand der Beispiele aus der Lehre haben wir zu zeigen versucht, dass diese Perspektive nicht nur eine theoretisch voraussetzungsreiche ist, sondern auch, dass sie, und das ist ein wesentliches Kriterium für den Einsatz in pädagogischen Ausbildungen, ein Mehr an Optionen im Hinblick auf pädagogisches Handeln ermöglicht. Eröffnet werden Handlungsmöglichkeiten, die über ein Rezept oder über eine Kompetenz im herkömmlichen Sinne hinausgehen: Nicht Verstandenem Bedeutung zuzusprechen und es somit anzuerkennen, kann die Möglichkeit eröffnen, sich auch in Situationen ohne geteilte Sprachkenntnisse als professionell Handelnde adressiert zu verstehen und somit der Anforderung gerecht werden zu können, professionell zu handeln. Die machtkritische Perspektive eröffnet einen Möglichkeitsraum für situative Reflexion und wendet sich ab von der Vorstellung pädagogischen Handelns als einer eindeutigen memorierbaren Praktik. Durch die Anerkennung des Werdens der Sprache werden wir als Pädagog_innen adressiert und sind gleichzeitig dafür verantwortlich, diese Prozesse durch unser pädagogisches Handeln herzustellen. Entscheidend ist dabei, nicht-normgerechte Artikulationen anzuerkennen, denn dadurch wird handelnde Teilhabe ermöglicht.
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Die machtkritisch angeregte Praxis, ›das Spiel zu verderben‹ und leidvolle Erfahrungen mit sprachlichen Hegemonien in kritischer Absicht zu benennen, eröffnet einen Raum für die Bearbeitung von tatsächlich offenen Fragen pädagogischen Handelns, für die kein Rezeptwissen zur Verfügung steht (und stehen kann). Hinter Happy stories zu blicken bietet notwendige, aber risikoreiche Reflexionsmöglichkeiten auf eigenes Involviert-Sein in Machtverhältnisse und Verletzbarkeiten. Angehende Lehrer_innen mit einer machtkritischen Perspektive auf Mehrsprachigkeit und Migration zu konfrontieren und sie aufzufordern, sich und ihr professionelles Selbstverständnis vor diesem Hintergrund zu reflektieren, ist in mehrfacher Hinsicht ein schwieriges Unterfangen. Die hier präsentierten Überlegungen zu solchen Hürden in der Lehre verstehen wir als Anregung für die Gestaltung von Lehre in pädagogischen Ausbildungen, nicht zuletzt unserer eigenen.
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Zwischen Unterwerfung und Ermächtigung: (Sprachliche) Handlungsfähigkeit im Kontext machtvoller Unterscheidungen
»Alles steht und fällt mit der Deutschnote« Anmerkungen zum »außerordentlichen Status« und Fragen nach einem prekarisierten Verhältnis von Sprachen und Bildung Natascha Khakpour
E inleitung Der »außerordentliche Status« wird im österreichischen Schulsystem vergeben, wenn der Sprachstand im Deutschen von sogenannten Seiteneinsteiger.innen1 als zu gering angesehen wird, um am monolingual deutschsprachigen Unterricht teilhaben zu können. Dieser Beitrag gibt einen Überblick zu den Rahmenbedingungen des Schulbesuchs unter der Bedingung des »außerordentlichen Status« vor dem Hintergrund der scheinbar alternativlosen Deutschsprachigkeit des Schulsystems, zu dessen Aufdeckung das Modell der Sedimentation (Laclau 1990) skizziert wird. Anschließend wird der Frage nachgegangen, ob und vor allem warum die Perspektive von Prekarisierungsprozessen der Verhältnisse von Sprachen und Bildung relevant werden kann. 1 | Als »Seiteneinsteiger.innen« gelten Kinder und Jugendliche, die ihre Schullaufbahn außerhalb von Österreich begonnen haben. Der Begriff ist einerseits markierend, andererseits schließt er an einen Diskurs an, der in Deutschland intensiver verankert ist als (noch) in Österreich. Die Perspektiven reichen dabei von »Problem« bis »Gruppe mit besonderen Potenzialen« eine oftmals bediente diskursive Figur ist die der kaum schaffbaren (für die Lehrkräfte) Herausforderung. Der »außerordentliche Status« kann für alle Schüler.innen angewandt werden, die neu in das österreichische Schulsystem eintreten, also auch für den Eintritt in die Primarstufe.
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»A lles steht und fällt mit der D eutschnote .« Dieses Zitat stammt aus einem Gespräch mit einer Lehrkraft, das die Autorin dieses Beitrags im Rahmen einer teilnehmenden Beobachtung des DaZ-Förderunterrichtes an einer Polytechnischen Schule in Wien führte. Die einjährige Polytechnische Schule stellt für viele Jugendliche, die im österreichischen Schulsystem aus der vierjährigen Hauptschule in die Berufsbildung übertreten möchten, das neunte und letzte Pflichtschuljahr dar und soll auf die Lehrzeit vorbereiten. Neben schulpflichtigen Absolvent.innen der Hauptschule werden auch sogenannte Seiteneinsteig- er.innen, also Jugendliche, die ihre Schulkarriere außerhalb Österreichs begonnen haben, zum Besuch der Polytechnischen Schule zugeteilt. »Nicht mehr schulpflichtige SchülerInnen, welche die 7. Schulstufe im Ausland erfolgreich abgeschlossen haben, können grundsätzlich in die 4. Klasse einer Hauptschule/Neuen Mittelschule aufgenommen werden. Ist dies nicht der Fall (weil etwa nur der positive Abschluss einer niedrigeren Schulstufe vorliegt), so ist nur die Aufnahme in die Polytechnische Schule denkbar.« (BMUKK 2013: 8)
Diese Verordnung findet sich in den »Gesetzlichen Grundlagen schulischer Maßnahmen für SchülerInnen mit anderen Erstsprachen als Deutsch«. Erst aus diesem Zusammenhang kann geschlossen werden, dass es sich bei »Ausland« nicht um einen Raum handelt, der durch nationalstaatliche, sondern vielmehr nationalsprachliche Ordnungen markiert wird, der hier als Außerhalb betrachtet wird. Der Anteil von Schüler. innen der Polytechnischen Schule, die statistisch als mit »nicht-deutscher Umgangssprache«2 erfasst werden, liegt in Wien bei 67,3 Prozent (Schuljahr 2012/13, Statistik Austria 2014: 157) – in den Berufsschulen sinkt dieser dann aber erheblich auf 35,3 Prozent (ebd.). Für diesen Verlust gibt es zwei Erklärungsmöglichkeiten: Entweder ist es für Personen mit dem statistischen Merkmal »nicht-deutsche Umgangssprache« schwerer, er2 | Statistisch gilt diejenige Sprache als »Umgangssprache«, die überwiegend im Alltag verwendet wird. Der Schulstatistik der Statistik Austria liegen für diese Zahlen Dokumentationsbögen zugrunde, die Eltern bei Schuleintritt für ihre Kinder ausfüllen. Daten zur »Umgangssprache« werden neben Angaben zu selbst erlebter oder familiärer Migration »zur Erfassung des Migrationshintergrundes« (Statistik Austria 2013: 13) herangezogen.
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folgreich die Polytechnische Schule zu verlassen; oder aber in die Berufsbildung aufgenommen zu werden. Der ersten erklärungssuchenden »Denkrichtung« folgend, müsste der (Re-)Produktion von Ungleichheiten in der Polytechnischen Schule nachgegangen werden, während es die zweite Perspektive verlangte, danach zu fragen, wie es dazu kommt, dass (statistisch gesehen) manche Personen weniger wahrscheinlich in ein Lehrverhältnis aufgenommen werden oder noch viel unwahrscheinlicher: in eine weiterführende Schule (vgl. Statistik Austria 2013: 49) wechseln. Dabei wird deutlich, dass es kaum zulässig ist, die »abgebende« oder »aufnehmende« Institution alleine in den Blick zu nehmen, sondern dass vielmehr von einer übergeordnet strukturell verankerten Kausalität ausgegangen werden kann, die eine diejenigen begünstigende Verschiebung der »Zusammensetzung« der Schüler.innen bedingt, die als mit deutscher Umgangssprache angesehen werden. Diese Zusammenhänge gelten dem im Folgenden Dargestellten als Rahmung, ebenso wie die vielfach aufgezeigte fehlende Passung von monolingual ausgerichteten Schulsystemen und migrationsgesellschaftlich plurilingualer Schüler.innen (vgl. bspw. Gogolin 1994; Dirim/Mecheril 2010). Um dieser Diskrepanz beizukommen, wurden in den amtlich deutschsprachigen (zum Begriff vgl. Dirim im Ersch.), die Schule organisierenden Systemen auf Bundesland- oder Staatsebene Konzepte entwickelt, die es trotz ihrer Verschiedenheit gemein haben, dass nicht das Schulsystem in seiner verhärteten Monolingualität erschüttert wird, sondern dass den Schüler.innen, die diese grundlegende Vorstellung von Deutschsprachigkeit irritieren, eine Verbesonderung auferlegt wird, die sich unter anderem in zu erfüllenden zusätzlichen oder Schullauf bahn verlängernden Maßnahmen (vgl. Gomolla/Radtke 2009: 278) äußert. Wiewohl es auch Bestrebungen gibt, Mehrsprachigkeit in die Schulen der Migrationsgesellschaften einzubeziehen, braucht es aber auch Konzepte, die Angebote zur Aneignung des Deutschen machen, solange formelle Bildungsabschlüsse an die deutsche Bildungssprache geknüpft sind. In den deutschen Bundesländern besteht bereits seit einigen Jahren eine breite Diskussion um die entstehenden schulischen »Herausforderungen«3, die vor allem von Lehrkräften und Beratungsstellen bewältigt werden müssen. Die »Herausforderungen«, die auf Seiten der Schü3 | Vgl. bspw. die Fachtagung »SeiteneinsteigerInnen: eine Schülergruppe mit besonderen Potenzialen« (proDaZ-Tagung 2014) am 31.10.2014 in Essen.
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ler.innen entstehen, werden aus dieser Perspektive vor allem entlang des Deutschlern-Diskurses behandelt, was mit der Entwicklung einer Bandbreite an Förderkonzepten wie »Vorbereitungsklassen«, »Auffangklassen« oder »internationalen Förderklassen« einhergeht. Die Situation im österreichischen Bildungssystem ist eine andere. Hier werden Kinder und Jugendliche, von denen die jeweiligen Schulleitungen »glauben« (Arbeiterkammer Oberösterreich o.J.), dass ihr Sprachstand im Deutschen nicht ausreiche, um dem Unterricht »ohne weiteres folgen [zu] können« (SchUG § 3 Abs. 1b), als »außerordentliche Schüler. innen« eingeschult. Als solche nehmen sie zwar am Regelunterricht teil, werden aber in jenen Fächern nicht benotet, in denen eine positive Note aufgrund der angesprochenen Dissonanz von sprachlicher Disponiertheit der Jugendlichen und der monolingual deutschsprachigen Ausrichtung des Unterrichts nicht erreicht werden könnte. Um sprachliche Zuwächse im Deutschen zu erreichen, besteht die Möglichkeit, »Sprachförderkurse« in Anspruch zu nehmen, die von der Schule bei Erfüllung einiger schulischer Rahmenbedingungen (vgl. Fleck 2013: 13) eingerichtet werden können. Deren Besuch ist allerdings kein gesetzlich verankertes Recht und das Ausmaß ist mit einer Maximalstundenanzahl von elf Stunden in der Woche limitiert, jedoch ohne Mindestanzahl geregelt. Jene im Schulorganisationsgesetz (§ 8) als »Sprachförder-« betitelte Kurse lassen qua Bezeichnung nicht darauf schließen, dass es sich dabei um Deutschförderung handelt, die synonymisierte Verwendung von »Sprache« und »Deutsch« ist Ergebnis hegemonialer Bezeichnungspraxis. Während eine Gesetzesnovelle 2008 (vgl. 116. Bundesgesetzblatt § 8e) die in den Regelunterricht integrierte sprachliche Bildung ermöglicht, finden in den meisten Polytechnischen Schulen weiterhin additive, also unterrichts parallele DaZ-Förderkurse statt, wie meine Recherche ergab. »Außerordentliche Schüler.innen«, die an einem solchen Kurs teilnehmen, müssen für die Dauer der jeweiligen Kurseinheiten den Klassenraum, in dem der Fachunterricht für ihre »ordentlichen Kolleg.innen« stattfindet, verlassen und werden in Förderklassen unterrichtet. Wie bereits angedeutet, erfolgt die Entscheidung über die Vergabe des »außerordentlichen Status« ebenso wie über den Zeitpunkt der Aufnahme in den »ordentlichen Status« nicht durch ein sprachstandsdiagnostisches Verfahren gestützt, sondern bleibt allein der Einschätzung der Schulleitung überlassen. Die Dauer dieses Sonderstatus ist auf ein Jahr begrenzt und kann, wenn eine »ausreichende Erlernung der Unterrichtssprache ohne Verschulden des
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Schülers nicht möglich war« (SchUG § 4 Abs. 3), um ein weiteres Jahr verlängert werden. Es kann nun schon erahnt werden, dass die Aussage »Alles steht und fällt mit der Deutschnote« nicht für alle Schüler.innen gleichermaßen gültig ist, sondern dass es in Bezug darauf, wer sich ein schlechteres Abschneiden im Fach Deutsch »leisten kann«, einen Unterschied gibt. Nicht leisten können es sich »außerordentliche Schüler.innen«, für die die zitierte Aussage gilt. Diese verweist auf die Praxis der Einschätzung der Kenntnisse der (deutschen) Unterrichtsprache, die ausschlaggebend für die Beurteilung der »Benotungsfähigkeit« und somit zur Überführung in den »ordentlichen Status« ist. Denn, so erklärt die Lehrerin weiter, sobald eine Person im Fach Deutsch benotet werden könne, könne sie auch in allen anderen Fächern benotet werden. Wobei an dieser Stelle betont werden muss, dass es sich hierbei um keine allgemein angewandte Praxis handelt, sondern um ein Legitimationsmodell, das zwar nur als individuelles und institutionell eingebettetes artikuliert wird, jedoch zur Illustration einer bedeutsamen diskursiven Praxis herangezogen werden kann. Für »ordentliche Schüler.innen« hat das Schulfach Deutsch die gleiche Bedeutung wie alle anderen Pflichtgegenstände, die zwar positiv absolviert werden müssen, deren Benotung aber keine weitere beschreibende Funktion der Leistungen in anderen Gegenständen zugeschrieben wird. Hieraus können nun vier Punkte, die für die weitere Argumentation grundlegend sind, abgeleitet werden: Erstens, es kommt zu einer Vermischung von Medium und Gegenstand des Unterrichts. Das spezifische Verhältnis von Sprache und Bildung wird in der Schule dadurch charakterisiert, dass Sprache(n) nicht nur auf der Ebene des Mediums die Voraussetzung für die erfolgreiche Vermittlung von Inhalten darstellt bzw. darstellen, sondern dass Sprache auch zum Gegenstand des Unterrichts werden kann. Als Thema des Unterrichts kann so eine Sprache behandelt werden, ohne dass sie als Medium fungiert und umgekehrt (zum »Nürnberger Modell«, das diese Differenzierung explizit im sogenannten »Herkunftssprachlichen Unterricht« berücksichtigt, vgl. Reich/Roth et al. 2002: 23). Das österreichische Schulunterrichtsgesetz (SchUG) sieht den »außerordentlichen Status« vor für Schüler.innen, die über »mangelnde Kenntnis der Unterrichtssprache« (vgl. SchUG § 4 Abs. 2a) verfügen, also die aufgrund der vermuteten Deutschkenntnisse zu wenig Zugang zum Medium haben, durch und über durch/über das Unterrichtsinhalte vermittelt werden. Durch die Aussage der Lehrerin wird aber deutlich, dass in diesem Fall nicht der Zugang zum
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Medium, sondern die Benotung in einem Fach, nämlich im Fach Deutsch, herangezogen wird, um festzustellen, ob eine Benotung in allen Fächern gerechtfertigt ist. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass hier doppelte Anforderungen an die Jugendlichen gestellt werden, sollen sie schließlich nicht nur »durch«, sondern »in« dieser Sprache lernen (vgl. Gibbons 2006: 269). Es wird dabei davon ausgegangen, dass der Deutschunterricht das Fach mit den höchsten Ansprüchen im Deutschen darstellt und davon, dass spezifische fach- und bildungssprachliche Anforderungen (vgl. bspw. Röhner/ Hövelbrinks 2013; Tajmel 2012) quasi »automatisch« bewältigt werden können, sobald die Unterrichtskommunikation im Deutschunterricht sprachlich umgesetzt werden kann. Der zweite Punkt ergibt sich aus dem eben Genannten und betrifft die Praxis, nach der die Beschulung als ordentliche.r bzw. außerordentliche.r Schüler.in zugeteilt wird. Diese ist weder gesetzlich geregelt noch durch Empfehlungen von Expert.innen gestützt, sondern bleibt in der Verantwortung der Schulleitungen. So werden Entscheidungen individuell ausgehandelt und deren Grundlagen oft nicht nachvollziehbar gemacht. Die Praxis, Schüler.innen aufgrund ihrer Deutschnote in den »ordentlichen Status« zu übernehmen, erwächst aus dieser Unverbindlichkeit und ist am Schulstandort der befragten Lehrkraft vielleicht üblich – wobei auch keine Aussage über die Praxis aller dort unterrichtenden Personen getroffen werden kann. An anderen Schulen kann der Prozess zur Aufnahme in den »ordentlichen Status« ein völlig anderer sein, jedoch ist diese behördliche Regelung aufgrund der fehlenden Dokumentation kaum nachvollziehbar und böte ein lohnendes Feld für eine empirische Arbeit. Drittens wird mit der Aussage »Alles steht und fällt mit der Deutschnote« noch etwas deutlich: Es gibt etwas zu verlieren. Für Schüler.innen, für die das gilt, und wir wissen bereits, dass dies nicht für alle gleichermaßen gilt, scheint etwas auf dem Spiel zu stehen, das existenzielles Ausmaß annimmt. Worum es sich dabei handelt, wird von der Lehrerin nicht explizit gemacht, aber für den gegebenen Kontext stelle ich die Lesart heraus, dass es sich dabei um das Erreichen von formalen Bildungsabschlüssen handelt und dem vorangehend, um das Aufgenommen-Werden als »ordentliche.r Schüler.in«, perspektivisch mit einer »symbolischen Mitgliedschaft« (Mecheril 2003: 28) verbunden. Wir erfahren, viertens, außerdem, dass diese Entscheidung von einer über-personellen Instanz getroffen wird, welche aber ebenso unausgesprochen bleibt; es erscheint ganz selbstverständlich, dass das »Fallen«
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einem Naturgesetz gleich unausweichlich ist, sofern eine bestimmte Deutschnote nicht erreicht werden kann. Entscheidungsträger.in ist also keine Person, sondern eine Note, deren Kriterien und Aussagekraft als bekannt voraus- und gültig gesetzt werden. Worauf die Lehrerin verweist, ist die Tatsache, dass außerordentliche Schüler.innen nicht benotet werden, solange ihre Deutschkenntnisse nicht als ausreichend gelten, oder in anderen Worten, solange ihre mangelnden Deutschkenntnisse als für den Schulerfolg bzw. die Benotung im Fachunterricht gefährdend gelten könnten. Was wir außerdem erfahren, ist, dass der Zeitpunkt dieser Entscheidung nicht feststeht und praktisch jederzeit eintreffen kann. Auf die Bedeutung dieser organisatorischen Besonderheit wird noch eingegangen werden, wenn die Frage nach dem Prekären dieses Verhältnisses von Sprache und Bildung im Vordergrund steht. Um dies in seiner größeren Bedeutung verstehen zu können, ist ein kleiner gedanklicher Umweg nötig, der sich mit dem Spezifikum des »Außerordentlichen« beschäftigt.
S edimentation Nun wollen wir uns einer Frage zuwenden, die sich nicht stellt und gerade deswegen Beachtung finden soll: Warum erscheint es nahezu selbstverständlich und jedenfalls sehr einleuchtend, dass Jugendliche, die als »zu wenig deutschsprachig«4 gelten, diejenigen sind, die im Schulsystem die »Außerordentlichen« sind und nicht etwa die »Ordentlichen«? Dieser so natürlich erscheinenden Verknüpfung von »ordentlich« und »deutschsprachig« soll nun nachgegangen werden. Wenn wir uns die Bezeichnung »außerordentlich« näher ansehen, können wir feststellen, dass diese zwar als univok zu klassifizieren ist, in dem Sinne, dass sie in verschiedenen Kontexten die gleiche Bedeutung bewahrt, nämlich nicht einer Vorstellung von Normalität angehörend. Es ist die markierte Form des Attributs »ordentlich« und somit hierarchisch untergeordnet. Unmarkierte Wörter zeichnen sich dadurch aus, dass sie den größeren Geltungsbereich beanspruchen, bzw. für die ganze Kategorie stehen können. Beispielsweise kann der markierte Terminus »Bärin« nur das weibliche Tier meinen, während »Bär« für die ganze Gattung gilt. 4 | Diese Formulierung ist mit Absicht etwas eigentümlich gewählt, um den Konstruktcharakter von »deutschsprachig« zu betonen.
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Ein anderes Beispiel wäre »Katze« (unmarkiert) und »Kater« (markiert). Dabei fällt auf, dass die morphologisch durch »außer-« markierte Form im Gegensatz zu der mit »un-« markierten Form eher in positiven Bedeutungszusammenhängen gebraucht wird, so meint eine »außerordentliche Leistung« eine überdurchschnittliche Leistung. Eine »ganz außerordentliche Schülerin« meint eine besonders gute oder eine anderweitig positiv hervorstechende Schülerin. Der Zusammenhang »außerordentliche Schülerin« verweist allerdings in größerem Ausmaße auf die Verortung außerhalb der Ordnung der Schüler.innen, der positive Bedeutungszusammenhang ist gewichen, es scheint sich nun um eine »neutrale« Beschreibung zu handeln, die auf einen Gaststatus oder auf eine nicht vollwertige Mitgliedschaft – in welcher Weise auch immer – verweist. Im österreichischen Schulsystem ist eine der Differenzlinien, anhand derer eine Markierung als außerhalb oder innerhalb der Ordnung befindlich vorgenommen wird, die der »Sprache« (vgl. Dirim/Mecheril 2010: 100f.). Um die scheinbar objektive Notwendigkeit der Verwobenheit von »Schule« und »deutscher Sprache« näher beleuchten zu können, greife ich auf einen Ansatz von Ernesto Laclau zurück, der in seinen diskurstheoretischen Arbeiten die Kontingenz und Historizität von sozialen Verhältnissen sowie deren Existenz als Resultat von Machtbeziehungen aufzudecken sucht. In Anlehnung an Husserl verwendet er dafür die aus der Geologie entlehnten Metaphern der »Sedimentation« und »Reaktivierung«. Für Husserl bedingt die Praxis jeder wissenschaftlichen Disziplin eine Routine, in der die Ergebnisse vorheriger wissenschaftlicher Untersuchungen als gegeben angenommen und auf eine einfache Ausführung reduziert werden. Dadurch gerät das ursprüngliche Ansinnen (»original institution«), aber auch die Beziehung von älteren und neueren wissenschaftlichen Auseinandersetzungen in Vergessenheit und wird im Laufe der Zeit (mehrfach) überlagert. »At the end of his life, Husserl saw the crisis of European science as the consequence of a growing separation between the ossified practice of the science and the vital primary terrain in which the original or constitutive intuitions of those sciences were rooted. The task of transcendental phenomenology consisted of recovering those original intuitions. Husserl called the routinization and forgetting of origins ›sedimentation‹, and the recovery of the ›constitutive‹ activity of thought ›reactivation‹.« (Laclau 1990: 34)
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Durch die Vorgänge von Sedimentation und Reaktivierung stellt Husserl also den Zusammenhang der von ihm beobachteten immer größer werdenden Spaltung von wissenschaftlicher Praxis und dem Feld (»Lebenswelt«) her, in dem die konstitutive Erkenntnis dieser Wissenschaften begründet liegt. Damit verweist er auf die Historizität von Wissenschaft im Allgemeinen und sieht die Ausgabe der von ihm begründeten Transzendentalen Phänomenologie darin, die eigentlichen Motive von Wissenschaft (wieder) aufzudecken. Laclau übernimmt die Begrifflichkeiten von Husserl, stellt sie jedoch in einen politischen Kontext, indem er sie, ausgehend von seinen diskurstheoretischen Arbeiten gemeinsam mit Chantal Mouffe (Laclau/Mouffe 1985), heranzieht, um das Verhältnis vom »Politischen« zum »Sozialen« zu beleuchten. Das Politische, als Komplementärbegriff zum Sozialen verstanden (vgl. Nonhoff 2013: 40), bedingt im relativ stabilen Raum des Sozialen immer wieder Veränderungen und eine stets neue Instituierung und Strukturierung. Vergesellschaftung ist so in antagonistischen Verhältnissen zu denken, die eine Konstitution von Objektivität verhindern (»limit of all objectivity«, Laclau 1990: 17); die Herstellung von Bedeutung und Institutionen ist somit als hegemonialer5 Prozess zu verstehen. Die Konstituierung von Institutionen ist nur möglich durch das Unterdrücken von anderen Optionen, die gleichermaßen möglich gewesen wären. Die ursprüngliche Bedeutung von Praxen aufzudecken, bedeutet auch ihre radikale Kontingenz aufzudecken, was nur gelingen kann durch die Offenlegung der Machtbeziehungen, aus denen der Institutionalisierungsakt hervorgegangen ist. »Insofar as an act of institution has been successful, a ›forgetting of the origins‹ tends to occur, the system of possible alternatives tends to vanish and the traces of the original contingency to fade. In this way, the instituted tends to assume the form of a mere objective presence. This is the moment of sedimentation.« (Ebd.: 34)
Sedimentation bedeutet also zusammengefasst, dass in Vergessenheit gerät, dass das gegenwärtig Institutionalisierte nur eine von mehreren möglichen Alternativen ist – es entsteht der Eindruck einer objektiven, alternativlosen Anwesenheit von Verhältnissen. Sedimentierte Elemente verortet Laclau im »Sozialen«, das im Gegensatz zum »Politischen« als unverhandelbar angesehen wird. Das in einer Gesellschaft als selbstver5 | Laclau und Mouffe schließen an Gramscis Hegemonieverständis an.
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ständlich und unpolitisch angesehen Sedimentierte hat seine Ursprünge folgerichtig im Politischen, Verhandelbaren, die allerdings durch die Sedimentation in ihrem historischen Moment verdeckt sind. Der gegenläufige Prozess der Reaktivierung bringt institutionalisierte Handlungen und Routinen wieder in den Bereich des Verhandelbaren und deckt die Kontingenz sozialer Beziehungen auf. So wird wieder deutlich, dass es sich um eine, hegemonial gewordene, Option handelt, die mit der Negation anderer Optionen einhergeht. Durch diesen neuen Antagonismus wird die kontingente Natur des scheinbar Objektiven wiederentdeckt (ebd.: 34f.). Wullweber schlägt dazu eine von ihm als »Schichtmodell« (Wullweber 2012: 36) bezeichnete Systematisierung vor, die, den Sedimentationsschichten eines Sees folgend, verschiedene Schichten im Verlauf vom »Politischen« zum »Sozialen« vorsieht, was darauf verweisen soll, dass der Grad der Selbstverständlichkeit bzw. Unverhandelbarkeit einer sedimentierten Bedeutung unterschiedlich hoch sei. Als Beispiel für einen stark sedimentierten Moment führt er die kapitalistische Produktion von Waren in den »Westlichen« Industrieländern an, die für eine gesellschaftliche Mehrheit als alternativlos angesehen wird (vgl. ebd.: 37). Dem sei allerdings hinzugefügt, dass die Grenze zwischen dem Sozialen und Politischen in einer Gesellschaft einer permanenten Verschiebung und Verlagerung unterworfen ist, was eine Betrachtung des »Schichtmodells« als grobe Heuristik verlangt. Trotz der Kürze der hier umrissenen Ausführungen zu Sedimentationsprozessen, wie sie Laclau versteht, sollte deutlich geworden sein, dass institutionalisierte Selbst-Verständlichkeit nicht als objektiv oder alternativlos, sondern als temporär fixiertes Produkt von historischen, machtvollen und kontingenten Prozessen zu verstehen ist. Die Verquickung von Schule und monolingualer Deutschsprachigkeit kann vor diesem Hintergrund als ebenso wenig »natürlich« begriffen werden.
P rek är ? Die Frage nach dem Prekären hat Hochkonjunktur, einerseits wohl deswegen, weil im Bereich ihrer traditionellen Verortung – prekarisierte Lohnarbeitszusammenhänge von Arbeiter.innen – das Prekariat von neuer und steigender Bedeutung in Zeiten internationaler Arbeitsteilung und neoliberalen Wirtschaftssystemen ist. Andererseits, und vielleicht ist das
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mit ein Grund, warum in den letzten zwei Jahrzehnten die Prekariatsforschung regelrecht boomt, hat sich die Prekarisierung von (ursprünglich Dienst-)Verhältnissen über die Arbeiter.innenklassengrenzen hinweg ausgebreitet und schleicht nun auch um Büros jeder Art, ehemals zum Wohnen genutzten Zimmern und universitären Fachbereichen herum. Mit der Neuausrichtung des Kunst- und Kulturbetriebs auf »Marktorientierung« und der Entstehung des »kreativen Prekariats« (Dörre 2009: 50) wird das Prekariat Strukturmerkmal ganzer Branchen (vgl. Mayerhofer 2013: 58) und erfährt eine dementsprechende Aufwertung als gesamtgesellschaftlich relevantes Thema in der öffentlichen Diskussion. Castel und Dörre konstatieren in diesem Zusammenhang die Rückkehr der »sozialen Frage in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses« (2009: 11), Candeias (2009) sieht das Prekariat in »Politik und Medien angekommen« und Marchart (2013) spricht schlichtweg von der Prekarisierungsgesellschaft, in der »wir« leben. Ist nun, wie Bourdieu (1998 [1997]) feststellte, Prekarität überall? Wenn ja, welchen Ertrag kann es dann noch bringen, die nahezu totalitär angenommene Kategorie auf spezifische Verhältnisse – hier: von Bildung und Sprache anhand der exemplarischen Analyse des »außerordentlichen Status« – anzuwenden? Um sich der Frage annähern zu können, wer sich im Status des Prekären befindet, und um danach zu fragen, warum diese Analyse sinnvoll oder gar hilfreich sein kann, ist es nötig, den Versuch zu wagen, den Begriff des Prekären zu fassen, denn so oft sie gegenwärtig Niederschlag in wissenschaftlichen und medialen Diskursen findet, so unterschiedlich sind die Vorstellungen zu deren Ausmaß und Anwendung. Das aus dem Lateinischen kommende Adjektiv »precarius« meint »unsicher«, aber auch »auf eine Bitte hin gewährt«. Es fand vor allem Verwendung in der Substantiv-Form »precarium«, die eine spezifische Vertragsform im Lehenswesen bezeichnete, in der Land als Leihgabe zur Bearbeitung von den Lehensherren gewährt wurde, das allerdings jederzeit wieder zurückgefordert werden konnte. Fand diese Subform eines Vertrages vor allem im Mittelalter, aber auch schon im alten Rom Verwendung, findet sich auch im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch (§ 974) ein Abschnitt zum Precarium: »Hat man weder die Dauer, noch die Absicht des Gebrauches bestimmt; so entsteht kein wahrer Vertrag, sondern ein unverbindliches Bittleihen (Precarium), und der Verleiher kann die entlehnte Sache nach Willkühr (sic!) zurückfordern.«
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D er V ersuch , P rek äres fassbar zu machen Das Prekäre: So groß seine Präsenz in vielschichtigen Diskursen sein mag, so unsicher, inkonsistent und schwierig stellen sich die begriffliche Klärung und der Versuch dar, prekäre Verhältnisse vergleich- oder messbar zu machen. Innerhalb der Prekariatsforschung der letzten zehn Jahre nahm diese Frage eine zentrale Rolle ein, die die wissenschaftlichen Akteur.innen mit unterschiedlich weit gefassten Prekariatsbegriffen, von »Unterschichtsdebatte« zu »Prekarisierungsgesellschaft« (vgl. Marchart 2013: 24), zu beantworten suchten. Dabei lässt sich aus der Schnittmenge der Auffassungen ein Charakteristikum des Konzeptes herauslesen – Prekarität sei nicht gleichzusetzen mit »vollständiger Ausgrenzung aus dem Erwerbssystem, absoluter Armut, totaler sozialer Isolation und erzwungener politischer Apathie« (Brinkmann et al. 2006:17) oder »Arbeits- und Lebensverhältnisse[n] ohne existenzsicherndes Einkommen« (Candeias 2008: 121), sondern vielmehr handle es sich um ein »Sammelsurium an Dimensionen« (ebd.: 122). Der Status der Unsicherheit kann eben nicht mit Sicherheit klassifiziert werden. Castel (2000) entwirft dafür eine Systematik, die drei Zonen der (Des-)Integration in NormalbeschäftigungsVerhältnissen abbildet: die Zone der Integration, die Zone der Prekarität und schließlich die der Entkoppelung. Dieses Modell wurde auf Basis empirischer Untersuchungen (Dörre 2005; Brinkmann et al. 2006) weiter ausdifferenziert und zeigt, dass die einzelnen Zonen nicht undurchlässig sind, sondern dass, ganz im Gegenteil, als Merkmal der prekären Unsicherheit angesehen werden kann, dass die Menschen einerseits in Angst vor dem Abstieg und andererseits in der Hoffnung auf den Aufstieg in abgesicherte Sphären leben. Das »Sammelsurium an Dimensionen«, jenseits von Zonen, zu beschreiben, setzt sich Candeias (2008) zum Ziel und stellt einen Merkmalskatalog zusammen, der Kriterien für das Bestimmen einer prekären Beschäftigung zu finden versucht. Sich in einer prekären Lebenssituation zu befinden, hieße demzufolge (vgl. ebd.: 127f): A. Über kein existenzsicherndes Einkommen zu verfügen; B. Mit mangelnder gesellschaftlicher Anerkennung zu leben/arbeiten; C. Von tendenzieller Ausgliederung aus betrieblichen Strukturen betroffen zu sein; D. Einen geringeren rechtlichen Status innezuhaben;
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E. Geringere oder keine Ansprüche auf Sozialleistungen zu haben; F. Von der Erosion öffentlicher Dienstleistungen betroffen zu sein; G. Mit Planungsunsicherheit für den eigenen Lebensentwurf umgehen zu müssen; H. Schwächung der individuellen oder kollektiven Handlungsfähigkeit zu erleben. Diese acht Punkte stellen Kategorien dar, die aus einer Reihe an Interviews mit Personen gewonnen wurden, die unter prekarisierten Verhältnissen leben (vgl. ebd.: 127). Und obwohl auf nahezu jede.n die eine oder andere Dimension zutreffen könnte, mache es deren Kombination aus, wie sehr die einzelnen von Prekarität betroffen sind. Dem hinzuzufügen wären vielleicht noch Kategorien wie Alter, soziale Herkunft oder Migrationserfahrungen, die Lebensunsicherheiten vor dem Hintergrund gegenwärtiger gesellschaftlicher Verhältnisse verschärfen können. In seiner Kritik an, von Candeias bedienten, »Enumerationen und Typologien« warnt Marchart, dass diese dazu verleiten, an der phänomenologischen Oberfläche zu verbleiben, und somit vor der Gefahr, »dem sozialwissenschaftlichen Objektivismus zu verfallen« (Machart 2013: 10). Was aber an dieser Kategorisierung sehr wohl deutlich wird, ist die Notwendigkeit, dass Prekarität immer im Verhältnis (»geringer«, »weniger« …) zu einem hegemonialen Normalitätsstandard zu fassen ist und es sich dementsprechend um eine relationale Kategorie handelt (vgl. u.a. Castel 2000; Pelizzari 2007: 66). Nach diesem groben Abriss der gegenwärtigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Prekarität soll nun der Versuch einer Synthese der bisherigen Diskussionspunkte unternommen werden, der nur problematisch verlaufen kann. Denn, wie bisher deutlich wurde, Prekarität ist nicht objektiv bestimmbar oder messbar, und eigentlich nur unter Einbeziehung einer subjektiven Perspektive artikulierbar. Zudem habe ich mich bemüht zu verdeutlichen, dass das bisherige Wissen um den »außerordentlichen Status« keinen Rückschluss auf die schulischen oder gar Lebenssituationen der Schüler.innen zulässt, zu wenig verbindlich und aussagekräftig sind einerseits dessen Rahmenbedingungen und zu sehr fehlt auch hier die Perspektive subjektiver Deutungen und Erfahrungen.
