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German Pages 350 Year 2014
Roger Lüdeke (Hg.) Kommunikation im Populären
Lettre
Roger Lüdeke (Hg.)
Kommunikation im Populären Interdisziplinäre Perspektiven auf ein ganzheitliches Phänomen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Zur Einleitung Roger Lüdeke | 7
P OPUL ÄRLITERATUR : K ONZEPTE , G ENRES , S CHREIBWEISEN Popularität Elena Esposito | 15
Organisierte Kreativität. Überlegungen zur ›Ästhetisierung des Sozialen‹ Michael Makropoulos | 21
Was ist Populärliteratur? Oder doch eher, wann ist Populärliteratur? Christian Huck | 43
Die Popularität der Literatur Eric Baudner, Gero Brümmer und Martin Henrich | 67
Populärer Realismus Moritz Baßler | 91
Im Spannungsfeld von Populär- und Hochkultur. Das Spiel mit der Gattung des Detektivromans in Paul Austers City of Glass Katja Kremendahl | 105
Zum Eskapismus der Anästhetik im populären Drogenroman Thomas Gurke | 125
P OPUL ÄRE K ONKURRENZMEDIEN : M USIK , F ERNSEHEN , I NTERNET , C OMIC Liebe als exemplarisches Medium der Popularität Bernd Scheffer | 141
Pop als System Markus Heidingsfelder | 153
Kult-Fernsehen als Archiv der Gegenwartskultur: The Sopranos Dirk Matejovski | 173
Pornografie als Schemaliteratur – am Beispiel pornografischer Geschichten im Internet Matías Martínez | 199
Vampirismus im Web 2.0 – Zentrale Motive und stilistische Charakteristika in Online Fanfiction zu Twilight Kim Barthel, Anna Hutnik | 213
Mediale Kombinatorik, Transgressionen und Beglaubigungsstrategien in L’enfant penchée und L’affaire Desombres (François Schuiten/Benoit Peeters) Frank Leinen | 233
G ENEALOGISCHE K ONSTELL ATIONEN DES P OPUL ÄREN Playing with Reality Reinhold Görling | 259
Medienangst als Maßstab. Der wechselhafte Umgang mit dem Populären am Beispiel der Literatur Susanne Keuneke | 273
Soothing Music for Stray Cats? Zur Ausdifferenzierung des Populären in und an der Literatur Christoph Reinfandt | 297
Die Genealogie des Populären im Zusammenhang des Nachgelassenen Monika Gomille | 315
Mexikanische Profanierungen. Cultura popular oder die Kontingenz Vittoria Borsò | 327
Zur Einleitung Roger Lüdeke
Popularität und Popularisierung bilden gesellschaftsübergreifende Phänomene der modernen Alltagspraxis, Welt- und Selbsterfahrung. Dementsprechend ambivalent wurden sie in der bisherigen Forschung behandelt. Unterscheiden lassen sich hierbei im Wesentlichen drei Untersuchungsrichtungen. Im Zuge von Adornos und Horkheimers Kritik der ›Kulturindustrie‹ galten Populäres und Popularisierung noch bis in die siebziger Jahre als Ausprägung instrumentalisierter Vernunft, als sichtbares Anzeichen kapitalistischer Fremdbestimmung.1 Im Umfeld des Birmingham Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) haben sich dagegen besonders seit den achtziger Jahren alternative Beschreibungsansätze herausgebildet. In ihnen standen das kritisch-subversive Potenzial von Populärkultur sowie deren positive Effekte für zumindest partiell autonome Prozesse der individuellen Selbstbildung im Vordergrund.2 Im deutschsprachigen Bereich sind schließlich jüngere Ansätze im Umfeld der Luhmannschen Systemtheorie zu verzeichnen,3 auf deren Positionen sich auch zahlreiche Beiträge des vorliegenden Bandes beziehen. Interessanterweise erlaubt es ein systemtheoretisch ausgerichteter Zugang, das Populäre funktional als Figuration eines ›Ganzen‹ zu fassen. Das mag zunächst überraschen, ist die Systemtheorie doch wesentlich durch Differenzbildungen cha1 | Vgl. Horkheimer und Adorno: Dialektik der Aufklärung; Löwenthal: Literature, Popular Culture, and Society; in funktionaler Zielrichtung auch Zimmermann: Trivialliteratur? Schema-Literatur! 2 | Vgl. exemplarisch Hebdige: Subculture. The Meaning of Style; Fiske: Reading the Popular und Fiske: Understanding Popular Culture; Frith: Popular Music; Hall: The State and Popular Culture; Göttlich: Politik des Vergnügens; Grossberg: Dancing in Spite of Myself. 3 | Vgl. Esposito: Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden; Fuchs und Heidingsfelder: »MUSIC NO MUSIC MUSIC«; Huck und Zorn: Das Populäre der Gesellschaft; Luhmann: Die Realität der Massenmedien; Makropoulos: Theorie der Massenkultur; Stäheli: »Das Populäre als Unterscheidung«.
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rakterisiert: System vs. Umwelt, Gesellschaft vs. Subsysteme (Wirtschaft, Kunst, Recht etc.), Bewusstsein/Wahrnehmung vs. Kommunikation, Gesellschaftssystem vs. Interaktion, Alter vs. Ego, Handeln vs. Erleben sind nur einige der zentralen Leitunterscheidungen, denen die Systemtheorie ihre Konsistenz und Trennschärfe verdankt. Dennoch zeigt sich auf diesen verschiedenen Beschreibungsebenen, dass die womöglich entscheidende Zugkraft des Populären im Unterlaufen dieser Differenzbildungen der modernen Gesellschaft besteht. Das gilt bereits für die Begriffsbildung ›populär‹ selbst, die einen spannungsreichen Übergangsbereich zwischen Massen-, Trivial- oder Volkskultur einerseits und Hochkultur andererseits, ja womöglich das gemeinsame Dritte dieser Kultursegmentierungen selbst beschreibt (vgl. hierzu auch entsprechende Überlegungen in den Beiträgen von Christian Huck und Christoph Reinfandt). Die auf das ›Ganze‹ abhebende Praxis des Populären zeigt sich aber auch daran, dass Populäres und Popularisierung prinzipiell auf All-Inklusion jenseits funktionaler Differenzierung von gesellschaftlichen Teilbereichen zielt, auch dann wenn dies im konkreten Fall weitere Binnen-Systembildungen etwa im Sinne von Subkulturen (freilich mit Allgemeinheitsanspruch) nicht ausschließt. Ebenso scheint Populäres die von der Systemtheorie für Soziales konstitutiv erkannte Trennung von Bewusstsein und Kommunikation, von PsychoSomatischem und Symbolpraxis, von Zeichen und Dingen zu unterlaufen (vgl. die Beiträge von Markus Heidingsfelder zur Popmusik und Bernd Scheffer zum paradigmatischen Medium der Liebe). Weiter finden sich für Populäres offensichtlich charakteristische Interaktionsformen, die gegenüber der gesellschaftlichen Kontingenz- und Differenz-Erfahrung des Immer-auch-anders-möglich-Seins ganzheitliche Modi des Erlebens und Handelns simulieren – oder wenigstens in Aussicht stellen (vgl. den Beitrag von Eric Baudner/Gero Brümmer/Martin Henrich zu zeitgenössischen Erfolgsromanen, den Artikel von Kim Barthel/Anna Hutnik zum Phänomen der Fanfiction sowie Reinhold Görlings Studie zu frühneuzeitlichen Formen der Popularisierung, die über das entwicklungspsychologische Konzept eines joining of minds zu analogen Ergebnissen kommt). ›Alles in allem‹, so ließe sich sagen, macht Populäres eine kontingente Wirklichkeit als prinzipiell jedem zugängliche Welt der Möglichkeiten mehr oder weniger einheitlich erfahrbar (vgl. den Beitrag von Michael Makropoulos, der entsprechende Funktionshorizonte hinsichtlich der Ästhetisierungsformen des creative writing entfaltet und den Artikel von Elena Esposito, die in gleicher Richtung ausgehend von der Potenzialisierung des Wirklichen im Medium populärer Fiktionsbildungen argumentiert). Trotz der interdisziplinären Handschrift des Bandes, in dem aus der Sichtweise der Soziologie, der Medienkulturwissenschaft, der Kommunikationswissenschaft, der Linguistik sowie der Anglistik, Romanistik und Germanistik Annäherungen ans Populäre formuliert werden, bildet der literaturwissenschaftliche Zugang ohne Zweifel einen bewusst gewählten Schwerpunkt. Dies scheint legitim, insofern die traditionellen Textwissenschaften, anders als übrigens die Kunstwissenschaften,4 4 | Vgl. nur Danto: The Transfiguration of the Commonplace.
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auf die mit dem Phänomen des Populären verbundenen Herausforderungen bislang vergleichsweise verhalten reagieren5 – dies womöglich auch deswegen, weil Populärkultur zentrale Hierarchie- und Wertbildungen im disziplinären und akademischen Selbstverständnis der Philologien tangiert: die Unterscheidbarkeit von Hochkultur und Trivialkultur, von ästhetischer Einzigartigkeit und Massen-Entertainment, von institutionalisierter Kanonpflege und den unhintergehbaren Fakten der gesamtgesellschaftlichen (medienkulturellen) Realität. Dennoch versprechen gerade die philologischen Schlüsselkompetenzen entscheidenden Einblick in symbolische und kommunikative Strategien des Populären, die dessen kulturellen Erfolg und soziale Durchschlagkraft weiter erklären helfen. Da Populärliteratur wie Popliteratur zudem die überkommenen Devianzästhetiken und ihre Dichotomie von Regelverstoß und Regelerfüllung programmatisch übersteigen, verspricht eine populärästhetische Untersuchungsperspektive auf Phänomene der Schematisierung und Stereotypisierung auch entscheidende Differenzierungsgewinne für den binnendisziplinären Diskurs. Der genannten Schwerpunktsetzung verdankt sich auch die Gliederung des Bandes: In einem ersten Schritt werden typische Kommunikations- und Interaktionsformen des Populären am Gegenstand der Literatur vorgestellt. Neben allgemeiner ausgerichteten Bestimmungsversuchen (in den Beiträgen von Esposito, Makropolous, Huck, Baudner/Brümmer/Henrich) werden auch populärtypischen Genrebildungen, Schreibweisen sowie Themen- und Motivrekurrenzen Rechnung getragen (so etwa dem insistenten Realismus-Anspruch populärer Literatur im Beitrag von Moritz Baßler, dem Detektivroman als, auch kommerziell, erfolgreichster Genre-Bildung in der Studie von Katja Kremendahl sowie dem ewig populären Thema der Drogen im Artikel von Thomas Gurke). Komplementär hierzu ist der folgende Abschnitt der Probe aufs Exempel analoger Beschreibungsansätze im Bereich jener Populär-Medien gewidmet, die mit der Literatur erst gar nicht mehr zu konkurrieren bräuchten, da sie das einstige Leitmedium der bürgerlichen Gesellschaft längst ›abgehängt‹ haben zu scheinen. Dies betrifft sicher weniger das transmediale Medium der Liebe (Bernd Scheffer), umso mehr aber die Popmusik (Heidingsfelder), das Fernsehen (Dirk Matejovski), das Internet (Matías Martínez, Barthel/Hutnik) und die multimediale Form des Comic (Frank Leinen). Auch wenn Populäres durch Serialisierung, Schematisierung, ja, entsprechend der an Nietzsche geschulten nihilistischen Diktion Adornos & Horkheimers durch ›ewige Wiederkehr des Gleichen‹ gekennzeichnet ist, und auch wenn insbesondere jüngere Popästhetiken auf Gegenwärtigkeit und Flüchtigkeit zielen mögen,
5 | Gute Gegenbeispiele sind natürlich: Arnold: Pop-Literatur; Bachtin: Rabelais und seine Welt; Baßler: Der deutsche Pop-Roman; Brummett: Rhetoric in Popular Culture; Degler und Paulokat: Neue Deutsche Popliteratur; Schumacher: Gerade eben jetzt. Schreibweisen der Gegenwart, sowie Zimmermann: Trivialliteratur? Schema-Literatur!
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spricht dennoch viel dafür, den Begriff des Populären historisch zu fassen.6 So wird nämlich einerseits die Entstehung des Phänomens an parallele Emergenzen im Bereich der Medien-, Technik- und Sozialgeschichte anschließbar, andererseits wird seine weitere Evolution in einer spannungsvollen historischen Eigendynamik beschreibbar.7 Die im dritten Abschnitt versammelten Ansätze widmen sich den Herausforderungen einer solchen Untersuchungsperspektive. So verdankt sich die Präzision der konzeptuellen Überlegungen von Reinhold Görling zur gemeinschaftsbildenden Funktion des Populären nicht zuletzt einer medienhistorischen Rekonstruktion des Buchdrucks als zentraler Ermöglichungsbedingung von Popularität. Im Anschluss hieran entwirft Susanne Keuneke aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive die weitere wechselvolle Geschichte des Buchmediums, das – nur zu vergleichbar den heutigen Leitmedien der Popkultur: dem Fernsehen, Computerspiel oder Internet – im 19. Jahrhundert von einer ›Medienangstdebatte‹ begleitet war, welche die sozialen Effekte und Gründe von solchen Medienpopularisierungen zu beschreiben erlaubt. Christoph Reinfandt zeigt die Entstehungsbedingungen des Populären seit der Romantik als paradoxen Diskurseffekt der Hochliteratur. Monika Gomille gelingt es nicht nur, die Korrelation zwischen einem wachsendem wissenschaftlichen Interesse am Populären gegen Ende des 19. Jahrhunderts und einem kolonial geprägten Machtdispositiv zu beschreiben, sondern in der hieraus emergierenden Melancholie-Erfahrung der Vergänglichkeit von Kultur den genealogischen Grund für eine dem Populären innere kulturkritische Subversionsdynamik freizulegen. Den Abschluss bildet der Beitrag von Vittoria Borsò, die am Beispiel des mexikanischen Intellektuellen Carlos Monsiváis archäologische Tiefenbohrungen zu unserer eigenen Aktualität unternimmt und dabei erneut auf jene womöglich unhintergehbare Verknüpfung von Populärem und Macht stößt, die es nahelegt, die zeitgenössische akademische Beschäftigung mit dem Populären, nicht nur seitens der Cultural Studies, auf ihre disziplinären Möglichkeitsbedingungen und ihre disziplinierenden Effekte hin zu befragen. Die hier versammelten Beiträge gehen auf eine Tagung zurück, die vom 7. bis 10. Januar 2010 in den überaus angenehmen Räumen des Düsseldorfer Malkastens stattfand. Für großzügige Förderung, die auch die Druckkosten umfasst, danke ich der Dr. Günther- und Imme-Wille-Stiftung. Die Tagung wie auch der vorliegende Band enthält eine Reihe von Beiträgen sogenannter ›Nachwuchswissenschaftler‹ aus den anglistischen Master- und Promotions-Studiengängen der Düsseldorfer 6 | Vgl. Huck und Lüdeke: »Introduction: Historicising the Popular« sowie die Beiträge der dazugehörigen Tagungssektion. 7 | Wichtige Ansätze zu einer solchen Historisierung u.a. bei Burke: Popular Culture in Early Modern Europe; Dinzelbacher: Volkskultur des europäischen Spätmittelalters; Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit; Kaschuba: Volkskultur zwischen feudaler und bürgerlicher Gesellschaft; Link: Versuch über den Normalismus; Storey: Inventing Popular Culture; Weimann: Shakespeare and the Popular Tradition in the Theater.
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Heinrich-Heine-Universität. Für mich war so überraschend wie angenehm, dass aller bildungspolitischen Gängelei und allen neu erzeugten studientechnischen Sachzwängen zum Trotz auch in der nachrückenden Generation eine mitreißende Atmosphäre engagierter Intellektualität entsteht. Mein besonders herzlicher Dank gilt Katja Kremendahl, in deren sicheren Händen große Teile der Tagungs-Organisation sowie, kompetent unterstützt von Gero Brümmer, die Einrichtung des Typoskripts lagen. Weiter danke ich Eric Baudner für (mich) nie ermüdende Gespräche zum Konzept der Interaktion sowie Martin Henrich, Georgia Kaloudi und Michaela Thielen für zuverlässige organisatorische Unterstützung. Für die professionelle Gestaltung eines großartigen Plakats, das aus urheberrechtlichen Gründen leider ungedruckt bleiben muss, und konferenztechnischen Beistand geht mein nicht weniger herzlicher Dank schließlich an Thomas Gurke.
L ITER ATUR Arnold, Heinz Ludwig: Pop-Literatur. München: Edition Text + Kritik 2003. Bachtin, Michail: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. 1. Aufl. [Nachdr.], Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1187) 2006. Baßler, Moritz: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. 2. Aufl., München: Beck (Beck’sche Reihe, 1474) 2005. Brummett, Barry: Rhetoric in Popular Culture. 2. Aufl., Thousand Oaks (CA): Sage Publ. 2006. Burke, Peter: Popular Culture in Early Modern Europe. New York: Harper & Row (Harper Torchbooks) 1978. Danto, Arthur Coleman: The Transfiguration of the Commonplace. A Philosophy of Art. 7. Aufl., Cambridge (MA): Harvard Univ. Press 1996. Degler, Frank und Ute Paulokat: Neue Deutsche Popliteratur. Paderborn: Fink (UTB Profile, 3026) 2008. Dinzelbacher, Peter: Volkskultur des europäischen Spätmittelalters. [Beiträge der internationalen Tagung vom 24.–26. VI. 1986]. Stuttgart: Kröner (Kröners Taschenausgabe, 662) 1987. Esposito, Elena: Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden. Paradoxien der Mode. 1. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. Fiske, John: Reading the Popular. 2. Aufl., Boston: Unwin Hyman 1990. —: Understanding Popular Culture. 2. Aufl., Boston: Unwin Hyman 1990. Frith, Simon: Popular Music: Critical Concepts in Media and Cultural Studies. London: Routledge 2004. Fuchs, Peter und Markus Heidingsfelder: »MUSIC NO MUSIC MUSIC: Zur Unhörbarkeit von Pop.« Soziale Systeme 10.2 (2004), 292-323. Göttlich, Udo: Politik des Vergnügens. Zur Diskussion der Populärkultur in den Cultural Studies. Köln: von Halem (Fiktion und Fiktionalisierung, 3) 2000.
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Grossberg, Lawrence: Dancing in Spite of Myself. Essays on Popular Culture. Durham (NC): Duke Univ. Press 1997. Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. 1. Aufl. [Nachdr.], Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 891) 2006. Hall, Stuart: The State and Popular Culture. Milton Keynes: Open Univ. Press 1982. Hebdige, Dick: Subculture. The Meaning of Style. London: Methuen (New Accents) 1979. Horkheimer, Max und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. 16. Aufl., Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verl. (FischerTaschenbücher Fischer Wissenschaft, 7404) 2006 (1947). Huck, Christian und Roger Lüdeke: »Introduction: Historicising the Popular.« In: Jörg Helbig (Hg.): Anglistentag 2009 Klagenfurt: Proceedings. Trier: WVT 2010, 225-228. Huck, Christian und Carsten Zorn: Das Populäre der Gesellschaft. Systemtheorie und Populärkultur. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss. 2007. Kaschuba, Wolfgang: Volkskultur zwischen feudaler und bürgerlicher Gesellschaft. Zur Geschichte eines Begriffs und seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit. 1. Aufl., Frankfurt a.M.: Campus 1988. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. 2. Aufl., Opladen: Westdt. Verl. (Historische Diskursanalyse der Literatur) 1999. Lowenthal, Leo: Literature, Popular Culture, and Society. Paderborn: Pacific Books 1961. Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien. Opladen: Westdt. Verl. (Vorträge/ Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Geisteswissenschaften, 333) 1995. Makropoulos, Michael: Theorie der Massenkultur. München: Fink 2008. Schumacher, Eckhard: Gerade eben jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Edition Suhrkamp, 2282) 2003. Stäheli, Urs: »Das Populäre als Unterscheidung – eine theoretische Skizze.« In: Gereon Blaseio (Hg.): Popularisierung und Popularität. Köln: DuMont-Literaturund-Kunst-Verl. 2005, 146-167. Storey, John: Inventing Popular Culture: from Folklore to Globalization. Malden (MA): Blackwell Pub. 2003. Weimann, Robert: Shakespeare and the Popular Tradition in the Theater: Studies in the Social Dimension of Dramatic Form and Function. Baltimore: Johns Hopkins Univ. Press 1978. Zimmermann, Hans Dieter: Trivialliteratur? Schema-Literatur! Entstehung, Formen, Bewertung. 2. Aufl., Stuttgart: Kohlhammer (Urban-Taschenbücher, 299) 1982.
Populärliteratur: Konzepte, Genres, Schreibweisen
Popularität Elena Esposito
In der Zeit von Wikipedia und Google Books, wo die Zugänglichkeit der Texte und ihrer Inhalte mehr ein Problem als ein anzustrebendes Ziel geworden ist, tut der vorliegende Band (und tat die dazugehörige Tagung) sehr gut daran, wissenschaftlich über Popularität im Allgemeinen und über die Popularität der Literatur im Besonderen nachzudenken. Inzwischen ist es ganz offensichtlich geworden, dass die klassische Unterscheidung zwischen Hochkultur und Populärkultur nicht mehr angemessen ist (falls sie je angemessen war), um die gängige Lage zu beschreiben, und es nicht einmal viel Sinn hat, zwischen banalen und nicht-banalen Texten zu unterscheiden. Es sind sicher nicht die Eigenschaften eines Textes (oder eines Films oder jedes kulturellen Inhaltes), die ihn als populär oder hochkulturell, künstlerisch oder sonst definieren: ein und derselbe Text (man denke an Dumas oder Simenon, aber auch an Umberto Ecos Der Name der Rose und an unendlich viele Filme) kann mit vollem Recht als Kunstwerk sowie zugleich als Unterhaltungsobjekt, also auch als (möglicherweise sehr erfolgreiche) Populärliteratur gelten. Ob ein Text banal oder nicht-banal ist, hängt vielmehr davon ab, wie er gelesen wird, nicht vom Text als solchem. Und es hat auch nicht viel Sinn, sich auf die Absicht des Autors zu berufen, die in diesem wie in vielen anderen Fällen sehr wenig über das Schicksal eines Werks besagt. Die Struktur oder die Eigenschaften eines Textes allein zu erforschen führt nicht viel weiter. Wesentlich nützlicher ist es – wie dieser Band mit Recht zu tun einlädt – die kommunikative Praxis zu erforschen, also den Kommunikationszusammenhang, in den die Lektüre eines Textes eingebettet ist, oder noch besser die Form der Kommunikation, die ausgehend vom betreffenden Text entsteht. Hier eröffnen sich ganz andere Fragen und Szenarien, die sich mit der Gesellschaft und mit ihrer Evolution verbunden zeigen, die einen spezifischen Gebrauch der Kommunikation erlaubt und erfordert. Natürlich hat Populärkommunikation mit Massenmedien zu tun, und es hätte keinen Sinn, dies nicht zu beachten. Nicht aber so sehr, weil die Kommunikation sich an das allgemeine Publikum (an die ›Masse‹) statt an eine Elite wendet: Auch
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in einer stratifizierten Gesellschaft wie in der Antike oder im Mittelalter hatte die Kunst zuerst eine mnemonische oder erzieherische Funktion, war also möglichst an alle adressiert. Auch wenn sie sich an ein eingeschränktes Publikum von Gelehrten wendete, handelte es sich dabei nicht notwendigerweise um Adlige, die zudem oft ziemlich ungebildet und sehr wenig an Kultur interessiert waren. Die Populärliteratur ist an Massenmedien vielmehr deswegen gebunden, weil infolge ihrer Verbreitung besondere Bedürfnisse entstehen, auf die eine spezifische (vorher unbekannte) Form von Kommunikation zum Teil eine Antwort gibt – und das Volk (oder vielleicht auch einfach: das Publikum) schließt hier sowohl Arbeiter als auch Händler, sowohl Gelehrte wie ungebildete Menschen ein. Die Populärkommunikation, wie sie sich zuerst in der Unterhaltung realisiert, hat die besondere Eigenschaft, dass der Adressat »keinen Anlass findet, auf Kommunikation durch Kommunikation zu antworten«1 und nicht einmal daran interessiert ist. Meistens interessiert ihn auch nicht zu rekonstruieren, wie die Kommunikation produziert worden ist und was die Absicht des Mitteilendenden war – normalerweise interessiert ihn auch der Mitteilende nicht besonders (abgesehen von Formen medialen Diventums, die andere Wurzeln haben). Man weiß, dass es sich um Kommunikation handelt, das ist aber nicht, was zählt. Eher zählt die Welt, die durch diese Kommunikation verfügbar gemacht wird, die Realität, die sich infolge der Lektüre eröffnet und beobachtet wird: In ihren verschiedenen Formen, erlaubt die Populärkommunikation den Zugang zu einer »zweiten Realität«, die (und dies ist dem Rezipienten natürlich bewusst) nicht existiert, die der Leser oder Zuschauer aber kennen, erforschen und in ihrer ganzen Komplexität untersuchen kann, einschließlich der Untersuchung der psychischen Prozesse der involvierten Personen. Hier weiß man, wie die Welt gebaut ist, was passiert, was die Personen denken und wollen, was sie sehen und nicht sehen, und auch wann sie sich täuschen oder betrogen werden. Es handelt sich folglich um eine Welt, die nicht existiert aber viel strukturierter und transparenter ist als die reale Realität – und außerdem mit den Anderen geteilt wird (darauf kommen wir zurück). Man muss also im Populären wissen, dass es sich um Kommunikation handelt, auch weil damit jede Verwechslung von Imagination und Realität vermieden wird und man explizit die Konstruktion der Welt dem Autor zuschreiben und dabei wissen kann, dass es sich um seine (unmittelbar als solche dargestellte) Phantasie handelt. Man behandelt das kommunizierte Weltkonstrukt aber nicht als Kommunikation, indem man antwortet, einwendet, kommentiert und sich entsprechend einstellt. Die vom Mitteilenden produzierte Realität zweiter Ordnung wird vielmehr beobachtet, als ob sie eine Realität erster Ordnung wäre. Die Beobachtung wird nicht beobachtet, um den Beobachter zu beobachten, sondern um die Welt (und die anderen Beobachter) zu beobachten, die diese Beobachtung zugänglich macht – eine Welt, die nicht existiert. 1 | Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, 107.
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Die antiken Narrationen waren in diesem Punkt viel weniger explizit: sie sprachen von absolut unplausiblen Geschehnissen, von in gewissen Hinsichten ausgezeichneten historischen Personen, wie Helden oder Heiligen. Der Autor vermied den Vorwurf, einfach ein Lügner zu sein, indem er die entsprechenden Fragen im Vagen beließ. Der Leser beobachtete die reale Welt aus einer phantastischen Perspektive, samt ihren moralischen, didaktischen oder sonstigen Rechtfertigungen. In der modernen Fiktion (und in der Populärkommunikation überhaupt) werden dagegen die realistischen Geschehnisse ganz normaler Personen erzählt, die aber explizit eine Erfindung des Autors sind. Das Rätsel der Populärkommunikation liegt zu einem großen Teil in dieser Frage: warum sollten diese ganz normalen und außerdem erfundenen Geschehnisse uns interessieren? Und weiter: warum sind sie in vielen Hinsichten zu dem wichtigsten Realitätsbezug geworden, so dass einem bekannten Argument Jean Baudrillards zufolge die Realität oft die Phantasie nachahmt und nicht umgekehrt? Aus der Sicht der Systemtheorie und der Beobachtungstheorie interessiert sich der Leser gerade für die von der Populärliteratur angebotene Möglichkeit, eine glaubwürdige Realität zu beobachten, ohne daran glauben und ohne also sich entsprechend engagieren zu müssen – und das gilt sowohl für die explizite Fiktion als auch für Mischformen wie den historischen Roman oder die zeitgenössische Praxis, Realität in den Formen der Fiktion darzustellen (nach dem Muster des realityTVs). Das wird von einer Beobachtung zweiter Ordnung ermöglicht, die Beobachter und nicht die Welt beobachtet – hier tut sie es aber, indem sie eine andere Welt darstellt, die erforscht werden kann. Der Unterhaltungseffekt, auch in der Form der Angst und des Gerührtseins, liegt gerade im Vergleich dieser Welt mit der ›realen‹ Realität, in der Möglichkeit, Ereignisse und Gefühle zu erfahren, die sich tatsächlich verwirklichen könnten, wobei man aber weiß, dass sie keinen Schaden verursachen und keine weiteren Folgen haben werden. Anders als am Anfang der massenhaften Verbreitung von Romanen im ausgehenden 17. und 18. Jahrhundert befürchtet wurde (und bis heute befürchtet wird), führt dies nicht dazu, den Kontakt mit der unmittelbaren Realität zu verlieren, sondern eher dazu, ihn zu verstärken und zu artikulieren, die Palette der verfügbaren Beobachtungen und Bezüge zu erweitern und viel komplexere Beobachtungsmodalitäten zu aktivieren. In der Fiktion lernt man, die Beobachtung der Anderen und auch sich selbst zu beobachten – eine Praxis, die dann auch im Verhältnis mit ›realen‹ Kommunikationspartnern und mit anderen Beobachtern erhalten bleibt, und absolut realistisch ist, weil auch die Anderen (in Fiktionen und Unterhaltung eingeübt), auf dieselbe Art beobachten. Man beobachtet die (fiktiven) Anderen, beobachtet aber nicht den (realen) Autor. Der spezifische Aspekt der Populärkommunikation liegt nämlich nicht in der Beobachtung zweiter Ordnung, die in zahlreichen Bereichen der Gesellschaft, in der Erziehung, dem Recht, in der Kunst oder der Wirtschaft, praktiziert wird, sondern gerade darin, dass die Beobachtung von Beobachtungen hier benutzt wird, um eine ›abgeleitete‹ Beobachtung erster Ordnung zu aktivieren – also darin, dass
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die Kommunikation nicht als Kommunikation verarbeitet wird. Tut man dies im Bezugsrahmen des Kunstsystems (auch wenn man genau dieselben Romane als Kunstwerke lesen mag, die auch Teil der Populärliteratur bilden), rekonstruiert man die Perspektive des Mitteilendenden und die Selektionen, die ihn dazu geführt haben, die Kommunikation auf eben jene Weise und mit einer spezifischen Absicht zu produzieren: man fragt sich, was der Verfasser sagen wollte und wie er es gesagt hat, ob es ihm gelungen ist und wie es anders getan werden könnte. Das kann extrem interessant und informativ sein, aber normalerweise ist es nicht unterhaltsam – oder wenigstens nicht auf die relativ unverbindliche Weise unterhaltsam, die für Populärkommunikation charakteristisch ist, in der es nur darum geht, sich in die von jemand anderen aufgebaute Welt hineinziehen zu lassen und mit deren Unterscheidungen zu experimentieren, ohne damit einverstanden sein zu müssen (man kann sich schließlich auch mit Produkten sehr niedriger Qualität amüsieren und dies zugleich wissen). Der Unterschied zur Kunst hebt einen anderen Gesichtspunkt hervor, den wir zuvor bereits angedeutet haben und der für Populärkommunikation zentral ist: während nicht Alle an der Kunstkommunikation teilnehmen und das ästhetische System dies auch gar nicht nötig hat (ein gewisser Exklusionssinn ist für das Kunstsystem geradezu symptomatisch), neigen die Kommunikation der Massenmedien und die Populärkommunikation dazu, alle zu inkludieren. Sie funktionieren gerade dann, wenn man davon ausgehen kann, dass alle oder fast alle wissen, wovon die Rede ist (obwohl man nicht weiß, was sie davon halten). Niklas Luhmann zufolge ist genau dies ihre Funktion: Voraussetzungen für Kommunikation zu schaffen, die nicht selbst kommuniziert werden müssen.2 Ohne diese komplexe Problematik hier vertiefen zu können, heißt dies, dass man nicht recht versteht, warum wir tun, was wir tun, wenn wir im Medium des Populären kommunizieren, und warum alle anderen (wie wir) es auch tun. Hier berührt der Diskurs über Populärkommunikation die grundlegendsten Strukturen der modernen Gesellschaft und das ewige Rätsel der Subjektivität. In ihrer scheinbaren Frivolität ist die Populärkommunikation nur dann plausibel, wenn sie sich an Individuen wendet, welche Kommunikation brauchen, um sich eine eigene Identität aufzubauen, weil sie eine Identität nicht mehr von Anfang an dank gesellschaftlicher Stratifikation oder Familienstellung besitzen; und die begehrte Identität nicht einmal kopieren können, indem sie die Identität der Anderen, also vorgegebene Modelle oder Prototypen nachahmen, weil in der Form der Individualität die moderne Identität für jedes Subjekt einmalig, originell und unwiederholbar sein muss. Als sich selbst muss jeder anders als die Anderen sein – von den Anderen aber zugleich in seiner Einmaligkeit erkannt werden. Bei der Bewältigung dieser enigmatischen (und unvermeidlich unvollendeten) Aufgabe suchen und finden die modernen Individuen ihre Bezüge zuerst in der Populärkommunikation, die so gesehen viel verständlicher wird und viel von ihrer 2 | Vgl. Luhmann: Die Realität der Massenmedien, 120.
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scheinbaren Sinnlosigkeit verliert. Indem Leser/Zuschauer andere Beobachter beobachten, die nicht existieren aber existieren könnten, Geschehnisse erleben, die ihnen nicht passieren, ihnen aber passieren könnten, beobachten und erkennen sie im Vergleich auch sich selbst; sie lernen, wer sie sind, aufgrund ihrer Ähnlichkeit/Andersartigkeit mit den Personen der Fiktion, mit denen sie sich identifizieren und von denen sie sich zugleich distanzieren – um sich dann mit anderen realen Beobachtern auseinanderzusetzen, die dasselbe tun und getan haben und über ähnlichen Strukturen zur Bewältigung der ewigen doppelten Kontingenz der sozialen Verhältnissen verfügen. Bei allen Klagen und Kritiken, denen sie beständig ausgesetzt ist, erfüllt die Populärkommunikation in der modernen Gesellschaft diese bisher unerlässliche Funktion. Ob und wie die neuen Formen der Netzkommunikation sie integrieren oder sogar ersetzen können werden, bleibt noch eine ganz offene und zum großem Teil dunkle Frage. Auf jeden Fall sind alle Forschungen unbedingt willkommen zu heißen, welche die spezifischen Formen und Modalitäten der Populärkommunikation untersuchen. Trotz ihrer riesigen Verbreitung und trotz der Geringschätzung, mit der die Populärkommunikation in der Vergangenheit betrachtet wurde, bleiben die entsprechenden Formen und konkreten Ausprägungen immer noch überraschend und geheimnisvoll.
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Organisierte Kreativität Überlegungen zur ›Ästhetisierung des Sozialen‹ Michael Makropoulos
1 Frank Wheeler war der Prototyp jenes kleinbürgerlichen Mannes ohne Eigenschaften, der in den ersten beiden Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg zum Inbegriff des amerikanischen Mittelschichtsangehörigen wurde. »Er war adrett und kräftig, ein paar Tage weniger als dreißig Jahre alt, hatte kurzgeschorenes schwarzes Haar und verfügte über jenes unaufdringliche gute Aussehen, das einem Werbefotografen zur Darstellung eines kritischen Konsumenten von gutgemachter, aber preisgünstiger Ware dienen könnte. Doch trotz des Mangels an hervorstechenden Zügen war sein Gesicht ungewöhnlich wandelbar: mit jedem Wechsel des Ausdrucks ließ es plötzlich eine völlig andere Person erkennen«.
Das machte Wheeler »interessant« – auch wenn eine dieser Personen, die er so plötzlich offenbaren konnte, potenziell gewalttätig war, was im Übrigen nicht ausdrücklich über ihn berichtet wird, sondern erst im Laufe der Ereignisse nach und nach zutage tritt: Wheeler konnte seine Aggressivität manchmal nur mit Mühe kontrollieren – oft in nichtigen Situationen und gelegentlich sogar gegen seine Nächsten. Frank Wheeler war verheiratet, hatte zwei kleine Kinder, lebte mit seiner Familie in einem schlichten, aber apart gelegenen Vorstadthaus, hatte den »denkbar ödesten Job« in der Werbeabteilung eines großen Büromaschinenunternehmens in New York City, wohin er wie tausende Andere unter der Woche täglich mit dem Zug pendelte, und versuchte, wenigstens an den Wochenenden mit seiner Frau, einem befreundeten Ehepaar aus der Nachbarschaft und einer langen Reihe von Drinks und Zigaretten dem »Konformismus« zu entgehen, dem alle anderen Angehörigen seines Milieus früher oder später unweigerlich unterliegen würden oder bereits unterlegen waren, obwohl sie in den ersten Nachkriegsjahren noch genau-
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so vom Krieg und dem Leben im mehrfachen europäischen Ausnahmezustand kurz nach dem Krieg gezehrt hatten, wie er selbst. Mit knapp über zwanzig Jahren hatten sie alle »den stolzen Titel ›Veteran‹« getragen, und einige wenige von ihnen trugen wie Frank Wheeler außerdem noch den genauso stolzen Titel »Intellektueller«. »Die Army hatte ihn mit achtzehn eingezogen, in die abschließende Frühjahrsoffensive gegen Deutschland geschickt und ihm vor der Verabschiedung noch eine verwirrende, aber aufregende einjährige Tour durch Europa verordnet; seither hatte das Leben ihn von Erfolg zu Erfolg getragen. Die losen Fäden seines Wesens, die ausschlaggebend waren dafür, daß er zu Träumereien neigte und sich unter den Mitschülern und anschließend unter den Soldaten einsam fühlte, schienen sich plötzlich zu einem festen und ansehnlichen Strang zusammengebunden zu haben. Zum ersten Mal in seinem Leben wurde er bewundert, und der Umstand, daß Mädchen tatsächlich mit ihm ins Bett gehen wollten, war nur wenig bemerkenswerter als seine weitere, damit konkurrierende Entdeckung – daß Männer, und zwar intelligente Männer, ihm zuhören wollten. Seine Schulnoten lagen selten über dem Durchschnitt, doch seine Leistungen bei den nächtelangen, bierseligen Gesprächsrunden, die sich um ihn gebildet hatten, waren keineswegs durchschnittlich – Gesprächsrunden, die oft mit einem allseitigen zustimmenden Gemurmel endeten und damit, daß man sich an die Stirn schlug zum Zeichen, daß der alte Wheeler wieder einmal den Punkt getroffen hatte. Das einzige, was er brauche, hieß es, sei Zeit und die Freiheit, sich selbst zu finden. Diverse große Karrieren wurden ihm prophezeit; Übereinstimmung herrschte darin, daß seine künftige Tätigkeit irgendwo ›auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften‹ liege, wenn auch nicht direkt auf dem der Schönen Künste – zumindest werde es sich um eine handeln, die lange und stete Hinwendung verlange –, was bedeutete, daß er sich früh und auf Dauer nach Europa zurückziehen müsse, das er oft als einzigen Erdteil bezeichnete, in dem zu leben sich lohne«.
Und das nicht nur für ihn, sondern auch für seine Freunde, seine Kommilitonen und nicht zuletzt für seine Frau, die einmal eine »leidlich talentierte und leidlich begeisterte Studentin einer Schauspielschule« gewesen war, die eigentliche Welt der Kunst, des Geistes oder zumindest eines interessanten Lebens unter bedeutenden Menschen bildete. Auch Wheeler selbst hegte »kaum einen Zweifel an seinen außergewöhnlichen Vorzügen. Waren die Biografien großer Männer nicht gezeichnet von dieser Art jugendlicher Suche, von der Auflehnung gegen die Väter und deren Lebensweise? Eigentlich konnte er sogar dafür dankbar sein, daß er kein bestimmtes Interessengebiet hatte: Ohne spezielle Ziele waren ihm auch keine speziellen Grenzen gesetzt. Zunächst einmal war die Welt, das Leben selbst sein erklärtes Interessengebiet«.
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Und obwohl sich dieses »Leben« während seiner Collegezeit, die sich ins Unbestimmte hinzog, auf die Suche nach einem Mädchen konzentrierte, das ihm »ein ungetrübtes Triumphgefühl« hätte vermitteln können, sah er sich als »ernsten, nikotinfleckigen Jean-Paul-Sartre-Typ Mann« – wenn auch ohne eigene Artikel, Abhandlungen oder Bücher und eigentlich auch ohne eine intellektuelle Position, die über den diffusen, hilflosen und vielleicht deshalb wütenden Nonkonformismus hinausgewiesen oder gar hinausgeführt hätte, den das erwartungsgesättigte Unbehagen inmitten »einer betäubten, sterbenden Kultur« provozierte.1 Aber Wheeler wurde weder Kunst- noch Literaturwissenschaftler, er wurde auch nicht Kritiker, Lektor oder Redakteur – er wurde überhaupt kein mehr oder weniger akademischer und mehr oder weniger bohèmehafter Kunst-, Kultur- oder Medienfunktionär. Frank Wheeler machte Karriere als Werbefachmann und wurde damit zu einem jener angestellten Kreativarbeiter, die zusammen mit den öffentlichen oder privaten Symbolanalytikern in den Bildungsinstitutionen und in der Kulturindustrie des mittleren 20. Jahrhunderts ihre erste große Blütezeit erleben sollten.
2 »Vielleicht wird im Jahr 2025 oder 2050 ein Autor, dem eine angeborene Sprachgewalt geschenkt worden ist und der vollkommen unsystematisch gelesen hat, der niemals mehr als nur gerüchteweise von dem Traum des mittleren 20. Jahrhunderts von einer höheren Massenausbildung in den Freien Künsten gehört hat, eine einzigartige unvergessliche Figur schaffen wollen – sagen wir einen Ehebrecher – oder auch ein riesiges soziohistorisches Wandgemälde malen. Er wird womöglich nie von Emma Bovary oder Molly Bloom oder Rabbit Angstrom gehört haben«
– aber dennoch, behauptet Benjamin Kunkel, wird die ästhetische Form, die dieser Autor wählt, wahrscheinlich die Form des Romans sein. Denn der Roman, »wie er als Kunstform innerhalb einer sich selbstreflexiv entwickelnden Tradition geschrieben wurde«, der Roman, der »sein Hauptquartier in Frankreich« besaß und der »kaum mehr als einhundert Jahre nach seiner Geburt, welche Stadt auch immer man als seinen lieu de naissance festhalten möchte«, auf jeden Fall aber »1958 in Becketts Zimmer gestorben ist«, dieser Roman wird zwar »nie wieder dieselbe zentrale Stellung erreichen, dieselben Marktanteile«, aber dennoch wird er keine heillos historische, keine obsolete Form sein, sondern eine Form mit einer spezifischen Funktion, die seiner »alten europäischen Rolle als Hauptort psychologischer Untersuchungen« entspricht.2 Es ist natürlich für den, der es genau nimmt, etwas irritierend, dass eine der paradigmatischen Figuren für diese These, nämlich Rabbit Angstrom, erst 1960 1 | Yates: Zeiten des Aufruhrs, 20, 29ff., 57, 69 und 89. 2 | Kunkel: »Der Roman«, 240 bzw. 239.
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das Licht der Welt erblickte, aber das mag dem Umstand geschuldet sein, dass er, so wie ungefähr vierzig Jahre zuvor auch Molly Bloom, nicht im »Hauptquartier« des Romans, sondern an einem relativ entlegenen Außenposten geschaffen wurde. Und nähme man es noch genauer, dann ließe sich die These überhaupt nur dann halten, wenn man mit dem Begriff des Romans ausschließlich die große Epik des psychologischen Realismus bezeichnen würde, so dass die ganze Tradition vor Flaubert und seit Updike ausgeschlossen wäre, von den verschiedenen Nebentraditionen und experimentellen Entgrenzungen des Realismus ganz zu schweigen. Aber selbst wenn man diese Einschränkungen akzeptierte, müsste man doch einwenden, dass die imaginäre Linie, die Kunkel hier von Flaubert über Joyce zu Updike zieht und die ja durchaus eine gewisse systematische Plausibilität hat, zumindest in formaler, wahrscheinlich aber auch in inhaltlicher Hinsicht, ausgerechnet von Joyce durchbrochen wird. Schließlich war der innere Monolog von Molly Bloom eine Antwort auf die ästhetische und die ideologische Krise des traditionellen realistischen Romans. Denn die radikale Subjektivierung der Erzählperspektive und die fortschreitende Auflösung der Erzählstruktur war nicht nur ein Ausweg aus der entwicklungslogischen Desillusionierung der Romanfiguren, in die der genrespezifische zentralperspektivisch-objektivistische Totalitätsanspruch des realistischen Romans angesichts einer zunehmend totalitätswidrigen Wirklichkeit geführt hatte. Die radikale Subjektivierung und die Auflösung der objektivistischen Erzählperspektive war auch ein Bruch mit der analytischen Distanz des Autors. Außerdem hat Kunkel – gewiss der schwächste, aber sicher nicht der letzte aller möglichen Einwände gegen seine These vom Tod des klassischen Romans Ende der 50er Jahre –, selbst einen Roman geschrieben, der mit den alten Lösungsstrategien des psychologischen Realismus zwar spielt, aber im Kern selbst dort ein ausgesprochen traditioneller Bildungsroman ist, wo er die klassischen Elemente des Genres ironisch durchdekliniert, von der jugendlichen Sinnsuche im bohèmehaften Milieu als sinnerfülltem Residuum in einer sinnentleerten Welt bis zur vorläufigen Läuterung des Romanhelden im reflexiven Exotismus jener standardisierten Fremdheit, die die künstlichen Paradiese des globalisierten Alternativtourismus zu idealen Austragungsorten von Lebensführungs- und Identitätskrisen macht.3 Wenn aber eine These, wie in diesem Fall, nur durch eine Reihe von Einschränkungen, die teilweise ihre Substanz betreffen, Plausibilität hat, dann ist sie entweder wirklich nicht zu halten, oder sie ist die mehr oder weniger geschickt konstruierte Verpackung für etwas anderes, das prima vista nichts mit ihr zu tun hat, aber in ihrer Formulierung enthalten ist und dessen Bedeutung sich erst aus einem impliziten Kontext erschließt. Auf diese Überlegung führt jedenfalls die systematische Koinzidenz, dass die Tradition des Romans, die Kunkel hier in Anspruch nimmt, also die Tradition des psychologischen Realismus, auf bemerkenswerte Weise mit jener organisierten Ästhetisierung der höheren Bildungsinhalte korrespondiert, die die akademische Institution des ›Creative Writing‹ als exzentrischer 3 | Vgl. Kunkel: Unentschlossen.
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Mittelpunkt der ›Liberal Arts‹ seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs an den Universitäten und Colleges der Vereinigten Staaten bildet. Damit gewinnt der eine Nebensatz von Kunkel an Bedeutung, der irgendwie fremd ist in der allmählichen Entwicklung seines Arguments und der vielleicht deshalb aus ihm heraussticht, weil er so abwegig wirkt, nämlich der Verweis auf den »Traum des mittleren 20. Jahrhunderts von einer höheren Massenausbildung in den Freien Künsten«, womit nicht das Ensemble von Malerei, Komposition, Plastik oder eben Literatur gemeint ist, sondern die akademischen Fächer, die unter dem Namen ›Liberal Arts‹ zusammengefasst werden, also die Geisteswissenschaften.
3 Die Geschichte des ›Creative Writing‹ ist in ihren wesentlichen konzeptuellen und institutionellen Zügen die Geschichte einer organisierten kultur-, bildungs- und sozialpolitischen ›Ästhetisierung des Sozialen‹ nach dem Ende der Hegemonie der klassisch-modernen Avantgarden und ihrer autoritären oder zumindest elitären ästhetischen Konzepte, wie Mark McGurl in seiner systemtheoretisch grundierten Geschichte der amerikanischen Nachkriegsliteratur gezeigt hat.4 McGurl argumentiert in eine Richtung, in der die spezifisch ästhetische Ausrichtung der »höheren Massenausbildung« (mass higher education) nach dem Zweiten Weltkrieg zur Voraussetzung für die organisierte Herstellung einer kreativen Subjektivität wird, die mindestens in dreierlei Hinsicht für die soziokulturelle Entwicklung der letzten 50-60 Jahre in Nordamerika von Bedeutung war. ›Creative Writing‹ zielte als eigenständiges Studienfach wie als Bei- oder Nebenfach für alle anderen geisteswissenschaftlichen Fächer – erstens – auf die Steigerung und Verstetigung der literarischen Produktion durch systematische Ausbildung von Schriftstellern durch Schriftsteller, die auf diese Weise ihrerseits Teil des Bildungssystems wurden. ›Creative Writing‹ schuf – zweitens – ein neues Publikum für die Produkte dieser Schriftsteller, das sich aus traditionell kunstfernen Schichten rekrutierte und auf diese Weise überhaupt erst eine nachbürgerliche literarische Massenkultur ermöglichte, die keine Unterschicht-, sondern eine ausgesprochene Mittelschichtkultur war. Und ›Creative Writing‹ war – drittens – ein wichtiges Element in der Ausbildung von Arbeitskräften für die sogenannten kreativen Berufe in der Kultur- und Dienstleistungsindustrie sowie in den verschiedenen geisteswissenschaftlichen Zweigen der Bildungs- und Humanressourcenindustrie. Natürlich ist im Zuge der akademischen Etablierung des ›Creative Writing‹ in den 40er Jahren und mit seinem signifikanten institutionellen Anstieg seit dem Ende der 70er Jahre immer wieder und zuletzt nach dem Erscheinen von McGurls Studie geradezu erbittert darüber gestritten worden, ob sich Kreativität überhaupt
4 | Vgl. McGurl: The Program Era.
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lehren ließe.5 Aber die bemerkenswerten Aspekte der Geschichte liegen vielleicht nicht in der Fortführung der alten Debatten um die Genese des schöpferischen Menschen, der ja keineswegs eine Erfindung der idealistischen Ästhetik, sondern ein Korrelat der neuzeitlichen Technisierung und ihres prinzipiell konstruktivistischen Weltverhältnisses ist.6 Die bemerkenswerten Aspekte der Geschichte des ›Creative Writing‹ liegen vielleicht eher in der institutionellen Einbindung der ästhetischen Subjektivität durch ihre programmatische Integration in die Welt der höheren Bildungsinstitutionen und der bürokratisierten Reflexions- und Wissensarbeit als wünschbarer und hochgradig positiver Klärung der sozialen Funktion des Ästhetischen. Eine der zahlreichen Pointen dieser Geschichte, die oft bemerkt, aber kaum problematisiert worden ist, besteht übrigens darin, dass die Institutionalisierung der literarischen Kreativitätsausbildung als reguläres Studienfach mit zertifizierten Abschlüssen im Zuge des ›Servicemen’s Readjustment Act‹ von 1944, der sogenannten ›G.I.-Bill‹, staatlich gefördert worden ist, als es darum ging, die heimkehrenden Kriegsveteranen, die ja immerhin ausgebildete und erprobte Gewaltexperten waren, durch Bildungs- und Aufstiegsperspektiven in die amerikanische Gesellschaft zu integrieren, die nach dem Zweiten Weltkrieg in eine neue Phase ihrer Selbstkonstitution trat.7 Eine andere Pointe ist der lange, bis weit in die 60er Jahre dauernde Widerstand der alten, insbesondere der New Yorker Bildungseliten gegen die spezifische Kultur der neuen Mittelschichten, die »Mid-brow-culture«, die auf diese Weise mitproduziert wurde.8 Und eine dritte Pointe dieser Geschichte ist, dass sie als institutionalisierte Entfaltung individueller Potenziale eine Vorgeschichte der Gegenkulturen der späten 60er Jahre bildet, die noch immer die generalisierte Matrix für den epochencharakteristischen Wert der individuellen Selbstentfaltung sind. Aber das Erstaunliche an den verschiedenen Programmen des ›Creative Writing‹ besteht in etwas anderem, nämlich in der schlichten Tatsache, dass es in diesen Programmen darum ging, ausgesprochen traditionelle literarische Techniken zu lernen, wie sie für den bürgerlichen Roman und dessen minimalistische Derivate der Short Story charakteristisch sind. Das Erstaunliche und deshalb ausgesprochen Erklärungsbedürftige an den akademischen ›Creative Writing‹-Programmen ist, dass in ihren Workshops und Kursen keine avantgardistischen Formexperimente im Zentrum des Interesses standen, sondern ausgerechnet weitgehend traditionelle literarische Formen und da wiederum vor allem Prosadichtung. Das mag zwar an der relativ voraussetzungslosen Zugänglichkeit 5 | Vgl. z.B. Menand: »Show or Tell«. Zu den quantitativen Aspekten der Institutionalisierung vgl. die Näherungszahlen für Departments, Curricula oder Workshops im Rahmen der »Creative Writing«-Programme bei McGurl: The Program Era, 24ff.: 1945–7, 1975–52, 1985–140, 2005–350. 6 | Vgl. Blumenberg: »Nachahmung der Natur«, 55-103. 7 | Vgl. allgemein bzw. speziell McGurl: The Program Era, 60f. bzw. 195ff. 8 | Vgl. McGurl: The Program Era, 63ff.
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von Prosadichtung liegen, die der ästhetischen Traditionslosigkeit der Herkunftsmilieus vieler Studierender entgegenkam, die erst im Zuge der organisierten Bildungsexpansion nach dem Zweiten Weltkrieg auf die amerikanischen Universitäten und Colleges gingen. Aber für die Frage nach der ›Ästhetisierung des Sozialen‹ in einem spezifischen Sinne könnte eine andere, weniger sozialstrukturelle und mehr sozialtheoretische Erklärung, die den Roman als spezifische Form ins Spiel bringt, von ungleich größerer analytischer Bedeutung sein. Denn der Roman ist – pointiert gesagt – das privilegierte Medium, in dem das Selbst- und Weltverhältnis eines Individuums reflektiert wird. Und genau diese Reflexion ist es, die dem Roman einen spezifischen historisch-sozialen Index verleiht und ihn zu einem Medium werden lässt, das einer Kultur entspricht, für die das individuelle Selbstund Weltverhältnis nicht selbstverständlich, sondern allererst reflexionsbedürftig und als bildungsgenerierte Subjektivität im emphatischen Sinne vor allem reflexionskonstituiert ist.
4 Der Roman ist, nach der berühmten Definition von Georg Lukács, die ästhetische Form der »transzendentalen Obdachlosigkeit«9 . Er ist »die Geschichte eines degradierten Suchens (Lukács nennt es ›dämonisch‹) nach authentischen Werten innerhalb einer Welt, die ebenfalls, aber in viel größerem Maße und auf ganz andere Weise, degradiert ist«10, wie Lucien Goldmann diese Bestimmung des Romans spezifiziert hat. Der Roman ist aus diesem Grund das spezifisch epische Medium eines hochgradig reflexiven Weltverhältnisses, das nicht zufällig von den deutschen Romantikern als Steigerung des spezifisch theoretischen Mediums dieses Weltverhältnisses, nämlich der idealistischen Philosophie, konzipiert wurde. Die programmatische Romantisierung der Welt durch ihre kalkulierte ästhetische Erhöhung, die zumindest für Novalis mit der ebenso kalkulierten »Erniedrigung« des »Höheren, Unbekannten, Mystischen, Unendlichen« korrespondieren musste, um »den ursprünglichen Sinn wieder« zu finden, war damit die erste elaborierte und zumindest kunsttheoretisch folgenreiche Ästhetisierung der Wirklichkeit.11 Nicht minder folgenreich war diese Ästhetisierung der Wirklichkeit 9 | Lukács: Die Theorie des Romans, 32. Das ist zumindest die eine, die modernistische, auf das individuelle Orientierungsproblem gemünzte Metapher. Lukács war allerdings virtuos genug, auch eine traditionalistische, auf das individuelle Zugehörigkeitsproblem gemünzte Metapher, nämlich »transzendentale Heimatlosigkeit«, zu verwenden, wodurch seine These für geradezu entgegengesetzte modernitätskritische Tendenzen anschlussfähig wurde (52). Zum mehrfachen modernitätskritischen Kontext der Lukácsschen These vgl. Makropoulos: »Krise und Kontingenz«, bes. 55ff. 10 | Goldmann: »Einführung in die Probleme einer Soziologie des Romans«, 18. 11 | Novalis: »Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen«, Fragment 105, 334.
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allerdings auch für die modernistischen und avantgardistischen Tendenzen der bürgerlichen Ästhetik. Denn die bürgerliche Ästhetik war gerade aus der Perspektive ihrer avantgardistischen Überschreitungen keineswegs nur eine Ästhetik des Erhabenen gegen die ›niedrige‹ Wirklichkeit des Ökonomischen in allen seinen Ausdruckformen. Die bürgerliche Ästhetik war vielmehr in ihrer Dialektik von Erhöhung und Erniedrigung im Nachgang zu ihrer romantischen Grundlegung die Vorbereitung zur späteren avantgardistischen Ästhetisierung der Welt, die in der Klassischen Moderne als Synthetisierung von Kunst und Leben im Sinne der kontrafaktischen Konstruktion einer neuen Einheit der Wirklichkeit konzipiert wurde. Diese – immanent generierte – Einheit der Wirklichkeit gründete zunächst in der Idee einer säkularisierten Totalität der Erfahrung, die als solche noch im Auslaufhorizont der europäischen Melancholie der frühen Neuzeit stand. Aber als sensorisch und nicht als kognitiv konstituierte Lebenswelt gründete diese Einheit der Wirklichkeit vor allem in der Umstellung der transzendentalen Relationen von Kognition auf Wahrnehmung und damit von der moralischen auf die sensorische Konstitution der Subjekte. Das ist die Bedingung für die Möglichkeit einer ›Ästhetisierung des Sozialen‹ in jenem strikten Sinne, der darauf abzielt, dass Vergesellschaftungsprozesse nicht nur mit Wahrnehmungseffekten korrespondieren, sondern unter modernen Bedingungen durch sie induziert sind und von ihnen strukturiert werden, wodurch die gesellschaftliche Erfahrung aus dem Horizont des sakralen heraustreten und die Möglichkeit einer immanenten Selbstkonstitution des Sozialen eröffnen kann. Ästhetisierung des Sozialen im strikten Sinne ist deshalb prinzipiell medienvermittelt – und sie ist dies im zweifachen Sinne, sofern der Begriff des Mediums eine realitätskonstituierende Modalstruktur bezeichnet, die ebenso virtuell wie materiell sein kann. Das virtuelle Medium der ›Ästhetisierung des Sozialen‹ ist der Film, wie nicht nur Walter Benjamin gezeigt hat.12 Er ist es, der – in den Worten von Siegfried Kracauer – aus der Welt »virtuell unser Zuhause«13 macht. Das materielle Medium der ›Ästhetisierung des Sozialen‹ ist das Design, wie sich nicht nur im Anschluss an Helmuth Plessner argumentieren lässt.14 Alle beide, Film und Design, sind allerdings keine Medien der bloßen habituellen Einübung und funktionalen Einpassung der Individuen in die Industriegesellschaft im Sinne forcierter »kulturindustrieller«15 Vergesellschaftung. Sie sind keine Vergesellschaftungsmedien im disziplinierenden und regulierenden Sinne der herrschaftsförmigen Freizeitpolitiken der Klassischen Moderne in der Zwischenkriegszeit. Sie sind vielmehr Medien der Einübung tendenziell autonomer Individuen in eine Struktur der vielfältigen Mobilität und Möglichkeitsoffenheit. Damit verweist das Konzept der ›Ästhetisierung des Sozialen‹ zunächst vor allem auf die passive, auf die rezeptive und gerade nicht auf die kreative Seite massen12 | Vgl. Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«. 13 | Kracauer: Theorie des Films, 394. 14 | Vgl. Plessner: »Wiedergeburt der Form im technischen Zeitalter«, 84. 15 | Horkheimer und Adorno: Dialektik der Aufklärung, 128ff.
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kultureller Vergesellschaftung im weiteren, nicht disziplinierungs-, sondern normalisierungsgesellschaftlichen Sinne.16 Gerade das Design korrespondiert nämlich mit dem anderen materiellen Medium der Massenkultur, dem organisierten Massenkonsum. Dessen soziales Spezifikum ist nicht der kommerzielle Aspekt der Aneignung von Gütern, sondern der habituelle Aspekt der objektvermittelten Einübung ins Transitorische durch die Aneignung immer neuer Güter. Und das Design hat hier vor allem eine sozialtheoretisch zwar unterschätzte, kulturtheoretisch aber nicht zu überschätzende Bedeutung: Design ist nicht nur das Medium der materiellen Gestaltung moderner Lebenswelten im Sinne selbstverständlicher Wirklichkeiten.17 Design ist vor allem das privilegierte Medium der passiven ästhetischen Erziehung und der Geschmacksbildung der Mittelschicht. Design zielt auf die Produktion ästhetischer Erfahrung bei Menschen, die innerhalb einer Generation sozial aufgestiegen und deshalb Menschen ohne eigene ästhetische Tradition sind. Und erst unter dieser Voraussetzung kann Design dann zum Medium für die Herstellung einer Einheit der Wirklichkeit des modernen Menschen auf der Basis seiner materiellen Objekte werden. Das ist jedenfalls die These, die sich in der Tradition einer auf Benjamins Paradigma konzentrierten Theorie der Massenkultur formulieren ließe. Dass es sich hier um eine Theorie der Massenkultur handelt, die die Potenzialisierungsfunktion des Ästhetischen unterbelichtet, weil sie auf dessen Einübungsfunktion konzentriert ist, verbaut allerdings die Möglichkeit, die organisierte Positivierung der Kreativität durch die ›Ästhetisierung des Sozialen‹ zu problematisieren. Denn diese Theorie der Massenkultur ist zwar die Theorie einer Kultur im Übergang von einer Ästhetik des Erhabenen zu einer Ästhetik des Alltäglichen und damit die Theorie des Übergangs von einer dualen zu einer hegemonialen Kultur. Aber sie ist keine Theorie der Massenkultur als spezifischer Kultur einer etablierten demokratischen Mittelschichtgesellschaft.
5 Was die gesamte Massenkulturdiskussion in der Tradition Benjamins strategisch unterbelichtet, ist tatsächlich die Potenzialisierungsfunktion des Ästhetischen, also seine ›kreative‹ Seite. Man kann natürlich darüber streiten, ob dies aufgrund seiner modernistisch-avantgardistischen Ablehnung der bürgerlichen Kunstautonomie geschieht oder ob dies – theoretisch aufregender – aus der Ablehnung einer Konzeption der modernen Kunst als melancholischer Kompensation der transzendent gesicherten Einheit der Wirklichkeit heraus geschieht, die die autonome Kunst als Säkularisat entlarvt, das sie zumindest im Souveränitätsanspruch ästhetischer Subjektivität ja auch ist. Aber man wird nicht abweisen können, dass Benjamins Theorie der modernen Kunst gerade keine Theorie eines Möglichkeitsme16 | Vgl. Makropoulos: Theorie der Massenkultur, 127ff. 17 | Vgl. Blumenberg: »Lebenswelt und Technisierung«, 23.
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diums, sondern entschieden die Theorie eines Wirklichkeitsmediums ist. Nur so wird im Übrigen seine berühmte Wendung von der faschistischen »Ästhetisierung der Politik« plausibel, nämlich als Kritik der Finalisierung politischen Handelns auf die Herstellung eines immanenten Absoluten, dessen Modell eine säkulare Totalitätskonzeption und dessen Medium das Ästhetische ist.18 Das ist in einer Konzeption der ästhetischen Autonomie, die auf die Tradition der europäischen Melancholie mit ihrem theologisch aufgeladenen Anspruch, Wirklichkeit zu konstituieren, zurückgeht, konsequent: Der allegorische Blick auf die Kontingenz der fragmentierten Welt führt zur kompensatorischen Konstruktion einer konkreten Einheit der Wirklichkeit. Aber die Konzeption der ästhetischen Autonomie geht nicht in der gegenwirklichen Totalitätsstiftung auf. Und sobald sie nicht in der Tradition einer Problematisierung, sondern in der Tradition einer Positivierung der Kontingenz steht, bedeutet ästhetische Autonomie strategisch etwas sehr anderes. Dabei geht es nicht um eine Ästhetik der »offenen Form« oder der »neuen, unerhörten Möglichkeiten«, wie sie etwa von Plessner gefordert worden ist und in gewisser Hinsicht ein Übergangskonzept für die Neubestimmung des Ästhetischen in technisierten Lebenswelten bildet. Eine solche Ästhetik der »offenen Form« führt zwar von der Kompensationsfunktion des Ästhetischen weg, aber sie bleibt eben doch noch gegen sie profiliert und steht damit noch in den wenn auch negativen Bindungen des Ästhetischen an die Wirklichkeit.19 Es geht aber auch nicht um eine Ästhetik der Negation im Sinne von Adorno, die das Ästhetische gegen die ökonomische Welt der bürgerlichen Gesellschaft gestellt und zum Inbegriff der individuellen Autonomie gegen die soziale Heteronomie aufgeladen hat.20 Worum es vielmehr geht, ist eine gesellschaftliche Funktion der Kunst, die zumal in ihrer institutionalisierten Form eines ausdifferenzierten Kunstsystems darin besteht, die ontologische Differenz zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit offenzuhalten und die Konstitution optimierungsoffener Wirklichkeiten durch die gesellschaftliche Integration systematischer Fiktionalisierungsprozesse zu ermöglichen, wie Niklas Luhmann erklärt hat.21 ›Autonomie der Kunst‹ bedeutet zunächst die Freisetzung der Kunst aus traditionellen sakralen und repräsentativen Bezügen mit der Folge, dass die Kunst als selbständiger Bereich eines interesselosen und zweckfreien Wahrnehmungs-, Gestaltungs- und Erkenntnisvermögens aus instrumentellen Funktionen herausgelöst wird. Die Differenz des Ästhetischen zur Zweck- und Verwertungsrationalität wird damit zu seinem gesellschaftlichen Daseinsgrund. ›Autonomie der Kunst‹ bedeutet auf diesem Hintergrund, zweitens, die Entfaltung einer eigenen Form18 | Vgl. Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, 469. Vgl. hierzu an einem gänzlich anderen Gegenstand Michael Makropoulos: »Die infrastrukturelle Konstruktion der ›Volksgemeinschaft‹«, 185-203. 19 | Vgl. Plessner: »Wiedergeburt der Form im technischen Zeitalter«, 84f. 20 | Vgl. Adorno: Ästhetische Theorie, bes. 334ff. 21 | Vgl. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, bes. 229ff.
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gesetzlichkeit des Kunstwerks, die es nicht nur von sozialen, sondern tendenziell auch von kommunikativen Funktionen löst. Die Unverständlichkeit der Kunst wird als Eigenlogik zu ihrem modernen Qualitätsmerkmal. ›Autonomie der Kunst‹ bedeutet schließlich als Konsequenz dieser beiden Entwicklungen, drittens, die Freisetzung des Ästhetischen nicht nur aus seinen tradierten sozialen Bindungen, sondern seine Freisetzung aus sozialen Bindungen überhaupt.22 Die imaginäre und fiktionale Welt der Kunst eröffnet auf diese Weise eine Perspektive auf die Wirklichkeit, von der aus stets auch andere Möglichkeiten erschlossen und als potenzielle Wirklichkeiten bestimmt werden können. Die Antisozialität der Kunst hat damit nicht nur eine prinzipiell sozialkritische, sondern vor allem eine prinzipiell realitätskritische Funktion. Wo der Autonomieanspruch des Ästhetischen jedoch nicht zum Souveränitätsanspruch wird, wo der Künstler sich nicht als »Gesetzgeber der Welt«23 versteht, wie Percy Bysshe Shelley gefordert hat, wo das Ästhetische also nicht im Auslaufhorizont der Melancholie die Option auf die kontrafaktische Herstellung eines Ganzen manifestiert, dort bildet die Autonomie des Formgesetzes die Basis verschiedener, einander vielleicht überbietender, aber auf jeden Fall konkurrierender Möglichkeiten und etabliert eine realitätskonstituierende Differenz von Wirklichkeit und Möglichkeit, die nicht in einem letzten Akt der Ordnungsstiftung aufgehoben, sondern dauerhaft offengehalten wird. Das ist denn auch der Grundgedanke von Luhmanns Theorie des Kunstsystems: Die Ausdifferenzierung eines autonomen Kunstsystems bedeutet zwar die Institutionalisierung eines dauerhaften Generators radikaler Differenz, nämlich der Differenz von Wirklichkeit und Möglichkeit. Aber Luhmanns These geht in einer bemerkenswerten Weise über die Kritik ästhetischer Souveränität hinaus. »Die imaginäre Welt der Kunst bietet eine Position, von der aus etwas anderes als Realität bestimmt werden kann. Ohne solche Differenzmarkierungen wäre die Welt einfach das, was sie ist, und so, wie sie ist«. Die gesellschaftliche Funktion der Kunst besteht deshalb nicht nur darin, die Differenz zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit als Differenz zu erzeugen, offenzuhalten und als offene gesellschaftlich zu etablieren, sondern auch »im Nachweis von Ordnungszwängen im Bereich des nur Möglichen«24 . Was sich hier wie die Legitimation der Kunstfunktion gegen die banausischen Tendenzen der gesellschaftstheoretischen Tradition ausnehmen mag und als ausgesprochen elaborierte soziale Begründung des Ästhetischen erscheint, ist aber etwas sehr anderes, nämlich die Bestimmung der Differenz von Wirklichkeit und Möglichkeit als 22 | Im Prinzip handelt es sich hier um Adornos Begriff der ästhetischen Autonomie, genauer: um den in Adornos ästhetischer Theorie explizierten und pointierten Begriff bürgerlicher Kunstautonomie, der in dieser negationstheoretischen Bestimmung seinerseits überhaupt erst unter Bedingungen massenkultureller Aufhebungen der Kunstautonomie entfaltet und plausibilisiert werden konnte. 23 | Shelley: »Eine Verteidigung der Dichtung«, 248. 24 | Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, 238.
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symmetrische und gerade nicht als asymmetrische. Dass es auch im Bereich des Möglichen Ordnungszwänge gibt, nimmt ihm den Makel des Spielerischen, Beliebigen und Luxurierenden. Eigene Ordnungsprinzipien und Rationalitätskriterien hat zwar auch das Spiel; der Unterschied zum Ästhetischen besteht jedoch darin, dass das Spiel unproduktive Kreativität realisiert, Kunst hingegen produktive Kreativität für sich reklamiert.25 Anders gesagt: Das Mögliche ist durch diese Ordnungszwänge von gleicher ontologischer Dignität wie das Wirkliche – und diese Gleichwertigkeit ist es, die auf das entscheidende Moment in der ›Ästhetisierung des Sozialen‹ verweist.
6 Als reflektierte Erschließung und organisierte Etablierung neuer oder zumindest anderer Möglichkeiten kann das Konzept der Ästhetisierung entweder kritisch oder aber affirmativ verstanden werden. Tatsächlich ist das Ästhetische gerade in seiner bürgerlichen Funktion das privilegierte Medium einer sozialen Negativität, die weit über die politische hinausweist und damit zur quasi-transzendentalen Voraussetzung der kritischen Infragestellung von Sozialität überhaupt wird. Das ist im Prinzip die Position der Kritischen Theorie und namentlich die Position Adornos, für den das Ästhetische gerade deshalb das Antisoziale schlechthin ist, weil das Kunstwerk – sofern es von ›Dignität‹, also erhaben ist – ausschließlich seinem eigenen, souveränen Formgesetz gehorcht und deshalb in einer Welt der universellen Vermittlung das Unvermittelbare schlechthin bildet.26 ›Autonomie der Kunst‹ bedeutet deshalb vor allem: Autonomie gegenüber den Ansprüchen des Publikums, gleichgültig, ob es sich dabei um Bildungs- oder um Unterhaltungsansprüche handelt. Aber gerade im nachbürgerlich-massenkulturellen, auf Kommunikabilität, wenn nicht auf Popularität ausgerichteten Konzept des Ästhetischen wird das Kunstwerk zum Medium einer sozialen Positivität, die die begrenzte Negativität des anders Möglichen zwar nutzt, aber in dieser Negativität nicht aufgeht, sondern durch sie hindurch auf die Erschließung und Organisierung neuer und vor allem sozial anschlussfähiger Möglichkeiten orientiert ist. Deren Kriterium ist tatsächlich Popularität und ihre Instanz ist das Publikum. Die Funktion des Ästhetischen ist unter dieser Voraussetzung gerade nicht die Destruktion problematischer Wirklichkeiten und auf sie ausgerichteter Wahrnehmungsweisen. Wo es weder um Bildung noch um Unterhaltung geht, wo es also nicht um Welterfahrung im passiven Sinne geht, zielt die soziale Integration des Ästhetischen auf die Produktion von Kreativität – was im Übrigen für die amerikanische Situation nach dem Zweiten Weltkrieg auch deshalb von Bedeutung ist, weil »kein Wort [...] im Englischen seit so langem einen so positiven Klang hat wie das Adjektiv ›schöpfe25 | Vgl. Popitz: Spielen, 30f. 26 | Vgl. Adorno: Ästhetische Theorie, 335.
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risch‹ [creative]«27, wie Raymond Williams erklärt hat. Allerdings handelt es sich dabei nicht um Kreativität im idealistischen Sinne des Begriffs, sondern um Kreativität in dessen pragmatistischem Sinne. Und im pragmatistischen Verständnis bezeichnet der Begriff der ›Kreativität‹ keineswegs das schöpferische Vermögen des Menschen, sondern vielmehr das Vermögen, neue Problemstellungen durch die flexible und durchaus unorthodoxe Anwendung erworbener und habitualisierter Fähigkeiten zu meistern.28 ›Kreativität‹ bedeutet damit etwas, das gerade nicht in der Tradition des poetischen Weltverhältnisses mit seiner Tendenz der konstruktivistischen Realitätsüberbietung steht, in die Williams auch den modernen Kreativitätsbegriff stellt und aus dem heraus der idealistische Kreativitätsbegriff seine Plausibilität zieht. Vielleicht könnte die Reflexion auf diese Differenz in der Kreativitätssemantik den Streit darüber, ob sich Kreativität lehren und lernen ließe, der im Nachgang zu McGurls Studie wieder aufgeflammt ist, zu einem nicht geringen Teil gegenstandslos machen. Denn die organisierte Bildung von Kreativität, wie sie nicht zuletzt in den Programmen des ›Creative Writing‹ institutionalisiert wurde, ist schließlich vor allem eine Übung in reflexiver Fiktionalisierung, die überhaupt erst im Kontext eines pragmatistischen Kreativitätsbegriffs zu einer generalisierbaren Kulturtechnik wird – auch wenn die Attraktivität des ›Creative Writing‹ als Medium der individuellen Selbstentfaltung eher dem emphatischen, also dem idealistischen und nicht dem pragmatistischen, nüchternen Kreativitätsbegriff geschuldet sein mag. Man könnte auch so formulieren: Im ›Creative Writing‹ findet eine bildungs- und sozialpolitisch initiierte Synthese des pragmatistischen mit dem idealistischen Kreativitätsbegriff statt, die ihrerseits auf die Etablierung einer neuen, selbsteigenen Kultur nach dem Ende der Differenz von hoher und niederer Kultur verweist. Diese neue Kultur, dieses neue Selbst- und Weltverhältnis, realisiert sich in der Massenkultur der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts und wird zur hegemonialen Kultur einer Mittelschichtgesellschaft, die auf soziale Mobilität und innovative Möglichkeitsoffenheit gegründet ist. Es ist allerdings nicht nur die eine, einzige und tendenziell universelle neue Kultur, die Susan Sontag im Rekurs auf Benjamin in ihrem epochemachenden Essay als nichtliterarische Kultur der medienvermittelten Wahrnehmung beschrieben hat, in der die Kunst eine neue, weitgehend integrierende und ebenso weitgehend instrumentelle Funktion als Medium einer »neuen Sensibilität«29 hat. Es ist auch jene neue literarische 27 | Williams: »Kreativität – Wahrnehmung – Kommunikation«, 9. 28 | Vgl. z.B. prägnant Joas: Die Kreativität des Handelns, 190: »Alles menschliche Handeln wird [...] im Blick der Pragmatisten in der Spannung zwischen unreflektierten Handlungsgewohnheiten und kreativen Leistungen gesehen. Das heißt zugleich auch, daß Kreativität hier als Leistung innerhalb von Situationen, die eine Lösung erfordern, gesehen wird, und nicht als ungezwungene Hervorbringung von Neuem ohne konstitutiven Hintergrund in unreflektierten Gewohnheiten«. 29 | Sontag: »One culture and the new sensibility«, 293-304.
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Kultur, in der die reflexive Fiktionalität des literarischen Kunstwerks eine soziale Funktion erlangt, die ihrerseits erst erzeugt und institutionell im Zusammenspiel von Bildungssystem, Buchmarkt und literarischer Öffentlichkeit auf Dauer gestellt werden muss. ›Creative Writing‹ ist in diesem Sinne ein Medium, das die soziale Nutzung der reflexiven Seite des Ästhetischen durch seine Integration ins Bildungssystem ermöglicht und damit Teil eines sozialen Dispositivs wird, das die historische Konstruktion der Mittelschicht nicht zuletzt durch die organisierte ästhetische Erziehung zum Ziel hat. Anders als Design und Film, anders vor allem als Konsum, ist das ›Creative Writing‹ allerdings nicht das Medium der passiven, sondern das Medium der aktiven ästhetischen Erziehung der Mittelschicht. Es ist das Medium der Erziehung zu autonomer Produktivität im funktionellen Ensemble innovationsoffener Kulturpolitik, egalitärer Bildungspolitik und aufstiegsorientierter Sozialpolitik. Und wenn schon nicht in jedem Fall im Bereich der Kunst, so ist diese Produktivität doch in den meisten Fällen im Bereich der Medien, des Marketing, der Bildungsinstitutionen und der gesellschaftlichen Symbolarbeit ein ebenso essentielles wie universell einsetzbares berufliches Qualifikationsmerkmal für alle geisteswissenschaftlich grundierten Tätigkeiten. Zu dieser Konzeption organisierter Kreativität gehört aber nicht nur die Fähigkeit zu reflexiver Fiktionalität, sondern auch die Sensibilität für den Wert des Anderen, des Fremden, des Heterogenen und die Fähigkeit zu dessen kommunikativer Integration. Auch hierfür ist die ›G.I.-Bill‹ und die historische Integration der Kriegsveteranen von Bedeutung gewesen. Die ›G.I.-Bill‹ war nämlich nicht nur eine Antwort auf die Notwendigkeit, Millionen bestens geübter Gewaltexperten, die noch keinen Platz in der Gesellschaft hatten, durch gesellschaftlichen Umbau zu integrieren; die ›G.I.-Bill‹ eröffnete auch die Chance, die Kriegsheimkehrer als Experten entgrenzter Erfahrungsbestände und extremer Erfahrungen anzusprechen und so zu einem formativen Element dieses gesellschaftlichen Umbaus zu machen. Die ›G.I.-Bill‹ wurde so zum zweifachen Modernisierungsfaktor. Sie ermöglichte die Erweiterung und vor allem Relativierung tradierter Erfahrungsräume und sozialer Strukturen. Und sie machte die traditionellerweise sozial problematischen Kriegsveteranen zu einem Instrument der Demokratisierung des Bildungssystems, der Kultur und nicht zuletzt der Gesellschaft in den Vereinigten Staaten.30 30 | In Deutschland wurde dieses Ensemble von Bildungs- und Sozialpolitik übrigens erst viel später, nämlich im Zuge der Bildungsoffensive der 70er Jahre realisiert. Reintegrationspolitik war hier nach dem Zweiten Weltkrieg nämlich insbesondere Sozialpolitik, wofür vor allem die Maßnahmen der Rentenpolitik stehen. Die Bildungsoffensive der 70er Jahre und die späteren Reformen der höheren Bildung im Zuge des sogenannten »Bologna-Prozesses« sind in dieser Perspektive eine Art ›nachholender Modernisierung‹ 40 Jahre nach den amerikanischen Bildungsreformen. Auf diese Reformen, die nach dem ›New Deal‹ und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die forcierte Durchsetzung einer Mittelschichtgesellschaft begleiteten, hat die erste genuin amerikanische Generation der amerikanischen
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»Der Traum des mittleren 20. Jahrhunderts von einer höheren Massenbildung in den Freien Künsten«, von dem Benjamin Kunkel in seiner Verteidigung des Romans spricht, hatte hier, diesseits aller späteren gegenkulturell fundierten Selbstentfaltungserwartungen und der sie begleitenden Selbstverwirklichungsmetaphysiken, seine eigentliche historische Plausibilität. Und die Geisteswissenschaften wurden auf diese Weise gerade nicht zur Kompensationsinstanz, sondern zur Innovationsinstanz einer soziokulturellen Modernisierung, die im Wesentlichen in der Produktion einer Mittelschichtgesellschaft und einer dieser Gesellschaft entsprechenden Kultur der Selbstentfaltung bestand.31 Die organisierte Kreativitätsproduktion ist damit vielleicht gerade nicht die Umkehrung der Option einer ästhetischen Erziehung des Menschen im Sinne Friedrich Schillers, der in ihr die Gegenwelt zu dessen ökonomischer Zurichtung gesehen hat, sondern das Medium einer Vergesellschaftung, die in einer performativen Ontologie gründet und gerade darin nicht nur mit dem Pragmatismus einer nach-melancholischen Erfahrung, sondern auch mit dem Produktivismus einer ökonomisierten Gesellschaft korrespondiert.32 Die ›Ästhetisierung des Sozialen‹ wäre damit die komplementäre Seite der ›Ökonomisierung des Sozialen‹.33
7 Man hat wiederholt darauf hingewiesen, dass Frank Wheeler das virtuos karikierte alter ego seines Autors Richard Yates ist.34 Tatsächlich deckt sich Yates’ Biografie in den frühen 50er Jahren bis auf ein entscheidendes Detail mit der seines Romanhelden: Yates schrieb. Wheeler hingegen war erleichtert, als er die Nagelprobe auf seine Kreativität – im idealistischen Sinne – vermeiden konnte und die ÜbersiedSoziologie kritisch reagiert. Vgl. Riesman, Glazer und Denney: The Lonely Crowd, bes. 54ff.; Mills: White Collar, bes. 112ff; Whyte: The Organization Man, bes. 225ff. Zu den rezenten Reformen der deutschen Universität und namentlich zum Aspekt der Verschulung der Lehre und der Straffung der Inhalte mit dem Ziel besserer employability der Absolventen hat Uwe Schimank im weiteren Nachgang dieser klassischen Kritiken einer Kultur der kommunikativen Normalisierung und bürokratischen Organisierung der öffentlichen Wissensinstitutionen die These vertreten, dass es sich hierbei um die institutionelle Folge des Drucks der unteren Mittelschicht und ihrer »bildungsfernen Ambitionen« auf die traditionellen Bestände, institutionellen Formen und habituellen Dispositionen (groß-)bürgerlicher Bildungskulturen handelt. Vgl. Schimank: »Humboldt: Falscher Mann am falschen Ort«. 31 | Zur kompensationstheoretischen Legitimation der Geisteswissenschaften vgl. Marquard: »Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften«. 32 | Vgl. Schiller »Über die ästhetische Erziehung«, bes. 577ff., 584ff. und 594ff. 33 | Zu dieser These vgl. Makropoulos: »Kunstautonomie und Wettbewerbsgesellschaft«. 34 | Vgl. etwa Wood: »Like Men Betrayed«. Vgl. auch O’Nan: »The Lost World of Richard Yates«.
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lung nach Paris, zu der ihn seine Frau gedrängt hatte, damit er endlich zu sich selbst finden, schreiben und aus sich machen konnte, was in ihm steckte, durch ihre neuerliche Schwangerschaft vereitelt wurde. »Der Druck war verschwunden, das Leben hatte glücklicherweise zur Normalität zurückgefunden«. Und warum sollte man nicht auch aus der Normalität etwas machen können, wodurch »es in ihrem Leben dann heller und interessanter zugehen«35 würde, wenn man als Werbefachmann Karriere machte, größere finanzielle Spielräume hatte und das Unternehmen, für das man arbeitete, einen vielleicht sogar eines Tages in offizieller Mission nach Europa schickte? So entlastete er sich von den Ansprüchen, die er an sich und die anderen an ihn hatten – Ansprüche, die zu einem gut Teil Projektionen waren, die aus der Unbestimmtheit seiner Begabung, aus der Diffusität seines Nonkonformismus und aus der Entgrenzung der Erwartungen an sich selbst durch das geisteswissenschaftliche Studium entstanden waren – Erwartungen, die den zunehmenden Druck bildeten, der immer schwerer auf ihm gelastet hatte. Die sogenannte ›Kreativökonomie‹ lebt von diesen Angestellten, ihren habitualisierten Erwartungsüberschüssen und ihren resignativen Entlastungsstrategien. Und vielleicht führte die Etablierung dieser neuartigen, seltsam immateriellen Ökonomie nicht nur zur Überwindung der überkommenen disziplinarisch-funktionalistischen Moderne im Ökonomischen, vielleicht war ihre Etablierung überhaupt erst die zureichende Voraussetzung für ein neues Stadium des Kapitalismus als Wirtschafts- und als Lebensform nach seiner industriegesellschaftlichen Epoche. Wenn das so sein sollte, dann wäre das Bemerkenswerte an der gesellschaftlichen Organisierung der Kreativität durch ihre Integration in die höheren Bildungsinstitutionen allerdings nicht der immer wieder in kritischer Absicht problematisierte Umstand, dass Schriftsteller gleichzeitig Teile und Produkte des Bildungssystems werden und die letzten Reste der Bohème, die eine bürgerliche Gegenkultur war, auf diese Weise sozial integriert und neutralisiert würden; das Bemerkenswerte an der gesellschaftlichen Organisierung der Kreativität wäre also – pointiert gesagt – nicht, dass sie konstitutiver Teil einer nachbürgerlichen Massenkultur würde, für die der demokratisch generalisierte »Möglichkeitssinn«, wie man mit Robert Musil sagen könnte, zum standardisierten Selbst- und Weltverhältnis geworden ist, dessen allgemeine Modalstruktur die normalisierte Selbstentfaltung bildet.36 Das Bemerkenswerte wäre vielmehr der Umstand, dass ausgerechnet die ästhetisch generierte und öffentlich organisierte Kreativität samt ihrer gegenkulturellen Effekte zu einem Modernisierungsfaktor avant la lettre wird.37 Ihre Institutionalisierung durch Akademisierung stünde dann im strategischen Horizont einer gesellschaftlichen Regulierung des Zufälligen, die Paul Valéry gegen Ende des 19. Jahrhun35 | Yates: Zeiten des Aufruhrs, 224f. 36 | Vgl. Makropoulos: Theorie der Massenkultur, 10ff. und 127ff. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, 16. 37 | Das ist im Kern die These von Boltanski und Chiapello. Vgl. Boltanski und Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, 213ff.
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derts als hervorstechendes Charakteristikum eines neuen Produktivitäts- und Wissensregimes beschrieben hat, das bewusst nicht mehr die einzelne überragende, aber individuellen Unberechenbarkeiten ausgelieferte Leistung fördert, sondern die organisierte Produktivität vieler unterschiedlicher, aber ›mittlerer‹ Leistungen durch ihre methodische Standardisierung und ihre öffentlich-rechtliche Zertifizierung.38 Die öffentliche Organisierung der Kreativität wäre damit eine Facette im epochalen Projekt der Formierung, Steigerung und Optimierung der gesellschaftlichen Kräfte durch ihre Standardisierung, also die strukturelle Kopplung und prinzipielle Vermittelbarkeit – nicht aber: Homogenisierung – des Verschiedenen. Es ist ein Projekt, das seit dem Ende des 18. Jahrhunderts nicht zuletzt gegen die totalitären Homogenisierungen, die die katastrophische Seite der Moderne markieren, alle Evidenz auf seiner Seite hat, in dessen Kontext auch Schillers Konzept der ästhetischen Erziehung des Menschen steht, und dessen Prinzip die größtmögliche kombinatorische Variabilität durch kommunikative Anschlussfähigkeit, also durch soziale Normalisierung – und nicht: Nivellierung oder gar Homogenisierung – unterschiedlicher Elemente ist. Und was mit dem vielleicht schillerndsten Konzept von Michel Foucault eine »Normalisierungsgesellschaft«39 genannt werden kann, wäre die historische und systematische Voraussetzung einer liberalen und demokratischen Mittelschichtkultur. Aber warum der Roman? Warum führt die Produktion organisierter Kreativität in Gestalt des akademischen ›Creative Writing‹ und seiner Derivate, die inzwischen auch in Europa institutionalisiert werden, ausgerechnet die Form des psychologischen Realismus fort, die doch, so Kunkels These, Ende der 50er Jahre paradigmatisch erschöpft war? Eine Antwort auf diese Frage legt die klassische Bestimmung des Romans als Form der transzendentalen Obdachlosigkeit nahe, wenn man sie auf die Wirklichkeit einer Mittelschichtkultur bezieht: Die Funktion des Romans wäre dann die Orientierung im Sozialen. Allerdings ginge es dabei nicht um die Orientierung in einem Sozialen, das dem Individuum als absolute normative Wirklichkeit gegenüberstünde, sondern um die Orientierung in einem Sozialen, dessen normative Wirklichkeit relativ ist, weil sie nicht präskriptiv, sondern performativ konstituiert wird. Damit bliebe der Roman wesentlich Bildungsroman. Und das ›Creative Writing‹ wäre dann nicht nur eine organisierte Selbstentfaltungsübung im sozialen Kontext – weit über dessen Workshops hinaus –, sondern vor allem eine Einübung in die absolute Immanenz eines Sozialen, das keine externe Referenz mehr hat. Vielleicht ist der Roman tatsächlich das am meisten ›soziologische‹ Genre der Kunst und seine fiktionalen Realitäten die am meisten sozialen Realitäten im Bereich des Ästhetischen – auch wenn dies prima vista der Benjaminschen Bestimmung des Romans als Form der prinzipiellen Einsamkeit eines Individuums zuwiderläuft, das sich von dem, was seine Gemein-
38 | Vgl. Valéry: »Une conquête méthodique«, bes. 981ff. 39 | Foucault: Sexualität und Wahrheit, 161-190.
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schaft macht, abgesondert hat.40 Aber die Formbestimmung des Romans endet nicht mit der Strukturbeschreibung des Weltverhältnisses seines Helden. Denn die Form des Romans ist selbst dort, wo sie scheinbar weltlos die inneren Welten der Einsamkeit erkundet, die voraussetzungsloseste und deshalb die kommunikativste Form der Kunst. Der Roman ist eben nicht nur die Reflexionsform des einsamen, unberatenen und vor allem melancholischen Individuums, seines Weltverlusts und seiner transzendentalen Obdachlosigkeit – der Roman ist auch die Form einer Reflexion, die das, was gerade nicht erzählbar ist und was nicht in die konsekutive Ordnung des Narrativen gebracht werden kann, erfahrbar macht. Zu diesen unerzählbaren Wirklichkeiten gehört vor allem Gesellschaft, sobald sie sich als liberale Gesellschaft aus sich heraus und nicht in Bezug auf eine sakrale oder personale Instanz konstituiert. ›Show, don’t tell‹ ist deshalb tatsächlich die adäquate Forderung an die Studierenden des ›Creative Writing‹. Nicht Narration, sondern Deskription und Reflexion ist die Aufgabe. Anders gesagt: Der Roman ist die ästhetische Form, in der Empirie und Theorie als reflexive Weltverhältnisse und eben nicht Mythen als präreflexive Weltverhältnisse auf offene Möglichkeiten hin angelegt werden. Es geht um die Einübung in reflexive Historizität statt um präreflexive Ontologie, wie man mit Bezug auf Roland Barthes sagen könnte, das heißt, es geht um die Möglichkeit eines Lebens in der permanenten und um der Verwirklichung neuer Möglichkeiten willen forcierten Deontologisierung des Sozialen.41 Vielleicht ist der Roman aus diesem Grund – wie der Film – das Reflexionsmedium und durch dieses hindurch das Konstitutionsmedium einer Mittelschichtkultur. Und diese Kultur wäre insofern eine spezifische Kultur von selbsteigener Authentizität, als sie die Kultur einer gesellschaftlichen Formation ist, für die nicht nur die ›Ökonomisierung des Sozialen‹ als Durchsetzung marktförmig-kommunikativer Strukturen der Vermittlung, sondern auch die ›Ästhetisierung des Sozialen‹ als Durchsetzung möglichkeitsoffen-kreativer Dispositionen den historisch-ontologischen Entstehungsnexus bildet. Es wäre eine Kultur, die die ontologische Unterbestimmtheit eines Lebens, das auf dauerhafte Optimierung und Selbstoptimierung angelegt ist, in eine sozialitätsfähige Form bringt. Dass diese ontologische Unterbestimmtheit gleichzeitig sowohl die Bedingung für die Wirklichkeit dieser soziokulturellen Formation als auch das Reservoir für die Ängste, Konflikte und Selbstbestimmungsversuche derjenigen ist, die ihr angehören, macht ihre unaufhebbare Ambivalenz aus. Und vielleicht war Richard Yates – nicht nur als Schöpfer Frank Wheelers – aus genau diesem Grund »the great writer of the Age of Anxiety«.42 Schließlich war er derjenige, der die nagende Selbstungewissheit, die
40 | Vgl. Benjamin: »Der Erzähler«, bes. 442f. 41 | Vgl. Barthes: Mythen des Alltags, 85ff. 42 | O’Nan: »The Lost World of Richard Yates«.
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permanente »Statuspanik«43 – wie der dramatische Begriff von C. Wright Mills lautet, der aktuell wieder durch die gesellschaftskritischen Debatten geistert – und die konstitutive Fragwürdigkeit der individuellen und kollektiven Erwartungen in der amerikanischen Mittelschicht gerade zu der Zeit ausgelotet hat, als diese in ihre klassische, um nicht zu sagen: in ihre heroische Epoche eingetreten und definitiv gesellschaftlich etabliert war.
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Was ist Populärliteratur? Oder doch eher, wann ist Populärliteratur? Christian Huck
Das ist das Besondere am Trivialen: Es ist eine höchste Verdichtung aller möglichen kulturellen Posten. Wie ein Brühwürfel: Es sind so irrsinnig viele Bilder darin komprimiert, dass ein Klischee herauskommt. Und das muss man dann aufkochen. Joseph Vogl im Gespräch mit Alexander Kluge
Der folgende Artikel versucht sich an einer näheren Bestimmung des Phänomens ›Populärliteratur‹, also populärer, (meist) fiktionaler und (meist) narrativer Texte.1 Trotz der offensichtlich weiten Verbreitung der Populärliteratur gibt es bisher verhältnismäßig wenige genauere Auseinandersetzungen mit dieser. Es steht zu vermuten, dass die vermeintliche Banalität des Gegenstandes für viele eine komplexe Analyse von vornherein unnötig bzw. unmöglich erscheinen lässt. Zudem beschäftigen sich diejenigen, die sich explizit mit Populärkultur auseinandersetzen, und das sind inzwischen viele, in erster Linie mit audio-visuellen Massenmedien (Popmusik, TV, Games etc.).2 Wie es scheint, so wird Literatur allein schon aufgrund ihrer medialen schriftlichen Verfasstheit im Widerspruch zum Populären gesehen, 1 | Auch wenn wissenschaftliche, historische und biografische Veröffentlichungen, die oftmals ebenfalls als Populärliteratur firmieren, einige ähnliche Charakterzüge aufweisen, sollen diese hier zunächst nicht berücksichtigt werden; eine weitergehende Bestimmung müsste diese faktuale Literatur, die einen Großteil des Marktes ausmacht, aber wohl mit einbeziehen. 2 | Als zwei paradigmatische Beispiele seien hier lediglich einerseits Hans-Otto Hügels Handbuch Populäre Kultur genannt, das zwar Romanhefte aber keine Literatur kennt, sowie andererseits der Sammelband Hop on Pop: The Politics and Pleasures of Popular Culture
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sodass Populärliteratur immer schon ein Verfallsprodukt der wahren, dem Populären entgegenstehenden Literatur wäre. Schrift, so scheint der Blick aus dem Zeitalter der elektronische Massenmedien zu suggerieren, gehört zu einer wenn nicht vergangenen, so doch bedrohten, besseren Kultur. Im Gegensatz dazu bin ich der Überzeugung, dass Populärliteratur eine originäre und genuine Verwendung des Mediums der Schrift darstellt – die allerdings nicht notwendigerweise zum Bereich der Kunst gehört. Was eine solche Verwendung von anderen – insbesondere im Bereich Kunst – unterscheidet, soll im Folgenden näher erläutert werden. Sollte es so sein, dass Literaturwissenschaft sich als Wissenschaft schriftlicher Kunstwerke versteht, dann gehören die folgenden Ausführungen in den Bereich der Kultur- und Medienwissenschaften, die sich u.a. auch mit Literatur beschäftigen. Bei der näheren Bestimmung des Phänomens ›Populärliteratur‹ geht es um mindestens zweierlei. Zum einen sollen formale und inhaltliche Kriterien bestimmt werden, die Texte der Populärliteratur kennzeichnen. Zum anderen will ich zeigen, dass zu einer Gegenstandsbestimmung auch eine handlungsorientierte, performative Bestimmung treten muss: Populärliteratur definiert sich nicht allein aus sich selbst heraus, sondern stets auch dadurch, wann und unter welchen Bedingungen etwas als Populärliteratur rezipiert und angeboten wird, in welche kulturelle Praxen also die Werke eingebunden sind.3 Form und Inhalt können diese Praxen präfigurieren, aber nicht bestimmen; sie können sich den Praxen anpassen, ohne sie erzwingen zu können. Bei dieser Bestimmung der Populärliteratur ist es weder hinreichend, allein die (zahlenmäßige) Verbreitung zu untersuchen, was ohne Zweifel notwendig ist,4 noch allein auf die Struktur der Texte zu achten. Die Beschaffenheit des Gegenstandes und die Formen seiner Verbreitung und Rezeption, semantische, formale und pragmatische Aspekte müssen zusammen betrachtet werden. Es gibt Grenzfälle, in denen allein die gegenständliche Beschaffenheit oder allein die performative Aneignung ein Buch zur Populärliteratur werden lässt. In der Regel spielen aber beide Aspekte zusammen, so dass weder eine Literatursoziologie, die allein vom handelnden Gebrauch ausgeht, noch eine Philologie, die allein vom Text ausgeht, eine hinreichende Bestimmung liefern kann. Mit der doppelten Bestimmung über Text und Praxis unterscheidet sich die Populärliteratur sowohl von der Trivialliteratur, die (angeblich) allein über die Verfehlungen des Gegenstandes bestimmt wird, als auch von der Massenliteratur, die allein durch den Grad ihrer Verbreitung bestimmt ist. Dieser Widerspruch im Inneren des Begriffs der Populärliteratur – trivial vs. universal – ist ein Erbe des von Henry Jenkins, Tara McPherson und Jane Shattuc, welcher vieles kennt, aber eben keine Literatur. 3 | Zu einer solchen doppelten Gegenstandsbestimmung siehe Maase: »Trivialliteratur«, Sp. 945. 4 | Vgl. Storey: An Introductory Guide to Cultural Theory and Popular Culture, 7.
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Begriffs des Volkes (populus), von dem ersterer abgeleitet zu sein scheint. In seiner politischen Begriffsbestimmung schreibt Giorgio Agamben: Jede Interpretation […] des Begriffs Volk muss ihren Ausgang von der eigenartigen Tatsache nehmen, dass dieser in den modernen europäischen Sprachen immer auch die Armen, die Enterbten, die Ausgeschlossenen meint. Ein und derselbe Begriff bezeichnet also sowohl das konstitutive politische Subjekt als auch die Klasse, die von der Politik zwar nicht ›de jure‹, doch ›de facto‹ ausgeschlossen ist. 5
Volksliteratur wäre damit einerseits eine Sammlung von Texten, die die Gesamtheit des Volkes repräsentieren kann und soll (Herder); andererseits wäre sie dasjenige, das nur diejenigen rezipieren, die von den komplizierten Geschäften der Gesellschaftslenkung eher ausgeschlossen gehören (Schiller). Das Allgemeine, wie Rudolf Helmstätter schreibt, droht immer auch ins Allzu-Gemeine abzurutschen.6 Die zentrale Frage nach der Popularität der Literatur beschwört also einerseits die Macht der Literatur, das ›kulturelle Imaginäre‹, das eine Gesellschaft im Innersten Zusammenhaltende, ausdrücken zu können. Als Link’scher Interdiskurs kann die Literatur demnach anders als die Spezialdiskurse der Gesellschaft (Wissenschaft, Recht, Wirtschaft, Politik etc.) das große Ganze in den Blick nehmen und repräsentieren;7 findet diese allgemeine Betrachtung dann noch – als Kompaktimpression8 – verbreiteten Eingang in die Gesellschaft, so kann sie für Orientierung und Lenkung sorgen. In Opposition dazu steht Adornos Verdacht, das Populäre würde stets ins Infantile, ins Volkstümliche abrutschen, in seiner Suche nach dem kleinsten möglichen Nenner jegliche wahre Individualität verneinen und dem Barbarischen Vorschub leisten; finden solche Banalitäten verbreiteten Eingang in die Gesellschaft, so führt dies zu (ideologischer) Ausrichtung und (negativer) Beeinflussung. Die Populärliteratur, von der ich hier sprechen möchte, unterscheidet sich grundsätzlich von der bereits in sich gespaltenen Volksliteratur. Während die Volksliteratur ihr Ideal (paradoxer Weise) in mündlichen Überlieferungen hat, also im (unmöglichen) Idealfalle vom (ganzen) Volk für das (ganze) Volk erschaffen ist, so gehört die Populärliteratur zum Paradigma der Schriftlichkeit. Sie ist auf Verbreitung angelegt; sie mag allgemein ansprechende Themen aufnehmen, aber sie ist von Einzelnen (bzw. kleinen Gruppen) für viele produziert. Populärliteratur, wie andere Populärkultur auch, ist ein »child of technology«9, Folge einer Technologisie5 | Agamben: Mittel ohne Zweck: Noten zur Politik, 35. 6 | Vgl. Helmstetter: »Der Geschmack der Gesellschaft. Die Massenmedien als Apriori des Populären«, 45-47. 7 | Vgl. Link: »Literaturanalyse als Interdiskursanalyse«, 284-307. 8 | Vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, 579; Vgl. Zorn: »Die Simpsons der Gesellschaft«, 73-96. 9 | Bigsby: »The Politics of Popular Culture«, 4.
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rung der Medien, die einhergeht mit Industrialisierung10 und Urbanisierung. Die technisch-industriellen Massenmedien sind demnach das »Apriori des Populären«: Populär werden kann nur, was publik ist. Das Populäre geht also nicht vom ›Volk‹ aus und lässt sich nicht von popularis ableiten. Populäres kann es erst geben, wenn Populationen als ganze – und zugleich die Individuen als einzelne – adressiert werden können und dann auch permanent adressiert werden, oder genauer und historisch argumentiert: Populäres jenseits tribaler, lokaler, ständischer und territorialer Grenzen gibt es erst seit und mit der Instituierung gesellschaftsweiter Öffentlichkeiten, die neue Formen der Erreichbarkeit und Adressierbarkeit der Gesellschaft (und ihrer Bevölkerung) mit sich bringen. 11
Gedruckte Kommunikation, anders als mündliche, hat zunächst einmal keinen bestimmten Adressaten: sie muss sich ihre Adressaten suchen, sie muss dafür sorgen, dass jeder bzw. jede LeserIn sich einzeln angesprochen fühlt. Populärliteratur gelingt es, die direkte Ansprache der mündlichen Kommunikation unter gleichzeitig Anwesenden mit der Situationsabstraktheit der schriftlichen Kommunikation zusammen zu bringen: Populärliteratur spricht in der Form des multiplen ›Du‹. Es wird daher zu zeigen sein, wie es der Populärliteratur gelingt, Formen der Partizipation im Simulationsmedium Schrift anzulegen – und nicht nur zu simulieren.12 Wer sich von einem Kommunikationsangebot angesprochen fühlt, der kann dann aber auch unkontrollierter als in der konkreten mündlichen Situation, die eine stete Rückkopplung mit der Autorität des Sprechers präsent hält, damit umgehen. Unterschieden werden muss die Populärliteratur zuletzt noch von der Popliteratur, die sich zwar mit populären Gegenständen beschäftigt (Popmusik, Pornografie etc.), die aber nicht notwendigerweise auch um Popularisierung, also möglichst weitgehende Adressierung, bemüht ist. Die Popliteratur kann am ehesten als Reflexionsmedium der Populärliteratur bzw. Populärkultur gelten, so wie die PopArt – die das Motiv von Roy Lichtenstein Hopeless (1963, Kunstmuseum Basel) auf dem Flyer zur Tagung, auf die dieser Text zurück geht, aufruft – die ästhetischen Strategien visueller Massenmedien im Medium der Bildenden Kunst reflektiert. Als selbst schon reflexiv angelegt hat die Popliteratur vielleicht auch deshalb von Literaturwissenschaftlern ein ungleich größeres Interesse erfahren, gehören sie doch zu deren spezifischer Zielgruppe.13 Im Folgenden möchte ich nun darauf eingehen, woran ein bzw. eine LeserIn erkennen kann, dass es sich bei einem Buch um Populärliteratur handelt bzw. durch welche Formen des Gebrauchs ein Buch zur Populärliteratur wird. Mit dieser Form der Fragestellung orientiere ich mich an den Filmwissenschaften, die ihr 10 | Vgl. Gelder: Popular Fiction, 1. 11 | Helmstetter, »Der Geschmack der Gesellschaft«, 44. 12 | Vgl. Pfeiffer: Das Mediale und das Imaginäre. 13 | Vgl. Arnold und Schäfer (Hg.): Pop-Literatur; Baßler: Der deutsche Pop-Roman; Degler und Paulokat: Neue Deutsche Popliteratur; Ernst: Popliteratur.
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Forschungsobjekt schon seit längerem nicht allein als (semiotischen) Text versteht, sondern vor allem auch als (materielles) Event, dessen Qualität sich auch über Ort, Zeit und Form der Aufführung/Rezeption bestimmt.14 Eine solche Auslegung des alltäglichen Umgangs mit Populärliteratur sieht dabei zunächst einmal von einer akademischen Leseweise der Texte selbst ab, wie sie bspw. Louis Althusser und im Anschluss daran Pierre Machery entwickeln.15 Vielmehr geht es vor aller Kritik (der Inhalte) zunächst einmal um eine Bestimmung des Phänomens. Voraussetzung für die Popularität der Populärliteratur ist die Möglichkeit, dass alle Teile der Gesellschaft, dass alle Einzelnen einen Zugang zu dieser finden können. Über die Schwierigkeit bzw. Einfachheit des Zuganges zu einem Buch entscheidet, was man mit Gérard Genette als Paratext bezeichnet: Der Paratext ist also jenes Beiwerk, durch das ein Text zum Buch wird und als solches vor die Leser und, allgemeiner, vor die Öffentlichkeit tritt. Dabei handelt es sich weniger um eine Schranke oder eine undurchlässige Grenze als um eine Schwelle, [die] jedem die Möglichkeit zum Eintreten oder Umkehren bietet.16
Genette geht es um das spezifische Beiwerk (hoch-)literarischer Texte, welches vor allem dazu dient, einem spezifischen Publikum einen spezifischen Zugang zu gewähren – und alle anderen zur Umkehr auffordert. Man kann, so denke ich, die Kategorien seiner Analyse aber auch dafür verwenden zu analysieren, wie ein unspezifisches, allgemeines Publikum zum einzelnen Eintreten gebracht werden soll. Dafür muss man Genettes Begriff aber auch erweitern: Zum Paratext soll im Folgenden all das zählen, was nicht zum Eigentlichen des Textes zählt – also neben dem Beiwerk auch das, was über das Werk hinausweist: Verwandtschaften zu anderen Werken und Welten. Man wird sehen, dass es sich bei diesen Paratexten, zumindest im Bereich der Populärliteratur, keineswegs um (akzidentielles) Beiwerk handelt, sondern um eine unabdingbare Qualität des Textes. Damit vermindert sich auch der (autonome, geschlossene) Werkcharakter des populärliterarischen Textes.
A)
S CHEMATA UND F ORMELN
Ein wichtiges Hilfsmittel, um den Zugang zu einem literarischen Werk zu erleichtern, ist Schema- bzw. Formelhaftigkeit.17 Genreregeln18 und ähnliches erlauben es dem Leser, narrative Abläufe und Figurenkonstellationen vorauszuahnen. Da14 | Vgl. Altman: »Cinema as Event«, 1-14. 15 | Vgl. Storey: Cultural Studies and the Study of Popular Culture, 37-41. 16 | Genette: Paratexte: Das Buch vom Beiwerk des Buches, 10. 17 | Vgl. Cawelti: Adventure, Mystery and Romance; Zimmermann: Trivialliteratur? Schema-Literatur! 18 | Vgl. Bennett und Woollacott: Bond and Beyond, 76-81; Gelder, Popular Fiction, 40-74.
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mit wird vor allem Unterhaltungs- und Emotionssicherheit gewährleistet: Wenn ich weiß, dass ich auf Männer in weißen Kitteln stehe, dann werde ich eher zum Arztroman denn zum Heimatroman greifen. Will ich Nervenkitzel, greife ich zum Detektivroman, will ich übersinnliches Staunen, greife ich zu John Sinclair, will ich Melodramatik, zu Rosamunde Pilcher. Erwartungssicherheit kann also bspw. durch ein Genre (Detektivroman), durch einen Autor (Pilcher) oder auch durch eine Figur (›John Sinclair‹) garantiert werden. Das Aufrufen eines Genres, eines Autors oder einer Figur helfen dem bzw. der LeserIn, die Schwelle zum Text zu überwinden, sie machen das Innere des Textes weniger fremd, erwartbar. Welche Schemata zu erwarten sind, und ob überhaupt Schemata zu erwarten sind, wird in erster Linie durch das angekündigt, was Genette den »verlegerischen Peritext«19 nennt, also die gesamte Zone des Peritextes, für die direkt und hauptsächlich […] der Verlag verantwortlich ist – d.h. die Tatsache, daß ein Buch verlegt […] und in mehreren mehr oder weniger verschiedenen Aufmachungen der Öffentlichkeit vorgestellt wird. 20
Es ist der Verlag, der durch Reihentitel bzw. Layouts, Platzierung (oder Auslassung) des Autornamens, genrespezifische Illustrationen oder Typographien über die Präsentation (und damit die Wahrnehmung) des Buches entscheidet – teils mit kommunikativer Absicht, teils aus ökonomischen oder technischen Zwängen. Schemata und Formeln leiten also sowohl Konsumption als auch Produktion an. Genette macht deutlich, dass für das Aufrufen von Genres u. ä. die Materialität des Mediums entscheidend ist, also daß dieser Teil des Peritextes im wesentlichen räumlich und materiell charakterisiert ist; es handelt sich um den äußerlichsten Peritext – den Umschlag, die Titelseite und deren Anhang – und um die materielle Realisierung des Buches, die dem Drucker obliegt, aber vom Verleger entschieden wird, der sich eventuell mit dem Autor abspricht: Wahl des Formats, des Papiers, der Schrift usw. 21
Die Populärliteratur bezeugt damit ihre Abhängigkeit von der Materialität des Mediums – eine unveränderliche, unabhängige Bedeutung ist von dieser nicht zu extrahieren. Ohne (designte) Materialität gäbe es keine Erwartungssicherheit – man
19 | Genette unterscheidet zwischen Peritexten (Titel, Vorwörter etc.), die im unmittelbaren Umfeld eines Textes angesiedelt sind, und Epitexten (Interviewaussagen, Tagebucheinträger), die in einiger Entfernung zum Text stehen, dessen Aufnahme aber dennoch mitbestimmen können. Aufgrund der geringeren Bedeutung des Autors im Bereich der Populärliteratur spielen Epitexte hier nur eine geringe Rolle – außer als Starinszenierungen. 20 | Genette: Paratexte: Das Buch vom Beiwerk des Buches, 22. 21 | Ebd.
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müsste jeden ›Text‹ erst einmal lesen, bevor man wüsste, was er zu sagen hat, ob er einen interessiert, ob er einem gefällt.
B)
W ELTHAF TIGKEIT
Die Populärliteratur erschöpft sich aber keineswegs in der Wiederholung einer schematischen Handlung. Vielmehr erlaubt die angekündigte strukturelle Beständigkeit der Texte eine stetige inhaltliche Aktualisierung: formale Kontinuität wird durch diskursive Diskontinuität ergänzt. So kann beispielsweise, wie Michael Frank gezeigt hat, ein und dasselbe Narrativ (›the alien invasion‹) genutzt werden, um diversen historischen Konstellationen (19. Jh., erster Weltkrieg, Kalter Krieg, 9/11) Rechnung zu tragen.22 Gerade die Vorhersehbarkeit bestimmter narrativer Abläufe scheint es zu erlauben, Aufmerksamkeitskapazitäten für politische, soziale und andere alltägliche Kontexte, für Welthaftigkeit ganz allgemein, frei zu geben. Gerade weil Populärliteratur nicht sonderlich viel Raum auf Figuren- und Plotentwicklung verwenden muss, also auf autonome Strukturen, bleibt ihr besonders viel Platz für aktuelle Themen der Umwelt, also Heteronomes.23 Allerdings könnte man wohl auch andersherum argumentieren: Die Faktizität der anzitierten Welt kompensiert die teils kruden Plots und Figurenzeichnungen. Auch das erleichtert den Zugang: Man kennt die Welt, in der die Geschichte sich abspielt, und auch wenn die Handlung abwegig ist, so ist sie dies nur vor dem Hintergrund einer bekannten und daher glaubwürdigen Welt. Aktuelle Mode, neueste Automodelle, öffentliche Ereignisse und Persönlichkeiten, Biermarken, Zigarettensorten etc. findet man in einem Groschenheft der Zwanziger ungleich präsenter als in einem Kunstroman; dieser mag gesellschaftliche Strukturen durch ästhetische Umformung analysieren, aber er muss dabei von der konkreten Gegenständlichkeit der Welt absehen; der Kunstroman kann defamiliarisieren und so alltäglich unsichtbar ablaufende Wahrnehmung wahrnehmbar machen, aber er muss um seiner eigenen Formautonomie wegen auf das Alltägliche verzichten. Populärliteratur hingegen affirmiert das Alltägliche, und die Wiederkehr alltäglicher Dinge erlaubt es dem bzw. der LeserIn ein weiteres Mal, Zugang zur erzählten Welt zu finden, die Schwelle zum Text zu überschreiten (wenn die Dinge bereits auf dem Cover aufgerufen werden) bzw. weiter in den Text einzusteigen (wenn diese Dinge wie so oft auf den ersten Seiten des Romans aufgerufen werden).
22 | Vgl. Frank: »›Is It the Terrorists?‹«, 285-299. 23 | Gabriele Linke hebt folgerichtige die Bedeutung der Populärliteratur für das kulturelle Gedächtnis hervor. Vgl. Linke: Populärliteratur als kulturelles Gedächtnis.
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C) I MAGINATIVE I NVESTMENTS Neben den Dingen der Welt und den Schemata (vgl. auch Martínez in diesem Band) werden im Rahmen von Populärliteratur immer wieder gewisse archetypische Motive wie Ehrverletzung, Rache, Tod, Familie, Liebe, Initiation, Reise, Rivalität, Freundschaft aufgerufen. Diese wiederholten Motive erlauben neben der erwähnten Erwartungssicherheit und neben der Öffnung zu heteronomen Themen ein großes Maß an imaginärem Investment, da der Abgleich mit eigenen Erfahrungen so konstitutiv wie naheliegend ist. Populärliteratur bietet relevante Anknüpfungspunkte für eigene Erfahrungen:24 Jeder hat schon einmal geliebt, getrauert, gefürchtet, gehasst etc. und jeder tut dies auf eigene Art und Weise; so wird der aufgerufene Typus durch eigene Erfahrungen individualisiert, mit Leben gefüllt und so zu eigen gemacht. Populäre Texte sind damit, wie John Fiske ausführt, producerly: sie können (müssen aber nicht) durch aktives Lesen zum Leben erweckt werden.25 Ihre zugangsoffene Struktur und Thematik bleiben trivial, wenn sie nicht durch eigene Erfahrungen angereichert werden; gleichzeitig erlaubt die Offenheit der Texte es auch, sich unberührt von diesen abzuwenden: Populäre Texte laden ein, über die Schwelle in den Text einzutreten; sie raten nicht zur Umkehr, zwingen aber auch nicht zum Eintritt. (Versuchen sie diesen zu erzwingen, müssen sie wohl als Propaganda bezeichnet werden.) Um relevante Anschlusspunkte liefern zu können, werden die archetypischen Motive aktualisiert und an die jeweiligen Lebensbedingungen angeschlossen. Horrortexte können stets aktuelle Ängste aufnehmen: Der Mörder ist keine Vogelscheuche mehr, sondern ein Auto. Auch die Angehimmelten verändern sich, selbst wenn der Text der gleiche bleibt: Mr. Darcy sieht schon lange nicht mehr aus wie ein Aristokrat aus dem 18. Jahrhundert, sondern wie Colin Firth. Die Möglichkeit zur variierenden Aktualisierung bekannter Schemata und Motive erlaubt schließlich auch kapitalistischen Wettbewerb: Wer kann die gegebenen Schemata und Motive am besten so aufbereiten, dass das aktuelle Publikum es rezipieren will? 9/11 Romane konkurrieren ebenso miteinander wie RomanzenAutorInnen oder Detektivserien. Auch wenn diese Texte dem narratologisch geschulten Betrachter austauschbar erscheinen, da sie alle auf ähnliche Plots, Motive und Charakterkonstellationen zurückzuführen sind, so ist es dem bzw. der LeserIn keineswegs einerlei, ob sie vom Bergdoktor oder von Dr. Stefan Frank von ihren Sorgen erlöst wird. Die Bereitschaft zum imaginativen Investment hängt in diesem Zusammenhang in erster Linie davon ab, ob der bzw. die LeserIn Anknüpfungspunkte an die dargestellte Welt finden kann – und das hängt wiederum von der je eigenen Erfahrung ab. Anders als Kants Kunst gibt sich die Populärliteratur ihre Regeln nicht selbst, sondern übernimmt vorhandene. Der bzw. die LeserIn kennt diese 24 | Vgl. Fiske: Understanding Popular Culture, 129-141. 25 | Vgl. ebd., 103-106.
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Regeln und kann beschließen, das angebotene Spiel zu spielen – unter Einsatz des eigenen Lebens.26 Anders als im ›echten‹ Leben kann das Spiel der Unterhaltung aber in jedem Moment abgebrochen werden.
D)
A LLTAGSRE ALISMUS UND N ÄHE ZUM A LLTAG
Nicht nur auf der Ebene der histoire, also auf der Ebene der dargestellten Welt, wird Zugangsoffenheit signalisiert, obwohl diese im Bereich der Populärliteratur mit Sicherheit dominant wahrgenommen wird, sondern auch auf der Ebene des discours, also der Art der Darstellung. So bedienen sich die meisten Texte der Populärliteratur einer Form des realistischen Schreibens (siehe Baßler in diesem Band), die, um es verkürzt zu fassen, auf eine Transparenz der Zeichen abzielt, statt, wie Kunstliteratur es vermeintlich tut, die materielle Zeichenhaftigkeit der Semiose zu betonen. Was allerdings als transparent gilt, welchen Signifikanten es gelingt, nicht als solche wahrgenommen zu werden, hängt stets vom allgemeinen zeitgenössischen Sprachgebrauch ab; Baßler spricht vielleicht auch daher von einem ›Alltagsrealismus‹. Durch die Anlehnung an eine möglichst alltägliche Sprechweise, einer Sprechweise, mit der man im Alltag tatsächliche Vorkommnisse beschreibt, kommt es zudem auch zum bekannten Realitätseffekt (und zur Nicht-Verwendung lyrischer Sprechweisen). Statt die Differenz zwischen realer und diegetischer (fiktionaler) Welt zu betonen, wird diese zwar nicht unbedingt vertuscht, aber eben auch nicht hervorgehoben. So wird suggeriert, dass das, was in den dargestellten Welten geschieht, auch wenn diese phantastisch, historisch oder utopisch angelegt sind, ganz ähnlich so auch in der Welt des bzw. der LeserIn geschehen könnte bzw. ihm/ihr geschehen könnte, träte der bzw. die LeserIn in diese Welt ein. Während die diegetische Welt in der Kunstliteratur durch eine selbstreferentielle Schließung an Autonomie gewinnt, die durch geschickt inszenierte Illusionsbrüche noch verstärkt wird, kommt die diegetische Welt der Populärliteratur der Welt der LeserInnen ungleich näher. Die häufige Inszenierung als faktuale Geschichte (siehe auch Martínez in diesem Band) macht ein treffliches Immersionsangebot: »Die Brücke, die solches Lesen zwischen Buch und Welt schlägt, ist die denkbar kürzeste, sie heißt Identifikation.«27 Fiktionalität und Realität sind hier wesentlich unschärfer getrennt, als eine ordentliche Ontologie es sich wünschen würde: Fiktionalität ist hier graduell, teilweise vorhanden – Populärliteratur ist immer nur ein Stück weit fiktional. Wie ein billig produzierter Film hat die Populärliteratur nicht das Vermögen, eine ganze Welt zu erzeugen: Sie lässt den Protagonisten vor bekannten Kulissen agieren. So bieten selbst außergewöhnliche (phantastische, futuristische, 26 | Für eine Konzeption von ›Unterhaltung(sliteratur)‹ als Spiel siehe Luhmann: Die Realität der Massenmedien, 96-98. 27 | Assmann: »Die Domestikation des Lesens. Drei historische Beispiele«, 96.
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historische) Situationen wiedererkennbare Anknüpfungspunkte. Und auch wenn der Protagonist unglaubwürdig handelt, so kann der bzw. die LeserIn sich doch immer vergleichend fragen: Was hätte ich getan?28 Die spezifische Form des realistischen Schreibens, die die Populärliteratur auszeichnet, zeigt nicht nur Bekanntes, sondern stellt dieses auch auf eine Art und Weise dar, die die Bekanntheit der dargestellten Welt geradezu voraussetzt. Anders als kunstliterarische Formen des realistischen Schreibens, wie bspw. Gabi Rippl sie untersucht,29 funktioniert der populäre Realismus weitaus weniger über Deskriptionen, über Beschreibungen. Stattdessen stehen, ähnlich wie Cynthia Wall dies für frühe Formen des realistischen Schreibens im 18. Jahrhundert dargelegt hat,30 Dinge für Beschreibungen ein. Dinge, deren Bekanntheit vorausgesetzt wird, werden einfach nur genannt statt be- oder erschrieben – schließlich sind sie schon da und müssen nicht erst kreiert werden. Da die Nennung des Dings aber noch nicht seine Bedeutung begrenzt, kann bzw. muss der bzw. die LeserIn seine/ihre eigenen Assoziationen unbegrenzt einbringen. Die dargestellte Welt wird dadurch umso mehr zur je eigenen. Dass heißt aber keinesfalls, dass der Text selber keine Bedeutung hätte; allerdings ist die Bedeutung des Textes viel weniger vom Autor kontrollierbar, wenn er sich der unklaren Bedeutung der Alltagswelt bedient, die immer auch Zufälliges mit sich bringt. Letztlich hängt es von dem bzw. der LeserIn ab, was die Bedeutung ihm/ihr bedeutet. Überhaupt ist die Autorität des Autors in der Populärliteratur durch Genre- und Formatvorgaben, durch Verlags- und Publikumswünsche deutlich beschränkt;31 der Autor als gatekeeper, der den Zugang zum Werk gezielt kontrolliert, ist der Populärliteratur fremd.
E)
D IE U NTERDE TERMINIERTHEIT DES ›V ISUELLEN ‹
Möchte man die Darstellungsweise der Populärliteratur näher bestimmen, so kann man wohl sagen, dass Populärliteratur sich durch Unterdeterminiertheit, Kunstliteratur sich hingegen typischer Weise durch Überdeterminiertheit auszeichnet. Insbesondere dadurch, dass Populärliteratur Gegenstände der Wirklichkeit nahezu unverändert in ihren Texten auftauchen lässt, statt durch strukturelle und semantische Einordnungen deren (latente) Bedeutungsvielfalt gezielt aufzuzeigen oder einzuschränken, kann der bzw. die LeserIn seine/ihre jeweiligen Ansichten viel leichter in den Text einbringen. Während für kunstliterarische Texte diverse Lesarten möglich sind, über die es sich trefflich zu streiten lohnt, da es für jede Lesart gute Gründe im Text gibt, stehen die unterschiedlichen Lesarten der Popu28 | Vgl. Huck: »FASHION NOW! Populäre englische Romane des 18. Jahrhunderts«, 144-167. 29 | Vgl. Rippl: Beschreibungs-Kunst. 30 | Vgl. Wall: The Prose of Things. 31 | Vgl. Gelder: Popular Fiction, 14.
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lärliteratur eher unvermittelt nebeneinander, da diese in erster Linie auf den unterschiedlichen Assoziationen der LeserInnen beruhen. Die Diskussionen über die Bedeutung einzelner Werke der Populärliteratur – Harry Potter etwa – ist daher weniger akademisch denn als Fan zu führen. Book clubs ermöglichen diesen Austausch – über eigene Erfahrungen mit und anhand des Buches, nicht allein über das Buch. Durch Unterdeterminiertheit erlaubt die Populärliteratur ein großes Investment – sie ermöglicht aber gleichzeitig auch, auf Distanz zu gehen, sich nicht angesprochen zu fühlen, keine eigenen Erfahrungen zu applizieren und die Welt so oberflächlich bestehen zu lassen, wie sie sich präsentiert. Die Mehrheit der unzähligen populärliterarischen Veröffentlichungen wird vom Einzelnen links liegen gelassen. Ein kunstliterarischer Text ohne Interpretation (und damit Investment) hingegen würde völlig unzugänglich bleiben – seine Welt kann nicht ohne den bzw. die LeserIn existieren, wie Wolfgang Iser ausführlich dargestellt hat; mit Barthes kann man die Kunstliteratur deshalb als writerly bezeichnen.32 Vielleicht ist es deshalb umso schwerer, einen Kunstroman nicht zu lesen – er würde ungeschrieben bleiben. Auch im Modus des Populären gewinnt der bzw. die LeserIn eine gewisse Macht über den unvollständigen Text – schließlich kennt sie/er die Regeln des Textes ähnlich gut wie der bzw. die AutorIn; dieses Gefühl der Macht steht der Ohnmacht gegenüber, die LeserInnen gegenüber der Kunstliteratur, insbesondere in der Schule, empfinden, wenn die Hermetik des Textes sich einer Aneignung immer wieder verschließt, wenn die Vieldeutigkeit des Textes immer wieder Entscheidungen verlangt. Die Populärliteratur unterscheidet sich damit von der Kunstliteratur in einem ähnlichen Verhältnis wie das Bild vom Wort. Seit der Aufklärung wird das Visuelle dem Verbalen meist diametral gegenübergestellt: Während die Schrift demnach also den Intellekt bedient, spricht das Bild die sinnliche Wahrnehmung an.33 Die Populärliteratur, so meine These, ist nun diejenige Form des Schreibens, die ebenfalls die Wahrnehmung anspricht, insbesondere das Sehen.34 Die Fähigkeit, die Welt (vermeintlich) unvermittelt darzustellen und dadurch den Rezipienten emotional zu affizieren, macht die Bilder aber gleichzeitig dem Wort unterlegen, da die Bilder vermeintlich weniger gut als das Wort in der Lage sind, ausgewählte Bedeutungen (autoritativ) zu vermitteln: »Thus every written word has a function of authority insofar as it chooses—by proxy, so to speak—instead of the eye. The image freezes an endless number of possibilities; words determine a single certainty.«35 Dieser Unterschied zwischen ›dem‹ Bild und ›der‹ Schrift, den der strukturalistische Roland Barthes hier noch konstatiert, ist aber vielmehr ein Unterschied zwischen unterschiedlichen Rezeptionsanleitungen, die entweder versuchen, Rezeption zu lenken, in dem semiotische Netze gesponnen werden, oder es eben offen 32 | Vgl. Barthes: S/Z. 33 | Vgl. Hüppauf: »Zylinder, Mützen und ein Steifer Hut«, 120-150. 34 | Vgl. Türschmann. »Medienkultur und Populärliteraturen«. 35 | Barthes: The Fashion System, 13.
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lassen, was der Rezipient mit dem Gesehenen/Gelesenen anfängt. Kunstliteratur will gelesen werden und damit ihre Autorität bewahren, während Populärliteratur sich dem Auge des bzw. der BertrachterIn hingibt. In diesem Sinne schreibt Charles Harvey zu Beginn des 20. Jahrhunderts über den Unterschied zwischen Populärliteratur und Avantgarde: The things which were done in those little books were physical, and they were told in language that made pictures in the mind. There were no verbal puzzles in any of them, like those which James or Meredith impose. Long ago James said novelists ought to make their readers do a share of the work. Capt. Mark Wilton, Major S. S. Hall, Dr. Frank Powell, and their coworkers believed that their duty to their readers was to entertain them. 36
Indem sich die Kunstliteratur – oder besser gesagt: Literatur im Modus der Kunst gelesen – aber schwierig gibt, lässt sie dem bzw. der LeserIn die Chance, wachsam zu sein. Die Populärliteratur – oder besser gesagt: Literatur im Modus des Populären gelesen – hingegen hat kaum eigene Autorität, kann sich nur schwer durchsetzen; wird sie aber eingeladen, aufgrund ihrer Versprechungen, hat sie leichteres Spiel. Dass das ›Bild‹ weniger Autorität hat, liegt daran, dass es vermeintlich keinen Autor hat, dass es nicht allein als Mittel zur Kommunikation von jemandem für jemanden zu existieren scheint, sondern aus sich heraus. Mit dem ›Wort‹ wird immer ein Autor verbunden, der damit etwas sagen möchte – dass man glauben oder ablehnen kann. Das ›Bild‹ hingegen scheint für sich zu stehen: »The image is the sign that pretends not to be a sign, masquerading as (or, for the believer, actually achieving) natural immediacy and presence.«37 Der ›bildhafte‹ Text kann (!) so zum ideologischen werden, indem er seine Konstruktivität hinter Natürlichkeit versteckt und zum readerly (Barthes) Konsum verführt.38
F)
K ÄUFLICHKEIT UND B EGEHRLICHKEIT
Zur inhaltlichen und formellen Zugänglichkeit muss im Rahmen der Massenmedien auch eine materielle Zugänglichkeit treten. Auch hierüber entscheidet der Peritext, das Stofflich-Materielle des Textes. Der typische Vertrieb über den Bahnhofsbuchhandel, später Supermärkte und heute das Internet ermöglicht den Erwerb, 36 | Harvey: »The Dime Novel in American Life«, 44. 37 | Mitchell: Iconology: Image, Text, Ideology, 43. Siehe auch Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, 307: »Man kann durch Filme positiv oder negativ berührt sein, kann sie gut oder schlecht finden, aber es fehlt im Gesamtkomplex des Wahrgenommenen jene Zuspitzung, die eine klare Distinktion von Annahme oder Ablehnung ermöglichen würde. Man weiß zwar, dass es sich um Kommunikation handelt, aber man sieht es nicht.« 38 | Siehe Barthes: S/Z.
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ohne dass spezielle Fähigkeiten oder ein bestimmter Habitus notwendig wären. Hier kann jeder kaufen, der zahlen kann – anders als im traditionellen Buchhandel, der eine ganze Reihe von Grenzüberschreitungen erwartet. Der Supermarkt ist dem Alltagsleben näher als der Buchladen, grenzt sich weniger deutlich vom Leben der meisten LeserInnen ab als der Buchladen. Auch ist das erworbene Buch oft leichter handhabbar: Man kann es mitnehmen, wohin man will, man kann es lesen, wo man will. Auch in ihrer Materialität lässt sich die Populärliteratur leichter ins Alltagsleben integrieren – man benötigt weder einen exklusiven Ort noch spezifische Möbel, um sie zu rezipieren. Neben einem geringen sozialen bzw. kulturellen Kapital benötig man auch nur ein geringes ökonomisches Kapital. Leisten können sich die Populärliteratur die meisten, da sie grundsätzlich preiswert angeboten wird. Eine preiswerte, weil massenhafte Produktion bedeutet aber auch ein hohes verlegerisches Risiko. Da die Populärliteratur als Massenmedium ein kapitalistisches Unterfangen ist, müssen Möglichkeiten der Risikominimierung gefunden werden. Dazu gehört neben der Werbung und der Serialität vor allem die Mehrfachverwertung in Medienverbünden: was als Buch funktioniert, funktioniert auch als Film und als Spiel. Andersrum gibt es auch das Buch zum Film.39 Um das Buch herum, den Erfolg eines Autors bzw. einer Serie stabilisierend, bilden sich reading formations. Gerade die Lektüre eines populären Textes beginnt damit schon lange vor dem ersten Buchstaben: »A text, in short, is never ›there‹ except in forms in which it is also and always other than ›just itself,‹ always-already humming with reading possibilities which derive from outside its covers«40. Der populäre Text, und nicht nur dieser, ist immer schon in ein weitgespanntes Netz aus Erwartungen eingespannt. Nichts, und so ist Derridas berühmtes Diktum wohl zu verstehen, ist außerhalb des Textes – alles trägt zumindest potentiell zur Bedeutungsgenerierung bei: Paratexte wie das Cover und der Umschlagtext, die Einbindung in eine Reihe, die Bekanntschaft mit dem Protagonisten und vielleicht dem Darsteller, das Wissen über Autoren und Verlage etc. – all diese kann dem populärliterarischen Text/Buch eingeschrieben werden. Populärliteratur, wie Ken Gelder betont, existiert in einem Feld (im Sinne Bourdieus), während Kunstliteratur ihre Autonomie betont.41 Das Feld wird bestellt von Fanzines, Buchhändlern, Bookclubs usw.42 Wieder wird auf diese Weise Emotions- und Unterhaltungssicherheit erwartbar gemacht – und dafür wird gezahlt. Man will wieder erleben, was schon einmal Befriedigung gebracht hat. Wer es sich leisten kann, der geht vielleicht eher das 39 | Zur gegenseitigen Befruchtung von Literatur und Film in der Frühzeit des Kinos siehe Hesse: Kamera-Auge und Spürnase. 40 | Bennett und Woollacott: Bond and Beyond, 90-91. Vgl. Jenschewski, »Die TwilightSaga von Stephenie Meyer als Phänomen der popular culture«. 41 | Vgl. Gelder: Popular Fiction, 13. 42 | Vgl. ebd., 75-100.
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höhere Risiko ein, sich mittels Kunstliteratur auf eine neue Erfahrung einzulassen; ist das Buch eine Enttäuschung, so kann man ein anderes erwerben.
G)
P OPUL ÄRE B EK ANNTHEIT
Die reine Wiederholung des Bekannten, die der Populärliteratur, die in dem Falle eine Trivialliteratur ist, unterstellt wird, wirft nicht nur die Frage nach der Art der Wiederholung auf, sondern auch die Frage danach, was eigentlich dieses Bekannte ist, das vermeintlich wiederholt wird. Die Wiederholung, wie ich eben versucht habe zu erläutern, erschöpft sich nicht in der bloßen Doppelung, sondern produziert im Adaptionsprozess des Lesens auch Differenz: Jede/r sieht etwas anderes, weil er/sie es mit den eigenen Augen sieht, weil er/sie das Spiel mit dem eigenen Leben und dem eigenen Körper spielt. Die Frage ist allerdings, ob das, was vermeintlich wiederholt wird, selbst überhaupt schon Identität besitzt. So gibt es wohl keinen populären Film und auch kein populäres Buch, dass ein Genre, ein Schema oder ein Weltbild zu hundert Prozent wiederholt. Das Verhältnis zwischen Wiederholendem und Wiederholtem ist also keineswegs ein symmetrisches, spiegelbildliches. Dies liegt weniger an einer unvollständigen, fehlerhaften oder kreativproduktiven Wiederholung, als vielmehr daran, dass das zu Wiederholende nicht als einfach Wiederholbares existiert. Kein Genre, kein Schema, kein Weltbild existiert als vollständige Liste von Merkmalen; vielmehr wird mit jeder vermeintlichen Wiederholung das zu Wiederholende erst als solches in Erinnerung gerufen, als Grund für die Figur des Werkes heraufbeschworen. Trotzdem sind Genres, Schemata und Weltbilder allgemein bekannt. Es scheint schwer vorstellbar, dass ein Buch Popularität erlangt, das sich auf etwas bezieht, das keiner kennt. Das Populäre als Bezugspunkt der Populärliteratur ist damit weder eine empirische noch eine konkrete Größe; es existiert als anderes, Unbeobachtbares der Differenz Figur/Grund, als angenommener Grund vor dem die konkrete Figur der Populärliteratur erscheinen kann. Mit jedem Exemplar der Populärliteratur wird somit die Geschichte des jeweiligen Genres aufgerufen; das Genre funktioniert als Gedächtnis, um das die bzw. der LeserIn wissen muss. Es kann durchaus sein, dass man lange keinen Tatort mehr gesehen hat, oder gar noch nie, und trotzdem wird man eine Meinung dazu haben (»ohne Manni Krug nix wert«). Man hat diese oder eine ähnliche andere Krimiserie zu kennen – sonst steht man unter Rechtfertigungszwang. (Werbung bspw. arbeitet damit, dass sie unterstellt, dass das beworbene Produkt eigentlich schon alle kennen – und lieben – und man selbst sich lächerlich macht, wenn nicht einmal davon gehört hat.43) Das populäre Wissen ist ein spekulatives: »So I have heard, and do in part believe it«44 , schreibt Niklas Luhmann, Hamlets Horatio paraphrasierend, über unser 43 | Vgl. Huck: Fashioning Society, or, The Mode of Modernity, 151-157. 44 | Luhmann: Die Realität der Massenmedien, 9.
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Wissen über die moderne Welt. Damit wird zum einen ein unsicherer epistemologischer Status angezeigt, der nichtsdestotrotz zur Grundlage weiterer Handlungen und Gespräche wird. Andererseits bedeutet der spekulative Status des Populären auch, dass man nicht wissen kann, wer davon ausgeschlossen ist. Es sagt zunächst einmal nichts über die dahinterstehende Person aus, davon gehört zu haben: Wir alle haben von Holmes gehört, vom Tatort und von Derrick. Dass man einzelne Sachen mag oder nicht, ist zunächst nicht entscheidend; entscheidend ist, dass man Quasi-Objekte45 teilt, dass man eine Meinung dazu haben kann. Durch diese Meinung dann können wir uns – oberflächlich, wie Adorno einwerfen würde – differenzieren. Dadurch, dass die individuelle Rezeption ein Geteiltes voraussetzt, produziert sie dasjenige mit, auf das sie sich vermeintlich nur bezieht. So wiederholt die Populärliteratur die bekannte Welt nicht nur, sie erschafft sie mit. An dieser bekannten Welt teilzuhaben mag eine Form des Zwangs darstellen, es kann aber ebenso Freude an der Zugehörigkeit bereiten.
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L USTGE WINN
Die Lektüre von Populärliteratur verspricht lustvolle Erfahrung: durch Erleben von Spannung oder Erotik, durch Mitfühlen, durch Erlangen nützlichen Wissens. Populärliteratur wird freiwillig gelesen: Kein Lehrer, kein Priester, kein Staatsdiener und kein Arbeitgeber empfehlen Populärliteratur zur Lektüre. Ganz im Gegenteil: Der Kampf gegen ›Schmutz- und Schundliteratur‹ ist so alt wie die Populärliteratur selbst.46 Die Produzenten der Unterhaltung profitieren von dieser Lust und dem Willen zur Teilhabe. Soziologisch liegt nahe, die Populärliteratur als Kompensation für die Verluste zu verstehen, die der Mensch in der modernen funktional-differenzierten Gesellschaft erfährt.47 Der Mensch wird demnach in seiner Körperlichkeit angesprochen, weil der Buchdruck ihn entkörperlicht;48 das Erleben von Abenteuern gilt als Kompensation für einen bürokratisierten Alltag (Weber), erotische Lektüre als Kompensation für die Triebkontrolle (Elias) und so weiter. Der Kapitalismus profitierte damit von seiner eigenen Zerstörungswut. Andererseits ermöglicht die Buchlektüre aber auch erst das Erleben gezielter Emotionen, denen man im normalen Leben niemals in solcher Reinform begegnen würde: sexuelle Erregung ohne Scham, Angsterregung ohne wirkliche Angst, Triumph ohne jemandem zu schaden usw. Die Lust, die die Populärliteratur er-
45 | Vgl. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, 81. 46 | Vgl. Maase: »Texte und Praxen«, 43-51. 47 | Vgl. Huck und Zorn: »Das Populäre der Gesellschaft. Zur Einleitung«, 23-24. 48 | Vgl. Davis: Factual Fictions: The Origins of the English Novel, 61-62.
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füllt, ist dann keine Mangelbehandlung, sondern produktiv: sie schafft neue Lust – und regt auch deshalb zum weitergehenden Konsum an.49 Die oben erwähnte emotionale Erwartungssicherheit (durch von Paratexten aufgerufene Genres, Schemata, Archetypen) grenzt die Populärliteratur von der Lebenswirklichkeit (und der Kunst) ab, in der weder sicher ist, welche Emotion von einer bestimmten Situation hervorgerufen wird, noch mit welchen anderen Emotionen diese sich vermischt. Populärliteratur kann also das lustvolle Erleben einer spezifischen Emotion in Reinform garantieren. Das populäre Lesen beruht also nicht unbedingt auf dem Spaß, den die moderne Gesellschaft vermeintlich verbietet. Vielmehr ermöglicht das populäre Lesen ein Vergnügen, dass allein in solcher Lesehaltung zu finden ist. Dass es wiederum andere Vergnügungen nicht bieten kann, sollte klar sein: Populärliteratur bietet keinen Ersatz für irgendwas. Dass der Lustgewinn durch die Teilhabe am Populären auch seinen Preis haben kann, sollte ebenso klar sein – man hat bspw. weniger Zeit für anderes.
I)
A NRUFUNG
Anstatt interner Komplexität, anstatt diskursive oder narrative Ereignishaftigkeit zu produzieren und zur (reflektierten, intellektuellen) Beobachtung bereit zu stellen, spricht die Populärliteratur (vermeintlich) unmittelbar die Erfahrung und die Wahrnehmung des Rezipienten an, interagiert, wie es der Titel der Tagung mochte, mit den Rezipienten, deren Verortung im Hier und Jetzt eine gesteigerte Rolle spielt. Dies geschieht zunächst durch eine direkte Ansprache: Populärliteratur ist immer für jemanden geschrieben, für den Gebrauch. Während Kunstliteratur sich selbstgenügsam gibt, sich dem bzw. der LeserIn nur widerwillig hingibt, (unendlich) enträtselt werden will, bietet sich die Populärliteratur direkt an. (Man kann aber auch sagen: Liest man ein Buch als Populärliteratur, dann nimmt man es als leicht zu erobern wahr; wird es als Kunst gelesen, dann werden Schwierigkeiten erwartet.) Die entscheidende Frage, die über die Bewertung der Populärliteratur und der Populärkultur im Allgemeinen richtet, ist diejenige nach der Art der Ansprache des bzw. der LeserIn. Gehört die Populärkultur zum ›hegemonialen Block‹, so erwartet sie von dem bzw. der LeserIn angeblich eine Subjektform, die die Werte von Familie, Patriarchat und Kapital unterstützt, da nur unter der Bedingung der Annahme der dargestellten Werte der erhoffte Lustgewinn statt hat. In diesem Falle müsste der bzw. die LeserIn die Ideologie des Textes wiederholend affirmieren, um dafür mit Vergnügen entlohnt zu werden: Fun ist ein Stahlbad, wie Adorno sagt. Die Cultural Studies halten entgegen, dass der spektakuläre Exzess, den die modernen Massenmedien in ihrem Kampf um Aufmerksamkeit aufführen, den Konsument genügend Freiraum bietet, um widerständige oder zumindest skepti49 | Vgl. Campbell: The Romantic Ethic and the Spirit of Modern Consumerism.
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sche, auf jeden Fall aber produktive Leseweisen zu ermöglichen. Darüber hinaus kann die Populärliteratur aber auch die Lust zur Transgression ansprechen und normabweichende Verhaltensweisen zur Lektüre anbieten, so wie dies viele pornographische oder gewalttätige Texte tun. So oder so ist der Appellationscharakter der Populärliteratur ein so offensichtlicher, dass kaum jemand sagen kann, er/sie hätte es nicht kommen sehen. Die Populärkultur ist oft genug ein guilty pleasure, ein Vergnügen, um dessen Kosten die meisten LeserInnen genau Bescheid wissen. Wie diese Kosten/Nutzen-Rechnung ausfällt, scheint vor allem von individuellen Kalkulationsbedingungen abzuhängen, also (lern-)biographischen, familiären und charakterlichen Kontexten. Gender- oder klassenspezifische Präferenzen gegenüber Populärliteratur sind nur schwer auszumachen: Die Schwelle zum populären Text scheint für fast alle dieselbe zu sein, was danach geschieht allerdings für jeden anders. Wo die lustvolle Teilhabe am Allgemeinen aufhört, und wo die Gefahr des Allzu-Gemeinen anfängt, kann nicht a priori festgelegt werden.
Beispiel: Robby Ix Heftromane sind ein unzweifelhaft typisches Beispiel der Populärliteratur. Die Begegnung mit potentiellen LeserInnen beginnt hier bereits bei der demonstrativen Aufstellung im (Bahnhofs-)Buchhandel (vs. versteckt im Regal), geht über die bebilderten Cover (vs. Suhrkamp) und die bildhaften Darstellungen vertrauter Topoi bis zur textuellen Ansprache. Diese Hefte wollen gekauft werden, sie möchten sehend gelesen werden und sie wollen genügend Genuss bieten, damit ähnliche Produkte wieder gekauft werden. Ein Beispiel unter vielen ist die in den 1930er Jahren entwickelte Krimiserie Robby Ix, die viele berühmte Vorgänger von Nick Carter bis John Kling und Frank Allen aufruft.50 Die Romanhefte hatten im Erfolgsfalle eine Auflage von bis zu 500 000 Stück; zeitweise gab es bis zu einhundert Heftreihen, die um die Gunst der LeserInnen buhlten und um einen Gesamtumsatz von ca. 50 Mill. Mark pro Jahr wetteiferten. Heftromane, oder besser gesagt: Groschenhefte rufen ihre monetäre Verfügbarkeit schon mit ihrem generischen Namen auf und geben ihren Preis schon auf der Titelseite preis. Neue Transportmöglichkeiten (wie der Kleinlaster auf dem Titelbild; siehe Abb. 1) verteilen die 64-seitigen DIN A5-Hefte über das ganze Land und machen sie über den (Bahnhofs-)Kiosk für jedermann zugänglich; die Hefte sind leicht zu kaufen und zu transportieren. Sie können überall mitgenommen und überall gelesen werden. Das Format der »billigen, der Populärliteratur vor-
50 | Zu Romanheften in Deutschland siehe Galle: Groschenhefte: Die Geschichte der deutschen Trivialliteratur.
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behaltenen Ausgaben«, so Genette, macht somit eine »intimere und ambulante Lektüre«51 möglich. Das farbige Titelbild zeigt den Verbrecher oder den Verbrecherjäger in Aktion; eine eingefrorene Bewegung zeigt wie auf fast allen Covern des Genres den Scheitelpunkt des Geschehens: Es muss etwas vorgefallen sein und es wird etwas geschehen. Der titelgebende »Greifer« ergreift den bzw. die LeserIn noch bevor diese/r vom Detektiv ergriffen wird. Genrebezeichnung und Protagonistenname auf dem Cover – fast immer mindestens genau so präsent wie der wie so oft obskure Band-Titel – bieten jene Erwartungssicherheit, die das Risiko des bzw. der LeserIn minimieren, enttäuscht zu werden – oder eben nur auf ganz spezifische Weise enttäuscht zu werden. What you get is what you see. Ein/e AutorIn, die ihre/der seine Autorität der bzw. dem LeserIn entgegenhalten könnte, gibt es hier nicht. Wie ein gefundener Schnappschuss liegen die Geschichten scheinbar ›einfach so‹ vor. Robby Ix, der mit diesem Heft vorstellig wird, ist ein »junger Mann mit guten Manieren« (Abb. 2) – wer ihm Einlass gewährt, hat wenig zu befürchten. Man kann es also ruhig mal mit ihm probieren: Es kostet weder viel Zeit noch viel Geld noch viel Arbeit, das Versprechen zu testen. Die Rückseite des Heftes erklärt genauer, was man erwarten kann; der Klappentext bringt Robby Ix der bzw. dem potentiellen LeserIn näher.
Abb. 1: Titelbild Robby Ix, Nr. 1, 1935.
Abb. 2: Rückseite von Robby Ix, Bd. 1, 1935.
51 | Genette: Paratexte: Das Buch vom Beiwerk des Buches, 24.
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Das also ist der Mann, der dem bzw. der LeserIn gegenüber tritt: »Das also ist Robby Ix! Aber bitte lernen Sie ihn selber kennen! Es wird sich lohnen, und er wird Ihnen gewiß kein schlechter Gesellschafter sein!« Während die Ausrufezeichen schon orthographisch eine direkte Ansprache des Produzenten an den Konsumenten anzeigen, so verspricht der Text noch eine weiter Interaktion: die zwischen Rezipient und Protagonist – sie leisten sich Gesellschaft, sie interagieren. Eine solche Interaktion kann nur statt haben, wenn Rezipient und Protagonist in demselben Zeitraum leben.
Abb. 3: Robby Ix, Bd. 1, 1935, 4. Eine Ansprache der LeserIn setzt sich auch in der Erzählhaltung fort, die Informalität unter Bekannten simuliert (Abb. 3). Die grammatikalisch unvollständige Rede simuliert das Gespräch unter Freunden; »hopps« und »nix« zeigen, dass Erzähler und LeserIn die gleiche Sprache sprechen. Das Gegenüber weiß Bescheid; Erzähler, Protagonist und LeserIn sind schon auf der zweiten Seite des Heftes enge Vertraute. »[W]ieder mal so« und »mal ein wenig« sind die Floskeln, die dem Geschehen ihre riskante Andersartigkeit nehmen: alles schon mal dagewesen – der bzw. die LeserIn kennt Welt und Genre und weiß, was sie nicht weiß. Die Form der Erzählung im Groschenheft setzt ganz auf das Geschehen, die Darstellung soll nicht weiter auffallen, ohne Autorität sein: Die […] Romane reduzieren die Präsenz des Erzählers; sie reihen Szene an Szene. Sie repräsentieren dem Leser das Geschehen, in dem sie verstärkt den Dialog einsetzen, ›Dokumente‹ einbeziehen, im Präsenz erzählen und eine Sensualisierung der Darstellung betreiben. Der Leser sieht das Geschehen nicht durch das Medium des Erzählers, sondern hat das Gefühl, es direkt vor Augen zu haben. 52
Der Bezug zur/zum LeserIn wird aber nicht allein durch die Erzählhaltung und die diskursive Form hergestellt, sondern auch über den Bezug zum Hier und Jetzt, der gleich auf der ersten Seite des Textes aufgerufen wird (Abb. 4). 52 | Söndgerath: Wandlungen der amerikanischen »Dime Novels«, 22. Was Söndgerath hier über späte amerikanisch Dime Novels sagt, lässt sich gut auf deutsche Groschenhefte übertragen, die sich an dieser späten Form des Genres orientieren.
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Modische Kleider, Autos, Filmstars, Kaffee, Eis, Schokolade, Musik: das Dargestellte, aufgerufen aus der Welt des Konsumenten, wird zum Verführer der Schau-, Hör-, und Schmecklust – nur anfassen darf man nicht, wie die illegitimen jungen Männer erfahren müssen, die Dinge berühren, die ihnen nicht gehören. Man sieht eine Welt vor sich, die der eigenen gleicht – weil sie aus den eigenen Bildern der Welt zusammen gesetzt ist. Der unvermittelte Beginn des Textes ist eine typische Konsequenz der Aktualität des Stoffes – gemeinsam errichten sie eine Schwelle zum Text, die leicht Eintritt gewährt: »Die Tendenz zum aktuellen Stoff hat Auswirkungen auf die Form […]. Die Handlung setzt unvermittelt ein und hat einen teilweise offenen Schluß. Die aufregende Welt des Romans scheint sich in die weniger aufregende Alltagswelt des Lesers hinein fortzusetzen.«53
Abb. 4: Robby Ix, Bd. 1, 1935, 3.
53 | Söndgerath: Wandlungen der amerikanischen »Dime Novels«, 22.
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In der fiktionalisierten Welt angekommen, kann die LeserIn nun das Geschehen verfolgen: »Es tut sich hier schon was!« Mit-erleben im Zeitraum der Geschichte wird zum Ziel bzw. zum Versprechen der Literatur; an die Stelle eines interesselosen Kunstlesens tritt ein zweckgerichtetes Lesen. Natürlich vertraut der bzw. die LeserIn dem Erzähler erst einmal, sobald er/sie (sich auf) ihn eingelassen hat, und so besteht die Gefahr, dass er/sie sich einiges unterjubeln lässt: ideologische Affirmationen des Status Quo, beispielsweise. Gefällt der LeserIn, was ihr/ihm geboten wird, so kann er/sie sich erneuter Befriedigung sicher sein: »Jede Woche erscheint ein weiterer Band« (Abb. 2). Schließlich: Robby Ix, »ein Mann, der seine Augen überall offen hält, sei es in Berlin, Paris, Chikago, Yokohama oder sonstwo« (Abb. 2), ist ein Mann der Ortlosigkeit, der den Lesern überall hin folgt und, wenn möglich, mitreißt. Auf diesen Reisen zerreißt er »jedes noch so fein gesponnene Gewebe« (Abb. 2) – und man muss nicht Max Weber und Clifford Geertz im Ohr haben, um zu erkennen, dass Robby Ix, »jene unbekannte mathematische Größe« (Abb. 2), kein Freund der Kultur ist, jenes fein gesponnenen Bedeutungsgewebes.54 Vielmehr ist er ein Mann, »der aus den Energien seiner Zeit heraus schöpft und auf eine besondere, verwegene Weise für das Gesetz und die menschliche Gerechtigkeit kämpft« (Abb. 2). Während es geradezu die zentrale Aufgabe der Kunstliteratur zu sein scheint, die Diskrepanz zwischen Gesetz und Gerechtigkeit, zwischen Setzung und Ideal herauszuarbeiten – man denke an Michael Kohlhaas, einem »der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit«, und natürlich an Derrida –, so scheint die Populärliteratur eben auf einen Fluchtpunkt hinzuweisen, an dem alle Kritik sich misst. Für die Populärliteratur zählt historisch-kulturelle Kontingenz wenig: Sie bringt die Faktizität der materiellen Alltagswelt und die begehrenswerte Schönheit der Ideen auf eine Weise zusammen, die dem Fan Glück und dem Kritiker Verzweiflung bringt – jederzeit, an jedem Ort und für jeden. Dass auch die Schönheit der Ideen alles andere als überhistorisch ist, ist der blinde Fleck der Populärliteratur, auf den hinzuweisen Kritiker nicht Müde werden.