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A usserordentlich prek är ? Zwei von Vagheit geprägte Konzepte in einer Bestimmtheit aufeinander beziehen zu wollen, kann vermutlich nur scheitern. Dennoch will ich es exemplarisch versuchen und beziehe mich dafür auf das konstituierende Element beider, das der Unsicherheit. So sollen im Folgenden Schlaglichter gesetzt werden auf Eckpunkte des »außerordentlichen Status«, die zu einer individuellen, aber auch kollektiven Verunsicherung beitragen können. Die Conclusio der Analyse soll also nicht heißen »Das ist prekär«, sondern »Dies kann zu Verunsicherung und Schlechterstellung führen«.
1) Umdeutung von Recht in paternalistische Gewährung Candeias (2008: 121) analysiert überzeugend, dass durch Prekarisierungsprozesse das soziale Recht auf ein Existenzminimum, das es erlaubt, den Alltag würdig zu bestreiten, zu wohltätiger paternalistischer Gewährung von Hilfe umdefiniert wird. Eine ähnlicher Prozess der Verschiebung ist in der Schule zu beobachten, wenn das Recht auf Bildung, gar die Schulpflicht, umgedeutet wird zu einer Duldung von außerordentlichen Schüler.innen, denen es unter den angeführten Bedingungen gewährt wird, in die Klasse aufgenommen zu werden. Dabei wird zwar das gesetzlich verankerte Recht auf Bildung umgesetzt, denn diesem zufolge darf niemand vom Schulbesuch ausgeschlossen werden; dies geschieht aber vor allem auf einer formalen Ebene, denn die Kinder und Jugendlichen werden in die Schule aufgenommen, unterliegen auch der Anwesenheitspflicht, sind aber eben schon qua Benennung nicht uneingeschränkte Mitglieder des Klassenverbands. Die Angebote zur Unterstützung in der Aneignung der (deutschsprachig vermittelten) formalen Bildung und dementsprechende Abschlüsse sind aber dennoch nicht so ausgelegt, dass alle Schüler.innen sie gleichermaßen erreichen können. Das Recht, diese einzufordern, ist kaum mehr wahrnehmbar, an dessen Stelle tritt die »Chance«, am schulischen Geschehen teilhaben zu dürfen. Dass dieses Teilhaben nur aus einer Position heraus geschehen kann, die mit weniger Rechten verbunden ist, als diejenige derer, die als »ordentlich« gelten, muss, so wird nahegelegt, (dankbar) in Kauf genommen werden. Zudem findet ein Prozess der »Entkollektivierung bzw. der Re-Individualisierung«, wie Castel in Zusammenhang mit sozialer Unsicherheit konstatiert (2009: 25), statt, denn, und so kann auch gouvernmental argumentiert werden,
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dass Deutschförderung zwar vorgesehen, nur eben nicht für alle durchführbar ist.
2) Mangelnde Anerkennung Ein weiteres Ergebnis der von Candeias durchgeführten Studie belegt, dass nicht nur die rechtliche oder finanzielle Situation der Arbeiter.innen Einfluss auf das Erfahren prekärer Lebensverhältnisse nimmt, sondern auch die mangelnde Anerkennung der geleisteten Arbeit und der Person, sowie Tendenzen zur innerbetrieblichen Isolierung (Candeias 2008: 121). In gegenwärtigen bildungstheoretischen Diskussionen (zur Butler-Rezeption vgl. bspw. Ricken 2013) wird Anerkennung nicht nur im engeren Sinne als positive Wertschätzung verstanden, sondern als grundlegender Akt intersubjektiven (Selbst-)Verständnisses. Ein Weg, die Anerkennung von Arbeit im schulischen Kontext sichtbar zu machen, ist die Benotung, und abseits der Fragen nach Angemessenheit, Aussagekraft, geschweige denn Gerechtigkeit dieses Systems zeigt sich, dass das Vorenthalten von jeder Art des »Feedbacks« durch Noten auch als Vorenthalten der Leistungsanerkennung gelesen werden kann. Natürlich kann es ebenso wenig eine Lösung sein, sogenannte Seiteneinsteiger.innen, die noch nicht über den erforderlichen Sprachstand im Deutschen verfügen, vom ersten Tag an mit dem gleichen Maßstab zu benoten, wie Schüler.innen, die (deutschbildungs-)sprachlich bereits erfahrener sind (vgl. hierzu: Gomolla/Radtke 2009: 281). Neben der fehlenden Anerkennung, die jede pro Unterrichtsfach in das Zeugnis eingetragene Bemerkung »Nicht beurteilt« bedeutet, bringt das Ausbleiben der Notenvergabe einen erheblichen Nachteil bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz oder bei einem Schulwechsel mit sich, da sich das Zeugnis nun nicht mehr als Beleg der eigenen Schüler.innentätigkeit eignet.
3) Streben nach Aufstieg Wir haben bereits festgestellt, dass die Kategorie des Prekären nur im Verhältnis zum sogenannten Normalarbeitsverhältnis relevant wird, das in einigen Dimensionen wie beispielsweise der Handlungsspielräume oder etwa Planungssicherheit für den eigenen Lebensentwurf unterschritten wird. Das Verhältnis von »Prekariat« und »Normalarbeitsverhältnis« ist ein aufeinander bezogenes, das sich konstituiert durch die »Drohung vor«
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oder dem »Streben nach« der jeweils anderen Form. Die Angst vor dem Abstieg in eine Lebenssituation, die als unsicherer wahrgenommen wird als diejenige, in der man sich gerade befindet, ist also ebenso bedeutsam wie das Hoffen auf den Aufstieg, das verbunden ist mit einer permanenten Anstrengung, das Ziel der vermeintlichen Sicherheit zu erreichen. So befinden sich die Prekarisierten in einem sozialen Schwebezustand und haben »den Anschluss an die vermeintliche Normalität noch immer vor Augen und müssen alle Energien mobilisieren« (Dörre 2005: 254), um den Anschluss vielleicht doch noch zu schaffen oder zumindest nicht (weiter) abzurutschen. Darin wird deutlich, dass das Prekariat in der gesamtgesellschaftlichen (sozial-ökonomischen) Ausformung eine unglaubliche Tragweite besitzt, die nicht durch eine inflationäre Verwendung der Kategorie geschmälert werden sollte. Aber doch lässt sich eine parallele Tendenz feststellen, in der Art und Weise, wie die beiden Gruppen »die Prekären« und »die Außerordentlichen« dem Normalen (»Normalarbeitsverhältnis«) und dem Ordentlichen hinterher sind. Sie können es sich nicht leisten, dieses Streben aufzugeben oder völlig darauf zu verzichten. Sowohl in der Schule wie auch am Arbeitsmarkt wirkt dies disziplinierend. Bourdieu analysiert das Prekariat dementsprechend als »Teil einer neuartigen Herrschaftsform« (Bourdieu 1998 [1997]: 96f.), die auf einer allgemein wahrnehmbaren Unsicherheit beruht und somit einen Beitrag zur Erzwingung normierter Lebensweisen leistet. Denn dass es ein Ordentlich und ein Außerordentlich gibt, hat nicht nur Wirkung auf die, die als außerhalb der Ordnung markiert sind, sondern auch auf die »Ordentlichen«, denn erst durch die Existenz derer, die sich außerhalb der Ordnung befinden, kann auch ein Innerhalb derselben entstehen. Die binäre Unterscheidung allerdings von »außerordentlich« und »ordentlich« ist nur wirkungsvoll hinsichtlich derer, denen eine nicht-deutsche Umgangssprache zugeschrieben wird, was rassismuskritisch als disziplinierender Zugriff auf die erzeugten »Anderen« gedeutet werden kann.6 Schließlich muss die Frage gestellt werden: Ist es denn überhaupt praktisch möglich, unter den gegenwärtigen Verhältnissen von einer prekären in eine »Normalbeschäftigung« übernommen zu werden und ist es möglich, unter diesen Bedingungen, die in der Schule herrschen, erfolgreich Deutsch zu lernen und damit auch zu erreichen, was merito6 | Für diesen Hinweis und den der festgestellten »doppelten Prekarität« danke ich Matthias Rangger.
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kratisch vorgegaukelt wird: nämlich mit dem Erlernen der Sprache »zur Ordnung zu gehören« und ebensolche Teilhabemöglichkeiten wie die »Normalsprachigen« zu erhalten? Während in Lohnarbeits-Verhältnissen nicht einmal 5 Prozent der Praktikant.innen oder Leiharbeiter.innen in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis übernommen werden (vgl. Candeias 2008: 129), werden die meisten Schüler.innen in den ordentlichen Status übernommen, wie Gespräche zumindest mit der Schulleitung der von mir besuchten Polytechnischen Schule ergeben haben. Es ist aufgrund einzelner Erfahrungsberichte anzunehmen, dass dies auch für andere Schultypen und -standorte zutreffen mag, aber empirische Daten liegen hierzu im Moment leider nicht vor. Eine repräsentative Erhebung, die Aufschluss über Dauer des »außerordentlichen Status« und Übernahmedaten sowie den Vergleich der jeweiligen Schultypen erlauben würde, wäre wünschenswert. Aber wie verhält es sich nun mit der Aufnahme in den »ordentlichen Status« hinsichtlich der Konstruktion von Zugehörigkeiten? Mecheril (2003) beschreibt in diesem Zusammenhang den Zustand der »prekären Zugehörigkeit« von natio-ethno-kulturell (hier insb.: natio-ethno-lingual) Anderen. »Prekär ist die Zugehörigkeit Anderer, weil ihr in der Allianz von ›Uneigentlichkeit‹ und ›Durch-Bitten-Erlangt‹ ein ungewisser Realitätsstatus zu eigen ist.« (Ebd.: 301) Die Uneigentlichkeit bezieht sich dabei auf den Status der Mitgliedschaft zu einem vorgestellten »Wir«, für das die Anderen als Anwärter.innen gelten. Indizien für solch eine uneigentliche Mitgliedschaft können in Verbindung mit dem außerordentlichen Status auf der Ebene von Benennung, der räumlichen Trennung und dem Aussehen des Zeugnisses gefunden werden, was jedoch nicht den Rückkehrschluss zulassen soll, dass eine Aufnahme in oder eine von Vornherein dagewesene Zuordnung zum »ordentlichen Status« der Erlangung der Idealtypus »fraglose Zugehörigkeit« (ebd.: 125) gleichbedeutend wäre. Nachdem angenommen werden kann, dass fraglose Zugehörigkeit weder in Hinblick auf Personen die als »mit« noch hinsichtlich jener, die als »ohne« Migrationsbezug wahrgenommen werden, erreicht werden kann, kann es nur darum gehen, die Qualität der Fraglichkeit zu untersuchen (vgl. ebd.: 297). Somit kann festgestellt werden, dass auch die Aufnahme in den »ordentlichen Status« keine Entprekarisierung mit sich brächte, es aber für die Schüler.innen sehr wohl bedeuten könnte, ein bisschen weniger als doppelt, drei- oder mehrfach prekarisiert zu sein.
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F a zit Abschließend muss verdeutlicht werden, mit welcher Begründung ein politischer schlagkräftiger Begriff wie jener der Prekarität herangezogen werden kann, wenn durch dessen inflationäre Verwendung ein Beitrag zur weiteren Verwaschenheit des Konzepts droht. Castro Varela konstatiert in diesem Zusammenhang ein gegenwärtiges »Feiern« der Prekarität, die mittlerweile schon fast zum »Lebensstil« avanciert (Castro Varela 2005: 90), und weist auf die Situation derer hin, die »tatsächlich in (ökonomisch) prekären Verhältnissen leben« (ebd.) und beständig schlimmsten existenziellen Ängsten ausgesetzt sind, ebenso wie sie eine Parallele zieht zur Begehrtheit und damit Entschärfung der Subalternität. Was vermag es also rechtfertigen, mit dieser Kategorie zu arbeiten? Ebenso wie Prekarität in sich breit gefächert ist, lässt auch die Analyse des »außerordentliche Status« kaum Rückschlüsse auf dessen subjektives Erleben und persönliche Deutungen zu. Jedoch erlaubt es die Perspektive auf Prekarisierung, in den Blick zu nehmen, welche Prozesse Verunsicherung und Benachteiligung – auch in Verhältnissen von Sprache und Bildung – mit sich bringen. Der Fokus hier lag aufgrund meiner Vorarbeiten auf einer Polytechnischen Schule – die Situation dort ist eine völlig andere als beispielsweise in der Oberstufe des Gymnasiums, in das Seiteneinsteiger.innen nur gelangen, wenn sie entweder bereits eine höhere Schulstufe außerhalb Österreichs abgeschlossen haben, oder, wenn sie über einen familiären Hintergrund verfügen, der in den migrationsgesellschaftlichen Strukturen als prestigeträchtig angesehen wird und/oder der finanziell ermöglicht, dass den Jugendlichen weitere Förderungen zukommen können. So konnte ich mit einem Schüler sprechen, der als Sohn eines Diplomaten als »außerordentlicher Schüler« in die 6. Klasse eines Wiener Gymnasiums (das entspricht der 10. Schulstufe) eingeschult wurde und bereits nach wenigen Wochen in den »ordentlichen Status« übernommen wurde. Er konnte diese Zeit durch unterstützende Angebote nutzen, um die Inhalte des Tages im Einzelunterricht mit speziellem Fokus auf sprachliche Bildung zu wiederholen und sich in bemerkenswert kurzer Zeit auf den gleichen Sprachstand wie seine Kolleg.innen zu bringen. Im Vergleich dazu konnte ich bei teilnehmenden Beobachtungen in einer Polytechnischen Schule feststellen, dass die dort für »außerordentliche Schüler.innen« stattfindenden unterrichtsparallelen Deutschkurse auf fünf Stunden in der Woche beschränkt sind und mit einer sehr großen
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und über ganz unterschiedliche Sprachstände verfügenden Lernendengruppe stattfinden. Mit dem Fokus auf die Prozesshaftigkeit von prekarisierten Verhältnissen muss zudem auf die stattfindende Reduktion – aber auch hier liegen kaum aussagekräftige Daten zur Gesamtsituation der Polytechnischen Schulen in Wien vor – der abgehaltenen Förderstunden hingewiesen werden, da noch vor wenigen Jahren fast doppelt so viele abgehalten werden konnten, wie Gespräche mit zwei Lehrkräften ergaben. Die Sicherung des Zugangs zu formaler Bildung darf nicht nur auf der formalen Ebene erfolgen, vielmehr muss auch sichergestellt werden, dass ausreichende und vor allem zielführende Angebote gemacht werden, die bei der Aneignung des Mediums unterstützen, in der schulische Bildung vermittelt wird. Das Konzept des »außerordentlichen Status« kann dies aber nicht leisten. Durch das Fehlen einer Rechtsverbindlichkeit, was den Anspruch auf Deutschförderung betrifft, und einer Organisation, die ohne expertisengestütze Verbindlichkeiten auskommt – von der Aufnahme in den außerordentlichen Status über die Gestaltung der Kurseinheiten bis zur Übernahme in den ordentlichen Status – bleibt er zunächst eine Unterscheidungspraxis entlang der Differenzlinie »Sprache«, die zur Stabilisierung der hegemonialen, »ordentlichen« Deutschsprachigkeit des Schulsystems beiträgt. Wenn hierbei kritisiert wird, dass die Schulleitungen in der Entscheidung über die Vergabe des außerordentlichen Status auf sich gestellt sind, dann darf dies nicht als Forderung nach einem Instrument gelesen werden, das die Zuteilung in den »außerordentlichen Status« vermeintlich »objektiv« unterstützt. Vielmehr soll die Perspektive stark gemacht werden, nach den erlebten (Nicht-)Zugehörigkeitserfahrungen (vgl. Mecheril et al. 2013) zu fragen, die auch und vielleicht sogar ganz besonders auf dem Feld der migrationsgesellschaftlichen Sprachvermittlung bedeutsam sind.
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Mehrsprachigkeit: Relevant, aber kulturalisierend? Gergana Mineva, Rubia Salgado
E inleitendes : D as F eld D a Z unter dem S cheinwerfer beunruhigender F r agen Drei gegenwärtige Highlightmomente der Inszenierung von Widerständigkeit im Feld Deutsch als Zweitsprache in der Erwachsenenbildung in Österreich? Erster Moment: Ermächtigungsansprüche. Dem Lernprozess eine ermächtigende Funktion zuzuschreiben, wirft eine beunruhigende Frage auf: Wer ist wie legitimiert, wen zu ermächtigen? Eine Lehre aus den Gouvernementalitätsstudien, die zur Verfügung steht, um diese Frage zu behandeln, in aller Kürze und Prägnanz: Aufrichtung ist auch Zurichtung (Bröckling 2004). Und: Jemanden ermächtigen zu wollen, bedarf der Feststellung der Ohnmacht. Zweiter Moment: Kritik an der Integrationsvereinbarung. Im Feld allgegenwärtig. Ebenso die Durchführung von Integrationskursen und die Abnahme der Integrationsprüfungen. Im Auftrag des Innenministeriums. Im Dienst rassistischer und repressiver Integrationsund Migrationspolitiken. Weitere beunruhigende Fragen werden erkannt, darunter: Wessen Interessen werden hier verteidigt? Wer profitiert davon? Eine andere Lehre, die zur Verfügung steht, um hier weiter zu denken, diesmal mit Gramsci: Rechtliche Bestimmungen und staatliche Politiken wären als Institutionalisierungen sozialer Kämpfe und daraus entstandener Kompromisse zu betrachten (Brand 2004). Und: »Das Terrain, in dem die Hegemonie angefochten werden kann, ist das Terrain [sic!] das sie auch unterstützt, nämlich die Zivilgesellschaft, die als Kampfplatz zu begreifen ist.« (Mayo 2007, S. 43) Welche Risse könnten im die Hegemonie unterstützenden Konsens erzeugt werden, wenn sich Bildungseinrichtungen und
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Professionelle im Feld DaZ weigern würden, die geltende Gesetzgebung zu stützen, wenn sie keine Integrationskurse anbieten und keine Integrationsprüfungen abnehmen würden? Dritter Widerständigkeitshighlightmoment: Mehrsprachigkeit. Die inzwischen als breit angelegt feststellbare Positionierung für die Mehrsprachigkeitsförderung im als gesellschaftskritisch selbsternannten Feld DaZ. Der suchende Blick nach den Konsequenzen der Kritik an dem Nationalstaat, die im Zusammenhang mit der Kritik an Monolingualität formuliert wird, für die Konzeption und Gestaltung der Arbeit im Feld. Und eine unausweichliche Entfaltung: die beunruhigende Frage nach der Verstrickung zwischen Nationalstaat und Kapitalismus.
V erortung In diesem Beitrag schreiben wir geleitet von unserer Praxis in der Selbstorganisation maiz – Autonomes Zentrum von und für Migrantinnen – als forschende DaZ-Lehrer_innen in der Erwachsenenbildung. Die Theorie fungiert als ein Instrumentarium im reflexiven Denken und Handeln. Die Ziele unseres Tuns werden sowohl auf der Ebene der praktischen Arbeit als auch auf der Ebene der wissenschaftlichen Produktion im Feld situiert: Interventionen und Impulse oder Angebote oder Einladungen auf Fragen, um im Feld gesellschaftskritisches Hinterfragen zu erweitern. Anhand von Passagen aus zwei Curricula für DaZ in der Erwachsenenbildung widmen wir uns dem Thema Mehrsprachigkeit. Perspektiven der Analyse entnehmen wir den postkolonialen Theorien und subjektivierungstheoretischen Ansätzen. Die zentrale Fragestellung hier bezieht sich auf eine vermutete Kontinuität kulturalisierender Diskurse in Begleitung neoliberaler/ökonomischer Verwertungslogik, die sich von Interkulturalitäts- über Diversitätsansätze bis zu Mehrsprachigkeitsförderungskonzepten erstrecken würde. Mehrsprachigkeit, mehrsprachige Gesellschaft, Mehrsprachigkeitsförderungen, mehrsprachige Bildungsangebote: All diese Bezeichnungen und Vorhaben verbinden wir mit der Mutmaßung einer veränderten Realität. Da in der Forderung nach dem Recht auf Mehrsprachigkeit als Gegensatz zu einer repressiven, sanktionierenden und aufgesetzten Monolingualität ein relevantes gesellschaftspolitisches Anliegen von uns erkannt wird, beschäftigen wir uns damit, stellen das, was als selbstverständlich erscheint, infrage, klopfen nach Widersprüchen ab, misstrauen der Akzeptanz, bemühen uns um einen macht- und selbstkritischen Umgang damit.
Mehrsprachigkeit: Relevant, aber kulturalisierend?
K ritik an kultur alisierenden D iskursen Ausgehend von der Butler’schen Subjekttheorie beschäftigt sich Nadine Rose mit der rekonstruktiven Erschließung von Subjektivierungsprozessen von »Migrationsanderen« (Mecheril 2004) und entwirft für unsere Analyse relevante Fragen. In einem ersten Moment fragt sie »nach den Bedeutungen von Zuschreibungen für Subjektivierungsprozesse«, um anschließend die Frage erweitert wieder zu stellen, »wie Rassismus, verstanden als dominantes System der bewerteten Unterscheidung, eigentlich subjektivieren kann und welche Formen der Resignifizierung (Bedeutungsverschiebung) sich dabei zeigen« (Rose 2012: 16). Bildung betrachtet Rose nicht als Gegenteil von Subjektivierung, sondern als auf sie verweisend bzw. mit ihr verkoppelt. Unter Einbeziehung der von Stuart Hall ausgearbeiteten Definition von Rassismus als wirksamer Diskurs, »der Subjekten bedeutet, wer sie sein sollen«, ergänzt Rose das Butler’sche Subjektkonzept um ein Diskriminierungsverständnis. »Ähnlich wie Butler die Ausbildung eines vergeschlechtlichten Selbstverständnisses als wirksamen diskursiven Effekt liest, der einer Anrufung als ›sie!‹ oder ›er!‹ Folge leistet, kann mit Hall die Ausbildung eines natio-ethno-kulturalisierten Selbstverständnisses als wirksamer diskursiver Effekt gelesen werden, der einer Anrufung als ›fremde/r Andere/r!‹ Folge leistet – durch rassismusrelevante Anrufungen können so de-privilegierte Subjektpositionen in der Gesellschaft zugewiesen werden.« (Ebd.: 13)
Die im Text verwendete Bezeichnung des natio-ethno-kulturalisierten Selbstverständnisses wird von Paul Mecheril vorgeschlagen, um »[…] der Unmöglichkeit trennscharf zwischen Differenzkonstruktionen, die auf ›Nationalstaat‹, ›Ethnie‹ oder ›Kultur‹ referieren, unterscheiden zu können, […] zu begegnen (vgl. Mecheril 2003: 24).« (Ebd.: 13) Respekt und Anerkennung von Differenzen bilden einen zentralen Grundsatz für die pädagogische Handlung in der Interkulturellen Pädagogik. Im Sinne einer demokratischen Bildungsarbeit ist es unmöglich, Differenzen nicht anzuerkennen. Denn alle Lernenden gleich zu behandeln, ohne gegebene Unterschiede und ungleiche Bedingungen zu berücksichtigen, würde wiederum Benachteiligung bewirken und bestätigen (vgl. Mecheril et al. 2010). Um dies zu vermeiden, bezieht sich die interkulturelle Pädagogik auf die Notwendigkeit der Anerkennung von Differen-
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zen. Aus migrationspädagogischer Perspektive wird jedoch das Prinzip der Anerkennung von Differenzen als Möglichkeit der Verfestigung der hegemonialen Ordnung problematisiert, denn dadurch würden »Andere« im Gegensatz zur Imagination eines »Wir« hergestellt und folglich eine Logik weitertradiert, die der Argumentation für Unterscheidungen, Diskriminierungen und Ausschlüsse dient (ebd.: 187). »Die Paradoxie, die hier anklingt, besteht darin, dass Handlungsfähigkeit an Anerkennungsverhältnisse geknüpft ist, Anerkennung aber den untergeordneten Status der Anderen nicht nur bestätigt, sondern auch hervorbringt.« (Ebd.: 187) Der interkulturelle Ansatz zieht die Aufmerksamkeit von strukturellen Problemen ab und lenkt diese auf externe, kulturelle Determinanten. Er ist ein vorherrschender Ansatz, der weder strukturelle Veränderungen im Sinne einer politischen und rechtlichen Gleichstellung, noch die Durchführung einer kritischen Gesellschaftsanalyse oder eine Auseinandersetzung mit Machtgefällen im Rahmen pädagogischer Handlungen ermöglicht. Die Problematisierung des Prinzips der Anerkennung von (kulturellen) Differenzen als Verfestigung der hegemonialen Ordnung kann ebenso in der Debatte um Diversitätsansätze beobachtet werden. Auch wenn, mit Maureen Maisha Eggers, Diversität als umkämpfte Ressource anerkannt werden muss, wird der gesellschafts- und herrschaftskritische Charakter von Diversität »zunehmend von einer marktförmigen Ausrichtung abgelöst« (Eggers 2010: 60). In einem Verständnis und einer Umsetzung von Diversity-Ansätzen, in denen der Kampf um Sichtbarkeit vereinnahmt, einer ökonomischen Logik unterworfen und am Markt verwertet wird, bleibt Diversity ein machtvolles Instrument der Herrschaftsaffirmation. »Ein oberflächliches Verständnis von Diversität als Möglichkeit einer ›Auflösung‹ oder gar Auslöschung des Spannungsverhältnisses gesellschaftlicher Ungleichheit trägt zu ihrer sukzessiven Entpolitisierung bei. Kritiken an diesem normalisierenden Diversitätswissen – frei nach dem Motto ›Bunte Vielfalt für alle‹ – mehren sich inzwischen.« (Ebd.: 69) Mit Maureen Maisha Eggers sind Diversitätsansätze zunehmend im Themenfeld Differenz, Vielfalt und Pluralität anzusiedeln, »bei gleichzeitiger Beibehaltung der hegemonialen Dividende«1 (ebd.: 60, Hervorh. im Original). Wird hier eine postkoloniale Perspektive herangezogen, kann 1 | Hier wird der Begriff »Dividende« in Anlehnung an Connell als die »Begünstigung« verstanden, mit der eine dominante gesellschaftliche Gruppe aufgrund der Gesellschaftsstruktur ausgestattet ist (vgl. Eggers 2010: 60).
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der essentialistische Charakter von Diversity-Ansätzen herausgearbeitet werden und ein Potenzial vor allem in Hinblick auf symbolische Repräsentationen erkannt werden, was sich allerdings als bestenfalls unzureichend erweist: »Soziale und politische Veränderungen haben im Postkolonialismus Vorrang vor kostengünstiger Symbolpolitik. Postkolonialer Theorie geht es darum, Rekolonisierungsprozesse herauszufordern, was kaum nur über eine Rekonstruktion des historischen Imperialismus zu bewerkstelligen ist.« (Castro Varela 2010: 255) Demnach müssen transnationale Ausbeutungsverhältnisse bei gleichzeitiger Kritik an eurozentristischen und essentialistischen Diskursen in den Blick genommen werden: »Auch weil sich postkoloniale Studien stark von poststrukturalistischem Denken beeinflusst zeigen, stehen sie quasi quer zu normativen Ansätzen oder Identitätspolitiken. Das bedeutet nun nicht, dass sie sich mit diesen nicht auseinandersetzen, jedoch, dass postkoloniales Denken jene klaren Ziele verschiebt; Grundannahmen eben auf den Grund geht. ›Buntheit‹ kann nicht das Ziel sein, sondern ist eher das Problem.« (Ebd.: 254)
Konzepte, die (kulturelle) »Vielfalt« einfordern, verfestigen zugleich Zugehörigkeitsordnungen und zementieren zugewiesene Subjektpositionen, instrumentalisieren letztendlich die ›Anderen‹. »Ebenso betonen diese Ansätze Nutzen und Gewinn von Vielfalt, ohne dass eine dekonstruktive Selbstkritik geleistet wird (Dhawan 2011).« (Schirilla 2014: 163) Migrant_innen werden nicht nur als »Andere« konstruiert, sondern dazu angehalten, ihre »partikuläre Ressource, die der Ethnizität, als vielversprechende Marktanlage einzusetzen. Differenz und insbesondere Ethnizität fügen sich hier in die Mehrwertlogik des global agierenden Marktes ein.« (Gutiérrez Rodríguez 2003: 176)
M ehrspr achigkeit im kultur alisierenden K ontinuum Nun glauben wir, die »Entdeckung einer alten neuen Ressource« beobachten zu können, eine Ressource, die bislang kaum genützt wurde und deren Einsatz einer marktförmigen Logik bei gleichzeitiger Ausblendung von gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen und Konstituierung der »Anderen« unterliegen könnte: die »Sprache(n) der Migrant_innen«. Hierfür betrachten wir exemplarisch zwei Passagen von Rahmencurri-
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cula für DaZ in der Erwachsenenbildung (MA 17 2006; Goethe-Institut 2007) näher, um uns anhand der Frage »Was wissen die Autor_innen über die Lernenden?« dem Verständnis von Mehrsprachigkeit in beiden Curricula anzunähern. Noch bevor wir die Textpassagen mit den oben erwähnten Fragen adressieren, erachten wir als sinnvoll erstens in Erinnerung zu bringen, dass Curriculatexte im Einklang mit unseren gewählten theoretischen Analyseperspektiven als eingebettet in einen (Fach-)Diskurs zu lesen sind. »Nach Foucault sind Diskurse eine Menge von Aussagen, die demselben Formationsgebiet zugehören, wie z.B. der Klinik, der Psychiatrie, der Sexualwissenschaft oder der Ökonomie, und die auf geregelte Weise soziale Gegenstände wie Wahrheit, Realität und Normalität bzw. Wahnsinn, Lüge und Abweichung sowie die ihnen entsprechenden Subjektivitäten produzieren.« (Babka 2003)
Zweitens möchten wir die Entstehung der Frage nach dem Wissen der Autor_innen über die Lernenden verorten. Sie ist zurückzuführen auf das Konzept der pädagogischen Reflexivität, das im Ansatz der Migrationspädagogik in Anlehnung an die Definition wissenschaftlicher Reflexivität von Pierre Bourdieu entworfen wird. Die Migrationspädagogik erkennt den unausweichlichen Widerspruch, der aus der Berücksichtigung des (demokratischen) Prinzips der Anerkennung bei gleichzeitiger Einhaltung eines dekonstruktiven Vorgehens entsteht. Das Prinzip der Anerkennung gilt hier als handlungsleitend, und zugleich werden die Kategorien dekonstruiert, auf deren Basis Differenzen anerkannt werden sollten. Um Professionalität angesichts dieser paradoxen Handlungsorientierung zu gewährleisten, wird für die Einführung einer rigorosen reflexiven Haltung plädiert. Durch die Einrichtung einer Praxis der Reflexivität soll erreicht werden, dass die Formen des Ausschlusses und der Erzeugung »Anderer« (als different) im pädagogischen Feld beschrieben, bedacht und verändert werden, um Diskriminierungen und Ausschlüssen wirksamer entgegenwirken zu können (vgl. Mecheril et al. 2010: 180). Pädagogische Reflexivität unterscheidet sich von »interkultureller Kompetenz« als technischem Vermögen für professionelle Handlung in Interaktionssituationen, in denen Differenz bedeutsam ist. Sie ist auch nicht als individuelle Reflexion, sondern als professioneller reflexiver Habitus innerhalb eines reflexiven professionellen Felds zu verstehen.