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Die Popularität der Literatur Eric Baudner, Gero Brümmer und Martin Henrich
wir werden trauern in einer wortlosen Welt wir werden pur und simpel lachen wir werden schwimmen in Geld Tomte, So soll es sein1
P OP -S EMIOTIK Pop, das ist etwas Demokratisches, das steht jedem offen, das steht jedem zu. Und jeder weiß, was Pop ist und was nicht, wobei letzteres über Nacht Pop werden kann. Und doch wird man bei einem Versuch Pop zu verorten begrifflich auf Volks-, Massen- oder Subkultur weiterverwiesen, was mit der von Diedrich Diederichsen konstatierten Unübersetzbarkeit des englischen Termini »popular«2, dessen verschiedene Übersetzungsmöglichkeiten in der deutschen Sprache sämtlich anderweitig konnotiert sind, zusammenhängen mag – so bezieht sich heutzutage der Begriff »popular« (bzw. die seit den 1950er Jahren durch die »Pop Art« etablierte und in der folgenden Dekade medial wie akademisch verankerte Kurzform »Pop«3) im Gegensatz zur ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts auf eher nicht-volkstümliche Inhalte. Pop bewegt sich stets im Spannungsfeld von Inklusion und Exklusion – ein für alle zugänglicher Geheimcode.4 Sein Universalzugang ergibt sich auch und vor allem aus der Entwicklung der Medientechnik: benutzerfreundliche Medien wie Langspielplatten und Musikkassetten (vor allem in Verbindung mit dem Walkman), deren Erschwinglichkeit auch eine Entprivilegierung bestehender Eliten mit
1 | Tomte: »So soll es sein«. Buchstaben über der Stadt. Grand Hotel Van Cleef 2006. 2 | Diederichsen: »Pop – deskriptiv, normativ, emphatisch«, 36. 3 | Bodo Mrozek: »Popgeschichte«. 4 | Diederichsen, zitiert bei Fritz: Ist doch nur Pop, 53.
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sich brachte, sorgten für eine lauffeuerartige Verbreitung von Musik5 . Ähnlich verhält es sich mit den Printmedien und ihren unterschiedlichen Erzählformen. So avancierte nach anfänglicher Buchangst (mehr dazu bei Keuneke in diesem Band) der Roman zur Gattung des aufkeimenden Bürgertums. Der Bildungsbürger als Produkt des eng mit der medialen Evolution verknüpften Strukturwandels des 18. Jahrhunderts nutzte die Printmedien als Forum und organisierte sich in Relation zu ihnen. Vereine, Kaffeehäuser und Lesezirkel etablierten sich als Orte des medialen Diskurses, die sowohl integrativ als auch exklusiv waren und somit die identitätsstiftende Funktion der Medien institutionell verankerten: »Zum Bürger wurde, wer medienkulturell integriert war«6, so Faulstichs These. Somit befreite die Ökonomisierung der Druckmedien nicht nur den Autor aus seiner Abhängigkeit vom Mäzen, sondern bot auch der bürgerlichen Öffentlichkeit durch zunehmende typologische Ausdifferenzierung der Druckerzeugnisse in thematische Teilgebiete und ein stratifikatorisch ausdifferenziertes Mediensystem, in dem jede gesellschaftliche Schicht ihre eigene Presse hatte, die Möglichkeit, sich über »mediale Positionierung« zu identifizieren7. Von einer »Populär-Literatur« kann man allerdings erst ab dem Zeitpunkt im medialen Ökonomisierungsprozess sprechen, an dem sich das Buch durch Massenproduktion und steigende Alphabetisierungsrate zum Massenmedium gewandelt hat, das auch kleinere Rezipientenkreise durch Subklassifizierung auf Grundlage populärer Thematiken bedient. Faulstich hebt besonders den Bestseller als Erzeugnis der Massengesellschaft hervor: Käufer hatten gleich mehrfach Vorteile: Diejenigen, deren Käufe den Titel auf die Listen brachten, errangen den Status von Opinion Leaders und diejenigen, die sich daran orientierten, konnten aktuell »mitreden«. In jedem Fall versprach ein Listen-Bestseller mit einer Auflage von mehreren hunderttausend Exemplaren eine relative Sicherheit beim Buchkauf – was so viele Menschen gekauft hatten, musste eine gewisse Qualität aufweisen. 8
Gerade weil jeder und alles Anteil an Pop haben kann, darf und muss, sehen wir uns gezwungen, möglichst viel Pop zu konsumieren. Was als direkte Folge von In5 | Diesem Inklusionsmechanismus wurde mit der Bildung von exklusiveren, da durch ein höheres Maß an Medienkompetenz bestimmten, Subkulturen und Eliten entgegnet. So wird »Scratchen« als Kunstform angesehen, und Mixed Tapes erfahren nicht erst seit Hornbys High Fidelity eine beinahe posthume Auratisierung als Kulturgut. Mit Blick auf die intermediale Struktur des Populären sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass der popkulturelle Kultstatus von High Fidelity neben der kontinuierlichen Aufzählung von popmusikalischen Referenzen zusätzlich sowohl auf den Pop-Status seines Autors (Popliteratur wird von Popliteraten verfasst) als auch auf den Erfolg seiner Verfilmung, die den »Soundtrack« des Buches vom assoziativen Kopfkino in die Ohren der Zuschauer brachte, zurückzuführen ist. 6 | Faulstich: Mediengeschichte, 19; vgl. 17, 47. 7 | Vgl. ebd., 54, 63. 8 | Ebd., 138.
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dustrialisierung und Urbanisierung begann, gilt zur Zeit des Web 2.0 und Global Village mehr denn je: das im Grunde genommen orientierungs- und identitätslose Individuum wird von der Popkultur, die sich dem Vorwurf der Kulturindustriethese stellen muss, trivialisierend und gleichmachend zu sein, zuhause abgeholt.9 Das heißt, dass einerseits die mithilfe der Massenmedien kommerzialisierten Kulturangebote nicht nur eine enorme Vielfalt haben, sondern auch einem Jeden von uns schnell und einfach zugänglich gemacht werden, dass andererseits der Popkulturindustrie vorgeworfen wird, durch die »Standardisierung der Kulturwaren […] auch, ganz entgegen dem demokratischen Ideal der freien Selbstentfaltung, die Standardisierung der Bedürfnisse«10 (die parallel zur Dichte der medialen Infrastruktur steigen11) hervorzurufen, indem sie oberflächlich eine breite Palette tatsächlich strukturell ähnlicher Kulturgüter anbietet. In der letzteren Lesart haftet der Popkultur die negative Konnotation der »von oben herabgereichten« Massenkultur an. Dessen ungeachtet fühlt sich der Popkulturrezipient oft schon allein dadurch ermächtigt, dass ihm beispielsweise durch popkulturelle Portionierung von vorgeblich hochkulturellen Inhalten ein Aufbrechen der vermeintlichen »high-versus-low-culture«-Hierarchie suggeriert wird, was Grasskamp als »Universalkultur ohne Alternative«12 entlarvt. Diese scheinbare Entmachtung der Hochkultur geht einher mit einer Aufwertung der Alltagskultur. Die Auratisierung des Banalen, die Ästhetisierung des Technisierten13, der millionenfach kopierte Farbdruck des Comicpanels, wird zum Fokus des Populären; Schaffenskraft und Kreativität sind weniger gefragt als das Lenken des allgemeinen Blickes auf das zu popularisierende Objekt14 – und wir sind alle dazu aufgerufen. Aus diesem Grund glaubt Fiske in der Populärkultur die Aufwertung des Unterdrückten, der sich die Ressourcen des ihn unterdrückenden Systems zunutze macht, erkennen zu können.15 Wir sitzen zwar im Käfig der Popkultur, aber wenigstens wählen wir unsere Mahlzeiten selbst. Da prinzipiell alles von jedem populär aufgeladen werden kann, ist Pop vor allem ein diskursiv-performatives Phänomen, also das, »was qua Diskursen über Pop zu Pop ernannt wird«.16 Als popkonsituierende Kriterien, so Schäfer, werden häufig Jugendlichkeit und Szeneaffiliation der Autor- und Leserschaft herangezogen.17 Popliteratur zeichnet sich aber in erster Linie durch eine Vielzahl von den 9 | Vgl. Fritz: Ist doch nur Pop, 16-20. 10 | Behrens, zitiert bei Fritz: Ist doch nur Pop, 25, vgl. 27. 11 | Vgl. Behrens: Die Diktatur des Angepassten, 195. 12 | Grasskamp, Krützen und Schmitt: Was ist Pop?, 9, vgl. 27. 13 | Vgl. Makropoulos: Theorie der Massenkultur; vgl. auch Grasskamp, Krützen und Schmitt: Was ist Pop?, 30f. 14 | Vgl. ebd., vgl. auch Agamben: Profanierungen, 19. 15 | Fiske: Lesarten des Populären, 15. 16 | Fritz: Ist doch nur Pop, 60. 17 | Vgl. Schäfer: »Neue Mitteilungen aus der Wirklichkeit«, 8.
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entsprechenden Zeitgeist widerspiegelnden Referenzen aus. Der Protagonist des Popromans trägt nicht irgendein Hemd, sondern ein Abercrombie & FitchTM-Shirt, genießt keine anonyme klassische Musik bei einem Glas Wein, sondern zerdrückt lässig seine Dose Karlskrone während er mit dem Kopf zur Musik der Electric Six nickt, oder, wie es im Booklet zum Tomte-Album Buchstaben über der Stadt heißt: Ich erinnere mich daran, dass ich in Köln wohnte und auf dem Weg zu einem …but aliveKonzert im Rhenania eine saure Gummigurke aß, die mir eine Plombe raus sog. Ich erinnere mich, dass es mir egal war. Ich erinnere mich, dass ich an dem Abend ein …but alive-Shirt gewann, weil Hagen, der Gitarrist der Band, auf der Bühne »South of Heaven« anstimmte und ich der erste war, der es erkannte. Ich erinnere mich daran, dass Marcus Wiebusch mir das Hemd in die Hand gab und ich nicht wusste, dass wir uns eine lange Zeit begleiten werden.18
Die meist sehr oberflächliche Beschreibung popkultureller Items (in erster Linie Popmusikreferenzen) webt ein Netz sprachlicher Authentizität bei hohem Wiedererkennungsgrad auf Rezipientenseite und »liefert« ganz im Sinne von Benjamin von Stuckrad-Barres Anspruch an Pop-Literatur »ein Image mit«.19 Daraus lässt sich schließen, dass die Attraktivität des Popromans als kulturelle Momentaufnahme in erster Linie unmittelbar zeitnah zum Entstehungsraum besonders hoch ist. Danach wird dem Werk erst dann wieder Aufmerksamkeit zuteil, wenn es zu einem Wiederauflebenlassen des entsprechenden Zeitgeistes kommt. In beiden Phasen ist jedoch dasselbe Phänomen wie in der Popart zu beobachten: scheinbar willkürlich (und zwar eben doch durch eine schmale Popelite) ausgewählte Objekte der Alltags- oder Ordinärkultur20 werden auratisiert, semantisch aufgeladen, umgeschrieben und in den Rang von Kultobjekten gehoben. Mit Bodo Mrozek ließe sich hier sprechen von einer »Erweiterung des Gebrauchsnutzens durch einen emotionalen Zusatznutzen der Güter«.21 Popkultur ist folglich auch das Vermarktungsinstrument der Reklameindustrie, die diskursiv festlegt (und stets neu verhandelt), welche Kulturgüter derartig aufgeladen werden (beziehungsweise welche ehemals hochkulturellen Güter in den Alltagsgebrauch zurückgeführt werden) und als universelle Wahrheit vermarktet werden. Dieser forschungsgeschichtlich orientierte Überblick zeigt, dass Popkultur ein wesentlich ephemereres Gebilde als Allttags-, Volks-, Hoch- oder Subkultur22 darstellt, aus deren Palette einzelne Produkte gewählt und unter dem Label »Pop« neu semiotisiert werden, wobei zumindest vordergründig insbesondere die klassi18 | Tomte: Buchstaben über der Stadt. Grand Hotel Van Cleef 2006. 19 | Vgl. Schäfer: »Neue Mitteilungen aus der Wirklichkeit«, 8. 20 | Vgl. Marchart: Cultural Studies. 21 | Mrozek: »Popgeschichte«. 22 | Letzterer liegen ja – wie ihrem komplementären Gegenstück »Mainstream« – Normativitätskriterien zugrunde.
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fikatorischen und hierarchisierenden Qualitäten der Etiketten »Volkskultur« und »Hochkultur« neu verhandelt werden. Ob dabei »Pop« lediglich ein vorübergehendes Platzhalterlabel oder die klassifikatorische »Endstation« für das derart bezeichnete Produkt der Kulturindustrie ist, kann erst mit größerer historischer Distanz begutachtet werden; allerdings scheint die Theorie plausibel, dass »Pop« die taxonomische Determiniertheit kultureller Objekte untergräbt und diesen ermöglicht, beliebig häufig den Statuswechsel zwischen Hoch-, Volks- und Subkultur zu vollziehen. Für die Popliteratur, die »Literatur der zweiten Worte, die im Material einer Sprache des immer schon Gesagten arbeitet«23 , gilt analog: sie entnimmt der Welt des populären Marketings und der Welt der populären Unterhaltungsmedien vorgefertigte narrative Formeln, Signets und Textstücke, gibt sie dupliziert als literarisches Werk aus oder stellt sie zum Beispiel satirisch gezeichnet oder neu gerahmt auffällig heraus. 24
Die dekanonisierende Neurahmung dieser »Prätexte«25 ermöglicht neben einer generellen Re-Kanonisierung des »populär« semiotisierten Items auch seine Zuführung in ein spezielles (oft sich sehr von dem ursprünglich intendierten unterscheidendes) Rezipientenmilieu.
L ITER ATUR ALS POPUL ÄRES M EDIUM Auf verschiedenen Beschreibungsebenen zeigt sich also, dass eine Bestimmung des Populären oder der Popkultur gerade aufgrund der für sie charakteristischen semiotischen Dynamik schwer beizukommen ist. Daher soll im Folgenden versucht werden, die Bedingungen dieser Semiosis über die spezifischen Interaktionsstrukturen zu erklären, die das Populäre seinen Rezipienten und ›Usern‹ zur Verfügung stellt. Hierzu wird der kritische Dialog mit Positionen der literaturwissenschaftlichen Rezeptionsästhetik gesucht, der abschließend durch Rückgriffe auf die soziologische Interaktionsforschung erweitert werden soll. In methodischer Hinsicht verfolgen wir ein induktives Vorgehen, das von quantitativen Kriterien der Verbreitung auf qualitative Merkmale zu schließen versucht. Statt also eine Liste popkultureller Artefakte aufzustellen und diese anschließend in ausgewählten Werken nachzuweisen, wird im Folgenden vom empirischen Aspekt der tatsächlichen Popularität ausgegangen. Denn erst wenn ein Werk eine gewisse messbare Bekanntheit erlangt hat, lohnt es sich, über die Faktoren nachzudenken, die zu dieser Bekanntheit geführt haben könnten.
23 | Baßler: Der deutsche Pop-Roman, 184f. 24 | Hecken: »Pop-Literatur um 1968«, 48. 25 | Schäfer: »Neue Mitteilungen aus der Wirklichkeit«, 15.
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E RIC B AUDNER , G ERO B RÜMMER UND M ARTIN H ENRICH Popkultur bedeutet demnach den kommerzialisierten, gesellschaftlichen Bereich, der Themen industriell produziert, medial vermittelt und durch zahlenmäßig überwiegende Bevölkerungsgruppen – egal, welcher Schicht oder Klasse zugehörig – mit Vergnügen genutzt und weiterverarbeitet wird. 26
In der folgenden Untersuchung sollen vor allem die populäre Vermittlung von Inhalten und nicht die Inhalte selbst im Vordergrund stehen. Kurz: das wie und nicht das was von Popkultur soll untersucht werden – und damit einhergehend die Frage, ob es eine Vermittlungsform gibt, derer sich popkulturelle Werke bedienen, und ob diese weitgehend unabhängig von den vermittelten Inhalten eine mögliche Erklärung für nachweisbare Popularität bietet. Zunächst ist allerdings noch zu klären, warum ausgerechnet die Popularität der Literatur den Gegenstand bilden soll. Schließlich haben die einleitend angeführten Beispiele gezeigt, dass popkulturelle Phänomene kaum Mediengrenzen kennen. Und lange vor Literatur wird Populäres ohnehin eher mit Filmen und vor allem mit Musik in Verbindung gebracht. Selbst die größten Bestseller in der Literatur werden von ihren Verfilmungen regelmäßig übertroffen. Das trifft auch bei den im folgenden gewählten Beispielen ausnahmslos zu, bei den Vertretern des sogenannten Popromans oder internationalen Bestsellern wie Harry Potter oder Twilight. Behält man also die Bekanntheit als unverkennbares Symptom populärer Medien im Blick, ist die Dominanz des Mediums Film überwältigend. Filme bekommen auch wesentlich schneller das Prädikat Kult verpasst, als Literatur dies schafft. Als Paradebeispiel kann hier Quentin Tarrantinos Kriminellen-Epos Pulp Fiction dienen. So stellt Ralf Krämer in der Spex fest: Der Style, die Zuspitzung des Genrekinos mit Mitteln der Comedy, das archaische Wertesystem aus Gut und Böse, Nazi und Deserteur, im Streit mit sich selbst – alles steckt schon in diesem Anfang und Ende. In den Episoden dazwischen wird es lediglich variiert, drastisch zugespitzt, sie machen »Pulp Fiction« zu einer ungeheuer cleveren Nummernrevue – im Detail unvergesslich, im Ganzen überflüssig. 27
Natürlich lässt sich argumentieren, dass Pulp Fiction auch im Rahmen des Mediums Literatur funktionieren könnte. Zeichnet man allerdings die Erfolgsfaktoren des Films nach, dominiert klar die visuelle Inszenierung. Der erzählerische Gehalt dieser im ganzen überflüssigen Nummernrevue tendiert gegen Null, die Inszenierung beispielsweise der zentralen Tanzszene von Uma Thurman und John Travolta hingegen – die sich im Medium der Literatur schon allein aufgrund ihrer fokussierten Körperlichkeit nur schwer imitieren ließe – hat sich als einer der zentralen Kult-Faktoren des Films erwiesen. 26 | Jacke: Medien(sub)kultur, 22. 27 | Krämer: »Quentin Tarantino, oder das Hyper-Kino des Film-Zitators«, 75.
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Es stellt sich also zunächst die Frage, wie sich der Film von der Literatur in seinen erzählerischen Möglichkeiten unterscheidet, beziehungsweise ob der Film überhaupt im literaturwissenschaftlich engeren Sinn des Wortes ›erzählt‹. Über die Kamera, die im Film als zentraler Zugang zur dargestellten Welt verstanden werden muss, schreibt etwa Andreas Mahler: Die Kamera […] tut nicht so, als registriere sie; sie registriert. Dabei schafft sie keine fiktive Welt, sondern zeigt nur, was es, irgendwo ›real‹ inszeniert oder vorhanden, bereits gibt[.] […] die Kamera erzählt nicht, sondern sieht; sie ist keine binnenpragmatische Instanz des Fingierens, sondern ein vom impliziten Textsubjekt […] genutztes Instrument der Modalisierung. 28
So streitbar diese Behauptungen im einzelnen auch sein mögen, so unstrittig ist die Feststellung, dass der Konsum des Mediums Film immer an den Akt des Sehens gebunden ist. Eine erzählerische Instanz, die dargestellte Inhalte vermittelt oder gar relativiert, fehlt. Die szenische Darstellung mag an Merkmale der Fokalisierung (wie im Drama: über Lichtregie, wie in erzählenden Texten: über Einstellungsauswahl und Perspektive) gekoppelt sein, erzählt wird im Film nicht im kommunikationstheoretischen Sinne durch einen Erzähler; und noch die VoiceOver-Passagen sind wesentlicher der erzählten Figur als einem erzählerischen Vermittlungssystem zuzuschreiben. Diese Eigenheit begründet die Wahrnehmungsevidenz des Films. Alles was im Film geschieht, wird vom Zuschauer unmittelbar visuell und auditiv verarbeitet. Natürlich wird auch durch die filmischen Dialoge kommuniziert, doch auch diese Kommunikation kommt so unmittelbar beim Zuschauer des Films an, wie sie für die Figuren einer Szene verfügbar ist. Das, was in einem Buch steht, hat, so die Fiktion, jemand nachträglich aufgeschrieben, und zwar so, wie er es im Hinblick auf die Kommunikation seiner Wahrnehmung für angemessen hält. In einem Film ist der Zuschauer – mit Einschränkungen – wahrnehmend anwesend, bei der Lektüre der Literatur ist er an die kommunikative Verarbeitung der Wahrnehmung eines anderen gebunden. So steht der Wahrnehmungsevidenz des Films eine stärker kommunikationsreflexive Haltung der Literatur gegenüber. Zur Schärfung dieser These soll der Umweg über ein anderes bereits erwähntes Medium genommen werden, das sich insbesondere im popkulturellen Kontext als zentral erweist: die Musik. Es gibt kaum etwas Wahrnehmungsevidenteres als Musik, die rein technisch gesehen nur die zeitliche Organisation von verschiedenen Tonhöhen darstellt. Der Versuch und das gleichzeitige Scheitern, diesen Tönen kommunikativ bestimmte Eigenschaften und somit Sinn jenseits der Wahrnehmungsevidenz einzuschreiben, wird nirgendwo so deutlich wie in der Popmusik. Der bekannte Satz »Über Musik schreiben [oder in diesem Fall sprechen und singen] ist wie zu Architektur tanzen« wurde nicht umsonst unzählige 28 | Mahler: »Erzählt der Film?«, 266.
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Male in der Geschichte der Popmusik zitiert.29 Entsprechend wurde das Primat der Wahrnehmungsevidenz auch in systemtheoretischen Zugängen zur Popmusik stark gemacht; so etwa in dem Aufsatz »Music No Music Music – Zur Unhörbarkeit von Pop« von Peter Fuchs und Markus Heidingsfelder: Die Spezifik von popsystemischen Kommunikationen bestünde dann […] darin, die Inkommunikabilien der Wahrnehmung in den Kommunikationszusammenhang zu integrieren, die Differenz von Wahrnehmung […] und Kommunikation […] erneut in die Kommunikation eintreten zu lassen, so dass der Eindruck entsteht: Diese Referenz auf des nur Referierbare erreiche tatsächlich den Körper. 30
So lässt sich in Tausenden Popsongs miterleben, wie die Liebe besungen wird, während Streicher und Piano den nötigen emotionalen Überbau gestalten, oder wie in Metal-Songs harte Gitarrenriffs als selbstverändliches Mittel angesehen werden, der eigenen Wut Ausdruck zu verleihen. Egal ob »I don’t want to miss a thing« in einer Aerosmith-Ballade, oder ein »Fuck you, I won’t do what you tell me« in einem Rage Against The Machine Song – der unbedingte Zusammenhang zwischen Musik als wahrnehmungsevidenter und Text als kommunikationsreflexiver Bestandteil des Mediums ist im Grunde so willkürlich, wie er als tatsächlich zwingend postuliert sein mag. Am Ende bleiben Popsongs immer die von Fuchs und Heidungsfelder beobachteteten »Do Do Do« und »Yeah Yeah Yeah«-Schreie.31 Denn: Songs leisten mehr. Es wird in ihnen nicht nur von Wahrnehmung gesprochen – der Song ›spricht‹ selbst. […] Songs versuchen, das Unmögliche möglich zu machen; die Wahrnehmung soll Eingang finden in die wahrnehmungsfreie Kommunikation. Das gelingt nur auf der Ebene der Zeichen, nur als re-entry, als Wiedereintritt der Unterscheidung Wahrnehmung/Kommunikation in die Kommunikation. 32
Die Literatur hat diese Probleme prinzipiell nicht, denn sie hat nur eine Möglichkeit, sich mitzuteilen: die Schrift. Natürlich ist auch sie systemtheoretisch gesprochen eine Kopplung von Kommunikation und Bewusstsein/Wahrnehmung; doch führt die Unabhängigkeit von einer wie auch immer gearteten zeitlich gebundenen Aufführungssituation zu einer völlig anderen Vermittlungssituation, die Oliver Jahraus wie folgt beschreibt: »Die Zeitunabhängigkeit der Form [der Literatur] erlaubt die Zeitunabhängigkeit der Beobachtung selbst.«33 Und weiter: »Der Text 29 | Bezeichnenderweise wird dieser Satz inzwischen sowohl Frank Zappa als auch Elvis Costello zugeschrieben. 30 | Fuchs und Heidingsfelder: »MUSIC NO MUSIC MUSIC«, 296. 31 | Vgl. ebd., 299-310. 32 | Ebd., 297. 33 | Jahraus: Literatur als Medium, 443.
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als Form ist eine Beobachtungskategorie. Am Text wird schriftliche Kommunikation beobachtbar, und umgekehrt ist der Text selbst somit eine Form der Beobachtung von Kommunikation.«34 Literatur muss verstanden werden als »Konstitution einer interpretativen Form als kommunikatives Ereignis.«35 Dieser entscheidende Unterschied zu den wahrnehmungsevidenten (visuellen und auditiven) Medien Film und Musik bedeutet für die vorliegende Untersuchung folgendes: Egal ob Soloalbum, Feuchtgebiete, Harry Potter oder Twilight grundlegend verschiedene Thematiken und grundverschiedene Welten verhandeln – die medienspezifischen Bedingungen, an die diese Werke im Rahmen der Literatur gebunden sind, sind gleich. Schrift in Textform ist […] ein einzigartiges Medium – exklusiv in seiner abstrakten Formenattraktivität für Kommunikation gegenüber Bildern, exklusiv in seiner Zeit-ent-bindung gegenüber dem phasisch fundierten akustischen Medienträger, exklusiv in beiderlei Hinsicht gegenüber audiovisuellen Medienträgern. Das Buch als Medienträger des schriftlichen Textes bringt diese Exklusivität der Schrift situativ zum Ausdruck. 36
Greift man auf die von Fuchs und Heidingsfelder konstatierte Kommunikationsweise von Popmusik zurück, lässt sich also fragen, welche Strategien sich in populärer Literatur finden, analoge Effekte von Wahrnehmungsevidenz zu erzielen. So lässt sich beobachten, dass Literatur sowohl auf der Ebene der behandelten Inhalte als auch auf der Ebene ihrer narrativen Vermittlung über Möglichkeiten verfügt, die Grenze zwischen Kommunikation und Wahrnehmung in den Kommunikationsprozess in einer Weise miteinzubinden, welche die für Literatur charakteristische Kommunikations-Reflexivität kaschiert.
D ER DEUTSCHE P OPROMAN Gehen wir hierzu von den typischerweise als Poproman bezeichneten Werken aus. Werke wie Soloalbum, American Psycho, oder Charlotte Roches Feuchtgebiete gewähren dem Leser einen relativ unkomplizierten Zugang zu ihrer fiktionalen Welt. Die dargestellte Welt scheint der des Lesers zu entsprechen. So schildern sowohl Helen Memel, die Protagonistin aus Feuchtgebiete, als auch Patrick Bateman aus American Psycho eine Gesellschaft, die für den Leser vertraut ist und dem er nicht viel hinzufügen muss, um die Welt des Werkes zu verstehen und zeigen so ein erleichtertes Einstiegsverfahren auf der Ebene der erzählten Inhalte. Während die mimetische Beschaffenheit der erzählten Welt es dem Leser also einfach macht, an dem Ge-
34 | Ebd., 443. 35 | Ebd., 444. 36 | Ebd., 457.
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schehen teilzuhaben, scheinen die Erzählerfiguren eine solche Bindung auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung zunächst eher zu erschweren. Schließlich dürfte es nur wenige Leser geben, die sich mit den ausgefallenen Sexualpraktiken und der Wiederverwertung von Körperflüssigkeiten, wie sie Helen Memel praktiziert, identifizieren können, oder die gleichen Gewaltfantasien durchleben wie Patrick Bateman. Dennoch ist durch das grundlegende Interesse an Sex und Körper im ersten Fall wie auch durch bekannte Muster im modernen Berufsalltag im Falle Patrick Batemans garantiert, dass die durch die grenzwertigen Erzählinstanzen verursachten Diskrepanzen zum Erfahrungshorizont des Lesers ausgeglichen werden. Der an die gesprochene Alltagssprache angelehnte Erzählstil verringert mögliche Distanznahmen des Lesers weiter und fördert vielmehr die immersive Bindung des Lesers an das Werk. Hierzu zählen in Feuchtgebiete sowohl solche Aussagen wie »Ja, da bin ich stolz drauf« als auch die inneren Monologe, bei denen die Protagonistin Konversationen durchspielt: Ach so! Danke, Herr Professor Dr. Notz! Schon mal drüber nachgedacht, Maler zu werden, bei dem Talent? Diese Zeichnung nützt mir überhaupt nichts. Ich werde daraus nicht schlau, frage aber nicht weiter nach. Der will mir schon mal nicht helfen, Licht ins Dunkel zu bringen. 37
Eine ähnliche Mischung von Redetypen findet sich auch in von Stuckrad-Barres Soloalbum: Ich weiß genau, vor einem Monat noch fand ich ihren Hintern zu dick. Sie hat danach gefragt, immer wieder, seit Jahren: – Ist er nicht zu dick, der ist doch wohl zu dick! Und zunehmend undeutlicher habe ich halbwahr geschmeichelt: – Nein, nein, Schatz, du siehst phantastisch aus, du und sonst keine. Er war mir zu dick, darauf muß ich mich jetzt konzentrieren. Und erst ihre Eltern! 38
Unterstützt wird der Eintritt imaginativer Immersion in die Kommunikation auch durch die von Moritz Baßler beschriebenen Archiv-Bildungen des Pop-Romans.39 Demzufolge wird in Popromanen archiviert was vorher nicht archiviert wurde (da es der Archivierung für nicht würdig empfunden war). Hierzu zählen auch die Verwendung von Marken, Mode und Musik.40 Auch durch diese bekannten Elemente angesprochen, erliegt der Leser der Illusion, dass Helen Memel ihre Geschichte nicht mit einem der Diegese zuzuordnenden fiktiven Adressaten, sondern direkt mit ihm selbst teilt. 37 | Roche: Feuchtgebiete, 11-13. 38 | von Stuckrad Barre: Soloalbum, 17. 39 | Vgl. Baßler: Der deutsche Pop-Roman, 21. 40 | Vgl. ebd., 168.
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F ANTASY UND P HANTASTIK : D AS UNBEK ANNTE A LLTÄGLICHE In J.K. Rowlings Harry Potter-Romanreihe sieht sich der Leser mit einer fiktionalen Welt konfrontiert, die dem beschriebenen Anspruch der Bekanntheit nur bedingt gerecht werden kann. So finden sich hier magische Wesen wie Kobolde und Einhörner, es existieren Hexen und Zaubersprüche und eine komplette Welt der Zauberer, mit eigener Geschichte, eigener Sprache und einem eigenen Realitätsbegriff. Kein Leser wird wissen können, wie es ist, einem Drachen zu begegnen oder auf einem Besen durch die Luft zu fliegen. Ebenso wird kein Leser der Twlilight-Romane selbst einen Kampf zwischen Vampiren und Werwölfen erlebt haben. Denn die Welt in Stephenie Meyers Werken ist ebenfalls eine, in der das Übernatürliche mit unserer Lebenswelt koexistiert. Dennoch findet sich auch hier wieder der helfende Rettungsanker des Bekannten. Dieser erscheint in Form eben dieser Koexistenz der Welten. Die Welten der genannten Romanreihen sind nicht autark und dem Leser völlig fremd, vielmehr handelt es sich um magisch aufgeladene Versionen der Lebenswelt der Leser. So hat die Welt der Zauberer in den Harry Potter Büchern parasitären Anteil an unserer Welt, die nicht zuletzt durch das Motiv des ›Dazwischen-seins‹ hervorgehoben wird. Das Versteck der Geheimorganisation des Orden des Phönix befindet sich zum Beispiel in einem verzauberten Haus, das zwischen zwei anderen Häusern liegt, die dem Betrachter, der nicht in das Geheimnis eingeweiht ist, als aneinanderliegend erscheinen: As the message curled into flames and floated to the ground, Harry looked around at the houses again. They were standing outside number eleven; he looked to the left and saw number ten; to the right, however, was number thirteen. […] Harry thought, and no sooner had he reached the part about number twelve, Grimmauld Place, than a battered door emerged out of nowhere between numbers eleven and thirteen, followed swiftly by dirty walls and grimy windows. It was as though an extra house had inflated, pushing those on either side out of its way. Harry gaped at it. The stereo in number eleven thudded on. Apparently, the Muggles inside hadn’t felt anything. 41
In der Passage wird die Tatsache, dass die Bewohner der normalen Welt (die »Muggle«) von den Ereignissen in der Zauberwelt unbehelligt bleiben, noch einmal hervorgehoben. Auch das »Gleis 9 ¾«, von dem die Schüler in dieser Welt zur Schule Hogwarts reisen, fristet sein Dasein zwischen zwei anderen Gleisen. Wie die Zauberwelt Harry Potters versteckt sich auch die Welt der Vampire und Werwölfe in Twilight innerhalb der uns bekannten Welt, und Mitglieder der Vampirfamilie der Cullens tarnen sich als Schülergruppe an einer amerikanischen High School. Die Verwendung von Elementen vertrauter Systeme zur Popularisierung fantastischer
41 | Rowling: Harry Potter and the Order of the Phoenix, 71.
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Permutationen dieser Systeme bildet also wie im Falle der Popromane eine Kopplung an Bekanntes. So ist die Schule in Twilight durch die Präsenz der Vampire magisch aufgeladen, und bei Harry Potter ist das gesamte Schulsystem, einschließlich Benotung und Klassenaufteilung, ein übernatürliches Spiegelbild des englischen Systems. In der Welt von Harry Potter müssen Schüler Abschlussprüfungen in Form so genannter O.W.L. (Ordinary Wizarding Level) Tests absolvieren. Die Bezeichnung der Tests bezieht sich hierbei auf die alten Abschlüsse in englischen Schulen (OLevel), während das Format an sich eine Referenz auf die neuen Abschlüssen de Englischen GCSE Tests ist.42 Hinzu kommen alternative Versionen von Institutionen und Organisationen unserer Lebenswelt, wie Behörden, Gremien, Polizei, Wirtschaft, Presse etc. Mag dem Leser die Existenz von Zeitungen mit bewegten Bildern auch weitgehend fremd sein, so ist es das Vorgehen von Sensationsjournalisten und die staatliche Zensur von Medien sicher nicht.43 Aus rezeptionsästhetischer Sicht ist das Aufrufen bekannter Elemente einer der Effekte (und damit eine der nutzbaren Strategien), der jedem Text mit einer phantastischen Welt zugrunde liegt. Diese Abhängigkeit wird von Rosemary Jackson skizziert: Fantasy re-combines and inverts the real, but it does not escape it: it exists in a parasitical or symbiotic relation to the real. The fantastic cannot exist independently of that ›real‹ world which it seems to find so frustratingly finite. […] The actual world is constantly present in fantasy, by negation […].44
Wolfgang Iser verwendet diese Annahme als Grundlage einer harschen Kritik an phantastischer Literatur, indem er der phantastischen Literatur einige Eigenschaften aberkennt, die er realistischen (hochliterarischen) Texten zuschreibt. Für uns hingegen ist die Feststellung, dass es auch bei phantastischer Literatur zu einer Bindung an die Realität kommt, vor allem deshalb interessant weil sie, so Iser, einer »Extrapolation historischer Situationen« entspringt.45 Dadurch erlaubt die 42 | Die Tatsache, dass die magischen Varianten der Abschlussprüfungen (vor allem durch die Verwendung bestimmter Akronyme und Abkürzungen) eine Mischung aus alten und neuen Prüfungen des Englischen Schulsystems zu sein scheint, würde diesen Zugang für Leser verschiedener Altersgruppen noch erweitern. 43 | Aufgrund dieses Aufgreifens von bekannten Strukturen sind auch Werke wie die Der Herr der Ringe Romane oder die Star Wars Filme zugänglich. Die Reihe mag zwar in einer »weit, weit entfernten Galaxie« spielen, aber die Konflikte (gut gegen böse), die Machtstrukturen (eine imperialistische Diktatur in Star Wars, ein aggressiver Kriegsherr in Der Herr der Ringe) und die Gruppierungen (Rebellen, Ritter, Armee) sind dennoch bekannt. 44 | Jackson: Fantasy, 20-22. Der zweite Abschnitt ist ein Zitat das Jackson von Joanna Russ übernimmt. 45 | Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, 414.
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Verwendung magischer Versionen bekannter Elemente einerseits sowohl einen relativ offenen Zugang zu dieser Welt als auch eine engere Leser-Bindung durch spezifische Referenzen. In Die Appellstruktur der Texte beschreibt Wolfgang Iser die möglichen Reaktionen, die bei dem Leser eines Textes aufgrund der Natur der dargestellten Welt hervorgerufen werden können: »Zwei extreme Möglichkeiten der Reaktion sind denkbar: Entweder erscheint die Welt des Textes als fantastisch, weil sie allen unseren Gewohnheiten widerspricht, oder aber als banal, weil sie so vollkommen mit diesen zusammenfällt.«46 Auf die hier genannten Romane scheint keines der beiden Extreme zuzutreffen. Mag die Welt fantastische Elemente beinhalten, so bietet sie dennoch wie gesehen den Zugang durch Bekanntes, das der Leser auch in Popromanen finden kann. Dadurch verhindert der Text, dass der Leser eine »reflexive[] Korrektur der eigenen Einstellung vornehmen muss« und läuft auch nicht Gefahr, den Leser zu der zweiten Extremreaktion zu veranlassen, die laut Iser in solchen Fällen vorkommen kann: dem Zuschlagen des Buches.47 In Der Akt des Lesens bezeichnet Iser diese Aussparungen in Erzählungen, in denen Nicht-Genanntes durch den Erfahrungshorizont des Lesers aufgefüllt werden kann, näherhin als Leerstellen.48 Erfährt der Leser, dass der von ihm rezipierte Roman in London spielt, muss nicht jedes Detail Londons erwähnt werden wenn der Leser die Leerstellen nicht auch mit eigenem Wissen ergänzen kann. Bei phantastischer Literatur sieht Iser diese Fähigkeit allerdings dadurch blockiert, dass die phantastische Welt eine Verdinglichung eben jener imaginären Dynamis darstellt, welche zur Besetzung dieser Leerstellen nötig ist; durch seine Instrumentalisierung zur Herstellung einer bestimmten Andersheit wäre das Imaginäre demnach nicht mehr frei (ästhetisch) verfügbar, sondern gebunden.49 Ein Blick auf die Empirie tatsächlicher Leserreaktionen auf phantastische Erfolgsliteratur kann die Grenzen von Isers exklusiver Verwendung des Leerstellenbegriffs aufzeigen; dies zeigt eine nähere Betrachtung der Diskussionen in Internetforen oder auch von Lesern selbst produzierte Literatur, der sog. Fan Fiction.
I NTER AK TION IM P OPUL ÄREN R. Lyle Skains, der eine Analyse des Rezeptions- und Interaktionsverhaltens von Lesern verschiedener Romangattungen durchgeführt hat, sieht bei den Rezipienten von Fantasyliteratur (anhand Neil Gaimans American Gods) eine größere Interaktionsbereitschaft als bei denen nicht-fantastischer Literatur.50 46 | Iser: »Die Appellstruktur der Texte«, 232-233. 47 | Ebd., 233. 48 | Iser: Der Akt des Lesens, 266. 49 | Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, 414. Vgl. Auch Iser: Der Akt des Lesens, 328-329. 50 | Skains: »The Shifting Author-Reader Dynamic«, 97.
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Zur Erklärung dieses Umstandes bietet sich erneut der Blick auf Isers Kritik der phantastischen Literatur an, wie sie in seinem letzten Werk, Das Fiktive und das Imaginäre, formuliert wird. Aufgrund der oben bereits angesprochenen Dopplung, bei der jedes phantastische Element gleichzeitig auch eine Referenz auf das von ihm negierte Element der bekannten Lebenswelt darstellt, befindet sich der Leser, so Iser, in einer Position zwischen Phantasie und Realität: Das aber heißt auch: dem Leser einer solchen Literatur darf das Bewußtsein nicht schwinden, daß er es mit einer Unmöglichkeit im Gewand einer illusionären Realität zu tun hat. Diese eigentümliche Doppelheit gilt es, in der Lektüre durchzuhalten. Der Leser muß sich folglich ganz in die Erzählung hineinversetzen können, was ihm durch die verbrämte Realitätseinkleidung der Phantasie ermöglicht werden soll. Gleichzeitig aber muß er das Bewußtsein für die ihm zugemutete Entfremdung im Blick auf das im Phantastischen verdrängte Reale aufrechterhalten. Denn die phantastische Literatur negiert das Reale ja nur deshalb, um das Unmögliche real einzukleiden. 51
Als Resultat dieser Struktur konstatiert Iser beim Leser eine »latente Bewußtseinsspaltung«. Auch wenn diese Formulierung drastisch anmutet, so erklärt sie warum Leser auf phantastische Literatur anders reagieren als auf Werke ohne phantastische Elemente. Da sie sich immer in diesem Zwischenstadium befinden (welches, und diese Anspielung muss erlaubt sein, dem Status der übernatürlichen Elemente in Harry Potter ganz und gar ähnlich ist), wird eine andere Form literarischer Interaktion etabliert, die mit einer spezifisch gesteigerten Leseraktivität einhergeht.52 Zum einen dürfte das hierbei geforderte Leserwissen oft speziellerer Natur sein (wie zum Beispiel das britische Schulsystem in den Harry Potter-Romanen), was erklärt, warum Interpretationen zweier Rezipienten stärker voneinander abweichen als die Lesarten der Konsumenten von Popromanen. Inwieweit dies durchaus zu einer stärkeren Bindung an diese Interpretationen führt, zeigt Skains anhand eines Beispiels aus der Fangemeinde von American Gods, bei der eine Leserin auf den eigenen Interpretationen auch gegenüber Einmischungen von Autorenseite bestand. Nach Henry Jenkins findet sich dieser Anspruch auf eigene Produktionshoheit auch in der sog. Fan Fiction.53 Um diese von Fans produzierten Texte herum haben sich umfangreiche Webseiten gebildet, egal ob diese nun dem Austausch von Theorien und Fragen zu perzipierten Lücken innerhalb von fiktiven Welten dienen oder zur Verbreitung eigener narrativer Produktionen (siehe auch die detaillierten Analysen von Barthel & Hutnik in diesem Band).
51 | Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, 423. 52 | Vergleiche hierzu auch die Idee des »Engagement« in Skains: »The Shifting AuthorReader Dynamic«, 95. 53 | Jenkins: Textual Poachers, 118.
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Wenn aber, wie hier postuliert, die Bindung des Lesers an einen Text dazu führen kann, dass keine Einmischung in dieses Verhältnis erwünscht ist, wie erklärt sich dann das Bestehen solcher Netzwerke, deren Hauptaufgabe der Austausch von Eigenproduktionen und Ideen zu sein scheint? Es wäre möglich, dass Leser nach dem Ausfüllen von Leerstellen, ob im traditionellen Iserschen Sinne oder durch Produktion eigener Artefakte, sich diese Leistung zu eigen machen und diese nun mit den Leistungen bzw. den Werken anderer Leser vergleichen wollen. Dies würde den oft hervorgehobenen Performanzcharakter von Fan Fiction unterstützen.54 Da sich das Potential für solche werkexternen Interaktionen bei nichtfantastischen Werken in Grenzen hält (da hier eine hohe Überschneidung bei den verschiedenen Produktionen einzelner Leser vorkommen wird), erlaubt die große Interpretationsoffenheit der Harry Potter-Romane Lesern offensichtlich einen viel weiteren Spielraum für eigene Artefakte die innerhalb des Netzwerkes (Webseiten, Fanclubs, Wikis etc.) diskutiert, gelobt, kritisiert und verteidigt werden können.55 Wie leicht es solche Werke den Lesern trotz ihrer Fremdartigkeit machen, Zugang zu ihnen zu finden, zeigt sich auch in der Leichtigkeit, mit der werkinterne Konzepte und Figuren auf die werkexterne Welt übertragen werden. So finden sich unter den Eigenproduktionen auch Online-Tagebücher auf Seiten wie Livejournal, deren Autoren sich als Figuren aus den entsprechenden Werken ausgeben56 und selbst »Darth Vader« aus Star Wars besitzt ein Benutzerkonto bei Twitter.57 Skains sieht eine solche Auseinandersetzung mit den Werken in Online-Gemeinden als charakteristisch für populäre Fantasy und Science-Fiction Literatur. Da hier das Engagement des Lesers bereits gegenüber den Originalwerken größer ist, ist es verständlich dass dieses erhöhte Potential auch auf werkexterne Interaktionen übertragen wird.58 Zusätzlich gibt sich durch die magische Aufladung der Welt (durch fantastische Elemente) ein größeres Interesse bei den Lesern diese Welt durch eigene Texte aufrecht zu erhalten.59 Dass diese erweiterten Welten bei einem Aufeinandertreffen verschiedener Leser nicht zu sehr voneinander abweichen (und damit Vergleiche und Diskussionen unterbinden), ist durch die von Iser angesprochene Extrapolation und Negierung spezifischer Elemente der Lebenswelt gegeben. So gibt auch Harry Potter, dadurch dass es sich um eine bestimmte Form von Schule mit spezifischen, zeit- und kulturgebundenen Traditionen handelt, Autoren von Fan Fiction ein (sehr flexibles) Regelwerk vor, innerhalb dessen sie ihre
54 | Busse und Hellekson: »Introduction«, 22. 55 | Für eine Auswahl an Studien zu solchen Interaktionsstrukturen, inklusive verschiedener Regeln innerhalb der Onlinegemeinschaften, siehe auch Karpovich: »The Audience as Editor« und Busse: »My Life Is a WIP«. 56 | Stein: »This Dratted Thing«. 57 | http://twitter.com/darthvader (geprüft: 06.01.2011). 58 | Skains: »The Shifting Author-Reader Dynamic«, 107-108. 59 | Ebd., 101.
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Eigenproduktionen schaffen können ohne Gefahr zu laufen, zu sehr von den Interpretationen anderer Fans abzuweichen.
D AS P OPUL ÄRE UND DAS G ANZE 60 Offensichtlich bietet das Konzept der Interaktion einen guten Ausgangspunkt, um die kommunikativen Effekte von populärer Literatur zu beschreiben. Weitere Anregungen auf diesem Wege sollen abschließend im ursprünglichen Herkunftsbereichs des Begriffs, in der Soziologie gefunden werden. Eine Interaktion kommt nur zustande, wenn mehrere Personen füreinander wahrnehmbar werden und daraufhin zu kommunizieren beginnen. Das Ende dieses Kommunikationsprozesses markiert das Ende der Interaktion. Ein erneutes Zusammentreffen wäre demnach eine weitere Interaktion, auch wenn es unter denselben Personen sich abspielt.61
Diese im Vergleich mit den gesellschaftlichen Makrosystemen (Wirtschaft, Recht, Politik etc.) auffallende Instabilität verhindert André Kieserling zufolge eine weitere funktionale Differenzierung von Interaktion und erklärt das »Fehlen systeminterner Systembildung«62 im Sinne der Gesellschaftstheorie der Systemtheorie. Soziale Interaktion ist nicht wiederholbar und zeitlich sowie personal durch die jeweils aktuelle Situation begrenzt. Ein hiermit verknüpftes Merkmale der Interaktion ist der »Zwang zur Serialität«63 Dieser legt für die Kommunikation klar fest, dass – anders als in Organisationen, die ihre Themen auf verschiedene Interaktionen aufteilen – mehrere Themen nur nacheinander behandelt werden können:64 Organisationen und Gesellschaften verdanken ihre Fähigkeit zum Parallelprozessieren mehrerer Themen dem Umstand, daß sie als Systeme differenzierbar sind. Interaktionssysteme dagegen lassen sich schon aus akustischen Gründen nicht gut differenzieren.65
Während makrosozial beschreibbare Gesellschaftsstrukturen weitgehend »interaktionsindifferent«66 gebildet sein müssen, um die notwendige Systemstabilität zu erzeugen sind Interaktion durch weitgehend individualisierte Praktiken irritierbar. Dadurch ist hier ausgeschlossen, »dass die Gesellschaft in der Interaktion unmit60 | Wichtige Anregungen und konzeptuelle Klärungen in diesem Abschnitt verdanken wir Roger Lüdeke. 61 | Kieserling: Kommunikation unter Anwesenden, 15. 62 | Ebd., 34; vgl auch ebd., 33. 63 | Ebd., 37. 64 | Vgl. ebd., 37. 65 | Ebd., 38. 66 | Ebd., 63.
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telbar wirksam wird.«67 Interaktion wird nicht durch stabile Codierung, sondern durch dynamische Neu-Codierung erzeugt, die jederzeit überschrieben werden kann. Dem entspricht auch Urs Stähelis makrosoziologisch ausgerichtete Vermutung eines fundamental parasitären Status des Populären: Das Populäre wird also gerade deshalb interessant, weil es kein eigenes System ist […]. Vielmehr folgt es der Logik eines Parasiten: es nistet sich in einzelne Funktionssysteme ein und nährt sich von deren Autopoiesis, indem es diese beobachtet und häufig auch spektakularisiert. Dies bedeutet auch, dass es nicht nur ein Populäres gibt, sondern dieses sich mit der Zahl der Funktionssysteme vervielfältigt und auch wegen dieser Pluralität nicht zu einem einheitlichen System zusammengefasst werden kann.68
Unter populärer Literatur wäre demnach zunächst jede Literatur zu verstehen, deren Kommunikationsstrategien sich in breiter Spannweite an vorhandene Thematiken anschließen und diese in einer gesellschaftlicher Interaktion angelehnten Kommunikationssituation verhandeln. Wesentliche Aspekte der Kommunikation unter Anwesenden scheinen in populärer Literatur erfüllt zu sein. Dies zeigt ein Blick auf die vorangehenden Analysen. Die erwähnte Illusion der unmittelbar mündlichen Adressierung des Lesers lässt sich als Fiktion einer zeitabhängig-ephemeren, themenoffenen und personenorientierten Kommunikationssituation verstehen. Der einzige Aspekt der gesellschaftlichen Realität den populärliterarische Interaktionsformen nicht nachzeichnen können, ist die gegenseitige, reflexive Wahrnehmbarkeit der Interaktionspartner. Kieserling schreibt: Die [an der Interaktion] beteiligten Personen müssen einander hören und sehen können. Damit gewinnen zugleich auch die Körper und deren Verhalten eine nicht ignorierbare Relevanz. Da die Beteiligten überdies sinnhaft erleben, also nicht nur wirkliches, sondern auch mögliches Körperverhalten in Rechnung stellen, müssen zusätzlich auch diese Möglichkeiten bestimmt, in ihren Grenzen geklärt und zusammen mit den entsprechenden Unmöglichkeiten laufend beglaubigt und reinszeniert werden. 69
Natürlich ist es unmöglich, dass populäre Literatur diese realgesellschaftliche Bedingung der Kommunikation faktisch erfüllen könnte. Was sie aber permanent tut, ist diese Problematik zu ignorieren und zu überspielen. In populärer Literatur sitzen Erzähler und Leser an einem Tisch. Einer erzählt, der andere hört zu. Und dabei scheint dieser Erzähler jederzeit zu betonen: »Ich rede nur zu dir. Ich weiß, dass nur du mich verstehst, ich kenne deine Reaktionen, ich nehme dich sehr wohl wahr. Schließlich erzähle ich diese Geschichte jetzt gerade und nur dir.« Die 67 | Ebd., 98f. 68 | Stäheli: »Das Populäre als Unterscheidung«, 164. 69 | Kieserling: Kommunikation unter Anwesenden, 110.
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gleiche Funktion körperlicher Präsentzeffekte erfüllen die für Populäres typische Fokussierung des psycho-somatischen Bereichs: Sex, Gewalt, Bedürfnisse, Vision, Rausch, Takt, Ton.70 Im Medium der Literatur, die durch ihre Kommunikationsreflexion der für Musik und Film typischen Wahrnehmungsevidenz fernsteht, simuliert Populäres die für Interaktion kennzeichnende Gegenwärtigkeit, die den Leser in einer quasi körperlichen Weise in Anspruch nimmt. Weitere Differenzierung bei der Beschreibung der für Populäres typischen Interaktionsstrukturen bietet Niklas Luhmanns konsequente Weiterführung von Talcott Parsons Konzept der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien.71 Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien (SGKM) stellen die Rahmenbedingungen sicher, unter denen in Systemen kommuniziert wird. So stellt etwa das Medium Geld sicher, dass der Bäcker annehmen kann, dass wir annehmen, er nehme nicht an, wir seien in ihn verliebt oder wollen ihn zum Bundeskanzler wählen, sondern sich darauf verlassen kann, dass wir ein Brot kaufen wollen. Im Gesamtkontext von Luhmanns Theorie gesellschaftlicher Systeme arbeiten die SGKM mit an der operativen Schließung von Teilsystemen und sind evolutionär erklärbar als Resultat und Movens funktionaler Ausdifferenzierung. Im Bezugsrahmen von Interaktion ist diese Leistung hingegen weniger sicher. Wir wissen eben manchmal nicht, ob der Professor tatsächlich nur an Sachverhalten und wissenschaftlichen Problemlösungen (Wahrheit) interessiert ist, oder ob er nicht doch ein autoritärer Hund ist (Macht), der seine Position dazu ausnutzt, Studentinnen zu verführen (Liebe). In makrologischer Perspektive auf Systeme läßt sich sagen, dass die SGKM hier Orientierung und Stabilität bieten.72 Populäre Literatur, so lässt sich nun zeigen, evoziert eine der gesellschaftlichen Interaktion ähnliche und den Leser scheinbar unmittelbar betreffende Kommunikationssituation, bei einer gleichzeitigen Vereindeutigung dieser Rahmenbedingungen von Kommunikation. Dies unterscheidet sie von anderen Typen der Literatur, in denen zwar ähnliche Kommunikationssituationen entstehen, hierbei aber entweder die Rahmenbedingungen bewußt offenbleiben (zum Beispiel durch eine ästhetisch motivierte Unbestimmtheit) oder verschiedene Rahmungen auf ambivalente Weise ineinanderspielen (ästhetisch motivierte Ambivalenz). 70 | Vgl. zum Bereich des Psycho-Somatischen im Rahmen sozialer Interaktion auch Luhmann: »Symbiotische Mechanismen«, 228-244. 71 | Vgl. Luhmann: »Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien«, 171. 72 | Genauer gesagt koordinieren SGKM Zurechnungsprozesse (Motivzuschreibungen) auf der Ebene von Handeln und Erleben: »Intentionales Verhalten wird als Erleben registriert, wenn und soweit seine Selektivität nicht dem sich verhaltenden System, sondern dessen Welt zugerechnet wird. Es wird als Handeln angesehen, wenn und soweit man die Selektivität des Aktes dem sich verhaltenden System selbst zurechnet.« Luhmann: »Erleben und Handeln«, 68-69.
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Gegenüber den für hochliterarische Texte immer wieder in Anschlag gebrachten Unbestimmtheiten und Ambivalenzen73 entsteht die Anziehungskraft eines Romans wie Soloalbum auf der Ebene der kommunikativen Vermittlung dadurch, dass die Beobachtungen und Verhaltensweisen des Erzählers in diversen gesellschaftlichen Erfahrungs- und Handlungsbereichen ganzheitlich auf ein Motiv zurückgeführt werden können, das jeder und jede von uns kennt: Liebeskummer. Noch die verächtlichsten Passagen weisen auf diesen ›guten‹ Kern der Erzählerkommunikation, das ›spürbare‹ Verlangen des Erzählers geliebt zu werden, dies aber richtig und von den Richtigen. Wir nehmen eben nicht an, hier kommuniziere jemand Sozialneid und ökonomisch geprägte Existenzängste oder Probleme damit, gesellschaftliche Machtpositionen und Einfluss über andere zu erlangen. Genauso wissen wir, dass das meiste, was uns der Erzähler berichtet, überzeichnet, verflacht ist, dem rhetorischen Effekt und eben nicht dem Interesse an Wahrheit geschuldet. Auch wenn auf der Gegenstandsebene des Erzählten vieles in die Bereiche des wirtschaftlich Relevanten, des gesellschaftspolitisch Drängenden oder auch nur ins Feld quasi ethnographischer Sozialanalyse fällt, sind es nicht die Rahmen von Macht, Besitz oder Wahrheit, die unsere vorgestellte Interaktion mit diesem Erzähler strukturiert, sondern es ist das vage, aber sichere Gefühl, dass da einer mehr will, mehr Gefühl, mehr Körper, mehr Befriedigung, mehr Liebe und dass genau dies noch seine schärfsten Hasstiraden erklärt und motiviert: Dann steigt ein Vollidiot ein. Genauer: noch einer. Ich schätze mal : Theologe, eine fette Frau mit unrasierten Beinen, mindestens zwei ungewaschene Kinder. Natürlich mit einem Trekking-Rad, mit dem man mühelos die Taiga durchqueren könnte, aber er muß damit natürlich durch die Stadt fahren (Helm auf, ist klar!) und uns allen zeigen, daß es auch ohne Auto geht.74 Der Typ fummelt unkundig an einer Sektflasche rum, kriegt sie nicht auf und sagt stolz einen der stumpfsinnigstens Sätze der Jetztzeit auf: – Es kann sich nur noch um Stunden handeln. Hahaha. Dann reden sie über Wochenenden. Ich kann es mitsingen: Am Wochenende ausgehen ist ganz schön scheiße […]75
Die vage Sicherheit, hier gehe es um etwas Anderes, Tieferes, Wichtigeres, auf der das für Populäres typische Involvement des Lesers beruht, lässt sich schließlich über eine weitere Besonderheit von Interaktion erfassen, die das Wechselspiel von direkter und indirekter Kommunikation betrifft. Hinausgehend über die zu 73 | Vgl. jüngst etwa Frauke Berndt und Stephan Kammer: Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz. Würzburg: Königshausen & Neumann 2009; sowie Christoph Bode: Ästhetik der Ambiguität: Zu Funktion und Bedeutung von Mehrdeutigkeit in der Literatur der Moderne, Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1988. (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft, Bd. 4). 74 | von Stuckrad-Barre: Soloalbum, 83. 75 | Ebd., 212.
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kurz greifende Gleichsetzung von »direkter mit sprachlicher und von indirekter mit nichtsprachlicher Kommunikation«76 definiert Kieserling Indirekte Kommunikation wie folgt: »Indirekte Kommunikation liegt vor, wenn der Absender in der anschließenden Kommunikation bestreiten kann, etwas mitgeteilt zu haben, und wenn andererseits der Empfänger bestreiten kann, etwas verstanden zu haben.«77 Tatsächlich weisen zentrale Strategien populärer Kommunikation diese Indirektheit auf. Zu wissen, was wirklich und jenseits des direkt Kommunizierten gemeint ist, was sich aber der ausdrücklichen Sagbarkeit entzieht, ist wesentlicher Bestandteil der Interaktion im Populären. Coolness, Feeling, Style leben davon, dass sie nicht direkt kommuniziert werden, denn dann würden sie Teil einer kommunikativen Praxis, in der Aussagen direkt bestritten, problematisiert, relativiert und dem differenzierenden Verstehen zugänglich werden. Populäres lebt dagegen von Unsagbarkeit und von der Vereindeutigung seiner Kontexte. Ähnliches wie in Soloalbum zeigt sich auch in Feuchtgebiete. Wir lesen die Obszönitäten der pornographieverdächtigsten Passagen nicht primär als gesellschaftspolitisches Statement (zur geschlechtlichen Gleichberechtigung) oder als objektive Fallbeschreibung. Dahinter steht vielmehr unser klares Gefühl, dass hier eine junge Frau aus problematischen Familienverhältnissen auf provokative Weise und im fortgesetzten Konflikt mit gesellschaftlichen Normen ihre tieferen Ansprüche auf emotionale und körperliche Selbstverwirklichung artikuliert. Und auch in diesen Kommunikationsrahmen, der uns Zugang zu den tieferen Gründen unserer Individualität verspricht, steigen wir gerne mit ein. Auch die behandelten Beispiele fantastischer Literatur fügen sich in dieses Schema. Konzentriert man sich auf das fantastische Extrem, stellt sich sofort die Frage, wie ein fantastischer Roman wie Harry Potter trotz des Abschreckungspotentials seiner Welt eine ausreichende Immersion des Lesers gewährleisten kann. Die Antwort ist: Indem die Rolle des Lesers und die Rolle des Protagonisten ineinanderfallen. Auch im Rahmen einer Er-Erzählung wie Harry Potter, in der die Figur Harry Potter den Leser nicht direkt adressieren kann wie Helen Memel dies tut ermöglichen prototypische Figuren die beschriebene Vereinnahmung des Lesers in die Welt der Erzählung. In Erzählungen realistischer Welten gerieren sich die Protagonisten meist als Unikate; sie sind in ihrer Persönlichkeit extrem und eher schwierig. Hier ist kein Platz mehr für die Projektionen des Lesers in der Figur. Dieser Platz findet sich dafür in den Themen der bekannten Welt und in den kontextuellen Schließungen, über die bzw. in denen mit dem Protagonisten kommuniziert werden kann. In populärer fantastischer Literatur hingegen fällt der Protagonist meist so prototypisch aus, dass seine Persönlichkeit komplett in den Hintergrund tritt und den Projektionen des Lesers weichen kann. So ist ein interessierter Blick auf die zunächst abschreckende unbekannte Welt möglich, der
76 | Kieserling: Kommunikation unter Anwesenden, 152. 77 | Ebd., 158.
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sich durch die Sicherheit der Protagonistenrolle in die im vierten Abschnitt dieser Studie beschriebene Entdeckungsfreude wandelt. Ist diese Voraussetzung erfüllt, folgen die genannten Merkmale der populären Interaktions-Simulation weitgehend problemlos. Die Kommunikationssituation macht fortan keinen Unterschied mehr zwischen Protagonist und Leser. Mit anderen Worten: Was der Protagonist erlebt und kommuniziert, das erlebt und kommuniziert auch der Leser. Wenn Harry Potter eine für ihn unbekannten und wundersamen Ort betritt, dann ist wird dies ohne Verlust auf den Leser übertragen: Harry wished he had eight more eyes. […] There were shops selling robes, shops selling telescopes and strange silver instruments Harry had never seen before, windows stacked with barrels of bat spleens and eels’ eyes, tottering piles of spell books, quills, and rolls of parchment, potion bottles, globes of the moon.78
In Twilight finden sich ähnliche Eindrücke, wenn Bella Swan schrittweise die fantastischen Aspekte der sie umgebenden Welt entdeckt: Of course he wasn’t interested in me, I thought angrily […] I wasn’t interesting. And he was. Interesting… and brilliant… and mysterious… and perfect… and beautiful… and possibly able to lift full-sized vans with one hand. 79
In letzter Konsequenz ist auf dieser Grundlage die beschriebene Vereindeutigung der kommunikativen Rahmenbedingungen wesentlich klarer zu beobachten als in mimetischen Welten. Auch hier gestaltet sich die Kommunikation und der kommunikative Rahmen so eindeutig wie in den popromanesken Beispielen: der prototypische Kampf von ›Gut gegen Böse‹ wird im Rahmen von Macht (Harry Potter) oder Liebe (Twilight) verhandelt. So lässt sich auch aus dieser Perspektive erklären, wie das enorme Ausmaß an Fan Fiction ausgerechnet in Literatur mit fantastischen Welten zu erklären ist. Die Antwort lautet: Weil alle so sein wollen wie Harry Potter oder Bella Swan. Populäre Literatur kann ›letzte‹ Fragen wie Liebe, Wahrheit, Macht, Begehren von Individuen und für Individuen im Rahmen eines privilegierten Kommunikationsmediums kommunizieren und dadurch eindeutiger als viele anderen Kulturausprägungen Bereiche kommunikativer Unverfügbarkeit von höchster Relevanz thematisieren. Dies zu erkennen und zu beschreiben, setzt aber voraus, dass man sich nicht ausschließlich darauf konzentriert, was populäre Literatur, sondern wie sie kommuniziert.
78 | Rowling: Harry Potter and the Philosopher’s Stone, 56-57. 79 | Meyer: Twilight, 67-68.
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Populärer Realismus Moritz Bassler
Bei einem Japanaufenthalt kam das Gespräch auf Haruki Murakami. Deutlich degoutiert bemerkte ein älterer Japanologe, dieser Autor schreibe gar nicht Japanisch, sondern ›Übersetzungsjapanisch‹. Darunter konnte ich mir wenig vorstellen, bis ich etwas später Frank Schätzings Der Schwarm las, einen auf Deutsch verfassten Roman, der sich über weite Strecken wie die Übersetzung eines amerikanischen Thrillers liest, also wie ›Übersetzungsdeutsch‹. Es scheint sich hier so etwas wie ein International Style von Erzählprosa abzuzeichnen, von dem im Folgenden die Rede sein soll. Dabei geht es zunächst einmal nicht um Wertung und schon gar nicht um Abwertung. Haruki Murakami wie Frank Schätzing haben zweifellos ihre Qualitäten. Vielmehr geht es um die analytische Annäherung an ein Phänomen, das vorläufig als ›Populärer Realismus‹ bezeichnet sei. Es handelt sich um populäre, also außerhalb bestimmter kultureller Nischen erfolgreiche fiktionale Narrationen unserer Zeit. Die Bücher von Murakami sind internationale Bestseller, Schätzings Der Schwarm (2004) war vermutlich das meistverkaufte deutsche Buch des abgelaufenen Jahrzehnts, ähnlich erfolgreich wie zeitgleich Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt (2005) oder zehn Jahre früher Bernhard Schlinks Der Vorleser (1995). Die erste These lautet, dass solche Bücher realistisch geschrieben sein müssen. Damit ist nicht gemeint, dass die im Roman erzählten Vorgänge irgendwie der Wirklichkeit entsprächen – dass Mikroorganismen sich spontan zu Nachbildungen von Flugzeugträgern zusammenfügen wie in Schätzings Schwarm, ist in dieser Hinsicht ja auch wenig wahrscheinlich. Nein, mit Realismus ist zunächst ein Verfahren bezeichnet, die Technik, so zu schreiben, dass sich dem Leser automatisch eine erzählte Welt, eine Diegese, präsentiert, ohne dass er zunächst mit Phänomenen der Textebene zu kämpfen hätte. »Man liest. Und versteht.«1 hieß es werbend in einem Klappentext zu Bernhard Schlinks Büchern. Ein Text, dessen Faktur ein solches unmittelbares Verstehen ermöglicht, wird von uns als realistischer empfunden. 1 | Schlink: Der Vorleser, 208.
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Das liegt daran, dass wir die Informationen auf der Textebene mit denselben sprachlich-kulturellen Mustern erfolgreich deuten können, die wir auch sonst, im Alltag, beim Fernsehen oder bei der Zeitungslektüre ständig anwenden. Kein noch so ausführlicher Roman kann alles erzählen. Wir verfügen kulturell über eine Menge von Frames und Skripten, und es reichen oft wenige tatsächlich notierte Informationen, um diese aufzurufen. Wir ergänzen dann die Angaben im Text automatisch um das, was nach Maßgabe solcher kultureller Muster normalerweise dazugehört, und bilden dadurch unsere Vorstellung der erzählten Welt und auch unsere Erwartungen, was hier weiter geschehen könnte. Lars Jörensen stand auf der obersten Plattform des stählernen Treppenschachts, der vom Hubschrauberlandeplatz zum Wohntrakt führte, und sah auf den Bohrturm. 2
Die meisten von uns waren vermutlich noch nie auf einer Bohrinsel, dennoch verfügen wir über einen entsprechenden Frame und können uns mit dessen Hilfe zumindest vage den Ort vorstellen, wo Lars Jörensen hier steht. Wir verbinden damit bestimmte Situationen, Geräusche, Gefühle, klimatische Bedingungen etc. Wir können uns eine Film-Szene dazu vorstellen. Der skandinavische Name ruft darüber hinaus einen bestimmten Phänotyp auf, wir stellen uns hier keinen Asiaten vor, und ganz selbstverständlich nehmen wir an, dass Lars genau einen Mund und zwei Ohren hat, männlichen Geschlechts ist, deshalb keine Kinder gebären kann usw. Frank Schätzings Text funktioniert nun so, dass er diese Annahmen nicht unterläuft, sondern mit ihnen rechnet und sie mit mühelosem Nachvollzug des Erzählten belohnt. Unsere kulturellen Frames reichen dazu aus, und seien sie, wie im Falle der Bohrinsel, noch so vage – wo wir mehr wissen müssen, liefert der Roman die Information nach. Schätzings Buch ist erheblich dicker als der Ulysses, und doch lässt er sich in wenigen Tagen lesen. Das ist hier mit Realismus gemeint. Nebenbei sei bemerkt, dass es genau diese Art von automatisiertem Verstehen war, gegen die sich die Formexperimente der literarischen Moderne gewandt hatten. Den Modernen ging es ja gerade im Gegenteil um eine Ent-Automatisierung der Wahrnehmung und der Lektüre, ihre Kunstmittel zielten auf eine erschwerte Form der Darstellung. Kunst und Literatur sollten die Realität nicht einfach voraussetzen, wie unser Realismus das in Gestalt der kulturellen Codes tut, sondern neu, anders und wie zum ersten Mal definieren. Der moderne Grenztext ist deshalb geradezu programmatisch schwierig, die ihm gemäße Lektüre, mit Roland Barthes gesprochen, ist »schwerfällig, sie klebt am Text, sie liest, wenn man so sagen kann, mit Akribie und Besessenheit«, wohingegen die realistische Lektüre »direkt auf die Wendungen der Anekdote«, also der Handlung, zusteuert, die Sprachspiele der erschwerten Form ignoriert und daher eine leichte ist – »wenn ich Jules Verne lese«, sagt Barthes, »komme ich sehr schnell voran«.3 2 | Schätzing: Der Schwarm, 383. 3 | Barthes: Die Lust am Text, 19.
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II Die Geschichte des Verhältnisses von realistischen zu anderen Verfahren ist noch nicht geschrieben worden. Offenkundig hat sich jedoch die erschwerte Form nicht so durchgesetzt, wie die historischen Avantgarden vom Symbolismus bis zum Surrealismus sich das erhofft hatten. Bereits ab den 1920er Jahren dominieren in der deutschen Literatur mit der Neuen Sachlichkeit, dem Magischen Realismus, später dann auch in nationalsozialistischer, Exil- und Nachkriegsliteratur wieder realistische Schreibweisen. In der Massen- und Unterhaltungsliteratur waren diese ohnehin nie gefährdet gewesen, ebenso wenig wie übrigens ganz generell im angelsächsischen Sprachraum, der ja spätestens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts die kulturelle Dominante liefert. In Deutschland kam es in der zweiten Jahrhunderthälfte noch einmal zu einer Art wiederholter oder nachgeholter Moderne, in der sich, gegen den internationalen Trend, erschwerte Formen als Standard von Hochliteratur noch einmal durchsetzten. Begleitet wurde diese Tendenz von der bekannten Abwertung populärer Kulturformen unter der Ägide der Frankfurter Schule, in diesem Fall einer Abwertung realistischer Verfahren als tendenziell trivial und ideologisch. Noch die Bemühungen von Zeitungsleuten wie Frank Schirrmacher, Verlegern und Autoren Anfang der 1990er, ein Neues Erzählen auf internationalem Niveau zu propagieren, das auf elitäre Formexperimente verzichten sollte, um der Literatur ein größeres Publikum zurückzugewinnen und womöglich auch die ein- oder anderen Filmrechte an Land zu ziehen, waren vom Kampf gegen diese Dichotomie (schwer = gut, realistisch = trivial) geprägt. Als Ideal galt dieser Bewegung damals Patrick Süßkind (Das Parfüm). Mitte der 90er kam dann die große Welle der Popliteratur, die mit ganz anderen Verfahren Erfolge feierte als die globalisierten Bestseller. Ihre literarische Ersterfassung der popkulturellen Enzyklopädie kam eine Zeit lang ohne die Plots, Hooks, Heldenreisen und Spannungskurven aus, die die internationalen Schreibschulen lehren. Zugleich aber feierte das verfilmbare, plottende Erzählen mit Bernhard Schlinks Der Vorleser einen durchschlagenden Erfolg. Schlinks Buch hatte dabei den Vorzug, dass es thematisch mit der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit sozusagen das schwere Erbe der deutschen E-Literatur übernahm. Dabei geht es offenkundig um inhaltliche Aspekte und weniger um die literarische Form – rein formal sind die ironischen Katalogtexturen Stuckrad-Barres deutlich anspruchsvoller als das Schlink’sche Plotting. Doch gaben die Popliteraten sich mit vermeintlichen Oberflächenphänomenen ab und ließen dabei den rechten Ernst vermissen, den es hierzulande für kulturelle Weihen braucht. Auch Frank Schätzing bleibt als Krimi- und Ökothriller-Autor trotz all seiner Qualitäten der Sprung in die E-Literatur verwehrt. Der ebenfalls zunächst als Kriminalautor geschulte Schlink jedoch fand eine Formel, E-LiteraturAnspruch und Marktgängigkeit zu verbinden; und seither kann man davon ausgehen, dass die meisten der in den Feuilletons besprochenen, Longlist-fähigen und einigermaßen gut verkauften deutschen Romane wieder ganz selbstverständlich
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realistisch geschrieben sind – in dem vorhin explizierten Sinne. Solche Bücher, von Schlink und Helmut Krausser bis hin zu Julia Franck, Daniel Kehlmann oder Uwe Tellkamp, sind es, die im Zentrum meiner Überlegungen zum Populären Realismus stehen.
III Die soeben skizzierte Vorgeschichte belegt, dass ein solches realistisches Erzählen mit literarischem Anspruch in Deutschland keineswegs selbstverständlich ist. Der Populäre Realismus will schließlich Hochliteratur sein und sich gut verkaufen. Daher hat er auf der einen Seite immer noch die Erwartung jener abzuwehren, die das Erbe der literarischen Moderne hochhalten und meinen, dass sich literarischer Anspruch auch in einer anspruchsvollen Form niederschlagen sollte. In diesem Sinne sieht sich etwa Daniel Kehlmann bemüßigt, zu betonen: Die wirkliche Frage, die auch die Zukunft der Literatur berührt, ist nicht die Frage Erzählen oder Nicht-Erzählen, sondern die des Realismus. Es ist einfach nicht so: Realismus = Erzählen = altmodisch und andererseits Nicht-Erzählen = Sprachkritik = modern. Das sind Gleichungen, in denen kein einziges Glied stimmt. 4
Auf der anderen Seite muss man sich abgrenzen gegen die gut gemachte internationale Unterhaltungsliteratur vom Schlage eines, sagen wir, Noah Gordon, Robert Harris oder Dan Brown. Realismus, der zugleich Kunst sein will, hat ganz generell ein Problem – das war schon vor der emphatischen Moderne so, etwa im Poetischen Realismus des 19. Jahrhunderts. Wenn ›realistisch erzählen‹ heißt, sich der Frames und Skripte einer immer schon definierten und konstituierten Wirklichkeit zu bedienen, dann stellt sich nämlich regelmäßig die Frage nach dem künstlerischen Mehrwert. Warum nicht Reportagen, Reiseberichte oder eben Geschichte schreiben statt realistischer Novellen, Abenteuererzählungen und historischer Romane? Warum nicht fotografieren, statt realistisch zu malen? Für dieses Problem gibt es schon im 19. Jahrhundert sehr unterschiedliche Lösungen, und es wäre eine lohnende Aufgabe, die realistischen Strömungen seither auf diese Frage hin zu untersuchen. Der Poetische Realismus etwa ging davon aus, dass der Dichter eine verklärte, das heißt von allem Zufälligen gereinigte, auf einen Wesenskern hin durchsichtige Darstellung der Wirklichkeit zu leisten habe. Das ergibt eine ebenso komplexe wie problematische, deutlich von Entsagung auch gegenüber dem explodierenden Weltwissen der Zeit gekennzeichnete Literatur bei Autoren wie Keller, Raabe, Storm und Fontane. Der zeitgleiche Professoren-, historische und exotistische Abenteuerroman dagegen begnügte sich damit, die Fakten der Wirklichkeit, vorzugsweise ihre 4 | Kehlmann und Gollner: »Erzählen ist im Idealfall ich-los«, 31.
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neuen, noch unbekannten Seiten, in eine spannende Geschichte zu verpacken, von der Liebesgeschichte des Mönches Ekkehard über Ebers’ Ägyptische Königstochter, Felix Dahns Kampf um Rom bis hin zu den Abenteuern Friedrich Gerstäckers und Karl Mays. Die Science Fiction Jules Vernes, als realistische Erzählung einer zukünftigen Welt, ist hiervon nur ein Sonderfall. In all diesen tendenziell trivialen oder zumindest populärliterarischen Fällen besteht der Mehrwert gegenüber populärwissenschaftlichen Darstellungen in einem spannenden Narrativ, das den Leser fesselt und durch aus heutiger Sicht schier unglaubliche Mengen positiver Information in Sachexkursen und Fußnoten hindurch bei der Stange hält. Dabei kann der spannende Plot selbst, jenseits weiterer Bedeutungen oder Fragen nach Wahrheit und Wahrscheinlichkeit, durchaus Eigenwert gewinnen. Plotstrukturen der Abenteuer-Reisegeschichte, der Queste, der Love Story, des Melodrams oder des Kriminalromans ermöglichen einen sozusagen hedonistischen Realismus jenseits aller Rechtfertigungszwänge. Sie bilden eigene, Barthes sagt: hermeneutische Codes aus, die für sich selbst interessieren und unterhalten, und dafür gibt es in der bürgerlichen Gesellschaft offenkundig einen Markt. Man mag das trivial nennen, letztlich handelt es sich in diesen Fällen aber auch nur um Formen poetischer Schließung. Der Groschenroman kann solche Plots relativ weltarm präsentieren, doch zeigt sich ja wie gesagt bereits im Professorenroman des Historismus, dass man sie auch umgekehrt zum Transport von Weltwissen aller Art instrumentalisieren kann. Ist nicht beispielsweise bis heute der Hollywood-Film das weltweit wichtigste Medium zur Internationalisierung von historisch-kulturellem Wissen aus allen Epochen und Weltgegenden, gerade indem er regelmäßig mit solchen Strukturen eines hedonistischen Realismus arbeitet? Man kann sich natürlich darüber beklagen, dass die immer gleichen Geschichten nur in immer neuen Einkleidungen verkauft werden, man könnte sich aber auch umgekehrt darüber freuen, dass die unterschiedlichsten Stoffe und Wissensgebiete auf diese Weise in die internationalisierte Populärkultur gelangen und damit die Chance haben, unter Marktbedingungen in eine Art globales kulturelles Gedächtnis einzugehen.
IV Unter den bislang erwähnten deutschen Gegenwartsautoren steht Frank Schätzing diesem Muster am nächsten, und sein Roman weiß das. Gleich auf der ersten Seite des ersten Teils vom Schwarm wird ein Protagonist folgendermaßen vorgestellt: Johanson war ein Visionär und wie alle Visionäre dem völlig Neuartigen ebenso zugetan wie vergangenen Idealen. Sein Leben war getragen vom Geiste Jules Vernes. Niemand hatte den heißen Atem des Maschinenzeitalters, erzkonservative Ritterlichkeit und die Lust am Unmöglichen so treffend zu vereinen gewusst wie der große Franzose. 5 5 | Schätzing: Der Schwarm, 26.
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Stellen wie diese sind poetologisch auf das eigene Verfahren zu beziehen: Dem »heißen Atem des Maschinenzeitalters« entsprechen die ökologischen, technischen und meeresgeografischen Fakten, auf die Schätzings Thriller sich stützt, die »Lust am Unmöglichen« zeigt sich in den phantastischen Elementen der Handlung, erzkonservativ ist dagegen, wenn man so will, die Erzählweise, eben jener realistische International Style, auf den das Buch sich mit der traditionellen Liebesund Thrillerhandlung und der topischen Last-Minute-Rettung verlässt. Und noch in einer anderen Hinsicht lässt sich hier Konservativismus diagnostizieren; denn weiter erfahren wir über Johanson, dass er gern in seinem Landhaus am See sitzt, und dort, lesen wir, las er die Visionäre unter den Klassikern von Thomas More bis Jonathan Swift und H.G. Wells, hörte Mahler und Sibelius, lauschte dem Klavierspiel Glenn Goulds und Celibidaces Einspielungen der Sinfonien von Bruckner. Er hatte sich eine umfangreiche Bibliothek zugelegt. 6
Das geht nun deutlich über das poetologisch und erzählökomisch Notwendige hinaus. Setzt die Buchliste mit ihren utopischen Romanen sozusagen noch die mit Jules Verne angefangene Reihe fort, die letztlich im Schwarm selbst endet, so weiten die Musikbeispiele diesen intertextuellen Raum zu einem Kosmos aus, der sich als der des klassischen Bildungsbürgers identifizieren lässt.7 Hier fehlen nur noch die guten Rotweine. Populärer Realismus geht hier also eine Allianz mit dem Bildungsbürgertum ein, ja versteht sich womöglich selbst als diesem zugehörig. Schätzing hat sich zwar, wie gesagt, nicht in die Celibidace-Liga geschrieben, und Johanson bleibt letztlich nur einer seiner vielen Protagonisten, an anderer Stelle im selben Roman werden auch »die einschlägigen Filme [genannt]: Unheimliche Begegnung der Dritten Art, E.T., Alien, Independence Day, The Abyss, Contact, und so weiter.«8 Womit man in der Tat näher bei den Skripten ist, mit denen Schätzing operiert, als mit More oder Swift. Dennoch fällt das bildungsbürgerliche Urvertrauen auf, mit dem Schätzing hier Komponisten und Interpreten aufzählt, die seinem realen Publikum – im Gegensatz zu den Filmen – wohl nur teilweise geläufig sein dürften. Der Blick auf andere Texte zeigt, dass wir es hier mit einer Konstante zu tun haben. Das Stichwort »bildungsbürgerliches Urvertrauen« stammt aus Schlinks Der Vorleser. In diesem Roman bespricht der Ich-Erzähler, ein junger Jurastudent, der analphabetischen Ex-KZ-Wächterin Hanna Hörcassetten zur ihrer humanistischen und Seelen-Bildung. Signifikant in unserem Zusammenhang ist die Art der Literatur, die er zu diesem Zweck auswählt:
6 | Ebd., 27. 7 | Mit dem Dirigenten Sergiu Celibidace ist dabei eine Figur aufgerufen, die sich explizit gegen die Kommerzialisierung ihrer Kunst z.B. über LP- oder CD-Einspielungen gewehrt hat. 8 | Schätzing: Der Schwarm, 665.
P OPUL ÄRER R EALISMUS Ich las […] vor, was ich schon kannte und liebte. So bekam Hanna viel Keller und Fontane zu hören, Heine und Mörike. […] Insgesamt weisen die Titel […] ein großes bildungsbürgerliches Urvertrauen aus. Ich erinnere mich auch nicht, mir jemals die Frage gestellt zu haben, ob ich über Kafka, Frisch, Johnson, Bachmann und Lenz hinausgehen und experimentelle Literatur, Literatur, in der ich die Geschichte nicht erkenne und keine der Personen mag, vorlesen sollte. Es verstand sich für mich, daß experimentelle Literatur mit dem Leser experimentiert, und das brauchten weder Hanna noch ich. Als ich selbst zu schreiben begann, las ich ihr auch das vor.9
An Stellen wie diesen, wo der Populäre Realismus poetologisch wird, also auf sich selbst reflektiert, finden wir regelmäßig ein merkwürdiges Amalgam von drei Dingen: 1. stellt er ein bildungsbürgerliches Urvertrauen aus, er beruft sich auf den Kanon der Hochkultur und tritt damit jeglichem Trivialitätsverdacht entgegen. 2. wehrt er den modernistischen Anspruch auf erschwerte Form und experimentelle Texturen ab. Schlink distanziert sich unmissverständlich von einer nichtrealistischen Literatur im Verfahrenssinne, von einer Textur jenseits eingeführter narrativer Stereotype, »in der ich die Geschichte nicht erkenne und keine der Personen mag«. 3. aber wird dieser Realismus als etwas behauptet, das trotz seiner konventionellen Form nicht bloße Unterhaltung sein soll, sondern relevante, wirkmächtige Hochliteratur. Die Rezeption realistischer Literatur bedeutet für Hanna Aufklärung, die Erziehung zur eigenen moralischen Mündigkeit. Sie ermöglicht ihr die Aufarbeitung des Holocaust durch eigene Lektüre und damit ein Verständnis der eigenen Schuld. Diese Befunde bestätigen sich auch bei Beschäftigung mit anderen Texten dieser Art. Den bildungsbürgerlichen Kanon findet man etwa in Helmut Kraussers ständiger Berufung auf klassische Musik und große Oper wieder. Die Abwehr des Modernismus ist ein wesentliches Anliegen von Daniel Kehlmann, so in seinen Poetikvorlesungen von 2006, in denen er explizit ein »Plädoyer für den Realismus« hält, und zwar für einen explizit nicht-radikalen Realismus, ein bildhaftes, diegetisches Erzählen nach dem Vorbild des südamerikanischen Magischen Realismus. »Ich fand Literatur immer am faszinierendsten, wenn sie nicht die Regeln der Syntax bricht, sondern die der Wirklichkeit.« heißt es dort, und auch die modernistischen Feindbilder werden benannt:
9 | Schlink: Der Vorleser, 175f.
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M ORITZ B ASSLER Hierzulande wollte man davon [vom realismo magico] nicht viel wissen, knüpfte an den Dadaismus der Vorkriegszeit an, zog den Humor ab und nannte es ein Experiment. Lautpoesie und soziales Engagement – die zwei bedrückenden Eckpfeiler radikalen Realismus. 10
Es sei nur am Rande erwähnt, dass es sich hier literaturgeschichtlich um eher haarsträubende Konstruktionen handelt. Gerade in Deutschland gibt es seit den 1920er Jahren eine starke Tradition des Magischen Realismus, die mit Autoren wie Langgässer, Eich, Grass, Hilbig und anderen weit in die Zeit nach 1945 hineinwirkt. Wo die deutsche Nachkriegsliteratur an Dada anknüpft, etwa bei Ernst Jandl, ist sie kaum humorlos zu nennen, und eine dominante Tendenz sozial engagierter Literatur ist nirgends zu erkennen. Auch tragen Kehlmanns vehemente Invektiven gegen das Regietheater zum Verständnis des Phänomens wenig bei. Interessant werden diese polemischen Positionen allein als strategische Rechtfertigungen eines Populären Realismus, und als solche sind sie, wie gesagt, überaus folgerichtig. Bereits der Poetische Realismus der 1850er Jahre sah sich genötigt, sich einerseits von den romantischen Formexperimenten und andererseits von einem bloßen Naturalismus der Darstellung sozialen Elends abzugrenzen. Das Problem ist immer dasselbe: Was kann ausgerechnet eine realistische, also formal konventionelle, Darstellung der Welt über das bereits anderweitig, etwa in Alltag und Wissenschaften, über diese Welt Bekannte hinaus leisten? Kehlmann erklärt hierzu: Was das Erzählen vom einfachen Wiedergeben unterscheidet, ist Prozess des Arrangierens. Man arrangiert […], um der Wirklichkeit näher zu kommen. Man arrangiert nicht auf eine Botschaft zu, sondern man arrangiert, um einer genaueren und überzeugenderen Präsentation der Wirklichkeit in ihrer Widersprüchlichkeit willen.11
Das klingt schon sehr nach Otto Ludwig oder Julian Schmidt, den Programmatikern des Poetischen Realismus der 1850er Jahre: Behauptet wird ein wesentlicherer Blick, nicht etwa auf und durch Sprache, wie im Modernismus, sondern auf die, auf unser aller Wirklichkeit. Diese soll in der poetisch-realistischen Darstellung ›genauer‹ und ›überzeugender‹ präsentiert werden, ohne dass der Vergleichspunkt dieser Komparative je genannt würde.
V Geradezu prototypisch drückt sich der bildungsbürgerliche Glaube an die Bedeutung dieser Art von Populärem Realismus in einer Szene des deutschen Erfolgsfilmes Das Leben der Anderen (2006, Regie: Florian Henckel von Donnersmarck) aus. In direkter Nachbarschaft wird hier zweimal innerhalb von wenigen Minuten 10 | Kehlmann: Diese sehr ernsten Scherze, 14f. 11 | Kehlmann und Gollner: »Erzählen ist im Idealfall ich-los«, 30.
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die Wirkung großer Kunst performiert. Zunächst stielt der überwachende StasiBeamte dem Protagonisten, einem DDR-Autor, einen Band mit Brecht-Gedichten und liest ergriffen die Erinnerung an die Marie A., anschließend erfährt der Autor vom Selbstmord eines guten, regimekritischen Freundes und setzt sich daraufhin ans Klavier, um die »Sonate vom guten Menschen« zu spielen. Anschließend formuliert er für seine lauschende Lebensgefährtin und damit auch für das Publikum noch einmal explizit die Botschaft: Ich muss immer daran denken, was Lenin von der Appassionata gesagt hat: Ich kann sie nicht hören, sonst bring ich die Revolution nicht zu Ende. Kann jemand, der diese Musik gehört hat, ich meine: wirklich gehört hat, noch ein schlechter Mensch sein?12
Die Szene versammelt das Maximum an bürgerlichem Kulturgut: klassische Musik, das Klavier, im Hintergrund sieht man klassische Skulpturen und Zeichnungen, auch die schöne Frau, eine Schauspielerin, bleibt im Hintergrund, und schließlich eignet sich der Stasi-Offizier die Humanität per kanonischer Literatur an. Bezeichnenderweise wählt der Film dazu ein eher kulinarisches, unpolitisches Gedicht Bertolt Brechts, so wie ja auch im Statement des Autors die humanisierende Wirkung großer Kunst explizit gegen eine politisch-revolutionäre Wirkabsicht ausgespielt wird. Unser ausführlicher Blick auf die immanente Poetologie des Populären Realismus zeigt, dass er genau diese Art von Kunst, die er vorführt, eigentlich selbst sein möchte: realistisch zwar, aber dabei hochkulturell und bedeutsam, wesentlich und moralisch wirkmächtig. Es gibt keinen Funken Ironie in der Idee einer »Sonate vom guten Menschen« (so wenig wie in Schlinks »große[m] bildungsbürgerliche[n] Urvertrauen«)! Allerdings kann das innerhalb der Diegese aufgeführte Stück Filmmusik dieses Namens den Anspruch nicht einlösen, den es im Titel trägt, sondern sozusagen nur als Platzhalter für ein solches Stück fungieren. Andernfalls hätte es nach Ausstrahlung von Das Leben der Anderen allein in Deutschland ca. 2,3 Millionen gute Menschen mehr gegeben. Statt dessen zeigt sich bei näherer Hinsicht, dass der Film selbst der in ihm performierten Kunst die Rolle, die sie in der Narration erfüllt, nicht zutraut: Der vermeintlich unwiderstehliche Kunstgenuss der Sonate wird durch Beifügung des Brecht-Gedichtes amplifiziert13 und der erzieherische Anspruch auf Beethovens Appassionata verschoben (Warum wird nicht diese gespielt?). Die Lektüre des Brecht-Gedichts wird darüber hinaus mit Musik unterlegt, um jene Stimmung von Ergriffenheit zu erzeugen, die dem lyrischen Text selbst denn offenbar doch nicht abverlangt werden kann. Auch hierbei handelt es sich keineswegs um einen Sonderfall, sondern geradezu um einen Topos des Populären Realismus: Immer wieder wird das Extraordinä12 | Die Szene ist abrufbar unter: (01.11.2010). 13 | Auch im ›guten Menschen‹ wird ja auf ein Brecht-Drama angespielt.
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re der Kunst und der Kunst-Rezeption im Narrativ beschworen, die Düfte im Parfüm, die extrem wirkungsvollen musikalischen Urmotive in Kraussers Melodien, die übersinnliche Hörbegabung in Robert Schneiders Schlafes Bruder, die durch Kunst bewirkten Bekehrungseffekte bei Nazi- bzw. Stasi-Schergen im Vorleser und im Leben der Anderen; in Kehlmanns Romanen spielen die vielen Genies eine ähnliche Rolle. Gesteigerte Aisthesis (»ich meine: wirklich gehört«), außerordentliche Begabung, quasi-magische Weltzugänge – diese Art von Hyperbolik braucht der Populäre Realismus offenbar, um seinen eigenen gesteigerten Kunstanspruch, seinen Anspruch auf ›genauere‹ und wesentlichere Repräsentation von Wirklichkeit zu beglaubigen. Indem man vom Außerordentlichen erzählt, wird die eigene formale Normalität vergessen gemacht. Der Realismus in populären Büchern und Filmen hängt, wie gesagt, eng am Plotting, am Arbeiten mit hermeneutischen Codes, Spannungsbögen und Handlungspointen. Nun gibt es keine Handlung ohne Diegese, beide sind jedoch in verschiedenen Verhältnissen darstellbar: Die Handlung kann rein topisch bleiben und die ganze innovative Energie sich auf die Darstellung der erzählten Welt richten, wie derzeit in James Camerons Avatar mit seiner revolutionären 3D-Technik. Es kann aber durchaus auch Intelligenz in die spannende und pointenreiche Verwicklung der Handlung gesteckt werden, während die Diegese topisch bleibt, man denke an Filme wie Ocean’s Eleven oder an die häufig eingesetzte Short Cuts-Struktur virtuos verwobener kleiner Alltagsgeschichten, zuletzt etwa in Kehlmanns Ruhm oder Kraussers neuem Roman Einsamkeit und Sex und Mitleid.14 Das ist alles so lange kein Problem, wie es um Spannung und Unterhaltung geht, die entsprechenden Mittel also im Sinne eines hedonistischen Realismus ihren Zweck in sich selbst tragen. Unserem Populären Realismus-mit-Anspruch jedoch reicht das bekanntlich nicht: Die Handlung soll hier Träger jener tieferen Bedeutung sein, die die Teilhabe am bildungsbürgerlichen Kanon rechtfertigt. Und dabei kommt es zu charakteristischen Komplikationen. Im Vorleser ebenso wie im Leben der Anderen geht es um historische Bedeutung, um die Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Nazi- und Stasi-Zeit. Die Handlungspointe in Schlinks Vorleser ist der Analphabetismus Hannas. Er macht sie in dem fiktiven Maidanek-Prozess des Buches zur offensichtlich unschuldig Angeklagten; erst die Aufklärung durch Realismus-Lektüre führt zur nachträglichen Aufarbeitung der wahren Schuld. Das funktioniert als hermeneutischer Code von Geheimnis und Auflösung (wir ›erkennen‹ die Geschichte) ebenso wie als sympathieleitende Strategie (wir ›mögen‹ Hanna). Aber sobald dieser Plot darüber hinaus zum Bedeutungsträger werden soll, wird es problematisch: Sollen wir verallgemeinern, dass es die Unaufgeklärtheit der Deutschen war, die sie zu Nazischergen werden ließ? Hätte eine solide humanistische Bildung die Verbre14 | Die Kritik argwöhnte bei Kraussers Roman, dass »die Buchform gar nicht mehr sein adäquater Aggregatzustand [sei], als warte dieser Stoff nur auf seine eigentliche Bestimmung die Verfilmung.« Schäfer: »Berliner Short Cuts«, 24.
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chen gegen die Menschlichkeit verhindert? Hat die Justiz die privaten Zwänge der Täter nicht gebührend berücksichtigt? Das ist offensichtlich Unsinn; bekanntlich konnten die größten Schinder abends problemlos klassische Musik und gute Weine goutieren, nicht anders als Schätzings Johanson. Die Umdeutung der Täterin Hanna zum Opfer ermöglicht den originellen und erfolgreichen Plot, sobald sie aber darüber hinaus etwas bedeuten soll, wird es schief, ja peinlich und letztlich unappetitlich.15 Es gelingt dem Plot gerade nicht, das Eigentümliche der Nazi-Verbrechen zu repräsentieren. Ähnliches lässt sich in Das Leben der Anderen beobachten. Auch hier wird ja gerade nicht das Spezifische des Stasi-Systems zum handlungsbestimmenden Moment, sondern ein verbrecherischer Missbrauch der Macht: Der Stasi-Bonze zwingt eine Abhängige (hier: die schöne Schauspielerin) zum Sex – ein topisches Motiv, das in jeder beliebigen Machtstruktur vom Western-Dorf über das College bis hin zum Oval Office inszenierbar ist. Kurz gesagt: Der Plot sorgt jeweils für den hedonistischen Anteil am Populären Realismus, für Spannung, Identifikation mit den Personen, miterlebbare Konflikte und Katharsis. Er ist diegetisch einkleidbar in beliebige Gewänder – über eine liebevolle Ausstattung erfährt man dann, wie im alten Professorenroman, durchaus einiges über historische und kulturelle Umstände. Wo jedoch der Plot selbst Träger der historischen Bedeutung werden soll, da versagt der Populäre Realismus regelmäßig. Nähme man den Vorleser oder Das Leben der Anderen in diesem Anspruch beim Wort, müsste man eine groteske und politisch bedenkliche Verzerrung ihrer historischen Anliegen diagnostizieren. Die Opfer sind in den Werken des Populären Realismus immer Opfer der Erzählstrategie, des eigenen forcierten Plottings, und nicht, wie suggeriert wird, der historischen Umstände. Und seine privilegierten Weltzugänge über ›große Kunst‹ und erhöhte Aisthesis sind nur diegetisch behauptet, nicht im eigenen Verfahren realisiert. Dieses nämlich bleibt definitionsgemäß unauffällig, also konventionell. In seiner Bedeutungsbehauptung präsentiert der Populäre Realismus einen ungedeckten Scheck.
VI Wie kann Literaturwissenschaft sinnvoll mit solchen Befunden umgehen? Mit einer Abwertung des Populären Realismus aus Highbrow-Perspektive, selbst wenn sie analytisch gestützt ist, ist es offenkundig nicht getan. Man wird dieser Literatur vielmehr zunächst gerade das zugute halten müssen, was in ihrer eigenen Selbstbeschreibung wohlweislich nicht vorkommt: ihren Erfolg bei den Protagonisten des Literaturbetriebs und beim bürgerlichen Lesepublikum, ihre absolute Marktförmigkeit. Wir haben es hier mit den Bestsellern der letzten Jahrzehnte zu tun, die von weiten Bevölkerungsschichten rezipiert wurden und überdies zahl15 | Vgl. dazu ausführlich Baßler: Der deutsche Pop-Roman, 69-78.
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reiche Preise und Kritikerlob geerntet haben. Die Vermessung der Welt habe ich in Regalen stehen sehen, auf denen sonst nur Golfbücher und Ernährungs-Ratgeber zu finden waren. Der Vorleser ist zur Schullektüre geworden und wurde in Hollywood verfilmt, Das Leben der Anderen spielte weltweit über 78 Millionen Dollar ein und bekam unter anderem den Deutschen und den Europäischen Filmpreis sowie 2007 den Oskar als Bester fremdsprachiger Film. Er prägt seither weltweit das DDR-Bild von Millionen Zuschauern. Da kann der Literaturwissenschaftler noch so gründlich nachweisen, dass diese Werke ihrem eigenen Anspruch nicht standhalten – die Rezeption straft ihn Lügen. Zu beschreiben wäre die Ware, die sich so gut verkauft: innen hedonistischer Realismus, außen in bildungsbürgerlichen Anspruch verpackt, handwerklich sehr gut gemacht – und dass hier, wie auch immer popularisiert, stets auch ein Stück Weltwissen mitgeliefert wird, kann nicht geleugnet werden. Der Populäre Realismus ist die erfolgreiche narrative Norm unserer globalen, demokratischen, über Märkte gesteuerten Kultur. Er bedient unsere Nachfrage nach Unterhaltung und Bedeutung (prodesse et delectare). Umberto Eco fasst diese Art von Kunst unter dem Begriff des Midcult16 und erklärt ihren Erfolg so: Wie der Normalbürger es in unserer ausdifferenzierten Kultur nicht mehr schaffen kann, echte Naturwissenschaften zu verfolgen und zu beurteilen, und daher auf populärwissenschaftliche Vermittlung angewiesen ist, so ist auch die moderne Kunst derart spezifisch und voraussetzungsreich geworden, dass der Normalbürger nicht mehr die Zeit, das Interesse und die intellektuelle Kapazität aufbringen kann oder will, die nötig wäre, sie auf der Höhe ihrer Komplexität nachzuvollziehen. Weil Kunst und Literatur aber immer noch zu den bürgerlichen Werten gehören und wichtige Elemente im Selbstverständnis und Distinktionsverhalten unserer mittleren und höheren Schichten sind, besteht eine Nachfrage nach leicht und vergnüglich konsumierbaren Formen, die dem Rezipienten dennoch die Teilhabe an der Hochkultur suggerieren. Midcult »stellt den Konsumenten zufrieden, indem er ihn davon überzeugt, das Herz der Kultur schlagen gehört zu haben.« – »Der mittlere Konsument konsumiert seine Lüge […] als strukturelle Lüge.«17 Das kommt unseren Befunden nahe. Allerdings verwenden MacDonald und Eco der Begriff des Midcult vor allem für eine Kunst, die »Anleihen bei Verfahrensweisen der Avantgarde«18 macht, während der von uns beobachtete Populäre Realismus sich ausdrücklich vom ›Irrweg‹ der experimentellen Avantgarden distanziert. Auch affirmiert der Begriff das Modell einer traditionellen Stratifizierung der Kultur (Masscult – Midcult – High Art) und setzt damit die Existenz einer klar definierbaren avantgardistischen Hochkultur voraus. Es scheint jedoch zunehmend ein Konsens darüber zu fehlen, was unter den Bedingungen der ausdifferenzierten 16 | Der Begriff stammt von Dwight MacDonald. Vgl. Eco: »Die Struktur des schlechten Geschmacks«, 59-115; bes. 67-73. 17 | Ebd., 71; 90. 18 | Ebd., 71. Ecos Beispiel ist die Malerei Giovanni Boldinis.
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Markt- und Mediengesellschaft der letzten Jahrzehnte überhaupt noch unter einer solchen Hochkultur zu fassen wäre. Vorläufig müssen wir uns mit der Feststellung begnügen, dass der Populäre Realismus jedenfalls seine Behauptung, Teil und Fortsetzung der alten bildungsbürgerliche Hochkultur zu sein, nicht bzw. nur im Modus des Als-ob einlösen kann – genau darin besteht ja seine »strukturelle Lüge«. Celibidace hatte sich bekanntlich geweigert, der aufkommenden Markt- und Medienkultur durch LP- und CD-Einspielungen Tribut zu zollen. Hätte er auch posthum damit Erfolg gehabt, würden wir ihn jetzt nicht mehr kennen, geschweige denn in populären ÖkoThrillern über ihn lesen. Nein, die Regel des Spiels, dessen Top Player derzeit die Populären Realisten sind, lautet längst anders: sich als ›High Culture‹ im neuen Dispositiv des globalen Markt- und Medienverbundes zu verkaufen. Wir werden gut daran tun, unsere analytischen und kritischen Begriffe auf diese neuen Bedingungen einzustellen.
L ITER ATUR Barthes, Roland: Die Lust am Text. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992. Baßler, Moritz: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München: C. H. Beck 2002. Eco, Umberto: »Die Struktur des schlechten Geschmacks.« In: Ders.: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur. Frankfurt a.M.: Fischer 1984, 59-115. Kehlmann, Daniel und Helmut Gollner: »Erzählen ist im Idealfall ich-los.« In: Helmut Gollner (Hg.): Die Wahrheit lügen. Die Renaissance des Erzählens in der jungen österreichischen Literatur. Innsbruck: StudienVerlag 2005. —: Diese sehr ernsten Scherze. Poetikvorlesungen. Göttingen: Wallstein 2007, 14f. Schäfer, Frank: »Berliner Short Cuts.« In: die tageszeitung (02./03.01.2010), 24. Schätzing, Frank: Der Schwarm. Frankfurt a.M.: Fischer 2005. Schlink, Bernhard: Der Vorleser. Zürich: Diogenes 1997.
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Im Spannungsfeld von Populär- und Hochkultur Das Spiel mit der Gattung des Detektivromans in Paul Austers City of Glass Katja Kremendahl
When the volumes of Paul Auster’s New York trilogy began to appear, reactions were confused. Reviewers were interested and curious, even excited, but puzzled and rather wary. [...] reviewers noted the presence of such disturbing elements as complex interplays of doubles and a wilful confusion of fact and fiction that added more mystery to the basic mystery of the detective story form. Some bookstores, on the other hand, showed less readiness to speculate. They simply placed the book on the detective-fiction shelves.1
Es braucht keinen besonders gewitzten Detektiv, um die dauerhafte Präsenz und Dominanz der Kriminalgeschichte in den Regalen der Buchläden aufzudecken. Dass sich die Verkaufszahlen des Genres über die Jahre ungebrochen darstellen,2 scheint dabei zunächst als Indiz für die schier unglaubliche Popularität herhalten zu können. Diese Einfassung des Begriffes des Populären ist insbesondere im Hinblick auf die Abgrenzung zur Kunstliteratur aber zu kurz gegriffen: Man mag über Verkaufszahlen nicht streiten können, aber als endgültigen Gradmesser für die Menge an Popularität (dies würde bedeuten, Kunstliteratur dürfe sich nicht gut verkaufen) reichen sie nicht aus. Im Gegensatz zu dem Begriff der Massenliteratur, die anhand dieser Kennzahl wohl eher gefasst werden kann, muss der Gegen1 | Rowen: »The Detective in Search of the Lost Tongue of Adam«, 224. 2 | Ein Drittel der in Englisch veröffentlichten Literatur weltweit kann dem Krimigenre zugerechnet werden. Vgl. Knight: Crime Fiction. 1800 – 2000, x.
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stand des Populären vielmehr durch eine Anzahl von Voraussetzungen gegriffen werden, deren formale und rezeptive Kriterien ihn begrifflich gegen den o.g. Terminus der Massen- und auch der Trivialliteratur abgrenzen.3 Interessant erscheint hier, woher die anhaltende Begeisterung für Detektivromane stammt und worin das Anknüpfungspotenzial dieser Geschichten für den Leser trotz etlicher Veränderungen, Entwicklungen und Diversifikationen über die 150 Jahre hinweg bis zur heutigen zeitgenössischen Literatur besteht. In Anlehnung an die Diskussion des Populär-Begriffes in diesem Band sollen hier die Gattungsstruktur und -funktion des Detektivromans als Grundlage für dessen Popularität beleuchtet werden – Schemata, die in dem ersten Teil von Paul Austers Trilogie, City of Glass, nicht nur bewusst genutzt, sondern auch konstant selbstreflexiv hinterfragt, schlussendlich doch durchbrochen werden und demnach immer wieder zu Spekulationen bezüglich der Einordnung des Romans führen.
D IE P OPUL ARITÄT DER TR ADITIONELLEN D E TEK TIVFORMEL Analog zu anderen Beiträgen in diesem Band soll Popularität (von Detektivgeschichten) hier zum einen durch strukturelle und inhaltliche, zum anderen aber auch durch funktionelle Kriterien gefasst werden. Eine allgemeine Annahme, die u.a. Christian Huck und Christoph Reinfandt (in diesem Band) für das Populäre fassen, ist zunächst die unbedingte Zugangsoffenheit des Gegenstandes. Popularität beruht darauf, dass sie auf Spezialwissen – hier soll insbesondere auf literarische Intertextualität hingewiesen werden – verzichtet und auf allgemein Bekanntes referiert. Dabei ist ein Vorwissen über ein grundlegendes Alltagswissen hinaus für die Verständlichkeit einer Detektivgeschichte ebenso wenig notwendig wie die Kenntnis von Vorläufern des Genres bzw. derselben Kriminalserien: die nichtchronologische Veröffentlichung der Wallander-Romane von Henning Mankell in Deutschland mag an dieser Stelle als Beispiel gelten. Altbekanntes hilft hier, die (in der Diegese schon immer gegebenen und notwendigen) Leerstellen der Erzählung aufwandsminimal füllen zu können. Wie Moritz Baßler in diesem Band einen Klappentext zu Bernhard Schlinks Büchern zitiert: »Man liest. Und versteht.« Diese Vorkenntnisse nivellierende Zugangsoffenheit bindet sich sowohl an die welthafte Verankerung des Plots als auch an die sich immer gleich wiederholenden Schemata des klassischen Detektivromans, seines hard-boiled4 Nachfolgers bzw. des zeitgenössischen Polizeikrimis an. Insbesondere die narrativ gleichförmige 3 | Für eine Eingrenzung der Populärliteratur im Vergleich zur Massen- bzw. Trivialliteratur auf der einen und Kunstliteratur auf der anderen Seite siehe die Beiträge von Moritz Baßler, Christian Huck und Christoph Reinfandt in diesem Band. 4 | Im Weiteren werden in Anlehnung an Priestman der klassische und der hard-boiled Detektivroman als traditionelle Formen gegenüber der Diversifikation im postmodernen Genre abgegrenzt. Vgl. Priestman: »Introduction: Crime Fiction and Detective Fiction«, 2.
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Struktur und die Erwartungssicherheit der Lösung des Falles stehen hier im Mittelpunkt und tragen ganz entscheidend zu der genrestrukturellen Regelmäßigkeit der Gattung bei. Demnach fällt eine Definition der strukturellen Hauptkomponenten des Detektivromans jeglicher couleur, welche die Schwelle zum Text immer schon niedrig halten, auch entsprechend leicht: das Hauptaugenmerk des ermittelnden Detektivs auf die Aufklärung bzw. die Prävention eines Verbrechens, an dem er persönlich unbeteiligt ist, ein methodisches Vorgehen in der Untersuchungsgeschichte und das Erreichen einer Lösung, insbesondere mit Wiederherstellung der sozialen Ordnung durch die abschließende Errettung des Opfers bzw. Überführung des Verbrechers.5 Ein entscheidend populärer Faktor ist gerade hier die Notwendigkeit, nur eine mögliche Lesart der dargestellten Welt (histoire)6 zuzulassen – die des Detektivs – und alternative Angebote der Interpretation per definitionem auszuschließen. Die Möglichkeit, nicht nur das (zumeist) gute Ende zu antizipieren, sondern auch – so wird es zumindest vorgegaukelt – an dessen Entwicklung teilzuhaben, u.a. durch Einordnung der Figuren in ›gut‹ und ›böse‹ und das Sammeln, Bewerten und Verwerfen von Hinweisen, erscheint vor diesem Hintergrund aber zunächst überraschend. Aber auch wenn der Detektivroman dem Leser explizit das Angebot zum Mitraten macht, kann dieses immer offenbleiben: Es kann vom Leser angenommen oder auch verworfen werden, es kann ihn überfordern oder schlicht kalt lassen. Dass dem Lesevergnügen, beispielsweise durch die Unmöglichkeit der Antizipation des Mörders, dennoch kein Abbruch getan wird, belegen etliche berühmte Exemplare: Wer erahnt schon die trainierte exotische Schlange in einer der bekanntesten Geschichten Sherlock Holmes’? Über diese basalen Genrestrukturen hinaus setzt sich die hohe Erwartbarkeit an die Beständigkeit der Gattung auf der Ebene des discours (Art der Darstellung) fort. Der realistische Stil hält die Eintrittsbarriere in die fiktionale Welt bewusst niedrig: Ein Aufwand zum Verstehen der histoire wird durch Verweise auf die literarische Gemachtheit, die Zeichenhaftigkeit des discours, nicht künstlich erhöht. Diese Form der Erwartbarkeit findet man auch in der strukturellen Unterteilung der Narration in Verbrechensgeschichte und Untersuchungsgeschichte (nach Tzvetan Todorov), welche – gleich, wie unterschiedlich stark verwoben oder getrennt – von der Detektivgeschichte eine zirkuläre Struktur fordert, die es ihr erlaubt am Ende wieder zum Anfang zurückzufinden. Um Neugier (in der klassischen Form) und Spannung (in der hard-boiled Variante) aufrechtzuerhalten, entsteht hier die Notwendigkeit, die Verbrechensgeschichte – somit das ›wer‹, ›wie‹, ›warum‹, ›wann‹ und ›wo‹ – erst zu Ende in einer meist exemplarischen und oft dramatischen Darstellung durch den Detektiv, also nach der Schilderung der Untersuchungsgeschichte aufzudecken. Zwangsläufig ist die der Detektivgeschichte eigene narrative 5 | Vgl. Hügel: »Detektiv«, 153. Für eine Definition der Gattung siehe auch: Cawelti: Adventure, Mystery, and Romance. 6 | Die Begriffe histoire und discours in Anlehnung an die Verwendung bei Todorov. Vgl. Todorov: »Die Kategorien der literarischen Erzählung«.
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Vorbedingung die Unmöglichkeit einer linearen Erzählung. Das begangene Verbrechen wird von der Untersuchungsgeschichte, die ohne eigene Bedeutung ist,7 so lange umrundet, bis die Handlung zum Ausgangspunkt zurückkehren kann. Nicht nur die Lösung sondern insbesondere die erklärende Rekonstruktion des Verbrechens scheint hier das besondere Vergnügen an der Lektüre auszumachen: »This brings us to the final source of pleasure in the detective’s presentation, the sense of relief that accompanies the detective’s precise definition and externalization of guilt.«8 Damit führt John Cawelti als Quelle des Lesevergnügens die unauslöschliche Verbindung der Lösung des Falls mit einer Schuldzuweisung an, die zu Lasten eines spezifischen Individuums eine Generalschuld tilgt. In Slavoj Žižeks Worten: On behalf of the accuracy of facts, [the detective] compromises the ›inner,‹ libidinal truth and discharges us of all guilt for the realization of our desire, insofar as this realization is imputed to the culprit alone. [...] The detective ›proves by facts‹ what would otherwise remain a hallucinatory projection of guilt onto a scapegoat, i.e., he proves that the scapegoat is effectively guilty. 9
Somit sind die Aufklärung des Verbrechens und die Schuldabweisung im Detektivroman laut Žižek immer schon mit einem Erfüllen des Begehrens verknüpft, sinnbildlich jegliche Schuld auf einen Sündenbock übertragen zu können. Aus psychoanalytischer Sicht bildet dies Grundlage für ein »idiotic enjoyment of popular culture«10, welches Žižek zufolge einen fieberhaften Wettlauf auslöst: Begehren zu wecken, zu befriedigen und auf Dauer zu stellen wird als populäre Funktion des Detektivromans erkannt. Die durch diese Zuweisung und gleichzeitige Abweisung von Schuld gekennzeichnete Begehrensstruktur bildet den zentralen Ausgangspunkt einer psychoanalytisch geprägten Sicht auf den Detektivroman. Der hierbei angenommene Lustgewinn in und durch Fiktion erkennt den Leser als ein Begehrenssubjekt, dessen menschliche Wirklichkeit sich eben nicht in seiner Ganzheit 7 | Die Untersuchungsgeschichte hat »nur den Zweck […], zwischen dem Leser und der Verbrechensgeschichte zu vermitteln.« Zur Unterteilung in Verbrechens- und Untersuchungsgeschichte siehe Todorov: Poetik der Prosa, 60. Hier soll betont werden, dass die Geschichte des Verbrechens in der Erzählung klar von dem Verbrechen selbst getrennt werden muss. Das Verbrechen als traumatischer Ordnungsverstoß wird durch den Verbrecher in Form einer ›Geschichte‹ dargestellt (er ›imaginiert‹ den Ort des Verbrechens, d.h. er erfindet ihn (un)bewusst als eine Szene, indem er zum Beispiel Beweise vernichtet oder falsche Fährten legt), die er dem Detektiv hinterlässt und die von diesem richtig gelesen und gedeutet werden muss. 8 | Cawelti: Adventure, Mystery, and Romance, 90. 9 | Žižek: Looking Awry, 59. Für detailliertere Analysen der Verbindung von Detektivroman und Psychoanalyse siehe auch Bloch: »Philosophische Ansicht des Detektivromans«. 10 | Žižek: Looking Awry, viii.
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sondern immer schon unvollständig erfährt. Demzufolge ist jedem Subjekt ein Seinsmangel (manque de l’être) eingeschrieben, der sich nach Jacques Lacan zuerst in der frühkindlichen Phase des Spiegelstadiums manifestiert11 und von Beginn an mit dem Wunsch nach dessen Überwindung notwendig verknüpft ist. Aus der Unmöglichkeit, sich vollständig im Spiegel betrachten zu können, entsteht ein latentes Gefühl des Mangels, welches immer wieder über narzisstische Besetzungen bis hin zu Ding-Fetischisierungen kaschiert werden muss. Die hieraus entstehenden Sinnformen lassen sich über den Begriff des Objekt ›a‹ beschreiben: »Das Objekt a ist ein etwas, von dem als Organ das Subjekt sich getrennt hat zu seiner Konstituierung. Dieses Objekt gilt als Symbol des Mangels […].«12 Dem Objekt ›a‹ als ›ursprünglicher‹ Grund des Begehrens ist somit inhärent, dass es unerreichbar bleibt – eine ganzheitliche Selbsterfahrung wird konstant angestrebt, bleibt im Leben des Subjekts aber fortwährend utopisch und unerfüllt. Das Verhältnis von Subjekt zum Objekt ›a‹ ähnelt dem bekannten Traum, in dem man beständig näher an das Objekt der Begierde kommt, ohne es jemals erreichen zu können. Das durch den Mangel provozierte und produzierte Begehren gewährleistet einen immerwährenden Antrieb zu Handlungen – eine auch in der Literatur benutzte Vorstellung wie zum Beispiel in der Fabel »Achilles and the Tortoise«, in deren Analyse Lacan betont: […] that the point is not that Achilles could not overtake Hector (or the tortoise) – since he is faster than Hector, he can easily leave him behind – but rather that he cannot attain him: Hector is always too fast or too slow. […] the paradox stages the relation of the subject to the object-cause of its desire, which can never be attained. The object-cause is always missed; all we can do is encircle it. In short, the topology of this paradox […] is the paradoxical topology of the object of desire that eludes our grasp no matter what we do to attain it.13
Da sich die zirkuläre Struktur des Begehrens in der zirkulären Struktur des Detektivromans reproduziert, findet sich genau an dieser Stelle eine Erklärung für die populäre Wirksamkeit des in Frage stehenden Genres. Die im Populären vollzogene Anrufung des Lesers (Althusser)14 basiert auf dem in Aussicht gestellten 11 | Vgl. Lacan: »Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten«, 41. Die Identität des Subjekts bestimmt sich ab der Phase des Spiegelstadiums gegen jede Ganzheitsvorstellung als Dreiheit: Das Imaginäre (1) versucht, den traumatischen Kern des Mangels (2) zu bewältigen, während es sich dabei unwiderruflich in Beziehungen der Repräsentation eingebettet findet und somit auf eine symbolische Ordnung (3) verwiesen wird. Vgl. Lacan: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion«. 12 | Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, 110. 13 | Lacans Analyse in Žižek: Looking Awry, 4. 14 | Zur ›Theorie der Anrufung‹ (Interpellation) siehe Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate.
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Lustgewinn, den leeren Ort des Begehrens tatsächlich zu füllen. Dies wird erreicht, indem das traumatische Erlebnis des Verbrechens, vom Verbrecher als imaginäres Schauspiel inszeniert, durch den Detektiv wieder in die symbolische Ordnung integriert wird – ein Phänomen, welches Žižek in Looking Awry insbesondere für den klassischen Detektivroman nachvollziehbar erläutert: [There exists a] circular structure of the detective story. What we have at the beginning is a void, a blank of the unexplained, more properly, of the unnarrated (›How did it happen? What happened on the night of the murder?‹). The story encircles this blank, it is set in motion by the detective’s attempt to reconstruct the missing narrative by interpreting the clues. In this way, we reach the proper beginning only at the very end, when the detective is finally able to narrate the whole story in its ›normal,‹ linear form, to reconstruct ›what really happened,‹ by filling in all the blanks. 15
Exemplarisch vollzieht sich in einem end-dominierten, klassischen Detektivroman die Handlung wie folgt: Gleich einem traumatischen Einbruch des Realen (Lacan)16 durchbricht ein zunächst unerklärliches Verbrechen die stabile (symbolische) Ordnung der gegebenen Welt. Wenn also der Detektivroman analog zum Streben nach Ganzheit des Begehrenssubjekts gelesen wird, muss das Verbrechen das Objekt dieses Begehrens – sprich das Objekt ›a‹ der Diegese – sein. In der Folge wird die Kluft, die das Verbrechen gerissen hat, umkreist von der Untersuchungsgeschichte, in der sich der Detektiv in seiner Funktion als »guarantor of meaning«, als »l’un [qui] est supposé [de] savoir«17 mit einer Vielzahl von (analytischen) Methoden der Lösung des Falles annähert. Durch die Interpretation der Indizien, mit denen der Verbrecher den Ort der Straftat ausstaffiert und imaginär besetzt hat (d.h. die ›Szene‹ des Verbrechens, die er hinterlassen hat), kann der Detektiv, indem er zum Ausgangspunkt zurückkehrt, der gefühlten Leere Bedeutung zumessen und diese somit füllen. Erst jetzt kann es für die Geschichte und den Leser zum notwendigen Abschluss (closure) und zur Beseitigung des erfahrenen Mangels kommen. Die Erwartungssicherheit des lustvollen Erlebens dieser Mangelbeseitigung ist das populäre Versprechen, das die Gattung qua Strukturkonvention immer schon im Voraus leistet. Dies impliziert aber auch, dass, analog zu Aesops Fabel, der Leseerfahrung am Ende der Geschichte die Unmöglichkeit dauerhafter Erfüllung inhärent sein muss.18 Damit leistet die strukturelle Beständigkeit zumindest des traditionellen Detektivromans sowohl Befriedigung als auch
15 | Žižek: Looking Awry, 58. 16 | Für eine psychoanalytische Analyse einer klassischen Detektivgeschichte siehe insbesondere Lacan: »Das Seminar über E. A. Poes ›Der entwendete Brief‹«. 17 | Žižek: Looking Awry, 58 und Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, 143. 18 | »[...] when we confront the object of our desire, more satisfaction is provided by dancing around it than by making straight for it.« Žižek: How to Read Lacan, 76-77.
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immer wieder neu entfachtes Begehren nach mehr, eine Struktur, die als essenziell für die Bestimmung der Popularität der Gattung verstanden werden soll.
D ER U MGANG MIT POPUL ÄREN S TRUK TUREN IM E XPERIMENTELLEN D E TEK TIVROMAN Ungeachtet – oder vielleicht gerade angesichts – dieser strukturellen und funktionalen Popularität des Detektivromans stand die akademische Literaturwissenschaft bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts einer ausführlichen Analyse der Gattung eher zurückhaltend gegenüber. Seit den sechziger Jahren kann man jedoch eine Neueinschätzung des Verhältnisses von Hochkultur zu der (von der Kritik eher stiefmütterlich betrachteten) Unterhaltungsliteratur beobachten.19 Leslie Fiedler sieht in dieser Entwicklung den Ursprung des populären Romans, der als »the truly New Novel« die Kluft zwischen elitärer Kultur und Massenkultur schließt. Autoren jener neuen Form [...] have abandoned all concealment; and when they are most themselves, nearest to their central concerns, turn frankly to Pop forms – though not, to be sure, the detective story which has by our time become hopelessly compromised by middle-brow condescension: an affectation of Presidents and college professors. The forms of the novel which they prefer are those which seem now what the hard-boiled detective story once seemed to Vian: at the furthest possible remove from art and avant-garde, the greatest distance from inwardness, analysis, and pretension; and, therefore, immune to lyricism, on the one hand, or righteous social commentary, on the other. 20
Interessant erscheint, dass Fiedler den Detektivroman hinsichtlich seiner Gegensätzlichkeit zu Kunst und Avantgarde von der neuen Popform explizit und etwas geringschätzig ausschließt – eine Vorverurteilung, die in der Nachfolge des 1975 verfassten Artikels wohl als verfrüht und im Lichte der weiteren Entwicklung wohl auch als gegenstandlos bezeichnet werden muss: Die Diversifikation der Gattung durch zeitgenössische Autoren wie u.a. Paul Auster belegt, dass der Schulterschluss von Popularität und Elitarismus auch in diesem Genre möglich ist. In den Ausformungen des zeitgenössischen Detektivromans, die zunächst die traditionellen Konventionen übernehmen – sich aber ebenso von vielen populären Anknüpfungspunkten ihrer Vorgänger abgrenzen – wird die positivistische Kausalstruktur der traditionellen Form dann auch immer mehr in Frage gestellt. Bis dato konnte der Positivismus des 19. Jahrhunderts, der als Ideologie das Vertrauen in die wissenschaftliche Methodik und rationale Logik voraussetzte, genau jene Erwartbarkeit der Problemlösung in einem kontrollierten und kontrollierbaren 19 | Vgl. Priestman: »Introduction: Crime Fiction and Detective Fiction«, 1. 20 | Fiedler: »Cross the Border – Close that Gap«, 351.
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Universum, auf welcher das Populäre des traditionellen Detektivromans basierte, ermöglichen. Mehr noch, der positivistisch agierende Detektiv und die von ihm ermittelten Kausalstrukturen garantierten, dass kontingent erscheinende Ereignisse und die hieraus resultierenden ›furcht‹-baren Bedrohungen aufgelöst und in die Ordnung der Welt re-integriert werden konnten.21 William Spanos zufolge enttäuscht der »paradigmatische Archetyp«22 des experimentellen Detektivromans gleichwohl genau jenes Vertrauen, indem er in der Untersuchungsgeschichte den Rätselinstinkt zwar weckt, sich aber dann der Lösung des Verbrechens verweigert und somit den Leser frustriert. Diese Durchbrechung kann dabei zunächst einmal auf der inhaltlichen Ebene der gattungsstrukturellen Schemata erfolgen: Hier schaffen offene Enden, abgebrochene Untersuchungsgeschichten, Verweigerungen von Lösungsangeboten eine unpopuläre Erwartungs-Unsicherheit. Bedeutsamer für die Analyse des Populären ist jedoch die, an die Strukturveränderung anschließende, Ästhetisierung des Genres auf der Ebene des discours. Denn gerade hier integriert der postmoderne Detektivroman – anders als seine traditionellen Vorgänger – das, was Fiedler unter Kunst und Avantgarde zusammenfasst. Mittels ästhetischer Umformung durch selbstreferenzielle Illusionsbrüche, Sprachspiele und Formexperimente wird im experimentellen Detektivroman die Eintrittsschwelle zur fiktionalen Welt künstlich wie künstlerisch angehoben und automatisiertes Verstehen der Diegese im Sinne von Baßler erschwert oder unmöglich gemacht. Nicht, dass Experimente dieser Art der traditionellen Detektivgeschichte vollkommen fremd wären: Der Vollständigkeit halber muss angemerkt werden, dass sich selbstreferenzielle Brüche in der Fiktion bereits bei Arthur Conan Doyle zeigen, etwa in folgendem Räsonnement des Protagonisten: ›You reasoned it out beautifully,‹ I exclaimed in unfeigned admiration ›It is so long a chain, and yet every link rings true.‹ ›It saved me from ennui,‹ he answered, yawning. ›Alas, I already feel it closing in upon me! My life is spent in one long effort to escape from the commonplaces of existence. These little problems help me to do so.‹ 23
Das unerträgliche Gefühl der Langeweile, das umfassende existentielle Gefühl von Nichts und Enttäuschung drückt – in vager Anspielung auf ästhetizistische Posi21 | »Seen in the light of the existential distinction between dread and fear, the Western perspective – by which I specifically mean the rational or rather the positivistic structure of consciousness that views spatial and temporal phenomena in the world as ›problems‹ to be ›solved‹ – constitutes a self-deceptive effort to find objects for dread in order to domesticate – to at-home – the threatening realm of Nothingness, the not-at-home, into which Dasein is thrown (geworfen).« [Hervorhebung im Original] Spanos: »The Detective and the Boundary«, 149-150. 22 | Ebd., 154. 23 | Doyle: »The Red-Headed League«, 87.
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tionen der Décadence – nicht nur Holmes’ Zwang zum Eskapismus aus, sondern verweist auf analoge Defizitbewältigung auch auf Seiten des Lesers. Konsequenter noch aber lässt sich solche Ästhetisierung des populären Genres in City of Glass, dem ersten Teil der New York Trilogy24 von Paul Auster, beobachten. Dort wird die vermeintlich diametrale Verschiedenheit von Kunst- und Populärliteratur zentraler Bestandteil des ästhetischen Konzepts, indem populäre Elemente des traditionellen Detektivromans sowohl anzitiert als auch explizit immer wieder durchbrochen werden.
Z WISCHEN P OPUL ÄR - UND H OCHLITER ATUR : PAUL A USTERS C IT Y OF G LASS In the past, Quinn had been more ambitious. As a young man he had published several books of poetry, had written plays, critical essays, and had worked on a number of long translations. But quite abruptly, he had given up all that. […] He had continued to write because it was the only thing he felt he could do. Mystery novels seemed a reasonable solution. He had little trouble inventing the intricate stories they required, and he wrote well, often in spite of himself, as if without having to make an effort. (4)
Mit dieser literarischen Dichotomie eröffnet sich auf den ersten Seiten des Romans die Diskussion über die qualitative Bewertung von Literatur. Gedichte, als Repräsentanten literarisch hochwertiger Erzeugnisse (Kunstliteratur), werden dem populären Medium des Detektivromans konträr gegenüber gestellt – so zumindest in der Darstellung der Figur des Daniel Quinn, dessen Spaltung in mehrere Autoren (Daniel Quinn als Dichter, William Wilson als ›Schreiberling‹ von Kriminalromanen) diese Zweiteilung zudem verkörpert. Selbstreferenziell weist der Roman hier auf die meist mindere Qualität von mysteries hin. Bereits auf den ersten Seiten evoziert dies die Frage, was der Leser von City of Glass selbst zu erwarten hat: eine schlecht geschriebene Geschichte oder doch einen elitären Roman mit literarischer Substanz. Die vom Protagonisten dargestellte Unterscheidung von Literatur in Hoch- und Popkultur funktioniert dabei wie folgt: Gedichte sind Hochkultur – sie erfordern Ehrgeiz. Detektivgeschichten, hier explizit die mystery novels, jedoch sind populär – sie sind unkompliziert und entsprechend schlecht geschrieben. Sie zu lesen gleicht einer Sucht nach Er- bzw. Ausfüllung: Quinn had been a devoted reader of mystery novels. He knew that most of them were poorly written, that most could not stand up to even the vaguest sort of examination, but still, it was the form that appealed to him, and it was the rare, unspeakably bad mystery that he would refuse to read. Whereas his taste in other books was rigorous, demanding to the point of narrow-mindedness, with these works he showed almost no discrimination what24 | Auster: City of Glass, (im Folgenden im Text zitiert).
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K ATJA K REMENDAHL soever. When he was in the right mood, he had little trouble reading ten or twelve of them in a row. It was a kind of hunger that took hold of him, a craving for a special food, and he would not stop until he had eaten his fill. (7-8)
Mit diesen Gedanken wird auch der Konsum von Literatur direkt mitverarbeitet: Während Hochliteratur einer diskriminierenden Selektion (einer Engstirnigkeit in der Auswahl) bedarf, erfordert populäre Literatur keinerlei Vorauswahl (ist wahllos), da diese in jeder Form den Hunger als Ausformung des latent empfundenen Mangels nach »einem besonderem Essen« stillt. Letztere Literaturform wird so zunächst mit einer Befriedigung von niedrigen Bedürfnissen gleichgesetzt, welche – im Gegensatz zum Begehren – immer einen Anspruch auf reale Befriedigung beinhaltet.25 Interessant bei der Beschreibung seines Umgangs mit Detektivromanen sind hier zwei Gedankengänge des Protagonisten. Zunächst scheint er als ein lesendes Subjekt einen Mangel zu erfahren, den es durch die Lektüre auszufüllen gilt. Da er auf der anderen Seite nicht aufhören kann, bis zu einem Dutzend mysteries hintereinander weg zu lesen, erweist sich dieser Mangel jedoch als unstillbar – er wird wie das lacansche Begehren immer schon auf Dauer gestellt. Insofern ist die Befriedigung, die der populäre Roman verspricht, letztendlich nicht endgültig, sondern wird gleich einer Sucht immer wieder von neuem angefacht. Mit diesen Ausführungen des Protagonisten wird bereits zu Beginn angedeutet, was der Roman auch im weiteren Verlauf thematisiert: die (Un)möglichkeit der Bedürfnisbefriedigung in der Gattung des zeitgenössischen Detektivromans.
A NKNÜPFUNG AN POPUL ÄRE G AT TUNGSSTRUK TUREN Dessen ungeachtet evoziert der Plot der Detektivgeschichte, mit einem möglichen Verbrechen und der Beschattung des möglichen Schurken, in den einleitenden Kapiteln noch die Form des traditionellen Detektivromans. Was Žižek, wie eingangs erwähnt, als ein idiotisches Vergnügen an der Populärkultur bezeichnet, wird in City of Glass zunächst als Illusion einer erreichbaren Ordnung der Welt anzitiert. Bevor der Protagonist Daniel Quinn aber als Detektiv in Erscheinung tritt und die traditionelle Untersuchungsgeschichte ins Rollen zu bringen sucht, werden im ersten Kapitel zunächst die Fähigkeiten des Detektivs anhand des Romanhelden von Quinns mystery novels definiert: [Quinn] had, of course, long ago stopped thinking of himself as real. If he lived now in the world at all, it was only at one remove, through the imaginary person of Max Work. […] Work continued to live in the world of others, and the more Quinn seemed to vanish, the more persistent Work’s presence in that world became. Whereas Quinn tended to feel out 25 | Zur Unterscheidung von Bedürfnis und Begehren im lacanschen Sinne siehe: Evans: An Introductory Dictionary of Lacanian Psychoanalysis, 121-122.
I M S PANNUNGSFELD VON P OPUL ÄR - UND H OCHKULTUR of place in his own skin, Work was aggressive, quick-tongued, at home in whatever spot he happened to find himself. The very things that caused problems for Quinn, Work took for granted, and he walked through the mayhem of his adventures with an ease and indifference that never failed to impress his creator. (9)
Tief im Bereich des Imaginären verwurzelt (»imaginary person«) verkörpert Max Work das idealisierte Selbstbild des Protagonisten: Mit dem Unbill der Realität konfrontiert meistert er Situationen, an denen sein Schöpfer zerbricht. Aus dem Blickwinkel der lacanschen Triade betrachtet trifft also hier das narzisstische Subjekt, Daniel Quinn, in der Sphäre des Imaginären auf sein Spiegelbild (auf seinen ›kleinen anderen‹), in einer unechten und fadenscheinigen Identifikation. Während Quinn, gebrochen und eingeschüchtert, nicht imstande ist, die erfahrene Realität seines Lebens zu meistern, ist sein Alter Ego erfolgreich, kontaktfreudig und unverwüstlich. Als exemplarischer hard-boiled Detektiv ist Max Work in der Lage, die Lücke, die in Quinns Leben und seiner Identität seit dem Tod seiner Familie klafft, zu schließen und als narzisstisches Bild den Ganzheitsanspruch seines Schöpfers zu erfüllen.26 Aus diesem Grund übernimmt Quinn dann auch im Folgenden die Methoden des Max Work für seinen eigenen Fall: Mit abgeklärter Professionalität tritt er seinem Klienten und dessen Frau gegenüber; die Vergangenheit von Verbrechen und Täter wird recherchiert; dem mutmaßlichen Täter wird aufgelauert, um ihn zu beschatten (wenn vielleicht nicht ausgesprochen professionell so zumindest gewissenhaft und mit großer Ausdauer); die Ergebnisse werden sorgfältig in einem Notizbuch, dem red notebook festgehalten: »For one brief instant Quinn thought, ›So this is what detective work is like.‹«(55). Die vorangestellte Definition eines Detektivromans ist somit erfüllt. Es gibt einen Detektiv namens Daniel Quinn, der methodisch vorgeht, um den Schurken Peter Stillman Sr. am zukünftigen Verbrechen an seinem Sohn (dem Klienten des Detektivs) zu hindern. Dabei wird diese Entwicklung des Plots in reiner Gattungsmanier des traditionellen Musters dem Leser vorgegaukelt – nur latent sind zu Beginn Zweifel an einer echten Detektivgeschichte spürbar. Dazu gehört, dass Daniel Quinn letztlich kein wirklicher Detektiv ist und nur die Verkörperung von einem spielt: »Nevertheless, as time wore on he found himself doing a good imitation of a man […].« (12) und »By a simple trick of the intelligence, a deft little twist of naming, he felt incomparably lighter and freer. At the same time, he knew it was all an illusion.« (50). Auch im Grand Central-Bahnhof, als Quinn das erste Mal auf seinen Gegenspieler trifft, den mutmaßlichen Verbrecher Stillman Sr., ist auf den Willküraspekt seiner Ermittlungsarbeit und auf die Unmöglichkeit der traditionellen Vorgehensweise verwiesen. In dieser Passage treten zwei ähnlich aussehende Stillman Sr. in Erscheinung und die 26 | Der Vollständigkeit halber sei hier erwähnt, dass zu den zwei Teilen der Identität Daniel Quinns noch eine dritte hinzukommt: William Wilson als Pseudonym und Repräsentant der symbolischen Ordnung. Vgl. Auster: City of Glass, 6.
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Entscheidung, dem Schäbigeren zu folgen, ist nicht zwangsläufig einer deduktiven Methode zuzurechnen sondern dem Zufall: What happened then defied explanation. Directly behind Stillman, heaving into view just inches behind his right shoulder, another man stopped, took a lighter out of his pocket, and lit a cigarette. His face was the exact twin of Stillman’s. […] Quinn froze. There was nothing he could do now that would not be a mistake. Whatever choice he made – and he had to make a choice – would be arbitrary, a submission to chance. Uncertainty would haunt him to the end. (55-56)
Wie um der Skepsis ob seiner Fähigkeiten zu trotzen, legt Daniel Quinn im Folgenden eine erstaunliche Sorgfalt in der Beobachtung seines Verdächtigen an den Tag. Er verfolgt ihn unermüdlich auf dessen Wanderungen durch die Straßen von New York und notiert aufmerksam alle Ereignisse. Dabei entwickelt Quinn Methoden, die ihm in traditioneller Detektivmanier eine absolute Überwachung garantieren, wie zum Beispiel das gleichzeitige Laufen und Schreiben. Wenngleich sich dem Detektiv, und hiermit auch dem Leser, der Sinn dieser Wanderung noch nicht erschließt, weckt diese Passage Reminiszenzen an die langwierigen Verfolgungsjagden von Raymond Chandlers oder Dashiell Hammets Protagonisten. Auch dass die drei Gespräche zwischen Quinn und Stillman Sr. nicht im Geringsten zielführend erscheinen, mag einen an hard-boiled Romanen geschulten Leser nicht aus der Ruhe bringen. Sollten sich dennoch Zweifel an einen glücklichen Ausgang des Falles auftun (die auch Quinn selbst bisweilen beschleichen, wenn er das Gefühl hat, nur an der Oberfläche des Falles zu kratzen), so vermögen diese zunächst nicht, den Leser von der Hoffnung auf ein gutes Ende abzubringen. Es mag erstaunlich erscheinen, dass alle diese im Nachhinein doch deutlichen Hinweise auf einen Bruch mit den Gattungsstrukturen zunächst verworfen oder zumindest vernachlässigt werden können. Jedoch erträgt auch der Leser einer traditionellen Detektivgeschichte ein gewisses Maß an Unsicherheit, ohne die Hoffnung auf ein rationales, gutes Ende aufzugeben (hier sei beispielsweise an die Sherlock Holmes-Verfilmung von Guy Ritchie aus dem Jahr 2009 erinnert, in welcher der höchst übernatürlich anmutende Plot in den letzten Szenen doch noch rational aufgeklärt wird). Das Durchbrechen der gattungstypischen Erwartungssicherheit findet dann auch nicht primär auf der Ebene des Figurenverhaltens und der narrativen Handlung, sondern auf der Ebene der narrativen Vermittlung statt. Die Hervorhebung des Erzählakts erfolgt, indem der reale Autor, Paul Auster, in Kapitel 10 selbst als Figur auftritt, bevor dies dann zu Beginn des 12. Kapitels endgültig zum Durchbrechen von Gattungskonventionen auch auf der Ebene der histoire führt: A long time passed. Exactly how long it is impossible to say. Weeks certainly, but perhaps even months. The account of this period is less full than the author would have liked. But information is scarce, and he has preferred to pass over in silence what could not be defi-
I M S PANNUNGSFELD VON P OPUL ÄR - UND H OCHKULTUR nitely confirmed. Since this story is based entirely on facts, the author feels it his duty not to overstep the bounds of the verifiable, to resist at all costs the perils of invention. Even the red notebook, which until now has provided a detailed account of Quinn’s experiences, is suspect. We cannot say for certain what happened to Quinn during this period, for it is at this point in the story that he began to lose his grip. (124)
Mag der Leser zunächst noch die Illusion haben, die Geschichte des Daniel Quinns aus der Hand eines allwissenden Erzählers zu erfahren, wird ihm diese spätestens mit dem Auftritt des Erzählers als Autor genommen. Es wird ihm bewusst vorgeführt, dass er eine Geschichte liest, die ihm nur aus zweiter Hand präsentiert wird und deren Glaubwürdigkeit in Frage gestellt werden kann. Zur weiteren Auflösung der traditionellen Gattungsstrukturen tragen selbst-reflexive Kommentare bei, die im weiteren Verlauf in eine Diskussion über die Signifikanz von Zeichen in der Detektivgeschichte mündet.
V OM P OPUL ÄREN ZUR K UNST : D URCHBRECHUNG DER G AT TUNGSREGELN Bereits zu Beginn wird in City of Glass durch den Protagonisten Daniel Quinn der Unterschied zwischen dem privilegierten Zugang zum elitären Roman und der niedrigen Eintrittsschwelle in den Text des populären Detektivromans thematisiert. Demzufolge ist in einer mystery nichts verschwendet: [...], no sentence, no word that is not significant. And even if it is not significant, it has the potential to be so – which amounts to the same thing. [...] The detective is the one who looks, who listens, who moves through this morass of objects and events in search of the thought, the idea that will pull all these things together and makes of them. (8)
Die traditionelle Detektivgeschichte baut ›buchstäblich‹ darauf auf, dass jedem Signifikanten eindeutig ein Signifikat zugordnet werden kann und sogar muss. Die Methode der backwards induction27 erfordert zwangsläufig den Rückschluss von einer ›a posteriori‹-Lösung (des Verbrechens) auf die ursprüngliche Verbrechensgeschichte – von der Wirkung zurück zur Ursache bzw. von der Lösung zum Problem, um hierbei ein quasi natürliches Verhältnis zwischen Signifikanten (Indizien) und Signifikaten (Verbrechen) zu enthüllen. Paradoxerweise können im traditionellen Detektivroman besonders die unbedeutenden Details bzw. die Abwesenheit von Hinweisen (der Mangel an etwas) zu signifikanten Bedeutungsträgern wer27 | Sherlock Holmes: »[...] the grand thing is to be able to reason backwards. [...] There are fifty who can reason synthetically for one who can reason analytically. [...] This power is what I mean when I talk of reasoning backwards, or analytically.« Doyle: A Study in Scarlet and The Sign of the Four, 161.
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den, wie das gleichermaßen prägnante wie auch viel zitierte Beispiel von Sherlock Holmes’ Hund, der nicht bellt, verdeutlicht.28 In die lacansche Terminologie übersetzt bedeutet dies, dass etwas Absentes im Detektivroman einen positiven Wert bekommen kann. In City of Glass wird die Struktur der Zeichen dagegen auf mehreren Ebenen problematisiert,29 welches weitreichende Konsequenzen für eine Komplexierung und damit einhergehende De-Popularisierung des Romans zur Folge hat. Besonders deutlich wird dies in einem Gespräch zwischen Peter Stillman Sr. und dem Detektiv Daniel Quinn: Hmmm. Very interesting. I see many possibilities for this word, this Quinn, this … quintessence … of quiddity. Quick, for example. And quill. And quack. And quirk. Hmmm. Rhymes with grin. Not to speak of kin. Hmmm. Very interesting. And win. And fin. And din. And gin. And in. And tin. And bin. Even ryhmes with djinn. Hmmm. And if you say it right, with been. Hmmm. Yes, very interesting. I like your name enormously, Mr. Quinn. It flies off in so many little directions at once. (74)
Die hier thematisierte Eigendynamik der Signifikanten ist dem geschuldet, was Lacan als ständiges Gleiten des Signifikats unter der Signifikantenkette beschreibt;30 in zeichentheoretischer Hinsicht begründet dies die frustrierende Trennung von Zeichen und Bedeutungen,31 in psychischer Hinsicht aber erklärt diese Entkoppelung der Signifikaten von ihren Vorstellungsinhalten die konstante und iterative Reproduktion eines Begehrens, das sich auf paradigmatische Weise im Detektivroman manifestiert. Der im Gespräch zwischen Quinn und Stillman inszenierte Verweisungscharakter der Zeichen erklärt das unendliche Kreisen des Begehrens um das Objekt ›a‹ und beschreibt den Detektivroman als Ort einer Begehrensdynamik, die auf etwas konstitutiv Unverfügbares referiert.32 Entscheidend ist, dass die 28 | Vgl. Doyle: »Silver Blaze«, 32. 29 | Ausführliche Analysen finden sich u.a. in: Malmgren: »Detecting / Writing the Real«; Chapman und Routledge: »The Pragmatics of Detection«; Lavender: »The Novel of Critical Engagement«; und in dem Beitrag von Norma Rowen. 30 | »Man kann also sagen, dass der Sinn in der Signifikantenkette insistiert, dass aber nicht ein Element der Kette seine Konsistenz hat in der Bedeutung, deren es gerade fähig ist. Es drängt sich also der Gedanke auf, dass das Signifizierte unaufhörlich unter dem Signifikanten gleitet.« Lacan: »Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten«, 27. »The symbolic dimension of language is that of the signifier; a dimension in which elements have no positive existence but which are constituted purely by virtue of their mutual differences.« Evans: An Introductory Dictionary of Lacanian Psychoanalysis, 202-203. 31 | Vgl. Brummett: Rhetoric in Popular Culture, 167. 32 | Es ist »[…] die Struktur der Metonymie, die anzeigt, daß die Verbindung des Signifikanten mit dem Signifikanten die Auslassung möglich macht, durch die das Signifikante den Seinsmangel (manque de l’être) in die Objektbeziehung einführt, wobei es sich des
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hieraus resultierende Bedeutungs-Verschiebung von City of Glass auch die Ebene des discours tangiert: Namen werden doppelt besetzt, Namensinitialen wiederholen sich, der Autor Paul Auster taucht als Figur in seinem eigenen Werk auf – um nur einige der angebotenen Brüche zu nennen.33 Die für populäre Literatur charakteristische Transparenz der Zeichen wird damit suspendiert. Über solche Brüche mit einer realistischen Schreibweise betritt Austers Roman kunstliterarische Wege und lässt den Leser im Plot der Untersuchungsgeschichte immer wieder den Leerlauf des eigenen Begehrens spüren; die Grundlagen populärer Zugangsoffenheit des Detektivromans verlieren sich auf diese Weise in den typischen sprachlichen Überdeterminiertheiten und Selbst-Reflexionen eines hoch-literarischen Textes. Nicht zufällig ist ein zentrales Thema des Romans der Verlust der nicht-arbiträren Sprache Gottes. Deutlich wird dies besonders in der Geschichte von Peter Stillman Sr., der seinen Sohn aus der symbolischen Ordnung in die Isolation versetzt, um ihn somit zum Gebrauch einer adamitischen Sprache vor dem Sündenfall zu zwingen. Basierend auf seinem Buch The Garden and the Tower folgt der Vater der Logik, dass eine Wiederherstellung der Eins-zu-Eins Korrespondenz von Signifikant und Signifikat, auch zu einer Rückkehr ins Paradies führen würde: If the fall of man also entailed a fall of language, was it not logical to assume that it would be possible to undo the fall, to reverse its effects by undoing the fall of language, by striving to recreate the language that was spoken in Eden? If man could learn to speak this original language of innocence, did it not follow that he would thereby recover a state of innocence within himself? (47)
Als Flâneur, der in Benjaminscher Manier durch die Straßen New Yorks zieht, sammelt Stillman Sr. verlorengegangene und herrenlose Gegenstände, die er mit ihren prälapsarischen Namen zu versehen hofft: Wenn in Austers City of Glass [...] Stillman durch Veränderung der Sprache die Welt verändern will, so kann [er] das nach Lacanscher Theorie durchaus bewerkstelligen, denn Verweisungswerts der Bedeutung bedient, um sie mit dem Begehren zu besetzen, das auf diesen Mangel zielt, den es unterhält.« Lacan: »Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten«, 41. 33 | Im Roman mehrfach vorkommende Namen: drei Paul Austers (der Autor des Romans, der Autor im Roman, der Detektiv), zwei Peter Stillmans (Junior und Senior sowie ein weiterer Peter, der verstorbene Sohn Daniel Quinns), zwei Daniels (Daniel Quinn und Daniel Auster, der Sohn von Paul Auster, dem Autoren); drei Referenzen zum Namen William Wilson: Figur im Roman als ein Teil der Identität Daniel Quinns, Figur in der gleichnamigen Kurzgeschichte von Edgar Allan Poe und ein Centerfielder der New York Mets; Figuren mit den gleichen Initialen: »HD« als Abkürzung für Henry Dark, Hilda Doolittle, Henry David (Thoreau), Humpty Dumpty sowie Heraclitus und Demosthenes; »DQ« für Daniel Quinn und Don Quixote.
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K ATJA K REMENDAHL Sprache und ›Welt‹ sind weitgehend synonym. Auch zeigt uns Stillman, daß alles Sprache ist, indem seine Spaziergänge durch New York sich auf dem Stadtplan in Buchstaben verwandeln. 34
Das Experiment ist allerdings zum Scheitern verurteilt. Die Zeichen, die Stillman Sr. kreiert, produzieren nichts als ein semiotisches Vakuum. Auch die Buchstaben »THE TOWER OF BABEL« (70) erscheinen lediglich als Zeichen der unwiderruflich verlorenen Sprache Gottes: Sie erfüllen den Raum mit Wesen und sind dieser Raum. Sie sprechen nicht als Signifikanten über ihn, sondern können allenfalls dessen Symptome sein, […] die, obwohl a priori ohne sinnhaften Charakter, nur durch einen Dechiffrierungsversuch eines in der Lektüre Begriffenen, durch ihr Missverstehen, als intentionale Bekundung gelesen werden können. 35
Als für Hochliteratur typische Form einer intertextuellen Gattungsreflexion über den Detektivroman zeigt sich City of Glass auch deswegen, weil sie die Leistungsfähigkeit des detektivischen Bedeutungsgaranten Quinn unterlaufen. Stillmans Wanderungen müssen aus der Perspektive Daniel Quinns zwangsläufig als Hinweise auf eine mögliche Lösung des Falles funktionieren. Der Glaube des Protagonisten an die sinnhafte Bedeutung von Zeichen in einem positivistischen Weltbild lässt ihn dann auch die Wanderungen methodisch im Sinne eines klassischen Detektivs interpretieren: Mit Hilfe der Vorgehensweise logischer Deduktion gibt er jeder Tageswanderung die Bedeutung eines Buchstabens und nimmt sie wörtlich. Jegliche Form der Willkür würde die Grenzen seines geordneten Universums übersteigen: He was ransacking the chaos of Stillman’s movements for some glimmer of cogency. This implied only one thing: that he continued to disbelieve the arbitrariness of Stillman’s actions. He wanted there to be a sense to them, no matter how obscure. This, in itself, was unacceptable. For it meant that Quinn was allowing himself to deny the facts, and this, as he well knew, was the worst thing a detective could do. (68-69)
So gibt Quinn auch den vergeblichen Anrufen an seine Klienten eine Bedeutung, indem er diese als Zeichen dafür interpretiert, dass er den Fall nicht aufgeben soll. Doch letztendlich büßen auch diese Zeichen ihre Bedeutung ein: Die gewanderten Buchstaben sind in ihrer Interpretation volatil und lösen sich direkt nach der Genese wieder auf; das Besetztzeichen entlarvt sich als abgestelltes Telefon, der mutmaßliche Verbrecher verschwindet spurlos. In der Stadt aus Glas, einer Welt voller Spiegel und mehrfacher Reflektionen sind Zeichen rein arbiträr.36 Damit 34 | Jakubzik: »Paul Auster und die Klassiker der American Renaissance«, 89. 35 | [Hervorhebung im Original] Meurer: »Manhattan am Euphrat«, 53. 36 | Frei übersetzt nach: Malmgren: »Detecting / Writing the Real«, 190.
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verdichten sich die Hinweise für den Leser, dass es sich eben nicht um eine traditionelle Detektivgeschichte handelt. Dass der Roman die Illusion der OrdnungsRestitution nicht erfüllt, wird dann auch auf der Ebene der histoire in dem fatalen Ende des Detektivs deutlich. Quinn ist es unmöglich, den Fall zu lösen und seine Lebenskrise zu bewältigen. Er, das möglichen Opfer sowie der mutmaßliche Täter verschwinden zusammen mit den zur Neige gehenden Seiten des red notebooks aus dem Roman.