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»Gegenstand pädagogischer Reflexivität ist primär nicht der individuelle Pädagoge/die Pädagogin, sondern das im pädagogischen Handeln und Deuten maskierte erziehungswissenschaftliche, kulturelle und alltagsweltliche Wissen (zum Beispiel über ›die Migrant/innen‹).« (Ebd.: 191)
Die Praxis einer professionellen Reflexivität wirft unseres Erachtens eine Reihe von Fragen auf: nach den Grenzen des westlichen Wissens, nach gewaltvollen Prozessen der Aberkennung von Wissen, nach den Kriterien zur Legitimierung von Wissen; Fragen nach dem gestatteten Nichtwissen; Fragen, die Prozesse der Herstellung und Reproduktion von Wissen über die »Anderen« (als different) unterbrechen und untersuchen; Fragen, die die eigene machtvolle Position in der Migrationsgesellschaft destabilisieren; Fragen, durch die eine_r sich selbst widerspricht (Salgado 2012: 2). Widmen wir uns nun der ersten ausgewählten Passage aus dem Rahmencurriculum Deutsch als Zweitsprache & Alphabetisierung. Dieses Curriculum wurde im Auftrag des Magistrats Wien, Abteilung Integration und Diversität (MA 17), von einem Autor_innenteam der folgenden Institutionen erstellt: Institut für Weiterbildung des Verbands Wiener Volksbildung, Universität Wien und AlfaZentrum der Volkshochschule Ottakring (MA 17 2006). »Sprachförderung für MigrantInnen muss vor dem Spannungsfeld von Integration und Diversität gesehen werden, also vor dem Hintergrund der Förderung einer mehrsprachigen Gesellschaft einerseits und den Anforderung einer gemeinsamen Kommunikation als Grundlage von Partizipation andererseits […]. Deshalb sollten auch in Österreich als Beitrag zur Integration MigrantInnen aller Altersstufen die Möglichkeit haben, Deutsch zu lernen, um ihre Möglichkeiten zur Kommunikation im privaten und öffentlichen Alltag (Beruf, Bildung, Ämter und Behörden, Kontakt mit anderen Menschen in der Stadt etc.) zu erweitern – vor dem Hintergrund der Bewahrung ihrer jeweiligen mehrsprachigen Identität sowie unter Einbeziehung und Berücksichtigung ihrer mehrsprachigen und plurikulturellen Kompetenzen.« (Ebd.: 5)
Die Dichotomie, die im hier umrissenen Spannungsfeld angedeutet wird, lässt vermuten, dass »Integration« und »Diversität« als sich gegenüberstehende Pole betrachtet werden, deren Vereinbarung eine Herausforderung darstellen würde; gemeinsam bleibt ihnen jedoch, dass sie im auto-
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risierten Sprechen dieser bestimmten Textsorte als Wahrheit erscheinen, wodurch machtvolle Zuweisungen ausgesprochen werden. Zudem würde die Verwertung der Ressource Mehrsprachigkeit, die im Diversitätsansatz angestrebt wird, zur Integration (zumindest auf der Ebene des Arbeitsmarkts) führen wollen. Ein Widerspruch, der der Anrufung von Migrant_ innen innewohnen würde, wird sichtbar: sich integrieren und gleichzeitig »anders« bleiben. »Sich zu integrieren« bilde einen Teil der ambivalenten Handlungsanforderungen und -vorgaben, die im Prozess der Anrufung als »Andere« den Lernenden zugewiesen werden. Eine andere Vorgabe laute »anders sein« (Gutiérrez Rodríguez 2003: 162). In der Befragung des Textes nach dem Wissen der Autor_innen über die Lernenden zeichnen sich einige Annahmen ab: Migrant_innen würden an der vorgefundenen Gesellschaft partizipieren wollen, dafür würden sie die Mehrheitssprache brauchen; Migrant_innen würden partizipieren können, sobald sie die Mehrheitssprache erlernt hätten; Migrant_innen würden eine mehrsprachige Identität besitzen, die zu bewahren wäre, und würden über mehrsprachige und plurikulturelle Kompetenzen verfügen. Das Ersetzen des Attributs »kulturell« durch »mehrsprachig« deutet auf Fortsetzung einer essentialistischen Zuschreibungspraxis hin, die die Frage nach der Möglichkeit der Abgrenzung zwischen sprachlicher und kultureller Identität aufwirft. »Bewahrung der mehrsprachigen Identität« fungiert hier als ein mögliches Korrelat zu Formulierungen wie »Integration unter Wahrung der kulturellen Identität«, die in politischen und wissenschaftlichen Debatten um Interkulturalität und Integration häufig zu finden ist; Aussagen, die eine Vernachlässigung der Prozesshaftigkeit von Kultur sowie von Identitäten implizieren. Hierbei unterstreichen wir die Notwendigkeit, dass wissenschaftliche Positionen, die aus einer subjektivierungstheoretischen Perspektive sich für die Förderung von Mehrsprachigkeit aussprechen, explizit mögliche Kontinuitäten in Hinblick auf essentialistische Zuschreibungen thematisieren und problematisieren. Das Fehlen einer Begründung für die postulierte Relevanz der Mehrsprachigkeitsförderung im zitierten Text evoziert Fragen: Wer profitiert von einer Beibehaltung der Mehrsprachigkeit? (bzw. von einer »Förderung einer mehrsprachigen Gesellschaft«, ein Ziel, das als eine Ausblendung der bestehenden Mehrsprachigkeit der Gesellschaft gelesen werden kann). Und weiter: welche Kulturalisierungseffekte können mit der Förderung der Mehrsprachigkeit einhergehen? In welchen ökonomischen,
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kapitalistischen Logiken ist der Diskurs um Mehrsprachigkeit, wie wir ihn aus der Passage verstehen, verstrickt? Wenn Mehrsprachigkeit als Mehrwert für die Mehrheitsgesellschaft verstanden wird, wenn Mehrsprachigkeit eingefordert wird, ohne eine mit struktureller Veränderung einhergehende Reflexion der gesellschaftlichen Verhältnisse und der machtvollen Hierarchisierung von Sprachen, die Prozesse der An- und Aberkennung bestimmt, ohne Problematisierung des Nationalstaatkonstrukts, das mit der aufgezwungenen Herstellung von Nationalsprachen verwoben ist, bleibt die Positionierung für Mehrsprachigkeitsförderung ein Lippenbekenntnis, das zugewiesene gesellschaftliche Positionen zementiert, anstatt darin Risse zu erzeugen. Ähnliche Spuren, diesmal bezüglich »innerer Mehrsprachigkeit« (Wandruszka 1979) finden wir in der zweiten Passage des Rahmencurriculums für Integrationskurse des Goethe-Instituts (Goethe-Institut 2007). Das Rahmencurriculum für Integrationskurse – Deutsch als Zweitsprache wurde im Auftrag des Bundesministeriums des Innern im Rahmen eines Projektes des Goethe-Instituts in Deutschland entwickelt (ebd.). »Aus der Fülle der kausalen Faktoren für Fossilierung ergeben sich entsprechend viele Forderungen an den Unterricht in Deutsch als Zweitsprache. Eine wesentliche und grundlegende Forderung ist die Notwendigkeit der Förderung der Motivation und Zielorientierung der Lernenden, denn ohne eine starke und positive Sprachlernmotivation werden Lerner die Mühen, die es bedeuten würde, besser zu werden, nicht auf sich nehmen. Um nun diesen multiplen unterschiedlichen Lernvoraussetzungen im Integrationskurs gerecht zu werden, ist es unabdingbar, dass Teilnehmende sich über ihren eigenen Umgang mit dem Sprachenlernen austauschen, dass sie Strategien zum Sprachenlernen erwerben und ihre bereits erworbenen Deutsch- bzw. Fremdsprachenkenntnisse oder ihre Mehrsprachigkeit einbringen können. Die Entwicklung von Sprach- und Sprachlernbewusstsein ist ein wesentlicher Bestandteil jedes Sprachlernprozesses. Gerade Migrantinnen und Migranten müssen sich sprachliche Phänomene bewusst machen, um Sprache lernen zu können. Sie müssen sensibilisiert werden für Sprache(n) und ihre Formen, Strukturen, Funktionen sowie ihren Gebrauch. Gleichzeitig ist es für diese Zielgruppe wichtig, Sensibilität für Registerdifferenzierungen zu entwickeln. Die Beherrschung förmlicher, sprachlich verdichteter und elaborierter Register ist besonders in asymmetrischen mündlichen Kommunikationssituationen (z.B. bei Behörden, beim Arzt) und in der schriftlichen Interaktion wichtig. Substandardsprachliche und regional
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variierende mündliche Formen des Deutschen spielen wiederum im Alltag eine wesentliche Rolle, z.B. in der Interaktion mit Gleichgestellten (vgl. Maas/Mehlem 2003: 111).« (Ebd.: 8-9)
Kien Nghi Ha arbeitet in seinem Beitrag »Deutsche Integrationspolitik als koloniale Praxis« die Kontinuität der kolonialen Pädagogik in Integrationsverordnungskursen in Deutschland heraus, die in den ihnen impliziten Annahmen über Defizit und Devianz der migrantischen Subjekte Normierungs- und Zivilisierungslogiken folgen. »Sowohl das aktuelle Integrationskonzept als auch die historischen Strategien der Zivilisierung und Missionierung beruhen auf einer manichäischen Differenzkonstruktion, die den Anderen als gänzlich anders entstellt. Diese Imaginierung findet in der Herstellung des Dualismus zwischen innen und außen, Subjekt und Objekt, rational und irrational, gut und böse ihre grundlegende Voraussetzung.« (Nghi Ha 2007: 122)
Somit wird eine Hierarchie konstituiert, die in einem fantasierten westlichen »Wir« ihren Ausgangspunkt nimmt. »Dazu werden die postkolonialen Anderen in einem ersten Schritt, ungeachtet ihrer inneren Komplexität und Heterogenität, entindividualisiert, vereinheitlicht und negativ konnotiert. Anschließend werden diese zugeschriebenen Kollektivmerkmale in einem Gegensatzverhältnis zu den in der BRD gültigen Normen und Werten des ›Westens‹ fixiert.« (Ebd.) Was bedeutet es, über »Motivation und Zielorientierung » im Rahmen von Integrationsverordnungskursen zu sprechen, und sie obendrein als Bedingungen zu benennen, um »besser« zu werden? Auf welche versteckte, unhinterfragte Norm bezieht sich die Steigerung hier? Besser in dem vorgeschriebenen, mit der realen Androhung aufenthaltsrechtlicher Sanktionen behafteten Deutschlernprozess zu werden? Besser in dem Erfüllen des zivilisatorischen Projektes? Müssen Migrant_innen besser verwertbare Ressourcen zur Verfügung stellen und diese »einbringen«? Nach dem Feststellen der Lernvoraussetzungen, nach der Diagnose, nach dem Benennen der Mängel, der Schwierigkeiten, die nur anhand einer »starken und positiven Sprachlernmotivation« zu überwinden wären, nach der Hervorhebung der allgemeingültigen Relevanz der Entwicklung eines Sprach- und Sprachlernbewusstseins für Sprachlernprozesse wird behauptet, dass »gerade« Migrant_innen einen Nachholbedarf
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aufweisen würden: »[Sie] müssen sich sprachliche Phänomene bewusst machen, um Sprache lernen zu können.« (Goethe-Institut 2007: 8) Neben der Aussage, die Migrant_innen als Lernende charakterisiert, die aufgrund des Fehlens der Fähigkeit zur Bewusstmachung sprachlicher Phänomene nie Sprache gelernt hätten, wäre hier u.E. noch wichtig, die vorgeschriebenen Maßnahmen zur Ermöglichung eines erfolgreichen Lernprozesses im Licht der Beschreibung von Prozessen der Subjektivierungsweisen zu betrachten.
»Folgt man Foucault, erscheint das Subjekt unter der Perspektive der Subjektivierungsweisen letztlich nicht als eine geistige, sondern als ›technische‹ Angelegenheit. Es sind bestimmte scheinbar profane Techniken, in denen eine bestimmte Subjektform immer wieder neu hervorgebracht wird – Techniken wie die des Schreibens von Manualen und der Teilnahme an Beichten, der systematischen Registrierung von Populationen, der Fremd- und Selbstbeobachtung körperlicher und psychischer Merkmale etc. Diese Techniken oder Praktiken sind wiederum mit bestimmten Diskursen verknüpft, welche die Klassifikationsraster bieten, nach denen Subjekte überhaupt vorgestellt, unterschieden und entsprechend produziert werden bzw. sich selbst produzieren können.« (Reckwitz 2012: 24-25)
An dieser Stelle korrelieren die Klassifikationsraster mit den Annäherungen an die Frage nach dem Wissen der Autor_innen über die lernenden Migrant_innen: Es werden defizitäre Subjekte konstruiert, die dazu motiviert werden müssen, »sich selbst zu produzieren«, um innerhalb hierarchisierender Verhältnisse ihren zugewiesenen Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Die Behauptung, dass »gerade« Migrant_innen ein Bewusstsein über sprachliche Phänomene entwickeln sollen, kann im Umkehrschluss die Annahme implizieren, dass sie dieses erst erwerben müssen, sprich, dass sie vor dem Besuch des Integrationskurses über dieses Bewusstsein nicht verfügten. Ein weiteres fehlendes Bewusstsein sehen die Autor_innen in Bezug auf Registerdifferenzierungen. Es handelt sich hier, so eine mögliche Lesart, um Platzzuweisungen im Einklang mit vorherrschenden Festschreibungen und Zuweisungen: Unterwerfung in Situationen, in denen die Machtpositionen ungleich verteilt sind, ohne Problematisierung der »Asymmetrie«; »Substandard« und Dialekt im Alltag andererseits unter vermeintlich »Gleichgestellten«. Die Positionen und die Räume, die Migrant_innen zu bewohnen hätten, wären somit festgeschrieben.
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Integrationskurse werden hier in ihrer Funktion als Instanz der Reproduktion der kapitalistischen Produktionsverhältnisse unter rassistischen Arbeitsmarktpolitiken und -praxen und in diesem Sinn als ideologisch ausgerichtet betrachtet – auch wenn der ideologische Charakter im Curriculum selbst, wie meist im Fachdiskurs, nicht explizit thematisiert wird. Althusser merkt an, dass es eine Wirkung der Ideologie sei, »dass durch die Ideologie der ideologische Charakter der Ideologie geleugnet wird« (Althusser 2010: 89, Hervorh. im Original).
P erspek tiven : ein B eispiel Eine Pädagogik der Heteroglossie wird von Brigitta Busch (2013) als eine Perspektive für die Realisierung einer Bildungsarbeit beschrieben, die die Dimensionen der Vielstimmigkeit, der Multidiskursivität und der Pluralität von Codes (Mehrsprachigkeit) berücksichtigen würde. Heteroglossie als Pädagogik würde nach der Autorin das Ziel verfolgen, »[…] einen Raum zu öffnen, aus dem die mit unterschiedlichen sozioideologischen Welten verbundenen Stimmen, Diskurse und Sprechweisen nicht ausgesperrt und wo sie nicht voneinander getrennt bleiben, sondern wo sie aufeinandertreffen, um ein unvorhersehbares, uneinheitliches Neues zu bilden« (ebd.: 196). Die »Bibliothek der Kleinen Bücher«, die aus durch Schüler_innen erstellten »Kleinen Büchern« in einer Mehrstufenklasse einer öffentlichen Volksschule in Wien laufend hervorgebracht wird, fungiert in der Argumentation von Busch als Beispiel einer Praxis im Sinn der vorgeschlagenen Pädagogik der Heteroglossie. Mehrsprachigkeit würde hier einen Mehrwert der Konkretisierung der Arbeit hinzufügen, ohne dass den Schüler_innen eine kulturalistische, exotisierende Inszenierung von Differenz abverlangt wird (ebd.: 195). Die Pluralität von Codes, die durch die Erstellung der »Kleinen Bücher« im Raum sichtbar gemacht wird, resultiert in einem multilingualen Angebot. Schüler_innen, die neu in die Klasse kommen, erhielten dadurch die Chance, Texte in der Bibliothek zu finden, die ihnen bekannte Arten zu sprechen oder zu schreiben bereitstellen würden. Die thematische und diskursive Pluralität würde zudem zur Entstehung eines durchlässigen Raums beitragen. Der Raum wäre durch eine Praxis von Lernen und Lehren gestaltet, die in einer dialogischen und multidirektionalen Weise stattfindet. Lehrer_ innen- und Schüler_innenrollen können vertauscht werden, Positionen
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können ausverhandelt werden, Schüler_innen können Themen einbringen und somit ihren Beitrag zur Entwicklung eines dynamischen Curriculums leisten. Die »Bibliothek der Kleinen Bücher« betrachtet Busch mit Hinweis auf Foucault als Heterotopie: »[R]eale, wirkliche, zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörige Orte, die gleichsam Gegenorte darstellen, tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, all die anderen realen Orte, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden (Foucault 2006: 320).« (Ebd.: 196) Übertragen auf die Situation in der Erwachsenenbildung mit Migrant_innen im Rahmen von Basisbildung oder von Deutschkursen im Allgemeinen erscheinen die Aspekte, die am Beispiel der Bibliothek der Autorin erlauben, den entstandenen Raum als einen Gegenort im Sinn von Heterotopie zu bezeichnen, als erweiterbar. Trotz der hier vertretenen Annahme, dass Bildung auf Subjektivierung verweist bzw. mit ihr verkoppelt sei (Rose 2012: 16), obwohl wir Subjektivität und Handlungsfähigkeit als gesellschaftlich konstituiert betrachten, und davon ausgehen, dass Kritik und Widerstand sich nicht außerhalb gesellschaftlicher Verhältnisse konstituieren und artikulieren können (vgl. Meißner 2010), suchen wir nach Entwurfsmöglichkeiten einer widerständigen Handlungsfähigkeit, die als Fähigkeit verstanden wird, »sich zu den Verhältnissen zu verhalten und diese nicht nur zu reproduzieren« (ebd.: 10). Die Erweiterung, die dem von Busch dargestellten Konzept vorgeschlagen wird, bezieht sich vor allem auf die Fähigkeit erwachsener Lernender, sich zu den Verhältnissen zu verhalten, um diese möglicherweise nicht zu reproduzieren. Das würde im Unterschied zum Beispiel der »Bibliothek der Kleinen Bücher« bedeuten, mit den Lernenden auf einer Metaebene die gesellschaftlichen Verhältnisse zu reflektieren, sie historisch zu verorten und Handlungsperspektiven zu entwerfen und zu eröffnen, die zur Veränderung der Verhältnisse führen könnten.
S ubjek tivierung und die F r age nach einer widerständigen H andlungsfähigkeit Wir beziehen uns in diesem Schritt auf die Arbeit von Hanna Meißner, in welcher sie sich ausgehend von der These, »dass Subjektivität und Handlungsfähigkeit gesellschaftlich konstituiert sind, dass es folglich auch keine Instanz außerhalb dieser Verhältnisse ›gibt‹, auf die sich Kritik und Wider-
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stand stützen können« (ebd.: 10) – sich den theoretischen Entwürfen von Butler, Foucault und Marx zuwendet. Dabei verfolgt sie das Ziel der Eruierung von Möglichkeiten einer immanenten Kritikstrategie, die nichtsdestotrotz nicht im gesellschaftlich Gegebenen gefesselt bleiben würde. Geleitet vom Verständnis von Handlungsfähigkeit als die Fähigkeit, »sich zu den Verhältnissen zu verhalten und diese nicht nur zu reproduzieren« (ebd.) wenden wir uns nun Subjektivierungstheorien mit einer für unsere Auseinandersetzung relevanten Frage zu, die gleichzeitig der Grund für die vielerorts formulierte Kritik an post-strukturalistischen Subjektivierungstheorien bildet: Wie ist Handlungsfähigkeit als die Fähigkeit zu definieren, die die Subjekte in die Lage versetzen würde, die soziale Ordnung zu verändern, wenn sie dadurch jener Macht Widerstand leisten würden, durch die sie selbst konstituiert werden (vgl. Posselt 2003)? In ihrer Subjekttheorie grenzt sich Butler von der Konzeption eines universellen und selbstidentischen Subjektes ab, und betrachtet es hingegen als »[…] Effekt von Prozessen der Bedeutungszuschreibung innerhalb eines offenen Systems diskursiver Möglichkeiten […]« (Meißner 2010: 22). Sie analysiert die normativ-diskursive Konstitution des Subjektes und richtet anhand des Konzeptes der »Performativität«, das sie der Sprechakttheorie entlehnt, ihre Aufmerksamkeit auf die performative kontinuierliche Selbstarbeit und Selbstpräsentation des Subjektes (Reckwitz 2012 82). Der Rahmen dieses Beitrags ermöglicht lediglich eine kurze Erwähnung von Butlers Theorie, daher heben wir nur einige Aspekte hervor, die für unsere Analyse als relevant und produktiv erachtet werden. Unter diesen Aspekten würden wir neben dem Konzept der »Performativität« die politische Dimension ihrer theoretischen Ausführungen erwähnen: »Butler geht nicht davon aus, dass die Person, das ›Ich‹, der Ursprung von Handlungsfähigkeit ist, vielmehr fragt sie nach den normativen Bedingungen, die eine Person als handlungsfähiges ›Ich‹ überhaupt erst hervorbringen. Diese theoretische Perspektive ist bei Butler zudem mit einem politischen und ethischen Projekt verknüpft, da sie immer auch die Frage impliziert, wie jene Normen, die bestimmte Subjekte und ihre Handlungsfähigkeit hervorbringen, zugleich andere vom Status eines Subjektes ausschließen.« (Meißner 2010: 19)
Im Hinblick auf die vorher formulierte Frage nach der Möglichkeit einer (widerständigen) Handlungsfähigkeit würden wir hier hervorheben, dass Butler davon ausgeht, dass das Subjekt seine Handlungsfähigkeit gera-
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de in der Unterwerfung unter heteronome Bedingungen erhalten würde. Daher wäre es nicht möglich, ein emanzipatorisches Handeln als eine im Subjekt selbst begründete Fähigkeit, sich von der Heteronomie zu befreien, zu konzipieren. Emanzipatorisches Handeln wäre nach Butler als eine kollektive Arbeit an den Bedingungen der Heteronomie zu verstehen. Dadurch könnte das Ziel einer »Erweiterung der Lebensoptionen« im Rahmen einer Praxis der dekonstruktiven Verschiebung von Normen verfolgt werden (ebd.: 24-25). Die theoretischen Arbeiten von Michel Foucault werden von Meißner insgesamt als »Entwurf einer historischen Theorie der Subjektivität« bezeichnet. Den gesellschaftskritischen Anspruch seines Projektes sieht sie darin begründet, »[…] das ›Menschliche‹ als unentrinnbar gesellschaftlich und damit als historisch kontingent zu denken« (ebd.: 91): Die gesellschaftliche Konstitution von Subjektivität und Handlungsfähigkeit wird von Foucault anhand einer Analyse historischer Verhältnisse gedacht und diese Verhältnisse als Macht-Wissen-Komplexe beschrieben. Unter der Annahme spezifischer Technologien der Selbstkonstitution betrachtet Foucault Subjekte jedoch nicht nur als Effekte von Macht-Wissen-Komplexen, sondern auch als selbstkonstituierend. Unter Einsatz bestimmter Techniken bestünde die Möglichkeit, sich widerständig zu den gesellschaftlichen Verhältnissen zu verhalten. Meißner macht darauf aufmerksam, dass Marx ähnlich wie Butler und Foucault von der Prämisse ausgeht, dass das Subjekt durch die spezifischen Verhältnisse in seiner Subjektivität erst konstituiert wird. Gesellschaftliche Bedingungen werden nicht nur als Rahmen betrachtet, sondern als konstitutive Voraussetzung der subjektiven Handlungsfähigkeit. Während Butler Subjektivität und Handlungsfähigkeit als Effekt der Normen der symbolischen Ordnung analysiert und Foucault das Subjekt als Hervorbringung historischer Macht-Wissen-Komplexe auffasst, würde für Marx hingegen die Hervorbringung von Subjekten durch eine bestimmte Organisation der Produktionsweise stattfinden (ebd.: 197). In einer darauf folgenden Unterscheidung zu post-strukturalistischen Theoretiker_innen richte sich der Fokus bei Marx auf die gesellschaftliche Objektivität, »[…] die als vermeintlich sachliche Bedingung den Intentionen und dem Handeln gegenübersteht« (ebd.). In der Marx’schen Perspektive wird die vermeintliche Natürlichkeit (»Naturwüchsigkeit«) gesellschaftlicher Verhältnisse im Kapitalismus nicht nur als Effekt einer spezifischen Macht-Wissen-Ordnung begriffen und würde daher auch nicht nur auf
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dieser Ebene zu kritisieren sein. Hanna Meißner betont in diesem Zusammenhang, dass es Marx darum gehen würde, eine spezifische Versachlichung und Verselbstständigung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der kapitalistischen Produktionsweise zu konstatieren, die die Subjekte dazu führen würde, gesellschaftliche Verhältnisse als Wesenseigenschaften von Dingen und Menschen und Gesellschaft als Folge dieser Natur von Dingen und Menschen wahrzunehmen.
»Der Clou an der Marx’schen Perspektive besteht darin, diese objektiven Strukturen durch den Aufweis ihrer gesellschaftlichen Gestalt und historischen Gewordenheit prinzipiell der Intentionalität des Handelns zugänglich zu machen. Mittels seiner historischen Kritik dieser Strukturen kann er dann begründen, dass sich eine widerständige Intentionalität auf deren Veränderung richten kann und muss.« (Ebd.: 199)
A bschliessendes Im Hinblick auf Mehrsprachigkeit im Kontext der sprachlichen Erwachsenenbildung weisen wir zusammenfassend auf die zwei von uns bereits erwähnten »Versäumnisse« im Feld hin: Einerseits das weitgehende Fehlen einer dekonstruktiven Problematisierung identitärer Zuschreibungen, die sich in der von uns vermuteten Kontinuität zwischen Diskursen um »kulturelle« und »mehrsprachige« Identität artikuliert. Eine dekonstruktive Annäherung, die jedoch nicht nur ausgehend von der Idee der Verschiebung von Normen und Zugehörigkeitsordnungen die Möglichkeit der Transformation der gegebenen Verhältnisse anstrebt, sondern die gleichzeitig die Positionierung für eine mehrsprachige Gesellschaft annehmen würde, die – und somit kommen wir zum zweiten »Versäumnis« – die Kritik an kapitalistischen Produktionsverhältnissen einschließt. Eine Positionierung, die sich abseits des Verwertungsimperativs artikuliert, und die Diskriminierungsverhältnisse, strukturelle Dynamiken und Hierarchien, in denen letztendlich der Mehrwert (in unserem Fall der Mehrsprachigkeit) eingelöst wird, nicht ausblendet, sondern transformieren will. Dies würde erfordern, dass die Gegenwart widerständiger Handlungen anhand der Rekonstruktion historischer Prozesse der emanzipatorischen Veränderung von gesellschaftlichen Verhältnissen sowie der Analyse der Bedingungen, unter denen solche Prozesse stattgefunden haben, entworfen wird.
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Deutsch als Wissenschaftssprache und normativ-korrektes Deutsch als Herrschaftsinstrumente im universitären Kontext Johannes Köck
E inleitung Die in vorliegendem Beitrag behandelte Thematik schließt unmittelbar an meinen persönlichen universitären Alltag als Student des Masterstudiums DaF/DaZ (Deutsch als Fremd- und Zweitsprache) an der Universität Wien an. Der analysierte Gegenstand ist nicht nur im Rahmen des Masterstudiengangs DaF/DaZ und ferner nicht nur für die österreichische Hochschullandschaft, sondern auch für die nationalen tertiären Bildungssysteme anderer Staaten relevant. Ausgangspunkt und Schreibanlass war der Umstand, dass ich1 kollaborativ zu erstellende schriftliche Arbeiten, wie sie im Masterstudium DaF/DaZ häufig durchzuführen sind, im Laufe des Studiums zunehmend als problematisch und belastend empfand und auch weiterhin empfinde. Bereits während der Phase der Gruppenfindung ist nämlich häufig zu beobachten, dass vorwiegend KollegInnen einander suchen (und zumeist auch finden), die voneinander annehmen, dass sie normativ korrektes Deutsch sprechen und vor allem schreiben. Dieser Auswahl- bzw. 1 | Weil vorliegender Beitrag ein hohes Ausmaß an persönlicher Involviertheit aufweist, greife ich einen Vorschlag von Astrid Messerschmidt (2009: 11) auf und halte es, wie sie, für erforderlich, »[…] die persönliche Eingebundenheit auch sprachlich zu verdeutlichen und ein neutralisierendes Sprechen zu begrenzen, soweit dies im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit möglich ist«.
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»Selektionsmechanismus« ist – soweit dies nach persönlicher Einschätzung und Beobachtung beurteilt werden kann, neben persönlichen (Bekanntheit und Sympathie) vorwiegend auf zeitökonomische und pragmatische Faktoren zurückzuführen. Die Abgabe eines formal fehlerhaften Textes kann zu einer schlechten Bewertung führen, was für Studierende auch mit finanziellen Einbußen – etwa dem Wegfallen von Stipendien – verbunden sein kann. Der Prozess der Gruppenfindung ist ein mehrfach wirksamer, weil er neben der (zeit-)ökonomischen auch eine soziale Relevanz besitzt. Im Zusammenhang mit einer möglichen negativen (bzw. subjektiv nicht als gut empfundenen) Zensur steht in der Regel das Korrigieren, nicht Redigieren des gemeinsamen Textes vor der Abgabe, das aber häufig über weite Teile nicht in der Gruppe, sondern von nur einer Person erfolgt und – abermals aus zeitökonomischen Erwägungen – wenig Raum für kollegiales, wohlwollendes Feedback und kooperatives Überarbeiten lässt, was meist zu Kränkungen und Verletzungen und somit atmosphärischen Dissonanzen in der Gruppe führt. Die manchmal von DozentInnen angebotene Alternative dazu ist das namentliche Kenntlichmachen der AutorInnenschaft verschiedener Textabschnitte und damit einhergehend unterschiedlicher Bewertungen der Gruppenmitglieder. Auch diese Möglichkeit ist aber nicht unproblematisch, weil ja zumindest Planung und gewisse Schreibprozesse kooperativ erfolgen und dann dennoch kein gemeinsames Produkt eingereicht werden würde. Besonders aber der Aushandlungsprozess hin zu dieser Entscheidung – Ich möchte, dass mein Abschnitt extra bewertet wird und mache ihn deshalb kenntlich – ist eine gewaltvolle, hierarchisierende Praxis der Subjektbildung2, die von Studierenden wohl auch aufgrund der damit verbundenen »unangenehmen« Interaktion zumeist umgangen wird. In der Regel – so meine Beobachtung – wird der Text eher von einer Person überarbeitet und anschließend als gemeinsames Produkt der Gruppe abgegeben.
P roblemaufriss Unabhängig davon, ob nun ein gemeinsamer oder ein Text abgegeben wird, bei dem die Zuständigkeit für verschiedene Abschnitte namentlich gekennzeichnet ist, bleibt die Problematik bestehen, dass man als Studie2 | Auf den Terminus Subjekt/Subjektbildung wird unten näher eingegangen.
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render gewissermaßen gezwungen ist, Herrschaftsstrukturen zu reproduzieren, auch wenn man diese aus tiefer Überzeugung ablehnt. In meinem Beitrag möchte ich mich zunächst kurz auf mein persönliches Involviertsein und die Termini normativ-korrektes Deutsch bzw. Wissenschaftssprache Deutsch beziehen. Anschließend wird das Herrschaftsinstrument normativ-korrektes Deutsch im monolingualen3 universitären Kontext aus subjektivierungstheoretischer Sicht analysiert4. Meine These lautet, dass manche Studierende superior positioniert werden und andere inferior, um ein Nationalstaatliches Wir (vgl. Mecheril et al. 2010) über die – und an der – Universität abzusichern. Das Ergebnis meiner Analyse soll einen Beitrag leisten zur Beantwortung der Frage, ob Deutsch an der Universität als sprachliches Angebot zur Unterwerfung anderer in Erscheinung tritt. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Passage zum Bereich »Landeskunde, Textkompetenz, Literatur« des an Studierende und an Studieninteressierte gerichteten Curriculum für das Masterstudium Deutsch als Fremd- und Zweitsprache der Universität Wien, in dem folgende Studienziele genannt werden5: »Die Studierenden […] kennen die besonderen Anforderungen und Lernziele, vor denen fremd- und zweitsprachige Lernende stehen, die zeitgleich Deutsch als Sprache des Unterrichts/Deutsch als Fachsprache/Deutsch als Wissenschaftssprache und Fachinhalte lernen müssen […].«
Der zitierte Abschnitt ist deshalb bedeutsam, weil er verdeutlicht, dass es im Masterstudium Deutsch als Fremd- und Zweitsprache ein Verständnis sowohl über die unterschiedlichen Register des Deutschen als auch über die 3 | Damit ist neben der alleinigen Verwendung der Wissenschaftssprache Deutsch auch ein Verständnis von Mehrsprachigkeit gemeint, das diese auf Deutsch und Englisch reduziert (vgl. dazu Dirim 2013: 198). 4 | Außerdem muss zunehmend auch die monolinguale Verwendung des Englischen im internationalen universitären Kontext beachtet werden. Diese trifft besonders auf technische und naturwissenschaftliche Fächer zu. Derzeit gibt es etwa an der TU München Bemühungen, alle Masterstudiengänge bis zum Jahre 2020 völlig auf Englisch umzustellen (vgl. Krass 2014). 5 | Siehe: Curriculum für das Masterstudium Deutsch als Fremd- und Zweit sprache, Stand Juli 2013.
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besonderen Anforderungen bezüglich deren Vermittlung gibt. Dennoch tritt Deutsch im Rahmen des Studiums als Subjektivierungsangebot in Erscheinung. Dies soll – genauso wie die Geeignetheit der Kategorie Solidarität – als Möglichkeit der Abwehr dieses Herrschaftsinstruments in vorliegenden Beitrag analysiert wird, und zwar in Anlehnung an Foucaults Kritikverständnis als Möglichkeit, um »nicht dermaßen regiert zu werden« (Foucault 1992: 15)6.
I nvolviertes S chreiben Um der eingangs aufgeworfenen Frage – Warum gerät man als Studierende_r in die Position, an einem Herrschaftsinstrument teilzuhaben, das Unterscheidung durch Sprache trifft? – nachgehen zu können, ist eine explizite Schilderung aus der Perspektive eines Majoritätsstudierenden unter Benennung der eigenen Erfahrungen erforderlich. Diese Perspektive, dieses Schreiben, ist naturgemäß eines der unmittelbaren Involviertheit, weshalb dieses Involviertsein in die kritisierten Verhältnisse offengelegt werden muss (vgl. Messerschmidt 2009: 17). Außerdem bedarf es einer theoriebasierten Verortung. In einem Rekurs auf den Bildungstheoretiker Ernest Jouhy entwirft Astrid Messerschmidt (2011: 92) die Perspektive Involviertes Forschen, nach der eine »kritische Position von außen, ohne selbst in das Kritisierte involviert zu sein […]«, unmöglich ist, weil Forschungsprojekte im Zusammenhang mit modernisierter Herrschaft stünden, die Forschende mit Macht ausstatte, um diese möglichst effizient in der Wissensgesellschaft zu positionieren (ebd.: 93). So müsse auch die »Verstrickung von Subjekt und Objekt« wissenschaftlich reflektiert werden, gerade, weil im Rahmen der Thematisierung von Migration, in asymmetrischen Beziehungen, von Etablierten über AußenseiterInnen, oder Mehrheitszugehörigen über Minderheiten gesprochen werde (ebd.: 82). Astrid Messerschmidt (2009, S. 82.) skizziert aber auch eine Möglichkeit für einen produktiven Umgang involvierten Forschens: 6 | Ich möchte mich bei İnci Dirim, Marion Döll und den TeilnehmerInnen des Erasmus-Intensiv-Programm (IP) »Linguizismuskritische Perspektiven auf lebensweltliche Mehrsprachigkeit und nationale Bildung(ssysteme)- LiPeLeMe« für deren wertvolle inhaltliche Anregungen bedanken.
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»Das gibt dem Diskurs eine spezifische Struktur machtvoller Identifikationen. Erst die Reflexion dieser Struktur ermöglicht es, den pädagogischen Migrationsdiskurs kritisch zu wenden. Das bedeutet, dass Migrationswissenschaft sich selbst nicht als distanziert von dem, was sie analysiert, verstehen kann, sondern ihr eigenes Involviertsein zu reflektieren hat. Nicht, um dieses zu überwinden, sondern, um es zu nutzen, für die bestimmte Negation dessen, was zu verändern ist […].« (Vgl. auch Mecheril/Messerschmidt 2007)
Zur weiteren Analyse soll dieser Vorschlag aufgegriffen und danach gefragt werden, inwiefern Personen, die als Mehrheitsangehörige positioniert sind, in von ihnen kritisierte und problematisierte Verhältnisse (vgl. Messerschmidt 2009: 9) verstrickt sein können. Bezüglich der Beteiligung von Lehrenden am Profit von Herrschaftsinstrumenten schildert İnci Dirim in ihrem Beitrag Rassialisierende Effekte? Eine Kritik der monolingualen Studieneingangsphase an österreichischen Universitäten (Dirim 2013) ein spezielles Problem des Feldes ›Migration, Bildung und Sprache‹. Selbst mehrsprachig aufgewachsene ForscherInnen blieben privilegierter Teil der nationalen monolingualen Bildungssysteme und stünden mit einer weitgehenden Anerkennung einer Mehrsprachigkeit, die über Deutsch und Englisch hinausgehe, vor der Herausforderung, »die eigene ›professionelle‹ Einsprachigkeit und die damit verknüpften Positionen und Handlungsfähigkeiten zu reflektieren« (ebd.: 198), was ihr Selbstverständnis und ihre Handlungsroutinen möglicherweise irritieren könnte (vgl. ebd.). Diese Kritik erweiternd muss angemerkt werden, dass auch privilegierte Majoritätsstudierende bei einer weitgehenden Anerkennung von Mehrsprachigkeit vor der Herausforderung stünden, ihre Positionen und Handlungsfähigkeiten zu reflektieren. Ein weiterer Punkt, dem in diesem Kontext Beachtung geschenkt werden muss, ist die von İnci Dirim aufgeworfene Frage, inwieweit es legitim sei, in selbst-kritischer bzw. reflexiver Praxis als Lehrende_r »für und über die Studierenden« zu sprechen (ebd.: 199). Auch mein Sprechen bzw. Schreiben aus einer Majoritätsposition ist ein Sprechen von und über andere(n), das unter dem Begriff Paternalismus7 diskutiert werden kann. Der Begriff Paternalismus macht auf eine gesellschaftliche Figuration aufmerksam, die das Sprechen und Handeln in der Migrationsgesellschaft entscheidend prägt und als Figuration »einen zentralen Beitrag zur Herstellung der sozial wirksamen Differenz 7 | Zum Begriff Paternalismus vgl. Mecheril et al. (2012).
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zwischen ›mit‹ und ›ohne Migrationshintergrund‹ leistet« (Mecheril et al. 2012). Es erscheint mir wichtig, meine involvierte Position und Perspektive explizit zu benennen und zu schildern und ferner im Rahmen dieses Beitrags vor allem auch Alternativen dazu aufzuzeigen und zu entwickeln.
D eutsch als W issenschaf tsspr ache und normativ - korrek tes D eutsch Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, entlang welcher sprachlichen Differenzlinien im tertiären Bildungssektor Unterscheidungen getroffen werden, die Studierende mit unterschiedlichen Partizipationsmöglichkeiten versehen. Wie alle Sprachen verfügt auch die deutsche Sprache über unterschiedliche Varietäten, also etwa Dialekte, Soziolekte, Regiolekte und Standardsprachen (vgl. dazu Dirim 2013a: 201). Im Rahmen der universitären Ausbildung ist vor allem die Beherrschung einer formal korrekten Wissenschaftssprache erforderlich. Diese Wissenschaftssprache ist eine Fortführung der schulischen Bildungssprache und unterscheidet sich insofern von der Standardsprache, »als sie ein in einem spezifischen Kontext tradiertes sprachliches Register bildet, das bestimmte strukturelle Muster und einen bestimmten Wortschatz aufweist, fachsprachliche Elemente beinhaltet und auch in der mündlichen Form konzeptionell schriftsprachlichen Regeln folgt (zum Begriff Bildungssprache vgl. Gogolin 2007)«8 (Dirim 2013: 201). Zu Beachten ist auch die uneinheitliche Terminologie im Deutschen. Speziell die Unterscheidung von Wissenschaftssprache und wissenschaftlicher Fachsprache ist für eine trennscharfe Verwendung und eine differenzierte Betrachtung relevant. Wissenschaftssprache wird zum einen synonym mit wissenschaftlicher Fachsprache als »Fachsprache einer bestimmten Disziplin« (Niederhauser 1999: 31) verwendet oder 8 | Die Wissenschaftlichkeit eines Textes ergibt sich aber nicht nur aus sprachlichen Merkmalen. Relevant sind darüber hinaus »Fragen der Adressierung« und des »Zwecks«. Ein wissenschaftlicher Text ist an Personen adressiert, die im jeweiligen Fach »forschend, lehrend oder auch lernend tätig sind« und »sein Zweck […] besteht darin, neues Wissen zur Verfügung zu stellen« (Graefen 2008: 3). In diesem Beitrag sollen aber nur die sprachlichen Merkmale berücksichtigt werden.
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aber in einem allgemeinen Sinn als »übergreifende Bezeichnung für die allen oder vielen wissenschaftlichen Fachsprachen gemeinsamen sprachlichen Eigenschaften und kommunikativen Bedingungen« (ebd.). Während also Wissenschaftssprache dazu dient, allgemeine, nicht in erster Linie disziplinspezifische Gesichtspunkte fachlicher Kommunikation im wissenschaftlichen Kontext zu benennen, ist wissenschaftliche Fachsprache die Fachsprache einer bestimmten wissenschaftlichen Disziplin (vgl. ebd.: 33). Diese Form der Wissenschaftssprache wird auch als Alltägliche Wissenschaftssprache bezeichnet und ist nach Ehlich (1995: 347) eine Substruktur der Sprache sowie »ein ausgearbeitetes Präsuppositionensystem für die Kommunikation in allen wissenschaftlichen Zusammenhängen […]«. Sie besteht aus einer großen Menge logisch-methodologischer Elemente, »einerseits Lexeme mit grundlegender Bedeutung […], andererseits und z.T. um diese Lexeme herum organisiert allerhand Wendungen, oft Verb-Nomen-Gefüge mit halbidiomatischem Charakter« (Graefen 2008: 8). In ihrem Artikel Probleme mit der Alltäglichen Wissenschaftssprache in Hausarbeiten ausländischer StudentInnen schildert Gabriele Graefen die Schwierigkeiten beim Verfassen wissenschaftlicher Texte, die sowohl von deutschen als auch »ausländischen«9 Studierenden oft beschrieben werden. Als besonders problematisch wird angeführt, dass die Schwierigkeiten zu Ängsten, Selbstzweifeln bis hin zum Studienabbruch führen (vgl. ebd.: 1). Im Unterschied zu Graefen wird in vorliegendem Beitrag der Fokus nicht auf die Schwierigkeiten, die Studierende mit der Wissenschaftssprache Deutsch haben, gerichtet (vgl. ebd.), es wird vielmehr aufgezeigt, dass normativ-korrektes Deutsch und das Deutsche als Wissenschaftssprache auch in Masterstudiengängen als Herrschaftsinstrument in Erscheinung treten, mit dem Unterscheidungen zum Nachteil bestimmter Studierender legitimiert werden. Bereits bei der Aneignung der schulischen Bildungssprache müssen SchülerInnen – je nach Distanz zu dieser Varietät – unterschiedlich große Hürden überwinden (vgl. Dirim 2013: 201). So kann es etwa zu Benachteiligungen kommen, weil zu Hause ein Dialekt gesprochen wird »oder Vorformen der Literalität aufgrund sogenannter Bildungsferne nicht in von der Schule erwarteter Weise ›geübt‹ werden« (ebd.: 202). Die Aneignung der Bildungssprache 9 | Das Wort ausländisch ist mit » « gekennzeichnet, um seine Verwendung, die an Argumentationsfiguren des othering (Said 1978) anschließt, kritisch zu markieren.
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ist ein Prozess, der die gesamte Schullauf bahn umfasst, allerdings – und darauf kommt es mir vor allem an – von Studierenden auch im Studium fortgesetzt wird (vgl. ebd.), weil die Regeln des wissenschaftlichen Schreibens und Kommunizierens nicht nur an die schulischen Sprachverwendungsmuster anknüpfen, »sich jedoch im Sinne weiterer Spezifizierung von ihnen abheben« (ebd.). Laut İnci Dirim führt die vorliegende Dissonanz, die zwischen den sprachlichen Ressourcen von mehrsprachig aufgewachsenen Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund und den Erwartungen der Schule besteht, zu Schwierigkeiten, die im Bereich der Hochschule ihre Fortsetzung finden (vgl. ebd.: 204). Die »wissenschaftliche Varietät der legitimen Sprache« (ebd.; vgl. auch Mecheril/ Quehl 2006: 364f.) stellt für diejenigen Studierenden, deren Distanz zu dieser Varietät groß ist, eine besondere Hürde dar. Diese Benachteiligung gilt gleichermaßen für alle Studierenden, welche die von der Universität gestellten sprachlichen Erwartungen nicht erfüllen, also für sogenannte »BildungsinländerInnen« genauso wie für »BildungsausländerInnen«. Nachfolgend möchte ich das Herrschaftsinstrument Wissenschaftssprache und normativ-korrektes Deutsch als Bestandteil dieser Varietät aus subjektivierungstheoretischer Sicht analysieren.
S ubjek tpositionierung und B ildung Nachdem oben bereits auf die Frage geantwortet wurde, entlang welcher sprachlicher Differenzlinien Ungleichstellungen zwischen Studierenden getroffen werden, sollen nun deren problematische Effekte – die, so meine These, selbst in Masterstudiengängen relevant sind – und die daraus resultierenden Subjektpositionierungsoptionen und Subjektpositionen in Anlehnung an Stuart Halls Subjektkonzeption (vgl. Hall 1997) analysiert werden. Einer dieser Effekte ist der aus zeitökonomischen und pragmatischen Gründen stattfindende »Selektionsmechanismus«, der bereits bei der Gruppenfindung zu gemeinschaftlichen schriftlichen Arbeiten stattfindet (s. Problemaufriss). Dem liegt die implizite Annahme der Studierenden zugrunde, dass ein Text in einer bestimmten Gruppenkonstellation schneller verfasst werden kann und ein normativ-korrekter Text, der den wissenschaftlichen Ansprüchen der Universität genügt, darüber hinaus nur einer geringen Überarbeitung bedarf. Gerade weil viele Studierende
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neben dem ohnehin zeitintensiven Studium arbeiten, spielen zeitökonomische und finanzielle Gesichtspunkte im Studium eine große Rolle.10 Radostin Kaloianov sieht – aus dem Blickwinkel der Exzellenzkritik – prüfende AkteurInnen und Instanzen als »in Bezug auf machtpolitische, ökonomische, kulturelle Ressourcen, soziale Kompetenzen, Status und symbolisches ›Kapital‹ überlegen« (Kaloianov 2013: 119). Deren Rolle ist in einer Art und Weise »überlegen, unparteiisch und distanziert […], wie es nur Eliten sein können und müssen, die ihre Lebenslage, Anliegen und Aussichten als Norm und Normalität ausgeben und durchsetzen wollen« (ebd.). Prüfende, also DozentInnen, sind demnach Studierenden gegenüber superior positioniert. Mithilfe einer subjekttheoretischen Analyse soll nun untersucht werden, ob Studierende entlang der (migrations-)gesellschaftlichen Differenzlinien hierarchisierend adressiert werden (vgl. Dirim et al. 2013). In The Subject and Power unterscheidet Michel Foucault folgende zwei Bedeutungen des Begriffs Subjekt: jenes, das der Herrschaft eines anderen unterworfen ist einerseits, und eines, das »durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis an seine eigene Identität gebunden ist« andererseits (Foucault 1982: 275). Dirim und Knappik machen Foucaults Perspektive nutzbar für die Anwendung im migrationsgesellschaftlichen Sprachgebrauch und fokussieren diese Analyse auf eine machtvolle Unterscheidungspraxis von superioren und inferioren Subjektpositionen (vgl. Dirim/Knappik 2014). Dieser Zugang ist zentral für meine Fragestellung, ob Studierende im universitären Kontext über sprachliche Unterscheidungsmerkmale inferiore Subjektpositionen zugeordnet werden. So ordnen Prüfende, die sich in einer machtvolleren Position befinden, Studierenden inferiore gesellschaftliche Positionen zu. Allerdings trifft diese Subjektpositionierung die Studierenden in unterschiedlichem Ausmaß. Den Studierenden werden entlang ihrer sprachlichen Kompetenzen unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten zugeschrieben. Laut Kaloianov (2013: 119) ist die Situierung von MigrantInnen als Geprüfte in verschiedenen Prüfungsverhältnissen und Praktiken wesentlich an deren Unterlegenheit beteiligt. In meinem geschilderten Beispiel ist die Situierung von Studie-
10 | Auf mögliche negative Auswirkungen bzgl. der Stellensuche soll hier nicht näher eingegangen werden.
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renden als Geprüfte11, welche die »wissenschaftliche Varietät der legitimen Sprache« (Mecheril/Quehl 2006: 364f.) in als unzureichend empfundenem Maße beherrschen, entscheidend für die Herstellung einer Unterlegenheit. Meine These lautet, dass diese Positionierung der Majoritätsstudierenden stattfindet, um ein Nationalstaatliches Wir (vgl. Mecheril et al. 2010) an der bzw. über die Universität abzusichern. Wie in den Beispielen der Gruppenfindung und der Schilderung der »kooperativen« Arbeitsprozesse deutlich wird, tritt Deutsch im Rahmen des Studiums als sprachliches Angebot zur Unterwerfung anderer in Erscheinung. Majoritätsstudierende »lernen« an der Universität, wie sie ihre Dominanz zum eigenen Vorteil einsetzen können und tragen so selbst zur Absicherung des Nationalstaatlichen Wir bei. Einerseits, weil über die Reproduktion des Herrschaftsinstrumentes Wissenschaftssprache Deutsch das monolingual deutschsprachige Studienangebot gestärkt und somit an eine monolithische Einheit von Sprache, Kultur und Nation angeschlossen (vgl. Gogolin 1994) wird und andererseits, weil über diese Absicherung auch »andere Studierende« ›hergestellt‹ werden. So entsteht eine Dichotomie aus Majoritäts- und Minoritätsstudierenden, die entlang sprachlicher Unterscheidungsmerkmale konstruiert wird. Majoritätsstudierende erhalten ein Subjektpositionierungsangebot, das sie in eine Herrschaftsposition versetzt, in der sie sich als handlungsfähiges bzw. handlungsfähigeres Subjekt erfahren, und entwickeln folglich Techniken (wie etwa die Gruppenbildungsphase oder das Korrigieren von gemeinschaftlichen Texten12), mit denen andere Studierende – all jene, die die Wissenschaftssprache Deutsch vor Probleme stellt – in inferiore Positionen gedrängt werden. Es bleibt die Frage, warum man als Studierende_r in die Position gerät, dieses Herrschaftsinstrument, das Unterscheidungen durch Sprache und Zugehörigkeit trifft, zu reproduzieren. Ausschlaggebend hierfür ist wohl sowohl die Tatsache, dass sich auch Majoritätsstudierende in einer inferioren Subjektposition gegenüber Lehrenden befinden und in ihrem Studienalltag und ihrem »Kampf« um Ressourcen und Partizipationsmöglichkeiten ferner einem gewissen Druck unterliegen, der egoistische Verhaltensmuster nahelegt. Vor allem aber dürfte vielen Studierenden ihre superiore Position und ihre Dominanz 11 | Es handelt sich in diesem Zusammenhang nicht nur um die schriftsprachliche, sondern in ähnlicher Weise auch um die mündliche Form der Wissenschaftssprache. 12 | Diese Korrektur erfordert auch eine weitere Lesart. Siehe unter: Solidarität.
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gegenüber KommilitonInnen nicht bewusst sein, gerade weil es für diese Problematik innerhalb des Studiums keinen Raum für kritische Rückmeldungen und Thematisierungsmöglichkeiten gibt. Ferner ist der Umstand, dass dieses Strukturmuster auch dann wirkmächtig bleibt, wenn man sich dieser Problematik bewusst ist, besonders problematisch. Nachfolgend soll nun geprüft werden, inwiefern Solidarität ein mögliches Mittel der Abwehr dieses Herrschaftsinstrumentes sein kann.
S olidarität Solidarität als «spezifischer Typ sozialer Regelung«, dessen Ursprung im 19. Jahrhundert liegt und welcher »in der heutigen Bedeutung des Wortes […] als Antwort auf die neuen Probleme der industriellen Gesellschaft entsteht« (Hondrich/Koch-Arzberger 1992: 10, zitiert nach Mecheril 2014: 80), ist zugleich eine Verbundenheit trotz und aufgrund von Differenz, »da Solidarität einen moralisch fundierten sozialen Akt bezeichnet, in dem die Beteiligten sich in unterschiedlichen Lagen der Not oder Bedrängnis befinden« (Mecheril 2014: 80). Solidarität ist ein »supererogatorisches Phänomen«, also etwas, das nicht eingefordert werden kann (ebd.). Solidarität wird in der Darstellung von Habermas als (1991: 70) eine »intersubjektiv geteilte Lebensform verschwisterter Genossen«, die auf das Wohl aller und damit die Erhaltung »der Integrität dieser Lebensform selbst abzielt, die wiederum als Grundlage der Autonomiefähigkeit der Einzelnen zu verstehen ist« gesehen (ebd., zitiert nach Stojanov 2014: 100). Dieser beengte Solidaritätsbegriff, der Solidarität auf eine Beziehungsform unter Vertrauten reduziert (vgl. Mecheril 2014: 82), scheint für die Wirklichkeit in modernen Gesellschaften ungeeignet. So fordert Paul Mecheril (ebd.) den Schritt von »Solidarität wegen und in Gleichheit« zur »Solidarität wegen und in Differenz«, die er aufgrund der Konstitution moderner Gesellschaften für wünschenswert erachtet (vgl. ebd.). Auch Stojanov gibt zu bedenken:
»Wenn man am Solidaritätsbegriff auch heute noch festhalten will, dann muss man zeigen können, wie Solidaritätsbeziehungen und solidarisches Handeln die Grenzen von partikularistischen kulturellen Gemeinschaften überschreiten können.« (Stojanov 2014: 100)
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Im Anschluss an diese Position wird nun analysiert, welche Formen von Solidarität unter Studierenden bezüglich der sprachlichen Unterscheidungspraktiken getroffen werden, und in welcher Weise und Form der Solidaritätsbegriff im universitären Alltag darüber hinaus denkbar wäre. Das mehrfach geschilderte Beispiel von Arbeiten, die in Gruppen verfasst werden, bedarf an dieser Stelle einer Erweiterung: Natürlich werden im Rahmen des Mastersstudiums DaF/DaZ durchaus auch heterogene Gruppen gebildet, deren Mitglieder die wissenschaftliche Varietät in unterschiedlicher Weise13 beherrschen. Die Überarbeitung der Texte erfolgt nach meiner Erfahrung zumeist schwerpunktmäßig von ein bis zwei Personen und nur manchmal von der gesamten Arbeitsgruppe. Das »Gegenlesen« erfolgt nicht nur aus egoistischen Motiven heraus, sondern ist vielmehr auch eine Geste der Solidarität. Trotz der unterschiedlichen Subjektpositionen von Studierenden ordnet Mecheril (2014: 82) diese Form als »Solidarität unter Gleichen«, bzw. »Vertrauten« ein. Krassimir Stojanov beschäftigt sich in seinem Beitrag Solidarität und Bildung mit der Frage, ob ein notwendiger Zusammenhang zwischen Solidarität und Bildungswesen existiere (Stojanov 2014: 95). Solidarisches Handeln entfalte sich zumeist in lokalen Gemeinschaften, deren Mitglieder eine starke Bindung aufweisen würden. Allerdings bestünde das stärkste Band nicht in deren gemeinsamem Status und gemeinsamen Tradition oder Riten, sondern vielmehr in der gemeinsamen Erfahrung von Ausgrenzung, Unterdrückung und generell des Leidens; Erfahrungen, deren Unterbrechung das Ziel des solidarischen Handelns sei (vgl. ebd.: 99). Meine These ist die, dass die leidvolle Erfahrung schlechter Bewertung und die Angst vor »Versagen« der Motor für das solidarische Handeln unter Studierenden sind. Problematisch an dieser Form der Solidarität ist der Umstand, dass sie abermals hierarchisiert und die ungleichen Subjektpositionen von Studierenden reproduziert und somit verstärkt. Abermals findet man sich als Majoritätsstudierende_r in einer Position, in der man – trotz guter Absicht – seine Dominanz einsetzt, wenn auch nicht, oder nicht nur, zum eigenen Vorteil. Man erfährt sich wiederum als handlungsfähig(er)es Subjekt. Studierende befinden sich also in einer ambivalenten Lage, weil sie einerseits eine Form der Unterstützung leisten, die hierarchisiert, sie aber anderseits diese Unterstützung den KollegInnen nicht vorenthalten können. Die 13 | Dies gilt für jede Gruppe, allerdings in Abstufungen. So unterscheidet sich der Aufwand der Überarbeitung eines Textes oft enorm.
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Universität gibt Verantwortung ab, indem sie erwartet, dass Studierende diesen Beitrag leisten. Die wichtige Frage, die an diesen Aspekt anschließt, ist die, wie man Solidarität (anders) gestalten könnte? Stojanov (2014: 100) fordert einen Solidaritätsbegriff, der zeigt, »wie Solidaritätsbeziehungen und solidarisches Handeln die Grenzen von partikularistischen kulturellen Gemeinschaften überschreiten können«. Denn: »[Ein] Verständnis von Solidarität als Inklusion von und Einstehen für alle Menschen als argumentationsfähige Wesen hat kaum zu überschätzenden Wert für bildungstheoretische und bildungspolitische Implikationen.« (Ebd.) Der notwendige Solidaritätsbegriff darf also keiner sein, der lediglich »als Beziehungsform zwischen GenossInnen ausgedeutet wird […]« (ebd.: 108), »vielmehr ist Solidarität als ein Verhältnis des aktiven, rechtlich nicht verbrieften Mit-Leidens mit unterdrückten Menschen zu verstehen, das jede kulturelle und sonstige Differenz zwischen den InteraktionspartnerInnen transzendiert« (ebd.). Solidarität darf in diesem Sinne keine Beziehungsform nur unter Studierenden sein, sondern DozentInnen und die Universität als Institution sollten sich aktiv an diesen Verhältnissen beteiligen. Konkrete Vorschläge dazu möchte ich im Folgenden bieten.
A usblick Abschließend möchte ich der Frage nachgehen, wie es gelingen kann, die Ungleichstellung unter Studierenden, die entlang sprachlicher Merkmale an der Universität erzeugt wird, zu reduzieren. Geeignet scheint etwa der Vorschlag von İnci Dirim, wonach das Hochschulwesen von den positiven Erfahrungen, »die im Hinblick auf den erfolgreichen Umgang mit sprachlich-kultureller Heterogenität an Schulen gemacht werden (vgl. Dirim/Mecheril 2010)« (Dirim 2014: 209) profitieren könnte. So könnten etwa Konzepte der durchgängigen Sprachbildung auch für die Hochschule adaptiert werden, oder die positiven Ergebnisse aus bilingualen (Grundschul-)Klassen könnten Berücksichtigung finden (vgl. Dirim et al. 2009). Weitere Möglichkeiten böte die Begleitung der Lehrveranstaltungen durch TutorInnen, in denen das wissenschaftssprachliche Register geübt werden kann. Es sollte Studierenden über die gesamte Studiendauer möglich sein, solche Angebote wahrzunehmen und darüber hinaus Strategien der prozessorientierten Schreibdidaktik und der Textüberarbeitung zu erlernen.
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Im Falle von in Migrationssprachen kundigen DozentInnen könnte Studierenden auch angeboten werden, schriftliche Arbeiten in Migrationssprachen zu verfassen. Dies wird beispielsweise an der Technischen Universität Dortmund erfolgreich praktiziert (Dirim 2014: 209). Auch die Universitäten Bremen und Bielefeld unterbreiten Angebote zur Verwendung von Polnisch und Türkisch als Wissenschaftssprachen an Studierende, die diese Sprachen in Deutschland lebensweltlich erworben haben (vgl. ebd.: 210). Studierenden mit Potenzialen in Migrationssprachen muss die Möglichkeit gegeben werden, dass sie diese »als Wissenschaftssprache im Sinne einer Bildungsmehrsprachigkeit ausbauen können« (ebd.: 211) und – wie ich ergänzen möchte – auch aktiv in die Hochschule einbringen können. Im Allgemein – und nicht nur für die Ungleichstellung entlang sprachlicher Differenzlinien – gilt, dass aktive Gestaltungsmöglichkeiten von Studierenden verbessert werden müssen. Ich schließe mich Claus Melter (2011: 139) an, der am Beispiel von Österreich die Sinnhaftigkeit einer Kooperation zwischen »Studienabteilung, Österreichischer HochschülerInnenschaft, der Kritischen Uni, sowie der Universitätsleitung« illustriert. Die Realisierung vergleichbarer Kooperation ist aber nicht nur für Österreich, sondern generell relevant. Neben der Sprachbegleitung für Studierende durch Studierende, müssen zur Reduzierung von Barrieren auch Qualifikationsinstrumente zur Sensibilisierung und Professionalisierung von DozentInnen installiert werden. Die Verantwortlichkeit darf nicht vorwiegend in den Händen der Studierenden liegen, sondern Strategien im Umgang mit verschiedenen Zugängen zu Deutsch als Wissenschaftssprache müssen zu einer Querschnittsaufgabe (an) der Universität werden.
F a zit Die im Beitrag angestellten Überlegungen verdeutlichen, dass im Masterstudiengang Deutsch als Fremd- und Zweitsprache entlang der Differenzlinien Deutsch als Wissenschaftssprache und normativ-korrektes Deutsch Ungleichstellungen zwischen Studierenden getroffen werden. Es wird aber davon ausgegangen, dass der analysierte Gegenstand auch für die tertiären Bildungssysteme anderer Nationalstaaten relevant ist. Anhand der Incidents Gruppenbildung, Textüberarbeitung und Bewertung wurde illustriert, dass die ›wissenschaftliche Varietät der legitimen Sprache‹
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(vgl. ebd. und Mecheril/Quehl 2006: 364f.) im Rahmen des Studiums als sprachliches Angebot zur Unterwerfung anderer in Erscheinung tritt. Majoritätsstudierende »lernen« an der Universität, wie sie ihre Dominanz zum eigenen Vorteil einsetzen können und tragen so selbst zur Absicherung des Nationalstaatlichen Wir bei. Die zentrale Frage, warum man als (Majoritäts-)Studierende_r in die Position gerät, dieses Herrschaftsinstrument, das Unterscheidungen durch Sprache und Zugehörigkeit trifft, zu reproduzieren, wurde (nur) teilweise beantwortet. Eine mögliche Antwort lautet, dass sich auch (Majoritäts-) Studierende in einer inferioren Subjektposition gegenüber Lehrenden befinden und in ihrem Studienalltag einen »Kampf« um Partizipationsmöglichkeiten bestreiten. An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass es mir ausdrücklich nicht darum geht, jemandem bewusstes dominantes und gewaltvolles Verhalten zu unterstellen, sondern vielmehr um die Analyse strukturell verankerter Ausgrenzungsmechanismen (vgl. Dirim 2013: 201). Obwohl die Solidarität unter Studierenden eine große Rolle spielt und als »Solidarität unter Gleichen bzw. »Vertrauten« auftritt (Mecheril, 2014: 82), bleibt die Problematik bestehen, dass sie Studierende in eine ambivalente Lage versetzt: Ihre Hilfe nämlich hierarchisiert und ist dennoch von existenzieller Wichtigkeit für den Studienerfolg vieler KollegInnen. Solidarität »besitzt kaum zu überschätzenden Wert für bildungstheoretische und bildungspolitische Implikationen« (Stojanov 2014: 102), allerdings nur solange der notwendige Solidaritätsbegriff keiner ist, der lediglich »als Beziehungsform zwischen GenossInnen ausgedeutet wird […],vielmehr ist Solidarität als ein Verhältnis des aktiven, rechtlich nicht verbrieften Mit-Leidens mit unterdrückten Menschen zu verstehen, das jede kulturelle und sonstige Differenz zwischen den InteraktionspartnerInnen transzendiert« (ebd.: 108). Es wird eine Einladung an die LeserInnen ausgesprochen, »dieses aktive Verhältnis des nicht verbrieften Mit-Leidens« aktiv mitzugestalten und zu überlegen, wie man in diesem Sinne Solidarität gestalten könnte.
L iter atur Curriculum für das Masterstudium Deutsch als Fremd- und Zweitsprache, Stand Juli 2013. Online: http://dafdaz.univie.ac.at/fileadmin/ user_upload/lehrstuhl_daf/MA_DeutschalsFremdsprache_Juli2013. pdf, abgerufen am 22.08.2014.
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»Anstatt unsere Bemühungen zu zertrampeln, wäre es gut sie manchmal zu bewundern.« MigrantInnen zwischen bundesdeutscher Sprachkritik und sprachlicher Selbstbehauptung Hans-Joachim Bopst
I. Wie gehen wir mit Fehlern um? Den eigenen und denen der Anderen? Den Normverstößen und Regelverletzungen, im Beruflichen wie im Privaten? Geißeln und strafen wir dafür? Oder bemühen wir uns einzeln und in der Gruppe darum, Verstehen und Verständnis aufzubringen? Wollen wir verstehen, was Fehler auslöst? Vielleicht auch verstehen, warum etwas als »Fehler« ausgegeben wird und wer wie die Fehlerhaftigkeit definiert? Bewahren wir uns einen Blick und tragen wir Verantwortung für die Sanktionen, die in Gang gebracht werden, wenn irgendwo »Falsch! « ausgerufen wird: Geringschätzung, Herabsetzung, Verächtlichmachung, Ausschluss? Sind wir bereit, uns auf Überlegungen einzulassen, die »Fehler« »erklären« und »rechtfertigen«? Mein Artikel wird gleichermaßen die Kritik an Sprache wie die Verwendung von Sprachkritik beleuchten. Mit ersterem ist hier die laienlinguistische Hingabe an die »Fehler«suche gemeint. Die dabei »enthüllten« Ungeschicklichkeiten, Versehen, Missverständlichkeiten, Zweideutigkeiten mag man belächeln. Beispiele dafür finden sich etwa bei Bastian Sick:
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• (Ansage im Zug): Soeben ist unsere ofenfrische Brezelverkäuferin zugestiegen; • (Plakate): Armins’s Bauernshof und Los gehts’s immer mittwoch’s; (Media-Markt): Lexica’s; (ein Radiohörer): »Rös’chenhof – da ist zwischen dem s und dem c ein kleines Semikolon oben«; • (Zeitungsanzeige): Lehrer-Fortbildung zu Neonazis; • (Berliner Taxifahrer): »Ick kann Ihnen nach dem Schiller-Theater fahren – ins Theater müssen Se schon selber lofen«; • (eine Nachbarin von Sick): »Wer so redet, der findet doch nie im Leben eine Arbeit – nicht mal als Packer im ALDI« u.a.m. (Sick 2006: Minute 12:10, 18:36 23:25, 32:20, 38:42, 40:33; 42:52, 45:01). Aber: Wer auch immer vorgibt, uns »Sprachdummheiten« (Gustav Wustmann) auszutreiben – in Sprachglossen, Stil-Ratgebern, Nachschlagewerken für »Richtiges und gutes Deutsch« (Duden), »Wegweisern durch den Irrgarten der deutschen Sprache« (Bastian Sick) usw. – sollte sich fragen lassen, auf welcher Grundlage und mit welchen Folgen Urteile über »Fehler« gefällt werden. Dabei zeigt sich einerseits, dass oft nur Einzelfälle herausgegriffen werden, ohne Einsicht in größere Zusammenhänge des umgebenden Sprachsystems und in sprachgeschichtliche Entwicklungen. Gleichzeitig wird mit der sprachlichen Maßregelung eine Einstellung gegenüber den vermeintlichen »Verstößen« aufgebaut und oft über Generationen im Umlauf gehalten, die Sprache zu »sozialdefensiven Maßnahmen«, zur »sozialen Distinktion« und zur sozialen Abgrenzung gegenüber »FalschsprecherInnen« nutzt (Dieckmann/Wehler, zitiert nach Polenz 1999: 298f.). Dabei könnte man »mehr daraus machen«: man kann diese »Fehler«Belege erklären, sie »sinnvoll machen«, wenn man in das sprachliche Umfeld, in historische Entwicklungen und in die Umstände der Verwendung eindringt. Viele der scheinbar fehlerhaften Belege erscheinen dann kaum noch als Fehler von SprecherInnen, eher als Unsicherheitsstellen des Systems ›Sprache‹. Bleibt jedoch die vertiefende Analyse aus – wie es in der populären Sprachkritik à la Sick geschieht –, dann wird »billigend in Kauf genommen«, dass »FalschsprecherInnen« ausgelacht und herabgesetzt werden. Sprache wird als Mauer, nicht als Brücke errichtet. Sprachkritik wird zu einem gesellschaftlichen Problemfeld; sie ist nicht länger nur Kritik an der Sprache, sondern wird »sozial lesbar« (vgl. Eichinger 2013: X).
Sprachkritik und sprachlicher Selbstbehauptung
Meine Darstellung wird einige Beispiele des zum »Sprachretter« und »Sprachwächter« gekürten Bastian Sick aufgreifen und deren »sprachkritisches Potenzial« aufzeigen: aufzeigen, inwiefern seine Darstellung an der Oberfläche bleibt bzw. wie sich, in einem größeren sprachsystematischen Zusammenhang, ergänzende oder andere Einsichten ergeben (vgl. Schiewe/Wengeler 2010: 101; Schneider 2010: 115). Gleichzeitig richte ich meine Aufmerksamkeit darauf, was hinter der Sprachkritik von Sick und seiner Zuhörerschaft »steckt«: In welchem Klima und zu welchem Zweck wird Sprachkritik letztlich geübt, von und an denen, die an der deutschen Sprache teilhaben, die sog. Einheimischen und die sog. Zugewanderten? Stimmung und Haltung dieser Sprachkritik bzw. ihrer TrägerInnen dürften auch in den Umgang mit den Sprachfehlern von MigrantInnen einfließen – einige Male holt Sick dort auch schon »Beweismaterial« für Sprachkritisches ein, wenn er z.B. in seiner Show anführt: »Dass Ausländer sich […] mit deutschen Präpositionen besonders schwer tun, ist nur allzu verständlich. Die junge Generation deutscher Türken oder türkischer Deutscher hat in ihrem hinreißenden Jargon das Problem auf klare Weise gelöst. Vor Aldi, Lidl und anderen Geschäften steht überhaupt keine Präposition mehr. Der Streit über zu oder nach ist hinfällig. ›He, musste noch Lidl? – Ne, war schon Aldi‹.« (Sick 2006: Minute 31:41ff.)
Wie erleben MigrantInnen diese sprachkritische Umgebung? Dies soll über die Ergebnisse jüngster Untersuchungen, eine eigene Befragung unter Studierenden und über ein literarisches Dokument in Ansätzen dokumentiert werden.