S CHLUSS »In [the] brilliant variation[ ] on the classic detective story«, so der Klappentext des Romans »emerges […] an investigation into the art of storytelling, notions of identity and the very essence of language«. Eine treffende Zusammenfassung, denn was sich bei der Lektüre des Romans herausschält, ist dessen selbstreflexiver Umgang mit der Begehrensdynamik des Populären – die sich exemplarisch im Genre des Detektivromans manifestiert. Dabei verhält sich City of Glass zunächst wie ein populärer Roman und bietet eine traditionelle Lesart an: Man findet einen konventionellen Detektivroman vor, der über weite Strecken welthaft verankert einem detektivischen Plot folgt, erkennt die notwendigen Muster der Gattung und wird erst in der Auflösung mit einem offenen Ende enttäuscht. Der Sog, die Anziehung entsteht hier durch das Suggerieren von Genreregeln, die Spannung erzeugen – es könnte alles noch rational erklärt werden (insbesondere wird auf den letzten zwei Seiten mit dem plötzlich in Erscheinung tretenden Erzähler nochmals Hoffnung auf Aufklärung geweckt). Ob der Leser sich durch die Brüche auf der Ebene des discours irritieren lassen muss, mag hier nicht allgemein beurteilt werden. Es ist aber durchaus möglich, City of Glass als einen populären Detektivroman zu lesen, wenn man akzeptiert, dass alle Voraussetzungen am Ende aber negiert werden: Ein traditioneller Detektivroman mit negativen Vorzeichen.37 Man kann sich aber auch – und dies ist wohl das an den geschulteren Leser gerichtete Angebot – auf eine zweite Ebene des story-tellings einlassen. Dann gehört der Roman sicherlich zur Kunstliteratur, denn das, was Steffen Schneider als »Innovationsdruck des Kunstsystems« bezeichnet, dessen Leistung darin besteht, das »Bewusstsein zu stets neuen und unvorhergesehenen Anpassungsleistungen zu zwingen und damit neue Beziehungen zur Welt herzustellen«38, führt hier immer wieder zu einer Durchbrechung des traditionellen Detektivromans. Bestehende Gattungsregeln werden zwar anzitiert und der Leser damit in eine bestimmte Erwartungshaltung gelockt, die dann aber immer wieder enttäuscht wird. Während 37 | Aus diesem Grund findet sich in der Literaturkritik oft die Bezeichnung »Anti-Detektivroman« für Paul Austers Werk. Vgl. u.a. Russell: »Deconstructing the New York Trilogy«. Zur Anti-Detective Novel siehe insbesondere die Ausführungen in Tani: The Doomed Detective. 38 | Schneider: »Das Populäre ist nirgendwo«, 112.
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der Held der Fiktion in der Fiktion (Max Work) Fälle löst und sein Leben meistert, scheitert Daniel Quinn an beidem. Auster durchbricht hier zwei Ganzheitsversprechen auf einmal: Zum einen wird die Illusion einer sinnvollen Ordnung der Welt durch das Scheitern des (in der traditionellen Gattung meist als unfehlbar dargestellten) Detektivs an der hierzu erforderlichen Deutungsaufgabe aufgehoben; zum anderen wird dadurch die Erfüllung des für das populäre Genre typischen Begehrens nach Ordnungsrestitution unterlaufen. Thematisch als detektivisches Unterfangen in die Tiefen des Geschichtenerzählens und der Bedeutung von Sprache dargestellt, kann City of Glass dann nicht mehr ohne Interpretation zugänglich erscheinen. Für den Leser zeigt sich dies in den verschiedenen Lesarten, die insbesondere in den letzten Kapiteln angeboten werden und rückwirkend die Geschlossenheit des Gesamtromans in Frage stellen. Wenn City of Glass weder nur Populär- noch nur Kunstliteratur ist, sondern zwischen beiden Geltungsbereichen oszilliert, dann bewegt sich der Roman wie der Protagonist in einem Niemandsland. Dessen Offenheit aber hat es dem Autor Paul Auster offensichtlich ermöglicht, die Frage nach dem Unterschied zwischen Hochliteratur und Populärkultur selbst in einer Weise zu popularisieren, die sowohl dem Berufs- wie auch dem Unterhaltungsleser eine abgründige Realisierung seines Begehrens bieten kann: Quinn was nowhere now. He had nothing, he knew nothing, he knew that he knew nothing. Not only had he been sent back to the beginning, he was now before the beginning, and so far before the beginning that it was worse than any end he could imagine. (104)
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Zum Eskapismus der Anästhetik im populären Drogenroman Thomas Gurke
Drogen können im Kontext populärer Romane, wie Hunter S. Thompsons Fear and Loathing in Las Vegas,1 als Text gelesen werden, welche besondere semiotische, kommunikative und wahrnehmungstechnische Zugänge zum Populären eröffnen.2 Das Versprechen einer auratischen Transzendenztechnologie,3 die Suche mittels einer Reise, eines »Trips«, nach Wahrheit über Identitäten und Alteritäten sowie die Möglichkeit einer Entgrenzung durch Reduktion innerhalb eines solchen Erfahrungsraums,4 sind nur einige Signifikate auf die hierbei verwiesen wird. Steht das Populäre andererseits immer schon unter dem Verdacht der bloßen Scheinwelt, des Eskapismus, des Wirklichkeitsverlusts und der Verblendung,5 ist zunächst zu klären, inwiefern dieses Spannungsverhältnis in einem paradigmatischen Drogenroman wie Fear and Loathing in Las Vegas kaschiert oder ausgestellt wird. Stellt der für Massenkultur typische Eskapismus bereits eine Realitätsflucht dar, so wird dies durch populäre Texte wie dem vorliegenden re-affirmiert und potenziert. In Thompsons Roman geht es, im Anklang an Charles Baudelaires Les Paradis Artificiels, sowohl um die Flucht in das, wie auch aus dem künstlichen (Spieler-)Paradies Las Vegas, welches zuletzt Angst und Schrecken verbreitet. Das Szenario der Stadt kann analog zum Baudrillardschen Simulakrum Disneyland gelesen werden, welches durch Drogen – Simulakren – im Medium fiktionaler Welterfahrung – einem weiteren Simulakrum – versucht wird zu interpenetrieren. Mittels des Begriffs der Anästhetik sowie des Derridaschen Pharmakon versucht der 1 | Thompson: Fear and Loathing, (im Folgenden zitiert als FL). 2 | Vgl. Fiske: Lesarten des Populären, 105. 3 | »This transcendental impulse or meaning is to be found everywhere in drug literature, and nowhere more so than in its negation or absence.« Boon: The Road of Excess, 11. 4 | Vgl. Gerigk: »Ästhetische Erfahrung als Rauschzustand«, 237. 5 | Vgl. Horkheimer und Adorno: Dialektik der Aufklärung.
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folgende Beitrag zu ergründen, welche Art von Zugang literarische Drogentexte, wie der hier exemplarisch gewählte, zur lebensweltlichen Scheinwelt des Populären ermöglichen.
I Das Anästhetikum im heute gebräuchlichen Sinne wurde vor allem seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Praxis des Narkotisierens bekannt. Die körpereigenen Anästhetika sowie die Palette der während der Aufklärung bekannten Drogen Kaffee, Tabak, Tee und Alkohol wurde durch Opium, Äther, Kokain u.a. erweitert und zu medizinischen Zwecken eingesetzt. Anästhetika wurden zum Beispiel gegen die weit verbreitete »Neurasthenie« verschrieben, welche die durch die Industrialisierung vermeintlich hervorgebrachten Verschleißerscheinungen behandeln sollte.6 Sogar Kindern wurden Opiate verabreicht, sodass diese neuen Drogen gesellschaftlich universell genutzt wurden und bald eine eigene Industrie darstellten.7 Die populäre Literatur seit der Romantik rekurriert ebenfalls stark auf die Idee der Droge als Mittel der Realitätsflucht. Samuel Taylor Coleridges Kubla Kahn, mit dem Untertitel »A Vision in a Dream«, soll 1797 aus einem Drogentraum entstanden sein. Veröffentlichungen von Thomas De Quincey (Confessions of an English Opium Eater, 1821) und Charles Baudelaire (Les Paradis Artificiels, 1860) steigern zudem die Popularität von Opiaten wie Laudanum und Hashish seit Mitte des 19. Jahrhunderts; neben praktischer Anleitung zum Konsum, werden in den entsprechenden Texten auch erwartbare Erfahrungen im Sinne einer Reise bzw. Trips formuliert.8 Gerade Baudelaires Idee der »künstlichen Paradiese« ist zu einem 6 | »Neurasthenia could be brought about by ›overwork,‹ the ›wear and tear‹ of modern life, the physical trauma of a railroad accident, modern civilization’s ›ever-growing tax upon the brain and its tributaries,‹ the ›morbid ill effects attributed […] to the prevalence of the factory system.‹ [T]he most common treatment was drugs.« Buck-Morss: »Aesthetics and Anaesthetics«, 18-19. 7 | »Opiates were ›the leading children’s drug throughout the nineteenth century‹. Mothers working in factories drugged their children as a form of day-care. Anaesthetics were prescribed as sleeping aids for insomnia and tranquilizers for the insane. Procurement of opiates was unregulated: patent medicines (nerve tonics and painkillers of every sort) were money-making, transnational commodities, traded and sold free of governmental control.« Ebd., 19. 8 | »Ainsi, c’est dit: vouse avez même, pour lui donner plus de force et d’expansion, délayé votre dose d’extrait gras dans une tasse de café noir ; vous avez pris soin d’avoir l’estomac libre, reculant vers neuf ou dix heure prendrez-vous une légère soupe. Vous êtes maintenant suffisamment lesté pour un long et singulier voyage.« Baudelaire: Les Paradis Artificiels, 37.
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populären Zitat und einer allgemeingültigen Metapher für den Grund des Drogenkonsums in Fiktion und Realität avanciert:9 Der Rausch immunisiert gegen den Andrang der Welt und schafft gleichzeitig für das Subjekt die Möglichkeit der Entgrenzung innerhalb solcher Reduktion. Das Resultat sind die künstlichen Paradiese, Paradiese nämlich, die durch den Rausch hergestellt werden. 10 Wo die sehnsüchtige Suche nach dem absoluten Erlebnis in Sucht umschlägt, können sich künstliche Paradiese in reale Höllen verwandeln.11
Die Flucht in künstliche Paradiese korreliert mit dem Konzept der Anästhetik, welches sowohl die Immunisierung »gegen den Andrang der Welt« als auch das Eintauchen in »reale Höllen« umfasst. Der Fluchtpunkt einer Anästhetik wurde hauptsächlich durch die Arbeiten von Wolfgang Welsch und Odo Marquard aufgezeigt.12 Demzufolge bezeichnet der Begriff der Anästhetik weder eine »Anti-Ästhetik«, noch meint er, dass etwas »unästhetisch« sei und bildet somit keine direkte Opposition zum überkommenen Konzept der »Ästhetik« im Sinne des »Schönen«. Jede Sinneswahrnehmung, so die Ausgangsthese, ist nicht nur verbunden mit der phänomenologisch gedachten Gabe des wahrgenommenen Dings, sondern gleichzeitig mit dem Verschwinden, Abwesendwerden oder Entzug eines anderen Sachverhalts. Jede Ästhetisierung und Sensibilisierung (im Sinne von griechisch aisthesis: »Sinneswahrnehmung« oder »Sinnesempfindung«)13 stellt eine selektive Steuerung der Wahrnehmung dar und beinhaltet zugleich eine Desensibilisierung gegenüber anderen Wahrnehmungen. Ist etwas ästhetisch, so ist etwas anderes dadurch gleichzeitig anästhetisch.14 Phänomene wie sinnliche Überreizungen durch die Informationsgesellschaft, welche zum Wahrnehmungsverlust im Sinne einer Desensibilisierung führen, können, nicht zuletzt im Blick auf zeitgenössische Populärsemantiken, durch den Begriff der Anästhetik paradigmatisch gefasst werden: Coolness […] ist ein Signum der neuen Anästhetik: Es geht um Unbetreffbarkeit, um Empfindungslosigkeit auf drogenhaft hohem Anregungsniveau. Ästhetische Animation ge9 | Vgl. u.a. die Titel einschlägiger Publikationen wie Kupfer: Die künstlichen Paradiese oder Jay: Artificial Paradises. 10 | Gerigk: »Ästhetische Erfahrung als Rauschzustand«, 237. 11 | Rath: »Künstliche Paradiese«, 8. 12 | Vgl. Welsch: Ästhetisches Denken; Marquard: Aesthetica und Anaesthetica. 13 | Vgl. Poltrum: »Ästhetik und Anästhetik«, 58. 14 | Vgl. ebd; »Bombarded with fragmentary impressions they see too much – and register nothing. Thus the simultaneity of overstimulation and numbness is characteristic of the new synaesthetic organization as anaesthetics.« Buck-Morss: »Aesthetics and Anaesthetics«, 18.
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T HOMAS G URKE schieht als Narkose – im doppelten Sinn von Berauschung wie Betäubung. Ästhetisierung […] erfolgt als Anästhetisierung.15
Die Anästhetik ist demnach an Grenzen der Wahrnehmung zu verorten; die Untersuchung solcher Prozesse ist folglich in der Lage, Unsichtbares sichtbar zu machen, kann aber eben auch zu einer Ästhetik der Anästhetik erhoben werden. In The Doors of Perception (1954) rekurriert Aldous Huxley auf die Arbeiten von C. D. Broad sowie Henri Bergson und diskutiert ein physiologisch vergleichbares Konzept der Anästhetik: »Mind at Large«.16 Demnach sind Sinnesorgane wie Gehirn und Nervensystem, hauptsächlich mit der Eliminierung, nicht mit der Produktion, von Wahrnehmung beschäftigt: »[t]he function of the brain and nervous system is to protect us from being overwhelmed and confused by the mass of largely useless and irrelevant knowledge, by shutting out most of what we should otherwise perceive or remember at any moment […].«17 Dieser Trichter (funnel) bzw. dieses Ventil (valve) wird in Broads These als überlebenswichtig und somit biologisch inhärent herausgestellt.18 Die Experimente mit der Droge Meskalin führen Huxley dementsprechend den bypass des Ventils vor Augen: »I was looking at my furniture, not as the utilitarian who has to sit on chairs, […] but as the pure aesthete whose concern is only with forms and their relationships within the field of vision or the picture space.«19 Diese ästhetische Erfahrung führt Huxley zu der Überzeugung, dass Drogen einen Zugang zu »Mind at Large« anbieten können: [T]emporary bypasses may be aquired […] by means of drugs. […] Through these permanent or temporary bypasses there flows […] something more than, and above all something different from, the carefully selected utilitarian material which our narrowed, individual minds regard as a complete, or at least sufficient, picture of reality. 20
Somit ist die Anästhetik nicht nur toxikologisch mit der Droge als Betäubung im Sinne einer »Immunisierung gegen den Andrang der Welt«21 vereinbar, sondern bietet eine Wahrnehmungsästhetik der Anästhetik an: durch die Droge wird Anästhetisches ästhetisch; Unsichtbares wird sichtbar. 15 | Welsch: Ästhetisches Denken, 14, (Hervorhebung im Original). 16 | Huxley: »The Doors of Perception«, 24. 17 | Ebd. 18 | »According to such a theory each one of us is potentially Mind at Large. But in so far as we are animals, our business is at all costs to survive. To make biological survival possible, Mind at Large has to be funnelled through the reducing valve of the brain and nervous system. What comes out at the other end is a measly trickle of the kind of consciousness which will help us to stay alive on the surface of this particular planet.« Ebd. 19 | Ebd., 23. 20 | Ebd., 24-25. 21 | Gerigk: »Ästhetische Erfahrung als Rauschzustand«, 237.
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II Jacques Derridas Interview »Die Rhetorik der Droge« kann mit Sicherheit als einer der bedeutendsten Texte zu Drogen in unserer Gesellschaft und zu ihrer Popularisierung durch Literatur (unter anderem) gelten.22 Derridas Verwendung des aus Platons Phaidros stammenden Begriff des Pharmakon, fasst die Droge zugleich als Heilmittel und als Gift. Diese Beobachtung findet sich auch in Thompsons Roman, indem die Droge gleichzeitig als »[d]eadly poison« und als »medicine« beschrieben wird (FL 24). Derridas Überlegungen wiederum gelten der Rhetorik des Pharmakon und situieren das Phänomen damit ausdrücklich im Geltungsbereich der Schrift: Im Phaidros wird die Schrift vor dem König, der politischen Machtinstanz und dem Gesetz als ein segenbringendes Pharmakon präsentiert, da sie, wie Teuth versichert, die Wiederholung ermögliche, und damit also die Erinnerung. Sie sei eine gute Wiederholung, im Dienste der Anamnesis. Der König aber würdigt diese Wiederholung herab. Sie sei nicht die gute Wiederholung. […] Das Pharmakon »Schrift« dient also nicht dem guten Gedächtnis, dem authentischen Gedächtnis. Es ist das mnemotechnische Werkzeug eines schlechten Gedächtnisses. Es besitzt eine größere Affinität zum Vergessen, zum Simulakrum, zur schlechten Wiederholung als zur Anamnesis und zur Wahrheit. 23
Die herrschende Macht verteufelt die schlechte Droge der Schrift als etwas Unauthentisches, mehr schlecht als recht Nachgemachtes. Die Schrift wird damit zur Droge par excellence: »Die Schrift ist die Verantwortungslosigkeit selbst […]. Die Schrift ist nicht nur Droge, […] sie ist ein schlechtes Spiel, wenn sie nicht mehr von der Sorge um philosophische Wahrheit gelenkt wird.«24 Der Text der Schrift ist sowohl schlechtes Gedächtnis als auch blankes Simulakrum. Hier wird also nicht nur die normative Bewertung von Drogen als solche hinterfragt, sondern besonders auch die ihr zugrunde liegende Rhetorik des dazugehörigen Disziplinardiskures. Die zentrale Frage lautet also: Was werfen wir, die wir die Droge illegalisieren um uns als legale Subjekte affirmieren zu können, dem Drogensüchtigen, der das angeblich illegale Pharmakon einnimmt, vor? Offensichtlich die Praxis, »in die Welt der Simulakren und der Fiktion zu flüchten«: Man wirft ihm seinen Geschmack für so etwas wie Halluzination vor. […] nämlich daß man durch die Droge den Sinn für wahre Realität verlöre. Ich habe den Eindruck, daß das Verbot in letzter Instanz immer im Namen dieser wahren Realität ausgesprochen wird. Man wirft 22 | Derrida spricht im Zusammenhang von Drogen und Literatur u.a. die Werke von Artaud, DeQuincey, Baudelaire, Coleridge und Burroughs an. Derrida: »Die Rhetorik der Droge«, 250-251. 23 | Derrida: »Die Rhetorik der Droge«, 246-247. 24 | Ebd., 247.
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T HOMAS G URKE dem Süchtigen nicht den Genuß selbst vor, sondern seine Lust an einer Erfahrung ohne Wahrheit. Die Lust und das Spiel […] werden nicht um ihrer selbst wegen verurteilt, sondern nur, insofern sie unauthentisch sind und insofern es ihnen an Wahrheit mangelt. Dieses System müßte man einmal aus nächster Nähe analysieren und mit der politischen Frage der Fiktion und der Literatur in Verbindung bringen. Der Mensch des Simulakrums wird von Platon aus dem Staat vertrieben […], falls er nicht wenigstens seine Dichtung der Philosophie und der Politik des Philosophen unterstellt. Wenn man in der »Moderne« stets von einer Affinität zwischen der Erfahrung der Fiktion einerseits (literarischer Art oder nicht, von Seiten der »Produzenten«, Vermittler oder Konsumenten) und der Welt der Drogenabhängigen andererseits ausgeht, selbst wenn Dichter nicht die »künstlichen Paradiese« aufsuchen, so wird der Schriftsteller dabei nur insofern akzeptiert, als er sich erneut institutionalisieren läßt. Er kehrt zur normalen Ordnung verständlicher Produktion zurück. Er produziert, und seine Produktion erzeugt Wert. Diese Legitimierung hängt mit dem Setzen einer Produktivität zusammen, die zumindest als Wahrheitsquelle interpretiert wird, selbst wenn diese Wahrheit durch Fiktion zustande kommt. Man denkt, daß der Drogensüchtige als solcher nichts produziert, nichts Wahres oder Reales. 25
Drogen sind somit als Simulakren gekennzeichnet, deren »Erfahrung ohne Wahrheit« mit Baudrillards Theorem der Simulation als »Kopie ohne Original« vergleichbar ist.26 Demgegenüber zielt Fear and Loathing in Las Vegas auf authentische Erfahrung über Drogen; der darin geschilderte Trip des Raoul Duke soll den wahrhaften Blick hinter die Kulissen des American Dream liefern: ›This is important, goddamnit! This is a true story!‹ […] Because my story was true. I was certain of that. And it was extremely important, I felt, for the meaning of our journey to be made absolutely clear. (FL 8, Hervorhebungen im Original)
Diese Erfahrung mündet in die Produktion von etwas vermeintlich Realem.27 Umgekehrt aber hebt der Text trotz dieses Authentizitätsanspruch stets auf seinen eigenen, fiktionalen Charakter ab, um eben diesen im Verlauf der Erzählung wiederum permanent zu destruieren: What were we doing out here? What was the meaning of this trip? Did I actually have a big red convertible out there on the street? Was I just roaming around these Mint Hotel escalators in a drug frenzy of some kind, or had I really come out here to Las Vegas to work on a story? (FL 56, Hervorhebung im Original)
25 | Beide Zitate ebd., 248-249. 26 | Vgl. Baudrillard: Simulacra and Simulations, 70. 27 | Auch wenn sich das Reale schlussendlich als »pure Gonzo journalism« entpuppt. Vgl. FL 12.
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Somit wird hier eine ähnlichen Rhetorik wie die der Droge verfolgt: der Text ist, der Droge äquivalent, gleichzeitig Heilmittel und Gift, gleichzeitig reproduzierendspeicherndes wie verfälschendes Medium. Der Protest-Trip von Duke und Gonzo als vermeintlich authentische Drogenkonsumenten im Mainstream-Tourismus von Las Vegas ist bereits im Ansatz erfolglos, da deren Erfahrungssubjekte durch Realitätsproduktion und -konsum immer schon an der Kultur des Mainstream partizipieren.28 Dementsprechend bildet ein Fluchtpunkt auch von Derridas Argumentation die Widersprüchlichkeit des sogenannten »War on Drugs«: »Man kann also nicht behaupten, daß der Drogengenuss als solcher verboten ist […]«, da dieser immer auf der Ebene von Privatleben und Öffentlichkeit argumentiert wird. Zumal aber der Käufer bereits durch den Konsum am öffentlichen Diskurs teilnimmt, kann Derrida folgern, dass »[d]ie Aufklärung, die sich über die Dimension der Öffentlichkeit, über den öffentlichen Charakter aller Vernunftakte definiert, […] von sich aus eine Kriegserklärung an die Droge […]« darstellt. Die Widersprüchlichkeit des »War on Drugs«, im Sinne der Kriegserklärung an die Droge, stellt Thompson wiederum bereits durch eine in Las Vegas stattfindende Drogenkonferenz heraus, an welcher Raoul und Duke partizipieren, »[…] not to prove any final, sociological point, and not even as a conscious mockery: It was mainly a matter of life-style, a sense of obligation and even duty« (FL 110). Wie oben gezeigt, erscheint der Drogenprotest durch die intrinsische Rhetorik der Droge bereits widersprüchlich. So wird in Fear and Loathing in Las Vegas auch der »War on Drugs« im Sinne des Kriegs »auf« Drogen gegen den Mainstream ad absurdum geführt.
III We signed nothing. (FL 69)
Auch wenn das obige Zitat sich auf die Tatsache bezieht, dass Raoul Duke und Dr. Gonzo auf ihrem Trip nach Las Vegas nie etwas unterschreiben und gleichwohl den Amerikanischen Traum auf fremdfinanziertem Budget erleben,29 so lässt sich diese Aussage auch auf die Umgebung ihres drogenreichen Trips beziehen: auf das Simulakrum Las Vegas. 28 | »[…] der Konsument ist Käufer, er nimmt also am Handel, am Markt und damit am öffentlichen Diskurs teil.« Derrida: »Die Rhetorik der Droge«, 262. 29 | »Jesus, just one hour ago we were sitting over there in that stinking baiginio, stone broke and paralyzed for the weekend, when a call comes through from some total stranger in New York, telling me to go to Las Vegas and expenses be damned – and then he sends me over to some office in Beverly Hills where another total stranger gives me $300 raw cash for no reason at all… I tell you, my man, this is the American Dream in action! We’d be fools not to ride this strange torpedo all the way out to the end. […] We must do it.« FL 11.
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Die »Sin City« Las Vegas könnte ohne weiteres auch als »Sim City« bezeichnet werden,30 da dies einen ähnlichen Ort der Fiktion und Hyperrealität darstellt – ein künstlich generiertes Paradies – wie Disneyland in Jean Baudrillards Konzeption der Simulacra and Simulations: ein Simulakrum dritter Ordnung.31 Auch hier findet sich der »[…] digest of the American way of life, panegyric to American values, idealized transposition of a contradictory reality.«32 Analog zu Disneyland, schreibt auch Las Vegas ein »immense Script« ständiger Wiederholungen, ein und desselben Werbespots und evoziert also Realität über ein Netzwerk semiotischer Repetition, das Allinklusion simuliert, jedoch schlussendlich auf nichts als eine Wüste von Zeichen verweist.33 Auch hierauf wird in Thompsons Roman abgehoben: »We were driving around in circles, weaving through the parking lot of a place I thought was the Dunes, but it turned out to be the Thunderbird… or maybe it was the Hacienda…« (FL 43). Wie Disneyland evoziert das lebensweltliche Las Vegas einen sozialen Mikrokosmos, welcher mit verschieden Personae (Sinatra, Elvis etc.) und künstlich generierten Ereignissen der Freude und des Verlusts (im Sinne des Glückspiels) operiert und somit eine populäre, scheinbar reale, Version des American Dream manifestiert.34 In Fear and Loathing in Las Vegas wird diese erfahrene Prägung der amerikanischen Vorstellungskraft durch repräsentative Images sowohl dargestellt als auch hyperbolisch überhöht: »This was Bob Hope’s turf. Frank Sinatra’s. Spiro Agnew’s. The lobby fairly reeked of high-grade formica and plastic palm trees – it was clearly a high-class refuge for Big Spenders« (FL 44). Der von Baudrillard am Beispiel Disneyland dargestellte Kontrast zwischen der Einsamkeit des desolaten Parkplatzes außerhalb sowie der gesellschaftlichen Allinklusion innerhalb des Parks, lässt sich im Fall von Las Vegas zunächst auf den Kontrast zwischen Wüste und Stadt übertragen, die Opposition von Artifiziellem und Natürlichem: »[…] a gigantic neon sign outside the window, blocking our view 30 | Die sogenannten »Simcities«, in der Konzeption Edward Sojas, rekurrieren ebenfalls auf Baudrillards Simulacra and Simulations. Vgl. Soja: Postmetropolis, 226-230. 31 | Vgl. Baudrillard: Simulacra and Simulations, 74. 32 | Ebd. 33 | »[…] nothing more than an immense script and a perpetual motion picture […] encircled by these imaginary stations which feed reality to a town that is nothing more than a network of endless unreal circulation.« Ebd. 34 | »The secret affinity between gambling and the desert: the intensity of gambling reinforced by the presence of the desert all around the town. The air-conditioned freshness of the gambling rooms, as against the radiant heat outside. The challenge of all the artificial lights to the violence of the sun’s rays. […] Gambling itself is a desert form, inhuman, uncultured, initiatory, a challenge to the natural economy of value […]. […] be it the spirit of gambling or the heart of the desert – a privileged, immemorial space, where things lose their shadow, where money loses its value, and where the extreme rarity of traces of what signals to us there leads men to seek the instantaneity of wealth.« Baudrillard: America, 127-128.
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of the mountains« (FL 27). Der scheinbare Kontrast wird bei Baudrillard im Weiteren zur Inklusion der Wüste innerhalb der Stadt erhoben: I speak of the American deserts and of the cities which are not cities. […] Los Angeles or Twenty-Nine Palms, Las Vegas or Borrego Springs…. No desire: the desert. […] Here the cities are mobile deserts. […] The power of the desert form: it is the erasure of traces in the desert, of the signified of signs in the cities […]. The towns of the desert also end abruptly; they have no surround. And they have about them something of the mirage, which may vanish at any instant. You have only to see Las Vegas, sublime Las Vegas, rise in its entirety from the desert at nightfall bathed in phosphorescent lights, and return to the desert when the sun rises, after exhausting its intense, superficial energy all night long […]. 35
Eine analoge Funktion erfüllen in Thompsons Roman die Mehrfachnennung einschlägiger Hotels wie des »Desert Inn«, »Sahara« oder auch des »Mirage«, durch die der Text Las Vegas als Simulakrum evoziert. In Fear and Loathing in Las Vegas interpenetriert das Simulakrum der Droge das Simulakrum Las Vegas. Welche Zugänge erlaubt dies also auf das Populäre vor dem Hintergrund einer Anästhetik?
IV Erste Halluzinationen der »trippenden« Protagonisten in Las Vegas scheinen den Mythos der Droge zu affirmieren, indem Duke und Gonzo unter LSD-Einfluss die reptilienartigen Formen der Gäste des Hotels wahrnehmen: Terrible things were happening all around us. Right next to me a huge reptile was gnawing on a woman’s neck, the carpet was a blood-soaked sponge – impossible to walk on it, no footing at all. […] ›Lizards?‹ he said. ›If you think we’re in trouble now, wait till you see what’s happening in the elevators.‹ […] ›We’re in the middle of a fucking reptile zoo! And somebody’s giving booze to these goddamn things! It won’t be long before they tear us to shreds. Jesus, look at the floor! Have you ever seen so much blood? How many have they killed already?‹ (FL 24-25, Hervorhebung im Original)
Das Hotel scheint unter Drogeneinfluss einem Reptilienzoo mit gefräßigen Bewohnern zu gleichen; dies könnte als deviante Halluzination infolge von Drogeneinfluss gelesen werden. Dennoch wird die Droge im selben Absatz nicht nur als Gift, sondern auch Heilmittel bezeichnet: »My legs felt rubbery. […] Deadly poison! […] ›[t]his man has a bad heart, but I have plenty of medicine. My name is Doctor Gonzo‹« (FL 24). Dukes Heilung durch seinen Anwalt und Leibarzt Dr. Gonzo erfolgt durch eine Dosis des Anästhetikums Äther. 35 | Baudrillard: America, 123-127.
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Äther wird hier als perfekte Droge für Las Vegas bezeichnet, da sie die Wirkung von Alkohol nachahmt (FL 46). Anstelle eines halluzinogenen Trips, bleibt das Gehirn hierbei im bewussten Zustand, während der Körper zunehmend paralysiert wird: Soon we were staggering up the stairs towards the entrance, laughing stupidly and dragging each other along, like drunks. This is the main advantage of ether: it makes you behave like the village drunkard in some early irish novel… total loss of all basic motor skills: blurred vision, no balance, numb tongue – severance of all connection between the body and the brain. Which is interesting, because the brain continues to function more or less normally… you can actually watch yourself behaving in this terrible way, but you can’t control it. […] Ah, devil ether – a total body drug. The mind recoils in horror, unable to communicate with the spinal column. The hands flap crazily, […] garbled laughter and hissing from the mouth… always smiling. Ether is the perfect drug for Las Vegas. In this town they love a drunk. Fresh meat. (FL 45-46, Hervorhebung im Original)
Der bewusste Vergleich der Auswirkungen des Anästhetikums Äther mit der legalen Droge Alkohol stellt bereits das Unterfangen der trippenden Protagonisten in Frage36 und verweist auf die Derridasche zweiwertige Funktion der Droge.37 Tatsächlich nämlich erhält Duke beim Eintritt ins Circus-Circus Kasino durch die Droge einen Erkenntnisgewinn, der den legal anästhesierten Las Vegas-Touristen nicht zusteht: »The Circus-Circus is what the whole hep world would be doing on Saturday night if the Nazis had won the war. This is the Sixth Reich. […] This madness goes on and on, but nobody seems to notice« (FL 46). Die Bilder-Bilder, die Duke im Circus-Circus wahrnimmt, erzeugen Angst und Schrecken und bringen die Einsicht, dass bereits auf der ersten Wahrnehmungs-Ebene mit drogenähnlichen Halluzinationen gearbeitet wird: »Psychedelics are almost irrelevant in a town where you can wander into a casino at any time of the day or night and witness the crucifixion of a gorilla – on a flaming neon cross […]« (FL 190). Die Zustände die in Las Vegas artifiziell erzeugt werden, sind denen der Droge im Umkehrschluss,
36 | »Duke […] insists on being seen – on making a spectacle of himself – as a defiant traveler whose outrageous displays of excess and hedonism are of course ›authentic,‹ as opposed to the excesses of the gaudy, paunchy tourists of Las Vegas.« Banco: Travel and Drugs, 112. 37 | »Niemand leugnet mehr die Schädlichkeit von Alkohol und Tabak, die als Konsumgüter genauso künstliche Objekte sind. […] Nie jedoch werden Alkohol oder Tabak als Betäubungsmittel verurteilt, nie wird ihnen eine moralische Bösartigkeit unterstellt, auch wenn man sie als ›schlecht‹ für die Gesundheit und die Verkehrssicherheit betrachtet. Der Bezug zur ›sozialen Sicherheit‹ ist also ein anderer.« Derrida: »Die Rhetorik der Droge«, 244. »Again, the novel emphasizes the way in which alcoholic drunkenness covers up more iconoclastic forms of altered consciousness.« Banco: Travel and Drugs, 107.
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zumindest hinsichtlich ihrer halluzinogenen Wirkung, überlegen: »No, this is not a good town for psychedelic drugs. Reality itself is too twisted« (FL 47). Man mag den Drogenkonsum und seine Auswirkungen auch als Kritik der 60er Jahre lesen: »Thus drug use in Fear and Loathing criticizes a brand of sixties idealism that was ill suited in the first place to dealing with the class privileges of the generation that worshipped Las Vegas as a tourist destination.«38 Die Art wie hier jedoch Drogen ästhetisch vermittelt werden, zeigt nicht nur wie einfach diese im Sinne Derridas gesellschaftlich domestiziert werden können. Vielmehr scheint es, als ob hier ein Simulakrum das andere kraft der ihm eigenen Anästhetik aufzulösen vermag: der Erfahrungsraum Las Vegas arbeitet bereits mit der anästhesierenden Funktion von Drogen und blendet somit alles, was das Simulakrum konstituiert, aus – macht es also anästhetisch im oben beschriebenen Sinn. Wird dieser Erfahrungsraum mit der Droge potenziert, führt dies zu einer doppelten Negation – zur Auflösung des alltäglichen Simulakrums durch eine drogeninduzierte Erfahrung zweiter Ordnung, die einen authentischen Wahrheitsgehalt beanspruchen darf: »Reality itself is too twisted« (FL 47).39 Ähnlich wie in Huxleys MeskalinExperimenten führt die Droge hier dazu, dass Anästhetisches, in diesem Fall die Funktionsweise des Simulakrum Las Vegas selbst, ästhetisch und somit sichtbar wird. Die Droge wird dadurch zu einem Simulakrum zweiter Ebene, während das Szenario des Circus-Circus Kasino den Touristen zugleich nur die Erfahrung des Drogenrauschs gibt und diese lediglich an den Bereich des Mainstream koppelt. So fördert der Text die Verblendungsmechanismen des Populären am Beispiel Las Vegas zu Tage, ohne vom populären Mythos der Droge als Erkenntnistechnologie zu lassen. Gleichwohl wirkt der journalistische Anspruch aufs »Covern« der Story in umgekehrter Richtung, und in radikalisierter Lesart der Überlegungen Derridas zum Pharmakon, nicht nur als Heilmittel sondern auch als Gift: […] cover the story. Never lose sight of the primary responsibility. But what was the story? Nobody had bothered to say. So we had to drum it up on our own. Free Enterprise. The American Dream. Horatio Alger gone mad on drugs in Las Vegas. Do it now: pure Gonzo journalism. (FL 12, Hervorhebungen im Original)
38 | Ebd. 39 | »Who are these people? These faces! Where do they come from? They look like caricatures of used-car dealers from Dallas. But they’re real. And, sweet Jesus, there are a hell of a lot of them – still screaming around these desert-city crap tables at four thirty on a Sunday morning. Still humping the American Dream, that vision of the Big Winner somehow emerging from the last-minute pre-dawn chaos of a stale Vegas casino. Big strike in Silver City. Beat the dealer and go home rich. Why not?« (FL 57).
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Auch wenn die Idee der »Total Coverage« in diesem Fall nur die »ideological blanket«40 des Simulakrums Las Vegas evozieren mag (die Möglichkeit des Free Enterprise, ähnlich des American Dreams,41 bleibt fiktional exponiert) – führt der »main nerve« und »vortex« des Amerikanischen Traums, der potenzierte Circus-Circus unter Drogeneinfluss, Raoul Duke dennoch die Verblendung selbst vor Augen: die ständige Wiederholung von Zeichen, die auf nichts verweisen,42 scheint bereits im Namen des Kasinos implizit; zudem stellt die ewig rotierende Bar und das immerwährende Treiben43 anästhetisch das außerhalb des Wahrnehmungsbereichs der Touristen Gelegene aus, das also, was über deren Köpfen stattfindet. In Überbietung von Las Vegas, das die Strategien des Drogenrauschs nutzt, um Verblendung zu erzeugen, nutzt auch Thompsons Roman die entsprechenden Verfahren als Taktik, um die Verblendung selbst zu exponieren: It was far too savage, too aggressive. There was evidence, in this room, of excessive consumption of almost every type of drug known to civilized man since 1544 A.D. It could only be explained as a montage, a sort of exaggerated medical exhibit, put together very carefully to show what might happen if twenty-two serious drug felons – each with a different addiction were penned up together in the same room for five days and nights, without relief. Indeed. But of course this would never happen in Real Life, gentlemen. We just put this thing together for demonstration purposes… (FL 201, Hervorhebungen im Original)
Der Raum (»this room«), den der Text hier anspricht, kann als Erfahrungsraum des Textes selbst gelesen werden; mittels der »Montage« verweist er auf die eigene artifizielle Konstruktion. Hierbei geht es nicht nur darum, dass Las Vegas sich als eine Art von anästhesierendem Lachgas für den Massenkonsum gegen den Drogenprotest der Hippie-Generation immunisieren kann. Vielmehr verheißt Thompsons Roman in ein und derselben Textbewegung Direkt-Zugriffe sowohl auf die potenzierte Rhetorik der Droge als auch auf die Verblendungsmechanismen der Massenkultur. Womöglich erklärt diese Ambivalenz seine populäre Zugkraft.
40 | Baudrillard: Simulacra and Simulations, 74. 41 | »›We came out here to find the American Dream, and now that we’re right in the vortex you want to quit.‹ […] ›You must realize,‹ I said, ›that we’ve found the main nerve.‹ ›I know,‹ he said, ›That’s what gives me the Fear.‹ […] ›One more hour in this town and I’ll kill somebody!‹« (FL 47-48). 42 | »[…] encircled by these imaginary stations which feed reality to a town that is nothing more than a network of endless unreal circulation.« Baudrillard: Simulacra and Simulations, 74. 43 | »›It won’t stop,‹ I said, ›It’s not ever going to stop!‹« (FL 49).
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Populäre Konkurrenzmedien: Musik, Fernsehen, Internet, Comic
Liebe als exemplarisches Medium der Popularität Bernd Scheffer
Warum sind Medien so ungeheuer populär? Warum sind wir von Medien so außerordentlich stark fasziniert? Warum sind wir, nahezu süchtig, mit einem doch erstaunlichem Aufwand hinter Medienangeboten her? Solche oder ähnliche Fragen sind bekanntlich immer wieder einmal gestellt worden, indessen stehen weiterreichende Antworten nach wie vor aus. Der hier skizzierte Vorschlag lautet: Die Popularität der Medien liegt zunächst gerade nicht in der Popularität einzelner populärer Themen und Inhalte, und sie liegt zunächst auch nicht in der Popularität publikumswirksamer Formate (wie etwa der Serie), sondern die Popularität der Medien liegt zunächst vor allem darin, dass Medien per se, dass Mediennutzungen an sich unentbehrlich, unvergleichlich und eben damit unüberbietbar populär sind. Es geht hier also um deutlich mehr als nur darum, darzulegen, dass diverse Darstellungen von Liebe ein beliebter Stoff von populären Dokumentationen und Fiktionen sind. Der Mediengebrauch ist vielmehr per se schon eine Liebeserfahrung, einigermaßen unabhängig von den jeweiligen Inhalten, Formen und Formaten. Liebe als exemplarisches Medium der Popularität zeigt sich also gerade auch dann, wenn das Thema ›Liebe‹ gar nicht expliziter Gegenstand und Inhalt eines Medienangebots ist. Die Kommunikationspotenziale der Medien sind grundsätzlich diejenigen der Liebe und sie gehen damit weit hinaus über oft genannte Funktionen der Medien wie etwa Zeitvertreib, Unterhaltung und Information. Auch deutlich hinausgehend über den technischen Nutzen ermöglicht es der Mediengebrauch, das ›Hier und Jetzt‹ des jeweiligen Lebens, die jeweiligen Routinen alltäglichen Fühlens und Handelns zu überbieten. Zu keiner Zeit gaben sich Menschen mit ihrem ›Hier und Jetzt‹ zufrieden. Kein Mensch hält es gänzlich ohne Medien aus (welcher Art von Medien auch immer); jedenfalls ist ein solcher Fall nie dokumentiert worden. In der gesamten Kultur- und Mediengeschichte zeigen sich einfache oder aufwändige Anstrengungen, die Grenzen der tatsächlichen Lebenspraxis kognitiv, emotional, sogar körperlich spürbar zu übersteigen.
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Warum denn sind wir besorgt, wie unser Leben danach weiter gehen soll, wenn wir uns den letzten Seiten eines hinreißenden Buches nähern? Warum haben wir geradezu Liebes-Verlustängste? Warum rührt ein bestimmtes Buch oder ein bestimmter Film (wie etwa Casablanca) viele Zuschauer zu Tränen? Warum soll dieser Film, dieses Konzert am liebsten gar nicht mehr enden? Warum rettet die Aussicht auf eine abendliche Fußballübertragung im Fernsehen unser Leben schon im Morgengrauen? Warum können einige Medien-Junkies kaum noch das Haus verlassen oder sich wenigstens für wenige Minuten von den Screens oder Monitoren lösen? Wenn es uns bei der Nutzung von Medien kalt den Rücken herunter läuft (daher das Wort ›Thriller‹), wenn wir Gänsehaut bekommen, wenn Transpiration und Herzfrequenz zunehmen, wenn wir vor Freude jubeln oder wenn uns Enttäuschung und Wut packen, obwohl alles doch offenkundig nur ein Buch, ein Film, ein Spiel ist, dann können wir unterstellen, dass sich in diesen Augenblicken eben das vollzieht, was hier ›Lebenssteigerung‹ bzw. ›Liebeserfahrung‹ genannt wird. Selbstverständlich kann hier, zumal in begrenztem Rahmen, das Thema Liebe nicht ausführlich entfaltet werden. Immerhin lassen sich bestimmte Erklärungen skizzieren und zur Diskussion stellen, die sich insbesondere durch den Grad ihrer Abstraktion von allen unmittelbar praktisch verwertbaren Einsichten in das Thema Liebe unterscheiden – indem ich Liebe als Medium beschreibe, als Supermedium, als das exemplarische Medium überhaupt, das allen anderen Medien vorausgeht, als das Medium, das die Basis für die Funktionsweise aller weiteren Medien bestimmt, als paradigmatische strukturelle Koppelung von Kommunikation und Bewusstsein, um mich insofern teilweise an Niklas Luhmann und an systemtheoretische Forschungen anzulehnen. Luhmann konzentriert sich indessen weitestgehend auf die intime, leidenschaftliche, sexuelle Kommunikation, statt Liebe generell als Modell für das Gelingen eines an sich eher unwahrscheinlichen Verstehens zu fassen, statt Liebe allgemein zu begreifen als die perfekte, zuweilen aber durchaus erreichbare Illusion, man sei direkt mit der Welt und mit der Welt anderer Menschen vereint. Eltern und Kinder lieben, Freunde und Freudinnen lieben und – ganz bewusst sehr breit ausgeweitet – vor allem erfahren alle möglichen Sorten von Medienfreaks und Fans, dass ihre an sich höchst egozentrische Welt nicht nur nicht störend auffällt, sondern von anderen geradezu mit Begeisterung geteilt wird (auch wenn es sich aus der Außensicht um pure Bagatellen handelt). Wie in jeder Liebe ist auch hier jede kleine Geste von höchster Relevanz für die Liebenden: Fotos, Unterschriften, Trikots, Tennisbälle werden als Schätze gehütet und wie Reliquien verehrt. Auch sind die Liebesansprüche der Medienfreaks maßlos: Nie darf man halbherzig lieben, wenn man überhaupt liebt, entweder man liebt oder man liebt nicht. Liebe ist vermutlich die einzige Kommunikationssituation, die wirklich dual codiert ist. Das Modell der Castingshow ist vor allem deshalb so populär, weil hier allen Einsamen und Zurückgebliebenen exemplarisch grandiose Liebe zuteilwerden kann, weil versprochen wird, dass sich auch mit Menschen, die bislang wenig oder
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gar nicht geliebt wurden, auf einen Schlag sechs Millionen entfesselte Liebhaber per Anruf solidarisieren können. Und noch mehr und anders als im ›richtigen‹ Leben. Gerade Defizite werden jetzt zu Auslösern von Liebe: Infantile Dämlichkeit wie im Fall von Daniel Kübelböck, oder drastisches Übergewicht machen Liebe jetzt überhaupt erst möglich. Und jedenfalls stimmt hier zum ersten Mal das, was in der Praxis ansonsten mengenmäßig gar nicht vorstellbar ist, dass nämlich der dermaßen geliebte ›Superstar‹ all seinen Fans zuruft: »Ich liebe Euch alle!«
E RKL ÄRUNGEN Neurophysiologischen Forschungen, konstruktivistischen und systemtheoretischen Überlegungen folgend, sei hier, äußerst knapp gefasst, an zwei dort verbreitete Grundannahmen erinnert: 1. Wir haben keinerlei direkten Zugang zu einer Realität da draußen. Unser Wahrnehmungssystem ist operativ geschlossen. Gerade weil unser Erkennen nicht von der Realität selbst unumstößlich garantiert wird, sind wir zutiefst auf die kommunikative Bestätigung durch andere Menschen in unserem Leben angewiesen, am meisten bei denen, die wir lieben und von denen wir geliebt werden. Nicht ein objektives Wissen, sondern vor allem das Vertrauen in die Bestätigungen bzw. in die Dementis der für uns maßgeblichen Menschen hindert uns daran, gänzlich verloren zu gehen, gänzlich verrückt zu werden. 2. Aufgrund der operativen Geschlossenheit unseres Wahrnehmungssystems haben wir allerdings auch keinerlei direkten Zugang zu diesen anderen, für uns wichtigen Menschen. Streng genommen gibt es keinerlei Informationsübertragung, keinerlei Informationsaustausch zwischen Partnern (durch Sprache am allerwenigsten). Eine Verständigung, ein erfolgreiches Verstehen ist jene Art von grundsätzlichem Missverständnis, das den Partnern in diesem besonderen Fall einmal nicht auffällt – und dieser besondere Fall ist immer dann vorgesehen, wenn Liebe (welcher Art auch immer) im Spiel ist. Der Sender gibt immer nur Anregungen, Anstöße, Impulse, hat aber keinerlei Möglichkeiten, determinierend über den Empfänger zu verfügen. Die vermeintlich übermittelte Botschaft ist lediglich eine Art Rezeptvorschlag, den sich der Empfänger nach seinem Wissen, aber auch nach Lust und Laune zubereiten kann – oder eben auch nicht. Mit jeder angebotenen Äußerung wird gewissermaßen immer nur ein Schuh hingestellt, den sich der Empfänger auf seine ganz eigene Weise anziehen kann – oder eben auch nicht. Aus dieser eigentlich ja fatalen Lage des Bewusstseins, das grundsätzlich keinerlei direkten, keinerlei verlässlichen Zugang zu der Welt und zu der Welt anderer hat, machen Medien und Liebe, und eigentlich handelt es sich ja um die beiden Seiten einer einzigen Medaille, machen Medien und Liebe das Allerbeste. Nur durch
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Medialität und Medien kann sich das Bewusstsein über seine vollständige Ausgeschlossenheit von der Welt und von der Welt anderer grandios (hinweg)täuschen. Die Mediennutzung verspricht – und das ist ja eine Liebeserfahrung – verspricht dem Bewusstsein die imaginäre Überwindung seiner Geschlossenheit, die Ablösung seiner eigentlich unüberwindlichen Isolation, um nicht zu sagen: seiner fundamentalen Einsamkeit. Mit Hilfe von Medien lässt sich, zumindest für Augenblicke, eine wirklich totale, eine alle Sinne, Gedanken und Emotionen umfassende Erfahrung erzielen: die für den Moment voll gelingende, perfekte Illusion, man sei direkt mit der Welt und mit der Welt der anderen verbunden, man habe jetzt eine gemeinsame Welt und man greife jetzt selber direkt und gemeinsam in diese gemeinsame Welt ein (was ja, wie gesagt, von den Grundvoraussetzungen her tatsächlich gar nicht der Fall sein kann). Medien konkretisieren ›Überbrückungen‹ dessen, was sich streng genommen gar nicht überbrücken lässt – die ›Überbrückung‹ von ›Kommunikation‹ und ›Bewusstsein‹. Erst mit der strikten systemtheoretischen Trennung von ›Kommunikation‹ und ›Bewusstsein‹, erst mit dem Verzicht auf alle gängigen Vorstellungen der ›Informationsübertragung‹ kann nun erklärt werden, was Medialität für einzelne Medien und was einzelne Medien für Bewusstseinsprozesse leisten bzw. was diese Leistungen so ungeheuer faszinierend macht. Medien bieten anlässlich von Texten, Bildern und Tönen die Imagination einer ›tatsächlichen‹ Verbindung von ›Bewusstsein‹ und ›Kommunikation‹ – und eben damit die Erfahrung einer Steigerung des Lebens, wenn dabei für Augenblicke das grundsätzlich eher unwahrscheinliche Verstehen überwunden zu sein scheint, einmal ganz und gar nicht als störend auffällt. Bezogen auf die fundamentale Kluft von Kommunikation und Bewusstsein, bezogen auf die generellen kommunikativen Defizite des Bewusstseins bzw. bezogen auf die generellen psychischen Defizite der Kommunikation erzielt Liebe als Medium die hochgradig emotionale besetzte, ›krisenlose‹ Kopplung unterschiedlicher Systeme, die für einander zwar absolut unentbehrlich, im gleichen Zuge aber als jeweils eigenlogisch prozessierende Systeme auch grundsätzlich unzugänglich sind. Solche, eher abstrakten Überlegungen haben durchaus praxisbezogenen Erklärungswert. So lassen sie sich zum Beispiel durchaus nutzen zur Erklärung alltäglicher Missverständnisse: Allen von uns sind sie bekannt, die notorische Krisen des Verstehens. Niemand kann einem anderen mit Kommunikationsangeboten (mit Sprache, mit Texten, Bildern, Tönen o. ä.) direkt das übermitteln, was sie oder er denkt oder fühlt, was sie oder er eigentlich ausdrücken will. Kein Bewusstsein ist einem anderen Bewusstsein zugänglich. Übrigens ist auch kein Bewusstsein sich selbst zugänglich. Dauernd verschwinden Teile des Kommunikationsangebots gleichsam spurlos: ›Wie konntest du das nur überhören?‹ bzw. andauernd kommt etwas wie aus dem Nichts hinzu: ›Das habe ich überhaupt nicht gesagt und noch weniger gemeint!‹ Warum macht man denn in heftigen Diskussionen keinerlei Stich trotz der möglicherweise überragenden Argumentations-Qualität des jeweils
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Gesagten? Der andere zieht sich den Schuh einfach nicht an, und dagegen ist nichts zu machen, jedenfalls nichts ohne Liebe (und schon gar nicht mit Gewalt). Viele Medienwirkungstheorien versagen bei der Erklärung der notorischen Krisen des Verstehens, bei der Erklärung dessen, warum gegenseitiges Verstehen strenggenommen ausgeschlossen ist und warum selbst die reale Illusion, Verstehen sei eben doch irgendwie möglich, eher unwahrscheinlich ist. Liebe wird hier vorrangig im Sinne einer theoretischen Abstraktion verstanden, als die paradigmatische, als die exemplarische Koppelung von ›Kommunikation‹ und ›Bewusstsein‹, als das herausragende Medium, an dem sich alle Grundbedingungen der Wahrnehmung und des Erkennens, der Verständigung und des Verstehens beispielhaft darlegen lassen, wie gesagt: als theoretisches Modell der ›Überbrückung‹ dessen, was sich eigentlich niemals überbrücken lässt: nämlich die fundamentale Kluft zwischen ›Kommunikation‹ und ›Bewusstsein‹. Liebe ist das übergeordnete Medium, ist das Supermedium, in dessen Folge die genannten einzelnen Mediennutzungen überhaupt erst ihre spezifische Funktion erfüllen können. Mediennutzung ist angewiesen auf die unübertrefflichen Kommunikationspotenziale, die der Liebe zugeschrieben werden können. Liebe schafft Verstehen mit rudimentärsten Gesten, auch ohne Worte, und wo Liebe und Sympathie fehlen, richten auch die klarsten Worte nur weiteren Schaden an. Selbstverständlich werden hier die beiden Begriffe ›Medium‹ und ›Liebe‹ auf das Äußerste gedehnt und wichtige, auch notwendige Differenzierungen werden vorerst zurückgestellt, indessen skizziere ich hier zunächst bestimmte Ausgangsbedingungen (die allerdings generalisierbar sind). Eine drastische Ausweitung des Medienbegriffs erscheint geradezu unerlässlich, wenn man sich erinnert, in welchen Schwierigkeiten gängige Mediendefinitionen immer noch stecken. Was macht Medien überhaupt erst zu Medien? Jede Medientheorie muss angeben, was allen Medien gemeinsam ist und was der spezifischen Ausprägung einzelner Medienformen, einzelner technischer Medien als mediales Prinzip grundlegend vorausgeht. Und das, was vorausgeht, ist unhintergehbare Medialität: Alles Erkennen, alle Wahrnehmungen und Erfahrungen sind grundsätzlich immer medial vermittelt. Es gibt keinerlei Jenseits der Medialität. Mönche und Eremiten haben womöglich keinerlei elektronische Medien, vielleicht noch nicht einmal Bücher, aber selbstverständlich haben sie Medien – und was für welche: die Meditation, das Gebet. Selbstverständlich ist eine tatsächliche Katastrophe, ist das Erleiden von Gewalt und Folter hauptsächlich dadurch charakterisiert, dass die mediale Vermittlung hier gegen Null geht, dass es also bei solchen Zeichen äußerst wenig zu deuten gibt, aber Masochisten und Märtyrer beweisen andererseits, dass auch offene körperliche Gewalt nicht völlig unvermittelt ist, dass selbst sie in äußersten Ausnahmefällen noch als willkommen, als ersehnt, als lustvoll umgepolt werden kann. Ich bestreite gleichwohl nicht, dass Schmerz, zumal als Folter, genau die Erfahrung ist, bei der man unausweichlich meinen muss, man sei der Realität absolut restlos ausgeliefert. Gerade deshalb sind – in freilich paradoxer
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Verkehrung – Folterdarstellung für das Kino und seine Nutzer so außerordentlich interessant. Einzelne Medien ergeben sich erst als Folgephänomene, als Herauskristallisierungen einer basalen Medialität. Medialität wirkt als eine ständige, hoch-dynamische Vor-Formatierung dessen, was sich dann erst in der Folge im Gebrauch von konkreten Medien zu spezifischen Zeichensystemen verdichtet. Medien haben überhaupt nur deshalb eine große Chance zu ›wirken‹, weil das Bewusstsein konstitutiv, notwendigerweise auf Kommunikationsangebote (welcher Art auch immer) angewiesen ist, weil das Bewusstsein ständig begierig nach Anregungen sucht bzw. geradezu suchen muss. Mächtig sind die Medien deshalb, weil wir dem ›süchtigen Affen‹, den wir Bewusstsein nennen, fortlaufend Medien-Zucker geben müssen, ob wir es wollen oder nicht. Gerade deshalb kann im Prinzip alles als Medium genommen werden, was keineswegs ausschließt, dass man dann in der Folge zwischen verschiedenen (Binnen-)Medien unterscheiden kann und unterscheiden muss. Selbstverständlich gibt es zwischen der meditativen Stille und einem Rockkonzert beträchtliche Unterschiede. Medium kann in der Literatur oder im Film der pure Windstoß sein, der an den Fensterläden rüttelt und der (wie in dem Film Chocolat) als Zeichen, als Aufforderung dafür genommen wird, dass Mutter und Tochter weiterziehen müssen. Gängige medientheoretische Grundkriterien wie ›Materialität‹, ›Speicherfunktion‹ oder auch ›Reproduzierbarkeit‹ werden hier schwerlich erfüllt; Medium kann das ›Parfüm‹ (als tatsächlicher Geruch, aber auch als Wort oder Bild), kann die Schokolade sein (als tatsächlicher Geschmack, aber auch als Wort oder Bild). Allein das letztere Medium ist in dem Film Chocolat fähig, die verstockten Herzen der Kleinstadt-Bewohner zu öffnen. Selbstverständlich verändert die Schokolade als Medium die Welt derer, die sie im Film Chocolat äußerst folgenreich genießen, durchaus in einer Weise, die ohne das Medium, als das Schokolade hier firmiert, überhaupt nicht hätte stattfinden können. Medium kann auch die enge Verbundenheit mit der Natur sein (die sich dann meist fälschlicherweise selbst für völlig ›echt‹ und gänzlich ›medienfern‹ hält). Zum Medium kann also irgendein ein Baum werden, etwa der »Lindenbaum« am »Brunnen vor dem Tore« oder ein Baum, den man als heiligen Baum verehrt (wie zuletzt in dem Film Avatar; dort haben die Bewohner der anderen Welt, die »Na’vis« zwar nicht die technischen Medien der Menschen, aber sie sind hochgradige Mediennutzer, zumal dann, wenn sie mit ihren Zöpfen oder Schwänzen steckdosenartige Verbindungen, Interfaces, mit Vögeln und Bäumen herstellen, ganz zu schweigen davon, dass sie lieben und hassen, und vor allem deshalb schon fundamental medial gekoppelt sind).1 1 | Muscheln und Steine, die man sammelt – und die man ja nur deshalb sammelt, weil sich das Bewusstsein davon etwas verspricht, weil damit irgendetwas, und sei es noch so geringfügig vermittelt wird. Wer bestimmte Steine wegen ihrer Form, Farbe oder wegen ihren Linien sammelt und bestimmte Steine interessanter findet als andere Steine, die man liegen lässt, nimmt Steine als Zeichen und gibt Steinen eine Bedeutung, verwendet sie in
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Eine Kurzdefinition von ›Medium‹ könnte lauten: Medien und nur Medien prozessieren Situationsveränderungen, und ein Medium liegt immer dann vor, wenn eine ganz bestimmte Situationsveränderung stattfindet, die in dieser Bestimmtheit auf keinem anderen Weg erreichbar ist. Das Bewusstsein ist angewiesen auf mediale Irritationen. Im partiellen Unterschied zur Buchlektüre affiziert die Filmtechnik das Bewusstsein deshalb so unvergleichlich stark, weil es immer schon, Tausende von Jahren vor der Einführung des Films, ein ›Kino im Kopf‹ gab. Musik ›wirkt‹, weil Bewusstsein und Körper ohnehin auf Rhythmen und Klänge ausgerichtet sind. Hier lautet die These (im Unterschied zu den Überlegungen etwa von Friedrich Kittler): Eine konkrete Medientechnik ist in jedem Fall zweitrangig, denn Medientechnik kann immer nur dort wirken, wo das medial verfasste Bewusstsein grundsätzlich auch ohne sie auskommen könnte. Konkrete Medientechnik kann immer nur dort wirken, wo Technik an das andocken kann, was im Bewusstsein längst vorbereitet ist. Technische Medien konkretisieren also nur das, was immer schon als Spielmöglichkeit des Bewusstseins möglich war: Sich etwas vorzustellen, sich etwas auszumalen, sich etwas zu erträumen, Wünsche zu haben und ihre Einlösung zu imaginieren. Second world und cybersex gab es auch schon vor der Erfindung von Elektrizität und Elektronik, denn Augen konnten schon immer ›weit geschlossen‹ werden (vgl. Stanley Kubricks Film Eyes Wide Shut). Die Liebeserfahrung ist medial und die Mediennutzung ist liebend. Liebeserfahrungen und Medienfaszinationen haben eher emotionale als rationale Gründe. Vor allem erleichtern Liebe und Mediennutzung spürbar das ansonsten problematische, oft unwahrscheinliche Verstehen: Jeder versteht jetzt alles richtig (zunächst jedenfalls); das Buch, der Film, das Bild und das Musikstück verhält sich jeweils wie ein Liebender: Er widerspricht nicht der einzelnen, durchaus eigenwilligen (um nicht zu sagen: selbstverliebten) Mediennutzung. Wir imaginieren erfolgreich eine psychische Vereinigung der Partner, wie sie tatsächlich niemals zu erzielen ist. Auch in der Mediennutzung besteht maximale Aussicht, dass wir so sein dürfen, wie wir sind oder zu sein meinen (oder wie wir, je nach Situation, etwa in einem second life, gerne wären). Wie eine Liebeserfahrung und als Liebeserfahrung bietet die Mediennutzung insbesondere emotionale Grenzüberschreitungen, Überbietungen und Steigerungen. Wie eine Liebeserfahrung und als Liebeserfahrung stehlen Mediennutzungen dem Alltagsleben die Schau: Auch hier lassen sich Realität und Fiktion, Wirklichkeit und Schein prinzipiell und produktiv verwechseln. Liebe erfährt die ästhetischen Implikationen einer gemeinsamen Wirklichkeitskonstruktion. Die These, Mediennutzung sei eine Liebeserfahrung, sei geradezu die exemplarische Liebeserfahrung, denunziert keineswegs die sog. ›reale‹ Liebeserfahrungen, die freilich ihrerseits nur scheinbar ohne Medien auskommt. Auch der passionierSinnzusammenhängen (wie reduziert auch immer) – und erfüllt damit die Grundvoraussetzungen jeglichen Mediengebrauchs.
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te Mediennutzer weiß, dass es zwischen ›realem‹ Sex und cybersex gewisse, gelegentlich relevante Restunterschiede gibt. Ein Film über die Liebe zwischen Eltern und Kindern ersetzt natürlich nicht die besondere Liebe zu den eigen Kindern. Mitleid und Furcht im Alltag sind – wenn auch nur zum Teil – erkennbar verschieden von den Gefühlen, die fingierte Tragödien entbinden können. Gleichwohl sind auch hier die Verbindungen von Realität und Fiktion stärker als die tendenziellen Unterschiede, denn der hier unterbreitete Vorschlag besteht auf einer gemeinsamen, unterschiedslosen Ausgangbasis, bestreitet aber keineswegs die Möglichkeit und Notwendigkeit anschließender Binnen-Differenzierung. Selbstverständlich wird die pragmatische Folge-Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion nicht schlicht hinfällig, selbstverständlich bleibt es ein Unterschied, ob man CounterStrike zuhause am Computer spielt oder real mit den Waffen des Vaters in einer Schule tötet. Indessen ist die Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion gefährdeter denn je: Der 11. September war unüberbietbar real, und trotzdem kamen wir uns vor ›wie im Film‹. Das neue Film- und Fernsehformt »HD« wird beworben mit der Parole »schärfer als die Realität« – und wer Avatar in 3D gesehen hat, ahnt, was damit gemeint sein könnte. Die Liebeslockung der Medien, die (Verführungs-)Macht der Medien ist nicht die der Manipulation des Bewusstseins, sie liegt nicht in einem, wie auch immer geartetem unmittelbaren Einfluss, sondern paradoxerweise gerade darin, dass Medien auf ein individuelles Bewusstsein gar nicht direkt zugreifen können, sondern es gewissermaßen in Ruhe »sein eigenes Ding« machen lassen, dabei allerdings auf raffinierte Weise – wie bei jeder anderen Liebeslockung – die alles entscheidende Dynamik der Selbstverführung anstoßen. Propaganda, Werbung und alle anderen Versuche, die planmäßig auf Bewusstseinsänderungen zielen, profitieren von der Bereitschaft zur Selbstverführung. Wo indessen individuelle Widerstandsfähigkeit stark entwickelt ist, wo eine Unfähigkeit oder mangelnde Bereitschaft zur Selbstverführung vorliegt, bleiben Medienangebote ohne Wirkung (jedenfalls ohne die intendierte Wirkung). Das DDR-Fernsehen war trotz gewisser, unbestreitbarer Raffinesse auf der Produktionsseite nicht sonderlich populär, abgesehen vom »Sandmännchen«, das man lieben konnte. Die Medienliebe ist wie jede Liebe ungewöhnlich frei, anarchistisch, asozial, entgrenzend, subversiv jedenfalls »para-sozial« (in großer Eigenwilligkeit und geringer sozialer Rücksicht). Was jemand mit einem Medienangebot macht, ist zunächst einmal seine oder ihre Sache, und diese Sache ist nur sehr bedingt, ist nur sehr selten konsenspflichtig gegenüber anderen. Kaum einmal muss man sich für seine Rezeption rechtfertigen (nur ausnahmsweise etwa dann, wenn es in Schule und Universität um das kontrollierte Interpretieren von Medienereignissen geht). Allenfalls in Gruppen wird diskutiert, was das richtige bzw. falsche Verständnis ist. Paradoxerweise ist es diese »freie Liebe«, die uns so sehr an die Medien bindet. Jeder Mediennutzer reagiert zunächst auf seine eigene, unverwechselbare Weise; das schließt gewisse, eher begrenzte soziale Koordinierungen nicht aus, die in der Folge dann zu dem eigentlich falschen Eindruck führen, man habe das ›gleiche‹
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Buch gelesen, den ›gleichen‹ Film gesehen wie jemand anderer. Doch beim Leser der Leiden des jungen Werthers sind es vor allem ›mein‹ Werther und ›meine‹ Lotte, beim Ansehen von Casablanca sind es vor allem ›meine‹ Ilsa, ›mein‹ Rick und ›mein‹ Victor, und ich muss nicht gezwungenermaßen auf die Literatur- oder Filmwissenschaftler hören, die mir sagen wollen, ich hätte diese Figuren ›falsch‹ verstanden: »Na, wenn schon!«2 Jede Liebe ist konstitutiv auf Mediennutzung angewiesen. Briefe, E-Mails und SMS, Heirats- und Urlaubsfotos, das ständig fortzuführende Familienalbum, die Videos über die Entwicklung der Kinder, die gemeinsamen Besuche von Ausstellungen, Filmen und Konzerten, die Fernsehabende und Computernutzungen im Freundeskreis. Dieser Mediengebrauch der Liebe und in Liebe beginnt mit der anscheinend wohltuenden Musikbeschallung von Ungeborenen, setzt sich dann fort mit den »Wiegenliedern« und der »Muttersprache«, und dieser Mediengebrauch hält später in der Nutzung aller konkreten Medien, die wir überhaupt kennen, die Liebe lebendig (oder lässt sie, wiederum stets medienbegleitet, in Krisen geraten). Liebende kommen sich seit jeher vor ›wie im Traum‹, kommen sich seit langem vor ›wie im Roman‹, ›wie im Film‹ – und neuerdings vielleicht auch wie im second life. Und verzückt bekennen sie, wenn sie irgendwo (und inzwischen eigentlich überall) eine bestimmte Melodie hören: »Schatz, das ist unser Lied!« In der nahezu permanenten Musikbegleitung haben sogar die einsamen Kopfhörer ständig den ›Soundtrack‹ für ihr Leben dabei. Der Film Die fabelhafte Welt der Amélie – zeigt lediglich in ›planvoller Übertreibung‹ allgemeiner, grundsätzlicher Medialität – dass zwischenmenschlichen Begegnungen immer nur als Medien-Abenteuer stattfinden können. Alle Freundschafts- und Liebeserfahrungen macht Amélie mit Medien, all ihre Ziele verfolgt sie mit Medien. Dabei verfährt Amelie aber nicht prinzipiell anders als andere rea2 | Casablanca konnte vor allem deshalb, jedenfalls bei meiner Generation populär werden, zum ›Kultfilm‹ avancieren, weil der Film (weitgehend unabhängig von den historischen und fingierten Merkmalen einer mittlerweile in jeder Hinsicht fernen Situation) für einige Generationen von Kinobesuchern ein geradezu perfektes Modell für deren emotionales Probehandeln bietet: das Durchleben einer nicht lebbaren Liebe. Casablanca thematisiert und problematisiert, was der Film bereits im Medium des Films prozessiert: die Überbrükkung des Unüberbrückbaren im Medium der Liebe. Alle bekommen mit, dass hier vielfältige äußere Umstände der Fortsetzung einer einst großen Liebe unüberwindlich entgegenstehen. Das dargebotene Dilemma reizt die Zuschauer, die Voraussetzungen der Filmkonstellation zu überprüfen und energisch nach Auswegen zu suchen, die der Film selbst gerade nicht bietet. Man kann sich gedanklich und vor allem emotional an der Lösung solcher Probleme wie der von Ilsa, Victor und Rick beteiligen – in der wenig berechtigten, aber auch nicht zu unterlassenden Hoffnung, sich damit selber liebesfähig, lebensklug, krisenfest zu machen. Kaum ein anderer Film bietet so facettenreiche Anlässe wie Casablanca, die eigentlich unlösbare Frage nach dem richtigen Leben immer wieder durchzuspielen: Wie denn soll sich Ilsa ›richtig‹ entscheiden, wie denn Rick, wie denn Victor?
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le Heldinnen und Helden oder als andere Buch- oder Filmheldinnen oder -helden, sondern nur deutlicher: Der unvermeidliche Mediengebrauch der Liebe bzw. die ohnehin als Liebeserfahrung funktionierende Mediennutzung werden hier lediglich explizit markiert. Der Liebesbrief zum Beispiel, den Amélie fingiert, verändert von Grund auf die Welt einer Frau, die sich schmählich verlassen glaubte – und alle Zuschauerinnen und Zuschauer dürften sicher sein, dass eine derartige Weltveränderung durch einen Brief auch tatsächlich funktionieren könnte. Der Vollständigkeit halber muss man Liebe um ihre Kehrseite ergänzen, den Hass: Lebenssteigerungen, Liebeserfahrungen im Mediengebrauch betreffen freilich nicht nur Steigerungen in Richtung auf ›bejahte‹, angenehme, positive Ziele (seien es nun »positive« Ziele im persönlichen oder im gesellschaftlichen Wertsystem), sondern das Konzept der Liebeserfahrung, so wie es hier entwickelt werden soll, muss von vornherein auch »negative« Steigerungen vorsehen, also drastische Liebesverluste, also durchaus unverhoffte, befürchtete, unheimliche Erfahrungen mit Katastrophen, Krankheiten, Totschlag und Mord. Immerhin muss ja auch die Faszination an Schrecken aller Art begründet werden, gewissermaßen die tiefe »Lust an der Unmoral« (Peter von Matt), die unbedingt vitale, gewissermaßen lebens- und liebeslustige Gier auf alles, was spürbare, auch deutlich unbequeme Abweichungen von alltäglichen Erfahrungen darstellt. Auch der Zusammenhang zwischen Liebe und Hass, Liebe und Schmerz, zwischen Liebe und Schrecken findet in der Mediennutzung seine Entsprechung. Erklärt werden muss also auch das Zusammenspiel von Liebe und Gewalt, die Gier nach dem Erleben von negativen Emotionen, die Angstlust, u.U. sogar das »Gute am Bösen«3; ich kann das nur andeuten. Um nicht missverstanden zu werden: Ich singe hier keineswegs ein fortlaufendes Loblied der Medien. Ich bestreite überhaupt nicht, dass die Liebeserfahrung im Zuge des Mediengebrauchs in mehrfach Hinsicht obszön werden kann. Die Popularität des Mediengebrauchs liegt in erster Linie darin, dass der Mediengebrauch als Liebeserfahrung die Grundkrise menschlichen Verstehens und menschlicher Verständigung für den Moment (und eigentlich immer nur für den Moment) vergessen lässt. Medien sind üblicherweise unsichtbar bzw. transparent: Das medial affizierte Bewusstsein kann in solchen Phasen seine eigene Beteiligung vergessen, kann sich paradoxerweise von der Last des Bewusstseins über das Bewusstsein befreien, kann verstärkt bewusstlose Bewusstseinsprozesse erreichen, kann das intellektuelle Bewusstsein für eine Zeitlang endlich mal wieder an der Garderobe des Welt- und Medientheaters abgeben. Eigentlich völlig entgegengesetzt zu der häufigen Behauptung, wer Medien nutze, entferne sich – mindestens in dieser Zeit – gerade vom Leben, machen wir Steigerungs-Erfahrungen zwar immer noch quasi ›real‹, immer noch ›vor Ort‹ (das soll gar nicht bestritten werden), aber noch häufiger und nicht selten sogar intensiver erst bei der Lektüre von Literatur, beim Filmbesuch, beim Schreiben, 3 | Vgl. Bernd Scheffer: Das Gute am Bösen: Teuflisch gute Kunst. In: Werner Faulstich (Hg.): Das Böse heute. Formen und Funktionen. München: Wilhelm Fink 2008, 257-270.
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am Computer usw. – mit der eigentümlichen Selbsttäuschung, zu meinen, dass wir erst jetzt ›richtig‹ leben, das Wichtigste erst jetzt wahrnehmen, erst jetzt erleben. Man freut sich, eigentlich maßlos, auf das Weiterlesen eines fesselndes Buches oder auf den Beginn eines Films, man verlässt das Kino nicht selten wie beschwingt, wie hypnotisiert, und findet dann nur noch besorgt, einigermaßen lustlos in die Welt außerhalb des Buches oder des Kinos zurück. Leben ist das Fortschreiten und Fortschreiben einer unausgesetzten Semiose. Menschen müssen, um zu leben, endlos Ziele suchen, ›kleine‹ und ›große‹ Ziele, sie müssen sie präzisieren, korrigieren und wieder verwerfen: aufgrund einer – jedoch nicht spezifizierten – Zieldrift, einer gewissermaßen leeren Zielorientierung im Prozess des Lebens selbst – basierend auf den vertrackten Grundbedingungen des Bewusstseins. Medien spezifizieren zwar gerade nicht selber schon die Ziele der jeweiligen Lebenssteigerung, doch bei dem unausgesetzt erforderlichen Durchspielen von Lebens- und Liebeszielen helfen die Medien – und sie sind darin konkurrenzlos und konkurrenzlos populär. Die Frage nach dem richtigen Leben, gewissermaßen gleichbedeutend mit der Frage nach dem richtigen Liebesleben, ist die einzige wirklich populäre Frage, und sie ist unlösbar und kann gerade deshalb nicht unterlassen werden. Im Zuge der Mediennutzung können wir – als eine Art von Probehandeln – unsere wichtigsten Lebensfragen eigenwillig, ›vertraulich‹, ›intim‹ (wie in der Liebe) durchspielen: In welcher Welt will ich leben? Wie kann ich persönlich leben? Wie soll mein/unser Leben sein bzw. wie soll/darf es keinesfalls werden? Menschen sind auch deshalb mit so immensem Aufwand hinter den Medien her, weil das, was die Medien kommunizieren, zwar (im wörtlichsten Sinn) alles Mögliche verspricht, es aber auch nie hält bzw. es gar nicht halten kann. MedienKommunikation kann gar nicht das halten, was sich das Bewusstsein verspricht, und Bewusstsein ist unfähig, das einzulösen, was Kommunikation, was Medienproduktion erwartet. Die Lebenssteigerungen der Mediennutzung kommen grundsätzlich an kein Ziel der Sättigung. Der Aufschub ist das zentrale Prinzip aller Mediendynamik. Wie auch immer: Freuden und Leiden des ständigen Begehrens machen Mediennutzung zur Passion (durchaus im doppelten Wortsinn von ›Passion‹, im Sinn von ›Leidenschaft‹ und ›Leiden‹). Und so kann man sagen: ›Zum Glück/Zum Unglück gibt es die Medien‹. Glück und Unglück – populär ist beides.
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Pop als System Markus Heidingsfelder
I Große Fortschritte hat die theoretische Auseinandersetzung mit dem Unschärfephänomen Pop in den letzten dreißig Jahren nicht gemacht.1 Wer sich mit der Geschichte der Pop-Forschung befasst, wird zwar zunächst mit einer außerordentlichen Komplexität des Gedankenmaterials konfrontiert, doch erzählt diese Geschichte zuletzt nur vom Prozess der permanenten Auflösung jener Gesichtspunkte, von denen sich die Forschung tragen lässt.2 Anstatt die ›Fehlurteile‹ früherer Forscher zu korrigieren und auf das von ihnen Übersehene aufmerksam zu machen, die Komplexität der unterschiedlichen Ansätze also erst zu reduzieren, um sie in einem zweiten Schritt durch Relativierungen und Präzisierungen wieder herzustellen – und so ebenfalls zu einem Moment der mit sich selbst beschäftigten Pop-Forschung zu werden –, verzichten wir deshalb im Folgenden auf die übliche Orientierung an Namen und Begriffen. An ihre Stelle setzen wir die Frage nach dem Beobachter: nach der Instanz, die Pop vollzieht. Dieser Beobachter, so die Annahme, ist Pop selbst. Anders als bei der alltäglichen Verwendung des Begriffs verstehen wir unter Beobachtung also keinen genuin psychischen Vorgang. Stattdessen begreifen wir sie als Einheit einer Operation, die sich einer Unterscheidung bedient, im Falle von Pop: der Unterscheidung von populär/elitär. Was immer Pop sonst noch sein mag und wie immer er sich vor anderen Aktivitäten auszeichnet, seine Operationen sind zunächst einmal Beobachtungen. Die Besonderheit besteht darin, dass Pop diese Beobachtungen in das Me1 | So einer, der es wissen muss: ›Pop-Papst‹ Diedrich Diederichsen. Vgl. Diederichsen: »Allein mit der Gesellschaft«, 322. Im Gegensatz zu Diederichsen beziehen wir diese Behauptung aber nicht nur auf die Wissenschaft, sondern auch auf die Formen der Selbstreflexion: darauf, wie Pop selbst über Pop kommuniziert. 2 | Gesichtspunkte, die vermeintlich im Gegenstand vorliegen, sich scheinbar aus der Sache selbst ergeben. Vgl. im Folgenden Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik, 301ff.