II. Prominenter Vertreter des »Gesellschaftsspiels« ›öffentliche Sprachkritik‹ ist Bastian Sick, der erst Sprachglossen im Spiegel verfasste (»Zwiebelfisch«), sie später in Buchform herausbrachte (»Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod«, Teil I bis IV, 2004ff.; »Nur aus Jux und Tolleranz«, 2011) und seit 2010 mit seinen Sprachbeobachtungen auch auf Tournee geht. Weitere Erfolgsdaten laut verschiedener Veranstalter: »Fast zehn Jahre ist es her, dass seine erste »Zwiebelfisch«-Kolumne erschien und damit einen un-
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geahnten Kult um die deutsche Sprache auslöste. Sick hat mit seinen Büchern, Quizspielen und Bühnenshows einem Millionenpublikum gezeigt, dass Rechtschreibung und Grammatik Spaß machen können.« (www.adticket.de/Bastian-Sick.html, abgerufen am 20. Feb. 2014) Und: »2006 hielt Bastian Sick in der Kölnarena vor 15.000 Zuschauern die größte Deutschstunde der Welt ab – heute werden seine Bücher regelmäßig im offiziellen Schulunterricht eingesetzt. Das Buch »Der Dativ ist dem Genetiv [sic!] sein Tod« zog weite Kreise und wurde über 3.000.000 Mal verkauft, außerdem diente es als Vorlage für Computerspiele etc.« (www.giga-music.de/bastian-sick-tickets-live-tour-zwiebelfisch/, abgerufen am 20. Feb. 2014). Dem Fernseh-Mitschnitt eines Live-Auftritts von Bastian Sick ist ein Trailer vorangestellt, in dem eine Freundin Sicks im Kostüm einer Stewardess folgende Kabinenansage macht: »Guten Abend, meine Damen und Herren, ich begrüße Sie ganz herzlich an Bord der Boeing 707 Konrad Duden auf dem Rückflug von Syntax nach Deutschland. Wir haben das Hoheitsgebiet der deutschen Hochsprache bereits vor geraumer Zeit verlassen und befinden uns gerade im Sinkflug. Soeben überfliegen wir die Ruinen von Konjunktiv und Genitiv. Bevor wir zur Landung ansetzen, möchten wir Sie darauf hinweisen, dass sowohl die Benutzung des Handys wie auch die Benutzung von dem Handy und – sowie Mitpartner anwesend sind – auch die Benutzung von dem seinem Handy nicht gerne gesehen wird. – Begrüßen Sie bitte: Bastian Sick!« (Sick 2006: Minute 0:06)
Erste Aufmerksamkeit schenke ich der Formulierung, wonach bestimmte Varianten des Genitivs »nicht gerne gesehen [werden]«. Von wem das »nicht gerne gesehen wird«, bleibt ungewiss. Gemeint sein könnten: Bastian Sick oder die Zunft der GrammatikerInnen oder die SprecherInnen des Deutschen. Mit der Anonymität dieser Instanz verbindet sich die Vorstellung ihrer Unanfechtbarkeit; doch als ihr hoffentlich wohlwollender Abgesandter und Missionswilliger steigt ja Sick zu den Fehlerbehafteten herab (»Sinkflug«). Im weiteren Verlauf seines Auftritts – nachdem er eine Reihe von Fehlern hat Revue passieren lassen (siehe oben) – lädt Sick sein Publikum zu einem Sprach-Quiz ein, bei dem die Anwesenden durch Handaufheben zu erkennen geben sollen, welche von zwei Ausdrucksweisen »richtig sei – Sie werden sehen, das ist im Grunde eigentlich ganz leicht.« (Ebd.: Minute 48:32).
Sprachkritik und sprachlicher Selbstbehauptung
Die erste Frage lautet: »Winke Winke machen ist leicht. Aber im Perfekt wird’s schon schwieriger! Wie heißt es im Standard korrekt: a) Ich habe gewinkt, b) Ich habe gewunken?« Für beide Antworten finden sich in Sicks Publikum »viele« BefürworterInnen. Sick stellt fest: »Ein sehr ausgewogenes Ergebnis« (ebd.: Minute 49:45) und fährt fort: »Nicht nur hier in Stuttgart streitet man darüber, was vielleicht richtig sei, nein, in der gesamten deutschen Republik. Und es kann natürlich nur eine Antwort richtig sein, wenn man nach dem Standard fragt und die heißt: a) Ich habe gewinkt.« (Lachen und Beifall im Publikum). Sicks Erklärung hört sich folgendermaßen an: »Gewunken hört man gleichwohl in Analogie zu anderen Verben wie sinken […] stinken. Winken aber ist kein unregelmäßiges Verb, sondern ein regelmäßiges, das in allen Zeiten seinen Klang behält. Oder würden Sie in der Vergangenheit sagen: Ich wank ihm zum Abschied nach? Nein, winken ist regelmäßig, genauso wie hinken oder würden Sie sagen: Er ist naHause gehunken?« (Ebd.: Minute 50:20-51:05) Eine sprachwissenschaftlich fundiertere Argumentation würde folgende Fakten und Überlegungen anführen: • Die Gruppe der Verben auf -inken umfasst nur wenige Verben. Zwar sind darunter die regelmäßigen Verben knapp in der Überzahl, doch sind die unregelmäßigen Verben gebrauchshäufiger, was zu Analogiebildungen führen mag. Tabelle 1: Verben auf -inken regelmäßige Verben auf -inken
Unregelmäßige Verben auf -inken
hinken, (ein-, aus-)klinken, schmin-
(ein-, ver-)sinken, stinken, (be-, er-,
ken, (ab-, zu-)winken, zinken
ver-)trinken
Quelle: Rückläufige Wörterbücher der deutschen Sprache
• die Duden-Grammatik von 1995 merkt zu gewunken an, dass diese Form heute »über das Mundartliche hinaus vor[dringt]« und führt dazu drei Belege an, darunter aus ›Spiegel‹ und ›Neue Zürcher Zeitung‹ (Duden-Redaktion 1995: 142. In späteren Auflagen der DudenGrammatik, z.B. 2005: 502, wird unkommentiert angeführt: gewinkt [gewunken]).
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Wenn viele SprecherInnen zur Form gewunken neigen, dann ist dies aber auch der Angst zuzuschreiben, mit einer regelmäßigen Verbform möglicherweise »falsch« zu liegen. Bevor man einen solch prestigeabträglichen »Fehler« begeht, flüchtet man sich sicherheitshalber lieber in die hyperkorrekte unregelmäßige Form (vgl. hierzu auch andere hyperkorrekte Formen wie »Er hing seine Jacke auf« oder »Was würde passieren, wenn Deutschland, als einziges Land, die Aktien-Börse abschüfe?« (www.cosmiq.de/qa/show/668729/Heisst-es-er-hing-er-hang-oder-er-haengte-seine-Jacke-auf/, abgerufen am 21.02.2014) Auch zum Apostroph mit nachfolgendem -s am Wortende (Los gehts’s immer mittwoch’s) ist mehr zu sagen als ihn nur im Sick’schen Schnellverfahren als »Deppen-Apostroph« abzuurteilen. Claudius Seidl, Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, spricht an, wie Sick hier auch über jene türkischen, italienischen und anderen ausländischen ArbeitnehmerInnen in Deutschland »herzieht«, denen unter ihren Lebensumständen und in ihrer Erwerbssituation kaum Gelegenheit gegeben war, sich mit deutscher Grammatik zu befassen: »Bastian Sick hält sich mit Ratschlägen und Hinweisen sehr zurück, und eine Leidenschaft für Rhythmus und Klang der Sprache, eine Begeisterung für gelungene Sätze sind nirgendwo zu finden. Was nicht einfach ein Mangel ist; es hat Methode: Sick blickt nicht hinauf, er schaut herab – und denen, die er angreift, verbessert, kritisiert, möchte man immer wieder zur Seite springen. Was hat denn so ein armer Dönerbudenbetreiber, der seine Speisekarte mit allzu vielen Apostrophen schmückt, eigentlich getan, daß Sick ihn dem Spott seines Publikums aussetzt? Soll der Arme sich aufhängen an dem blöden Sprachhäkchen?« (Seidl 2006: 4)
Was hier über MigrantInnen gesagt wird – sie seien (sprachlich) bedürftig und unfähig –, sollte man nicht hinnehmen; doch was über die Haltung von Sick gesagt wird, ist wohl zutreffend. Zum Stichpunkt ›Apostroph‹ lässt sich aus sprachwissenschaftlicher Sicht noch Folgendes hinzufügen: • Wie andere Ein-Buchstaben-Flexive, die für grammatische Aufgaben verwendet werden (-n, -e, -m usw.), ist das -s stark ausgelastet, wenn nicht sogar überlastet: als Genitiv-s, als Fugen-s, als Plural-Marker und zur Anzeige eines kontrahierten Artikels bzw. Pronomens, siehe Sicks
Sprachkritik und sprachlicher Selbstbehauptung
Belege: Armins’s Bauernshof und Lexica’s; und das Schild auf Bahnhöfen: Keine Kippen in’s Gleis werfen. • Der Apostroph hat sich sprachgeschichtlich vom Auslassungszeichen zum Grenzzeichen entwickelt. Während er früh genutzt wurde, nicht-artikulierte Laute anzuzeigen (›phonografischer Apostroph‹), markierte und schützte er bald auch morphologische Grenzen bzw. die Stammformen von Morphemen (›morphografischer Apostroph‹). Er diente der »Gestaltschonung« bzw. »Konstanthaltung markierter Wortkörper« und war damit der »Identifizierung der Morpheme durch den Lesenden« förderlich (vgl. Nübling 2014: 99 und 103f). Verschmilzt das -s hingegen ohne Apostroph mit dem Wortkörper, dann wird das ›Morphemkonstanzprinzip‹ durchbrochen, was als Verdunkelung der grammatischen Funktion des -s empfunden werden mag. • Gegenüber einer »Literatursprache mit vollen Formen« vertrat der Apostroph schon früh gesprochensprachliche Ausdrucksweisen. Er »erlaubte sozusagen nicht standardkonformen Wörtern den Zutritt in die Schriftsprache und markierte sie gleichzeitig als nicht befugt«. Mit der zunehmenden Reglementierung der Schriftsprache im 18. Jahrhundert wurde der Apostroph eben dort stigmatisiert (ebd.: 103). Doch war ihm zu diesem Zeitpunkt schon ein »entscheidender Funktionszuwachs« zugefallen: als sogenannter Genitiv-Apostroph bei Eigennamen (Amalia’s) und schließlich um die Wende zum 19. Jahrhundert auch als Plural-Apostroph (zwei Sopha’s). In beiden Verwendungen wird der Apostroph »mehrheitlich von den zeitgenössischen Grammatikern abgelehnt, […] wiewohl es durchaus einige gibt, die seinen leserseitigen Nutzen erkennen« (ebd.) und Schreibungen wie Ein Gedicht Goethe’s und Ein Goethe’sches Gedicht fordern. Auf jeden Fall handelt es sich dabei nicht um Gebrauchsweisen, die erst zu Zeiten Bastian Sicks aufgetreten wären. Das Aufkommen des Genitiv-s mit Apostroph könnte dadurch erklärt werden, dass in Gedichten die lange Genitiv-Endung -es (Gottes Wahrheit) nicht ins Versmaß passte und deswegen regelgemäß in die Apostroph-Schreibung überführt wurde (Gott’s Wahrheit) (W.P. Klein, zitiert nach Nübling 2014: 106).
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III. Kehren wir zurück zu Bastian Sick. Der Grammatik-Entertainer ist nicht unangefochten, bei SprachwissenschaftlerInnen sowieso nicht, aber auch in Printmedien erhält er Kritik; zuweilen werden seine »Shows« Gegenstand beißender Satire. So ›berichtet‹ die Zeitung Die Welt von einem (fiktiven) Auftritt Bastian Sicks im Berliner Schillertheater, bei dem Sick mit Buhrufen verabschiedet wird (Neft 2008: 1). Von Interesse sind im Folgenden die Topoi und Strategien, die in der Satire eingesetzt werden, um den Kritiker zu kritisieren: – ein satirischer Spiegel der Mittel, derer sich Sick bedient. Einige Elemente der Satire seien herausgegriffen: »Sick wirkt unruhig: ›Ich bräuchte eine Pause.‹ ›Brauchte!‹ brüllen mehrere der Anwesenden erregt. […] ›Ich kritisiere ja nicht Sprache an sich‹, stammelt Sick, ›sondern falsche Sprache. Nein, halt, falsches Sprechen. Nein, auch nicht. Bin ja kein Logopäde. Also dann: das Verwenden falscher Ausdrücke. Also eine Kritik des falschen Deutsch.‹ ›Deutsches!‹ rufen zahlreiche Stimmen gleichzeitig. ›Ach, verdammt‹, sagt ein schwitzender Sick. ›Ich kritisiere doch gar nichts. Ich gebe nur die zahllosen Einsendungen von Lehrern aus ganz Deutschland wieder.‹ ›Andere machen die Arbeit, und der kassiert‹, empört sich eine junge Dame. ›Ich bin eher Sprachwahrer‹, versucht Sick seine Haltung zu erklären. ›Wobei: Das ist ja auch Quatsch. Vergessen Sie das einfach. Sprache ist ja auch nicht so furchtbar wichtig.‹ Wieder schaltet sich der Herr aus der ersten Reihe ein: ›Wie bitte? Die Sprache ist das Haus des Seins, darin wohnend der Mensch eksistiert [sic!], indem er der Wahrheit des Seins, sie hütend, gehört.‹ Zum ersten Mal am Abend ertönt lang anhaltender Beifall. Als Sick hingegen etwas sagen will, prasseln Beschimpfungen auf den nun völlig Hilflosen nieder: ›Unterschichtler!‹ hallt es aus der einen Ecke, ›Romanist!‹ aus der anderen. ›Türke, der wo noch dööfer ist als wie wir!‹ schallt es von rechts außen. Unter Buhrufen verlässt Sick den Saal.« (Ebd.)
Das Publikum macht die Angelegenheit Grammatik zu seiner Sache und übernimmt die »Deutungshoheit«. Bastian Sicks Kompetenz wird mehr als in Zweifel gezogen; die an ihn gerichteten Beschimpfungen kommen einem Sturz des Sprachpapstes gleich. »Die Sprache zu seiner Sache zu machen« bedeutet – schon seit dem 19. Jahrhundert –, dass Teile des Bürgertums aus ihrer (vermeintlich) größeren Zuständigkeit
Sprachkritik und sprachlicher Selbstbehauptung
in sprachlichen Fragen auch ein Bewusstsein »höherer Bildung« und einer gesellschaftlichen Sonderstellung ableiten (Polenz 1999: 298). So heißt es auch in dem oben zitierten Artikel von C. Seidl: »Sicks Publikum scheint weniger aus jenen Leuten zu bestehen, die vor ihren Reisen die ›Visas‹ beantragen und ›leckere Pizza’s‹ auf die Tafeln ihrer Imbißbuden schreiben. Vielmehr scheinen es die zu sein, denen der Unterschied zwischen dem Dativ und dem Genitiv bekannt ist, normal gebildete Mittelschichtsbewohner, denen Sicks dumme Späße die angenehme Gewißheit verschaffen, daß es zu denen da unten noch ein ganzes Stück Wegs weit ist. Und so gehört wohl auch Bastian Sick zu jenem Phänomen, welches als sogenannte neue Bürgerlichkeit auch weiterhin durchs soziale Leben geistert: Angewidert vom Trash und zugleich verunsichert von der eigenen Abstiegsangst, sind wir anscheinend jedem dankbar, der uns versichert, daß, wo wir sind, noch nicht ganz unten ist. Sondern oben. Oder zumindest die Mitte. Das ist ein verständlicher Impuls. Aber besonders sympathisch ist es nicht.« (Ebd.)
Markiert wird diese bildungselitäre Einstellung durch das HeideggerZitat und das barsche Postulieren eines einzigen richtigen »Deutsch(es)«. Wie bei Sick selbst wird an überkommenen Befunden und Regeln festgehalten; eine emanzipatorische Anerkennung von Sprachvarietäten »kommt nicht infrage«. Das zeigt u.a. die vom Publikum eingeforderte Form brauchte gegenüber bräuchte. Hierzu die Klarstellung der DudenGrammatik: »Das schwache Verb brauchen gehört als infinitregierendes Verb seiner Bedeutung nach zum System der Modalverben und hat sich auch teilweise deren Konjugationsmuster angepasst. Im Konjunktiv II wird der Stammvokal heute oft – in der gesprochenen Sprache sogar regelmäßig – umgelautet (bräuchte statt brauchte).« (Duden-Redaktion 2005: 465)
IV. ZuwandererInnen nach Deutschland mögen noch bis in die 1980er Jahre des letzten Jahrhunderts soziolinguistisch relativ leicht zu kategorisieren gewesen sein – als Gastarbeiter aus dem Mittelmeerraum, als ihre Angehörigen aus der Familienzusammenführung, als ihre in Deutsch-
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land aufgewachsenen Nachkommen zweiter und dritter Generation. Spätestens mit dem Fall der Berliner Mauer trafen MigrantInnen auf eine demografische und sprachlich-kommunikative Situation und prägten sie mit, die sich mit dem Begriff »Superdiversität« (Vertovec 2006, zitiert nach Deppermann 2013: 1) kennzeichnen lässt. Darunter ist zu verstehen, dass sowohl die Herkunft der Zuwanderer, ihr sprachlicher und kultureller Werdegang und Habitus, ihr »Lebensplan für Deutschland« als auch die Pluralität der aufnehmenden Gesellschaft ein Spiegel hochdifferenzierter, globalisierter Entwicklungen geworden sind. Da ist der türkischstämmige Bundestagsabgeordnete dritter Generation (= Cem Özdemir, bundesdeutscher Grünenvorsitzender) wie auch die Gruppe russischer AussiedlerInnen, die an einem berufsvorbereitenden Deutschkurs teilnehmen; da sind polnische WanderarbeiterInnen, die im Sechs-WochenTurnus abwechselnd in Deutschland in einer Maschinenbaufirma arbeiten und dann wieder in Polen ihre Familie versorgen; da sind afrikanische Zollbeamte oder lateinamerikanische AgrarexpertInnen, die eine halbjährige berufliche Weiterbildung in Deutschland durchlaufen; oder die ausländischen Studierenden aus aller Welt, die an der Universität Mainz/ Germersheim ein Übersetzungs- und Dolmetschstudium absolvieren – und viele andere mehr. Unter den zuletzt genannten Germersheimer Studierenden habe ich im Februar 2014 eine Umfrage durchgeführt, in der es um ihre Spracherwerbsbiografie und ihre Kommunikation mit Deutschen ging (die Namen der Studierenden gebe ich im Folgenden mit anonymisierenden Initialen wieder). Ihr Deutsch gelernt haben manche der Germersheimer Studierenden (wie wohl auch MigrantInnen allgemein) schon in einem deutschen Kindergarten, einer deutschen Schule oder als Au-pair-Mädchen; andere im ›ungesteuerten Zweitspracherwerb‹ (»[…] das meiste, das ich kenne, habe ich nicht von Büchern/Lehrern, sondern durch Reden und Lesen gelernt.« [I.P.]), auf der Straße, vor dem Fernseher, von MitschülerInnen oder ArbeitskollegInnen; andere mit pädagogischer Unterstützung vom Vater, der im Heimatland »als bester Deutschlehrer des Gymnasiums ausgezeichnet« war (L.B.N.); oder bei einer sorgfältig ausgesuchten Privatlehrerin (E.M.); oder in Deutschland mit Tandem-PartnerInnen: »Der Vorteil war, dass ich zu dem Zeitpunkt mehr Deutsch konnte als sie Spanisch. Wir haben deswegen mehr Deutsch als Spanisch geredet. Weil wir uns so gut verstanden haben, haben wir viel außerhalb der Uni unternommen.« (E.N.); oder durch den deutschen Freund: »Er hat mich vor
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Allem korrigiert jedes Mal, dass ich Fehler gemacht habe (und das waren echt viele). Es ist ein bisschen nervig jedes Mal korrigiert zu werden, aber ich muss wirklich sagen, dass es das ist, was mir am meisten geholfen hat.« (I.P.) Von den Germersheimer Studierenden werden aber auch schmerzvolle Spracherlebnisse mit Deutschen bestätigt: »Am größten war bei mir immer die Angst vor Behörden. Und vor allem vor einem telefonischen Gespräch. Ein Termin zu vereinbaren. Diese Wörter habe ich gehasst. Für ein dreißig Sekunden langes Gespräch habe ich mich eine Stunde vorbereitet. Ich habe mich einfach geschämt etwas falsch zu sagen oder etwas nochmals zu fragen. Deswegen habe ich am Anfang immer die Wörter im Wörterbuch nachgeschlagen und aufgeschrieben, dann die Fragen auf dem Papier gestellt und erst wenn alles erlernt wurde, habe ich angerufen. Die Kommunikation mit Behörden und andere offizielle Gespräche, Arzttermine haben mein Deutsch sehr gefördert. Die Notwendigkeit hat mir Deutsch beigebracht, denn ich hatte keine Freunde, keine Verwandte, niemanden, der für mich sprechen konnte.« (E.M.) »Als ich mit dem Studium begann, habe ich gemerkt, dass ich mein Deutsch überschätz habe. Ich hatte das erste Semester viele Schwierigkeiten, die hochwissenschaftlichen Texte, die ich zum Lesen bekommen habe, zu verstehen. Ich war oft verzweifelt und musste sogar weinen. Das hat meine Motivation gemildert und das Lernen wegen Überforderung verlangsamt.« (E.N.) »Während den Vorlesungen wurden manchmal Witze vom Dozenten oder von Studierenden erzählt. Alle außer mir haben gelacht, denn ich den Witz gar nicht verstanden habe, weil er so schnell erzählt wurde. […] Wenn Referate gehalten werden mussten und Gruppen gebildet werden sollten, fiel es mir schwierig eine Gruppe zu finden, da die Studenten mich nicht so gerne in ihren Gruppen haben wollten. Ihrer Meinung nach wäre meine Aussprache nicht gut genug.« (L.B.N.) »Bei Diskussionen fehlt es mir schwer, mich zu wehren.« (T.H.) »Ich bin einmal von einem Dozenten stark kritisiert worden, als ich ein Referat gehalten habe. Als ich mich vorgestellt habe und die Gliederung des Referates durchgegangen bin, habe ich sowas Ähnliches gesagt wie ›Zuerst werde ich euch dies erzählen und dann erzähle ich euch jenes‹. Der Dozent unterbrach mich und sagte in einem sehr strengen Ton: ›Wir sind hier nicht in der Literaturwissenschaft und Sie werden hier nix ›erzählen‹. Sie werden erläutern, analysieren, diskutieren etc. aber nichts erzählen‹. Seine Worte haben mich sehr runtergezogen, weil er mit mir sprach, als müsste ich es wissen. Auf der anderen Seite habe ich es gelernt und ich werde es hoffentlich nie vergessen.« (T.H.)
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»Ich war es so gewohnt, die ganze Zeit mit meinen Erasmusfreunden Deutsch zu reden, dass ich mich mit ihnen gut verständigen konnte. Aber wenn ich mich mit Deutschen getroffen habe, hatte ich das Gefühl, dass alles, was ich wusste, fast wertlos war, weil ich sie immer noch nicht verstehen konnte und konsequenterweise nichts für das ganze Treffen gesagt habe.« (I.P.) »Besonders bei einer Party, wo du der einzige Ausländer bist und wo man schnell umgangssprachliches Deutsch redet, habe ich mich manchmal wie ein Vollidiot gefühlt. Man schämt sich nochmals zu fragen, lieber einfach lächeln und nicken.« (E.M.) »Es gab ein paar Male, wenn ich eine unangenehme Antwort oder Reaktion der Menschen bekommen habe, weil ich mich falsch ausgedruckt habe oder einfach wegen meiner ausländischen Herkunft. In solchen Momenten sinkt die Motivation unheimlich sehr eine Sprache weiter zu lernen, wenn in dem Land, wo sie gesprochen wird, du nicht willkommen bist. Ich verstehe aber, dass die Sprache daran nicht schuld ist, deswegen mache ich weiter.« (E.M.) »Anstatt unsere Bemühungen zu zertrampeln, wäre es gut sie manchmal zu bewundern.« (L.B.N.)
Wiewohl sich aus diesen Erzählungen ein Bild der Zurückweisungen und Verletzungen ergibt, denen MigrantInnen sprachlich und psychisch ausgesetzt sind, scheinen ihre Zuversicht und ihr Durchsetzungsvermögen so stark, dass sie das Bild von »hilfsbedürftigen MigrantInnen« widerlegen. Dies gilt besonders für erwachsene MigrantInnen im akademischen Milieu, die die Sprache des Landes, in dem sie studieren, oft bis zur »Muttersprachlichkeit« erwerben. Zum Beispiel geben syrische StudienabsolventInnen deutscher Universitäten in einer Befragung an, dass sie »all ihre Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache durch viel Fleiß, durch ständiges Üben, durch Lesen und Schreiben überwunden [hätten]« und selbst die Aussprache sei »durch den täglichen Umgang mit Deutschen langsam besser geworden« (Kelletat 2013: 28ff.). Dass diese MigrantInnen sich letztlich in der deutschen Gesellschaft »angekommen« fühlen und ihre nahezu gleichberechtigte Teilnahme am sprachlich-kulturellen Dialog durchsetzen, zeigt sich krönend darin, dass sie sowohl selbst Sprachkritik an Deutschen zu üben beginnen als auch sprachschöpferisch im Deutschen tätig werden:
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»Wenn ich Fehler von deutschen Muttersprachlern höre/lese, bin eigentlich ganz froh, weil es ein Zeichen dafür ist, dass nicht nur ich Fehler machen kann und weil ich genug gut geworden bin, sie zu bemerken. […] Ich habe meine Andersheit auch genossen, z.B. weil meinem Freund meine Aussprache und meine Mischung von Italienisch mit Deutsch (am meisten wenn ich verärgert bin) gefällt und wir damit zusammen viele Witze auf ›Deutschalienisch‹ erfunden haben.« (I.P.) »Meine sprachliche Andersheit – ich genieße sie! Ich führe sogar neue Wörter ein. In meiner WG in Germersheim, zum Beispiel, sagen jetzt alle meine Mitbewohnerinnen ›Weinchen‹, weil ich es so sage. Im lateinamerikanischen Spanisch werden sehr oft Verniedlichungsformen bevorzugt. Viele Deutschmuttersprachler finden es auch witzig, wenn ich deutsche Wörter ›einspanische‹. Zum Beispiel: ›Mädelitas‹ für Mädels.« (T.H.)
Ihre ganz anderen, negativeren Erfahrungen hat die Kroatin Dragica Rajčić in eigenwilliger Weise literarisiert. Vor und nach dem BalkanKrieg für lange Jahre in die Schweiz eingewandert und mit literarischen Preisen für ihr Schreiben in deutscher Sprache ausgezeichnet, behielt sie in ihrer Lyrik und Sachprosa doch ein absichtlich fehlerhaftes Deutsch bei, um ihre »erlebte Alterität« in Worte zu fassen und es »als Instrument ihrer widerständigen Integration in die neue Kultur zu benützen, ihres Beharrens im Dazwischen der Kulturen« (Sandberg 2013: 22-24) und, wie ich meine, in Erinnerung an den langen Weg sprachlicher Selbstbehauptung. Ein kurzer Text der Kroatin von 1992: »ich bin eine Kroatin ich bin eine Kroatin noch tausend mall konnte ich dieses Satz mit vergnügen schreiben zu einem es wahr lange verbotten zu zweiten wheil ich mir als etwas besonderes vorkomme etwas wie Pandabär Seltsames Tier und dann lege ich mich schlaffen träume ich bin allemenschen zusammen.« (Zit. in Sandberg ebd., S. 24)
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Hochschuldidaktische Interventionen DaZ-Lehrende und -Studierende eruieren Spielräume machtkritisch positionierten Handelns İnci Dirim
1. P roblemaufriss Es gibt kein Handeln, das nicht ideell positioniert erfolgt und folglich auch kein Lehrangebot, das als ›neutral‹ charakterisiert werden könnte, auch wenn es nicht unüblich ist, akademische Lehre als solche zu denken, die den Studierenden ›objektive‹ und ›neutrale‹ Qualifikationsangebote macht. Mehr als das: Akademische Lehre soll ›objektiv‹ und ›neutral‹ sein. Das Folgen einer so gedachten ›Standpunktlosigkeit‹ wird meiner Erfahrung nach häufig als Qualitätsmerkmal einer Lehrveranstaltung kommuniziert. Mit diskursanalytischen Theorietraditionen, machtkritisch angelegten soziologischen Studien und der interdisziplinären Cultural Studies gedacht, ist es jedoch nicht möglich, außerhalb der gesellschaftlichen Diskurse, d.h. nicht positioniert, zu handeln. Selbst die Darstellung unterschiedlicher Perspektiven und Positionen im Rahmen einer Lehrveranstaltung erfolgt aus einer bestimmten ›Warte‹, auch wenn diese nicht explizit kommuniziert wird und womöglich schwer zu greifen, schwer zu versprachlichen scheint. Dass die Position oder die Positionen, aus denen heraus argumentiert wird, nicht explizit thematisiert werden, bedeutet, dass damit (mögliche) Konsequenzen in Kauf genommen werden – abgesehen von der Folge, die Vorstellung der ›neutral-objektiven‹ Lehre weiter zu bestärken. Diese Problematik als hochschuldidaktische ›Forschungslücke‹ (vgl. zu hochschuldidaktischen Debatten den Überblick in Tiberius 2011) in meinem eigenen Zuständigkeitsbereich als Universitätsprofes-
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sorin und die Darstellung des Versuchs der Konzeptionalisierung und Durchführung einer macht- und gesellschaftskritisch eingebetteten Lehre sind Thema des vorliegenden Beitrags. Das relativ neu etablierte Arbeitsund Forschungsgebiet ›Deutsch als Zweitsprache‹ (DaZ) stellt den thematischen und damit verknüpften hochschuldidaktischen Rahmen dar. Den gesellschaftlichen ›Referenzrahmen‹ stellt im vorliegenden Beitrag die Migrationsgesellschaft der amtlich deutschsprachigen Regionen dar.
2. E inführung Um herauszuarbeiten, warum es wichtig sein kann, expliziert positioniert zu lehren, muss zunächst dargestellt werden, wie implizite, d.h. immer gegebene Positioniertheiten zustande kommen und wie sie im Sinne von expliziten bzw. explizierten Positionen weiterentwickelt werden können. Die Problematik ganz allgemein einordnend kann zunächst gesagt werden, dass wir Menschen vergesellschaftlichte Wesen sind, d.h. dass unser Handeln in Kategorien eingebettet ist, die von Vorstellungen erzeugt werden, mit denen die Gesellschaft kollektiv konstruiert wird. Jede Handlung rekurriert auf Kategorien der gesellschaftlichen Ordnung, in welchem Verhältnis dazu auch immer: Handlungen können prinzipiell die gesellschaftliche Ordnung bestätigen, ihr widersprechen oder sie ausdifferenzieren. Gesellschaftliche Ordnungen sind allerdings nicht immer in Form von Gesetzen niedergeschrieben, die die Normen vorgeben, nach denen gehandelt werden soll, und damit nicht immer tendenziell vereindeutigend fixiert. Gesellschaftliche Ordnungen sind vielfach nicht oder nicht nur in Form von Gesetzen, Verordnungen, Satzungen, ›Hausordnungen‹ u.ä. explizit verschriftlicht, sondern werden in anderen Formen, etwa in normativen Setzungen, kommunikativ ausgehandelt, laufend weitervermittelt, sodass sie eine Historizität besitzen und zu wenig reflektierbaren Gegebenheiten werden. Das heißt, mit Bourdieu gesprochen, dass gesellschaftliche Ordnungen in vielen unterschiedlichen Denk- und Verhaltensformen habitualisiert werden, also in jedem Individuum handlungsleitend verfestigt (Bourdieu 1979) sind. Damit sind Handlungen nicht unabhängig von historisch vermittelten gesellschaftlichen Strukturen denkbar. In Bezug auf Sprache nahm Ingrid Gogolin eine Adaption der Habitustheorie Bourdieus vor und bezeichnete die mit der Nationalstaatenbildung verknüpfte Vorstellung, dass Einsprachig-
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keit der Normalfall und Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit die Ausnahme sei, als »monolingualen Habitus« (Gogolin 1994). Mit Hilfe von qualitativen Interviews mit Lehrkräften zeichnete sie empirisch nach, dass der »monolinguale Habitus« für Lehrkräfte in einem bestimmten nationalstaatlichen Setting handlungsleitend ist (vgl. ebd.). Das heißt, dass mit Anwendung der Habitustheorie Bourdieus im Hinblick auf den Bereich ›Sprache‹ deutlich wird, dass Lehrende durch historisch gewachsene gesellschaftliche Strukturen handeln. Auch von Foucault wurden theoretische Ansätze entwickelt, die zeigen, dass Handeln nicht unabhängig von Gesellschaft geschehen kann. Besonders interessant für den vorliegenden Zusammenhang ist die Foucaultsche Vorstellung von »Dispositiven« (Foucault 1978), die m.E. das Habituskonzept gut ergänzen: Dispositive werden nach Foucault auf Grund von Diskursen und Institutionalisierungen unterschiedlicher Art kollektiv konstruiert und bieten Denk- und Handlungsorientierungen, die keineswegs als unveränderbar oder einheitlich gedacht sind (vgl. u.a. Foucault a.a.O). Es gibt jedoch dominante Positionen in den Dispositiven, die Machtstrukturen in der Gesellschaft spiegeln und diese zu reproduzieren ermöglichen, weil sie gewissermaßen auf Menschen – sie subjektivierend – einwirken. Laclau und Mouffe gehen im Unterschied zu Foucault davon aus, dass es kein artikulierbares Außerhalb von Diskursen gibt; sie bezeichnen Diskurse als »eine aus der Praxis der Artikulation hervorgehende ›strukturierte Totalität‹« und wenden sich damit gegen den Foucaultschen Begriff von nicht-diskursiven Praxen (vgl. die Darstellung von Broden/Mecheril 2010: 9). Diskurse sind jedoch – wie oben angedeutet – nicht starr, sondern in ständiger Bewegung und bilden, nach Fixierung trachtend, ›Knotenpunkte‹, die jene Verdichtungen darstellen, an denen diskursive Positionen zustande kommen, die die genannten Orientierungen für unser Denken und Handeln ›offerieren‹ (a.a.O.). Wenn ›Dispositive‹ mit Bourdieu betrachtet werden, kann gesehen werden, dass Habitualisierungen diese Knotenpunkte zu erkennen erschweren dürften, und damit das Benennen von diskursiven Positionen. Jede/r von uns besetzt diskursive Positionen, die eingenommenen Perspektiven, vertretenen normativen Setzungen (i.S.v. Werturteilen) und Entscheidungen zugrunde gelegt werden. Die für den vorliegenden Beitrag wichtige Erkenntnis ist, dass diskursive Positionen nicht einfach verschwinden oder wirkungslos werden, wenn sie nicht erkannt bleiben oder in einigen Situationen nicht offen gelegt werden, bzw. wenn vom Vorhandensein von ›Objektivität‹ ausgegangen wird. Vielmehr
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geschieht es, dass wir im Zusammenhang mit Interaktionen mit anderen mit kollektiv entwickelten diskursiven Positionen konfrontiert werden; mit Althusser (1977) gesprochen, geschieht dies im Zuge unserer beständig und unabschließbar stattfindenden Subjektivierung durch Interpellationen bzw. ›Anrufungen‹, etwa Zuschreibungen. Die Übernahme oder Ablehnung bzw. Differenzierung der gesellschaftlichen Positionen, die mit diesen Anrufungen verknüpft sind, ist an Machtverhältnisse gebunden und ist differenziert zu betrachten. Je höher ein Subjekt positioniert ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die von ihm ausgehenden Positionierungsoptionen von einem Subjekt mit weniger Macht, in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihm, z.B. in einem SchülerInnen-LehrerInnenverhältnis, übernommen werden (müssen). Allerdings muss immer auch mit der Möglichkeit der Zurückweisung der Subjektpositionierungsoption gerechnet werden; bzw. wären Chancen der Zurückweisung oder der veränderten Übernahme von Subjektpositionierungsoptionen auszuloten. Butler problematisiert jedoch auch die Möglichkeit der Zurückweisung. Sie schreibt, dass ein Subjekt auch im Akt der Zurückweisung rückgebunden bleibt an die vorausgegangene Adressierung und diese durch die Zurückweisung somit auch wieder bestärkt (vgl. Butler 2001). Mit der sprachlichen Verfasstheit diskursiver Determinationen befassen sich unterschiedliche diskursanalytische Strömungen, die mit verschiedenen methodischen Zugriffen versuchen die Beschaffenheit und Funktionsweise von Diskursen zu erfassen, um sie einer expliziten Analyse zugänglich zu machen (vgl. zum Überblick Angermuller et al. 2014 und Wodak/Meyer 2009). Die oben zusammengefassten soziologischen, philosophischen und linguistischen Theoriebestände zeigen, dass es die/den ›standpunktlosen‹, ›objektiven‹ und ›neutralen‹ Lehrende/n und damit auch mit denselben Attributen charakterisierbare Lehre nicht gibt. Daraus folgt, dass auch das Lehren im Rahmen eines akademischen Lehrformats auf diskursive Positionen rekurriert und diese Studierenden als Bündel an Positionen offeriert. Wenn berücksichtigt wird, dass es per definitionem ein Machtgefälle zwischen Lehrenden und Studierenden gibt, auch wenn Lehrende als ›ManagerInnen‹ der Wissensaneignung angesehen werden, dann wird klar, dass die von Lehrenden ausgehenden Positionierungsoptionen für Studierende einen starken Subjektivierungscharakter besitzen müssen.