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dium der Musik einschreibt, und zwar so, dass sich die Beobachtungen verketten und eine dezidierte Operativität ausdifferenziert, eine Art Permanenz oder ›Weiterso‹, die als Pop-System begriffen werden kann.3 Dieses System ist durch selbstreferentielle Geschlossenheit gekennzeichnet, es ist also nicht ontologisch aufweisbar, auch nicht durch eine Phänomenologie, die danach fragt, wie uns Pop-Tatbestände – Songs, Stars, Konzerte usw. – gegeben sind. Aber wir können es im Blick auf bestimmte Merkmale und Strukturen als Problemlösung begreifen. Das Problem ist die gesellschaftliche ›All-Kontingenz‹, die in allen Bereichen der Gesellschaft Strukturen begünstigt, die das Risiko ungehemmter Alternativität eindämmen, und die Lösung, die Pop hierfür anzubieten hat, ist die Blockade von Reflexion.4 Die funktionale Ausdifferenzierung des Systems kommt durch Etablierung einer eigenen Form autopoietischer Reproduktion zustande, dem Anschluss von Songs an Songs. Durch das Medium ist die Autopoiesis von Pop an der Funktion orientiert, indem sie die Operationen des Systems anhand der Unterscheidung Hit oder Flop codiert: entweder ein Song ist ein Hit oder nicht. Der take off des Systems wird gegen Mitte der 50er Jahre durch das Programm des Rock’n’Roll und eine hohe Ressourcenkonzentration auf der Seite der Jugend möglich. Spätestens seit den 70er Jahren kann man auch von einer Pop-Theorie sprechen, die ihren Gegenstand – allerdings ohne diesen Begriff zu verwenden – als System vor sich sieht und versucht, dessen Operationsweise und Strukturen als Einheit zu erfassen. Das symbiotische Symbol des Systems ist Jugend, der Krisenfall ist bis heute das Alter. Die organisatorische Sicherheit garantieren zunächst vor allem die Plattenfirmen und Radiosender, in den letzten Jahren mehr und mehr die Konzertagenturen. Kopplungsfavoriten sind die Wirtschaft und die Massenmedien, neuer Mitspieler ist seit einiger Zeit das Internet.5 Unter Rückgriff auf diese Formen, so die Idee, realisiert sich die Pop-Form als Teilsystem – sekundäres Primärsystem – innerhalb der Gesamtgesellschaft.6 3 | Diese hier in sehr gedrängter Form wiedergegebenen Überlegungen habe ich an anderer Stelle ausführlicher vorgestellt. Siehe Heidingsfelder: System Pop. 4 | Die Funktion ist allerdings kein Antriebsfaktor, der Pop-Musiker beim Komponieren und Produzieren instruiert oder Pop-Hörer zu bestimmten Songs greifen lässt. Sie bezeichnet keine dem System immanente Notwendigkeit, sondern lediglich die Möglichkeit, ein Problem zu konstruieren, als dessen Lösung Pop gedeutet werden kann. Was geschieht, geschieht: man macht »unkomplizierten Heavy-Rock mit energischem Bläsersatz« (Lake), schwimmt »gegen die düsteren, teutonischen Strömungen« an (Der Plan) oder hört immer wieder Live Forever (wie Benjamin von Stuckrad-Barre in Soloalbum). Nichts von all dem erfüllt die Funktion, auch wenn sie durchaus als evolutionärer Attraktor dienen und die Selektion bestimmter Strukturen befördern kann. Vgl. Luhmann: Soziale Systeme, 408 und Fuchs: Das System »Terror«, 27ff. und Fuchs: Das System Selbst, 20ff. 5 | Das wir mit Peter Fuchs als neues Sozialsystem begreifen. Vgl. ebd., 259ff. 6 | Zum Begriff des sekundären Funktions- bzw. Primärsystems, vgl. Fuchs und Schneider: »Das Hauptmann von Köpenick-Syndrom«. Siehe auch Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, 633.
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Im Folgenden soll die Möglichkeit geprüft werden, die Unterscheidung noch etwas schärfer zu stellen. Hat Pop noch andere von Luhmann angeführte Strukturmerkmale realisiert, die als für Funktionssysteme typisch gelten? Ich beschränke mich aus Platzgründen auf vier weitere Kriterien: Zweitcode, Nebencode, Kontingenzformel und Null-Methodologie.
II Ist jemand, der gute Bücher schreibt, ein guter Sänger, ist ein guter Sänger automatisch ein guter Prediger, ein guter Prediger ein guter Geschäftsmann, ein guter Geschäftsmann ein guter Fußballer? Systemisch kann das zwar nicht gewährleistet werden, doch bestimmte Verleimungen haben sich als hilfreich erwiesen. Sie etablieren sich als Zweit- und Nebencodes des Systems.7 Bei der Zweitcodierung wird der positive Wert erneut dupliziert, der Erstcode ein zweites Mal codiert, weshalb man auch sagen kann: der Zweitcode ist der Code des Codes. Die Zweitcodierung muss daher innerhalb desselben Mediums stattfinden, das durch den Erstcode binarisiert wird. Der Primärcode wird nicht substituiert, sondern mit einer zusätzlichen Duplikationsmöglichkeit ausgestattet. Da der Sekundärcode ebenfalls auf dem Hit-Code aufbaut, muss er – anders als der Nebencode – die Funktionsfähigkeit des Erstcodes voraussetzen. Es kann also nicht um eine alternative Totalisierungsleistung gehen. So kann Zahlung/Nicht-Zahlung als Zweitcode von Haben/Nicht-Haben begriffen werden. Für das Medium der Politik schlägt Luhmann als Zweitcodes Regierung/Opposition oder progressiv/konservativ vor. Das Medium wird recodiert, der Präferenzwert verdoppelt: Machtausübung ist nur als entweder progressive oder konservative differenzierbar. Ein möglicher Zweitcode des Pop-Systems könnte Authentizität bzw. realness sein. Pop ist entweder als authentischer oder als nicht-authentischer möglich: als real oder fake. Zur ersten Differenz kommt eine zweite hinzu. Der Primärcode würde durch real/fake respezifiziert: »I consider what I say as real. This is the way the world I come from is. This is the way I talk and I live. This is the only way I can be.«8 Die Primärcodierung wird ergänzt durch ein retrospektives Verfahren, der positive Wert Hit wird erneut dupliziert. Ein Hit ist dann entweder authentisch oder er ist nicht-authentisch: »glatt und verlogen auf eine kalkulierte Art«.9 Für diese Annahme spricht, dass den take off des Systems eine als authentisch beobachtete Popmusik möglich gemacht hat. Sie erhielt ihren Wert durch 7 | Vgl. ebd., 367. 8 | Ice T über den Gangsta Rap. Ice-T und Siegmund: The Ice Opinion, 97. 9 | »Meiner Ansicht nach machte keiner auf der gesamten Musikszene irgendwas, das der Realität auch nur nahe kam, außer uns. Wir machten was ganz Besonderes, das sehr, sehr real war. Es war nicht glatt und verlogen auf eine kalkulierte Art.« Lou Reed, zitiert nach Bockris und Malanga: Up-Tight, 28.
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als »echt« und »glaubwürdig« lizensierte Weisen des Vortrags (Schreien, Zucken, Dilettantismus). Erst Authentizität erlaubt es, Pop von Pre-Pop, dem verlogenen, schmierigen Pop für »Muttis und Ladenmädchen«, zu unterscheiden, einer Musik, die »keinerlei Beziehungen zum wirklichen Leben besaß«.10 Die alternative Codierung ist in der Semantik des Systems vorbereitet, die als eine Art gewolltes Grundlagenwissen für Sicherheiten sorgt und vom unwirklichen Pop – zunächst in Form der »teen idols« – nichts wissen will, ja: ihn als Bedrohung erfährt, als »the greatest threat to rock’s survival« (Unterberger). Die dramatische Wortwahl wird verständlich, denn tatsächlich stand die Fortsetzung des Systems auf dem Spiel: die Möglichkeit, sich gegenüber der nur-populären Musik abzugrenzen. »Whimpy, overwhelmingly bland and safe, their connection to rock’n’roll was often tenuous, and their commercial ascendancy has even been discussed as a conspiracy by the music business and sundry other moral authorities to rob rock’n’roll of its vitality.«11 Das erste Pop-Programm, der Rock’n’Roll, richtete sich im gleichen Moment gegen den pompösen Stil der Crooner und Entertainer des »Showbiz« wie gegen die von diesem Business aufgestellten Regeln. Die Rock’n’Roll-Front bot ein Ersatzkonzept an, das den Teenagern offenbar zusagte: das der Authentizität. Es sieht vor, dass ein Rock-Star in Übereinstimmung mit sich selbst steht. Er ist spontan, sein Output ungesucht: »It’s always best to just let out what’s in you.«12 Die Wiedereinführung der romantischen Ballade, der »Sweetness« des PrePop in den Post-Rock’n’Roll-Programmen macht den Zweitcode nötig. Dank ihm kann auch der eigentlich zunächst auf die Außenseite verbannte professionelle Songwriter-Pop der Brill Building-Autoren zum System dazugerechnet werden. Allerdings immer mit einer gewissen Einschränkung: die Musik gehört dazu – es geht um Hits – aber diese Hits sind nicht authentisch oder »roh«. »While it wasn’t the rawest or most artistically expressive pop music, few forms of rock were as affecting, romantic, and tuneful.«13 Der Bastard aus Tin Pan Alley und R&B kann im System dann retrospektiv als Link zwischen Elvis und den Beatles erscheinen. Vor den »Boy Bands« der British Invasion, die den Pop-Begriff rehabilitieren, sind die Girl Groups der Nach-Rock’n’Roll-Ära, die mit Songs wie Will You Love Me Tomorrow nicht nur den Wiedereintritt der romantisch-verklärten Ballade zu Systembedingungen vollziehen, sondern auch entsprechende Selektionsmöglichkeiten freischalten. Die Zweitcodierung erfüllt somit einen doppelten Zweck. Sie erhöht trotz der Variabilität der Formen einerseits die Sicherheit der Zuordnung und ermöglicht 10 | Davies: Hard Day’s Night, 38. 11 | Erlewine et al.: All Music Guide to Rock, 1105. 12 | Bono Vox in Barry Devlins Unforgettable Fire Documentary. 13 | Erlewine et al.: All Music Guide to Rock, 1109. Man beachte das für das System typische Zusammenwerfen von Pop und Rock in einem Satz. Beide Begriffe ließen sich ohne weiteres vertauschen: While it wasn’t the most artistically expressive rock music, few forms of pop …
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im gleichen Moment den Fortsatz des Systems, indem es sich gegen andere populäre Musikbereiche abgrenzen kann, in denen Authentizität kein derart entscheidender Faktor ist. Dass wir es nicht mit dem Erstcode zu tun haben, zeigt sich auch daran, dass auch als nicht-authentisch beobachtete Bands dem System zugerechnet werden. Hätte das Pop-System sich auf den Zweitcode verlassen müssen, wäre es vermutlich nie zur Systembildung gekommen, denn wie »real« ist Elvis? Auch realness bzw. Authentizität ist aber keine Eigenschaft, sie wird beobachtet, und zwar als Differenz von Identität/Differenz in Blickrichtung auf Identität. Es handelt sich um eine Beobachtungsform, die einen bestimmten Innenzustand unterstellt. Authentisch ist man, wenn das, was man tut, dem Gefühlten, Gedachten entspricht. Innen und außen bleiben zwar different, aber Authentizität erlaubt es, die Identität der Differenz zu denken. Man kann dann vom Tonfall, von der Mitteilung auf das schließen, was tatsächlich und de facto ›drinnen‹ vorliegt: I once knew a man, very talented guy He’d sing for the people and people would cry They knew that his songs came from deep down inside You could hear it in his voice and see it in his eyes14
So wie die Echtheit eines Kunstwerks anhand chemischer Kriterien festgestellt werden kann, wird die Echtheit eines Songs anhand biochemischer Kriterien überprüft. Es ist der Körper – die eigene Wahrnehmung eingeschlossen – der hier als sicherer Indikator für Gesinnung dient. Echtheit fühlt man oder fühlt man nicht: »If it looks good, you’ll see it; if it sounds good, you’ll hear it, if it’s marketed right, you’ll buy it; but ... if it’s real, you’ll feel it.«15 Erst wenn Zweifel aufkommen, also Authentizität zur Debatte steht, wird auf die Beobachtungsebene 2. Ordnung gewechselt. Das, was die Darbietung gelingen lässt, muss also latent gehalten werden, denn eine Performance, die als authentische gelingt, entfaltet eine Paradoxie.16 Der authentische Musiker soll sich in seinen Entscheidungen für dieses Riff, diese Zeile ganz bei sich selbst wissen, was auch heißt: er soll nicht nachdenken. Natürlich denkt er immer schon über das Beobachtetwerden nach, weil er für ein Beobachtetwerden produziert, aber solange er sich bei der Herstellung von SongProdukten nicht von wirtschaftlichen oder politischen Forderungen oder von Gedanken an Ruhm abhängig macht, bleibt er real, so die Vorstellung – auch als »Great Pretender«: »You have to believe in the songs. You can write about anything as long as it’s true for you. U2 writes about politics and Prince writes about sex. The two things are real for them. The song either rings true or it doesn’t ring true. A false love song is as false as a false tune about apartheid.«17 14 | The Eagles, My Man. 15 | Kid Rock, Cocky-Booklet. 16 | Wunderbar auf den Punkt gebracht in Act Naturally von den Beatles. 17 | Huey Lewis, zitiert nach DeMain: Behind the Muse, 186.
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Erst spät kommt in den Blick, dass es einen systeminduzierten (und daher sozialen) Zwang zur Authentizität gibt. Nicht-Authentizität – »faking it«, »pretending« – ist ein Verbrechen: »The fact is, I can’t fool you, any one of you. The worst crime I can think of would be to rip people off by faking it and pretending as if I’m having 100% fun«, so Kurt Cobain in seinem Abschiedsbrief.18 Paradoxerweise wird im gleichen Atemzug Freddie Mercury – »The Great Pretender« – um seine Fähigkeit des Prätendierens beneidet, denn dieser fühlt, im Gegensatz zu Cobain, keine Schuld: »I feel guilty beyond words about these things.« Anders als Cobain macht Mercury die Wahl des Programms das Zelebrieren eines »Faking-it« möglich. Das ist in Rock-Programmen wie Punk oder Grunge aber keine Option. Hier spielt man die »Ich-spiele-keine-Rolle«-Rolle, wird Selbstidentität inszeniert. Authentizität lässt sich somit als Variabilität der Erstcodierung fassen, indem der Code sich in Programmform wiederfindet. Mit dem Zweitcode wird die Unterscheidung zwischen Code und Programm aber nicht einfach eingezogen.19 Der Binarismus von Hit/Flop bleibt bestehen, er ist gegen Deformierungen immun; Wert und Gegenwert sind zu stark verknüpft, als dass die Forderung nach Authentizität dem etwas anhaben könnte oder der Vorwurf des Fakens den Erfolg eines Songs beeinträchtigen könnte. Die einzige Möglichkeit, das Hit-Sein in Frage zu stellen, ist: den Hit als nicht-authentisch zu diffamieren. Die Zweitcodierung erscheint als eine Art Supplement, das den Code mit semantischen Komponenten schon auf der operativen Ebene anreichert – aber erst im Nachhinein, nachdem seine Leere oder Blindheit bereits unterschieden hat. Bestimmte Semantiken werden systemintern codiert und überlagern die Hit/Flop-Codierung, kreuzen sie. Zwar sind alle Programme auf den Erstcode spezialisiert, aber die mit ihnen verbundenen Semantiken variieren. Die »ideology of rock« (Frith) etwa ist eine andere als die Ideologie der romantischen Ballade, des »Teenybop«, des Bubblegum oder des Synthie-Pop. Wir können den Zweitcode deshalb auch als semantischen Code begreifen. Er steht orthogonal zum Codewert und wird auf der Programmebene wirksam, indem die Programme bestimmen, wie er angewandt werden soll.
III Im Gegensatz zum Zweitcode hat Luhmann keinen systematischen Begriff der Nebencodierung entwickelt. Während der Zweitcode den positiven Wert dupliziert, die Grenzziehung im gleichen Medium vornimmt und die Funktionsfähigkeit des Primärcodes voraussetzt, springt der Nebencode nur ein, wenn der Erstcode nicht funktioniert. Wenn es um Funktionsmängel geht, müsste man also zunächst überprüfen, ob das System hier und da Probleme mit der Codierung von Hit-Flop be-
18 | Cobain, zitiert nach . 19 | Vgl. Stäheli: »Der Code als leerer Signifikant?«, 273.
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kommt. Könnte es sein, dass sich viele Kommunikationen nicht auf diesen Code beziehen lassen? Leidet der Hauptcode unter »Funktionsmängeln«? Das scheint tatsächlich der Fall zu sein. Nicht immer lässt sich ohne weiteres erkennen, ob man es mit einem Hit bzw. Flop zu tun hat, ob also eine Kommunikation dem Pop-System zuzuordnen ist oder nicht. Dann kann ein Symbol wie Ruhm den Song kreuzcodieren und zusätzliche Orientierung ermöglichen, die Funktionsfähigkeit des Erstcodes abstützen.20 Wir sprechen hier in Anlehnung an Goffman vom fame effect.21 Die Markierung von Ruhm als Nebencode des Systems ist dabei auf die Imposanz des Phänomens zurückzuführen. Der Gesamtbereich des Mediums ist, mit einem Ausdruck von Peter Fuchs: ver-famet. Ohne Frage treten vergleichbare Strategien auch in anderen Systemen auf, aber fast immer mit anderen Sprachregelungen: Reputation, politische Prominenz etc., worunter fast immer die massenmediale Präsenz verstanden wird.22 Ruhm wird im Pop an bestimmte Eigennamen verliehen, »also an semantische Artefakte mit eindeutiger, rigider Referenz«.23 Es ist diese Namhaftigkeit, die eine weite Offenheit für popspezifische Konditionierungen erlaubt. Genau hierin besteht die Eignung von Ruhm als Nebencode des Systems. Die Rock’n’Roll Hall of Fame nimmt keine Innovationen, sondern Personen auf, die für Innovationen verantwortlich gemacht werden. Auch wenn sich das Museum als Verteilungsinstanz etabliert hat, so wird die Aufnahme doch als Anerkennung bereits erworbenen Ruhms stilisiert. Nicht die Rock’n’Roll Hall of Fame verteilt ihn. Sie registriert ihn nur. Mit der Anerkennung von Ruhm wird so das Bedürfnis nach Kausalzurechnung in die Form eines Nebencodes des Pop-Mediums gebracht. Ein Mechanismus, der es ermöglicht, das, was Pop leistet, nach außen sichtbar zu machen und mit einer Offensichtlichkeit auszustatten, die Entstehungsbedingungen, Einflüsse und Abhängigkeiten mehr oder weniger verdeckt. Dabei wird das gesamte Medium – nicht nur ein Teilbereich, wie der Titel Rock’n’Roll Hall of Fame suggeriert – durch Ruhm strukturiert. Ob er richtig oder falsch zugewiesen wird, richtet sich 20 | Der passendere Begriff ist das englische fame. Im Deutschen hat Ruhm einen merkwürdigen Beigeschmack: man denkt eher an Feldherren denn an Pop-Stars. Bekanntheit klingt zu prosaisch, auch Prominenz fehlt der Glamour. Es verwundert daher kaum, dass sich unter fame in Longmans Dictionary of Contemporary English gleich zwei Beispielsätze finden, die auf Pop-Stars referieren (»Streisand first won fame as a singer before she became an actress«; »The Beatles were at the height of their fame«). Longman 1995, 496. 21 | Vgl. Luhmann: Schriften zu Kunst und Literatur, 142. 22 | Ein möglicher Einwand wäre, dass Ruhm eher als Medium fungiert. In diesem Sinne begreift Cornelia Koppetsch Prominenz als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium der Massenmedien. Vgl. Koppetsch »Öffentlichkeitseliten und der Wandel von Expertenkulturen.« Aber ist Prominenz wirklich in der Lage, massenmediale Kommunikation zu verwahrscheinlichen? 23 | Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, 247.
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nach den Pop-Leistungen, den Pop-Verdiensten. Hier geht es nicht allein um Hits oder Popularität, sondern vor allem um »Weiterentwicklungen«. Das zeigt sich unter anderem daran, dass viele berühmte Pop-Bands wie etwa The Velvet Underground in den Charts oft gar nicht auftauchen. So hat »diese gerade von den Kritikern gerne als wichtig bezeichnete Band in den USA-Single Charts keine einzige Notierung … Und auch in den amerikanischen LP-Charts konnte sich das erfolgreichste Album von Velvet Underground VU im Jahre 1985 gerade mal bis auf Platz 85 hochhangeln.«24 Auf der positiven Seite wird die Erstkommunikation von Neuem und künstlerische Integrität vermerkt, auf der negativen Seite das professionelle Immerweiter: man hat nichts Neues zu bieten, heißt Pat Boone oder Peter Kraus. Markiert wird besonders die positive Seite, die negative bleibt unmarkiert bzw. wird nur in bestimmten Zirkeln diskutiert. Dann kann gerade der Umstand, dass jemand keinen Hit gehabt hat, als Merkmal besonderer Leistung gelten. Lou Reed ist ein One-Hit-Wonder? »Aber der Erfolg baut auf einer langen, durchwegs mit künstlerischer Anerkennung verfolgten Karriere als Musiker und Sänger im Avantgarde-Bereich (auf).«25 Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass Intellektualität für das System nicht nur ein Problem darstellt, sondern auch eine wichtige Orientierungsfunktion übernimmt. Es kann sich aber nicht an der »Sache« orientieren – das würde das knappe Zeitbudget der Akteure überstrapazieren – sondern orientiert sich an der Person, die diese Sache verkörpert. Während das System normalerweise zwischen den Seiten flip-flopt (hit-flopt), ist der Übergang von einer Seite zur anderen hier kein plötzlicher Wechsel. Während es im Bereich des Primärcodes nur das harte Entweder/Oder gibt, erweist sich der Nebencode als weicher Code: Jemand ist mehr oder weniger berühmt.26 Die technische Effizienz des Primärcodes ermöglicht den schnellen, reibungslosen Wechsel zwischen zwei Seiten; einen Wechsel, der sich ohne große Reflexion vollzieht. Wenn das System diese umstandslose Transformation in einen Hit nicht ohne weiteres leisten kann, sinkt es zuletzt ins Medium Gesellschaft zurück. Der Nebencode weiß das zu verhindern. So ›weich‹ die Zweiwertigkeit auch sein mag, sie führt zu entsprechenden Übertreibungen bzw. Untertreibungen, die dann als Orientierungshilfe dienen.
24 | Laufenberg und Laufenberg: Frank Laufenbergs Rock- und Pop-Lexikon, 5. 25 | Hutter: »Pop: Kunst durch Markt«, 330. 26 | Was Krönig entsprechend kritisiert: Entweder ein Code sei ein Code, oder er sei keiner. Vgl. Krönig: Die Ökonomisierung der Gesellschaft, 24f. Anders Luhmann, der betont: auch der Analogcode kenne nur zwei Wertungsrichtungen. Vgl. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, 247. Ein kurzer Seitenblick in die Natur ist hier womöglich hilfreich: auch oben/unten, süß/sauer oder innen/außen können als Analogcodes begriffen werden. Eine entschiedene Zuordnung ist nicht immer möglich. Damit öffnet der Analogcode die harte, künstlich-klare Binarität des Codes für eine natürlich-diffuse – und für die Erkenntnis, dass ein Code zuletzt nichts anderes ist als eine Beobachtungsleistung.
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Denn seine Funktion liegt nicht allein in der Feststellung, wer es gewesen ist: Elvis oder Bob, die Beatles oder die Stones. Ruhm ist ein Steigerungsmechanismus, »der eine gewisse unverdiente Zutat zu dem beisteuert, was man verdienstvollerweise getan hat«.27 Er erleichtert so die Auswahl dessen, was zur Kenntnis genommen werden muss. Phil Collins, Eric Clapton, Sting ermöglichen eine Vorwegselektion nach dem Motto »einmal gut, immer gut«. Man muss sich nicht erst durch jeden einzelnen Titel, jede Neuveröffentlichung durchhören. Pop-Kommunikation kann Tempo aufnehmen, weil man bestimmte Dinge immer schon voraussetzt: »If you love Prince, and he has an album out, you’ll buy that album. You don’t wait to hear a song. You just buy Prince.«28 Es geht um denselben selbstreferentiellen Vorgang der Kondensierung von Aufmerksamkeit, der sich auch im Zusammenhang mit den Charts beobachten lässt.29 Die Betonung einzelner Personen erlaubt es aber nicht nur, den Überblick über die ›schreckliche Komplexität‹ des Systems zu behalten. Sie stellt auch sicher, dass der Code Hit/Flop mit dem Ruhmcode nicht verwechselt wird. Auf diese Weise erhöht das System seine Beweglichkeit und kann den Künstler oder Intellektuellen intern prozessieren. Gerade die Verschiedenheit der beiden Codes macht eine Verleimung möglich. Zwar gilt im Falle des Nebencodes: der Star selbst ist der Hit. Doch Ruhm ist weit davon entfernt, Hits garantieren zu können, er macht dem symbolisch generalisierten Medium im Pop-System keine Konkurrenz. Die Kommunikation über Ruhm muss denn auch immer mit gewissen Legitimationsschwierigkeiten rechnen, denn der Code ist ein analoger: »Ob ein Pop-Interpret für ein Lexikon wichtig oder unwichtig ist, entscheidet in den meisten auf dem Markt befindlichen Publikationen der Autor. So kann die subjektive Ansicht über Künstler interessant und amüsant sein, aber stets bleibt die Frage, weshalb der eine erwähnt wird und der andere nicht.«30 Hier zeigt sich die Effektivität von Nebencodierung und Zweitcodierung, die es möglich macht, Don van Vliet für seine »absurde Sensibilität« (Stereo Review) zu rühmen, für interdisziplinäre Aufmerksamkeitserfolge, eine »unholy alliance of free jazz, Delta blues, latter-day classical music and rock’n’roll« (Unterberger) – und zwar nicht obwohl, sondern weil Captain Beefheart niemals ein Hit gelang. »While he never came even remotely close to mainstream success, Beefheart’s impact was incalculable, and his fingerprints were all over punk, New
27 | Luhmann: Archimedes und wir, 23. Nick Hornby über die Beatles: »Sie haben alles aufgesogen und wurden zum Synonym der Sixties schlechthin, und alles, was in diesem außergewöhnlichen Jahrzehnt geschah, wird jetzt irgendwie ihnen angerechnet.« Hornby: 31 Songs, 83. Es wird ihnen angerechnet, weil es auf ihren Platten zu hören ist. 28 | Ice T und Siegmund: The Ice Opinion, 100. Und wenn man Fan ist, gelingt es einem auch, ein nicht so tolles Album der Lieblingsband zu schätzen: »The fact is, when the record comes out, if you’re a fan, you’ll find a way to like it.« Bangs: Psychotic Reactions, 372. 29 | Vgl. Salganik: »Experimental Study of Inequality and Unpredictability«. 30 | Laufenberg und Laufenberg: Frank Laufenbergs Rock- und Pop-Lexikon, 5.
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Wave, and post-rock.«31 Stattdessen ist die Neuheit seiner Vorschläge als Bedingung weiterer Neuerungen für die Zuschreibung von Ruhm verantwortlich. Ein Effekt, der in diesem wie in vielen anderen Fällen mit dem Begriff des Genies oder des Intellektuellen zusätzlich kultiviert werden kann. Nebencode und Zweitcode können sich so gegenseitig stützen.
IV Jeder Sinn ist Sinn, weil er als Selektion vor dem Hintergrund anderer, gerade in-aktueller Selektionsmöglichkeiten erscheint. Daraus folgt, dass schon im nächsten Moment der Sinnproduktion die gerade eben noch vorgenommene Selektion durch einen Aufgriff anderer Möglichkeiten aus dem Sinnhorizont negiert werden kann. Was bedeutet, dass in der kommunikativen Praxis von Pop damit gerechnet werden muss, »dass die Möglichkeit zu negieren als solche nicht negiert werden kann, aber in bestimmten Hinsichten doch laufend negiert werden muss«.32 Es wird dann nötig, Symbole oder Symbolgruppen zu finden, durch die solche Systeme Nicht-Negierbares einführen – Notwendigkeiten, Nichtfraglichkeiten, Letztgewissheiten, die nicht verhandelbar sind und dadurch die kommunikative Praxis von Pop instruieren: als nur so und nicht anders möglich. Diesem Zweck dient die Kontingenzformel.33 Sie bezeichnet einen Bezirk der Nicht-Negierbarkeit und minimiert das Risiko, das System mit zu viel Anschlusskontingenz zu überfordern. Sie de-arbitrarisiert die Systemoperationen und verhindert so ein Abdriften ins Beliebige, indem sie festlegt, was nicht im System kommuniziert werden kann.34 Verfügt auch Pop über eine solche Kontingenzformel, die eine interne Unbestreitbarkeit behauptet und Notwendigkeit, Möglichkeit und Unmöglichkeit so zusammenfügt, dass klar wird, welcher Sinn negiert werden muss, obwohl er de facto gar nicht negierbar ist? Welche Annahmen kann Pop nicht hinterfragen, ohne die Latenz der eigenen Strukturen zu berühren? Anders gefragt: Was ist im Pop
31 | Richie Unterberger in: Erlewine et al.: All Music Guide to Rock, 158. Interessant ist an einem Album wie Trout Mask Replica – die Nr. 1 von Colin Larkins »Brilliantly Unlistenable Classics« – nicht so sehr die Musik, sondern vor allem der Umstand, dass es andere Musiker mit Ruhmerwerbschancen ausstattet: David Byrne, Pere Ubu. Larkin, All Time Top 1000 Albums, 333. 32 | Luhmann: Funktion der Religion, 201. 33 | Vgl. ebd., 201ff. und Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, 470. 34 | Schließlich lässt sich alles gegenbeobachten, auch der im Pop-System kommunizierte Sinn. Der Code ist zu abstrakt, um garantieren zu können, dass sich auf der Programmebene des Systems nicht auch Un-Sinn durchsetzt: Pop-Sinn, der durch Pop gar nicht erfasst werden kann. Jede Sinnselektion ist also im Prinzip negierbar, dennoch behandelt Pop das Nicht-Negierbare als negiert.
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inkommunikabel? Was, wenn es denn kommuniziert werden könnte, würde das System mit Beliebigkeit konfrontieren, es ›entzaubern‹? Die Vermutung ist: nicht kommunizierbar wären im Blick auf Pop Kommunikationen, die mit der Nichtirritabilität der Akteure rechnen, also davon ausgehen, dass kein Song ›trifft‹: alle floppen. Pop geriete zur Absurdität, weil nichts mehr populär wäre, weil niemand mehr den Takt mit dem Fuß oder dem Körper markieren, niemand mehr »Ja! Ja! Ja!« (Dieter Bohlen) denken würde, sondern jeder nur: Nein, danke. Pop behandelt musikalische Irritabilität der Wahrnehmung im Sinne von »Feeling« als nicht-negierbar und referiert damit auf eine Tradition, die bis in die Antike zurückreicht: Orpheus vermochte nicht nur die Menschen, sondern auch die gesamte Natur und sogar die Götter mit seinem Saitenspiel zu bezaubern, so sehr ging es zu Herzen. Ein semantischer Bestand also, der hoch geeignet ist, die Feindimagination des Systems (Stichwort: ›Kopflastigkeit‹) mit entsprechenden Bildern auszustatten. Diese Irritabilität lässt sich durchdeklinieren auf die Körperbasis bis hin zu den neurophysiologischen Grundlagen der Musikrezeption. Es handelt sich um eine Formel, die sich geradezu aufdrängt. Man muss sie nur wegdenken und sähe sofort das System kollabieren. Schon der Code mit der Präferenz Hit weist darauf hin, genau wie das – symbolisch generalisierte – Medium selbst. Pop kann nicht anders als vorauszusetzen, dass Pop-Fans und Pop-Stars sich der Irrationalität des Musikgefühls hingeben, Musik fühlen wollen. In der Terminologie Kants könnte man von einem Pop-Imperativ sprechen, einem Sollen-Müssen, einer Absicherung gegen das Infragestellen: »Lass Deinen Verstand auf dem Bücherregal (wo er hingehört), wenn’s sein muss, fühl Dich ganz Du selbst und hör bloß nicht auf, bis Du nicht die Macht spürst (›feel the force‹), und Dich nicht ganz in der Musik verlierst (›lost in music‹) und die einzige mögliche Antwort auf die Frage: ›Can you feel it?‹ ›Ja.‹ lauten kann.«35 Wenn diese Irritabilität verneint wird, führt das zu erheblichen Schwierigkeiten, die systeminterne Kommunikation typenfest ablaufen zu lassen. Die fungierende Ontologie der Pop-Welt ist eine, in der man Musik fühlen und entsprechend handeln können muss. Es muss immer um ›Hits‹ gehen, um die Möglichkeit, zu treffen, zu ergreifen, zu faszinieren. Das kann den Prozess des Songwriting direkt beeinflussen: »Usually I sit down and I go until I’m trying to think. As soon as I start thinking I quit.«36 Der Popmusiker oder DJ darf sich bei der Produktion von Songs nicht den Kopf zerbrechen. Das System will es so: »Es kommt nicht auf die Zahl der Elemente an, sondern auf das Gefühl. Und das sagt dir, wann genug in einem Song passiert.«37 35 | Drummond und Cauty: Das Handbuch, viii. 36 | Neil Young, zitiert nach DeMain: Behind the Muse, 354. 37 | Pharrell Williams, zitiert nach Süddeutsche Zeitung 10.11.2005: 13. Die ungebrochene Präsenz solcher Vorstellungen zeigt sich in der Studie von Lucy Green, qualitativ durchgeführt mit 14 Rockmusikern zwischen 15 und 50 Jahren. Deren Aussagen zur Wertschätzung für andere Musiker fasst sie wie folgt zusammen: »The values which they place upon
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Pop behandelt Musikgefühl als nicht negierbar, im Sinne David Humes: »All sentiment is right«. Genau diese Nicht-Negierbarkeit blockiert Kontingenz, blockiert Reflexion: »Folgt einfach euren Instinkten und Gefühlen.«38 Denn Reflexion setzt, wenn sie sich auf das operative Dual des Systems bezieht, im selben Moment die Kontingenzformel ›musikalische Gleichgültigkeit‹ durch Bestimmungsversuche kontingent. Was einen Hit ausmacht, darf nicht selbst begrifflich fixiert werden können, weil es dann negierbar wäre. Markiert wird ein inviolate level, das – horizonthaft genommen – immer signalisiert, dass im Zentrum des Systems Feeling steht, die Unbestreitbarkeit des Musikgefühls, mithin alle Kontingenz abweisbar ist. Kein Popsong kommt ohne die Unterstellung des »Mit-Gefühls« aus, auch wenn dieses Gefühl unterschiedliche Formen bzw. Grade der Involviertheit annehmen kann. Dieses Gefühl wird in der Kontingenzformel faktisch symbolisiert, die zugleich mit der Ausdifferenzierung des Pop-Systems entsteht. Das Medium muss verständlich und plausibel machen, dass in bestimmter Weise erlebt und gehandelt wird, obwohl – bzw. gerade weil – auch anderes möglich ist: die Beobachtung von Musik.
V Eine ähnliche Ausschlusstechnik ist gemeint, wenn von der Null-Methodologie gesprochen wird.39 Hier geht es darum, dass das Medium Popmusik universell einsetzbar und anwendbar sein muss und deshalb Symbole dafür benötigt, dass auch dabei etwas ausgeschlossen wird: das, was im System vorkommt und bearbeitet werden muss, aber nicht vorkommen darf und nicht bearbeitet werden kann. Soll das Medium operativ geschlossen fungieren, muss es über die Möglichkeit verfügen, das, was es ausschließt, systemintern zu symbolisieren und damit: einzuschließen. Im Zentrum steht die Symbolisierung einer das System ermöglichenden Leerstelle: eine signifikante Neutralität, die der Null in der Arithmetik entspricht. Geld ist knapp – weshalb im Wirtschaftssystem nicht-knappes Geld zur Verfügung gestellt wird. Das nicht-knappe Geld wird in Form von internen Referenzen – durch den Kredit der Zentralbank – symbolisiert. Das Wirtschaftssystem schafft sich auf diese Weise die Möglichkeit des Re-Embedding, um durch die Selektivität des Mediencodes – Zahlung/Nicht-Zahlung – nicht blockiert zu werden. Auch das Medium der Politik arbeitet mit dem Wiedereinschluss des Ausgeschlossenen. Hier geht es darum, die Antizipation von Gehorsam im Hinblick auf einen möglimusicianship fall into two areas. Here they respect technical proficiency but their highest accolades are reserved for the ability to play with ›feel‹.« Green: How Popular Musicians Learn, 124. 38 | Cyril Etienne aka DJ Deep, zitiert nach Niemczyk und Schmidt: Das DJ-Handbuch, 144. 39 | Vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, 386f.
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chen Einsatz von Machtmitteln zu erzielen, ohne dass es zum Einsatz dieser Mittel kommt. Das Symbol Macht muss »ungefähr« funktionieren, soll Macht funktionieren. »Macht beruht, verkürzt gesagt, auf Selbstantizipation; also auf einem System, das sich in seinen rekursiven Operationen selbst voraussetzt.«40 Die Politik sollte sich daher nicht zur Machtanwendung hinreißen lassen und den Schießbefehl möglichst vermeiden. Ähnlich das Intimsystem: würde der Systemanforderung der reziproken Komplettbetreuung, der Kommunikation wechselseitiger Höchstrelevanz in einem fort entsprochen, müsste man nicht lange auf seinen Zusammenbruch warten. Im Alltag hängt der Himmel nun einmal nicht voller Geigen. Das System hat keine andere Wahl, als Routinen zu entwickeln, mit diesem Alltag umzugehen, ohne dass die Liebe in Frage gestellt wird. Die Nullmethodik macht es möglich. Dank ihr ist das System ist in der Lage, triviale Phasen zu überbrücken. Auch das gemeinsame Aushalten des Alltags ist dann: Liebe. Die Null im Erziehungssystem ist – folgt man Dirk Baecker – Dummheit. Auf diese Weise kann das System die Nicht-Erziehbarkeit intern verkörpern, also einschließen, obwohl Dummheit ausgeschlossen ist. Welcher Nullmethodik bedient sich Pop? Zwei Fragen müssen geklärt werden, um die Frage beantworten zu können. Die erste fragt nach der Funktion des Systems: Was schließt die Funktionsbedienung aus, und wie kann das, was sie ausschließt, eingeschlossen, wie kann »Unpop« dennoch intern symbolisiert werden? Die zweite Frage lautet: Was wird durch die Pop-Differenz ausgeschlossen, und wie kann das, was sich auf der Außenseite der Form befindet, intern berücksichtigt werden? Wenden wir uns zunächst der ersten Frage zu. Weil Pop die Funktion der Reflexionsblockade bedient, ist das Medium Popmusik universell verwendbar und einsetzbar. Was diese Bedienung der Funktion ausschließt, ist die mangelnde Resonanzfähigkeit. Das System findet die musikalische Irritabilität, das Fühlenkönnen von Musik nicht in ausreichendem Maße vor. Jemand ist entweder gleichgültig, kann nicht oder will sich nicht durch die Wahrnehmung eines Pop-Songs irritieren lassen, leistet Widerstand, zum Beispiel, weil er sich von der Musik beleidigt fühlt: »Ein Affront! Man behandelt mich wie den Erstbesten, lädt mich ein, auf elementare, primitive Stufen der Lust zu regredieren«. Adorno wäre die Null des Systems, die personifizierte Weigerung, mitzuschwingen, die Insistenz auf Resistenz. Popmusik ist solchen Hörern schlicht ›zu dumm‹. Man könnte dann sagen, dass die Pop-Resistenz auf Grund mangelnder musikalischer Irritabilität, mangelnder Bereitschaft, Musik zu fühlen, sich »Herztönen« (Adorno) zu überlassen, etwas ist, was Pop nicht bearbeiten, aber auch nicht einfach ignorieren kann. Das zwingt Pop zu einer strategischen Einstellung, die unter anderem dazu führt, dass der ausgeschlossene Anspruch eingeschlossen wird: »Zur Pop-Musik etwa gehören dann auch ausgesprochen unpopuläre hochkomplexe, nur von wenigen Spezialisten goutierte Produktionen von Van Dyke Parks, John Zorn, Merzbow 40 | Luhmann: Organisation und Entscheidung, 28.
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oder der No Neck Blues-Band41 oder Gruppen wie Harpers Bizarre, die eine Art Pop-Kammermusik realisieren: »verschroben, idiosynkratisch, elitär, inzestuös« (Detlef Diederichsen). Damit ist zugleich die zweite Frage beantwortet, wie das, was sich auf der Außenseite der Form befindet, was also nicht einfach hinausgeworfen werden kann, interne Berücksichtigung findet: das Elitäre. Indem man Emotionalität ironisiert und karikiert (Frank Zappa, Bonzo Dog Doo Dah Band), in der Form von ›Gefühlskälte‹ (Kraftwerk, Intelligent Techno), als musikalische Komplexität (Yes, King Crimson, Steely Dan, Jazz-Rock) oder als Intellektualität: »Bob freed your mind the way Elvis freed your body.«42 Was auf den Alben dieser Interpreten erklingt, sind keine Songs im Popüblichen. Man arrangiert Songs zu Suiten und ändert die Schönheit der Melodie: »until it sounds just like a symphony«. Eine passende Rhetorik musste nachentwickelt werden. Man könnte fast sagen, dass das System eine Technik entwickelt hat, an sich selbst zu parasitieren. Es gewinnt Struktur durch Reflexions- und Ordnungsgewinne im Bereich dessen, was durch die Kontingenzformel ausgeschlossen ist, in der Zone der anspruchsvollen, schwierigen, zu beobachtenden, intellektuellen Musik, die unter Programmbezeichnungen wie Progressive Rock oder Clicks & Cuts in das System wieder eintritt. Das ›Schillernde‹ der Popmusik, viele ihrer Versuche, die eigene Seriosität in den Vordergrund zu stellen, ihre Durchdachtheit oder Cleverness, wären darauf bezogene, systembedingte Effekte. Selbst die Kreiszahl π lässt sich dann in den Reproduktionszusammenhang des Systems integrieren: »Es ist sicherlich phänomenal, dass man Kate Bush an den Lippen hängt, wenn sie die Nachkommastellen von Pi in das Mikrophon säuselt oder – was ich noch genialer finde – das Wort Waschmaschine.«43 Eine Sängerin wie Kate Bush »enthuscht der Pop- und Rockrealität auf ihre vielschichtige Weise« (Ingeborg Schober) – und bleibt doch ein Teil derselben. Die Nullmethodik darf dabei keineswegs als Freigabe von Beliebigkeit, als Zulassung externer – etwa künstlerischer – Einflüsse verstanden werden. Was jeweils möglich ist, hängt dann von der Selbstreflexion des Systems in seiner konkreten historischen Lage ab. Anfang der 60er Jahre wäre John Lennons Soundcollage Revolution 9 genauso undenkbar gewesen wie eine mathematische Konstante als Songtitel. Aber wie kann das, was Pop typisch ausgrenzt, eingeklammert, als Ressource genutzt werden? Indem Pop elitär ist, ohne elitär zu sein. Das System darf – wie die Politik – nur drohen. Meldet es Vollzug, hat es sich damit auch selbst beendet. Pi ist keine rationale Zahl – und auch ein Pop-Song über Pi ist alles andere als rational. Was immer im System geschieht, erfolgt zu den Bedingungen des Systems. Freiheit kann auch hier nur heißen: unter Bedingungen setzen. Pop-Resistenz ist im System nicht kommunizierbar, es sei denn in Form von Pop – als ein »We 41 | Diederichsen: »Allein mit der Gesellschaft«, 325. 42 | Bruce Springsteen, zitiert nach Heylin: Dylan, 422. 43 | Vgl. .
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are so bad-ass, we’re gonna play some shit you don’t understand and then we’ll launch it to you!44 Pop als anspruchsvoller, intellektueller, elitärer erfordert somit eine ständige Reflexion des Nichtgebrauchs von Anspruch, ein ständiges Balancieren zwischen Zeigen von Anspruch und Vermeiden des Vollzugs: »Getting things sophisticated and simple at the same time.«45 Wenn diese Balance gelingt, ist die Reaktion der Hörer nicht etwa andächtige Stille, sondern andächtige Begeisterung, ein zerstreutes Sich-Sammeln: Warte mal, das haut dir gleich voll den Schalter raus .… Unfassbarer Drummer .… Jetzt dieser erste Teil, sehr Tschaikowski-mäßig .… Das ist der B-Teil, sehr toll. Großartige Melodie .… Dieser Teil ist SO wunderschön. Am Ende spielt Rick Wakeman Kirchenorgel, pass auf .… Die Sounds sind super. Gleich kommt’s. Mann, die brauchen immer ewig, diese Prog-RockTypen .… Crazy .… Und jetzt bläst er alles raus in die verdammte Stratosphä .… Ah, noch nicht .… Wow. Wow.46
Die erwähnte Gleichzeitigkeit von Zeigen und Vermeiden äußert sich im sogenannten Progressive Rock unter anderem durch lange und virtuose Instrumentalteile, surreale oder politische Texte, Modulationen zwischen oft ungewohnten Tonarten und die Verwendung von in herkömmlicher Rockmusik als dissonant beobachteter Intervalle (große Septime, Sekunde, der ›Teufelsakkord‹ Tritonus etc.), vor allem aber durch den Einbau ungerader Takte (5er, 7er usw.). Ein Titel wie Infinite Space von Emerson, Lake & Palmer wechselt vom 7/4-Takt zu zwei Takten im 3/4-Takt und einem Takt im 4/4-Rhythmus, bevor er wieder in das Anfangsmetrum zurückkehrt; ein Verzicht auf predictability, die ein Mitschwingen zugleich ermöglicht (es handelt sich um Rhythmen) und im gleichen Moment ausbremst, ein Balancieren zwischen einem Zeigen des Ausgeschlossenen und dem Vermeiden seines Vollzugs. Rock ist dann gleichsam »magnificently wretched« (Colin Larkin) oder »hinreißend kompliziert« (Thomas Steinfeld). Im Falle von Steely Dan wirken komplexe Jazz-Harmonien oft wie simple Pop-Harmonien, verwandeln sich »bis ins Feinste ausgearbeitete Triolen« und die enorme technische, kompositorische und spielerische Anstrengung, der ausstudierte Charakter des Stücks in »reine Musikalität«: der Erdbeerlutscher wird mit Ammoniak gefüllt.47 Auch die Kälte und Präzision einer Band wie Kraftwerk, die – mit Hermann Schmitz zu sprechen – »eigentümliche Magerkeit« ihrer Klänge tritt als Lösung dieses Kommunikationsproblems an. Es ist dann gerade die leibliche Charakterlosigkeit dieser Algo-Rhythmen, ihre »Stille«, als eine Geradheit der Linien und Flächen, die hier
44 | Ira Elliott von Nada Surf über Close To The Edge von Yes, Musikexpress Juli 2008, 52. 45 | Paul Simon, zitiert nach DeMain: Behind the Muse, 118. 46 | Ira Elliott von Nada Surf über Close To The Edge von Yes, Musikexpress Juli 2008, 52. 47 | So der Titel eines Artikels von Thomas Steinfeld über Steely Dan, Süddeutsche Zeitung, 16.7.2007, 12.
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für besondere Genüsse sorgt.48 Kommuniziert wird das Gleichmaß und die Symmetrie einer Welt, eine exactness, die ohne emotionale Instabilitäten auskommt. Dann ist zuletzt sogar die Simulation von Rock-Rhythmen möglich, die einem den Schweiß ersparen (»Schaffel«). Wer Emotionen aus dem Weg gehen und dennoch Popmusik hören möchte, findet hier eine Alternative, kann sich einem abstrakten Weich-Hart hingeben, ohne mit Tolstoi befürchten zu müssen, dass die Musik mit einem macht, was sie will. Der körperlose, leere Klang einerseits, der Verzicht auf das übliche gestaltförmige Auf und Ab, das Sich-nicht-Aufdrängen eines Subjekts, das Fehlen eitler Aufgeregtheiten und »Nervenwinde« (Schmitz) wirkt befreiend. Elektronische Musik als Nullprogramm, das sich bei der Null im Bereich der Klänge bedient: dem Sinuston. Und auch hier wird nur gedroht, handelt es sich doch nie um reine Sinustöne. Der Einschluss des Ausschlusses wird nur symbolisiert. Im tatsächlichen Einsatz von elitärer, intellektueller Musik scheitert das System, weil sich dadurch nicht erreichen lässt, was Pop erreichen will: die Blockade von Reflexion. Auf diese Weise gelingt es, für die durch die Differenz populär/elitär ausgeschlossene Seite Lösungen zu finden, die Pop selbst dann möglich machen, wenn die elementaren Bedingungen für Pop ganz offensichtlich nicht erfüllt sind. Die meisten dieser Stücke lassen sich weder als Hits deklarieren, weil ihnen das fehlt, was einen Hit auszeichnet, sie können aber auch nicht als Flops verbucht werden, weil ihr Ziel ja nicht der Hit ist. Sie können Pop daher auch nicht gefährlich werden: »Aber der Beat ist eine Sache, die zu stark ist, eine zu große Anziehungskraft hat.«49 Die Nullmethodik des Pop simuliert so den Einschluss des Ausgeschlossenen und tut so, als sei das Elitäre durch Pop bearbeitbar.
VI Welches Fazit können wir aus den vorhergegangenen Überlegungen ziehen? Im Zentrum stand der Versuch, Pop beobachtungs- und systemtheoretisch zu rekonstruieren. Die Grundidee war, auf die übliche Orientierung an Worten bzw. Begriffen einerseits und berühmten Autoren andererseits zugunsten eines Verfahrens zu verzichten, das von der Komplexität bisheriger Forschung abstrahiert und Pop als Lösung eines bestimmten Problems deutet, des Problems der Kontingenz. Dieses Problem wirkt als strukturgenerierendes Moment eines Systems, dessen Operativität sich im Medium der Musik orientiert. Alle anderen (pop-kulturellen) Formen lassen sich in ihrer Morphogenese letztlich auf die Musik zurückführen.50 Das heißt nicht, dass diese Formen keine Rolle spielen, sondern nur, dass wir die Originalität, das Solitäre des Pop-Systems durch die Reproduktion der Differenz 48 | »Die Gerade ist ganz still«. Wölfflin: Italien und das deutsche Formgefühl, 148. 49 | Randy Newman, zitiert nach Detlef Diederichsen, Spex 3/1989, 66. 50 | Was sich auch historisch belegen lässt: Pop startet als Kurzwort für popular music.
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populär/elitär im Medium Musik begründen. Dieses System ist durch selbstreferentielle Geschlossenheit gekennzeichnet, und die ist nicht intervenierbar; sprich: das System kann auf die Irritationen der Umwelt nur in Form einer spezifischen Ereignisverkettung reagieren, dem Anschluss von Songs an Songs. Auf diese Weise konnten wir nicht nur zeigen, dass Pop alles andere ist als ein Unordentlichkeitsphänomen, sondern auch die bisher mit dem Begriff verbundene Pathetik kappen, die davon ausgeht, dass Pop »für den von Jugend- und Gegenkulturen ins Auge gefaßten Umbau der Welt« steht51; dass Pop ein Kampf ist, der dafür kämpft, »soziale Bedeutungen zu erzeugen, die im Interesse der Unterdrückten liegen und nicht jene sind, die von der herrschenden Ideologie bevorzugt werden«.52 Die Rede von einem Pop-System, das seinen gesellschaftlichen Aufgaben nachkommt, ist prosaischer. Der Systembegriff eignet sich nicht für Enthusiasmen und Vagheiten. Er erfordert eine begriffliche Genauigkeit, die es nicht erlaubt, über Pop als ein »Mehr« zu reden und sich weiterhin mit Bestimmungen wie »heterogenes Sammelsurium«53 oder »labile kulturelle Formation«54 zufriedenzugeben.55 Dabei ging es mir nicht so sehr darum, die Frage nach dem Systemcharakter von Pop nun positiv oder negativ zu beantworten, sondern vor allem darum, sie zu stellen – um eine heuristische Entscheidung also, ein Verfahren der Vorläufigkeit, das nicht auf den Sachverhalt verschließende Antworten pocht, sondern dem Zweck dient, ihn zu öffnen. Mit seiner Hilfe können wir in der theoretischen Praxis eine Variante produzieren, die dem Gegenstand bisher nicht zugemutet wurde.56 Aus der Reaktion auf diesen Versuch einer Einmischung kann man dann weitere Informationen über ihn gewinnen.57
51 | Vgl. Diederichsen: »Ist was Pop?«, 273. 52 | Fiske: Lesarten des Populären, 16. 53 | Diederichsen: »Ist was Pop?«, 273. 54 | Schäfer: »Pop und Literatur in Deutschland«, 14. 55 | Oder unter Pop im Anschluss an Urs Stäheli alle populären Kommunikationsformen zu verstehen, dem Phänomen also keinen Eigen-, sondern nur einen ›Fremdwert‹ zuzugestehen. Vgl. etwa Huck und Zorn, die zwar Pop, Populäres und Popkultur unterscheiden, den Unterschied aber nicht thematisieren. Vgl. Huck und Zorn: Das Populäre der Gesellschaft. 56 | Anders Urs Stäheli: Es sei »gut«, dass die Systemtheorie bisher davor bewahrt wurde, Pop als System zu verstehen und ihm eine exklusive gesellschaftliche Funktion zuzuweisen. Vgl. Stäheli: »Das Populäre in der Systemtheorie«, 169. 57 | Vgl. Baecker: Nie wieder Vernunft, 40. Man könnte auch von einer kostenlosen ›App‹ sprechen, die wir dem Wissenschaftssystem zur Verfügung stellen. Erste Erkenntnisgewinne konnten auf diese Weise bereits erwirtschaftet werden. Siehe die Kommentare von Michael Hutter, Eckhard Schumacher, Hahn/Werber und Urs Stäheli in Soziale Systeme Jg. 10 (2004), Heft 2, oder die Beiträge von Opitz/Bayer und Diedrich Diederichsen in dem von Huck und Zorn herausgegebenen Sammelband Das Populäre der Gesellschaft.
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Deshalb muss man nicht gleich von wissenschaftlichem Fortschritt sprechen. Denn dass die Pop-Forschung sich nach dem wissenschaftstheoretischen Modell von Behauptungen, Testen und Akzeptieren bzw. Verwerfen von Hypothesen entwickelt, ist wohl eher fraglich. Luhmanns Vermutung war, dass es schlicht und einfach darum gehen könnte, steril gewordene Unterscheidungen gegen neue einzutauschen, um anschließend mit den neuen Unterscheidungen herauszuarbeiten, was mit den alten nicht sichtbar gemacht werden konnte.58 Wenn auch das nach einiger Zeit zu langweilen beginnt, geht man erneut zu anderen Unterscheidungen über. Die entscheidende Frage ist demnach, ob es uns gelungen ist, mit der System/Umwelt-Differenz etwas in den Blick zu bekommen, was bei der Beobachtung von Pop bisher nicht gesehen werden konnte.
L ITER ATUR Baecker, Dirk: Nie wieder Vernunft. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme-Verlag 2008. Bangs, Lester: Psychotic Reactions & Carburetor Dung. Literature as Rock’n’Roll, Rock’n’Roll as Literature. Greil Marcus (Hg.). London: Minerva 1991. Bockris, Victor und Gerard Malanga: Up-Tight. Die Velvet Underground Story. Augsburg: Sonnentanz 1988. Davies, Hunter: A Hard Day’s Night – The Beatles. St. Andrä-Wördern: Hannibal 1994. DeMain, Bill: Behind the Muse. Pop and Rock’s Greatest Songwriters Talk About Their Work and Inspiration. Cranberry Township: Tiny Ripple Books 2001. Diederichsen, Diedrich »Ist was Pop?« In: Ders: Der lange Weg nach Mitte. Der Sound und die Stadt. Köln: Kiepehneuer & Witsch 1999, 272-286. —: »Allein mit der Gesellschaft. Was kommuniziert Pop-Musik?« In: Christian Huck und Carsten Zorn (Hg.): Das Populäre der Gesellschaft. Systemtheorie und Populärkultur. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2007, 322-334. Drummond, Bill und Jimmy Cauty a.k.a. The KLF: Das Handbuch. Der schnelle Weg zum Nr.1 Hit. Berlin: Die Gestalten 1998. Erlewine, Michael, Vladimir Bogdanol et al. All Music Guide to Rock. The Expert’s Guide to the Best Rock, Pop, Soul, R&B and Rap. 2. Aufl., San Francisco: Miller Freeman 1997. Fiske, John: Lesarten des Populären. Wien: Löcker 2003.
58 | Vgl. Luhmann: Funktionen und Folgen, 398. Es könnte fruchtbar sein, die von Hahn und Werber für das Kunstsystem vorgeschlagene Alternativcodierung interessant/langweilig als Zweitcode des Wissenschaftssystems aufzufassen. Die in der Pop-Forschung grassierende Langeweile verdankt sich jedenfalls hauptsächlich den auf neomarxistische Theorieimporte zurückgehenden Unterscheidungen subversiv/affirmativ, power/people, Mainstream/Minderheit, Major/Independent usw.
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Fuchs, Peter: Das System »Terror«. Versuch über eine kommunikative Eskalation der Moderne. Bielefeld: transcript 2004. —: Das System Selbst. Eine Studie zur Frage: Wer liebt wen, wenn jemand sagt: »Ich liebe Dich?«? Weilerswist: Velbrück 2010. Fuchs, Peter und Dietrich Schneider: »Das Hauptmann von Köpenick-Syndrom: Überlegungen zur Zukunft funktionaler Differenzierung.« Soziale Systeme 1 (1995), 203-224. Green, Lucy: How Popular Musicians Learn. A Way Ahead for Music Education. Aldershot: Ashgate 2002. Hahn, Torsten und Niels Werber: »Das Populäre als Form.« Soziale Systeme 10.2 (2004), 347-354. Heidingsfelder, Markus: System Pop. Berlin: Kadmos 2011. Heylin, Clinton: Dylan. Behind The Shades. London: Viking 1992. Hornby, Nick: 31 Songs. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2003. Huck, Christian und Carsten Zorn (Hg.): Das Populäre der Gesellschaft. Systemtheorie und Populärkultur. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2007. Hutter, Michael: »Pop: Kunst durch Markt.« Soziale Systeme 10.2 (2004), 325-332. Ice-T und Heidi Siegmund: The Ice Opinion. Who gives a fuck? New York: St. Marti’’s Press 1994. Koppetsch, Cornelia: »Öffentlichkeitseliten und der Wandel von Expertenkulturen. Überlegungen zu Luhmanns Theorie der Massenmedien.« In: Günther Burkart und Gunter Runkel (Hg.): Luhmann und die Kulturtheorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, 189-212. Krönig, Franz Kasper: Die Ökonomisierung der Gesellschaft. Systemtheoretische Perspektiven. Bielefeld: transcript 2007. Larkin, Colin: All Time Top 100 Albums. London: Guinness 1994. Laufenberg, Frank und Ingrid Laufenberg: Frank Laufenbergs Rock- und Pop-Lexikon. Sämtliche Top-10-Hits aus USA, GB, Deutschland, der Schweiz und ihre Interpreten. München: Econ & List 1998. Longman Dictionary of Contemporary English. München: Langenscheidt-Longman 2001. Luhmann, Niklas: Funktion der Religion. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982. —: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984. —: Archimedes und wir. Interviews. Dirk Baecker und Georg Stanitzek (Hg.). Berlin: Merve 1987. —: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990. —: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 1., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993. —: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. —: Funktionen und Folgen formaler Organisation. Berlin: Duncker und Humblot 1999. —: Organisation und Entscheidung. Opladen: Westdeutscher Verlag 2000.
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Kult-Fernsehen als Archiv der Gegenwartskultur: The Sopranos Dirk Matejovski
D AS P HÄNOMEN THE S OPRANOS Ein schwarzer Bildschirm und eintretende Stille markieren das Ende. Der eingeblendete Abspann zeigte dann, dass mit der Ausstrahlung der 86. Folge am 11. Juni 2007 Tony Soprano, Held der US-Amerikanischen TV-Serie The Sopranos, am letzten Punkt seines langen Weges angekommen war. Mit dem abrupt endenden Schluss waren die Macher des TV-Epos ihren ästhetischen Prinzipien bis zum Ende treu geblieben, und so bildete das enigmatische Finale der Serie den Ausgangspunkt für viele Fragen und Diskussionen. Eines aber war in jedem Fall unbestritten: Mit dem Abschluss der Sopranos-Saga war ein wichtiges und einflussreiches Kapitel der Fernsehgeschichte an sein Ende gelangt. Der erfahrene Scriptwriter und Produzent David Chase (»The Rockford Files«, »Northern Exposure«) hatte die Idee zu einer epischen Gangster-Familien-Serie verschiedenen amerikanischen Fernsehstationen angeboten, bis sich der Abonnement-Kabelkanal »HBO« (Home Box Offices) entschloss, eine erste Staffel zu senden. Der Pilotfilm (A. K. A. The Sopranos) wurde am 10. Januar 1999 in den USA ausgestrahlt und markierte den Beginn eines beispiellosen Erfolges. Ein Erfolg, der nicht zuletzt damit zusammenhing, dass der Abonnement-Kanal »HBO« weder an die strengen Zensurbestimmungen des amerikanischen Fernsehens (obszöne Sprache, Sexualität, Gewalt) gebunden noch gezwungen war, die Sendung mit Werbeunterbrechungen zu zerstückeln. Die Sopranos waren schon mit der 13. Episode der ersten Staffel am 4. April 1999 ein Stück Kult-Fernsehen. Die Zuschauerzahlen stiegen beständig und erreichten mit Ende der dritten Staffel im März 2001 schon 11 Millionen Zuschauer in den USA. Damit erreichte die Serie die höchste »HBO«-Zuschauerzahl in der Rubrik der Nichtsportübertragungen.1 1 | Vgl. Bishop: Bright Lights, Baked Ziti, 263; vgl. Yacowar: The Sopranos on the Couch, 9f.
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Die Welt des Tony Soprano wurde zu einem beispiellosen Publikumserfolg und zu einem festen Bestandteil der amerikanischen Medienlandschaft bis heute. Im Laufe der Zeit wurden The Sopranos mit Preisen für das Skript, die Darsteller und die Regie geradezu überhäuft. Es regnete »Emmies«, »Golden Globes«, Preise der »Writer’s Guild« und der »Screen Actors Guild«,2 und die vielleicht interessanteste Auszeichnung ist der Preis der amerikanischen psychoanalytischen Vereinigung für die originalgetreueste Darstellung einer Psychoanalytikerin bzw. einer Psychiaterin.3 Die Hauptdarsteller der Serie, James Gandolfini, Lorraine Bracco, Edie Falco und Michael Imperioli, wurden zu Stars, und die Berichterstattung über sie sowie die Produktionschronologie und Produktionsumstände der Serie füllt Gazetten, TV-Magazine und Internetseiten. Der Kult um die Sopranos treibt dabei seltsame Blüten. Realität und Fiktion gehen ineinander über, denn der Darsteller des jungen Anthony junior beging einen Raubüberfall und ließ sich dabei festnehmen. Zwei weitere wichtige Darsteller waren in kriminelle Aktivitäten verwickelt: Der Darsteller eines jungen Gangsters aus der ersten Staffel erschoss einen Polizisten, und der Darsteller von Tony Sopranos besten Freund (»Big Pussy«) wurde dadurch auffällig, dass er seine Freundin immer dann, wenn sie Trennungsabsichten äußerte, brutal zusammenschlug. Solche Übergänge der Fiktion zur Realität hindern die Kritiker aber nicht daran, in Superlativen zu schwelgen. Man könnte Stunden damit verbringen, die enthusiastischen Äußerungen der Kritik zusammenzufassen. Einige Stimmen seien stellvertretend für viele andere Äußerungen der gleichen Art genannt: »The Sopranos has changed the face of American television. The Sopranos deserves to be considered one of the most original artistic creations of our times«4 oder: »The richest and most compelling piece of television – no, of popular culture – that I´ve encountered in the past twenty years«.5 Die hier noch darzustellende Komplexität der Sopranos hat eine Fülle von Diskursen produziert, und selten geschah es, dass eine TV-Serie sich so schnell in das kollektive Gedächtnis einer Nation eingebrannt hat: »Let´s face it – everybody wants to discuss The Sopranos. The show has captured our collective imagination.«6 So gibt es eine überreich produzierende SopranosDeutungsindustrie: Kulturwissenschaftler, Literaturwissenschaftler, Medienwissenschaftler, Psychologen und Historiker debattieren in zahlreichen Monografien und Sammelbänden alle Aspekte der Serie, und ein Ende ist nicht abzusehen.
2 | Vgl. ebd, 262. 3 | Vgl. Yacowar: The Sopranos on the Couch, 10. 4 | Bondanella: Hollywood Italians, 297. 5 | Ellen Willis zitiert nach Glen O. Gabbard: The Psychology of The Sopranos, 2. 6 | Barreca: »Introduction«, 2.
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P LOT UND G LIEDERUNG Bei den Sopranos handelt es sich offenkundig um eine Fernsehserie, der zweierlei gelingt. Zum einen fasziniert sie ein breites Massenpublikum ebenso wie Fernsehkritiker und Kulturwissenschaftler. Weiterhin gelingt es den Autoren und Regisseuren der Serie offenkundig auch über nunmehr sechs Staffeln mit dann bald 86 Episoden, das Publikumsinteresse und die theoretische Faszination gleichmäßig oder sogar noch ansteigend wach zu halten, obwohl die Serie auf die klassischen dramaturgischen Tricks nach Staffeln gegliederter Großformate verzichtet. Die Autoren gehen sehr sparsam mit Cliffhangern, Rückblenden und verschwundenen Protagonisten um. Was also macht die Faszination der »Soprano«-Saga aus? The Sopranos erzählt die Geschichte von Anthony Soprano, dem Oberhaupt einer Mafiafamilie in New Jersey, und es erzählt diese Geschichte in der unmittelbaren Gegenwart und bei weitgehender Beibehaltung von New Jersey als Schauplatz. Wenige Schauplatzwechsel, wie der Ausflug nach Italien oder einige Handlungsstränge, die nach Florida führen, ergänzen New Jersey und New York als zentrale Handlungsorte. Tony Soprano, Mafiapate und im Müllbeseitigungsgeschäft tätig, hat ein Problem, das den archimedischen Punkt der Serie bildet. Er leidet an lähmenden Panikattacken, für die keine organische Ursache zu finden ist. Aus diesem Grund muss er, der gewaltige und gewalttätige Vater zweier Familien, seiner Kleinfamilie und der Mafiafamilie, zu Beginn der Serie eine Psychiaterin, Dr. Melfi, aufsuchen. Im Laufe einer Therapie, die sich über einige Staffeln hinzieht, wird dann deutlich, worin die Ursache dieser Panikattacken besteht. Es gibt nahezu nichts, was im Leben dieses gestressten Mittelstandsmafiosos funktioniert. Das Verhältnis zu seiner Frau, die um seine zahlreichen Seitensprünge weiß, ist genauso problematisch wie das zu seinem pubertierenden und allzu schwachen Sohn sowie zu seiner hochintelligenten Tochter, die bald in New York studieren wird. Fokus seiner privaten Probleme allerdings bildet seine Mutter Livia, bei der es sich um die unglaublichste Frauengestalt der neueren Fernsehgeschichte handelt. Livia, eine moderne Medea und (klinisch gesehen) eine Borderline-Persönlichkeit, terrorisiert ihn und seine gesamte Umgebung. Am Ende wird dieses mythische Monster im wahrsten Sinne des Wortes versuchen, ihren Sohn zu töten. Mit seiner kriminellen Familie hat es Tony Soprano nicht wesentlich einfacher. Psychopathische Exzesstäter, übereifrige Jungmafiosi und natürlich die immer wiederkehrende Figur des Verrats durch einen engen Freund oder durch ein hochrangiges Organisationsmitglied machen ihm das Leben schwer. Denn – auch dies zeigt der Film detailliert und hyperrealistisch – auch die Strafverfolgungsbehörden haben den Paten von New Jersey im Visier, und die Dialektik von Überwachung und Fastüberführung bildet ein weiteres leitendes Motiv der Serie. Dieses Grundszenario wird umgesetzt mit einer fast barocken Fülle von Figuren, Motiven und Subthemen, wobei der Reiz der Serie nicht zuletzt darin besteht, dass auch noch die kleinste Nebenfigur ihre eigene Geschichte und ihre eigene Stimmlage hat.
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Doch muss man sich Tony Soprano nicht als gänzlich unglücklichen Menschen vorstellen: Inmitten dieses Ozeans von Plagen, inmitten einer Midlife-Crisis und eines, wie sich dann zeigen wird, unlösbaren Psychokomplexes erlebt ihn der Zuschauer immer wieder als Mann von gargantueskem Lebensgenuss. Seine zahlreichen jungen, attraktiven Freundinnen, die Freuden des Alkohols und des luxuriösen Lebens helfen ihm, dies alles zu ertragen, wobei er weit davon entfernt ist, ein lebensfreundlicher Bonvivant zu sein; denn von der einen Sekunde auf die andere kann er in exzessive Gewalttätigkeiten verfallen, und der Fernsehzuschauer erlebt Tony Soprano mehrfach als einen gewissenlosen Killer. Die anhaltende Faszination durch die Sopranos hat einen vielfältigen und kaum mehr zu überblickenden Strauß an Antworten aus der Medien- und Kulturwissenschaft hervorgebracht. Die amerikanische Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Sandra Anne Gilbert hat die verschiedenen Antworten auf diese Frage in drei Rubriken unterteilt und diese in der Form von drei Konsensthesen zu den Sopranos formuliert. Sie lauten: • The Sopranos R Us • The Sopranos R Art • The Sopranos R Postmodern Art7
THE S OPR ANOS R U S Der Erfinder und Produzent der Sopranos, David Chase, italienischer Abkunft und in New Jersey geboren, kombinierte für sein Konzept zwei Grundideen. Zunächst schwebte ihm eine Art TV-Adaption des Paten vor, bei der die Familienprozesse im Mittelpunkt standen. Geprägt durch das spannungsvolle Verhältnis zu seiner Mutter und durch eine jahrelange Therapieerfahrung plante er ein Projekt, bei dem ein Gangster, der unter seiner Mutter leidet, sich schließlich in Therapie begeben muss. Die Kombination beider Elemente ergab die Formel für die Sopranos. Doch bei der Umsetzung dieser beiden Grundideen nahm Chase eine entscheidende Umakzentuierung vor, die die Konturen der gesamten Serie bestimmt. Während das Motiv des Gangsters, der zum Psychiater geht, schon komödiantisch vorformuliert worden war, nämlich in dem Film Analyze This (Hauptdarsteller: Robert De Niro und Billy Crystal), wird dieses Motiv bei Chase umbesetzt und erhält eine deutlich ideologiekritische Akzentuierung.8 Chase, der sich selbst als Vertreter der Gegenkultur im amerikanischen Fernsehsystem sieht und mit dem affirmativen »everything is pretty« der amerikani-
7 | Gilbert: »Life with (God)Father«, 16-19. 8 | Vgl. McCarty: Bullets over Hollywood, 247.
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schen Fernsehkultur hadert,9 hat diesen durchaus kulturkritischen Ansatz folgendermaßen charakterisiert. The kernel of the joke, of the essential joke, was that life in America had gotten so savage, selfish – basically selfish, that even a mob guy couldn’t take it anymore. That was the essential joke, and he’s in therapy because what he sees upsets him so much, what he sees every day… he and his guys were the ones who invented selfishness – they invented ›me first‹; they invented ›it’s all about me‹ – and now he can’t take it because the rest of the country has surpassed him.10
So thematisiert die gesamte Serie das Paradox, an dem der gewalttätige Vertreter eines rücksichtslosen Egoismus in (und unter) einer Gesellschaft leidet, die genau dieses Prinzip unter legalen Vorzeichen praktiziert. Es gelingt Chase, diese Grundideen nun in eine attraktive filmische Erzählung umzusetzen, ohne in falsche Didaxe oder Lindenstraßen-Tugendterror zu verfallen, indem er eine entscheidende narrative Operation vollzieht. Er präsentiert den Mafiaboss Tony Soprano zwar als Mafiaboss, aber gleichzeitig auch als typischen Vertreter der oberen Mittelklasse, wie man sie im amerikanischen Suburbia so häufig antrifft. Damit erfolgt eine entscheidende Dekonstruktion der klassischen Gattungsvorgaben des Gangsterfilms. Der klassische Gangster – wie er in Filmen wie Public Enemy (1931) und Scarface (1983) auftritt – ist ein Außenseiter und ein exzentrischer Exekutor des amerikanischen Traums von Aufstieg und Selbstverwirklichung. Francis Ford Coppola, der mit den beiden ersten Teilen des The Godfather die kanonische Urschrift des modernen Gangsterfilms formulierte, griff die von dem Kritiker Robert Warshow 1948 formulierte Formel vom Gangster als »Tragic Hero« des Kapitalismus auf und stilisierte Don Vito und seine Familie zu einer Art mythischen Herrschergeschlecht. Die postmodernen Gangsterfilme aus der Scorsese-Tradition (Casino, GoodFellas oder Donnie Brasco) näherten sich ihrem Sujet in den achtziger und neunziger Jahren aus einer ethnologischen Perspektive. In der Regel auf Augenzeugenberichten und Täterkonfessionen beruhend, präsentierten sie bunte Bilderbögen italienisch-stämmiger kleinkrimineller Gangsterbosse und Psychopathen. Doch die Glitzerwelt des organisierten Verbrechens in Las Vegas (Casino) oder die weitgehend hermetische Welt New Yorker Berufskrimineller konnte nur als hermetische Gegenwelt wahrgenommen werden, in denen gelegentlich ein FBI-Agent gleichsam als teilnehmender Beobachter agierte, wie etwa Johnny Depp in Donnie Brasco. Gänzlich anders verfährt Chase mit Anthony Soprano und dessen zwei Familien. Er verlegt die Handlung vom klassischen Ort des Gangsterfilms, der brodelnden glamourösen Großstadt, in die beschauliche Vorortidylle des suburbanen New Jersey. Handlungsorte sind protzige Vorortvillen, Malls, Schnellrestaurants, Tank9 | Vgl. Lavery (Hg.): This Thing of Ours, 20. 10 | David Chase zitiert nach Lavery und Thompson: »David Chase, The Sopranos, and Television Creativity«, 21.
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stellen und Industriebrachen. Und wir sehen den Gangsterboss häufiger seine Kinder zum Football bringen, bei Einkäufen in Gartencentern und in Gesprächen mit besorgten Lehrern als bei kriminellen Großtaten. Tony Soprano – das ist ein mittelständischer Geschäftsmann, der – im Unterschied zu seinen Kollegen – gelegentlich Fäuste und Waffen einsetzt, und wir haben ihn uns als Mittvierziger vorzustellen, der durch die Moderne überfordert ist und deshalb Prozac nehmen muss. Schon im Pilotfilm, in dem die grundlegenden Gespräche mit der Therapeutin Dr. Melfi aufgenommen werden, wird er mit seinen Problemen als exemplarisch gedeutet. Als er Dr. Melfi gegenüber eine beredte Klage über den Ungeist der modernen Zeit formuliert und seinem Gefühl Ausdruck gibt, zu spät geboren zu sein, antwortet Dr. Melfi, dass viele Amerikaner so wie er empfänden. Tony Soprano, der Gangsterboss aus New Jersey, ist ein Kulturkonservativer und ein Nostalgiker. Eine seiner berühmtesten Sentenzen formuliert er, als sich seine Tochter bei Tische in allzu lockeren Redensarten ergeht und auf seine Einwände hin antwortet, man lebe schließlich in den 1990ern: »Out there it’s the 1990‹s. In here it’s 1954!« Diese grundlegende nostalgische Haltung führt zu dem Paradox, dass der brutale Mafiaboss und seine Gefährten in äußerst kulturkonservativer Weise die früher noch so hoch stehenden Werte von Loyalität, Treue, Verschwiegenheit und Aufrichtigkeit preisen.11 So besteht die diabolische Grundidee der Serie daraus, den Helden nicht als exzentrisches Monstrum zu zeigen, sondern ihn in vielem als ›all American guy‹ zu verstehen, der – zusammen mit seinen Soldaten und »Capos« – über die Probleme der Kindererziehung und die Schwierigkeiten bei der Wahl des richtigen Colleges räsoniert. Damit wird er in doppelter Weise zum Identifikationsobjekt. Der Zuschauer kann seine aggressiven, sadistischen, anti-zivilisatorischen Phantasien auf den Mörder, Egoisten und Sozialdarwinisten Tony Soprano ebenso projizieren, wie er es gegenüber dem gestressten Familienvater, Unternehmer und Ehemann tun kann. Der von der Kritik durchaus bemerkte implizite Effekt dieser Erzählstrategie besteht darin, dass die so häufig derart beredt beschworenen »family values« natürlich in einer etwas anderen Beleuchtung dastehen, wenn sie im Kontext einer Mafiafamilie präsentiert werden. Zumindest eines ermöglicht aber diese konzeptionelle Operation von Chase, nämlich die Gangsterserie The Sopranos als eine Art zeitgenössischen Sittenspiegel Amerikas zu lesen.