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Diskursiv ausgehandelte gesellschaftliche Positionen werden im Rahmen einer Lehrveranstaltung allerdings nicht nur von Lehrenden – und auch von Studierenden – offeriert, sondern sind auch im verwendeten Material enthalten und in verschiedenen Bezugnahmen auf gesellschaftliche Instanzen wie Behörden, die die Lehre beeinflussen. Diese Eingebundenheit der Lehre in gesellschaftliche Diskurse birgt bei Nichtberücksichtigung die Gefahr, dass Ergebnisse mit initiiert werden, die sich einer Bearbeitung entziehen, die aber dennoch gegeben sind und wirksam werden können, z.B. im Rahmen des dem Studium folgenden beruflichen Handelns, aber auch schlicht im Hinblick auf die Entwicklung eines Selbstbildes von Studierenden. Die obigen Darstellungen machen klar, dass es selbstverständlich nicht möglich und auch nicht sinnvoll ist, ›alle‹ gesellschaftlichen Positionen zu erkennen und zu berücksichtigen. Dennoch bietet es sich an, diskursive ›Verstrickungen‹ nicht (vollständig) außer Acht zu lassen, sondern eine – im weitesten Sinne – diskurstheoretisch informierte Lehre zu entwickeln, Möglichkeiten zu eröffnen, sich mit der gesellschaftlichen Eingebundenheit des Geschehens, das thematisiert wird, auseinanderzusetzen. Dies bedeutet, dass Lehrende einen methodologischen Zugang finden müssen, ein Angebot der explizit positionierten Lehre zu realisieren. Die Beschäftigung mit gesellschaftlichen Positionen in der Lehre kann auf verschiedene Weise erfolgen. In einer von Astrid Messerschmidt beschriebenen Lehrveranstaltung setzen sich Studierende z.B. mit ihrem eigenen Bezug zu den behandelten Themen und den damit verbundenen Erkenntnissen auseinander – mit dem Ziel »involviertes Forschen« zu realisieren: »Die Fragerichtung des Projekts zielt darauf, die Hochschule selbst als Ort der interkulturell-migrationsgesellschaftlichen Bildung zu betrachten […]. Mit dem Projekt soll eine Anregung zur Selbstreflexion gegeben werden, um einen Prozess anzustoßen, der es angehenden Lehrer_innen ermöglicht, sich selbst und das eigene Handeln in einer Beziehung zur Einwanderungsgesellschaft zu verstehen. Grenzen dieser Beziehung, Distanzierungen und Befremdungen sind Teil der zu erforschenden Selbstdarstellungen und Wahrnehmungsmuster. […] Der Forschungsansatz richtet sich darauf aus, den Subjektivitäten der Teilnehmenden Raum zu geben und folgt einem Konzept involvierten Forschens [Hervorhebung i.O.], bei dem es nicht um eine objektivierende Untersuchung von Einstellungen Anderer geht, sondern darum, eigene Auffassungen in einen Kommunikationsprozess einzubringen, zu dokumentieren und weiter zu entwickeln.« (Messerschmidt 2011: 81f.)
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Im Folgenden wird ein Vorschlag eines ähnlichen methodologischen Zugriffs im Bereich ›Deutsch als Zweitsprache‹ beschrieben, nämlich eines macht- und gesellschaftskritischen Theorierahmens, um davon ausgehende didaktisch-methodische Zugänge und Umsetzungsmöglichkeiten zu charakterisieren. Es wird dabei auf Konzepte und Erfahrungen Bezug genommen, die an der Universität Wien im Bereich ›Deutsch als Zweitsprache‹ entwickelt bzw. gemacht wurden.
3. W issenschaf tstheore tische Z ugänge zu e xplizit positionierter L ehre im B ereich D a Z 3.a Diskursive Verstrickungen Politik, im Sinne von ›Parteipolitik‹, ist ein Handlungsfeld, in dem diskursiv und multipolar explizit gesellschaftsbezogene Positionen (re-) konstruiert und an die Zielgruppe der WählerInnen herangetragen werden. Auch in anderen Diskursen werden – mit parteipolitischen Diskursen verwoben – verschiedene Topoi bzw. ›diskursive Figuren‹ (re-)produziert, die in Medien, informellen Zusammenkünften, im häuslichen Umfeld etc. kommuniziert werden und an Hand derer Positionierungen erfolgen – so auch im wissenschaftlichen Bereich. Jede/r Lehrende gerät im Rahmen der Lehrangebote zumindest in die Lage, das eigene Lehrangebot in größere curriculare Zusammenhänge einzubetten und von anderen Lehrangeboten und wissenschaftlichen Arbeiten abzugrenzen bzw. sie zu legitimieren. Gerade in akademischen Fächern, die sich mit Gegenständen befassen, die zugleich Gegenstände (partei-)politischer und weiterer öffentlicher sowie privater Auseinandersetzungen sind, besteht die Wahrscheinlichkeit, für diese Legitimation Positionen und Argumente der parteipolitischen und öffentlichen Diskurse zu nutzen bzw. zu reproduzieren, wenn im vertretenen Fach keine wissenschaftspolitischen bzw. erkenntnispolitischen Ziele definiert worden sind, die mit Hilfe von Theorietraditionen, Argumenten und Forschungsergebnissen des Fachdiskurses generiert wurden. ›Deutsch als Zweitsprache‹ ist ein sich mit einem für gegenwärtige Gesellschaften konstitutiven Differenzmerkmal befassendes akademisches Fach, zumal mit Sprache als Differenzmerkmal gesellschaftliche Zugehörigkeiten und Positionen markiert werden (vgl. Khakpour i.E.). Die Grenze zwischen Parteipolitik,
Hochschuldidaktische Inter ventionen
Alltagsdiskurs und Wissenschaftspolitik läuft in diesem Bereich Gefahr in beträchtlichem Maße unscharf zu werden, da vor allem ständig reproduzierte und schriftlich fixierte parteipolitische Topoi quasi ›griff bereit‹ dargeboten werden. Forschungsergebnisse, Begriffe und Argumente des Faches lassen sich teils nur schwer von politischen und öffentlichen Topoi trennen bzw. bedienen sich dieser. Hinzu kommt, dass die Fachperspektive trotz migrationsgesellschaftlicher sprachlicher Veränderungen der amtlich deutschsprachigen Gesellschaften Vorstellungen reproduziert, reproduzieren muss, die den oben genannten ›monolingualen Habitus‹ und naturalisierende Legitimationen von als ›Native Speaker-Kompetenz‹ geltenden Sprachverwendungsweisen verstärken, da das Bildungssystem und die Verwaltungsinstitutionen mit dieser Sprachnorm arbeiten, wobei diese damit immer wieder als einzig und ›natürlicherweise‹ legitime Sprache reproduziert wird. Das Fach befindet sich damit als akademisches Fach in einem Spannungsverhältnis, das die Erkenntnis, dass nicht nur nationale Kodifizierungen wertvoll sind, vertreten muss und zugleich nationale Kodifizierungen von Sprache in den Vordergrund stellt, was zu schwierigen, weil dilemmatischen, Überlegungen führt: »Untersuchungen zum Sprachgebrauch von Kindern und Jugendlichen im außerschulischen Raum zeigen, dass Sprache(n) dort nicht nur in monolinguale/n nationalstaatliche/n Formen […] verwendet werden, sondern in Mischungen zwischen Sprachen und Sprachregistern und dass neue Formen von Sprache(n) entwickelt werden. Diese Phänomene stehen in einem Spannungsverhältnis zu den bildungssprachlichen Anforderungen der schulischen Bildung und fordern die DaZ-Didaktik heraus, im Sinne von sprachlicher Bildung und im Sinne der Nutzung von Zugängen und Ressourcen die außerschulischen Sprachverwendungsformen aufzugreifen. […] DaZ-DidaktikerInnen sind stets gefordert, ein empirisch und theoretisch fundiertes Verhältnis zu nicht standardsprachlichen migrationskulturellen Sprachverwendungsweisen und deren respektvollem Einbinden in die Vermittlung der Zielsprache Deutsch zu entwickeln. DaZ-Lehrkräften kommt auch die Aufgabe zu, SchülerInnen zu ermutigen, keine Angst zu haben zu sprechen, auch wenn sie wissen, dass ihr Sprachgebrauch nicht den zielsprachlichen Normen entspricht. Artikulation steht jedem Menschen zu, ganz unabhängig davon, welche Sprachregeln es sind, die angewendet werden. Dieses ›Empowerment‹ von SchülerInnen ist vielleicht die schwierigste Aufgabe einer DaZ-Lehrkaft, die den Kindern und Jugendlichen in erster Linie bildungssprachliche
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Formen vermitteln muss und damit auch normative Erwartungen an sie heranträgt. DaZ-Unterricht ist ein Stück weit normsprachliche Korrektur eigener (außerschulischer) Sprachleistungen von Kindern und Jugendlichen und damit zwangsläufig ›Disziplinierung‹. Dieser Effekt kann nur durch Respekt vor eigenen Artikulationsformen der SchülerInnen reduziert und aufgefangen werden. DaZ-Förderung ist daher stets ein Balanceakt zwischen Ermöglichung von Artikulation auf der einen Seite und Verhinderung von Artikulation durch Normierung auf der anderen Seite, was für die SchülerInnen gleichermaßen mit Gewinnen (von legitimen Artikulationsmöglichkeiten) und Verlusten (von eigener Sprachleistung) verbunden ist« (Krehut & Dirim i.E.). Die beschriebenen Spannungsverhältnisse des Faches betreffen nicht nur den schulbezogenen Bereich. Auch in der Erwachsenenbildung geraten aufgrund sogenannter ›Integrationspolitiken‹ und der Verknüpfung von Aufenthalt an Kompetenzniveaus in der deutschen Sprache WissenschaftlerInnen und Lehrkräfte in schwere Dilemmata. Wollte man doch mit dem akademischen Fach DaZ dazu beitragen, dass Personen sprachlich bestmöglich in die Lage versetzt werden, an den majoritätsgesellschaftlichen Prozessen teilzunehmen, tragen Kategorien und Normen des Faches zugleich zu politischen und öffentlichen Diskursen bei, die diese Kategorien und Normen nicht im Sinne von Förderung und Bildungsangeboten nutzen, sondern um Ausschlüsse zu produzieren. Diese Beispiele sollten verdeutlichen, dass es sich bei ›Deutsch als Zweitsprache‹ um ein akademisches Fach handelt, das mit politischen, anderen öffentlichen und nicht-fachlichen Diskursen auf eine enge Weise verknüpft ist. Sprachaneignung und -vermittlung sind Gegenstände, mit denen auch DaZ-Studierende im Laufe ihres Lebens selbst verschiedene Erfahrungen gemacht haben: als Angehörige der ›Zielgruppe‹, während Aufenthalten in Gebieten mit anderen Sprachen als den gekonnten, als Mitglieder einer ›alteingesessenen‹ Sprachminderheit etc. Aufgrund dieser Erfahrungen bestehen zu den DaZ-Studieninhalten bereits feste und hochdifferenzierte individuelle (Alltags-)Hypothesen darüber, welche Bedingungen für sprachliches Lernen und Spracherwerb geeignet sind, welche nicht etc. Meine Erfahrung ist, dass diese Vorkenntnisse manchmal neben Forschungsergebnissen ohne Bezugnahme auf diese teils fortbestehen, wenn sie nicht als Ressource und Zugang in die Lehre einbezogen werden und die Studierenden keine Gelegenheit erhalten ihre Erfahrungen im Sinne
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einer ›involvierten Qualifizierung‹ in ihre Seminararbeiten einzubeziehen. Curry referiert Methoden, die im englischsprachigen hochschulbezogenen Academic Literacies-Diskurs dazu erarbeitet wurden, wie »instructors can build on students‘ home based resources« (Curry 2008: 126). Zu den als ›home based‹ identifizierbaren Ressourcen sollten m.E. auch sprachen-, bildungs- und migrationspolitische Diskurse hinzugenommen werden, weil private Erlebnisse mit Erfahrungen mit Behörden, Gesetzen, Schulpolitiken, Sprachen(ver)ordnungen auf vielfältige Weise verknüpft sind. Es zeigt sich, dass politische und öffentliche, auch private und gesellschaftliche Diskurse nicht ›ausgeschaltet‹ werden können, dass die Lehre Teil ihrer ist, und sich nicht darauf berufen werden kann, in einem ›neutralen Rahmen‹ zu handeln, in dem ›Neutralität‹ und ›Objektivität‹ herrschen. Einander widersprechende Argumente, Ansichten, daraus resultierende Unsicherheiten und weitere von gesellschaftlichen Ordnungen bzw. Diskursen bestimmte Verhältnisse, zahlreiche Widersprüche und Dilemmata sind unumgänglicher Bestandteil einer jeden DaZ-Lehrveranstaltung an allen Standorten, und DozentInnen sind in dieser Situation oft gefordert Stellung zu beziehen. Erfolgt eine Stellungnahme, dann ist im Rahmen der akademischen Lehre m.E. aufgrund der institutionellen Einbettung und Zugehörigkeit zum wissenschaftlichen Diskurs die Notwendigkeit gegeben, anders als in den parteipolitischen oder öffentlichen Diskursen zu argumentieren, nämlich Argumente aus akademischen Wissenschaftstraditionen heraus zu entwickeln, die selbstverständlich auch für die Analyse des interessierenden politischen und öffentlichen Feldes herangezogen werden können. DaZ-Lehrveranstaltungen müssen den Studierenden nicht nur – zugespitzt formuliert und teils von politischer Seite erwartet – Methodenkenntnis für das Unterrichten vermitteln, sondern sie in die Lage versetzen, mit den sie umgebenden und von ihnen selbst miterzeugten migrationsgesellschaftlichen Machtverhältnissen umzugehen. Beispielsweise wäre das Ziel dieser Lehre Studierende dazu anzuregen, Begriffe, die sie verwenden, mit Hilfe bestimmter Wissenschaftsperspektiven einer kritischen Wahl zu unterziehen, um begriffliche Inferiorisierungen der Zielgruppe zu vermeiden bzw. zu reduzieren (zur Problematik der Verwendung des Begriffs DaZ s. Miladinović 2013), gewissermaßen das Angebot eine wissenschaftstheoretisch fundierte Sprech- und Bezeichnungspolitik zu entwickeln – also das Angebot einer erkenntnispolitischen Positionierung. Im nächsten Unterkapitel erfolgt ein Vorschlag zu einer solchen Positionierung im Feld ›Deutsch als Zweitsprache‹.
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3.b Erkenntnispolitische Positionierung ›Deutsch als Zweitsprache‹ ist, wie den obigen Darstellungen entnehmbar, ein Forschungs- und Arbeitsgebiet, das zwar in erster Linie mit empirischen Untersuchungen und darauf basierenden Konzeptionalisierungen das Ziel verfolgt, Sprachförderung im Deutschen zu ermöglichen. Zugleich handelt es sich um ein Fach, das eng mit migrationspolitischen Diskursen verknüpft ist und sich einer Reihe von Begriffen und Perspektiven bedient, die verschiedene diskursive Figuren hervorrufen bzw. bedienen. Referenzen, die häufig herangezogen werden, bestärken auch oft – ungewollt – die Konstruktion einer Zielgruppe, die in inferiorisierte gesellschaftliche Positionen gedrängt wird. Allein mit der Verwendung des Begriffs ›DaZ‹ als Personenmerkmal ist eine Unterordnung unter ›DaM’lerInnen‹ verbunden (vgl. Miladinovic 2013). Auch andere Begriffe und Konzepte, die im Rahmen des akademischen Faches ›DaZ‹ verwendet werden, lassen das Problem entstehen, dass inferiore Andersheit produziert, eine Gruppe von Hilfsbedürftigen konstruiert wird. Der Begriff ›Sprachförderung‹ etwa lässt den Eindruck entstehen, als müsse die Sprachfähigkeit der Zielgruppe an sich trainiert werden. Dass nicht von ›Deutschförderung‹, sondern ›Sprachförderung‹ gesprochen wird, setzt ›Deutsch‹ implizit als Norm und wertet Kompetenzen in anderen Sprachen ab. Diese Probleme führen zu einer Bewusstseinsbildung, die – so die Hypothese – nicht intendiert ist. Wenn anstelle von ›Sprachförderung‹ der Begriff ›Deutschförderung‹ verwendet wird, erscheint die damit adressierte Zielgruppe von SchülerInnen etwa als förderbedürftig, obwohl sie nichts dafür kann, in ein monolingual deutschsprachiges Bildungssystem hineingeraten zu sein. Akte der Entwicklung von Begrifflichkeit und Konzeptionalisierung im Feld ›DaZ‹ werden angesichts ihrer Verwobenheit in politische und institutionelle Rahmenbedingungen und Diskurse auch zu einer »befähigende[n] Verletzung« (Spivak, zit.n. Dhawan 2014) – ein Zustand, der, so meine Wahrnehmung, dem Anspruch und Selbstbild der DaZ-Lehrenden widerspricht. Dieser Zustand ist nicht ganz aufhebbar, jedoch kann daran gearbeitet werden, ihn zu reduzieren. Dafür ist jedoch notwendig, sich dem Problem der gesellschaftlichen Verwobenheit des Faches und seiner Widersprüche zu stellen und zu akzeptieren, dass es politische Rahmenbedingungen, Dispositive sowie diskursive Verknüpfungen gibt, innerhalb derer ›gut gemeinte‹ Begriffe und Konzepte zu »befähigenden Verletzungen« werden. Um das Problem
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der »befähigenden Verletzung« zu reduzieren, erscheint es notwendig, das Fach nicht nur als eine Aktivität der Entwicklung von Sprachfördermethoden zu verstehen, sondern es in akademische Theorietraditionen einzubetten, die es ermöglichen, selbstreflexiv mit den festgestellten Dilemmata und Spannungsverhältnissen umzugehen. Für diesen reflexiven Selbstbezug erscheinen akademische Theorietraditionen geeignet zu sein, die sich mit Machtverhältnissen in der Gesellschaft auseinandersetzen, also etwa Theorietraditionen der Cultural Studies und die der postkolonialen Theorie. Ein pädagogisches Konzept, das sich mit Bildungsverhältnissen in der Migrationsgesellschaft befasst und die genannten Theorietraditionen aufgreift, wäre die »Migrationspädagogik« (Mecheril u.a. 2010). An der Universität Wien wurde ein DaZ-Fachverständnis entwickelt, das im kommenden Abschnitt vorgestellt wird.
4. M acht- und gesellschaf tskritisches F achverständnis ›D eutsch als Z weitspr ache ‹ Das folgende Wiener ›DaZ‹-Fachverständnis ist Ergebnis einer langen Auseinandersetzung mit der oben charakterisierten diskursiven Verwobenheit des Faches und soll ein Leitbild für die Wahl von wissenschaftlichen Perspektiven darstellen, mit deren Hilfe linguistische und pädagogische Begriffe und Konzepte des Faches reflektiert werden können. İnci Dirim, im Dezember 2013* »Deutsch als Zweitsprache« als Fachgebiet Das interdisziplinäre Fachgebiet Deutsch als Zweitsprache befasst sich vornehmlich mit der Frage, wie die aus der (amtssprachlichen) Dominanz des Deutschen erwachsenden Nachteile für migrationsresultierend zwei- und mehrsprachige Kinder, Jugendliche und Erwachsene reduziert werden können. Dabei werden unterschiedliche Lebens-, Bildungs- und Arbeitsbereiche in den Blick genommen; es werden Modelle der Unterstützung der Aneignung des Deutschen entwickelt und evaluiert. Hierfür werden linguistische Grundlagen und Rahmenbedingungen wie Sprachwandel in der Migrationsgesellschaft untersucht. Ziel ist es, dazu beizutragen, die Gleichstellung
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von Menschen, die sich Deutsch als eine Zweitsprache aneignen, mit solchen, die Deutsch als Erstsprache sprechen, zu erreichen. Da die aus der (amtssprachlichen) Dominanz des Deutschen erwachsenden Nachteile auch durch die Nutzung der lebensweltlichen Mehrsprachigkeit reduziert werden können, werden auch methodischdidaktische Vorgehensweisen zur Verwendung und Nutzung der Migrations- bzw. Minderheitensprachen im Unterricht ausgearbeitet bzw. reflektiert. Um soziale bzw. subjektivierende Effekte der vorgeschlagenen Maßnahmen (auch in selbstreflexiver Absicht) in den Blick nehmen zu können, werden machttheoretische Wissenschaftstraditionen herangezogen und für den jeweiligen Gegenstand adaptiert. Da Sprache nie losgelöst von politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen betrachtet werden kann und faktisch sowie symbolisch für die Regulierung von Zugehörigkeiten benutzt wird, kommen weitere wissenschaftliche Perspektiven zum Einsatz, die diese Verknüpfungen zu verstehen ermöglichen, etwa rassismuskritische. Da der Begriff »Deutsch als Zweitsprache« als Bezeichnung für den persönlichen Sprachbesitz inferiorisierende Effekte für als DaZSprecherInnen geltende Personen nach sich ziehen kann, ist er mit Bedacht zu verwenden. Jenseits didaktischer und methodischer Notwendigkeiten der Verwendung des Begriffs »Deutsch als Zweitsprache« ist Deutsch Deutsch, unabhängig davon, ob jemand diese Sprache als Erst- oder Zweitsprache verwendet und in jeglicher Perspektive gleichermaßen wertvoll. *Marion Döll, Birgit Springsits und Magdalena Knappik danke ich für ihre Rückmeldungen, Korrekturen und Ergänzungen, die ich alle aufgenommen habe.
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5. M acht- und gesellschaf tskritische D a Z-L ehre an der U niversität 5.a DaZ im Lehramtsstudium für das Unterrichtsfach Deutsch Lehrveranstaltungen des Lehramtsstudiums des Unterrichtsfaches Deutsch an der Universität Wien werden prinzipiell im Einklang mit der oben genannten DaZ-Perspektive gestaltet. Die Studierenden sollen mit einer (verpflichtenden) Vorlesung einen theoriegeleiteten und machtkritischen Überblick über den Fachdiskurs zu Mehrsprachigkeit, Migration und Bildung erhalten. Zu der Vorlesung gehört eine (verpflichtende) Übung, in der Grundlagen und Konzepte der Berücksichtigung des Deutschen als Zweitsprache im Deutschunterricht und verschiedene Konzepte der additiven und integrativen sowie fächerübergreifenden sprachlichen Bildung und Sprachförderung kennengelernt werden. Es soll in den Seminaren auch auf Möglichkeiten des Gebrauchs und der Behandlung von Migrationssprachen im Deutschunterricht eingegangen werden. Insgesamt geht es beim DaZ-Angebot darum, dass Studierende eine reflexive und involvierte Professionalisierung im Hinblick auf den Umgang mit DaZ und der migrationsbedingten Mehrsprachigkeit im Deutschunterricht entwickeln. Dazu wird insbesondere für Studierende, die das Deutsche ungesteuert als Erstsprache erworben haben, notwendig, sich einen metalinguistisch bewussten, systematisch-analytischen Zugang zum Deutschen anzueignen, um in die Lage versetzt zu werden, Unterricht im Hinblick auf seine (bildungs- und fachsprachlichen) Anforderungen hin so analysieren und planen zu können, dass dieser Unterricht den heterogenen sprachlichen Zugängen der Schülerinnen und Schüler gerecht wird. Ein solcher bewusster Zugriff auf die deutsche Sprache ist notwendig, um die unterschiedlichen Sprachstände der Schülerinnen und Schüler diagnostizieren zu können, um verschiedene Sprachebenen und Register nach ihrem Schwierigkeitsgrad unterscheiden zu können und diese entsprechend der Sprachstände der Schülerinnen und Schüler in (bildungssprach-)förderlicher Weise im Unterricht einzusetzen, sowie um das System der deutschen Sprache bedarfsorientiert und explizit vermitteln zu können. DeutschlehrerInnen werden als die Lehrkräfte verstanden, die als FachspezialistInnen der deutschen Sprache ein kritisch-reflexiv angeeignetes Methodeninventar zur Deutschförderung und sprachlichen Bildung in der Migrationsgesellschaft besitzen, es anwenden und im Rahmen ihrer Möglichkeiten wei-
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terentwickeln/transformieren können. Sie sind die Lehrkräfte, die KollegInnen anderer Fächer im Hinblick auf Fragen der fächerübergreifenden sprachlichen Bildung und Sprachförderung beraten können. In der Vorlesung »Sprachliche Bildung in der Migrationsgesellschaft« wird ein Überblick über Phänomene des Sprachwandels, der Sprachaneignung und des Sprachgebrauchs gegeben. Migrationsspezifisches Deutsch und das Spannungsverhältnis zwischen Mehrsprachigkeit und monolingual deutschsprachiger Schule werden thematisiert. Kulturwissenschaftliche und migrationspädagogische Perspektiven dienen der Analyse der Gegebenheiten, vor allem Linguizismuskritik, Zuschreibungskritik, institutionelle Diskriminierung, Positionierungskritik. Ein Überblick über konzeptionelle Modelle im In- und Ausland zur Reduzierung von Ungleichstellungen von SchülerInnen aufgrund der Dissonanz sprachlicher Dispositionen der SchülerInnen und der (bildungssprachlichen) Kontextbedingungen der Schule (vgl. Dirim/Mecheril 2010) ist Teil des Vorlesungskonzepts, ebenso wie Modelle der sprachbezogenen Kooperation mit außerschulischen Erziehungs- und Bildungsinstanzen (Eltern, außerschulische Jugendarbeit, Bildungseinrichtungen wie Bibliotheken). Die Vorlesung kann auch einen literaturdidaktischen Aspekt enthalten, wobei es um migrationsbedingte Heterogenität im Literaturunterricht gehen soll, etwa um sprachliche Zugänge, Literatur in anderen Sprachen, Rezeption von deutschsprachiger Literatur in anderen Sprachen, unterschiedliche Sichtweisen auf literarische Werke, Perspektivwechsel, der durch die SchülerInnen erzeugt wird: die Rolle verschiedener Kulturtraditionen mit und ohne nationale Bezüge. Im Zentrum soll das Motto stehen: »Jede ist anders anders« (Mecheril/Arens 2010). Ziel ist es, dass die Studierenden den Umgang mit Zuschreibungen, auch in Deutschlehrwerken, kennenlernen. In den Übungen, die zur Vorlesung gehören, werden die theoretischen Perspektiven nicht mehr eigens thematisiert, aber stets mitgedacht.
5.b DaZ im Masterstudium Im Masterstudium Deutsch als Fremd- und Zweitsprache an der Universität Wien gibt es verschiedene Möglichkeiten, die gesellschaftstheoretischen Perspektiven in der Lehre umzusetzen. Im Wintersemester 2014/15 wurde ein Seminar zu hegemoniekritischen Perspektiven durchgeführt. ›Hegemoniekritik‹ in Anschluss an Gramsci sollte dazu verhelfen, den politisch-öffentlichen Arbeitsauftrag so zu deuten, dass die eigene hegemoniale
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Position als Lehrkraft dazu genutzt wird, TeilnehmerInnen der Erwachsenenbildung DaZ zu ermächtigen, an den majoritären deutschsprachigen gesellschaftlichen Diskursen möglichst barrierefrei teilzunehmen (vgl. Candeias 2007). Die Studierenden erarbeiteten in Zusammenarbeit mit der Lehrenden (İnci Dirim) vor allem an Hand von Analysen von Unterrichtsmaterial aus der Erwachsenenbildung u.a. Indikatoren für die Analyse einer Zuweisung von inferioren gesellschaftlichen Positionen an die Zielgruppe: 1. E ssentialisierung: Festlegung auf bestimmte kulturelle Merkmale 2. Kulturalisierung: Reduzierung sozialer Verhältnisse auf die Kategorie ›Kultur‹ 3. Inferiorisierung: Zuweisung unterlegener gesellschaftlicher Positionen 4. A nerkennung als …: Anerkennung als mit Mitgliedern der Majorität gleichgestelltes Subjekt oder als Subjekt mit inferiorer Position 5. Othering: Zuschreibung von Nichtzugehörigkeit Fragen für die Analyse des Materials waren u.a.: 1. I nwiefern werden den Lernenden (sie) inferiorisierende Subjektpositionen zugewiesen? 2. Inwiefern werden die Lernenden als RepräsentantInnen ›ihrer eigenen Kultur‹ dargestellt? 3. A ls welche Subjekte werden die Lernenden anerkannt? Im Zentrum der Analysen stand die Foucaultsche Kritikperspektive »Wie kann es gelingen, nicht dermaßen regiert zu werden?« (Foucault 1992). Die in Kurszusammenhängen und vonseiten der Politik und Gesellschaft vorgenommenen Inferiorisierungen von Deutsch lernenden Erwachsenen sollten unter dieser Leitperspektive nach Möglichkeit einer Lehrkraft im Unterricht reduziert werden, z.B. durch eine Ergänzung, Korrektur oder Kritik von inferiorisierenden Zuschreibungen in Lehrwerken. Im weiteren Sinne würden zum Gegenstandsbereich dieser Lehrveranstaltung auch gute Unterrichtsmethoden der Vermittlung des Deutschen gehören – als Umsetzung und Nutzung der Vorteile der ›hegemonialen Position‹ als Lehrkraft im Sinne der KursteilnehmerInnen. Da jedoch zur Unterrichtsmethodik andere Lehrveranstaltungen zur Verfügung standen, wurde dieser Gegenstand aus dem dargestellten Seminar ausgelagert.
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Im Zuge der Arbeit wurde die migrationspädagogische Perspektive der »Differenzfreundlichkeit und Zuschreibungsreflexivität« (Mecheril 2010) als mögliches Prinzip einer Zugehörigkeiten nicht dethematisierenden, aber auch nicht zuschreibenden und fixierenden (erwachsenen-) pädagogischen Arbeit identifiziert.
6. F a zit Das akademische Fach ›Deutsch als Zweitsprache‹ ist ein Beispiel für die Studienfächer, die in gesellschaftliche und politische Diskurse stark eingewoben sind. Die dargestellten Lehrkonzepte sollen es ermöglichen, als Lehrende/r durch theoriegeleitete Perspektiven Studierenden ein explizit positioniertes (z.B. hegemoniekritisches) Lehrangebot zu machen, mit dem sie sich reflexiv zu den Verhältnissen in Beziehung setzen und Handlungsperspektiven einer Veränderung der diskursiven Positionierungsoptionen im Rahmen ihrer zukünftigen (antizipierten) Möglichkeiten ausloten. Nicht zuletzt sei auf ein Curriculum für die Erwachsenenbildung DaZ verwiesen, das von der Migrantinnenselbstorganisation maiz in Linz in Zusammenarbeit mit den Universitäten Innsbruck und Wien entwickelt wurde. Grundlage dieses Curriculums sind reflexive und gesellschaftskritische Zugänge zur Erwachsenenbildung im Bereich ›Deutsch als Zweitsprache‹ (maiz 2014).
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Von »StaatsbürgerInnen« zu »Regierenden« Philosophieren um die Macht Thomas Stölner, Senad Lacevic »›There’s class warfare, all right‹, Mr. Buffett said, ›but it’s my class, the rich class, that’s making war, and we’re winning‹.« (Stein 2006)
In kaum einer seriösen Tageszeitung werden wir noch vom Klassenkampf lesen. Die Benutzung dieser Vokabel gilt als anstößig und wird als überholt begriffen. Im Allgemeinen sehen wir den Klassenkampf als überwunden und als Auseinandersetzung vergangener Jahrhunderte an. Vermeintlich neutralere Begriffe wie »Globalisierung« haben ihren Platz eingenommen. An einem Begriff wie dem der Globalisierung fällt es jedoch ungleich schwerer, eine direkte Auseinandersetzung zwischen armen und reichen Menschen oder gar der Bereicherung einer Klasse auf Kosten vieler anderer herauszuhören. Wie hat es nun »die Klasse der Reichen« geschafft, die öffentliche Meinung so zu besetzen, dass es anstößig wirkt, den Begriff »Klassenkampf«1 überhaupt zu gebrauchen? Macht bezeichnet die »Möglichkeit, Wirkungen hervorzubringen« (Gerhardt 1995: 340). Sollte es eine Klasse der Reichen geben, wie Warren Buffet es vermutet, besitzt sie offenbar die Macht die Wirkung hervorzubringen, dass kaum mehr über sie, ihre Interessen, die Durchsetzung ihrer Interessen, die Namen ihrer ProtagonistInnen und ihre zunehmende Macht öffentlich ein demokratischer Diskurs geführt wird. Im Folgenden soll mithilfe der Überlegungen Antonio Gramscis der Frage nachgegangen werden, worin die Hegemonie der herrschenden Klasse besteht. Ferner soll überlegt werden, 1 | Diese Frage gilt unseres Erachtens unabhängig davon, ob es sinnvoll ist, mit diesem Begriff zu operieren.