THE S OPR ANOS R A RT Einen weiteren Grundkonsens in der Rezeption der Sopranos hat Sandra Gilbert unter der Rubrik The Sopranos R Art formuliert. Diese nüchterne Feststellung des Kunstcharakters der Sopranos hat überschwänglicheren Ausdruck in Vergleichen 11 | Vgl. Episode 103: Denial, Anger, Acceptance.
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der Serie mit Werken von Zola, Balzac, Dickens und Fassbinder gefunden.12 Unüberbietbar ist in dem Zusammenhang die Formulierung von George Anastasia: »If Shakespeare were alive today, he’d be writing for The Sopranos.«13 Was lässt nun in ästhetischer Hinsicht die Serie von Chase aus dem Gros qualitätsvoller amerikanischer TV-Produktionen so übergroß herausragen? Die Ursache für die außerordentliche Qualität der Sopranos liegt zunächst in einigen produktionstechnischen Rahmenbedingungen. Chase ging es nämlich darum, sich nicht an die produktionstechnischen Gattungsvorgaben amerikanischer TV-Serien zu halten. Er wollte die filmische Produktions- und Erzählweise auf das Fernsehen übertragen. Die Sopranos zu produzieren, hieß: »to make a little movie every week«14 . Um dieses Ziel zu erreichen, überträgt Chase die Produktionsbedingungen von Hollywood-Filmen auf die Fernsehproduktion, das heißt, er nimmt als Endredakteur und gelegentlicher Autor und Regisseur einzelner Episoden jede, von anderen Scriptwritern und Regisseuren produzierte Folge ab. Chase combines the best aspects of traditional Hollywood studio production (teams of scriptwriters who work together on numerous rewrites of the screen place) with the guiding vision of the single director as auteur. (Chase edits all the films even if he is not the director of a particular individual episode.)15
Das Ergebnis dieses Ansatzes besteht darin, dass jede Sopranos-Episode als eine Art eigenständiger kleiner Film auftritt. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Chase nicht auf Video, sondern auf Filmmaterial aufzeichnet und äußerste Sorgfalt auf Ausstattung und visuelle Details legt. Diese Sorgfalt erstreckt sich auf Kameraeinstellungen, Farbgebung, Kostümdetails und Hintergrundszenarien. Durch diese ästhetische Opulenz entsteht eine faszinierende Zwischengattung, die die fernsehimmanente Intimität einer Familienserie mit der großen Geste des Gangsterfilms verschränkt. Doch Chase geht noch einen Schritt weiter und dekonstruiert seine beiden Gattungsvorgaben, die Standards der amerikanischen TV-Serie und die des Gangsterfilms. Einerseits verweigert sich die Saga von Tony Soprano und seiner Familie dem klassischen Gattungsschema von Aufstieg und Fall: »The model for […] gangster pictures […] has always been The Rise and Fall of … Our show doesn’t have a rise and fall – it’s like The Going Along of Tony Soprano.«16 12 | Vgl. Gilbert: »Life with (God)Father«, 17; vgl. Yacowar: The Sopranos on the Couch, 14f. 13 | Anastasia: »If Shakespeare were Alive Today«, 149. 14 | David Chase zitiert nach Lavery und Thompson: »David Chase, The Sopranos, and Television Creativity«, 23. 15 | Bondanella: Hollywood Italians, 297. 16 | David Chase zitiert nach Lavery und Thompson: »David Chase, The Sopranos, and Television Creativity«, 24.
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Für die Gesamttextur der mittlerweile 86 Episoden umfassenden Saga ergibt sich damit eine ganz spezifische Erzählhaltung. Aufbauend auf den Grundkonstellationen werden die Haupthandlungsverläufe extrem langsam, mit vielen Verzögerungen und Verzweigungen erzählt. Die narrativen Grundlinien werden über Dutzende von Episoden entwickelt, wobei eine Vielzahl von Verzweigungen und retardierenden Elementen in die Handlung eingebaut werden. Obwohl The Sopranos auf den ersten Blick durchaus konventionelle visuelle Erzählstrategien realisieren, ergibt sich durch diesen Ansatz der Verlangsamung und Episierung ein radikaler Bruch mit den Konventionen der TV-Serie. Die Vielzahl von Akteuren, Handlungen, Themen und Motiven, die auf äußerst komplizierte Weise in die Handlung hineinmontiert werden, erfordern einen Zuschauer, der – wie es die Tradition des großen europäischen Kinos erfordert – aktiv Zusammenhänge herstellt, kombiniert und erinnert. The viewer has to dig for links and meanings beyond what’s spelled out on the surface and is often left with mysteries. That makes this show more like European cinema than American cinema – and a complete departure for American television.17
Hinzu kommt, dass es der Ehrgeiz des Produzenten und der einzelnen Scriptwriter und Autoren ist, viele Episoden als in sich geschlossene Einzelkunstwerke zu präsentieren. Ein Meisterstück dieses Kunstwollens stellt die Folge »College« (1/005) der ersten Staffel dar. Das bedeutet aber nichts anderes, als dass für Chase die ideale Sopranos-Folge eine ist, die negiert, dass sie Teil einer Serie ist. In einem Gespräch mit dem Regisseur Bogdanovich führte er aus, dass gerade die Tilgung aller Spuren von Serialität die ideale Sopranos-Folge ausmacht.18 Angesichts der ästhetischen Raffinesse von Chase und seinem Team mutet es da als eine Art bewusster narrativer Sadismus an, wenn Zuschauererwartungen in drastischer Weise enttäuscht werden. So enthält die legendäre, an Beckett orientierte Episode »Pine Barrens« ein klassisches »Mystery«-Motiv, nämlich das des entkommenden und nie wieder auftauchenden Mordopfers. Angesichts der Äußerungen von Chase und seinem Team kann man in solchen Aktionen weder handwerkliche Fehler noch Akte bewusster ästhetischer Revolte gegen die Konventionen des Genres erblicken. Die langsame, hochkomplexe Erzählhaltung der Serie, die immer wieder Zuschauererwartungen unterläuft, hat noch eine weitere bedeutende Implikation. Anders als in den gängigen amerikanischen Serien kann Chase den Akzent gänzlich auf die psychologische Entwicklung seiner Figuren legen. Während die Protagonisten von Dallas und Denver, Friends und auch von Sex and the City immer die bleiben, die sie zu Beginn der Serie waren, und viele der Schicksalsschläge 17 | Yacowar: The Sopranos on the Couch, 12f. 18 | Vgl. Lavery und Thompson: »David Chase, The Sopranos, and Television Creativity«, 18-25.
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und lebensweltlichen Verwicklungen ihnen nur äußerlich bleiben (was sich am deutlichsten in Sex and the City beobachten lässt, wo selbst Krankheit und Schwangerschaft den narrativen Status von Manolo Blahnik-Schuhen und Prada-Kostümen haben), machen die Figuren der Sopranos-Saga zahlreiche und irreversible psychologische Entwicklungen durch. Diese werden in einer bis dahin im Fernsehen unbekannten Intensität an den Zuschauer vermittelt. Sein Kunstgriff lautet: Im Modell der Therapiesitzung werden die inneren Entwicklungen der Figuren in Form einer psychoanalytischen Metareflexion kommentiert. Und es gehört zum Hyperrealismus dieser Serie, dass die umfangreiche Studie eines amerikanischen Psychoanalytikers die extreme Authentizität dieser begleitenden Analysen minutiös belegt hat.19
THE S OPR ANOS R P OSTMODERN A RT Umberto Eco vergleicht die postmoderne Haltung mit der eines Liebenden, der seiner Geliebten nur im Verweis auf ein anderes Liebeszitat noch sagen kann, dass er sie liebt. Nur der Rückbezug auf bereits Gesagtes ermöglicht es eben, dieses Gesagte noch einmal zu formulieren, ohne unbedarft zu wirken.20 Viele Mafiosi der Sopranos-Saga wissen sehr wohl, dass sie Gangster sind, und ein nicht unwichtiger Erzählstrang thematisiert die Selbstreflexionen der fragwürdigen Helden über die Lebensform des Gangsters in der spätkapitalistischen Gesellschaft. Aber sie wissen noch etwas anderes: nämlich, dass insbesondere die amerikanische Populärkultur eine reichhaltige Ikonografie des Gangstertums entwickelt hat. Und so sind nahezu alle Figuren des TV-Dramas große Mediennutzer und in vielem auch Medienkritiker: Denn der Sopranos-Kosmos ist vollgestopft mit Medieninhalten. Literatur, Musik, Fernsehserien, Kinofilme und DVD bilden ein zentrales Element dieser Erzählwelt. Man liest die Memoiren einer Geisha, Sun Tzu – Kunst des Krieges, und Chicken Soup for the Soul, man hört Frank Sinatra, Conny Francis und 50Cent sowie HipHop, Independent und Alternative Rock. Tony ist ein großer Fan des History Channels, und endlos ist die Reihe der Filme und Fernsehserien, die teils angeschaut werden, Hintergrundszenarien bilden oder Gegenstand von Gesprächen und Auseinandersetzungen sind: die Godfather-Trilogie, Donnie Brasco, Gladiator, Spartacus, Freaks, die Simpsons, The Matrix, Scarface, Public Enemy u.v.m. Die umfangreiche Sopranos-Sekundärliteratur hat für die ersten Staffeln regelrechte Register und eigene Beschreibungskategorien entwickelt, um die Medienrezeption innerhalb der Serie zu dokumentieren. Dieses wichtige Element des Sopranos-Kosmos ist auch eine deutliche Innovation innerhalb der Genre-Tradition. Der klassische Gangsterfilm von Little Caesar bis zu Donnie Brasco lebte zwar im19 | Vgl. Gabbard: The Psychology of The Sopranos, 6. 20 | Vgl. Eco: Nachschrift zum »Namen der Rose«, 79.
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mer von der Beschwörung des jeweiligen Zeitkolorits, aber strukturell bedeutsame popkulturelle Referenzen waren selbst in den sehr komplexen Werken Scorseses so gut wie gar nicht zu finden. Man begnügte sich im Regelfall mit der detailgetreuen Beschwörung der jeweiligen Epoche und der Auswahl eines passenden historischen Soundtracks, so etwa in den opulenten Seventies-Inszenierungen von Scorseses Casino. Den dabei ganz anderen Ansatz von Chase charakterisiert Albert Auster folgendermaßen: In contrast The Sopranos is equally infatuated and saturated with popular culture. As a matter of fact, hardly an episode goes by in which references and even whole scenes are not devoted to popular culture. 21
Präsent ist die popkulturelle Lebenswelt der Jahrtausendwende, wobei die Verweise auf das Genre des Gangsterfilms eine besondere Stellung einnehmen. Das so dominierende Moment popkultureller Intertextualität in den Sopranos hat indes drei Funktionen. Der sehr konkrete Einbezug popkultureller Inhalte, das Zitieren von Filmen, Büchern und Musikgattungen sorgen für eine Atmosphäre zeitgenössischen Realismus, ja eine Atmosphäre des Dokumentarischen. Ohne Scheu vor Markennamen, Film- oder Buchtiteln wird in nahezu idealtypischer Weise das Mediennutzungsverhalten einer Familie der amerikanischen Mittelklasse geschildert. Der Anspruch der Serie, zeitgenössische Lebenswelten zu spiegeln, bekommt damit seine hyperrealistische Unterfütterung. Dies hängt letztendlich damit zusammen, dass mit einer nahezu kultursoziologischen Präzision die Mediennutzung unterschiedlicher Geschlechter, Altersgruppen und Sozialmilieus gespiegelt wird. So ist etwa die Mediennutzung des Sopranos-Sohnes A.J. das ziemlich präzise Abbild eines amerikanischen Sprösslings der oberen Mittelklasse. Doch die intertextuellen Verweise innerhalb der Serie haben noch eine zweite wichtige Funktion. Die Nutzung bestimmter Medien bleibt nämlich dem Protagonisten nicht nur äußerlich, sie sind innerhalb der Sendung nicht ›nur‹ Zitat und gleichsam Ornament, vielmehr ist ein Großteil der medialen Inhalte für die Protagonisten lebensbedeutsam. In der Rezeption und Interpretation von Filmen und TV-Serien interpretieren die Mafiosi sich, ihre Umwelt und ihre Verhaltensmuster. Visuelle Bibel für die Mitglieder der Familie ist natürlich Coppolas Godfather. Dieser Film wird immer wieder zitiert, kommentiert und zum Teil sogar von den Protagonisten nachgespielt. Er ist für die Mafiosi Bezugspunkt, weil er das heroische Konstrukt einer utopischen Vergangenheit darstellt. Immer wieder wird die Godfather-Trilogie als handlungsleitend zitiert, wenn man etwa darüber redet, ob man jemanden wie Luca Brasi zu den Fischen schicken soll (Pilotfilm) oder jemandem einen »Moe-Green-Job« geben soll, was nichts anderes bedeutet, als ihm eine Kugel ins Auge zu schießen. So konfrontiert die Serie die komplexen Lebensverhältnisse der Jahrtausendwende mit den einfachen Handlungsmodellen und Erzähl21 | Auster: »The Sopranos: The Gangster Redux«, 11.
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strukturen des klassischen Gangsterfilms. Tony Soprano reflektiert nach dem Tod seiner Mutter (der Konflikt mit ihr wird ihren Tod überdauern) voller Melancholie über das unkompliziertere Verhältnis des Helden von Public Enemy. Die Gangster sind nicht nur Filmfans und Filmkritiker, es zieht sie auch auf die Produzentenseite. Christopher Moltisanti, der Neffe und Ziehsohn Tony Sopranos, arbeitet, leider vollkommen untalentiert, an einem Drehbuch zu einem Gangsterfilm. Eine eigene Folge (»D-Girl«) thematisiert – darauf aufbauend – die Arbeitsbedingungen des Hollywoodkinos, mit denen sich Moltisanti konfrontiert sieht. Doch während Moltisanti ein ebenso unbegabter Schauspieler wie Drehbuchautor ist, sind die Mitglieder der Familie keine schlechten Filmkritiker. Eine Synopse von Gladiator und Spartacus durch den soziopathischen Ralph Cifaretto fällt zu Ungunsten von Kubricks Spartacus aus. Angewidert von der historischen Unkorrektheit des Monumentalwerks, schreit der Gangster nur auf, ob die Produzenten nicht gewusst hätten, dass römische Gladiatoren kein »Flattop«, also keine geölte Entenschwanzfrisur getragen hätten. Doch der Reiz der Serie besteht ja eben auch darin, dass nicht nur ihre Protagonisten Medienexperten sind, sondern dem Zuschauer erschließt sich die Tiefenstruktur der Erzählung nur durch Kenntnis der medialen Kontexte. So wie der gelehrte Barockroman die Fülle des Zeitwissens vor dem Leser ausbreitet und von diesem fordert, eben diese Verweisstruktur zu dechiffrieren, so sind die Sopranos als eine Art Enzyklopädie der populären Kultur zu verstehen. Damit setzen sie einen Leser voraus, der in dieser Enzyklopädie zu lesen versteht. Ohne die Kenntnis des klassischen Kanons der Gangsterfilme, ohne eine grobe Übersicht über die gängigen amerikanischen TV-Serien, Musikgattungen, ohne eine basale Kenntnis der Hauptfiguren der zeitgenössischen Popkultur erschließen sich einem viele Dialoge, Anspielungen, Witze und Kränkungen nicht im Geringsten. Insbesondere europäische Zuschauer brauchen Nachschlagewerke und das Internet, um einzelne Figuren und Anspielungen aufzulösen. Allusionen beziehen sich durchaus auf größere Erzählelemente und bilden nicht nur einzelne textuelle Verweise. Als Moltisanti etwa überraschend zu einer Zusammenkunft gebeten wird, um endgültig als Vollmitglied der Mafia aufgenommen zu werden, ist seiner Freundin vorher etwas ängstlich zumute, und auch der angehende »Made man« sitzt beklommen auf dem Beifahrersitz des Autos, das ihn zur Aufnahmezeremonie bringt. Kurz vor der Zeremonie wird über seine Furcht gespottet. Da es nun innerhalb der Narration überhaupt keinen Hinweis auf eine drohende Gefährdung Christophers gibt, fragt sich der Zuschauer, woher dieses Handlungsmotiv kommt. Einen Hinweis gibt die zeremonielle Runde, als sie Christophers Freundin unterstellt, sie habe zu viele Filme angesehen. Gemeint ist, und nur von diesem Verweis her ergibt die Szene Sinn, die berühmte Szene aus Scorseses GoodFellas, in der der psychopathische Jo Pesci vorgeblich zur Aufnahmezeremonie geladen wird, aber wegen einer alten, unbeglichenen Rechnung mit einem Kopfschuss exekutiert wird. Nur mit diesem kontextuellen Wissen kann der Zuschauer diese Szene verstehen. Das gilt auch für zahlreiche andere Szenenarrangements, Konflikte und Binneninsze-
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nierungen, etwa die Körpersprache des jungen Aprile oder die Kleidung eines FBIAgenten in der Episode »Mrs. Ruggerio’s Neighborhood«. Kurzum: Gerade das dominierende intertextuelle Element in den Sopranos setzt einen aktiven, mit den Themen und dem Motiv- und Figurenfundus der Populärkultur vertrauten Rezipienten voraus, einen Rezipienten, der nur dann der Tiefenstruktur der Handlung folgen kann, wenn er wieder erkennt, dechiffriert und Bezüge herstellt. Die Kontinuität einiger Themen und Motive sorgt schließlich für die erzählerische Kohärenz und die Herstellung einer semantischen Tiefenstruktur. Unter der Vielzahl der Themen und Motive, die zu behandeln möglich wäre (Ethnizität, Geschlechterverhältnisse, Ökonomie, Politik, Gattungstraditionen etc.), soll im Folgenden ein Komplex behandelt werden, der einen guten Zugang zur ästhetischen Struktur und Bedeutungsproduktion der Sopranos herstellt. Es handelt sich dabei um den Komplex »Konsum, Speise- und Essensmotivik« sowie um den der sogenannten Körperbilder.
»C ONSUMER C ULTURE «, K ANNIBALISCHES F LEISCH UND SPRECHENDE F ISCHE Bei der Sichtung der vielgestaltigen, differenzierten und scharfsichtigen Sekundärliteratur zu den Sopranos fällt auf, dass ein Aspekt nicht hinreichend hervorgehoben wird, und es ist in diesem Falle fast so wie mit dem berühmten verschwundenen Brief in der gleichnamigen Erzählung Edgar Allan Poes. All den subtilen und fein verästelten Interpretationen der Sopranos entgeht ein ebenso banaler wie basaler Sachverhalt. Es gibt wohl kaum eine aktuelle Fernsehserie, in der so ausführlich, so differenziert, so detailliert und so konkret Warenzirkulation und Konsum beschrieben werden. Die Welt der Sopranos ist die Welt eines permanenten Konsums, und dieser Konsum erfolgt in Form einer Warenzirkulation, die keinen Modus des Warentransfers ausspart. Produkte, Konsumgüter werden gekauft, geraubt, erpresst, verschenkt, geliehen, als Pfand gegeben, zurückgefordert, wieder geraubt, ausgetauscht, versteckt, gefunden, hinterlegt, zurückgetauscht, manchmal einverleibt und manchmal zerstört. Und auch hier gehört es wieder zum lebensweltlichen Konkretismus, zum Hyperrealismus der Serie, dass der Warenkosmos der amerikanischen Milleniumsgesellschaft in äußerster Konkretheit präsent ist. In beliebiger Reihenfolge, als Querschnitt mehrerer Staffeln, begehren und besitzen, rauben und verschenken, leihen und verkaufen, genießen und erbitten die Helden der Serie Produkte von Prada und Kenneth Cole, Mercedes, Pioneer, Miller und Coke, Camel und Urban Outfitters, Boss und Sony, Rover und Manolo Blahnik. Die Liste ließe sich noch beliebig erweitern. Die Matrix dieser Warenzirkulation bildet natürlich das universale Tauschmedium Geld. In einer an Balzac erinnernden Weise wird in der Erzählwelt der Sopranos das Prinzip der Bereicherung und des Kon-
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sums so universalisiert, dass es den Protagonisten erstens zur zweiten Natur geworden ist und zweitens als eine elementare Form der Kommunikation erscheint. Die Figuren kommunizieren über die Form des Warenaustausches und des damit verbundenen Begehrens, und das Verstörende an der so gezeigten Welt ist, dass es kaum Bereiche gibt, die gegen diese Form des nahezu organisch gewordenen Warenaustausches immun geworden wären. Selbst Erzählfiguren, die institutionell zugewiesenerweise für das Teilsystem Moral stehen müssten, sind von den Zyklen des Begehrens nicht ausgenommen. Dies gilt für Priester, Bürgerrechtler und selbst für die Analytikerin Dr. Melfi. Nur wenige Figuren, wie der moralisch rigide Psychoanalytiker Dr. Krakauer oder ein intransigenter Streifenpolizist, schließen sich nicht an den Zirkulationsstrom von Geld, Produkten und Vorteilen an. Hierin liegt auch das neue erzählerische Element der Sopranos. Der traditionelle Gangsterfilm zeigte die Bereicherungsstrategien des Außenseiters entweder in der Form des großen Coups oder als Addition kleinkrimineller Aktivitäten. In jedem Falle aber war der Prozess der Geld- und Warenaneignung eine Addition singulärer Aktionen. Die hedonistischen Fernsehserien der neunziger Jahre und nach dem Millenium, wie Sex and the City und Friends, spielten zwar auch mit dem Charme des Konsumismus, doch blieb hier die Faszination durch Designerschuhe, teure Kleider und schnelle Autos ein spielerisch-kokettes Motiv, dem jede Dämonie abging. Warenaneignung und Warenkonsum in den Sopranos aber haben eine dreifache narrative Funktion. Mit der konkreten Einarbeitung in die Lebenswelten der Protagonisten wird einerseits ein realistisches Abbild zeitgenössischer »consumer culture« erzielt. Zweitens wird, und dies ließ sich durchaus schulmäßig im Stile der Kritischen Theorie interpretieren, deutlich gezeigt, wie die Orientierung an der Warenform zu einer Verdinglichung der menschlichen Kommunikation führt. Und drittens, davon wird später zu reden sein, entsteht innerhalb der Serie, und das ist gattungsspezifisch neu, eine Art Produktarchiv der zeitgenössischen Konsumentenkultur. Die strukturierenden Handlungsorte lassen sich dabei exemplarisch sehr schnell benennen: Küche, »Satriale’s«, »Bada Bing«, Dr. Melfis Behandlungszimmer u.v.m. In den Katalog der Konsumgüter gehört auch das gesamte Ensemble verfügbarer Drogen, deren Konsum schichten- und generationssoziologisch präzise in den Sopranos beschrieben wird. Die Teenager nehmen Ecstasy, die jüngere Generation der Mafiosi, wie Christopher und seine Freundin Adriana, konsumieren wie selbstverständlich Koks, Speed, Marihuana und später auch Heroin. Tony verdankt seine gesellschaftliche Funktionsfähigkeit dem Wundermittel Prozac, ein Psychopharmakon, das eine Art legales Marihuana darstellt. Dem Motiv des Konsums verschwistert und mit diesem, wie sich zeigen wird, erzählerisch eng verschränkt ist das Motiv des Essens. Es wird schwer sein, eine Fernsehserie zu finden, in der Nahrung und Nahrungsaufnahme eine so breite Rolle einnehmen. Zentrale und immer wiederkehrende Schauplätze der Handlungen sind die Küche der Sopranos, das Hinterzimmer der Fleischhandlung »Satriale’s« und das Restaurant »Vesuvio« von Artie Bucco: Orte der Nahrungsaufnahme.
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Hinzu kommt, dass die Protagonisten sich permanent in anderen Restaurants, Privatwohnungen und Imbissketten Nahrung zuführen. Analog zur unentwegten Zirkulation von Gütern wird permanent gegessen, Essen produziert, Nahrung verschenkt, erbeten, verweigert, ersehnt. Italienisches Essen in allen Variationen spielt eine Rolle, Kochrezepte werden zitiert, und der Küchenchef Artie Bucco, eine wichtige Nebenfigur, erläutert häufig liebevoll Zutaten und Herstellung seiner Speisen. So verwundert es nicht, dass aus der Serie auch ein Kochbuch hervorgegangen ist. Nun ist die Präsenz von Essen im Gangstergenre an sich nichts Seltenes, hat aber dort eine eher reduzierte erzählerische Funktion. Italienisches Essen in traditionellen Gangsterfilmen, archetypisch die Godfather-Trilogie, steht als Symbol für die Ethnizität der handelnden Personen. Die Mafiafamilie versammelt sich um den Tisch mit den rot karierten Tischdecken, um mit Pasta und roter Sauce die eigenen Wurzeln zu reinszenieren und zu veranschaulichen. Italienisches Essen steht als Symbol für eine mediterrane, sinnliche Kultur des gänzlich unpuritanischen Lebensgenusses und gleichzeitig für den Zusammenhalt der Familie im doppelten Sinne. So wie der junge, angehende Pate Michael lernen muss, zum ersten Mal zu töten, so muss er auch das Geheimnis der perfekten Pasta mit Meatballs erlernen, und sein Lehrmeister für das Töten wie für das Kochen ist indes die gleiche Person, der dicke Clemenza. In Scorseses GoodFellas dienen die kulinarischen Genüsse der inhaftierten Mafiosi zur Illustration ihrer Gaumenfreuden sowie ihres Sonderstatus. Selbst im Gefängnis bedürfen sie der sorgsam und in Eigenarbeit hergestellten Genüsse Italiens, und die Kochgruppe, bestehend aus Schwerverbrechern, lässt es sich nicht nehmen, selbst die Knoblauchzehen mit der Rasierklinge hauchzart zu schneiden. Die Kehrseite dieser sinnenfrohen, ja mediterranen Kochkultur zeigt sich an der Motivvariante im Zusammenhang mit Essen. Das italienische Essen kann immer auch sehr schnell zur Henkersmahlzeit im wahrsten Sinne des Wortes werden, denn die Exekution des Gegners beim Essen, im Restaurant oder zumindest in einer Bar gehört nicht nur zur Standardsituation des realen Mafialebens, sondern auch zum Szenenrepertoire des Gangsterfilms. Modellhaft ist hier wiederum die Hinrichtung des korrupten Polizeibeamten Captain McCluskey und seines Auftraggebers Sollozzo im The Godfather I zu nennen, ein Motiv, das im großen Massaker des dritten Teils der Trilogie noch einmal aufgenommen wird. Dieser Motivbestand wird in den Sopranos in einer äußerst raffinierten und vielgestaltigen Weise ausdifferenziert und in den großen Bedeutungsrahmen der Gesamterzählung eingefügt. Dies soll anhand zweier Beispiele, nämlich denen von Fleisch und Fisch, beleuchtet werden. Ein immer wiederkehrendes Thema der Kulturanthropologie, der Kultursoziologie, der Geschichtswissenschaft, der literarischen Motivforschung und der Semiotik bildet die Frage nach der kulturellen Bedeutsamkeit von Nahrung, Nahrungszubereitung und Essensritualen. Die großen Monografien und Essays von Norbert Elias, Georg Simmel, Claude Lévi-Strauss und Roland Barthes kön-
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nen hier stellvertretend für viele andere genannt werden.22 Die spezifischen Formen der Nahrungszubereitung und der Nahrungsaufnahme bedeuten immer auch etwas: Sie verweisen auf ethnische Zugehörigkeiten, schichtenspezifische Konstellationen und soziale Differenzen,23 und so kann man mit Roland Barthes die Binnendifferenzierung von Nahrungszubereitung und Nahrungsaufnahme gleichsam als Sprache begreifen und auf ihre Bedeutungskonstitution hin untersuchen – ein Vorhaben, das Roland Barthes in Bezug auf die französische Küche der fünfziger Jahre in seinen Mythologies so exemplarisch durchgeführt hat. Wenn er im Zusammenhang mit der von ihm so genannten ornamentalen Küche von der »brutalité des viandes«24 spricht, dann verweist diese Zeichenzuweisung auf einen wichtigen Motivkomplex, der sich durch alle Sopranos-Staffeln zieht. Fleisch ist in den Sopranos-Folgen allgegenwärtig. So ist eines der Tagungszentren der Mafiafamilie »Satriale’s Pork Store«, eine Metzgerei – geschmückt mit Schweine- und Rinderfiguren. Tony selbst ist ein großer Fleisch- und Wurstesser. Viele Szenen spielen am Grill, und die ganze Verachtung Tonys gilt dem Vegetariertum seiner Schwester Janice. Fleisch, das innerhalb einer traditionellen Deutungssystematik immer als das »stärkste« und »maskulinste« Nahrungsmittel begriffen wurde (im Gegensatz zu Fisch und Gemüse),25 steht innerhalb der Sopranos-Semantik für Vitalität, Gewalt und Sexualität: »Meat is intimately connected to their survival, their livelihood, their ability to avoid the legal consequences of their actions, and to their sexuality.«26 Dieser Zusammenhang wird innerhalb des narrativen Riesengewebes relativ spät, nämlich erst in der dritten Episode der dritten Staffel,27 als eine freudianische Urszene entfaltet. Bekanntlich begab sich Tony Soprano wegen seiner unerklärlichen Panikanfälle, von denen ihm einige eben auch beim Grill ereilten, in die Behandlung von Dr. Melfi. Im Rahmen einer Behandlungssitzung erinnert sich nun Tony Soprano daran, dass er als Kind Zeuge wurde, wie sein Vater, ebenfalls ein Gangster, dem Inhaber von »Satriale’s Pork Store« wegen nicht bezahlter Wettschulden vor seinen Augen einen Finger abschnitt. Unmittelbar danach wird zu Hause Fleisch aus dem Laden eben dieses gerade verstümmelten Mr. Satriale zubereitet. In der psychoanalytischen Behandlungssituation reflektiert Tony, dass seine Mutter immer nur dann entspannt und offenbar sexuell zugänglich war, wenn sein Vater Fleisch nach Hause brachte. Und es begab sich eben, dass der kleine Tony genau angesichts die22 | Vgl. Elias: Über den Prozeß der Zivilisation; vgl. Simmel: »Soziologie der Mahlzeit,« 1f; vgl. Lévi-Strauss: Mythologica I; vgl. Barthes: Mythologies. 23 | Vgl. Visser: Much Depends on Dinner; vgl. Wierlacher, Neumann und Teuteberg (Hg.): Kulturthema Essen; vgl. Barlösius: Soziologie des Essens. 24 | Barthes: Mythologies, 129. 25 | Vgl. Visser: Much Depends on Dinner, 151. 26 | Dunne: »›The Brutality of Meat‹«, 221. 27 | Vgl. Episode 303: Fortunate Son.
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ser Urszene, beim Verzehren des Fleisches aus »Satriale’s Pork Store« zum ersten Mal einen seiner unerklärlichen Ohnmachtsanfälle bekam. Dr. Melfi interpretiert – schulmäßig und klassisch freudianisch – diese Szene als eine, die den Pubertierenden überfordert. Amalgamierung von Gewalt, Sexualität und Antizipation der zukünftigen Doppelrolle als Ernährer und Zeugender sind die psychologisch ambivalent und zum Teil auch paradox geprägten Motivstrukturen seiner weiteren Ich-Entwicklung. Tony war wohl überwältigt, so sagt Dr. Melfi, von der Idee, dass er eines Tages das Fleisch nach Hause bringen würde und – genauso wie sein Vater – eben auch dazu verpflichtet sei. Dieser Motivkomplex der Verbindung von Gewalt, Sexualität und panikartiger Lähmung durchzieht dann die gesamten Staffeln. Mehrere Male wird Tony ohnmächtig, wenn er zu seinen geliebten Wurstscheiben greift, die er wie ein Stärkungsmittel in sich hineinschlingt. In einer an semantischer Ironie nicht zu übertreffenden Szene fällt er einfach um. Er hatte sich an diesem Fleisch gütlich getan, als sein Blick auf eine Packung »Uncle Ben’s«-Reis fällt: Der abgebildete »Uncle Ben« erinnert ihn an den ungeliebten farbigen Freund seiner Tochter. Überflüssig zu bemerken, dass ein fast tödlich endender Streit mit seiner Geliebten Gloria Trillo ausgelöst wird durch ein nach ihm geschleudertes Stück Fleisch. Tonys Ohnmachtsanfälle resultieren nicht zuletzt daher, dass er der Kreuzungspunkt mehrerer Paradoxien ist. Seine zwanghafte Einverleibung von Fleisch ist Verkörperung der in ihm inkarnierten Verbindung von sexueller Vitalität und Gewalttätigkeit, und gleichzeitig hat diese Beziehung zum Fleisch noch eine andere Seite. Denn Tony ist ja eben auch im Meat-Business, das heißt zu seinem Beruf gehört es, Körper zu zerstören bzw. sie zu zerstückeln. Und genau dieser Prozess findet mehrere Male in »Satriale’s Pork Store« statt. Dort wird die Leiche von Richie Aprile sorgfältig zerstückelt und in Plastikbeuteln entfernt. Und in mehreren anderen Szenen, der Verstümmelung Mr. Satriales und der Ermordung eines tschechischen Rivalen, wird visuell die Verbindung von Fleisch und Tod bringender Gewalt unmittelbar hergestellt. »Satriale’s Pork Store« ist nicht nur der Ort geselligen mafiösen Beisammenseins, sondern auch durchaus eine Schinderhütte im Sinne Ernst Jüngers. Eine ähnlich komplexe und sich über mehrere Staffeln hinziehende Signifikanzentfaltung zeigt sich im Zusammenhang mit der Fischmetaphorik. Fische haben in den Sopranos zwei Bedeutungsebenen: Auf einer Ebene stehen Fische für Weiblichkeit und Sexualität und sind als maskulinitätsbedrohende Formen der Aufweichung männlichen Rollenverhaltens konnotiert. Viele Einzelszenen könnten hier durchaus mit dem Instrumentarium Theweleits (»Männerphantasien«) interpretiert werden. Aber es gibt noch eine andere, strukturell bedeutsamere Ebene, die auf intertextuelle Zusammenhänge zurückgreift. In dem von der gesamten Soprano-Familie kultisch verehrten, immer wieder interpretierten und gar nachgespielten ersten Teile der Godfather-Trilogie wird die Botschaft überbracht, dass der Mafiakiller Luca Brasi von seinem Konkurrenten Sollozzo ermordet wurde, indem man der Corleone-Familie einen in einer Zeitung einge-
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wickelten Fisch übersendet. Die Interpretation dieser Botschaft besteht aus dem berühmten Satz: »Luca Brasi sleeps with the fishes.« (The Godfather I) Diese Sentenz spielt schon gleich bei der Beseitigung einer Leiche durch Christopher und Big Pussy in dem ersten Pilotfilm eine tragende Rolle und wird in eine leitmotivisch eingesetzte Todesmetaphorik überführt. Am deutlichsten lässt sich dies im Zusammenhang mit dem Schicksal von Tony Sopranos bestem Freund und alten Gefährten Big Pussy, der zum Verräter wurde, exemplifizieren. Tony weiß über lange Zeit, dass sein bester Freund ein Verräter geworden ist, verdrängt allerdings dieses Wissen darum. In der zweiten Staffel ereilt ihn in Folge eines Muschelgerichtes eine schwere Lebensmittelvergiftung, die zu einer Art symbolischen Tod führt. Von Fieber geschüttelt, hat er eine Vision, in der er seinen Freund Big Pussy als sprechenden Fisch in der Auslage eines Lebensmittelgeschäftes sieht. Der sprechende Fisch Big Pussy gesteht, dass er ein Verräter ist. Wenig später wird eben dieser Verräter von Tony und seinen »Capos« auf der Yacht Tonys exekutiert und auf hoher See versenkt. Big Pussy wird vom Fisch zu Fischfutter, aber dies ist nicht die letzte Metamorphose, die der Verräter zu vollziehen hat. Denn der Mann, den man zu den Fischen schickte, taucht viele Episoden später wieder auf, nämlich als man Tony einen vollkommen überflüssigen Scherzartikel, einen auf ein Holzstück genagelten singenden Fisch, schenkt, der bezeichnenderweise »Take me to the river« intoniert. Tony wird durch diesen Scherzartikel an die Ermordung seines besten Freundes erinnert und zerstört das überflüssige Gadget voller Zorn. Doch er kann seinem Schicksal nicht entgehen, denn einige Folgen später bekommt er denselben »Big Mouth Billy Bass«-Scherzartikel noch einmal von seiner Tochter Meadow zu Weihnachten geschenkt und muss dabei auch noch freudige Überraschtheit heucheln. Um das Maß der symbolischen Differenzierung voll zu machen, intoniert der Tony zum zweiten Mal geschenkte Fisch auch noch die Schwulenhymne »YMCA«.28 Die Wurzeln all dieser Essenssymbole sind die Komplexe Gewalt, Sexualität, Tod, Maskulinität und ausgegrenzte Weiblichkeit. In dieser ausdifferenzierten Semantik des Essens bewegt sich die Erzählstrategie der Sopranos auf einem gänzlich anderen Niveau, als es die relativ simpel gestrickte Textur bisheriger Mafiafilme hergibt, die Essen immer nur im Kontext von Ethnizität verorten. Die ambivalenten und paradoxen Verzweigungen und die Widersprüche gewaltgeschützter familiärer Innerlichkeit werden nicht zuletzt im Modus der Essensmetaphorik in den Sopranos entfaltet: »The language of their food adds depth to the narrative and its characters and elevates this show’s writing far beyond its generic formula.«29
28 | Vgl. auch Visser: Much Depends on Dinner, 151. 29 | Dunne: »›The Brutality of Meat‹«, 226.
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D ER FE T TE K ÖRPER ALS DISKURSIVER K AMPFPL AT Z Der Konsum- und Essensmotivik innerhalb der Serie ist ein dritter Inszenierungsschwerpunkt zugeordnet, dessen Bedeutung kaum zu unterschätzen ist. Die nunmehr sechs Staffeln der Sopranos sind wohl die amerikanische Fernsehserie, in der die meisten deutlich übergewichtigen Darsteller zu besichtigen sind. Korpulenz bildet ein – im wahrsten Sinne des Wortes – unübersehbares Motiv innerhalb der erzählerischen Ordnung. Tony Soprano selbst ist, und die zahlreichen Unterhemdund Bademantelszenen zeigen dies immer wieder deutlich, korpulent. Wichtige Figuren wie Big Pussy, Tonys Schwester Janice, Bobby Bacala oder die Frau von Johnny Sack sind im medizinischen Sinne adipös zu nennen. Das ist nicht nur ein extensiver und kalkulierter Regelverstoß gegen die standardisierten Körperbilder konventioneller TV-Heroen, sondern verweist auf das Zentralthema und die wichtigsten Bedeutungslinien der Serie. In den letzten beiden Dekaden haben sich zahlreiche Monografien, Sammelbände und Zeitschriftenaufsätze verstärkt mit der Sozial- und Mentalitätsgeschichte von Körperbildern, Normalitätsvorstellungen und gesellschaftlichen Interpretationen von Geschlechtsidentitäten beschäftigt. In diesem Zusammenhang sind zu nennen die Studien von Stearns, Bordo, Grogan und Kimmel.30 Folgt man der detaillierten und empirisch ausgebreiteten Argumentation von Stearns, dann setzt der Kampf gegen Übergewichtigkeit in Amerika erst an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein. Galt Beleibtheit vorher im bürgerlichen Kontext als Zeichen von Wohlstand und gesellschaftlicher Macht, so ändert sich dies nun, und der schlanke Körper wird zum gesellschaftlichen Ideal. Stearns interpretiert diesen auf vielen Ebenen nachzuvollziehenden Austausch des Körperideals als eine Reaktion auf die sich ausbildenden Freiheiten der sich entwickelnden Konsumgesellschaft. In dem Augenblick, in dem sowohl rigide gesellschaftliche Moralvorstellungen als auch die vielfältigen Konsummöglichkeiten dem Individuum eine Reihe neuer Handlungs- und Genussoptionen ermöglichen, wird der ertüchtigte, disziplinierte Körper des Konsumenten gleichsam zur letzten Rückzugsbasis gegen einen universellen konsumistischen Kontrollverlust. Der übergewichtige Körper wird aus dieser Perspektive zu einem Indiz für mangelnde Selbstdisziplin, Kontrollverlust und Genusssucht: Constraint, including the new constraints urged on eating and body shape, was reinvented to match – indeed, to compensate for – new areas of great of freedom […] a growing commitment to acquisitiveness generated and even more widespread and durable zeal, for attacking fat as a symbol of moral probity. 31 30 | Vgl. Stearns: Fat History; vgl. Bordo: The Male Body; vgl. Bordo: Unbearable Weight; vgl. Goldstein (Hg.): The Male Body; vgl. Grogan: Body Image; vgl. Kimmel: Consuming Manhood. 31 | Stearns: Fat History, 54f.
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Körperliche Selbstdisziplin als kompensatorische Moral einer konsumistischen Mittelklasse, der tendenziell alle Genussoptionen offen standen, wird zum gesellschaftlichen Leitbild. Von dieser Position her ist es nur ein kleiner Schritt dahin, Korpulenz nicht nur als eine lässliche Schwäche, sondern als Ausdruck des Bösen zu sehen. Genau diesen Schritt vollzieht der klassische Gangsterfilm, in welchem überproportional viele übergewichtige Bösewichte auftreten. Marlon Brando etwa musste sich zusätzlich Gewicht verschaffen und seine Backentaschen künstlich aufpolstern, um in dieser Form artifizieller Korpulenz die Macht, aber auch die moralische Gefährlichkeit Don Vito Corleones im ersten Teil des Paten zu visualisieren. Und Tony Soprano ist das Fallbeispiel eines filmischen Körpers, in dem die Korpulenz Ausdruck moralischer Ambivalenz wird. Tony Soprano ist ja nicht nur der ewig Essende, sich in maßloser Oralität aufschwellende Körper, er steht in einer nahezu gargantuesken Weise für das Prinzip der Gier und Verschwendung schlechthin. Der sexuelle Appetit ist beträchtlich, und Episode an Episode reihen sich seine Affären aneinander, er trinkt, er spielt und gibt seinen gewalttätigen Impulsen häufig unkontrolliert nach. Und so macht innerhalb der Filmsprache der Sopranos das Übergewicht von Tony Soprano deutlich, was er ist: »a corrupt embodiment of the American dream«32 . Doch der korpulente Körper des Mafiapaten wird nicht einfach nur als Ausdrucksträger von Gier, Maßlosigkeit und Amoralität inszeniert. Seine unkontrollierte, insbesondere orale Gier nähert sich dem einzigen Gesellschaftsmitglied an, dem wir solche ungezügelte Gier moralisch nachsehen: dem Kind – in der Tat ein immer wiederkehrendes Motiv, das von Frau, Schwester oder Therapeutin als infantile Natur seines Wesens erörtert wird. Und so wird diese körperliche Konstitution Tonys inszeniert als Äquivalent psychologischer und sozialer Dispositionen. Tonys ungezügelte Genussgier ist einerseits Lustquelle für ihn, andererseits zwingt sie ihn zu immer neuen Versuchen, Kontrolle über diesen Körper zu erlangen, der ihm in Form von Panikattacken und Zusammenbrüchen permanente Störfälle bereitet. Gleichzeitig ist sein gieriger, konsumistischer, unathletischer Körper ein Verstoß gegen die gängigen Standards athletischer Mittelstandskörper, wie sie von vielen seiner bürgerlichen Nachbarn repräsentiert werden. In sozialpsychologischen Arbeiten zur Körperinszenierung der postindustriellen Mittelklasse ist die These formuliert worden, diese postmodernen Körper hätten das Ideal aristokratischer Schlankheit übernommen, weil Fitness die postulierten und dominierenden Ideale von Selbstkontrolle und Mobilität am besten repräsentierte.33 Aus dieser Perspektive ist der gargantueske Körper des Mafiosos einerseits eine Art Stück sozialer Regression, andererseits das Objekt des Neides und der Begierde. Seine maßlosen sexuellen Eskapaden, seine Vorliebe für Pasta, 32 | Santo: »›Fat fuck! Why don’t you take a look in the mirror?‹«, 76. 33 | Vgl. Bordo: The Male Body.
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Sahne und Fastfood lassen ihn als Fitnesssaurier erscheinen, und dennoch gönnt er sich eben jenen Genuss, den sich seine asketisch fitten Halbfreunde versagen. Tony Soprano zeigt und lebt orale und sexuelle Gier in einer Weise aus, die seinen disziplinierten Mittelstandsnachbarn versagt bleibt. Es gehört aber zu den eleganten Paradoxien, die die Serie entfaltet, dass genau jene disziplinierten schlanken Körper als im Wesen weitaus undisziplinierter gezeigt werden. Mit fast leitmotivischer Konsequenz sind alle athletischen und durchtrainierten Mitglieder der Mafiafamilie in irgendeiner Weise mit Drogen in Beziehung gesetzt. Christopher nimmt Heroin und Kokain, zwei jugendliche Gangster aus der ersten Staffel rauchen Marihuana und nehmen Speed, und die beiden sportlicheren Hauptleute Ralphie und Richie sind dem Kokain verfallen. Wenn in der postmodernen Fitnessgesellschaft Sport und Diät die entscheidenden Medien sind, um einen asketischen und athletischen Körper zu erlangen, dann dekonstruiert die amerikanische TV-Serie dieses Kulturideal auf unübersehbare Weise. Mit großer erzählerischer Konsequenz werden all jene Figuren, die entweder über besonders athletische Körper verfügen oder im engeren oder weiteren Sinne mit Sport verbunden sind, in erzählerische Abgründe geschickt. Der erfolgreiche Fußballtrainer vergreift sich an einer minderjährigen Schülerin, der Besitzer eines Sportartikelladens ist ein selbstzerstörerischer Spieler, und die durchtrainierten und gesundheitsbewussten Nachwuchsgangster werden aufgrund dümmlicher Verfehlungen teilweise von Tony höchstpersönlich liquidiert, und es ist kein Zufall, dass sich der korpulente Exekutor über den letzten Wunsch seines Opfers, nämlich einer »diet-coke«, sarkastisch äußert. Oder wie ein Interpret formuliert: »On The Sopranos, fatness wins and fitness regularly leads to an early grave.«34 Doch besteht die Botschaft der Körper in den Sopranos keineswegs darin, dass der korpulente, entgrenzt genießende Körper als eine Art Sozialutopie gegenüber einem disziplinierten, athletischen Mittelklassepuritanismus auftritt. Die durchaus pessimistische Botschaft der korpulenten Körper zeigt sich erst, wenn man die bisher skizzierten drei Motive Konsumismus, Essen und Korpulenz innerhalb des erzählerischen Ganzen zusammen sieht. Dann wird nämlich deutlich, dass die individuellen Körper, Tonys aber auch die seiner Freunde, Teile eines unendlichen Zirkels der Konsumtion sind: Konsumtion, die für die Dialektik von Kontrolle und Kontrollverlust, Genuss und Versagung, Begrenzung und Kollaps steht. Die sarkastische Erzähllogik der Sopranos formuliert den desperaten Zyklus spätkapitalistischer Konsumtion am deutlichsten in zwei Bildern – in der Transformation von Big Pussy, dem genießenden Körper, zum Speiseobjekt und zum sinnlosen Objekt des Konsums, einem Plastikfisch, und in der gleichsam kannibalistischen Inszenierung von »Satriale’s Pork Store« als Durchgangsstation für zu entsorgende Leichen. Diese aggressive und autoaggressive, in die Körper der Konsumenten selbst eingreifende Dimension unendlicher Zyklen des Güter34 | Santo: »›Fat fuck! Why don’t you take a look in the mirror?‹«, 83.
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transfers zeigt sich in einer Episode fast überdeutlich. Als die frühere Pflegerin der verstorbenen Mutter der Bitte von Tonys Schwester nicht nachkommt, ihr die Plattensammlung der Mutter zurück zu erstatten, greift Tonys skrupellose Schwester zu einem drastischen Mittel. Sie stiehlt der einbeinigen, mit einer aufwändigen und luxuriösen Beinprothese versehenen Pflegerin eben dieses künstliche Körperglied und benutzt es als Erpressungs- und Tauschmittel, um die begehrten Platten zurückzubekommen. Hier werden in einer nahezu shakespearehaften Weise die künstlichen Körperglieder zu Teilen der konsumistischen Kette. Und diese halbkannibalische Aktion führt – wie nicht anders zu erwarten – zu einer weiteren Orgie körperlicher Gewalt. Der real existierende Spätkapitalismus des Tony Soprano steht im Zeichen eines universellen, zirkulierenden Fließens des Begehrens, und sehr schwer abweisbar ist der Gedanke, der Kosmos der Sopranos sei nichts anderes als die narrative Inszenierung der Deleuzianischen Wunschmaschine. Tony Soprano, der Gesetzlose, der unter dem Gesetz des Begehrens und des Konsums steht, repräsentiert emblematisch die beiden Hauptzüge des Kapitalismus, so wie ihn Deleuze und Guattari beschreiben. Er, der Schmerzensmann der Konsumgesellschaft, Kannibale, Golem und »Joe Public« in einem, trägt auf seiner Stirn das Kainsmal der schizophrenen wie paranoiden Tendenzen des Kapitalismus; und es ist der Kreativität, Kunstfertigkeit und Gelehrsamkeit der Autoren und Regisseuren zu verdanken, dass diese deleuzianische Positionierung des Mafia-Genres weder zu einer simplen visuellen Allegorie noch zu einem moralin-sauren Sozial-TV à la Lindenstraße wurde.35
P OPKULTURELLER K OMPLE XITÄTSWANDEL UND S TR ATEGIEN DER A RCHIVIERUNG Die Sopranos gehören zur Gattung des sogenannten »Quality Dramas«, also jener Reihe von TV-Produktionen, die um die Milleniumswende herum entstanden. Zu nennen sind hier noch Produktionen wie Buffy, The Simpsons, Deadwood, 24 oder Six feet under. Für all diese Produktionen ist charakteristisch, dass sie mit den standardisierten Genrekonventionen brechen, neue und zum Teil formal gewagte Erzählformen ausprobieren (24) und in der spezifischen Form des ›postmodernen‹, intertextuell orientierten Narrationskomplexes ein ›anspruchsvolles‹ und aktiv dechiffrierendes Publikum voraussetzen. Dabei sind es insbesondere die Medienbedingungen des TV-Dramas, die solche Experimente ermöglichen, bietet 35 | Vgl. Deleuze und Guattari: Antiödipus. Kapitalismus und Schizophrenie, 7-15. Zum Verhältnis von Dekodierung, Schizophrenie und Paranoia bei Deleuze und Guattari vgl. 286-337. Bei einer ähnlichen Figur der zirkulären Wunschproduktion und deren Allegorisierung durch Kokain in Brian de Palmas Scarface Remake vgl. Bogue: De Palma’s Postmodern Scarface and the Simulacrum of Class, 183-193.
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doch der weitgesteckte erzählerische Rahmen, der nicht an den Produktions- und Gattungsvorgaben des Films orientiert ist, die Möglichkeit, in komplexer Weise mit Erzählstrukturen umzugehen. Prototypisch war hier etwa auch die Erzählhaltung der Serie X-Files. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt. Bei den Sopranos wurden zeitnah zur Ausstrahlung die unterschiedlichen Staffeln als DVD-Box – zumindest in der amerikanischen Edition mit Regiekommentaren, Specials etc. versehen – auf den Markt gebracht. Diese DVD-Editionen ermöglichen eine gänzlich neue Auseinandersetzung mit solch komplexen Serien. Der Interessierte und Kenner kann die Folgen auf immer neue Art betrachten, mit Hilfe der unterlegten Kommentare die einzelnen Szenen analysieren und sich durch die weiterführenden Informationen in die Erzählwelt vertiefen. Durch diese, an das Modell der kommentierten Ausgabe literarischer Werke erinnernde Rezeptionsmöglichkeit erreicht die Serie eine völlig neue Verankerung im kollektiven Bewusstsein. Die Flüchtigkeit der TV-Ausstrahlung wird durch die Möglichkeit zu häuslicher, häufig kollektiv erfolgender Mediennutzung unterlaufen. Auf diese Art und Weise können Serien – wie die Sopranos – in der Tat zweierlei erreichen. Sie werden, und dies ist ja gleichsam die platonische Idee des Fern-sehens, zu einem Stück Alltag der Rezipienten. Gleichzeitig kann die gleichsam philologische Rezeption eine tiefe Kennerschaft erreichen, wie sie sonst anderen Medien vorbehalten war. Die bisher immer wieder thematisierten narrativen Einzelelemente, das heißt die Akzentuierung der psychologischen Entwicklung der Helden, die komplexe Verwobenheit einzelner Handlungsstränge, die Entwicklung von Leitmotiven, das Spiel mit Genrekonventionen, kurz gesagt: die gesamte narrative Komplexität der TV-Serie lassen diese als gleichsam literarisch erscheinen. Und so haben auch viele Interpreten immer wieder Vergleiche zwischen den Sopranos und den Werken Balzacs, Zolas und Dickens’ gezogen. Damit markiert die Serie innerhalb der Genretraditionen eine neue Entwicklungsstufe. Die Klassiker des Genres gingen bisher auf fiktive oder reale Milieuschilderungen zurück. The Godfather, GoodFellas und Donnie Brasco etwa haben Romane und Autobiografien als Vorlage. Es wäre umgekehrt ein reizvolles Gedankenspiel, sich vorzustellen, aus dem komplexen Erzählgewebe der Sopranos-Staffeln einen amerikanischen Gegenwartsroman zu verfertigen. An genau jenem Punkt, nämlich der zunehmenden Komplexität des zeitgenössischen »Television-Drama«, setzt der amerikanische Medienwissenschaftler und Publizist Steven Johnson an. Er beschäftigt sich mit dieser Frage in seinem Buch Everything Bad is Good for You, und diese Publikation setzt bei einem Problem an, das schon in einer frühen Arbeit von Umberto Eco (»Apokalyptiker und Integrierte«) eine Rolle spielte, nämlich der Frage, an welchen Kriterien man die Produkte der Massenkultur messen kann und welche Auswirkungen diese haben. Johnsons provokante These besteht darin, dass er ausführt, die neuen, postmodernen Produkte der Massenkultur (Computerspiele, Comics und eben TV-Serien) würden uns nicht, wie der allgemeine Konsens lautet, dümmer machen, sondern
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klüger. Die Belege dafür sind evident und wären anhand der Sopranos durchaus nachzuzeichnen. Die Drehbücher entwickeln mehrere ineinander verschlungene Handlungsstränge, Metainformationen werden weggelassen, und es gäbe so viele Allusionen und Subtexte, dass der interessierte Interpret außerordentliche Geduld haben müsste, um sie alle zu dechiffrieren.36 Johnson will uns, nicht zuletzt anhand der Sopranos, demonstrieren »[h]ow popular culture is making us smarter«, und dieser provokante, gegen Medienapokalyptiker wie Postman gerichtete Ansatz gewinnt noch an Plausibilität dadurch, dass er die kognitiven Anforderungen und Leistungen der Produkte der Massenkultur durchaus nicht als Ausdruck des Philantropismus der Produzenten interpretiert. Vielmehr liefert er eine ebenso simple wie überzeugende Erklärung für die neue Komplexität der TV-Produzenten. Die strukturelle Verrätselung und das hohe Niveau der Produktionen würden eine intensive Beschäftigung beim interessierten und faszinierten Zuschauer geradezu erzwingen. Und diese Beschäftigung könne nur im Medium der eben dann zusätzlich zu erwerbenden DVD-Box erfolgen. Zufällig erinnert die monumentale Wucht der umfangreichen DVD-Boxen, in denen nicht nur die Sopranos, sondern auch die anderen stilbildenden Exemplare des TV-Genres angeboten werden, an das gleichermaßen imponierende Erscheinungsbild einer klassischen literarischen Werkausgabe. Jenseits der sonst für das TV-Genre konstitutiven Flüchtigkeit – sieht man einmal vom kontingenten Element der Wiederholung ab – zeigt sich bei den Sopranos deutlich, wie eine Fernsehserie zu einer Art kulturellem Archiv werden kann. Als Archiv der Populärkultur speichern die Sopranos Inhalte, die unterhalb der hochkulturellen Wahrnehmungsschwelle existieren. Dies geschieht auf drei Ebenen. Auf einer ersten Ebene der Serie kann man die Sopranos als eine Art hyperrealistisches Zeitdokument bald schon historisch gewordener Lebensformen, sozialer Praktiken, Moden und Lebenswelten lesen. Dies macht die Serie zu einem sehr präzise rekonstruierbaren Zeitdokument, wobei auf dieser Ebene die Sopranos genauso lesbar sind und wären wie andere TV-Serien. Der oben herausgearbeitete Aspekt der Intermedialität und Intertextualität macht allerdings die Erzählwelt der Sopranos zu einem popkulturellen Archiv zweiter Ordnung. Die fast katalogartige Präsenz von Konsumgütern, Medienprodukten und metareflexiven Querverweisen knüpft an einen weit verbreiteten Trend zur Archivierung popkultureller Inhalte an. So archiviert etwa die zeitgenössische Literatur – angefangen bei Bret Easton Ellis bis hin zu den deutschen Popliteraten – Konsumgüter und medienkulturelle Inhalte.37 Trendmagazine wie Vice präsentieren Produkte der Gegenwartskultur in gleichsam musealer Form und beginnen somit den paradoxen Prozess einer Art simultanen Archivierung. Die Rezeption popkultureller Inhalte in den Sopranos dokumentiert, wie in den anderen Fällen 36 | Vgl. Johnson: Everything Bad Is Good for You, 62-115. 37 | Vgl. dazu Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman.
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auch, die enorme Flüchtigkeit und die extreme kulturelle Bedeutsamkeit eben dieser popkulturellen Inhalte. Die dritte Ebene der Archivierungsprozesse innerhalb der Sopranos ist die für Kulturwissenschaftler sicherlich interessanteste. Analysen bestimmter bedeutungstragender Motive und Subtexte (Körper, Essen, Konsum etc.) zeigen auf sehr deutliche Weise, dass eine intelligent konstruierte TV-Serie wie die Sopranos nicht nur auf eindimensionale narrative Weise popkulturelle Artefakte sammelt und präsentiert, sondern es wird deutlich, dass hier in fiktiver Form eine Art von Wissensorganisation und -präsentation vollzogen wird. Komplexe Erzählwelten der Sopranos sind gleichermaßen Diskurse über Diskurse, und diese Figur schließt direkt an Diskussionen innerhalb der Literaturwissenschaft und Kulturanthropologie an, wenn dort über das Wissen der Literatur bzw. der Rolle und die spezifischen Bedingungen einer literarischen Anthropologie verhandelt wird.38 Zur Illustration für eine solche, aphoristische Diskursproduktion dient der Dialog zwischen AJ und einem älteren Freund. Da geht es um AJs pubertätsbedingte Faszination für den französischen Existenzialismus. Er zitiert einen so genannten »Nitsch« und einen »Sartre«-Aufsatz. Das wenige, was er von beiden Philosophen verstanden hat, präsentiert er als vulgarisiertes existenzialistisches Credo. Sein Diskussionspartner, mit fundierteren Kenntnissen zum Thema ausgestattet, weist ihn darauf hin, Camus und Sartre hätten sowieso alles von Husserl gestohlen. AJ lässt nicht locker und sieht Analogien zwischen dem Gedankengut der Existenzialisten und den Texten des Rappers »50 Cent«. Sein kritischer Gesprächspartner resümiert aber, die Hip-Hop-Attitüde sei ein bloßer Marketingtrick der Musikindustrie. So präsentiert der Dialog zweier Jugendlicher innerhalb der Sopranos nicht weniger als die kulturwissenschaftlich durchaus verifizierbare These, dass die Positionen des europäischen Existenzialismus in den Attitüden des Hip-Hop zur marktgerechten Pose erstarrt seien. Mit der oben beschrieben Perspektive lässt sich auch gleichsam eine ästhetische Positionierung von TV-Serien wie den Sopranos vornehmen. Die Inhalte der Populärkultur, so prägend und so komplex sie häufig sind (das muss nicht immer der Fall sein), nehmen ja eine seltsame Zwischenstellung ein. Die Produkte gehobener Qualität sind nicht gänzlich den Furien des Vergessens anheimgefallen, wie es für die ganz trivialen Hervorbringungen gilt, doch gleichzeitig gehören sie bisher eindeutig nicht zum Kanon der archivierbaren und interpretierbaren Hochkultur. Popkultur ist ja nach einem Wort von Diedrich Diederichsen eben jener Bereich, der zwischen »low culture« und »high culture« in einer Art Zwischenbereich angesiedelt ist. Und genau diese neuen Formen des Wissens, für die die Sopranos doppelter Ausdruck sind, können und müssen verstärkt in den Blick der medienkulturellen Analyse geraten. Und dabei ergibt sich, so zeigt die Beschäftigung mit den Sopranos, eine durchaus neue Entwicklung. Die Analysen aus der Schule der »cultural studies« und deren späterer Filiationen mussten ja immer 38 | Vgl. Hörisch: Das Wissen der Literatur.
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gleichsam aus der Defensive argumentieren. So sind die Analysen von John Fiske zu »Hart to Hart« oder Dallas39 methodologisch zwar wegweisend, leiden aber dann doch unter der ästhetischen Insuffizienz ihrer Gegenstände. Serien wie die Sopranos zeigen, dass kulturwissenschaftliche Medienanalyse nicht nur neue Formen des Wissens beschreiben und interpretieren, sondern dies zugleich auch an ästhetisch reizvollen, komplexen und gewinnbringenden Objekten erfolgen kann.
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Pornografie als Schemaliteratur – am Beispiel pornografischer Geschichten im Internet Matías Martínez
Das Phänomen Pornografie hat viele Seiten. Man kann die soziale Zirkulation von Pornografie untersuchen, kognitive Voraussetzungen und Folgen ihres Konsums erklären, Rechtsnormen für den Umgang mit ihr aufstellen oder Darstellungsverfahren und Inszenierungsformen pornografischer Werke beschreiben. Dem letztgenannten Aspekt gelten die folgenden Überlegungen. Unter Pornografie wird hier die Darstellung sexueller Handlungen zur Erregung der Rezipienten verstanden. Das entspricht nicht in der moralisierenden Tendenz und normativen Zielsetzung, aber im deskriptiven Gehalt der zu Unrecht oft geschmähten Begriffsbestimmung des Bundesgerichtshofs im sogenannten Fanny Hill-Urteil aus dem Jahr 1969: Als pornographisch ist eine Darstellung anzusehen, wenn sie unter Ausklammerung aller sonstigen menschlichen Bezüge sexuelle Vorgänge in grob aufdringlicher, anreißerischer Weise in den Vordergrund rückt und ihre Gesamttendenz ausschließlich oder überwiegend auf das lüsterne Interesse des Betrachters an sexuellen Dingen abzielt.1
Legt man diesen Begriff von Pornografie zugrunde, dann kann es nicht darum gehen, verborgene ästhetische Qualitäten pornografischer Texte zu enthüllen, wie es etwa Susan Sontag in ihrem klugen Essay The Pornographic Imagination (1967) am Beispiel der Werke des Marquis de Sade, von Georges Batailles Histoire de l’oeil, Pauline Réages (d.i. Dominique Aurys) L’histoire d’O oder Jean de Bergs (d.i. Cathérine Robbe-Grillets) L’image tut.2 Während die Schriften des Marquis inzwischen den Olymp der Bibliothèque de la Pléiade erklommen haben, werden die im Folgenden untersuchten Texte keine Kanonisierung erreichen. Ebenso wenig geht es um die Aufdeckung subversiver Potentiale von Pornografie, auf die sich beispielsweise Salman Rushdie in Reaktion auf entsprechende Verbote in muslimischen 1 | Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen (BGH St 23,44). 2 | Vgl. Sontag: »The Pornographic Imagination«.
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Ländern berief, als er Pornografie als wichtiges Instrument zur Unterwanderung repressiver Sexualmoral und totalitärer politischer Strukturen bezeichnete.3 Andererseits soll pornografisches Erzählen hier aber auch nicht ideologiekritisch, sei es in religiöser, kulturkonservativer oder feministischer Absicht, entlarvt werden. Kurz: Es wird keiner der üblichen Gründe in Anspruch genommen, um sich mit Pornografie zu beschäftigen – nämlich die Pornografie insgeheim in etwas anderes, Unproblematischeres zu verwandeln oder sie ästhetisch oder politisch aufzuwerten oder aber sie ideologiekritisch zu entlarven. Ich möchte Pornografie weder feiern noch verwerfen, sondern beschreiben. Mein Interesse gilt der Art und Weise, wie schlichte pornografische Interneterzählungen von Amateur-Autoren gemacht sind. Die Machart von Pornografie ist von ihren gesellschaftlichen Funktionen und psychologischen Wirkungen zu unterscheiden und verlangt nach eigenständiger Untersuchung. Denn die Zuweisung von Funktionen und Wirkungen hängt davon ab, wie Pornografie als sinnhaftes Phänomen konstituiert und angeeignet wird. Pornografie begegnet man im Internet in unterschiedlichen Formen, in Gestalt von Fotos, Filmen und Texten auf Websites und Weblogs, auch als virtuellen Sex in simulierten Online-Welten wie Second Life.4 Bei Google findet man unter dem Stichwort »Sex« annähernd eine Milliarde Einträge, unter »Pornography« knapp 50 Millionen. Im Jahr 2001 sollen 33% aller deutschen Internetbenutzer Sex-Websites besucht haben. Dieser Prozentsatz dürfte seither nicht gesunken sein. Man darf vermuten, dass die meisten Internet-Benutzer nicht sprachgestützte, sondern visuelle Pornografie konsumieren. Entsprechend scheint sich auch das Angebot zu verteilen: Texte machen wohl nur einen kleinen Teil der gesamten Internet-Pornografie aus. Andererseits darf man vermuten, dass trotz des anhaltenden Angebots pornografischer Texte in Zeitschriften und Büchern sprachliche Pornografie inzwischen überwiegend über das Internet rezipiert wird. Sprachliche Pornografie stand nicht erst seit dem Aufkommen des Internets, sondern weit früher in Konkurrenz zur visuellen Pornografie in Fotografie, Film, Zeitschriften, Privatfernsehen und Videos. Doch ist die Geschichte der sprachlichen Pornografie nicht nur eine Verlustgeschichte. Gerade im Internet sind, wie sich zeigen wird, auch neue Formen sprachlich-pornografischen Erzählens entstanden. Die einigermaßen arbiträre Basis meiner Beobachtungen bilden einige aktuelle deutsch- und englischsprachige Websites mit pornografischen Erzählungen, meist 3 | Vgl. Rushdie: »The East is Blue«. Eine lesenswerte Verteidigung der Pornografie gibt auch Gould: »Why Pornography is Valuable«. 4 | Einen Überblick über pornografische und sexbezogene Inhalte im Internet geben Hill, Briken und Berner: »Pornographie und sexuelle Gewalt im Internet«. Zur Veränderung pornografischer Inhalte und ihrer Rezeptionsformen durch den Einsatz neuer medialer Datenträger von den Zeitschriften und Groschenheften der 1950er und 1960er Jahre über die Pornokinos der 1970er, die VHS-Videos der 1980er und die DVDs der 1990er bis zum Internetkonsum seit 2000 siehe Pipe: »Die Geschmäcker sind verschieden«.
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im Umfang zwischen 3.000 und 15.000 Zeichen (d.h. 2-10 Standard-Druckseiten). Sie tragen Namen wie Nifty Erotic Stories Archive, Literotica, erotische-sexgeschichten oder erogeschichten. Die Zahl der präsentierten Texte geht jeweils in die Hunderte. Wie sehen diese Texte aus? Betrachten wir nacheinander die erzählte Welt, die Sprache und die mediale Umgebung pornografischer Erzählungen im Internet.
D IE PORNOGR AFISCHE W ELT : W AS WIRD ERZ ÄHLT ? Pornografie ist aktionsorientiert: Sie stellt sexuelle Handlungen dar. Dabei geben die Erzählungen in der Regel kein offenes Konglomerat disparater Handlungen wieder, sondern haben einen einzelnen, abgeschlossenen Handlungsstrang mit Anfang, Mitte und Ende.5 Die typische pornografische Episode beginnt mit der Begegnung von zwei oder mehr Personen (es gibt natürlich auch Masturbationsszenen Einzelner) und wird durch sexuelle Aktivitäten bis hin zum Orgasmus der Beteiligten fortgesetzt. Die pornografische Erzählung erhält dadurch nicht nur eine chronologisch-lineare, sondern auch eine teleologische Struktur mit eingebauter Stoppregel: Sie setzt nicht irgendwann, sondern mit dem Entstehen einer sexuellen Situation ein, und sie bricht nicht irgendwann ab, sondern besitzt im Orgasmus der Beteiligten ihren Zielpunkt. Die narrative Einheit der pornografischen Erzählung entsteht aus der Geschlossenheit des dargestellten Geschehens. Die Geschlossenheit der Handlung findet in der Lektüresituation ihre Entsprechung. Die Geschichten haben einen überschaubaren Textumfang von selten mehr als 10.000 Wörtern. Sie sind in einem Zug durchzulesen und laden zu einem einheitlichen, klimaktischen Leseprozess ein – durchaus im Sinne von Edgar Allan Poes Forderung, in Philosophy of Composition, die Wirkung eines Werkes sei durch eine Länge zu intensivieren, die eine ununterbrochene Lektüre (»limit of a single sitting«) erlaube. Die pornografische Basisepisode ist so stereotyp, dass man vermuten darf, ihr korrespondieren bestimmte kognitive scripts. Solche scripts sind mentale Repräsentationen von Handlungs- und Ereignissequenzen, die für bestimmte Standard-Situationen des täglichen Lebens typisch sind, die also wiederholt ablaufen und eine hohe Vorhersagbarkeit besitzen. Scripts sind fest, weil sie sich auf ganz bestimmte Situationstypen beziehen, aber auch offen für Varianten, Kürzungen und Erweiterungen. Sie enthalten slots, die auf unterschiedliche Weise gefüllt werden können. Wird beim Restaurantbesuch gestern ein Steak und heute ein Ruccolasalat bestellt, dann sind das Varianten des slots ›Ein Gericht bestellen‹ als Teil des scripts ›Restaurantbesuch‹. In der kognitiven Sexualwissenschaft bezeichnet man die mentale Repräsentation typischer Verläufe von sexuellen Handlungen und Kom5 | Deshalb sind nicht nur pornografische Erzählungen und Filme, sondern auch einzelne pornografische Fotos grundsätzlich narrativ, weil sie als Ausschnitt aus einer fortlaufenden sexuellen Handlung wahrgenommen werden.
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munikationen als sexual scripts und unterscheidet drei Arten: General scripts enthalten Vorstellungen, die jemand über typische Abläufe sexuellen Verhaltens im Allgemeinen (in seiner Generation, seinem sozialen Milieu, seiner Gesellschaft) hat. Individual scripts umfassen die Vorstellungen über das eigene typische sexuelle Verhalten. Als dritte Kategorie wurde schließlich der Begriff cultural-level script vorgeschlagen, nämlich »scenarios presented in the media, folklore, and mythology«.6 Die pornografische Basisepisode (Personen treffen zusammen und haben Sex bis zum Orgasmus) wird, zumindest in längeren Darstellungen, zu Episodenketten erweitert. Es entstehen Variationen der Basisepisode durch wechselnde Kombinationen der Figuren oder durch den Wechsel der Sexualpraktiken. Über die bloße Kombinatorik hinaus steigern pornografische Erzählsequenzen die dargestellten Sexualakte, indem sie die Zahl der Beteiligten (etwa: Masturbation – Sex zu zweit – Sex zu dritt – Gruppensex) oder Zahl, Größe oder Ungewöhnlichkeit der benutzten Utensilien (etwa: Finger – Dildo – Gurke) erhöhen. Eine häufig wiederkehrende Standardsequenz lautet ›Oralverkehr – vaginaler Geschlechtsverkehr – Analverkehr‹; diese Reihe wird in einigen Geschichten zu devianteren Sexualpraktiken hin fortgeführt (gleichzeitiger vaginaler und analer Verkehr, Sadismus, Masochismus, Sodomie, Urophilie, Koprophagie, Fisting, Pädosexualität u.a.). Pornografische Geschichten stellen Zufälle gern in den Dienst des übergreifenden Handlungsschemas, ohne dass diese aus dem Geschehen heraus empirisch wahrscheinlich gemacht würden. Ein Ereignis geschieht nicht so sehr, weil es durch ein früheres verursacht wurde, sondern damit die Handlung zum von vornherein festliegenden Ziel, dem Sex, gelangt: Brigitte verläuft sich in Luanda, weil sie sich in der fremden Stadt nicht auskennt, vor allem aber, damit sie zwei fremden Männern begegnet, mit denen sie Sex haben wird.7 Die Professorin übernachtet nach einem gemeinsamen Abendessen nicht deshalb bei ihrem Studenten, weil spätabends kein Zug mehr zu ihrem Heimatort fährt, sondern damit es zu einem sexuellen Kontakt kommen kann.8 Solche primär kompositorisch motivierten Verkettungen des Geschehens sind charakteristisch für schemaorientiertes Erzählen. Die totale Funktionalität dieser erzählten Welten umfasst auch ihre Räume und Dinge. Pornografische Geschichten finden in Räumen statt, die nichts als Schauplätze zur Ausübung von Sex sind. Schlafzimmer, Wohnzimmer, Küchen, Badezimmer, Keller, Bars, Straßen, Züge, Parks oder Autobahnraststätten prägen den Sex, der dort stattfindet. Räumliche Spezifika und Dinge werden nur erwähnt, wenn sie für den sexuellen Plot bedeutsam sind – etwa bei öffentlichen Schauplätzen die Möglichkeit, entdeckt zu werden.9 Kleidung ist zum Aufreizen und Auszie6 | Metts und Spitzberg: »Sexual Communication in Interpersonal Contexts«, 52. 7 | Vgl. Holger51: »Brigittes Einsatz in Afrika«. 8 | Vgl. the_dark_side: »Die Verführung der Professorin«. 9 | Hier liegt ein Unterschied zu bildgestützter Pornografie. Auch in pornografischen Filmen oder Fotos ist der Raum in hohem Maß sexuell funktional; doch die Konkretheit des Bildes enthält, anders als die abstrakte sprachliche Darstellung, unausweichlich auch un-
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hen da. Möbel (Betten, Tische, Stühle, Liegen, Sofas, Badewannen, Duschen) sind Gelegenheiten zur Ausübung des Geschlechtsverkehrs. ›Zufällig‹ herumstehende Accessoires wie Kerzen, Flaschen, Obst oder Gemüse dienen dem Masturbieren, Penetrieren, ›Bestrafen‹ o.ä. In vielen heterosexuellen Geschichten sind die Funktion und die Kombinierbarkeit der Figuren durch ihre Position in der Dichotomie ›männlich vs. weiblich‹ festgelegt. In den zahlreichen Geschichten mit Homosexuellen, Bisexuellen oder shemales gilt diese dichotomische Ordnung jedoch nicht, und selbst in den dominant heterosexuellen Geschichten kombinieren sich zumindest die weiblichen Figuren oft in lesbischen Praktiken miteinander. Der übergreifende ›Wert‹ der Figuren im pornografischen Aktantensystem wird daher nicht so sehr durch ihre Geschlechterzugehörigkeit bestimmt als vielmehr durch ihre generelle sexuelle Verknüpfbarkeit mit anderen Figuren: »the reason why pornography refuses to make fixed distinctions between the sexes [is] to multiply the possibility of exchange. Ideally, it should be possible for everyone to have a sexual connection with everyone else« (Susan Sontag).10 Körpermerkmale (besonders Größe und Form der Geschlechtsteile, aber auch Haut- und Haarfarbe, Körpergröße, Gewicht, Statur) sind ausschließlich im Hinblick auf ihre sexuelle Attraktivität relevant. Dabei kann Attraktivität offenbar auch von Körpern und Körpermerkmalen ausgehen, denen nicht in allen Milieus unbedingte erotische Anziehungskraft zugesprochen wird, wie die Sektionen ›Behaart‹, ›Alte‹, ›Zwergwüchsige‹, ›Mollige‹ und ›Verstümmelte‹ offenbaren. Wie die materielle Welt, so ist auch die ›Psyche‹ pornografischer Figuren von großer Homogenität. In ihren Gedanken und Empfindungen beziehen sie sich ausschließlich auf Sex. »Ficken und gefickt werden, das war ihr Lebensinhalt.«11 Noch einmal Susan Sontag: »The feelings of the personages deployed by the pornographic imagination are, at any given moment, either identical with their ›behavior‹ or else a preparatory phase, that of ›intention‹, on the verge of breaking into ›behavior‹ unless physically thwarted.«12 Bereits in den Kategorisierungen der Geschichten auf den Eingangsseiten der Websites werden die Protagonisten weitgehend durch körperliche oder andere Merkmale bestimmt, die für ihre sexuelle Attraktivität und ihre Handlungen relevant sind – als ›Hausfrau‹ (Sex mit Schür-
spezifische Details. Das wird ironisch von Timm Ulrichs in seiner Fotoserie Kunst & Leben. Bildbeispiele aus Pornoheften (1978/92) illustriert. Ulrichs zeigt vergrößerte Ausschnitte pornografischer Fotos, auf denen an der Zimmerwand im Hintergrund der kopulierenden Körper Reproduktionen klassischer Gemälde von van Gogh, Vermeer, Rembrandt u.a. erkennbar sind, die in denkbar großem Kontrast zum Hauptinhalt der Bilder stehen; siehe Ulrichs: Betreten der Ausstellung verboten!, 160f. 10 | Sontag: »The Pornographic Imagination«, 66f. 11 | Eroticgeist: »Petra Kirsch Teil 6: Der Zuschauer«. 12 | Sontag: »The Pornographic Imagination«, 66.