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wie in einem demokratischen Gemeinwesen stattdessen über Grundfragen des Zusammenlebens nachgedacht und verhandelt werden kann. Das Philosophieren kann auch in der pädagogischen Praxis einen wichtigen Beitrag zur Selbstermächtigung des Denkens und somit zur Utopie eines demokratischen Gemeinwesens, der/s mündigen Bürgerin/s leisten. Unsere pädagogische Arbeit, die wir im Rahmen von Hauptschulabschluss-Kursen an Wiener Volkshochschulen leisten2, soll über das Philosophieren alle unsere KursteilnehmerInnen zur Teilnahme am politischen Diskurs befähigen. Es geht uns um die Unterstützung der Emanzipation unserer TeilnehmerInnen, darum, ihnen Werkzeuge an die Hand zu geben, am politischen Leben und gesellschaftlichen Diskursen – trotz ihrer marginalisierten Position – teilzunehmen. Vor der Präsentation unseres Lösungsvorschlages, Demokratie ernst zu nehmen, weil alle Menschen selbst denken können und also PhilosophInnen sind, soll jedoch im Anschluss an Gramsci untersucht werden, wie es der »Klasse der Reichen« nach Gramsci gelungen ist und gelingt, ihre Macht zu behaupten und ihre Interessen durchzusetzen. Wer hat in der letzten Zeit etwas von einem Klassenkampf gehört oder gelesen? Man ist versucht, diesen Begriff im historischen Wörterbuch der Philosophie nachzuschlagen, oder soll man doch lieber den Fremdwörterduden bemühen? Ist es überhaupt zeitgemäß, von »Klassenkampf« zu sprechen? Wir dachten, dass wir in einer Demokratie leben. Wer soll denn da gegeneinander kämpfen? Schließlich haben es sich die Angehörigen der »reichen Klasse«, die es in den Industriegesellschaften gibt, in einer Demokratie sicherlich verdient, dass sie mehr haben als andere. Ausgehend von Gramscis Erstaunen über das Scheitern der Revolutionen in Deutschland und Italien nach dem Ersten Weltkrieg und dem Gelingen derselben in Russland gelangen wir mit ihm auf die Begriffe »Zivilgesellschaft« und »Staat«. Über diese beiden Institutionen organisiert sich, so Gramsci, die herrschende Klasse ihre »Hegemonie«. Dafür braucht sie jedoch »Intellektuelle« als GehilfInnen, die den Alltagsverstand der 2 | Wir philosophieren mit Jugendlichen im Rahmen von Kursmaßnahmen der Wiener Volkshochschulen, die den externen Erwerb eines Hauptschulabschlusses und seit einem Jahr den Erwerb des Pflichtschulabschlusses (= positiver Abschluss der 8. und 9. Schulstufe) zum Ziel haben. Die Jugendlichen, die zu uns kommen, leben erst seit kurzem in Wien und stammen meist auch aus bildungsbenachteiligten Schichten.
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Menschen nach ihrem Sinne beeinflussen. Da aber jeder Mensch denken kann und einE PhilosophIn ist, so Gramscis Argumentation, kann mithilfe des Philosophierens die Selbstermächtigung eines jeden Menschen ins Werk gesetzt werden. So kann die Bedingung der Möglichkeit der Demokratie, nämlich der mündige Mensch, in die Lage gebracht werden, selbst sein Schicksal zu wählen und unter Umständen von dem/der »StaatsbürgerIn« zum/zur »Regierenden« werden.
Z ivilgesellschaf t und H egemonie Für Gramsci war eine Revision der Philosophie Marx’ angebracht, da sich die Revolutionen in Italien in den Jahren 1919-1920 und Deutschland 1918-1919 nicht so entwickelten, wie die russischen 1917. Gründe dafür sah Gramsci in der im Vergleich zu Russland in Italien und Deutschland weiter entwickelten Zivilgesellschaft: »Im Osten war der Staat alles, die Zivilgesellschaft 3 war in ihren Anfängen und gallertenhaft; im Westen bestand zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein richtiges Verhältnis, und beim Wanken des Staates gewahrte man sogleich eine robuste Struktur der Zivilgesellschaft. Der Staat war nur ein vorgeschobener Schützengraben, hinter welchem sich eine robuste Kette von Festungen und Kasematten befand.« (Gramsci 1991-2002: B4, H7, §16, 873-4)
War der Staat im Osten einmal entmachtet, war nur mehr wenig von der die Monarchie stützenden Struktur übrig, um die Macht zurückzuerobern. So gelang es Lenin und seinen AnhängerInnen, die eroberte Macht zu erhalten, was den RevolutionärInnen in Deutschland, Italien und auch den AnarchistInnen in Spanien nicht gelang. Denn es konnte auf keine weiteren »Festungen und Kasematten« innerhalb der russischen Gesellschaft zurückgegriffen werden. Woraus bestanden nun die Festungsanlagen der herrschenden Klassen? Entscheidend war die Hege3 | »Zivilgesellschaft« bezeichnet die Gesamtheit jener »Organismen«, »wodurch »die herrschende Gruppe in der gesamten Gesellschaft« Hegemonie ausübt. Dazu zählt er etwa bürgerliche Parteien, die Kirche, Vereine, Schulen bzw. Universitäten, Medien und sogar Gewerkschaften« (Gruppe Perspektiven 2007). Weiter unten gehe ich noch ausführlich auf Gramscis Begriff der »Zivilgesellschaft« ein.
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monie, gemeinhin mit »Vorherrschaft« übersetzt, die die Herrschenden ausübten und über die sie die Regierten kontrollierten. Terry Eagleton, ein marxistischer Literaturwissenschaftler, bestimmt Hegemonie im Gramsci’schen Sinne »als eine ganze Reihe praktischer Strategien […], durch die eine herrschende Macht den von ihr Regierten Zustimmung entlockt« (Eagleton 2000: 137). Hegemonie stellt eine vielschichtige Vorgehensweise dar, die teils bewusst, teils unbewusst angewendet wird, um die Unterstützung der Beherrschten zu erreichen. Zu dieser »ideologischen Struktur« der Vorherrschaft gehören nicht nur die Presse als der »dynamischste Teil«, sondern: »all das, was die öffentliche Meinung direkt oder indirekt beeinflusst oder beeinflussen kann […]: die Bibliotheken, die Schulen, die Zirkel und Clubs unterschiedlicher Art, bis hin zur Architektur, zur Anlage der Straßen und zu den Namen derselben« (Gramsci 1991-2002: B2, H3, §49, 373). All dies »prägt und strukturiert das Leben der Bevölkerung, indem durch sie Vorstellungen davon, was richtig oder falsch, möglich oder unmöglich, erwünscht oder unerwünscht ist, produziert und reproduziert werden« (Gruppe Perspektiven 2007). So zwingt die Hegemonie auf unzähligen Wegen und meist unsichtbar den Beherrschten Denk- und Handlungsweisen auf, die dadurch zu alltäglicher Praxis gerinnen. »In der Tat handelt es sich nicht um eine ›analytische‹ Erziehung, das heißt um eine ›Unterweisung‹, um ein Speichern von Begriffen, sondern um eine ›synthetische‹ Erziehung, um die Verbreitung einer Weltauffassung, die zur Lebensnorm geworden ist.« (Gramsci 2004: 52)4 Gramsci lässt keinen Zweifel daran, »daß eine Klasse auf zweierlei Weise herrschend ist, 4 | Gramsci bezieht sich hier auf Kants Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen: »In analytischen Urteilen wird nur expliziert, was im Subjektbegriff enthalten ist, z.B. im Urteil »alle Körper sind ausgedehnt« ist das Prädikat »ausgedehnt bereits im Subjektbegriff »Körper« enthalten. Solche Urteile haben nur begriffsauflösenden Charakter, ohne unsere Erkenntnis zu erweitern. Ihre Wahrheit kann nach dem Satz des Widerspruchs bestimmt werden: »Da das Prädikat eines bejahenden Urteils schon im Begriff des Subjekts enthalten ist, kann es von ihm nicht ohne Widerspruch verneint werden. Synthetische Urteile sind dagegen begriffs- und erkenntniserweiternd, da sie dem Subjektbegriff ein neues Prädikat hinzufügen (aufgrund von empirischer Erfahrung) – deren Wahrheitswert hängt von empirischen Tatsachen ab.« (Prechtl 1995: 32) Im Sinn Gramscis auf Erziehung angewendet bedeutet das, dass in der Hegemonie die Menschen so erzogen werden, dass ihrer Erkenntnis ein Sachverhalt so hinzugefügt wird, dass er
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nämlich »führend« und »herrschend«. Sie ist führend gegenüber den verbündeten Klassen und herrschend gegenüber den gegnerischen Klassen. Deswegen kann eine Klasse bereits bevor sie an die Macht kommt »führend« sein (und muss es sein): wenn sie an der Macht ist, wird sie herrschend, bleibt aber auch weiterhin »führend« (Gramsci 1991-2002: B1, H1, §44, 101). Das Verhältnis der Macht zeigt sich somit als ein dialektisches. Der Machterhalt gelingt nur, wenn er sich aus den Polen Führung und Herrschaft speist, wobei die Führung der sozusagen physisch sanfte Herrschaftsteil ist, der durch die Herstellung von Konsens (die Führung mit Zustimmung) herbeigeführt wird, und der herrschende Teil durch Zwang ausgeübt wird. Den Erfolg gewährleistenden Teil stellt jedoch die führende Komponente dar, indem sie die wesentlichen Teile der Gesellschaft in ihre Hegemonie integriert, sie werden gleichsam »aufgesogen« (ebd.: B1, H1, §44, 101). Die Hegemonie über Führung ist entscheidend, da sie die Zustimmung der Beherrschten zum System der Herrschenden produziert. Nach Gramsci spielt die »Presse«5 bei diesem Prozess eine entscheidende Rolle. Wie relevant seine Analyse auch in der Gegenwart ist, lässt sich am Beispiel des Privatfernsehens zeigen. In Deutschland waren es nicht die fortschrittlicheren Parteien, die den vormals staatlichen und darum zumindest in Maßen der Aufklärung verpflichteten Bereich des öffentlichen Rundfunks und Fernsehens, den »dynamischsten Teil« der Hegemonie privatisierten, sondern die konservativen. Das war kein Versehen, sondern entsprang einem Wissen darum, was man macht und produziert: »Der Wurm muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler.« (u.a. Mangold 2010) So äußerte sich Helmut Thoma, einer der Begründer des Privatfernsehens in Deutschlands und von 1984 bis 1998 Geschäftsführer von RTL, wiederholt über das von ihm gestaltete Fernsehprogramm, das er wohl für sich und seinesgleichen aufgrund der vermutlich geringen Qualität kaum die Zeit zu konsumieren hatte, und als Mensch von für sich zu viel angenommener vorhandener Intelligenz wohl auch nicht die Absicht dazu hatte. Es ist seiner Ansicht wohl ausreichend, dass es die Menschen konsumieren, zu deren Manipulation es gemacht wird. Es dürfte in seiner Metapher auch keine Frage darüber bestehen, wer der Angler ist und mit der hegemonialen Macht zupasskommt. Die Denkweisen werden derart gestaltet, dass das hinzukommende Neue sie in die »richtige« Richtung »führt«. 5 | Heutzutage dürften wohl alle Medien unter diesen Begriff fallen.
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welchen Mitteln der Erfolg des Fanges am besten erreicht wird. Dieses Bild vermittelt auch eine Vorstellung der Distanz, die zwischen den oberen und unteren Klassen besteht. Wie kommt schließlich ein Mensch, der ein Angler nun einmal ist, dazu, das Gleiche zu essen wie ein einfacher Fisch? Diese Haltung könnte man auch als Verachtung beschreiben, die Angehörige der Medienmaschinerie gegenüber ihren »KundInnen« entgegenbringen. Es sei noch ein wesentliches Element erwähnt, das nach Gramsci der herrschenden Klasse dazu dient, den ihr beipflichtenden Konsens zu erlangen. »[D]ies ist die Funktion des Rechts im Staat und in der Gesellschaft; durch das »Recht« homogenisiert der Staat die herrschende Gruppe und sucht einen gesellschaftlichen Konformismus zu schaffen, welcher der Entwicklungslinie der führenden Gruppe nützlich ist.« (Gramsci 2004: 52-53) Im Recht geschieht das auf doppelte Weise: Zum einen zwingt das positive Recht ein bestimmtes Verhalten ab, zum anderen führt es zur »›spontan und frei gebilligte[n]‹ Übereinstimmung« (ebd., Hervorh. im Original). Diese »spontane und freie« Übereinstimmung entsteht durch das Recht in der öffentlichen Meinung und in der Meinung des moralischen Umfelds. Als Erscheinungsort dieser Verhaltensvorgaben weist Gramsci vor allem auf »die erklärenden und kommentierten (erzieherischen) Zirkulare« der Jurisprudenz hin (ebd.: 53). In diesen Ausführungen Gramscis zur Funktion des Rechts wird deutlich, dass sich die Herrschenden nicht auf die Zivilgesellschaft beschränken, um zu »führen«, sondern sich auch der Mittel des Staates (des Rechts) bedienen, um Konsens herzustellen. Es sind also nach Gramsci sowohl staatliche als auch auf die Zivilgesellschaft gerichtete Mittel, die zur Stabilisierung der Hegemonie beitragen. Gramsci trennt in seiner »Doppelperspektive« analytisch dennoch zwischen Staat und Zivilgesellschaft, um zu zeigen, warum es gerade in westlichen Gesellschaften so selten zu Zwangsmaßnahmen der herrschenden Klasse kommt und kommen muss. Denn das Spielfeld des Kampfes um die Hegemonie ist nicht in erster Linie der nach wie vor Zwang ausübende Staat, sondern die Zivilgesellschaft, in der es um die Erheischung von Konsens geht. Damit ergibt sich für Gramsci folgende Gleichung: »Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang.« (Gramsci 1991-2002: B4, H6, §88, S783)
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D ie R olle der I ntellek tuellen Unsere bisherige Darstellung von Gramscis Untersuchungen, wie es den Herrschenden gelingt, bei den Beherrschten ihre Denk- und Verhaltensweisen anzubringen, diente vor allem der Klärung des Phänomens der Herstellung von Hegemonie. Doch wer setzt die Hegemonie konkret durch? In der Darstellung Gramscis kommt diese Funktion hauptsächlich den »Intellektuellen« zu. Wer oder was sind aber nun »Intellektuelle«? Auf der einen Seite betont Gramsci, dass jeder Mensch über geistige Fähigkeiten verfügt und diese auch ausübt. Eine Einteilung in Menschen, die Intellektuelle sind und andere, die das nicht sind, ist ihm zufolge nicht gerechtfertigt. Entscheidend sei vielmehr, dass »Arbeit unter bestimmten Bedingungen und in bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen« ausgeübt wird (Gramsci 2004:64). In dieser Hinsicht sind Intellektuelle für Gramsci die Funktionäre der Superstrukturen6, sowohl der politischen als auch der Zivilgesellschaft. Für die Funktion der Intellektuellen lässt Gramsci keinen Zweifel aufkommen: »Die Intellektuellen sind die »Gehilfen« der herrschenden Gruppe bei der Ausübung der subalternen Funktionen der gesellschaftlichen Hegemonie und der politischen Regierung.« Das geschieht auf zweifache Weise. Zum einen stimmen die großen Massen der Bevölkerung der von der herrschenden Gruppe geprägten Ausrichtung des gesellschaftlichen Lebens zu. Sie geben im Sprachgebrauch Gramscis ihren Konsens zur Meinung der Herrschenden, einen »Konsens […], der ›historisch‹ aus dem Prestige (und folglich aus dem Vertrauen) hervorgeht, das der herrschenden Gruppe aus ihrer Stellung und ihrer Funktion in der Welt der Produktion erwächst«. Zum anderen sind sie die Gehilfen »des staatlichen Zwangsapparats, der ›legal‹ die Disziplin derjenigen Gruppen gewährleistet, die weder aktiv noch passiv ›zustimmen‹, der aber für die gesamte Gesellschaft in der Voraussicht von Krisenmomenten im Kommando und in der Führung, in denen der spontane Konsens schwindet, eingerichtet ist« (ebd.: 66). Die Intellektuellen üben somit ihre Hilfsfunktion sowohl im Bereich der Hegemonie durch Führung und Herstellung von Konsens aus als auch im Bereich staatlicher Herrschaft über Zwang. Sie sind die entscheidenden Personen, ohne die sich keine Macht erringen oder erhalten ließe. Im Kampf um die Hegemonie unterscheidet Gramsci 6 | Gramsci fasst politische Gesellschaft und Zivilgesellschaft als »Superstrukturen« zusammen.
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zwei Arten von Intellektuellen7: zum einen die »organischen« und zum anderen die »traditionellen« Intellektuellen (ebd.: 61-62). Die organischen Intellektuellen erwachsen jeder grundlegenden Gesellschaftsgruppe, d.h. jede gesellschaftliche Gruppe bringt ihre eigenen Intellektuellen hervor, die sich ihrer Gruppe bzw. Klasse auch zugehörig fühlen, während sogenannte traditionelle Intellektuelle eine bestehende Ordnung bei Führung und Zwang unterstützen (ebd.: 62). Versucht nun eine nicht hegemoniale Gruppe, die Hegemonie zu erringen, spielen nach Gramsci organische Intellektuelle hierbei eine zentrale unterstützende Rolle. Als beispielsweise das Bürgertum seinen Aufstieg nahm, brachte es seine organischen Intellektuellen hervor: PhilosophInnen, ÖkonomInnen, NaturwissenschaftlerInnen usw. Diese wiederum brachten von der Reformation bis zur Aufklärung Ideologien hervor, »die Massen begeisterten« (Klein 2013), und unterstützen so die aufstrebende Gruppe der Bourgeoisie in der Herstellung von Konsens. Ohne organische Intellektuelle könnte demnach eine Gruppe keine Hegemonie erreichen. Die Gruppe der Bauern, die nach Gramsci (2004: 62) keine organischen Intellektuellen entstehen ließ, konnte daher historisch nie die Führung übernehmen. Der Kampf jeder Gruppe um die Herrschaft »ist ihr Kampf um die Assimilierung und ›ideologischen‹ Eroberung der traditionellen Intellektuellen, eine Assimilierung, die umso schneller und wirksamer ist, je mehr die gegebene Gruppe gleichzeitig ihre eigenen organischen Intellektuellen heranbildet« (ebd.: 64), wobei die Assimilierung der traditionellen Intellektuellen zur Folge hat, dass die Kontinuität in der Herrschaft gewahrt bleibt. Laut Gramsci können demnach die bestehenden Demokratien nicht ohne Herrschaft gedacht werden. Nun trat die Demokratie zumindest mit dem Anspruch an, dass ihrem Wortlaut nach die Herrschaft von der Bevölkerung ausgeht und nicht von den Fürsten, einem König, einer Kaiserin oder sonstigen Gruppen. Alle sollen mitbestimmen können. Von allen soll die Macht ausgehen. Allerdings wird sie in den meisten Fällen an PolitikerInnen delegiert, die theoretisch nicht irgendwelchen Lobbygruppen oder dem Geldadel, sondern dem Allgemeinwohl verpflichtet sein sollten. Für die Auswahl der InteressensvertreterInnen vertraut man auf die Mündig7 | Gramsci trifft noch die Unterscheidung zwischen »städtischen« und »ländlichen« Intellektuellen, aber diese, meinte er, sei nicht zentral für die Erklärung der Erringung von Hegemonie, sondern lediglich relevant für die Stellung der verschiedenen Intellektuellen (Gramsci 2004: 67-69).
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keit der BürgerInnen. Dies ist die Utopie der Demokratie: dass jedeR in der Lage ist, selbst zu denken und basierend auf dieser Urteilskraft eine Wahl trifft. Ein anderer Pfeiler dieser Demokratieauffassung sind die Menschenrechte. Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte formuliert in Artikel 1: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.« (Vereinte Nationen 1948: 2) Dazu kann es nur notwendig sein, dass der Versuch unternommen wird, unsere Gesellschaften zu demokratisieren, nicht so, »dass ein Handlanger Facharbeiter wird, sondern dass jeder ›Staatsbürger‹ ›Regierender‹ werden kann und dass die Gesellschaft ihn, sei es auch nur ›abstrakt‹, in die allgemeine Lage versetzt, es werden zu können« (Gramsci 2004: 187). »Sapere aude« richtete Kant an seine MitbürgerInnen. Dabei übersah er jedoch die Verhältnisse, wie sie sich für Gramsci und Warren Buffet darstellen. Wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass die herrschende Klasse die »Klasse der Reichen« ist, die den Klassenkampf führt und ihn gewinnt, wie Warren Buffet 2006 meinte, wie kann man die Macht der hegemonialen Klasse überwinden8 – oder zu einem solidarischen Miteinander gelangen? Das Philosophieren in der pädagogischen Praxis, wie wir es im Folgenden vorschlagen möchten, könnte einen Möglichkeitsraum herstellen, der zweierlei gewährleistet: die Mündigkeit jedes Menschen und einen Raum, Gemeinsamkeiten wenn nicht zu sehen, dann vielleicht herzustellen.
P hilosophieren als P r ak tik Wie kann nun jedeR StaatsbürgerIn RegierendeR werden? Wie soll ein Mensch die ihn »führenden« und auf ihn »Zwang« ausübenden Verhältnisse überwinden? Wir haben oben gesehen, dass sich die Hegemonie über synthetische Erziehung im Bewusstsein der Menschen entfaltet. Es gelingt den herrschenden Klassen, synthetisch über ihre Apparate an bereits bestehende Inhalte im Bewusstsein der Menschen der subalternen 8 | Eine weitere Möglichkeit wäre es, die Formulierung der Menschenrechte ernst zu nehmen und den Geist der Brüderlichkeit/Schwesterlichkeit versuchen, in die Tat umzusetzen, zu einem solidarischen Miteinander zu kommen. Da aber die herrschende Klasse in erster Linie die Spielregeln macht, dürfte diesen Ansatz zu verfolgen eher weniger Erfolg beschieden sein.
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Klassen anzuknüpfen oder neue hinzuzufügen. Aber an das Bewusstsein der Menschen sind ebenso gut andere Inhalte anknüpf bar, da sich in ihren Bewusstseinen »auseinander fallende, inkohärente, inkonsequente Auffassung[en]« finden (ebd.: 132). Diese Art Bewusstsein nennt Gramsci »Alltagsverstand« (»senso commune«; ebd.: 103). »Dass der Alltagsverstand ein widersprüchliches Bewusstsein ist und bürgerliche Hegemonie nicht bloß gleichgeschaltete Lemminge produziert, liegt daran, dass sich im Alltagsverstand auch konkrete Erfahrungen aus den Lebensrealitäten einer ausgebeuteten Klasse ablagern. Erniedrigungen am Arbeitsplatz oder in Ausbildungsstätten, niedrige Löhne bei langen Arbeitstagen oder geistige Abstumpfung durch ewig gleiche, monotone Arbeitsschritte gehören dazu ebenso wie Erfahrungen der Solidarität, Elementen von Selbstorganisation (und sei es nur im Freizeitverein) oder Traditionen von Gemeinschaftlichkeit.« (Gruppe Perspektiven 2007)
Diesen Teil des Alltagverstandes, der über die bürgerliche Hegemonie hinausweist, nennt Gramsci »buon senso«. Diese im Alltagsverstand bestehenden Widersprüche9 können von allen Menschen erfasst und systematisch erkannt werden. Gramsci betont an vielen Stellen die positive Wirkung der Systematisierung und Kohärenz (u.a. Gramsci 2004: 99, 103). Diese können über das Denken, insbesondere über das Philosophieren hergestellt werden, denn »es ist kein Mensch denkbar, der nicht auch Philosoph ist, der nicht auch denkt, eben weil das Denken zum Menschen als solchem gehört« (ebd.: 61). So gesehen sind alle Menschen PhilosophenInnen und haben über dieses Mittel die Möglichkeit, »die eigene Weltauffassung bewusst und kritisch auszuarbeiten und folglich, im Zusammenhang mit dieser Anstrengung des eigenen Gehirns, die eigene Tätigkeitssphäre zu wählen, an der Hervorbringung der Weltgeschichte aktiv teilzunehmen, Führer seiner selbst zu sein und sich nicht einfach passiv und hinterrücks der eigenen Persönlichkeit von außen den Stempel aufdrücken zu lassen« (ebd.: 97). Mit Gramsci gesprochen ist es also möglich, über gemeinsames Philosophieren die Utopie der Demokratie, die Mündigkeit aller BürgerInnen zu erreichen. Diese Grundlagen ernst 9 | Man muss die Widersprüche im Alltagsverstand auch bei manchen Herrschenden annehmen, da gar mancher von ihnen als Intellektueller für die Subalternen arbeitete. Insofern gilt die Möglichkeit der Annahme oder die Durchsetzung des »buon senso« für alle.
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zu nehmen und aufzugreifen versuchten wir gemeinsam mit unseren TeilnehmerInnen. Im Folgenden soll das Philosophieren als ein pädagogisches Angebot dargestellt werden, wie Subalterne ihre angeborenen Fähigkeiten als PhilosophInnen ausüben können.
E rste V ersuche des P hilosophierens Was bedeuten Gramscis Überlegungen rund hundert Jahre später in der konkreten pädagogischen Arbeit mit Jugendlichen? Der Ausgangspunkt war nicht zwingend die Schaffung von Intellektuellen der ArbeiterInnenklasse, sondern die Befähigung zur Teilnahme am politischen Diskurs. Es ging uns um die Unterstützung der Emanzipation unserer TeilnehmerInnen, ihnen Werkzeuge in die Hand zu geben, am politischen Leben und an gesellschaftlichen Diskursen – trotz ihrer marginalisierten Position – teilzunehmen. Diese marginalisierte und damit benachteiligte Position entsteht aus einer Mischung unterschiedlicher Faktoren. Die TeilnehmerInnen in den Kursangeboten haben zumeist gar keine bis wenig schulische Vorbildung, sind damit de facto vom Arbeitsmarkt und damit von gesellschaftlicher Teilhabe auch im ökonomischen Bereich Österreichs ausgeschlossen. Darüber hinaus kann sich ein Teil von ihnen aufgrund diverser Benachteiligungen entlang nationalstaatlicher Entscheide ihre Staatsangehörigkeit betreffend, zumindest vorerst, an formalen politischen Prozessen nicht beteiligen (Wahlen, Volksbefragungen, Volksbegehren). Aus dieser Situation heraus ist es schwierig, eigene Interessen, Positionen und Anliegen in eine gesellschaftliche Auseinandersetzung einzubringen. Damit standen wir im Rahmen von Kursen zum Pflichtschulabschluss und in den Basisbildungsklassen an den Wiener Volkshochschulen vor der Frage, wie wir es den TeilnehmerInnen ermöglichen, ihre Meinung zu verschiedenen philosophischen Themen auszudrücken, vor anderen verteidigen und reflektieren zu können. Wir gingen und gehen nach wie vor davon aus, dass philosophische Fragestellungen jeden Menschen berühren und sich alle von uns Fragen nach dem Sinn des Lebens etc. stellen und/oder gestellt haben. Wir haben am Anfang verschiedene Methoden ausprobiert und waren damit nur mäßig erfolgreich. Unter anderem sprachen wir im Rahmen des Deutschunterrichts über das Thema Glück. Es ging um Fragestellungen wie z.B.: »Was ist Glück?«, »Was macht glücklich?«, »Kann man Glück beeinflussen?« etc.
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Wir scheiterten mit diesem Versuch allerdings, da uns die Methoden fehlten, mit unseren TeilnehmerInnen philosophische Gespräche zu führen. Die TeilnehmerInnen, die in den Wiener Volkshochschulen den Pflichtschulabschlusslehrgang10 besuchen, sind Jugendliche und junge Erwachsene, die ihre Schulpflicht vollendet haben, meist um die 18 Jahre alt. Sie sind entweder in Österreich in die Schule gegangen und im ersten Bildungsweg gescheitert, oder sind sogenannte SeiteneinsteigerInnen, die im schulpflichtigen Alter nach Österreich gekommen sind, aber aufgrund ihrer Deutschkenntnisse keinen positiven Pflichtschulabschluss erreicht haben. Dazu kommen noch Jugendliche, die aus Ländern kommen, in denen sie kaum oder gar nicht die Möglichkeit hatten, die Schule zu besuchen. Diese Jugendlichen durchlaufen in Österreich zuerst die Basisbildung11 und kommen dann in den Pflichtschulabschlusslehrgang. Auch die Deutschkenntnisse der TeilnehmerInnen sind sehr unterschiedlich. Sie variieren in den unterschiedlichen Fertigkeiten (Hören, Lesen, Schreiben, Sprechen) zwischen A2 nach dem europäischen Referenzrahmen (A2 heißt, sich sprachlich im Alltag zurechtzufinden) und Deutsch als Erstsprache. »Erstsprache« meint dabei aber nicht eine als »perfekt« angesehene Sprachbeherrschung. Auch hier unterscheiden sich die TeilnehmerInnen, was die Ausdrucksfähigkeit in den vier Fertigkeiten (Hören, Lesen, Schreiben, Sprechen) betrifft. Die Gruppen in den Lehrgängen sind also, sowohl was schulische Erfahrungen als auch was Deutschkenntnisse angeht, sehr heterogen. Unabhängig vom jeweiligen Kenntnisstand kann Sprache auch dazu dienen, Menschen von gesellschaftlicher Partizipation auszuschließen (Bourdieu 2012 [1990]). Die Befähigung politische Diskurse zu führen reicht über die bloße alltägliche Sprachbeherrschung weit hinaus. Sich trotz dieser machtvoll hergestellten Differenz an gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen zu beteiligen, ist eines der Ziele des Philosophierens. Dabei zielen wir darauf 10 | Mit dem Philosophieren decken wir, gerade was die Bildungsstandards angeht, nicht nur in Deutsch, sondern auch in allen anderen Fächern die geforderten Kompetenzen, die in den entsprechenden Deskriptoren formuliert sind, ab. Zum Beispiel gibt ein Deskriptor als Ziel an: »Schüler/innen können die Sprechhaltungen Erzählen, Informieren, Argumentieren und Appellieren einsetzen.« (BIFIE o.J.) Für die Erreichung dieses Zieles eignet sich das Philosophieren in optimaler Weise. 11 | Die Basisbildung umfasst auch Lehrgänge und Kurse zum Erlernen der deutschen Sprache, in denen inzwischen auch mit den Jugendlichen philosophiert wird.
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ab, den TeilnehmerInnen die Angst vor vermeintlich »schwierigen« Begriffen zu nehmen und ihnen Instrumente an die Hand zu geben, eigene Standpunkte, Haltungen und Meinungen zu artikulieren und zu begründen. Es ist ihre eigene Alltagserfahrung – die geprägt ist von ihrer sozialen Herkunft – die sie grundsätzlich dazu befähigt. Dafür eine Sprache zu finden ist Teil des Philosophieunterrichts.
A usbildung in der G espr ächsmoder ation Auf der Suche nach geeigneten Methoden stießen wir auf die Akademie »Kinder philosophieren« in München. Nachdem wir dort eine Ausbildung zur Moderation philosophischer Gespräche absolvierten, modifizierten wir das gewonnene Wissen und die gewonnenen Fertigkeiten der Gesprächsmoderation in der Erstellung spezifischer Materialien für unsere Zielgruppe. Die Methode des Philosophierens mit Kindern kam uns dabei sehr entgegen, da sie mit Methoden arbeitete, in denen keine »perfekten« Kenntnisse der deutschen Sprache notwendig waren. Nach einem erfolgreich absolvierten Testlauf von zehn Unterrichtseinheiten in einer Klasse, boten wir das Philosophieren in jeder Klasse – zuerst an der VHS Ottakring, später auch an anderen Volkshochschulen – an. Im Folgenden sollen einige Grundlagen eines philosophischen Gesprächs und dessen Ablaufs geschildert werden (für Einführungen in die Methodik des Philosophierens siehe den von der Akademie »Kinder philosophieren« 2007 herausgegebenen Praxisleitfaden sowie Hidalgo/Rude/Wiesheu 2011).
W as ist ein philosophisches G espr äch ? »Bei einem philosophischen Gespräch in der Gruppe können Kinder, Jugendliche oder Erwachsene zu philosophischen Fragen (z.B. Was ist Gerechtigkeit? Was ist Glück? Was ist ein gelungenes Leben? …) ihre eigene Meinung äußern und in den Dialog mit Gleichaltrigen treten. Es werden dabei sprachliche, soziale und kognitive Kompetenzen (Ausdrucksfähigkeit, Argumentation, Diskussion in der Gruppe, Zuhören,…) angesprochen und weiterentwickelt.« (Lacevic 2014: 28)
Zusätzlich bietet das philosophische Gespräch den Jugendlichen die Möglichkeit, dass auch sie sich im Dialog mit anderen zu den Fragestellungen
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in der Gesellschaft eine Meinung bilden, diese verfestigen und auch im öffentlichen Diskurs vertreten können. Dabei sollen sie erleben, dass nicht egal ist, was sie denken, sondern dass sie gemeinsam mit anderen auch eine starke Stimme haben.
W as ist eine philosophische F r age ? Am Anfang des Philosophierens steht ein Staunen, ein Zweifeln oder einfach ein sich Wundern. Doch nicht jedes Staunen, jedes Zweifeln oder gar jede Frage ist eine philosophische Frage. Sich über die schnell verfliegende Zeit während des Unterrichts zu wundern, ist alleine noch kein philosophisches Staunen. Ein Thema für die Philosophie ist es, wenn es eine gewisse Allgemeinheit gewinnt, das heißt, wenn es jeden Menschen prinzipiell betrifft. Das Vergehen der Zeit ist ein philosophisches Thema, da wir alle sterblich sind und nur für eine begrenzte Zeitdauer als uns selbst bewusste Lebewesen existieren. Aber erst dann, wenn nicht nur eine Einzelwahrnehmung infrage steht, sondern die Wahrnehmung, dass Zeit für alle vergeht und daher – uns alle betreffend – thematisiert wird, ist das Thema Zeit ein philosophisches. Dabei werden nicht nur einzelne Fakten in Betracht gezogen, sondern es wird nach dem generellen Sinn und möglichen Bedeutungen gefragt. Die philosophische Frage ist zentral für das philosophische Gespräch. Sie dient den GesprächsleiterInnen als Orientierung durch das Gespräch. Zusätzlich zur Leitfrage können auch Impulsfragen gestellt werden, um einerseits das Gespräch am Laufen zu halten und andererseits über diese Fragen neue Aspekte zu dem Thema einzubringen.
W ie funk tioniert ein philosophisches G espr äch ? Der Einstieg in das Thema ist essenziell für das Gelingen eines philosophischen Gesprächs. Er sollte Interesse für die philosophische Frage wecken und idealerweise mehrere Blickwinkel auf das Thema bieten. Dazu eignen sich verschieden Medien (wie z.B. Film, Bilderbücher, kurze Texte …), oder auch Zitate, die in Kleingruppen diskutiert werden können (ein abgewandeltes World Café). Bei der Arbeit mit Jugendlichen, insbesondere, wenn manche Hemmungen haben, im Plenum frei zu sprechen, empfehlen sich Kleingruppen. Diese können in ihrer Zusammensetzung
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auch gelenkt sein. Man kann in einem solchen Fall als Gesprächsleitung die Meinungen von schüchterneren TeilnehmerInnen in Form von Fragen in das Plenum einbringen12. Die Aufgabe der Gesprächsleitung im Plenum ist es, durch Impulsfragen einerseits das Gespräch am Laufen zu halten und andererseits neue Blickwinkel auf die Fragestellung einzubringen. Wie stark das Gespräch strukturiert werden muss, hängt davon ab, mit welcher Zielgruppe philosophiert wird. Eine Strukturierung, die sich gerade am Anfang des Philosophierens mit einer neuen Gruppe als hilfreich erwiesen hat, ist der Gesprächsball. Wer sich zu Wort meldet, bekommt einen kleinen Ball, dieser wird nach der Wortmeldung zur Gesprächsleitung zurückgeworfen, die dann weitere Fragen und Perspektiven einbringen kann. Ziel ist es, dass eine Gesprächsmoderation irgendwann überflüssig wird und der/die GesprächsleiterIn sich als GesprächsteilnehmerIn einbringen kann. Diese Stufe erreichen wir mit unseren Gruppen nicht, aber es gelingt im Laufe eines Schuljahres, dass wir das Gespräch immer weniger strukturieren müssen. So können sich die Jugendlichen den Gesprächsball gegenseitig zuwerfen und auch die philosophischen Fragen selbst wählen. Je weiter man die Strukturierung aufgeben kann, desto selbstständiger und mündiger agieren die GesprächsteilnehmerInnen. Das Ziel kann auch als herrschaftsfreier Dialog nach Habermas (1981) angegeben werden. Die Selbsttätigkeit des Denkens, das im Gespräch mehr und mehr vernehmbar wird, ist ein bedeutender Indikator für den Erfolg eines philosophischen Gesprächs. So kann auch zunehmend von der leitenden Rolle in der Moderation abgegangen werden, da die Teilnehmenden diese immer mehr übernehmen. Nach dem Gespräch erfolgt dann eine Reflexion, die man z.B. in Form einer Daumenreflexion (Daumen hoch bedeutet gut, Daumen mittig bedeutet naja, Daumen runter bedeutet schlecht) durchführen kann. Wichtig ist, dass bei philosophischen Gesprächen klare Gesprächsregeln vereinbart werden und diese auch eingehalten werden. Die Gesprächsleitung 12 | Die Meinungen werden von uns deshalb als Fragen ins Plenum eingebracht, um die Person, die sie vorgebracht hat, unkenntlich zu lassen, und zum anderen deshalb, weil die Gesprächsleitung ihre Autorität nicht mit der Äußerung von Meinungen missbrauchen darf. Ihre Aufgabe besteht zuvorderst im Ermöglichen eines philosophischen Gesprächs und das gelingt mit Fragen erfahrungsgemäß am ehesten. Vor allem aus dem Grund, weil Fragen eine das Gespräch öffnende und auf die Teilnehmenden anregende Wirkung haben.
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muss dafür sorgen, dass alle ihre Meinung sagen können, dass niemand ausgelacht wird, und dass alle einander zuhören.
E rfolgsfak toren Die Methode des Philosophierens mit Kindern und Jugendlichen lässt sich sehr gut in den unterschiedlichsten Feldern der pädagogischen Arbeit einsetzen. Eine gewisse Regelmäßigkeit erhöht die Aussicht auf Erfolg. Je öfter man philosophische Gespräche durchführt, umso besser funktionieren sie in der Regel. Ebenfalls wichtig ist ein positives Klima in der Klasse. Gruppen, die sich auch sonst nicht zuhören und gegenseitig ins Wort fallen, tun das in der Regel auch im philosophischen Gespräch. Ganz besonders wichtig ist es, dass das Philosophieren vom Notendruck befreit wird. Auch die einzelnen inhaltlichen Wortmeldungen dürfen von der Gesprächsleitung nicht bewertet werden, auch wenn sie der eigenen Meinung widersprechen. Der/die ModeratorIn hat immer die Möglichkeit, mit Impulsfragen andere Blickwinkel auf das Thema einzubringen. Wichtig ist es ferner, sich nicht durch kleinere Rückschläge – die man in der pädagogischen Arbeit immer hat – entmutigen zu lassen.
Drei Beispiele Die folgenden Beispiele sollen einen Einblick in die Tätigkeit des gemeinsamen Philosophierens geben. In einer philosophischen Einheit zum Thema »Warum gibt es Kriege?« kam die Frage auf, wie es dazu kommen kann, dass Menschen aufeinander schießen, nur weil sie unterschiedlichen Gruppen angehören, und wie Kriegspropaganda funktioniert. Anhand von Beispielen aus verschiedenen Konflikten (sowie teilweise aus eigener Erfahrung) kristallisierte sich schließlich heraus, dass oft diejenigen, die am meisten für den Krieg hetzen, am wenigsten persönlich davon betroffen sind. Um es mit den Worten eines tschetschenischen Jugendlichen auszudrücken: »Während die Soldaten im Wald herumkriechen und aufeinander schießen, sitzen die [verfeindeten, Anm. T.S./S.L.] Präsidenten im Palast und essen miteinander.« Erkenntnisse wie diese mögen uns auf den ersten Blick banal erscheinen; bei der Evaluierung stellt sich jedoch regelmäßig heraus, dass die meisten der teilnehmenden Jugendlichen die behandelten Themen nach
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den Philosphiereinheiten im Freundeskreis und/oder der Familie weiterdiskutieren, also Denkprozesse in Gang gesetzt werden. Während einer philosophischen Einheit zum Thema »Was ist Liebe?« war sich die Klasse einig, dass die wichtigste Voraussetzung für eine Beziehung die inneren Werte sind. Einige waren sogar der Meinung, dass es für jeden Menschen einen perfekten Partner oder eine perfekte Partnerin gibt, der oder die darauf wartet, gefunden zu werden, bis eine Jugendliche von ihrem Exfreund berichtete, der zwar alle Kriterien erfüllte, sie aber aufgrund seiner äußeren Erscheinung gezwungen war, die Beziehung wieder zu beenden (»er war einfach schiach«) und sie vollstes Verständnis in der Klasse bekam. Erst danach konnte sich eine tiefergehende Diskussion darüber entwickeln, was tatsächlich die entscheidenden Faktoren für Liebe sind.
F reiheit – eine U nterrichtseinheit 13 Zu Beginn legten wir verschiedene Bilder in den Sesselkreis. Die Jugendlichen durften spazieren gehen, die Bilder anschauen, und sollten sich dabei überlegen, welches von ihnen für sie am ehesten Freiheit symbolisiert. Die Bilder zeigten einen Adler im Flug, ein wunderschönes Hotelzimmer, eine Friseurin bei der Arbeit, einen Führerschein, einen Pass, Geldscheine in dicken Bündeln auf einem Haufen, einen Haufen Goldbarren, köstlichstes Essen, einen Herbstwald, die Justitia, einen Löwen, ein Parlament, einen KFZ-Mechaniker bei der Arbeit, einen Sportwagen, einen Steg am Wasser, eine weiße Taube und ein leeres Blatt, das sie mit einem Bild ihrer Fantasie füllen konnten, falls sie keiner unserer Vorschläge ansprach. Nachdem sich alle ein Bild ausgesucht hatten, teilten wir ihnen ein Arbeitsblatt mit folgenden Fragen aus, mit der Bitte, sie schriftlich zu beantworten: »Woran denkst du bei Freiheit zuerst?«, »Warum bedeutet dieses Bild für dich Freiheit?«, »Was bedeutet Freiheit für dich?«, »Wie wichtig ist dir Freiheit?«, »Welche Voraussetzungen braucht Freiheit?«, »Wie wichtig ist es dir, deine Meinung frei sagen zu dürfen?« 13 | Da wir die philosophischen Einheiten nicht aufzeichnen, basiert die folgende Schilderung auf meinen Notizen und Erinnerungen, die Namen der SchülerInnen wurden von mir geändert (Anm. T.S.). Das Beispiel »Freiheit – eine Unterrichtseinheit« wurde unter Stölner (2013: 29) erstmals veröffentlicht.
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Reihum erzählte uns dann jedeR, warum er oder sie sich das und kein anderes Bild aussuchte. Jumeng zur Linken meines Co-Moderators Senad Lacevic fing an und meinte, dass sie sich für den Sonnenuntergang entschied, weil ein ruhiges Herz für sie Freiheit bedeute. Für Marta seien der See und die Wolken am ehesten Freiheit, da sich dort keine Menschen befänden und man allein sein könne. Der fliegende Adler, meinte Alina, sei für sie Freiheit, da er immer fliegen könne und ohne Grenzen unabhängig ist. Für Boran demonstrierte am ehesten der Pass Freiheit, weil er bedeute, dass man arbeiten und reisen könne. Der Sonnenuntergang war für Zaza ein Symbol, frei nachdenken zu können. Die Goldbarren und Geldbündel wurden noch genannt, aber nicht so dominant, wie es das anschließende Gespräch vermuten ließ. Alina fasste nach einigem Hin und Her den Reiz des Geldes dahingehend zusammen, dass man damit fast alles machen könne. Darauf wollte ich wissen, was man denn mit Geld nicht machen kann. Zaza antwortete: »Man braucht nicht jede Freiheit.« Ihm wurde von Boran erwidert, dass ihm die vielen, die das Geld ermöglichten, schon genug seien. Um die Gesprächsgrundlage des Freiheitsbegriffs begrifflich abzuklären, fragte Senad, was Freiheit ist. Zaza forderte umgehend den Wuschel und stellte eindeutig fest, dass Freiheit ein Gefühl sei, wobei er einschränkte, dass andere Gefühle das Freiheitsgefühl töten könnten. Sofort gingen einige Hände in die Höhe und wollten den Wuschel. Freiheit sei doch aber für alle etwas anderes, gab Alina zu bedenken. Emin schränkte ein, dass es allerdings etwas gäbe, das Freiheit nicht sein könne, etwa in einem Raum eingesperrt zu sein14. Diesen Einwurf griff Senad auf, um weitere Einschränkungen zum Freiheitsbegriff zu sammeln. Nach einer Weile warf Alina nachdenklich ein, ob Freiheit ohne Frieden überhaupt zu haben sei15. Darüber hinaus müsse man sorgenlos sein, ohne über etwas nachdenken zu müssen, meinte Zaza. Nachdem unser Gespräch dann hauptsächlich über Geld und Freiheit verlief, was Thema unserer nächsten Einheit sein sollte, stellte Alina noch die Frage in den Raum: »Kann es Freiheit geben, ohne zu verstehen?«
14 | Emin war zu dieser Zeit noch Freigänger, der für die Schulstunden bei uns aus der Haft entlassen wurde. 15 | Alina stammt aus Palästina und wuchs im Libanon auf. Dementsprechend musste sie Kriegs- und Flüchtlingserfahrungen machen.
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F a zit Abschließend ist zu sagen, dass der philosophische Unterricht keine identische Umsetzung der Philosophie Gramscis ist und es auch nicht sein soll. Trotzdem nehmen wir Anleihen an seinen Texten und versuchen, diese für subalterne Gruppen anzuwenden. Der Begriff des »Alltagsverstandes« sowie die Formierung von »organischen Intellektuellen« sind Denkanstöße, die in der pädagogischen Praxis tatsächlich von Bedeutung sein können. Der Kampf um die gesellschaftliche Hegemonie ist auch – fast hundert Jahre nach Gramsci – noch immer von zentraler Bedeutung, gerade für Menschen, die fernab von gesellschaftlicher Beteiligung stehen. Das Philosophieprojekt wird gesellschaftliche Machtverhältnisse nicht wirklich berühren. Was es aber kann, ist den TeilnehmerInnen neue Handlungsmöglichkeiten, Werkzeuge und damit Perspektiven zu erschließen. Das bedeutet für sie einen Machtzuwachs im Sinne der Mündigkeit, wie sie die Aufklärung von allem Anfang an als zentral für die conditio humana ansah. An diesem Ziel ist wider alle hegemoniale Macht von Gruppen festzuhalten, die versuchen, Bildung und Aufklärung nur den Angehörigen ihrer Klasse zuteil werden zu lassen. Gramsci kommt hierbei der Verdienst zu, die Widerstände auf diesem Weg benannt zu haben.
L iter atur Akademie Kinder philosophieren (Hg.) (2007): Praxisleitfaden Kinder philosophieren. Regensburg: Akademie Kinder philosophieren. BIFIE (o.J.): Bildungsstandards für Deutsch 8. Schulstufe. Online: https://www.bifie.at/system/files/dl/bist_d_sek1_kompetenzbereiche_d8_2011-01-02.pdf, abgerufen am 24.11.2014. Bourdieu, Pierre (²2012 [1990]): Was heißt sprechen? Zur Ökonomie des sprachlichen Tausches. Wien: Braumüller. Eagleton, Terry (2000): Ideologie. Eine Einführung. Stuttgart: Metzler. Gerhardt, Volker (1995): Macht. In: Prechtl/Burkard (Hg.): Metzler-Philosophie-Lexikon, S. 340-343. Gramsci, Antonio (2004): Erziehung und Bildung. Hamburg: Argument. Gramsci, Antonio (1991-2002): Gefängnishefte. In: Bochmann, Klaus/ Haug, Wolfgang Fritz (Hg.): Gramsci, Antonio: Gefängnishefte. 10 Bände. Hamburg: Argument.
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Gruppe Perspektiven (2007): Herrschaft durch Konsens. Macht und Politik bei Antonio Gramsci. In: Perspektiven. Magazin für linke Theorie und Praxis. Online: www.perspektiven-online.at/2007/09/01/herrschaft-durch-konsens-macht-und-politik-bei-antonio-gramsci/, abgerufen am 30.11.2014. Habermas, Jürgen (1981): Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Hidalgo, Oliver/Rude, Christophe/Wiesheu, Roswitha (Hg.) (2011): Gedanken teilen. Philosophieren in Schulen und Kindertagesstätten: Interdisziplinäre Voraussetzungen – Methodische Praxis – Implementation und Effekte (= Kinder philosophieren, Band 1). Berlin: LIT. Klein, Wolfram (2013): 75 Jahre nach seinem Tod: Die politischen Ideen Antonio Gramscis. In: sozialismus.info. Online: www.sozialismus. info/2013/04/75-jahre-nach-seinem-tod-die-politischen-ideen-vonantonio-gramsci/, abgerufen am 30.11.2014. Lacevic, Senad (2014): Was ist wertvoll? Philosophieren mit Kindern. In: Grobbauer, Heidi (Hg.): Aktion und Reflexion. Texte zur transdisziplinären Entwicklungsforschung und dialogischen Bildung. Heft 11. Wien/Salzburg: Komment, S. 28-29. Mangold, Iljoma (2010): »Mir wurde klar, dies ist nicht mein Leben.« Helmut Thoma über seine Lehre in einer Molkerei, die für ihn ein Schock war. In: Die Zeit vom 01.09.2010. Online: www.zeit.de/2010/36/Rettung-Helmut-Thoma/komplettansicht, abgerufen am 24.11.2014. Merkens, Andreas (2007): Die Regierten von den Regierenden intellektuell unabhängig machen. Gegenhegemonie, politische Bildung und Pädagogik bei Antonio Gramsci. In: Merkens, Andreas/Diaz, Victor Rego (Hg.): Mit Gramsci arbeiten. Texte zur politisch-praktischen Aneignung Antonio Gramscis. Hamburg: Argument, S. 157-174. Opratko, Benjamin (2013): Antonio Gramsci – Kampf um Hegemonie. Online: www.academia.edu/4296909/Antonio_Gramsci_Kampf_ um_Hegemonie, abgerufen am 30.11.2014. Prechtl, Peter/Burkard, Franz-Peter (Hg.): Metzler-Philosophie-Lexikon. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler. Prechtl, Peter (1995): Analytisch/synthetisch. In: Prechtl/Burkard (Hg.): Metzler-Philosophie-Lexikon, S. 32. Stein, Ben (2006): In Class Warfare, Guess Which Class Is Winning. In: New York Times vom 26.11.2006. Online: www.nytimes.
Von »StaatsbürgerInnen« zu »Regierenden«
com/2006/11/26/business/yourmoney/26every.html, abgerufen am 20.11.2014. Stölner, Thomas (2013): Philosophieren mit bildungsfernen Jugendlichen. In: Das Wort. Evangelische Beiträge zu Bildung und Unterricht 2/2013, S. 28-29. Vereinte Nationen (1948): Resolution der Generalversammlung 217 A (III). Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Online: www.un.org/ depts/german/menschenrechte/aemr.pdf, abgerufen am 01.12.2014.
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Kurzbiographien Autor*innen
Gülden Aygün-Sagdic, geboren 1972 in der Türkei, kam mit zwei Jahren nach Deutschland. Aufgewachsen auf der Ostalb. Nach dem Abitur Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin, 2010-2014 Sozialpädagogikstudium an der Hochschule Esslingen, mit Schwerpunkt Migrationsgesellschaft und Diskriminierung. Derzeit tätig beim Sozialdienst im Rems-Murr-Kreis. Ihr Engagement gilt besonders der gesellschaftlichen Sensibilisierung gegenüber struktureller Diskriminierung, die meist aus gesellschaftlich produzierten Machtverhältnissen resultiert. Oana Bajenaru, geboren 1988 in Constanta, Rumänien. Ein Jahr nach dem Eintritt Rumäniens in die EU als Au-Pair nach Deutschland ausgewandert. 2010-2014 studierte sie Soziale Arbeit an der Hochschule Esslingen. Derzeit Projektleitung im Bereich der Berufsausbildung in außerbetrieblichen Einrichtungen bei BBQ gGmbH (Berufliche Bildung Qualifikation); Unterstützung und Begleitung von Jugendlichen bei der Suche nach einer Ausbildung und während der Ausbildung, Rems-MurrKreis. Dr. phil. Hans-Joachim Bopst, *1951, nach Studium der Romanistik und Germanistik an den Universitäten München, Montpellier und Regensburg Promotion am DaF-Lehrstuhl der Universität München bei Prof. Harald Weinrich. DaF-Lehrtätigkeit an den Universitäten Bordeaux, Straßburg, Hamburg, München, Heidelberg. Seit 1992 wissenschaftlicher Angestellter am Arbeitsbereich Germanistik des Fachbereichs Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft (FTSK) Germersheim der Universität Mainz. Vorträge und Veröffentlichungen zu Sprachwissenschaft, Didaktik und Tourismus.
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Sprache und Bildung in Migrationsgesellschaf ten
Brigitta Busch ist Professorin für angewandte Sprachwissenschaft an der Universität Wien. 2012 Berta-Karlik-Professur zur Förderung exzellenter Wissenschafterinnen. Seit Beginn der akademischen Lauf bahn im zweiten Bildungsweg Beschäftigung mit Mehrsprachigkeit; umfangreiche internationale wissenschaftliche Tätigkeit. Weiterentwicklung des sprachbiografischen Ansatzes und einer kreativ-visuellen Methode zur Erhebung und Analyse sprachlicher Repertoires. Derzeitiger Forschungsschwerpunkt: Migration, Mehrsprachigkeit und traumatisches Erleben. Aktuelle Publikationen: Busch, B. (i.E.) ›Without language, everything is chaos and confusion‹. Bodily and emotional language experience and the linguistic repertoire. In: Lüdtke (ed.) Emotion in Language. Amsterdam: J. Benjamins; Busch, B. (i.E.) Biographical approaches to research in multilingual settings: exploring linguistic repertoires. In: Martin-Jones/ Martin (eds.) Researching multilingualism: Critical and ethnographic approaches. London: Routledge; Busch, B. (2013) Mehrsprachigkeit. Wien: UTB/Facultas; Busch, B. (2012). ›The Linguistic Repertoire Revisited.‹ In: Applied Linguistics 33(5): 503-523. Silvia Dal Negro ist Professorin für Sprachwissenschaft und stellvertretende Direktorin des Kompetenzzentrums Sprachen an der Freien Universität Bozen. Sie studierte an den Universitäten Bergamo, Pavia und Zürich und lehrte zuvor an der Università del Piemonte Orientale. Ihre Forschungsschwerpunkte und -interessen liegen in den Bereichen Soziolinguistik, Kontaktlinguistik, Dialektologie, Minderheitensprachen, Sprachpolitik und Sprachvariation. Wichtigste Projekte: DiaGramm. The grammar of dialect: mapping linguistic (dialect) diversity in South Tyrol (2010-2011), KONTATTO: documenting and analyzing the development of linguistically mixed varieties and of language stratification (2011-2014), GRASS: On grammatical education at school (2013-14). Aktuelle Publikationen: Dal Negro, S./Fiorentini, I. (2014): Reformulation in bilingual speech: Italian cioè in German and Ladin. In: Journal of Pragmatics, Vol. 74, December 2014, pp. 94-108. Dal Negro, S./Marra, A. (2013), Minoranze territoriali e politiche linguistiche. In: Iannàccaro, G. (a cura di): La linguistica italiana all’alba del Terzo Millennio (19972010). Roma: Bulzoni: 303-340. İnci Dirim, geb. 1965, ist Übersetzerin, Deutschlehrerin, Germanistin, Linguistin und Erziehungswissenschaftlerin. Schulbesuch und Studium
Kurzbiographien Autor*innen
in Ankara und Bremen; Promotion 1997 mit einer Arbeit zu den Modalitäten des Gebrauchs des Türkischen und des Deutschen in einer Grundschulkasse an der Universität Hamburg. 2004-2007 W1-Professorin für Schulpädagogik (Schwerpunkt »Empirische Lehr- und Lernforschung unter besonderer Berücksichtigung von Kindern mit Migrationshintergrund«) an der Philosophischen Fakultät der Leibniz Universität Hannover; 2007-2010 W2-Professorin für Erziehungswissenschaft unter Berücksichtigung der Pädagogischen Diagnostik und Förderkonzeptionen für Erziehung und Bildung in kulturell, sprachlich und sozial heterogenen Konstellationen an der Universität Hamburg. Seit März 2010 Professorin für Deutsch als Zweitsprache an der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Weitere Rufe an die Universitäten Bremen (W2-Deutsch als Zweitsprache, 2008) und Paderborn (W3-Deutsch als Zweitsprache, 2013). Derzeitige Arbeitsschwerpunkte: Spracherwerb und Sprachgebrauch in der Migrationsgesellschaft, Didaktik und Methodik der Deutsch als Zweitsprach-Förderung und der sprachlichen Bildung, Didaktik der migrationsbedingten Mehrsprachigkeit, Migrationspädagogik, hegemonietheoretische und postkoloniale Zugänge zum Fach »Deutsch als Zweitsprache«. Alisha M.B. Heinemann (Dr.in phil) lehrt im Fachbereich Deutsch als Zweitsprache sowie im Zentrum für Lehrer_innenbildung der Universität Wien. Sie war zuvor als Projektleitung (gemeinsam mit Prof.in Dr.in Anke Grotlüschen) der lea.-Verlinkungsstudie im Fachbereich Lebenslanges Lernen und Berufliche Bildung der Universität Hamburg und davor als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »lea.-Literalitätsentwicklung für Arbeitskräfte« im Institut für Erwachsenenbildung der Universität Bremen tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Deutsch als Zweitsprache, Alphabetisierung, Erwachsenenbildung und rassismuskritische Migrationsforschung. Natascha Khakpour studierte Germanistik und ist derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache an der Universität Wien. Zudem ist sie in der Erwachsenenbildung tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Konzepte sprachlicher Bildung in der Migrationsgesellschaft, Differenzordnungen durch Relevantsetzung der Kategorie Sprache sowie subjektivierungstheoretische und hegemoniekritische Zugänge zum Feld »DaZ«.
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Sprache und Bildung in Migrationsgesellschaf ten
Magdalena Knappik ist Senior Scientist am Institut für Germanistik der Universität Wien, Fachbereich Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Von 2011-2013 im bmukk-finanzierten Projekt »Diversität und Mehrsprachigkeit in pädagogischen Berufen« (Leitung İnci Dirim, Marion Döll) tätig. Davor langjährige Tätigkeit als Kursleiterin für DaZ. Ihre Arbeits- und Forschungsinteressen sind Sprachliche Bildung und Deutschförderung in der Schule, gesellschaftstheoretische Fundierung des Feldes DaZ in der Migrationsgesellschaft, Postkoloniale Theorie, Macht- und Rassismuskritik, Wissenschaftliches Schreiben und Schreibdidaktik. Johannes Köck hat einen Bachelor der Deutschen Philologie und war Studienassistent bei Prof.in Mag.a Dr.in İnci Dirim an der Universität Wien. Derzeit macht er ein Masterstudium Deutsch als Fremd- und Zweitsprache und Deutsche Philologie. Mehrjährige Tätigkeit als Kursleiter in DaF/ DaZ-Kursen in Wien und Perm (Russland). Im Moment entsteht eine subjektivierungskritische Masterarbeit, in der er Humor und Rassismus im Fernsehsprachkurs »Mein Almanca« analysiert. Johannes Köck arbeitet derzeit in México D.F. (Mexiko Stadt) als Deutschlektor. DSA Senad Lacevic ist Vorsitzender des Angestelltenbetriebsrats der Wiener Volkshochschulen GmbH. Er war zuvor 13 Jahre lang in den Jugendbildungsmaßnahmen der VHS Wien tätig. Zuerst als Sozialarbeiter im Jugendbildungszentrum an der VHS Ottakring, dann in der Programmplanung an der VHS Brigittenau. Er philosophiert regelmäßig mit Jugendlichen, die den Pflichtschulabschluss an den Wiener Volkshochschulen besuchen. 2014 war er Mitbegründer des Vereins »DenkBar – Akademie philosophieren für alle«. Seit mehreren Jahren Vorträge zum Thema »Philosophieren mit Jugendlichen«. Prof. Dr. Paul Mecheril lehrt am Institut für Pädagogik der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und ist Direktor des Center for Migration, Education and Cultural Studies. Schwerpunkt seines Lehr- und Forschungsinteresses: Migrationspädagogik, Pädagogische Professionalität, Bildungsforschung, method(olog)ische Fragen der Interpretation. Jüngste Buchpublikationen: Mecheril, P. u.a. (2013). Differenz unter Bedingungen von Differenz. Zu Spannungsverhältnissen universitärer Lehre. Springer; Mecheril, P. u.a. (Hg) (2013). Migrationsforschung als Kritik? (Band I und Band II) Springer; Broden, A./Mecheril, P. (Hg) (2014): Solidarität in der
Kurzbiographien Autor*innen
Migrationsgesellschaft. Bielefeld: transcript; Mecheril, P. (Hg) (2014): Subjektbildung. Subjektivierungsprozesse in der Migrationsgesellschaft. transcript Prof. Dr. Claus Melter, Studium und Promotion an der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg, drei Jahre Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Innsbruck und seit 2011 Professor an der Hochschule Esslingen. Forschungs- und Lehrgebiete sind Sozialpädagogik/Sozialarbeitswissenschaft in der Migrationsgesellschaft, Theorie und Praxis von Rassismuskritik, genderreflexive, rassismus-, kapitalismus- und barrierekritische Soziale Arbeit und Gewaltprävention. Gergana Mineva ist Mitarbeiterin der Selbstorganisation maiz in den Bereichen Bildung, Forschung und Sex & Work und beschäftigt sich in diesem Zusammenhang u.a. mit kritischen, bzw. gegenhegemonialen Zugängen zu Sexarbeit und Erwachsenenbildung in der Migrationsgesellschaft. Sie hat Wirtschaftswissenschaften, Sozialwirtschaft und Politische Bildung studiert. Aktuell ist sie in Forschungs- und Entwicklungsprojekten im Bereich der Erwachsenbildung für Migrantinnen, als Unterrichtende in der Erwachsenenbildung (Deutsch als Zweitsprache), in der Aus- und Weiterbildung von Lehrenden, als Beraterin und Streetworkerin und als externe Lektorin tätig. Heike Niedrig, Dr. phil., B.A. African Languages (University of South Africa), Forschungsprojekte zu »Multilingualer Erziehung im PostApartheid-Südafrika« und zu »Transnationalen Bildunglauf bahnen von jugendlichen Flüchtlingen aus Afrika«. Zurzeit Lehrerin in einer Internationalen Vorbereitungsklasse, Lehrbeauftragte an der Universität Hamburg sowie Bildungsforscherin (Auf bau des Instituts für Kritische Bildungsforschung in Hamburg); Arbeitsschwerpunkte: Mehrsprachigkeit und Bildung; transnationale Bildungslauf bahnen und postkoloniale Bildungsräume. Rosemarie Ortner ist Bildungswissenschaftlerin und seit 2014 Universitätsassistentin am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien sowie Lehrbeauftragte am Institut für Pädagogische Professionalisierung der Universität Graz. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Gender- und Queertheorien, pädagogische Praktiken der Differenz und Heterogenität,
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Sprache und Bildung in Migrationsgesellschaf ten
pädagogische Professionalisierung sowie Deutsch als Fremd-/Zweitsprache. Aktuell beschäftigt sie sich mit Involviert-sein von Pädagog_innen in gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Günay Özayli, Mag.a, Studium der Bildungswissenschaft an der Universität Wien. Schwerpunkte: Allgemeine Pädagogik und Sozialpädagogik, seit 2013 Doktorandin am Institut für Bildungswissenschaft an der Universität Wien. Aktuelle Arbeit- und Forschungsschwerpunkte: Sprachtheorien, Postkoloniale Theorie, Migrationspädagogik, Antirassismus und antidiskriminatorische Praxis und Reflexion in Bildungsinstitutionen. Derzeit als Mitarbeiterin im Projekt »Die Akademie geht in die Schule« an der Akademie der Bildenden Künste Wien und als Workshopleiterin tätig. Thomas Quehl, MA Education, war Grundschullehrer in Berlin und Duisburg und ist heute in London tätig. Zusammen mit Paul Mecheril ist er Herausgeber des Bandes ›Die Macht der Sprachen. Englische Perspektiven auf die mehrsprachige Schule‹ (2006). Weitere Veröffentlichungen zu rassismuskritischer Bildung und zur Sprachbildung im Primarbereich. Lehraufträge an der Universität Bielefeld, Tätigkeiten in der LehrerInnenfortbildung. Rubia Salgado ist als Erwachsenenbildner_in und Autor_in in selbstorganisierten Kontexten tätig. Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt im Feld der kritischen Bildungsarbeit in der Migrationsgesellschaft. Aktuell arbeitet sie in Forschungs- und Entwicklungsprojekten im Bereich der Erwachsenbildung für Migrantinnen, als Unterrichtende in der Erwachsenenbildung (Deutsch als Zweitsprache, Alphabetisierung) und in der Aus- und Weiterbildung von Lehrenden sowie als pädagogische Leiterin der Bildungsarbeit mit Migrantinnen in maiz (www.maiz.at). Sie ist Mitbegründerin und Mitarbeiterin der Selbstorganisation maiz, ein unabhängiger Verein von und für Migrantinnen, absolvierte ein Lehramtsstudium (Portugiesisch und Literaturwissenschaft) in Brasilien und ist als externe Lektorin in Universitäten und Hochschulen tätig. Birgit Springsits, Lehramtsstudium für Sonderschulen und mehrjährige Unterrichtstätigkeit an einer Sonderschule in Wien. Studium der Deutschen Philologie und der Theologie an der Universität Wien und der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom. Seit 2011 Assistentin in Aus-
Kurzbiographien Autor*innen
bildung am Institut für Germanistik, Fachbereich Deutsch als Fremdund Zweitsprache. Forschungsschwerpunkte: Deutsch als Zweitsprache, Schriftspracherwerb unter Bedingungen migrationsbedingter Mehrsprachigkeit, Schule in der Migrationsgesellschaft. Thomas Stölner (MA) unterrichtet Jugendliche im Jugendbildungszentrum der Volkshochschule Ottakring in Wien in Deutsch und Englisch in Hauptschulabschlusskursen. Regelmäßig philosophiert er in seinen Klassen über philosophische Fragen. Er studierte Ethnologie, Germanistik und Philosophie und veröffentlichte Artikel zum Thema Philosophieren mit Kindern und Jugendlichen besonders in Hinblick auf die Potentiale, die es auch für bildungsbenachteiligte Menschen bietet. In diesem Zusammenhang war er an der Entwicklung spezieller Module im Rahmen des Vorbildprojekts der Bundeszentrale für politische Bildung beteiligt. 2014 begründete er den Verein »DenkBar – Akademie philosophieren für alle« mit. Vorträge zum Thema Philosophieren mit Kindern und Jugendlichen. Tätigkeiten in der LehrerInnenfortbildung. Nadja Thoma studierte Altgriechisch und Musikerziehung Lehramt, Deutsch als Zweit- und Fremdsprache sowie Orientstudien. Sie unterrichtete Deutsch u.a. in Wien, Amman und Damaskus und war von 2004-2009 Gymnasiallehrerin in Wien. Von 2009-2012 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Deutsch als Fremdsprache der Ludwig-Maximilians-Universität München und ist seit 2012 Universitätsassistentin am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Sprachbiographieforschung, Bildung im Kontext von Migration und Mehrsprachigkeit, Qualitative Sozialforschung, Rassismuskritik. Nadja Thoma arbeitet an einer Dissertation zu Sprachbiographien von Germanistikstudent_innen.
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Kultur und soziale Praxis Marcus Andreas Vom neuen guten Leben Ethnographie eines Ökodorfes Juni 2015, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2828-9
Désirée Bender, Tina Hollstein, Lena Huber, Cornelia Schweppe Auf den Spuren transnationaler Lebenswelten Ein wissenschaftliches Lesebuch. Erzählungen – Analysen – Dialoge Januar 2015, 206 Seiten, kart., 26,99 €, ISBN 978-3-8376-2901-9
Gesine Drews-Sylla, Renata Makarska (Hg.) Neue alte Rassismen? Differenz und Exklusion in Europa nach 1989 Mai 2015, 336 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2364-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kultur und soziale Praxis Jörg Gertel, Rachid Ouaissa (Hg.) Jugendbewegungen Städtischer Widerstand und Umbrüche in der arabischen Welt 2014, 400 Seiten, Hardcover, zahlr. z.T. farb. Abb. , 19,99 €, ISBN 978-3-8376-2130-3
Martina Kleinert Weltumsegler Ethnographie eines mobilen Lebensstils zwischen Abenteuer, Ausstieg und Auswanderung 2014, 364 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2882-1
Marion Schulze Hardcore & Gender Soziologische Einblicke in eine globale Subkultur Juli 2015, ca. 400 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2732-9
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kultur und soziale Praxis Jens Adam, Asta Vonderau (Hg.) Formationen des Politischen Anthropologie politischer Felder 2014, 392 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2263-8
Jonas Bens, Susanne Kleinfeld, Karoline Noack (Hg.) Fußball. Macht. Politik. Interdisziplinäre Perspektiven auf Fußball und Gesellschaft
Wiebke Scharathow Risiken des Widerstandes Jugendliche und ihre Rassismuserfahrungen 2014, 478 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2795-4
Yasemin Shooman »... weil ihre Kultur so ist« Narrative des antimuslimischen Rassismus
2014, 192 Seiten, kart., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2558-5
2014, 260 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2866-1
Naime Cakir Islamfeindlichkeit Anatomie eines Feindbildes in Deutschland
Wolfgang Stark, David Vossebrecher, Christopher Dell, Holger Schmidhuber (Hg.) Improvisation und Organisation Muster zur Innovation sozialer Systeme
2014, 274 Seiten, kart., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2661-2
Forschungsgruppe »Staatsprojekt Europa« (Hg.) Kämpfe um Migrationspolitik Theorie, Methode und Analysen kritischer Europaforschung 2014, 304 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2402-1
Heidrun Friese Grenzen der Gastfreundschaft Die Bootsflüchtlinge von Lampedusa und die europäische Frage 2014, 250 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2447-2
Christa Markom Rassismus aus der Mitte Die soziale Konstruktion der »Anderen« in Österreich 2014, 228 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2634-6
Juli 2015, ca. 370 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2611-7
Henrike Terhart Körper und Migration Eine Studie zu Körperinszenierungen junger Frauen in Text und Bild 2014, 460 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2618-6
Tatjana Thelen Care/Sorge Konstruktion, Reproduktion und Auflösung bedeutsamer Bindungen 2014, 298 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2562-2
Yeliz Yildirim-Krannig Kultur zwischen Nationalstaatlichkeit und Migration Plädoyer für einen Paradigmenwechsel 2014, 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2726-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de