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ze oder auf dem Küchentisch), ›Schlampe‹, ›schwul‹, ›mollig‹, ›dünn‹, ›behaart‹, ›schwanger‹, ›alt‹, ›jung‹ etc. Auch nationalistische und rassistische Figurenstereotypen spielen eine große Rolle. Die Geschichte »Brigittes Einsatz in Afrika« des Autors Holger51 erzählt von einer attraktiven, aber sexuell frustrierten Deutschen mittleren Alters, die mit ihrem Mann, einem überarbeiteten technischen Berater, in Luanda lebt. Trotz aller Warnungen streift Brigitte eines Tages allein durch die Stadt und hat nach einigen Verwicklungen in einer Bar Sex mit zwei großgewachsenen muskulösen Afrikanern, die, nicht ganz überraschend, über animalische Wildheit, riesige Penisse und unerschöpfliche Potenz verfügen. Brigitte gelangt zur Einsicht: »Schwarze sind unten doch recht viel stärker gebaut als Europäer, auf jeden Fall stärker als dein Mann, dachte sie.«13
D IE PORNOGR AFISCHE S PR ACHE : W IE WIRD ERZ ÄHLT ? Die Sprache der untersuchten Erzählungen weist keine typischen Merkmale des »Netspeak« (David Crystal) wie Verkürzungen, Vereinfachungen und icons auf, die für andere Formen der Internet-Kommunikation typisch sind (›brb‹ für ›I’ll be right back‹, Smilies u.ä.).14 Gleichwohl lässt sich als Tendenz eine ›Sprache der Nähe‹ erkennen. Das schriftlich-zerdehnte Erzählen weist hier Merkmale einer mündlichen Kommunikation auf. Im Unterschied zu einem distanzsprachlichen Formregister dominieren Darstellungsmittel einer spontanen, informellen und interaktiven Kommunikation unter Vertrauten. Rechtschreibung und Zeichensetzung sind gelegentlich fehlerhaft, wodurch ein doppelter Alltagseffekt entsteht: Die Texte wirken erstens als Teile einer flüchtig-spontanen Kommunikation, zweitens als Produkte nichtprofessioneller Autoren wie du und ich. Auch die Lexik ist informell und enthält umgangssprachliche oder regionalsprachliche Elemente, darunter natürlich auch zahlreiche vulgäre Ausdrücke für Sexualorgane und -handlungen. Eher selten wird allerdings bei der Beschreibung der sexuellen Höhepunkten eine Rhetorik der emotionalen Überwältigung in Form von Interjektionen, Ausrufen, Anakoluthen o.ä. eingesetzt. Die pornografischen Basisepisoden werden als komplexe narrative Szenen gestaltet, die sowohl Handlungen als auch Emotionen enthalten. Trotz der stereotypen Anlage werden die Figuren keineswegs, wie man erwarten könnte, nur als kopulierende Körper geschildert. Der Leser erhält ausführlichen Zugang zur ›Psyche‹ der Hauptfigur, die sehr häufig als Ich-Erzähler auftritt. Aber auch bei (heterodiegetischen) Er-Erzählern wird das Geschehen stets aus dem Wahrnehmungsstandpunkt einer Figur intern fokalisiert dargestellt. Zu dieser ›mentalen‹ Dimension gehört auch die häufige Darstellung von Sex-Ereignissen als, innerhalb 13 | Holger51: »Brigittes Einsatz in Afrika«. 14 | Siehe Crystal: Language and the Internet.
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der erzählten Welt, imaginäre Träume und Tagtraumphantasien. Bevor Brigitte tatsächlich Sex hat, erinnert sie sich sehr detailliert an vergangene Sexabenteuer. Als sie die beiden Männer kennenlernt, malt sie sich zunächst in Gedanken aus, was sie mit ihnen erleben könnte. Diese imaginären Ereignisse werden erzählerisch durchaus vielfältig in Formen von innerem Monolog und erlebter Rede vermittelt. Brigittes Atem ging schon stoßweise und der hatte gerade damit begonnen, ihre Schenkel zu küssen, da klingelte das Telefon und der Herr Botschaftssekretär wurde nach unten gerufen, ein wichtiger Gast war eingetroffen. Schade sagte Brigitte sich. Sie hätte sich an dem Abend bestimmt von ihm ficken lassen, ihr war danach. Wäre nicht schlecht gewesen, dachte sie, wenn der mich so richtig über den Schreibtisch gelegt hätte. Der Fick wäre bestimmt schön hart geworden, so erregt wie der war.15
Mit Hilfe der (internen) Fokalisierung auf das Bewusstsein der Hauptfigur und durch das Stilregister einer Sprache der Nähe wird der Leser auf informelle, sozusagen freundschaftlich-persönliche Weise adressiert. Dazu gehört auch, dass die Geschichten (mit Ausnahme der gerade erwähnten ›Träume‹ und ›Phantasien‹) nicht als Fiktionen, sondern als authentische Erlebniserzählungen gestaltet sind.16 So sagt der Ich-Erzähler am Schluss der Geschichte »Die Büchse der Pandora geöffnet – Teil 1«, in der er detailliert schildert, wie die Ehefrau in seiner Gegenwart mit einem anderen Mann hemmungslosen Sex hat: Das war der erste Teil meiner wahren und nur leicht anonymisierten Geschichte, ich bin auch an Feedback von männlichen und weiblichen Leserinnen und Lesern interessiert, die vielleicht selbst ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Das alles ist ja nicht ganz einfach für mich.17
Ähnlich gibt Petra ihren Geschichten die Titel »Wie mich meine Kollegin Angelika verführte« und »Wie ich meine erste lesbische Erfahrung machte und erlebte«.18 Welche Funktion hat dieser Faktualitätsgestus? Offenbar beruht die Wirkung der Pornografie auf einem Mechanismus der Empathie oder Immersion: Sie präsentiert die sexuelle Lust von Figuren, um sexuelle Lust beim Rezipienten hervorzurufen. Indem die Ereignisse als angeblich autobiografische sexuelle Erlebnisse 15 | Holger51: »Brigittes Einsatz in Afrika«. 16 | Ähnliches beobachtet Werner Faulstich für den Harcore-Pornofilm: »Es gehört zum Hardcore-Porno […], daß er gerade keine Fiktion zeigt, kein Spiel, sondern wirkliche Wirklichkeit, die freilich als solche erst inszeniert ist. […] Der Pornofilm ist die Inszenierung von subjektiven Wünschen als objektiver Wirklichkeit, ist Pseudo-Authentizität.« Faulstich: »Hardcore-Pornofilme«, 244. 17 | Robert39: »Die Büchse der Pandora geöffnet – Teil 1«. 18 | Petra: »Meine erste lesbische Erfahrung« und »Meine Kollegin Angelica«. Die zweite Geschichte wurde von den Besuchern der Website am höchsten bewertet.
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vom Wahrnehmungsstandpunkt eines männlichen oder weiblichen Ich-Erzählers aus erzählt werden, eignet sich diese Figur als Projektionsfigur des Lesers. Ihre Lust soll sich im Leser wiederholen. Allerdings ist die Annahme einer Empathie des Lesers mit der Identifikationsfigur in dreifacher Hinsicht einzuschränken. Erstens sind die im Text dargestellte und die durch den Text verursachte Lust häufig einander unähnlich. Das zeigt sich allein schon daran, dass einerseits sehr viele, wenn nicht sogar die Mehrzahl der untersuchten Geschichten heterosexuellen Sex vom Wahrnehmungsstandpunkt einer Frau aus darstellen, diese Geschichten aber andererseits überwiegend von Männern gelesen werden.19 Zweitens dürfte die Häufigkeit devianter Sexualpraktiken in den Erzählungen nicht der eigenen sexuellen Praxis der Mehrheit der Leser entsprechen. In der pornografischen Lektüre findet also nicht nur eine Übertragung, sondern auch eine Verschiebung von Lust statt. Drittens wird ausgesprochen häufig, sowohl intratextuell wie kontextuell, der spielerisch-fiktionale Charakter dieser Texte signalisiert. So beginnt »Therese, Didi du und ich« von lordofavelotte mit folgender Leseranrede: »Ich möchte dir gerne einen Ausschnitt aus meinen Träumen aufschreiben.«20 Zwar dürfte die Immersionsbereitschaft des Lesers größer sein, wenn er die Geschichten ohne besondere Illusionsbrechungen als potentiell wahre Geschichten verstehen kann. Angesichts der Fiktionssignale sollten die genannten Authentizitätsstrategien jedoch eher als ironische Faktualitätsgesten verstanden werden, ähnlich den Herausgeberfiktionen in den Reise- und Abenteuerromanen des 18. und 19. Jahrhunderts. Der Leser vollzieht in solchen Fällen eine ironische Immersion in die pornografische Traumwelt, deren imaginärer Wunscherfüllungscharakter sich gerade in ihrer Simulation von Authentizität zeigt. Der ironische Charakter der Authentisierungsstrategien wird nicht zuletzt an den häufigen, ebenso stereotypen wie grotesken, oftmals auch aggressiven Übertreibungen deutlich: In halb steifem Zustand war der Schwanz des Schwarzen mindestens 25 cm lang und 5 cm dick. […] Er war beschnitten und seine Eichel war so dick wie eine Kinderfaust und feucht. Brigitte war unten groß, aber sie glaubte nicht, einen solchen Riesenschwanz in sich aufnehmen zu können. […] Brigitte schrie wieder, diesmal vor unbändiger Geilheit. Sein Glied war so lang, dass sie dacht er würde oben wieder herauskommen und es war so dick, dass sie extrem geweitet wurde. 21
19 | Eine Zusammenfassung der empirischen Befunde zur Rezeption von Pornografie gibt Faulstich: Die Kultur der Pornografie, 225-245. 20 | lordofavelotte: »Therese, Didi du und ich« (die Leserkommentare wurden inzwischen gelöscht). 21 | Holger51: »Brigittes Einsatz in Afrika«.
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Das schließt allerdings nicht aus, dass diese Geschichten doch als authentische Erlebnisberichte [miss]verstanden werden können oder dass sie in entsprechenden Internetforen der Anbahnung sexueller Kontakte zwischen Autor und Leser dienen. So schreibt ein Leser namens »Verführer« zur Geschichte »Morgens am Strand« von »sara+mike«: »Einfach geil! wäre gern dabei gewesen! Würde mich freuen persönlich mal was von Euch zu hören.«22
D AS I NTERNE T ALS E RZ ÄHLUMGEBUNG : W ER ERZ ÄHLT WEM ? Pornografisches Erzählen im Internet ist serielles Erzählen. Man begegnet den Texten weder isoliert noch einzeln. In bestpornstories.com werden die Geschichten in vier Sektionen geordnet (›fm: hetero Kategorien‹, ›mm: schwule Kategorien‹, ›ff: lesbische Kategorien‹, ›bi: bisexuelle Kategorien‹) und folgende Suchfunktionen angeboten: ›Ein Wort das Sie suchen‹; ›Name des Autors‹, ›Datum‹, ›Bewertung: Höhe der durchschnittlichen Bewertung‹; ›Hall Of Fame: top Geschichten älter als 3 Monate‹. Die Website erogeschichten enthält ca. 500 Geschichten, die auf der Hauptseite nach den Kriterien ›Autoren‹, ›Kategorien‹, ›top Geschichten‹ und ›neue Geschichten‹ angesteuert werden können. Es werden folgende Kategorien genannt: ›Das erste Mal‹, ›Selbstbefriedigung‹, ›1 auf 1‹, ›Dreier‹, ›Gruppensex‹, ›Sex bei der Arbeit‹, ›Romantisch‹ [!], ›Verführung‹, ›Ehebruch‹, ›Partnertausch‹, ›Schlampen‹, ›Dominante Frau‹, ›Dominanter Mann‹, ›Bondage‹, ›Älterer Mann/ Frau‹, ›Exhibitionismus‹, ›Voyeurismus‹, ›Schwarz und Weiss‹, ›Sex mit Toys‹, ›Schwanger‹, ›Fetisch‹, ›Humor/Parodie‹, ›Große Titten‹, ›Oral‹, ›Anal‹, ›Gedichte‹ [!], ›Sonstige‹, ›Lesbisch‹, ›Schwul‹, ›Bisexuell‹. Zwar enthalten die Geschichten Episoden, die für die Figuren einen hohen Grad von Ereignishaftigkeit aufweisen: Die schnöde Alltagsroutine wird durch ein sexuelles Abenteuer durchbrochen, wobei dieser Durchbruch oft aus der Überschreitung sexueller Gewohnheiten, Normen und Tabus besteht: der erste Analverkehr, der erste Dreier, das erste homosexuelle Erlebnis. Nicht für die Figuren, wohl aber für den Leser besitzen diese Erzählungen jedoch einen sehr hohen Grad an Erwartbarkeit. Wer einen Text über die genannten Kategorien ansteuert, weiß von vornherein, was für eine Art von Geschichte ihn erwartet. Die Texte werden als Schemaerzählungen gelesen. Deshalb erwecken die Erzählungen im Leser typischerweise weder Neugier (im Sinne der Erwartung einer Rätsellösung) noch Überraschung (als Reaktion auf eine unerwartete Wendung des Geschehens) noch Spannung (im Sinne der Ausrichtung auf ein unbekanntes Ende).23 Auf manchen Websites ist die Vorhersehbarkeit noch verstärkt, indem zu Beginn der Geschichten der Inhalt zusammen22 | sara+mike: »Morgens am Strand« (Leserkommentare inzwischen gelöscht). 23 | Zu diesen aus Erzählstrukturen ableitbaren Affekten siehe Martínez und Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, 151-153.
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gefasst wird: »Brigitte erlebt die Erfüllung ihrer geheimen Wünsche bei einem Stadtbummel durch Luanda« (»Brigittes Einsatz in Afrika«), »Ein gelangweilter Ehemann stiftet seine devot veranlagte Frau zu gefährlichen Spielen an und verliert langsam die Kontrolle über das Geschehen« (»Die Büchse der Pandora geöffnet – Teil 1«), »Zwei Menschen, alleine, in einem Zugabteil irgendwo zwischen Berlin und Wolfsburg. Der Zug bleibt auf halber Strecke liegen und sie haben Zeit sich kennen zu lernen« (»Irgendwo zwischen Berlin und Wolfsburg«).24 Die Neugier des Lesers von Schemaliteratur konzentriert sich auf die Frage, wie der vorhersehbare schematische Verlauf im einzelnen Text ausgestaltet ist, sein Lektüregewinn besteht aus dem Vergnügen an der Schemavariation. Das angemessene Verständnis von Schemaliteratur setzt die Kenntnis der einschlägigen Schemaregeln voraus. Durch die skizzierte Erzählumgebung dieser Internet-Erzählungen nimmt der Leser den einzelnen Text unausweichlich als Teil einer Serie und damit als Variation eines Schemas wahr – und muss so ein Bewusstsein für die ästhetische Konventionalität des Textes entwickeln. Das legt die Vermutung nahe, dass sich der Standardleser nicht nur des Konstruktions-, sondern auch des Fiktionscharakters der Geschichten bewusst ist. Mit der oben eingeführten kognitionspsychologischen Typologie von sexual scripts gesprochen, versteht er diese Texte in der Regel weder als individual sexual scripts noch als general sexual scripts, sondern als cultural-level scripts. Alle einschlägigen Websites gliedern ihre Geschichten nach sexuellen Praktiken. Die Kombinatorik der pornografischen Geschichten enthält eine umfassende Matrix sexueller Handlungen. An der Präsentation der Erzählungen auf den Startseiten der Websites fällt auf, dass einzelne Episoden stets als Teil einer umfassenden Klassifikation auftreten. Diese pornografische Matrix hebt in gewisser Weise die eingebaute Stoppregel der pornografischen Basisepisode und die Linearität (Variation und Steigerung) der Handlungssequenzen auf. So wie man aus der endlichen Zahl der Wörter einer Sprache und einer endlichen Zahl von Regeln unendlich viele Sätze generieren kann, so zieht die Pornografie aus den relativ wenigen Formen möglichen (und sogar unmöglichen) sexuellen Verhaltens unendlich viele Variationen und Kombinationen. Dieses klassifikatorische Begehren ist offenbar eine wichtige Triebfeder der pornografischen Lust. Der Kosmos der Pornografie präsentiert über alle Tabugrenzen hinweg sämtliche Möglichkeiten sexuellen Verhaltens. Zu dieser Matrix gehören auch tabuisierte sexuelle Praktiken, die von den meisten Konsumenten selten oder nie in der Realität ausgeübt werden – Sadismus, Masochismus, Sex mit Kindern, Sex mit Tieren, Trinken von Urin, Koprophagie. Solche devianten Formen von Sexualität werden von den meisten Lesern wohl nicht im Sinne von personal scripts als Gebrauchsanweisungen für das eigene Verhalten verstanden, sondern als alternative Praxis, die besonders interessant ist, weil sie tabuisiert ist, und in die man sich in der pornografischen Lektüre ironisch hineinversetzt – als karnevaleskes Vergnügen auch an 24 | Alle Geschichten auf .
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grotesken Körpern, die von Schönheitsnormen abweichen, und an devianten, ekelhaften oder verwerflichen Praktiken. Pornografische Lust besteht nicht nur, aber auch aus der Lust am Schema. Wie das Internet allgemein, so belegen auch die pornografischen Websites und Blogs eine enorme Popularisierung des Schreibens. Das nahezu voraussetzungslos benutzbare Medium Internet stimuliert eine Flut von Autoren, die sonst, unter den restriktiveren Bedingungen des gedruckten Buch- und Zeitschriftenmarktes, nicht in dieser Breite aktiv würden. Die Erzählumgebung schließt Autoren und Leser pornografischer Internet-Geschichten zur small group einer Erzählgemeinschaft zusammen. Sie kommunizieren in der Anonymität des Internets als freundschaftlich über ihr gemeinsames Interesse miteinander verbundene Gruppe. Zwar wahren die Beteiligten ihre Anonymität. Autoren und Leser (in ihren Kommentaren) signieren nicht mit bürgerlichem Namen, sondern nennen sich ›alfredhitchcrotch‹, ›Pantherkatze‹, ›PoMasseur‹, ›Perlentaucher‹, ›Quick’n’Dirty‹, ›sara+mike‹, ›selberdenker‹ oder ›Vincent van Sperm‹. Doch sowohl die Erzähler (die häufig Ich-Erzähler sind) als auch die Autoren profilieren sich als Personen wie du und ich. Besonders deutlich wird das in pornografischen Blogs. So stellt sich die (angebliche) Autorin von Andrea’s Erotic Blog auf ihrer Startseite folgendermaßen vor: Hey, I’m Andrea! I’m a crazy slut, who loves to wrap her mouth around a cock. I love to have rough, hard sex with random men. I love aggressive men who aren’t afraid to teach me a lesson with a good cock pounding. I love to talk about all of my kinky sex experiences. From losing my virginity to having a 3some with two men. I love anal pleasure and being double penetrated with toys. Call me and let’s do both of ourselves a favor. 25
Obwohl es sich bei den pornografischen Internet-Erzählungen um schriftbasiertes Erzählen handelt, entstehen durch die Verlinkungs- und Vernetzungsmöglichkeiten des Mediums Internet soziale Erzählereignisse.26 Zwar finden Produktion und Rezeption der Texte nicht synchron statt, sind Erzähler und Leser nicht kopräsent, die Erzählungen nicht persönlich adressiert. Doch können die Leser die Texte in den pornografischen Webportalen bewerten und kommentieren und sorgen so für eine Rückkopplung an die Autoren im Zeichen einer »interaktiven Schriftlichkeit« (Doris Tophinke).27 So heißt es am Ende jeder Geschichte auf der Webseite www.erogeschichten.com: »Autoren möchten gerne Feedback haben! Bitte stimmen Sie ab und schicken Sie 25 | Andrea’s Erotic Blog. 26 | Über das Internet als Erzählumgebung generell siehe Tophinke: »Wirklichkeitserzählungen im Internet.« 27 | Ebd., 254f.
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dem Autor eine Nachricht und schreiben Sie was Ihnen an der Geschichte (nicht) gefallen hat.« Die Amateurautoren reagieren mit ihren Geschichten auf die Geschichten anderer, Leser werden zu Autoren. »Wir suchen Geschichten! Hast du eine Geschichte geschrieben? Bitte hier einsenden! Danke schön!« Pornografische Internet-Erzählungen entstehen aus einer koordinierten Interaktivität von Autoren und Lesern. Jeder Besuch der Geschichten wird registriert und angezeigt. So wurde die Geschichte »Die Professorin« bis zum 12.09.2010 von 12.348 Personen besucht, 98 Leser haben die Geschichte »Familiengeheimnisse« mit 8.91 auf einer Skala von 10 bewertet. Die Koproduktivität zeigt sich in den Kommentaren und Bewertungen seitens der Leser, auf die die Autoren wiederum antworten. So lobt der Leser »Klaus« die Erzählung »Morgens am Strand« von sara+mike mit den Worten »angenehm… mehr details wären störend gewesen«28, und »Stifmeister« schreibt über »Brigittes Einsatz in Afrika« von Holger51: »Hey Holger51 super Geschichte nur wie wäre es mit einer Fortsetzung wo Brigitte von Dem Botschafter mal rangenommen wird. Der scheint ja auch geil auf sie zu sein! Hoffe du hast dafür auch so eine klasse idee… Nur weiter so.«29 Ungeachtet solcher Koproduktivität ist allerdings durchaus auch individuelles Autorenbewusstsein erkennbar, nicht zuletzt in Copyright-Vermerken wie am Ende von »Brigittes Einsatz in Afrika«: »© Holger51. Dieser Text darf nur zum Eigengebrauch kopiert und nicht ohne die schriftliche Einwilligung des Autors anderweitig veröffentlicht werden. Zuwiderhandlungen ziehen strafrechtliche Verfolgung nach sich.« Abschließend lässt sich festhalten, dass die untersuchten pornografischen Internet-Erzählungen trotz der großen Zahl der Autoren und Geschichten im Hinblick auf ihre erzählten Welten und Darstellungsverfahren bemerkenswert einheitlich sind. Man wird das als Effekt der »Präventivzensur der Gemeinschaft« verstehen können, die bereits Petr Bogatyrev und Roman Jakobson als charakteristisch für die Folklore beschrieben: »Das Milieu stutzt sich […] das geschaffene Werk zurecht, und wiederum alles vom Milieu Zurückgewiesene existiert als Tatsache der Folklore einfach nicht, es wird außer Gebrauch gesetzt und stirbt ab.«30 Im Lichte dieses Folklorebegriffs wird eine Beziehung zwischen den beiden Hauptbefunden meiner Analyse erkennbar: Erstens sind die Erzählformen als Formen von Schemaliteratur zu verstehen. Zweitens zirkulieren diese Texte in einer Erzählumgebung, die Autoren und Leser zu einer Erzählgemeinschaft zusammenschließt. Beide sind als Elemente einer folkloristischen (populären) Kommunikation miteinander verknüpft: Erzählformen und Erzählkontext bedingen einander.
28 | sara+mike: »Morgens am Strand«. 29 | Holger51: »Brigittes Einsatz in Afrika« (Leserkommentare inzwischen gelöscht). 30 | Jakobson und Bogatyrev: »Die Folklore als besondere Form des Schaffens«, 144 und 143.
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L ITER ATUR Andrea’s Erotic Blog: (02.12.2010). Crystal, David: Language and the Internet. 2. Aufl., Cambridge: Cambridge Univ. Press 2006. Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen (BGH St 23,44). Zitiert nach: (03.02.2011). Eroticgeist: »Petra Kirsch Teil 6: Der Zuschauer.« (24.07.2009). Faulstich, Werner: Die Kultur der Pornografie. Kleine Einführung in Geschichte, Medien, Ästhetik, Markt und Bedeutung. Bardowick: Wissenschaftler-Verlag 1994. —: »Hardcore-Pornofilme. Geschichte, Typologie, Ästhetik und Bedeutung.« In: Karl Friedrich Reimers (Hg.): Unser Jahrhundert in Film und Fernsehen. München: Hochschule für Fernsehen und Film 1995, 231-248. Gould, James A.: »Why Pornography is Valuable.« The International Journal of Applied Philosophy 6 (1991), 53-55. Hill, Andreas, Peer Briken und Wolfgang Berner: »Pornographie und sexuelle Gewalt im Internet.« Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 50 (2007), 90-102. Holger51: »Brigittes Einsatz in Afrika.« (20.12.2010). Jakobson, Roman und Petr G. Bogatyrev: »Die Folklore als besondere Form des Schaffens.« [1929] In: Roman Jakobson: Poetik. Ausgewählte Aufsätze. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, 140-157. lordofavelotte: »Therese, Didi du und ich.« (13.09.2009). Martínez, Matías und Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 8. Aufl., München: C.H. Beck 2009. Metts, Sandra und Brian H. Spitzberg: »Sexual Communication in Interpersonal Contexts: A Script-Based Approach.« Communication Yearbook 19 (1996), 49-91. Petra: »Meine erste lesbische Erfahrung.« (02.02.2011). —: »Meine Kollegin Angelica.« (02.02.2011). Pipe, Roger T.: »Die Geschmäcker sind verschieden. Analsex mit vollbusigen Latina-Krankenschwestern in Lederoutfit und Brille.« In: Dave Monroe (Hg.): Philosophie für Verdorbene. Essays über Pornografie. Berlin: Rogner & Bernhard 2011, 127-143. Robert39: »Die Büchse der Pandora geöffnet – Teil 1.« (01.03.2011). Rushdie, Salman: »The East is Blue.« In: Timothy Greenfield-Sanders: XXX: 30 Porn-Star Portraits. Boston: Bulfinch 2003, 98-99.
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sara+mike: »Morgens am Strand.« (13.09.2009). Sontag, Susan: »The Pornographic Imagination.« [1967] In: Dies.: Styles of Radical Will. New York: Farrar, Straus & Giroux 1994, 35-73. the_dark_side: »Die Verführung der Professorin.« (20.12.2010). Tophinke, Doris: »Wirklichkeitserzählungen im Internet.« In: Christian Klein und Matías Martínez (Hg.): Wirklichkeitserzählungen. Feldern, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens. Stuttgart: Metzler 2010, 245-274. Ulrichs, Timm: Betreten der Ausstellung verboten! Werke von 1960 bis 2010. Ostfildern: Hatje Cantz 2010.
Vampirismus im Web 2.0 Zentrale Motive und stilistische Charakteristika in Online Fanfiction zu Twilight Kim Barthel, Anna Hutnik
Seitdem Stephenie Meyers erstes Buch Twilight als erster Teil der Twilight-Serie 2005 veröffentlicht wurde, hat es eine beachtenswerte Erfolgsgeschichte hinter sich gebracht. Spätestens seit der Veröffentlichung der Verfilmung des ersten Teils (2009) und der damit verbundenen internationalen Aufmerksamkeit sind die umstrittenen Bücher aus der öffentlichen Diskussion nicht mehr weg zu denken. Durch den Erfolg des Twilight-Franchises wurden sowohl die Buchcharaktere als auch die Filmschauspieler zu Ikonen der Popkultur erhoben, die sich vor allem bei Teenagern großer Beliebtheit erfreuen und dadurch auch in der Online FanfictionSzene für Furore sorgen. In diesem Artikel wird Stephenie Meyers zeitgenössische Romanserie mit der Internet Fanfiction zum Twilight-Universum verglichen und untersucht. Drei Schwerpunkte werden im Besonderen beleuchtet werden: Zum Einen die stilistischen, motivischen und funktionalen Unterschiede zwischen Fanfiction und kommerziellen Fiktionen, die untersucht und dargestellt werden. Außerdem die Untersuchung der Motivationsfaktoren für die Erstellung und Verbreitung von Fanfiction und zum Abschluss wird der Versuch unternommen werden, den Begriff Popularität auf Grundlage der Arbeit mit Fanfiction zu definieren.1
1 | Die Präsentation im Rahmen der Konferenz Popularität der Literatur zum Thema »Vampirismus im Web 2.0 – Zentrale Motive und stilistische Charakteristika in Online Fanfiction zu Twilight« wurde in Zusammenarbeit mit Cornelius Puschmann erarbeitet, bei dem wir uns für die Zusammenarbeit und die fachliche Unterstützung bedanken möchten. Außerdem sind wir auch Martin Henrich für das Korrekturlesen dieses Artikels zu Dank verpflichtet.
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G ESCHICHTE UND P OPUL ARITÄT DER F ANFICTION Was ist Fanfiction? Bei Online Fanfiction handelt es sich um ein verhältnismäßig neu definiertes Genre, was in seiner Breite und Kreativität schwer zu erfassen ist und auf dem Phänomen der Fan Communities basiert. Allgemein haftet dem Werk und seinen Lesern bei Nicht-Involvierten eine eher negative Konnotation an. Rebecca W. Black definiert Fanfiction in ihrem Werk über jugendliche OnlineFanfiction-Autoren wie folgt: Fanfictions are fan-created texts that are based on forms of popular culture such as books, movies, television, music, sports, and video games. […] Fanfiction […] is fiction written by fans about pre-existing plots, characters, and/or settings from the favorite media.2
Die wichtigsten Merkmale des Genres werden in dieser Definition bereits erwähnt, allerdings sollte nicht vergessen werden, dass es unter Fanfiction-Autoren nicht nur Anhänger bestimmter Phänomene, sondern auch deren Gegner gibt, wie das Beispiel der Parodien in Online Fanfiction aufzeigt. Fanfiction ist in der Regel unkommerziell3 und wird selten auf traditionelle Art publiziert und verkauft. Die Motive der Fanfiction Autoren unterscheiden sich damit von denen der Berufsautoren, die wiederum die kommerziellen Fiktionen (i.d.R. Romane, Filme, TV Serien, Musik und Videospiele) erschaffen, auf denen ein Großteil der Online Fanfictions basiert. Aus diesen Quellen4 werden zum Beispiel Charaktere, Orte oder Handlungsstränge entliehen, die als Primärwerke für Fanfictions dienen. Als Texte sind Fanfictions tendenziell sehr dynamisch. Meist werden sie sukzessiv als einzelne Kapitel veröffentlicht, wobei die Veröffentlichung nicht unbedingt als Ende des kreativen Prozesses zu deuten ist – nach der Publikation können Fanfictions mehrmals editiert oder sogar gelöscht werden, ohne dass dies angekündigt oder begründet werden muss. In ihrer Definition von Fanfiction erklärt Black weiter: Though such texts are derivative in the sense that they depict available images of popular culture, I argue that the fans producing these fictions are far from being »mindless consum-
2 | Black: Adolescents and Online Fan Fiction, xiii und 9. 3 | Vgl. Resnick: »Fan Fiction«. 4 | Fanfiction Autoren und Leser nennen diese Quellelemente Canons, ein Begriff, der jedoch nur entfernt mit dem literaturwissenschaftlichen Begriff des ›Kanons‹ zu tun hat. (vgl. Abrams und Harpham: A Glossary of Literary Terms, 38)
V AMPIRISMUS IM W EB 2.0 ers« and reproducers of existing media as they actively engage with, rework, and appropriate the ideological messages and materials of the original texts. 5
Mehr als bloße Reproduktion, ist Fanfiction eine Form von kreativem Ausdruck mit einem Statement. Dieses kann entweder durch eine sozialgeprägte oder persönliche Interpretation des Primärwerks oder eines seiner Elementes geleistet werden (bspw. generationsbezogene Auslegung bereits existierender Symbolik) oder durch Kritik ausgedrückt werden (bspw. in Parodien). Essentiell für das Genre Fanfiction ist was man als shared (con)text bezeichnen kann. Damit eine Fanfiction-Geschichte populär sein kann, müssen zwei Voraussetzungen erfüllt werden. Zum einen müssen die Fans6 Kenntnisse über die Vorlage besitzen. Damit ein Autor ein Fanfiction Werk überhaupt schreiben kann, braucht er mindestens Basiskenntnisse über das Primärwerk, da das Genre Fanfiction auf genau dieser intertextuellen Relation zwischen dem Primärtext und dem der Fan-Texte basiert. Auch für Fanfiction Leser ist die Kenntnis des Originalwerks wichtig. Ein Leser von Fanfiction, der die Vorlage nicht kennt, ist nicht in der Lage diesen Text als Fanfiction zu erkennen und zu klassifizieren (außer durch eventuelle paratextuelle Elemente). Außerdem wird er in den meisten Fällen die Geschichte nicht in seiner Ganzheit verstehen und themengerecht interpretieren können, ohne die Vorkenntnis über die entliehenen Charaktere, Handlungsstränge oder -orte und die nötigen Kenntnisse über die im Primärwerk dargestellte Welt und deren Regeln, zu haben. Die zweite Voraussetzung liegt im Austausch von Fanfiction Geschichten innerhalb der Fangruppen selber. Durch die Zugehörigkeit zu einer Fangruppe ist automatisch der shared context beim Mitglied vorauszusetzen. Dabei wird die individuelle Popularität einzelner Fanfictions am leichtesten durch die Anzahl der Kommentare zu jeweiligen Kapiteln gemessen. Unpublizierte Fanfiction ist zwar ebenfalls Fanfiction, gehört aber, im Gegenteil zu publizierter Online Fanfiction, nicht zum Allgemeingut der Fan Communities und kann dementsprechend nicht populär sein.
Die Entwicklung von Fanfiction Die Geschichte von Fanfiction kann anhand von zwei verschiedenen Erklärungsmodellen dargestellt werden. Das mediale Modell, das die Zeit ab ca. 1927 bis zum heutigen Tag beschreibt, besteht aus den Phasen der medienbezogenen Fanfiction im Allgemeinen und der Online Fanfiction im Besonderen. In einem weiteren Modell wird diesen zwei Entwicklungsphasen noch eine dritte vorangestellt. Diese zählt auch mündlich überlieferte Geschichten und derivative Werke aus früheren Zeiten zu den ersten Formen von Fanfiction. Im Folgenden wird dieser Aufsatz sich mit allen drei Phasen beschäftigen, die in Diagramm 1 dargestellt werden. 5 | Black: Adolescents and Online Fan Fiction, xiii. 6 | Im Folgenden als Sammelbegriff für die Anhänger und Opponenten eines Primärwerks.
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Diagramm 1: Die Entwicklung des Fanfiction-Genres. Die erste Phase, die im Diagramm als »Literatur«-Phase bezeichnet wird, zeichnet sich durch »Oralität, Popularität, Kanonisierung« aus. So wurden frühere Werke auf Grund einer geringen Alphabetisierungsrate fast ausschließlich mündlich weitergegeben. Nur die beliebtesten Geschichten wurden schlussendlich aufgeschrieben und können heutzutage zum literarischen Kanon gezählt werden. Als Beispiele dafür, dass viele literarische Frühwerke auf vorschriftlichen Quellen wie Mythen, Legenden oder Erzählungen7 basieren, können die Legenden über König Arthur dienen, aber auch das kanonische Beispiel von Cervantes‹ Don Quijote, dessen Fortsetzung hundertfach geschrieben wurde, noch bevor der Autor selber seine Fortsetzung veröffentlichen konnte.8 Die zweite Phase der Fanfiction Entwicklung (im Diagramm als »Media Fanfiction« bezeichnet) begann in den späten 1920ern mit den ersten Star Trek Fanzines. Als Fanzines bezeichnet man i.d.R. Magazine, die von Fans für Fans geschrieben werden. 1975 wurde Fanfiction erstmals im Werk Star Trek Lives! als Phänomen beschrieben, was zu einem Anstieg der Fanfiction-Autorenzahlen führte. Auch die zunehmende Popularität audiovisueller Medien in den 1980ern trug dazu bei, dass viele Autoren das Fanfiction-Genre für sich entdeckten und populäre TV Serien und Filme als Vorlagen für ihre Fanfiction Werke benutzten.9 Die letzte Phase der Fanfiction Entwicklung, die Phase der »Online Fanfiction«, begann in den frühen 1990ern, als Fanfiction von Druckmedien ins Internet verlagert wurde, und dauert bis zum heutigen Tage an. Das neue Medium Internet erlaubte die schnelle, einfache und kostenlose Publikation von Fanfiction-Werken sowie schnellen Zugriff von Seiten der Rezipienten. Zu Beginn wurden Mailinglisten, Usernetgruppen und Pinnwände für die Publikation von Fanfiction genutzt. 7 | Vgl. Abigail Derecho: »Archontic Literature: A Definition, a History, and Several Theories of Fan Fiction.« zitiert nach Black: Adolescents and Online Fan Fiction, 10. 8 | Vgl. Neuschäfer: Spanische Literaturgeschichte, 127. 9 | Vgl. Coppa: »A Brief History of Media Fandom«.
V AMPIRISMUS IM W EB 2.0
Heutzutage werden Fanfiction Geschichten hauptsächlich durch Websites, Foren und Blogs publiziert. Dadurch stieg die Autorenzahl erneut rapide an. Auch das Alter der Autoren änderte sich mit den neuen Möglichkeiten. Die mit den Massenmedien verbundenen Fanfictions wurden von Fans geschrieben, die zwischen zwanzig und fünfzig Jahre alt waren. Parallel zur Entwicklung der Online Fanfiction senkte sich auch das Alter der Autoren, was einen starken Einfluss auf die Qualität der Fanfiction Werke hatte. Außerdem führten schnelles Feedback und Diskussionen innerhalb der Fan Communities, die durch das Internet ebenfalls ermöglicht wurden, zu Beschleunigungen im Publikationsprozess.10
TWILIGHT ALS (POP) KULTURELLES P HÄNOMEN Twilight kann in einem Wort als »Vampirromanzenromanserie« zusammengefasst werden, die vorwiegend von jungen, weiblichen Lesern gelesen wird. Als Serie wurde die Twilight-Saga in vier Teilromanen in der folgenden Reihenfolge veröffentlicht: Twilight (2005; dt. Bis(s) zum Morgengrauen), New Moon (2006; dt. Bis(s) zur Mittagsstunde), Eclipse (2006; dt. Bis(s) zum Abendbrot), Breaking Dawn (2008; Bis(s) zum Ende der Nacht). Sie beschreibt die Geschichte von Bella, einem siebzehnjährige Mädchen, das nach einem familienbedingten Umzug in die Kleinstadt Forks den geheimnisvollen Edward Cullen, welcher sich als Vampir entpuppt, kennen und lieben lernt und bewegte Teenager in aller Welt. Im Verlauf der Handlung wird Bella von Edward mehrfach vor rivalisierenden, »bösen« Vampiren errettet. Trotz Bellas wiederholten Bitten weigert sich ihr Vampirfreund jedoch, sie ebenfalls zum Vampir zu machen. Trotz der gewöhnlichen Handlung (»Boy meets Girl«) wurde die Buchserie in kürzester Zeit zum Welterfolg. 91 Wochen auf der Bestsellerliste der New York Times11, mehr als 50 Millionen weltweit verkaufte Exemplare12 und Übersetzungen in 37 Sprachen13 sowie das Einspielergebnis von 390 Millionen Dollar14 des ersten Teils der Kinoverfilmung machten Twilight zu einem multimedialen Popkulturphänomen. Durch die internationale Popularität der Romanserie wie auch ihrer Verfilmungen, wurden Bella, Edward, Jacob und Co. und die in den Hauptrollen auftretenden Schauspieler über Nacht zu Ikonen der Popkultur. Es ist daher nicht überraschend, dass sich die Twilight-Serie schnell als beliebte Quelle für Fanfiction Autoren etablierte.
10 | Ebd., 10. 11 | Vgl. (20.06.2010). 12 | Vgl. Carroll und Adler: »›Twilight‹ Co-Star Anna Kendrick Braces Herself For Buzz Bigger Than ›Harry Potter‹«. 13 | Vgl. Turan: »You Wanna Neck?«. 14 | Vgl. Box Office Mojo: »Twilight«.
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Das Twilight-Korpus, bestehend aus den ersten vier Teilen der Romanserie von Stephenie Meyer selbst, enthält insgesamt 595,697 Wörter. Im Rahmen unserer Forschung beschränkten wir uns daher auf ein Korpus aus 6 Twilight-Fanfictions, die Ende 2009 in der Twilight-Fan Community SimplyTwilight.com15 als bestbwertete, meistgelesene und meistkommentierte Online Fanfictions16 über Twilight galten und zusammen 596,981 Wörter enthalten: »Breathe Again« von ysar17; »The Dark Side of Twilight« von SarahBella18; »Fall for You« von Life72019; »Poughkeepsie« von MrsTheKing20; »Supernova« von SusanAshlea21 und »Things That Go Bump in the Night« von Mac21422 . Mit Hilfe der Statistiksoftware R erstellten wir Frequenzlisten der einzelnen in den Korpora auftauchenden Wörtern und werteten diese in Tabellen aus um Erkenntnisse aus der linguistischen Komposition zu gewinnen. Die gewonnen Werte wurden als Absolutwerte und relative Prozentzahlen angegeben. Während unserer Forschung nach den wichtigsten Motivationsfaktoren der Online Fanfiction Autoren fanden wir in Frequenzlisten ein gutes Werkzeug für die Textanalyse. Mit ihnen ist es möglich, inhaltliche und stilistische Tendenzen eines Textkorpus aufzuzeigen und zu vergleichen. Obwohl unsere Analyse sich ausschließlich auf Twilight Online-Fanfictions und ihre Primärwerke bezieht, ist davon auszugehen dass auch andere Online Fanfictions ähnliche Tendenzen aufweisen.
E xplizitheit, oder »My Brain was Yelling at Me to Go Take a Bite out of his Perfect Ass« 23 Die im Folgenden dargestellte Frequenztabelle zeigt die am häufigsten auftauchenden Nomen in den im letzten Kapitel vorgestellten Korpora auf.
15 | (04.09.2009) Anmerkung: Nachdem unser FanfictionKorpus für die Konferenz erstellt worden war, wurde diese Website geändert und ist nun nicht mehr als Fanfiction-Archiv vorhanden, weshalb die in dieser Publikation angegebenen Links nun zu anderen Quellen führen, wo die Fanfiction Geschichten gegenwärtig gehostet werden. 16 | Alle hier erwähnten Fanfictions wurden im Internet unter Pseudonymen publiziert. 17 | ysar: »Breathe Again.« (Kursivschrift nicht im Originalzitat). 18 | SarahBella: »The Dark Side of Twilight«. 19 | Live720: »Fall for You.« (Kursivschrift nicht im Originalzitat). 20 | MrsTheKing: »Poughkeepsie«. Leider wurde diese Fanfiction gelöscht. Eine Erklärung dafür kann auf dem Blog der Autorin gefunden werden: MrsTheKing: »So where is Poughkeepsie Anyway?«. 21 | SusanAshlea: »Supernova.« Leider wurde diese Fanfiction gelöscht. 22 | Mac214: »Things That Go Bump in the Night«. 23 | Ebd.
V AMPIRISMUS IM W EB 2.0 FanFicNOUN
FanFicFreq
FanFic-%
TwilightNOUN
TwilightFreq
Twilight-%
eyes
1697
0.28
eyes
1917
0.32
time
1360
0.23
face
1563
0.26
face
1090
0.18
voice
1238
0.21
head
1017
0.17
time
1221
0.2
hand
1001
0.17
head
988
0.17
hands
766
0.13
door
530
0.09
door
754
0.13
hands
521
0.09
voice
668
0.11
room
514
0.09
mind
653
0.11
expression
456
0.08
room
568
0.1
arms
454
0.08
arms
506
0.08
moment
414
0.07
body
506
0.08
mind
410
0.07
lips
502
0.08
things
405
0.07
house
490
0.08
sound
404
0.07
chest
451
0.08
human
397
0.07
hair
443
0.07
words
374
0.06
thoughts
435
0.07
lips
371
0.06
words
426
0.07
smile
369
0.06
mouth
418
0.07
house
365
0.06
life
411
0.07
day
358
0.06
Tabelle 1: Die am häufigsten vorkommenden Nomen der Twilight- und Twilight-Fanfiction-Korpora. Besonders fällt bei dieser Nomentabelle auf, dass in beiden Korpora, und somit in den Handlungen der Werke, großer Wert auf körperliche Merkmale gelegt wird. Dies lässt sich aus der Tatsache schließen das Körperteile (eyes, face, head, arms, hands etc.) verhältnismäßig häufig erwähnt werden. Anstelle der abstrakteren Körperlichkeiten (voice, words, expression, smile), die im Twilight-Korpus zu finden sind, treten im Online Fanfiction Korpus konkrete Körperteilbegriffe (body, chest, hair, mouth). Natürlich enthalten beide Listen auch eine Vielzahl nicht-korporeller Nomen (thoughts, mind), aber die hohe Konzentration von Nomen die Äußerlichkeiten umschreiben ist bemerkenswert.
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Eine tiefer gehende Analyse beider Korpora zeigt, dass Fanfiction-Autoren meist sehr explizit in ihren Beschreibungen sind, was sowohl auf den Amateurstatus der Verfasser von Online Fanfiction zurück geführt werden kann als auch auf den Mangel an Zensur oder Kritik auf der Leserseite. So findet man in den Twilight-Primärwerken das englische umgangssprachliche Wort für das männliche Geschlecht dick nur im 4. Teil als Vorname eines Nebencharakters, während es in Online Fanfiction 15mal als Körperteilbeschreibung auftaucht. Das weibliche Pendant dazu, pussy, ist sogar 26mal zu finden, während es in der Twilight-Serie selber nicht einmal auftaucht. Genauso wie das Wort für »Brustwarze« (engl. nipple), welches immerhin 11mal im Fanfiction Korpus gezählt wurde. Das Wort sex selber kommt im Fanfiction Korpus beeindruckende 61mal vor, während Twilight lediglich mit 7 Vorkommnissen dienen kann. So nannte Bitch Magazine die Twilight-Serie im Jahre 2008 »a surprising new sub-genre of teen romance«, welches Christine Seifert, die Autorin des Artikels, wie folgt beschreibt: It’s abstinence porn, sensational, erotic, and titillating. And in light of all the recent real-world attention on abstinence-only education, it’s surprising how successful this new genre is. Twilight actually convinces us that self-denial is hot. Fan reaction suggests that in the beginning, Edward and Bella’s chaste but sexually charged relationship was steamy precisely because it was unconsummated – kind of like Cheers, but with fangs. 24
In Fanfiction-Werken spiegelt sich das Aufbegehren der Autoren gegen diese Erzählweise wider. Sexuelle Szenarien sind ein beliebtes Element in Online Fanfiction über Twilight, wie durch die oben genannten umgangssprachlichen Begriffe bereits angedeutet wurde. Fan fiction, like romance, is commonly represented outside its reading communities as immature […]. But fan fiction is also represented as a (usually secret) substitute for real romance and sexual pornography – as a type of amateur porn. 25
Die Autoren finden in Fanfiction eine Möglichkeit ihre sexuellen Phantasien auszuleben und zu teilen, was wiederum darauf hinweist, dass diese Bedürfnisse durch die Originalwerke zwar geweckt, aber nicht erfüllt werden. Dadurch füllen sie die von Stephenie Meyer mit ihren erotischen Andeutungen selber geschaffenen narrativen Lücken mit Fanfiction. Da aber wiederum in den meisten Fällen die einzigen inhaltlichen und ausdrucksorientierten Zensurinstanzen, denen ihre Werke unterliegen, die so genannten Ratings26 sind, drücken sie sich oft deutlicher aus als in konventioneller Literatur üblich.
24 | Seifert: »Bite Me!«. 25 | Driscoll: »One True Pairing«, 85. 26 | Vgl. Fiction Ratings: .
V AMPIRISMUS IM W EB 2.0
Trotzdem ist der Schreibstil der Fanfiction Autoren oft an jenen von Stephenie Meyer angelehnt. Der folgende Ausschnitt aus Stephanie Meyers Twilight beschreibt den Moment in dem Bella die Cullens zum ersten Mal sieht. They didn’t look anything alike. Of the three boys, one was big — muscled like a serious weight lifter, with dark, curly hair. Another was taller, leaner, but still muscular, and honey blond. The last was lanky, less bulky, with untidy, bronze-colored hair. He was more boyish than the others, who looked like they could be in college, or even teachers here rather than students. The girls were opposites. The tall one was statuesque. She had a beautiful figure, the kind you saw on the cover of the Sports Illustrated swimsuit issue, the kind that made every girl around her take a hit on her self-esteem just by being in the same room. Her hair was golden, gently waving to the middle of her back. The short girl was pixielike, thin in the extreme, with small features. Her hair was a deep black, cropped short and pointing in every direction. I glanced sideways at the beautiful boy, who was looking at his tray now, picking a bagel to pieces with long, pale fingers. His mouth was moving very quickly, his perfect lips barely opening. The other three still looked away, and yet I felt he was speaking quietly to them. 27
Der Szene aus Meyers Buch entspricht thematisch eine Szene aus einer Fanfiction zu Twilight namens »Things That Go Bump in the Night«. Auch dieser Textauszug beschreibt Bellas und Edwards erste Begegnung. I followed her gaze and froze. The heartburn magnified by about a thousand. The two guys from the silver car had to be the two hottest guys I had ever seen. The taller one had longish blonde hair and a goofy grin. He was wearing faded jeans with cowboy boots, and a black leather jacket. He was cute, but nothing compared to his friend. He had a shock of messy reddishbrown hair that looked as if he had just rolled out of bed. My fingers twitched, wondering how his hair would feel in my hands. My face immediately burst into flames. Before I could get caught drooling like a moron, I pulled my obvious stare away from his lips – my god, those lips! – and took a sip of my hot chocolate. […] I watched them both. The redhead was wearing a green coat over tight dark wash jeans and dark shoes. Thank god I was too stunned to move, because my brain was yelling at me to go take bite out of his perfect ass. 28
Beide Textauszüge weisen eine Vielzahl von Ähnlichkeiten auf. Abgesehen davon, dass sie einander thematisch entsprechen, sind die Schreibstile der beiden Autoren in diesen Ausschnitten ähnlich. In beiden Fragmenten wird der Fokus auf die Beschreibung von körperlichen Merkmalen gelegt. Außerdem weist die Lexik der beiden Ausschnitte darauf hin, dass sowohl das Primärwerk als auch die zugehörige Fanfiction deutlich mehr auf Unterhaltung abzielen. 27 | Meyer: Twilight, 16. 28 | Mac214: »Things That Go Bump in the Night«.
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Zwischen den beiden Darstellungen der ersten Kontaktsituation zwischen Bella und Edward finden sich aber auch Unterschiede. Durch die detaillierte Beschreibung der Äußerlichkeiten der Cullens in Twilight, dem ersten Teil der Serie, wird die Handlung des Buches für 4 Seiten unterbrochen, auf denen Bella, aus deren Perspektive die Geschichte erzählt wird, die Attraktivität der Vampire hervorhebt. Der narrative Exkurs kulminiert in Bellas Beschreibung von Edward. Darin bemerkt Bella Edwards lange Finger, seinen Mund und seine perfekte Lippen. Diese werden in einer sexuell konnotierten Sprache beschrieben. Bella wirkt in ihrer Erzählerrolle selbst in dieser emotional verwirrenden Szene reif und erwachsen. Ihre Beschreibung der Cullens ist zwar sehr konkret und detailliert, jedoch erscheint sie eher als passiver Beobachter, und ihre Beschreibungen wirken künstlich, unrealistisch und unpersönlich. Die Art und Weise, auf die Bellas und Edwards erste Begegnung in »Things That Go Bump in the Night« umgesetzt wurde, ähnelt dem Originaltext zwar thematisch, unterscheidet sich allerdings sprachlich und formal. So wird die Handlung der Fanfiction durch die Beschreibung Edwards keinesfalls unterbrochen. Durch Bellas direkte Reaktion auf Edwards Attraktivität und seine einzelnen Körpermerkmale wirkt die Szene sehr lebhaft und sogar etwas komisch. Durch die explizite Beschreibung ist hier also kaum noch von einer sexuellen Anspielung zu reden. Im Vergleich spiegelt die Szene in »Things That Go Bump in the Night« auch das Chaos der gleichzeitig auftretenden Gefühle der Protagonistin als Reaktion auf Edwards Erscheinen, da sie eher auf eine noch unreflektierte plötzliche Erfahrung hinweist, als der strukturierte Gedankenablauf der Bella im Original. Dies könnte auf eine persönliche Erfahrung des Autors mit ähnlichen Szenarien im Alltag hinweisen.
Vegetarische Vampire und Immersion, oder »Bella, Would You Please Stop Tr ying to Take Your Clothes Off?« 29 Aber wenn nun die Autoren sich an ihrem eigenen Alltag orientieren, warum sind es dann ausgerechnet Vampirgeschichten die durch Twilights Popularität eine Renaissance erlebt haben? Nina Auerbach erklärt dieses Phänomen wie folgt: »Vampires are easy to stereotype, but it is their variety that makes them survivors.«30 Der seelenlose Vampir konnte sich schon im 18. Jahrhundert Dinge herausnehmen, die die herrschenden Moralvorstellung und gesellschaftlichen Normen überschritten. Durch seine Unsterblichkeit, besaß er eine Macht, die ihn über den Rest der Gesellschaft erhob. Angelehnt an das Beispiel des byronischen Helden, glich das Töten seiner Opfer auf provokante Art und Weise einem geschickten geheimnisvollen Liebesspiel.
29 | Meyer: Eclipse. 30 | Auerbach: Our Vampires, Ourselves, 1.
V AMPIRISMUS IM W EB 2.0
Im Vergleich dazu sind Meyers Vampire kaum noch als Vampire zu erkennen. Den Mangel an moralischen Regeln und die Größe ihrer Macht empfinden sie als belastend und ziehen sich dadurch aus der Gesellschaft zurück. Anders als Dracula und andere konventionelle Vampire leben die Cullens nach strengen, selbstauferlegten Regeln, die nach wie vor eher denen des frühen 20. Jahrhunderts, aus dem sie stammen, als denen des 21. Jahrhunderts in dem die Handlung einsetzt, entsprechen. Sie verfolgen eine fast puritanisch zu verstehende Sexualmoral und ernähren sich von Tierblut um keine Menschen töten zu müssen. Um diese Unterschiede weiter zu analysieren hilft es typische Charakteristika der Vampirliteratur mit den neueren Werken zu vergleichen. Da das 308625 Wörter große Korpus der klassischen Vampirgeschichten – bestehend aus Polidoris The Vampire, Joseph Sheridan Le Fanus Carmilla, Bram Stokers Dracula – nicht an die Wortanzahl der Twilight oder Fanfiction Corpora heran reicht, werden in der folgenden Tabelle die Werte zusätzlich in Prozentzahlen angegeben. WORD
FanFicFanFreq Fic-% (595,697)
TwiTwilightlight-% Freq (596,981)
ClassicsFreq (308,625)
Classics-%
blood
191
0.03
226
0.04
119
0.04
garlic
-
-
2
0.0003
21
0.007
fangs
1
0.0002
10
0.002
3
0.001
pale
40
0.01
90
0.02
52
0.02
death
39
0.01
83
0.01
108
0.03
dead
43
0.01
130
0.02
83
0.03
kill
87
0.01
167
0.03
17
0.01
0.001
6
0.001
-
-
vegeta- 4 rian(s)
Tabelle 2: Einige typische Begriffe aus der Vampirliteratur. Trotz der Werte des Elements blood, ist in dieser Tabelle prozentual deutlich zu erkennen, dass sich in Fanfiction weniger traditionelle Vampirelemente finden lassen als in den maßgebenden Klassikern. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Thematisierung des konventionellen Vampirseins in der Online Fanfiction zu den Twilight-Büchern nicht so stark gewichtet wird und dass Stephenie Meyer neue Elemente für das Vampirsein ihrer Charaktere erfunden hat, welche die traditionellen Merkmale aus der Rangliste unserer Tabelle verdrängen. Beispielsweise bezeichnen sich ihre Vampire selber ironisch als Vegetarier, da sie kein Menschenblut trinken. Tatsächlich findet man vegetarian und vegetarians (sowohl im Plural als auch im Singular sowie als Adjektiv und Nomen) nur unwesentlich häufiger in den Fanfictions, was dadurch erklärt werden kann, dass die Fanfiction einen deut-
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lichen Bezug zum Primärwerk herstellen muss, auch wenn sie ansonsten, ähnlich wie damals die Klassiker im Vergleich zu Stephenie Meyers Werken heute, andere Bedürfnisse in ihren Werken zur Geltung bringen. In der traditionellen Vampirliteratur wurde die vermeintliche Seelenlosigkeit der Vampire häufig mit einem in der Gesellschaft als skandalös angesehenen, aggressiven Sexualmoralverhalten assoziiert. Stephenie Meyer passt sich beinah 200 Jahre später den Bedürfnissen ihrer Generation an, indem sie die vermeintliche Regel- und Morallosigkeit unserer zeitgenössischen Welt kritisiert, was einen Großteil des Erfolgs der Buchreihe erklären mag. Anders als die rebellischen Vampire des 19. Jahrhunderts leben die Cullens nach dem Regelwerk des frühen 20. Jahrhunderts. Edward küsst Bella auf die Stirn, bittet sie mit dem Geschlechtsverkehr bis zur Ehe zu warten und ist sich ab dem ersten Tag felsenfest sicher, dass Bella nun »sein Leben« sei. Er wird also wiederholt als ein Gentleman der alten Schule dargestellt, was in der Populärkultur Ausdruck in entsprechenden Gruppenbildungen auf den Internetseiten der sozialen Networks findet. So lassen sich beispielsweise auf dem populären deutschen Studentenportal Studivz.net als erste Ergebnisse des Suchbegriffes ›Edward‹ folgende Gruppen finden: »Wegen Edward Cullen habe ich unerfüllbare Erwartungen an Männer«, »Männer lest Twilight, dann wisst ihr was Frauen wollen: Edward«31 . Da der Reiz der Vampire, um es in Nina Auerbachs Worten auszudrücken, »dramatically generational«32 ist, symbolisieren auch die aktuellen Vampire die Bedürfnisse der gegenwärtigen Generation. Da aber jede Generation durchaus vielseitig ist und kein Autor die Bedürfnisse der Leser aller Altersklassen und Gesellschaftsgruppen befriedigen kann, übernimmt Fanfiction zu Twilight die Rolle des individuellen Lückenfüllers. Obwohl die Regeln, die Stephenie Meyer in ihrer Geschichte etabliert hat, von vielen Lesern der heutigen Generation gerne restituiert sehen würden, möchten die Leser im Allgemeinen trotzdem nicht auf ihre individuellen Fantasien verzichten. Jenkins kommentiert dieses Verhalten folgendermaßen: The fans‹ response typically involves not simply fascination or adoration but also frustration and antagonism, and it is the combination of the two responses which motivates their active engagement with the media. Because popular narratives often fail to satisfy, fans must struggle with them, to try to articulate to themselves and others unrealized possibilities within the original works. […] Fans cease to be simply an audience for popular texts; instead, they become active participants in the construction and circulation of textual meanings. 33
31 | StudiVZ: (17.09.2010). 32 | Auerbach: Our Vampires, Ourselves, 5. 33 | Jenkins: Textual Poachers, 23.
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Und auch Hyun-Joo Yoo sagt, dass »während des Lesens […] der Leser seine Assoziationen [entfaltet] und […] damit die Lust, die zum ›Weiter-, Wieder- und Umschreiben‹ anregt [gewinnt]«34 . Dies ist ein entscheidender Motivationsfaktor für Fanfiction-Autoren. Das als Immersion bezeichnete Phänomen, definiert man als das »Eintauchen in eine virtuelle Realität, ohne diese von der tatsächlich vorhandenen Wirklichkeit unterscheiden zu können.«35 In Fanfiction entsteht so also ein Raum in dem Fanfiction Autoren ihre Fantasien ausleben können und die Werke zu ihrer Zufriedenheit und Erfüllung vollenden können. Diese Phantasien halten sich daher nicht zwangsweise an die im Primärwerk etablierten Regeln. Vor allem moralische und soziale Regeln mögen von den Lesern zwar in ihrem wahren Leben ersehnt werden, stehen aber den Fantasien häufig im Weg. So ist es zwar unwahrscheinlich dass ein moralischer, treuer und sanfter Gentlemen wie Edward seine Frau jemals endgültig verlassen oder respektlos behandeln würde, jedoch würden genau diese positiven Eigenschaften eine weniger sanfte, beispielsweise pornographische, Fantasie erschweren. Diese Funktion des Lückenfüllens spiegelt sich auch in der Lexik der TwilightFanfiction wieder, wie diese Tabelle der 10 meistgefundenen Adjektive zeigt. FanFicADJ
FanFicFreq
FanFic-%
TwilightADJ
TwilightFreq
Twilight-%
long
460
0.08
long
730
0.12
good
458
0.08
good
626
0.11
new
241
0.04
hard
457
0.08
whole
221
0.04
new
306
0.05
deep
218
0.04
cold
271
0.05
able
214
0.04
alone
257
0.04
small
195
0.03
bad
253
0.04
happy
193
0.03
fine
252
0.04
beautiful
182
0.03
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Tabelle 3: Die am häufigsten vorkommenden Adjektive in den Twilight- und Twilight-Fanfiction-Korpora. Während auf den oberen Rängen des Twilight und des Fanfiction Korpus anfangs noch dieselben Adjektive auftauchen, unterscheiden sich diese gegen Mitte in ihren semantischen konventionellen Konnotationen. So findet man in Twilight unter den 10 meistgebrauchten Adjektiven sehr häufig negativ konnotierte Wörter wie hard, cold, alone oder bad. Die entsprechende Liste für die Adjektive der Fan34 | Yoo: Text, Hypertext, Hypermedia, 59. 35 | Neurowissenschaftliche Gesellschaft (20.12.2009).
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fiction weißt dagegen eher positiv konnotierte Wörter wie happy und beautiful auf, was wiederum einen Hinweis darauf bietet, dass die Fanfiction Autoren in ihren Geschichten gerne die Fantasien und Stimmungen kreieren, die sie in den Primärwerken nicht finden konnten. Wenn man nun auf die Wortanzahl im Besonderen auf den ersten Rängen der Tabelle achtet, fällt auf, dass die Fanfiction Autoren im Allgemeinen weniger Adjektive verwendet haben, als es Stephenie Meyer tat. Daher ist es wichtig zu beachten, dass die Adjektive der Fanfiction inhaltlich schwerer zu gewichten sind als die der Twilight-Saga, was wiederum darauf zurück zu führen sein könnte, dass die Fanfiction Autoren sich auf bereits existierende Elemente berufen, die sie daher nicht in vollem Detail erneut beschreiben müssen (shared context). Allerdings könnte der Unterschied in der Zahl der Adjektive auch als Hinweis auf einen weniger professionellen Schreibstil der Fanfiction Autoren gedeutet werden, die ihren Fokus in der Regel eher auf die Handlung ihrer Geschichte als auf detaillierte Beschreibungen legen. Da die Fanfiction Autoren die Leser trotz sprachlicher und stilistischer Defizite davon überzeugen wollen, ihre Werke weiter zu lesen, hat das Genre eine Handlungsstruktur entwickelt, die den Leser möglichst lange mitfiebern lässt. Diese Handlungsstruktur ist an den sequentiellen Publikationszyklus angepasst, so dass die Kapitel, in denen Fanfictions in der Regel publiziert werden, im Normalfall einen eigenen Höhepunkt haben oder vor allem auf einem Höhepunkt enden. Doch auch diese Handlungsstruktur kann einen Mangel an Leser-Identifikation mit Primärwerkelementen nicht kompensieren. So wird eine Leserin, die sich in erster Linie mit Bella identifiziert, eine negative Darstellung von Edward als kaum immersiv empfinden. Immersion spielt jedoch eine elementare Rolle, wie auch Oliver Grau anmerkt, wenn er schreibt: Immersion is undoubtedly key to any understanding of the development of the media, even though the concept appears somewhat opaque and contradictory. […] It is characterized by diminishing critical distance to what is shown and increasing emotional involvement in what is happening. 36
Partizipation, oder »I Don’t Own Anything. Stephenie Meyer Owns Ever ything. It’s Not Fair!« 37 Die Immersion, die auch ein Motivationsfaktor für die Autoren selber ist, ist eng verwandt mit einem weiteren Faktor der zu der Popularität des Fanfiction-Genres beigetragen hat: Die sogenannte Partizipation beschreibt das bedingungslose Streben des Fanfiction-Autors38, am Primärwerken teilzuhaben. Der Fanfiction36 | Grau: Virtual Art. From Illusion to Immersion, 13. 37 | Live720: »Fall for You«. 38 | Parodien und Werke von Opponenten der Primärwerke sind hierbei selbstverständlich ausgeschlossen.
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Autor kann dabei kaum kritisch mit dem Primärwerk umgehen. Jenkins erklärt das partizipatorisch emotionale Verhältnis des Fanfiction-Autors zum Primärwerk wie folgt: »fan culture muddies […] boundaries [between high and popular culture], treating popular texts as if they merited the same degree of attention and appreciation as canonical texts.«39 Diese ist aus der Nachahmung der Lexik und dem öffentlichen Loben der Primärwerksautoren ersichtlich. Wie die Frequenzlisten gezeigt haben, entsprechen sich die am häufigsten auftauchenden Wörter der Corpora oft. So ist auch der bereits analysierte Textauszug aus »Things That Go Bump in the Night«, der die erste Begegnung zwischen Bella und Edward beschreibt, eindeutig an das Originalwerk angelehnt, wie der Fokus auf die Haarfarbe Edwards und dessen Kleidung zeigt. Dass sich Fanfiction Autoren gerne in ihrem Schreibprozess mit dem Originalwerk auseinandersetzen, wird zum Beispiel an den sogenannten Anmerkungen (engl. Disclaimers/author’s notes) deutlich. Durch ihre Anmerkungen, die meist vor den Kapiteln ihrer Fanfiction Stories zu finden sind, weisen Fanfiction Autoren darauf hin, dass die Elemente der Primärwerke in ihren Geschichten nicht von ihnen selber stammen, sondern von den Originalautoren. Durch diese oft in offiziellem Ton formulierten Anmerkungen schützen sich Fanfiction Autoren vor rechtlichen Maßnahmen der Primärwerksautoren. Die Standardform wird allerdings bisweilen verändert um eine persönliche Meinung mit einzubeziehen: In ihren disclaimers zu »Fall for You« schreibt live720 zum Beispiel »I do not own anything besides my college debt and my sweet new hair cut. With that said... Twilight, New Moon, Eclipse, Breaking Dawn and all of the characters mentioned in this story all belong to the fabulously talented Stephenie Meyer! No Copyright Infringement intended.«40 oder »Stephenie Meyer is the genius behind this world and these characters and I’m just diving in her creation. No copyright infringement intended.«41 Dass Fanfiction Autoren Stephenie Meyer als »sagenhaft talentiert« oder »Genie« bezeichnen ist ein Hinweis auf ihre Begeisterung von der Twilight-Saga, welche wiederum ihren Wunsch an dem kreativen Umfeld des Primärwerks teilzunehmen ausdrückt und außerdem die Zugehörigkeit des Autors zur Fan Community erklärt.
Fan Communities, oder »Please Let Me Know What You Think!« 42 Die Zugehörigkeit zu einer Fan Community gehört mit zu den wichtigsten Motivationsfaktoren der Fanfiction-Autoren und beschreibt ein popkulturelles Phänomen. Die Stärke der Fans liegt dabei in ihrer Zusammengehörigkeit, wie Jenkins beschreibt:
39 | Jenkins: Textual Poachers, 17. 40 | Live720: »Fall for You«. 41 | Ebd. 42 | ysar: »Breathe Again«.
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K IM B ARTHEL , A NNA H UTNIK [Fans] often draw strength and courage from their ability to identify themselves as members of a group of other fans who shared common interests and confronted common problems. To speak as a fan is […] to speak from a position of collective identity, to forge an alliance with a community of others in defense of tastes which, as a result, cannot be read as totally aberrant or idiosyncratic. 43
Die Fanfiction-Leser und Autoren verbindet ein gemeinsamer popkultureller Bezugsrahmen, der oft auf Einflüssen und Erfahrungen einzelner Generationen beruht. Intertextuelle Hinweise können so von Lesern die nicht der Generation des Autors angehören oft nicht verstanden oder sogar missverstanden werden. Manche Fanfictions beziehen sich auf popkulturelle Phänomenen außerhalb ihres thematisierten Primärwerks. In ihrer Fanfiction Geschichte »Things That Go Bump in the Night«, gibt die Autorin SarahBella am Ende der meisten ihrer Kapitel eine Liste von intermedialen Bezügen (»intentional references«) an, die in dem jeweiligen Kapitel gefunden werden können. In ihren Werken bezieht sie sich wiederholt (durch Zitate und ähnliches) auf populäre zeitgenössische Medienformate, wie beispielsweise die TV-Serien Gossip Girl oder How I Met Your Mother, und auch auf ältere Kultfilme wie Grease oder The Breakfast Club. Viele Kapitel der oben genannten Fanfiction Geschichte »Things That Go Bump in the Night« und auch der Fanfiction »Poughkeepsie« von MrsTheKing enthalten Musiktipps, die dem Leser helfen sollen, sich in die vom Autor beabsichtigte Stimmung der Geschichte zu versetzen. In einem Kapitel gibt die Autorin von »Things That Go Bump in the Night« sogar Bellas fiktive Playlist an. Was bei intertextuellen Bezügen auf andere popkulturelle Phänomene zu beachten ist, ist dass sie nur von der Generation von Fans und Lesern komplett verstanden werden können, die den kulturellen Hintergrund der Generation des Autors teilen. Durch diese Bezüge betonen Fanfiction Autoren also nicht nur ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation, sondern verschaffen auch ihren Lesern einen kulturellen Kontext, den sie mit dem Werk verbinden können. Interessant dabei ist, dass die Lieder in den Twilight-Fanfictions sich von den intermedialen und intertextuellen Bezügen des Primärwerkes distanzieren, welches hauptsächlich auf klassische Musik wie Debussys Clair de Lune und kanonische Literatur wie Emily Brontës Wuthering Heights und Shakespeares Romeo and Juliet44 rekurrieren. Und auch die Verfilmungen der Romanserie verwenden Musik von zeitgenössischen Künstlern wie Muse, Bat for Lashes oder Lykke Li, die nicht dem popkulturellen Mainstream, sondern der alternativen Szene zuzuschreiben sind. Die Popularität einer Fanfiction Story bedeutet für den Autor soziales Prestige innerhalb der Fan Community. Fanfiction-Autoren, die ein Werk erschaffen konnten, das von der Fangemeinde geschätzt wird, zeichnen sich nach außen hin durch eine große Leserschaft (most read) und eine hohe Anzahl an Rezensionen (most 43 | Jenkins: Textual Poachers, 22-23. 44 | Meyer: Twilight.
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reviewed) aus, weshalb die Autoren aktiv versuchen ihre Leser dazu zu bewegen mit ihnen zu kommunizieren.
K RE ATION DURCH I NSPIR ATION Das Genre der Online Fanfiction ist mittlerweile zu einem komplexen popkulturellen Phänomen herangewachsen, das weltweit Millionen von Anhängern aller Altersgruppen hat. Immer mehr beschäftigt das Phänomen nun auch internationale Wissenschaftler aller Fachrichtungen. Die Popularität der Fanfiction Werke selbst basiert auf einem Kreislauf aus popkulturellen Beziehungen zwischen Primärwerken und ihren Anhängern. Ein populäres Werk hat von Natur aus mehr Anhänger (und auch Kritiker) als ein weniger Bekanntes. Diese Popularität manifestiert sich schließlich unter anderem in der Anzahl an Fanfiction und steigert sich dadurch automatisch weiter und macht die Primärwerke noch bekannter. Diese Steigerung der Popularität durch Fanfiction geschieht allerdings nicht bewusst. Die Verfasser fühlen die Handlungen der Primärwerke intensiver und sehnen sich nach einer Verlängerung ihrer Erfahrung damit. Sie nutzen sie das Medium der Fanfiction, um die Geschichten so umzuschreiben, wie sie sie gerne hätten. Aber auch Vorgeschichten und Fortsetzungen sowie das Füllen von narrativen Lücken der Primärwerke sind beliebte Fanfiction Typen. So verlieren sich die Fans temporär in fiktiven Welten, versuchen diese nach ihren Wünschen zu beeinflussen und zu teilen und werden dadurch Teil des kreativen Universums um ein Werk herum. Jenkins nannte diese Fans einmal »active producers and manipulators of meaning«45 . Auch Rebecca W. Black weist zu Recht auf diesen bedeutungsgenerativen Aspekt hin: »[The fans take] up elements of pop culture and then redistribut[e] them in new forms that are imbued with meanings that are grounded in the lived realities and social worlds of fans.«46 So bildet das Internet und das Phänomen der Fanfiction aufschlussreichen Einblick in die Bedürfnisse und kreativen und literarischen Fähigkeiten einer medial vielseitig beeinflussten Generation und verspricht trotz der weitgehend negativen Reputation des Genres entscheidende Erkenntnisse zur Populärkultur.
45 | Jenkins: Textual Poachers, 23. 46 | Black: Adolescents and Online Fan Fiction, 13-14.
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Mediale Kombinatorik, Transgressionen und Beglaubigungsstrategien in L’enfant penchée und L’affaire Desombres (François Schuiten/Benoit Peeters) Frank Leinen
D IE PASSAGE ALS G ESTALTUNGSPRINZIP IN DER S ERIE L ES C ITÉS OBSCURES Comics sind unpopulär – zumindest in Deutschland, wo nur wenige importierte Klassiker wie Asterix und Obelix, Mickey Mouse oder Lucky Luke breitere Leserschichten erschließen konnten. Eine andere Situation herrscht in der frankophonen Romania, und hier besonders im französischsprachigen Belgien, wo die Bande dessinée (künftig: BD) und ihre Derivate im öffentlichen Leben eine große Rolle spielen. So stammen in Belgien nicht weniger als rund 34 % aller Einnahmen des Buchhandels aus dem Verkauf von BDs, und etwa 75 % des Umsatzes aller belgischen Verlage wird durch den Export von BDs erwirtschaftet.1 Doch ist die BD bei unseren westlichen Nachbarn tatsächlich »populär«? Die pauschale Beantwortung dieser Frage dürfte unmöglich sein: unter der Annahme, dass »populär« auf eine mehrheitlich realisierte Kulturpraxis verweist, wäre zu relativieren, dass die BD in Belgien wie in Frankreich vorrangig von jenen Gesellschaftsschichten rezipiert wird, die eine höhere Schulbildung aufweisen und ökonomisch relativ erfolgreich sind. Hinzu kommt, dass vor allem Jugendliche und junge Erwachsene BDs lesen.2 Für die Popularität des Genres spricht wiederum, dass es in hohem Maße auf andere Medien der Populärkultur ausstrahlt, so dass weltweit jedes Jahr rund 7 bis 10 % aller Filme von Comics inspiriert sind und zahlreiche Computerspiele sowie
1 | Vgl. Lefèvre: »Situation contemporaine de la bande dessinée en Belgique«, 19. 2 | Vgl. Guilbert: »Vous avez dit ›populaire‹?«, 103f.
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das Internet zur Verbreitung von Comics beitragen.3 Grundsätzlich kann derzeit die Tendenz verzeichnet werden, dass im Zuge der Hybridisierung der Gattung medienreflexive Experimente die traditionelle Codierung der BD durch vielfältige neue Ausdrucksformen bereichern.4 Die transmedialen Optionen des Genres tragen sicherlich dazu bei, dass François Schuiten und Benoît Peeters, die Autoren der seit 1982 veröffentlichten, 14 Bände umfassenden Serie über die Cités obscures (künftig CO), derzeit zu den renommiertesten Aushängeschildern der belgischen BD-Szene zählen.5 Vor dem Hintergrund des »caractère essentiellement polymorphe«6 der Serie soll auf den folgenden Seiten am Beispiel von L’enfant penchée und L’affaire Desombres die mediale Kombinatorik als Schlüsselmoment einer publikumswirksamen Strategie analysiert werden. Innovative mediale Ausdrucksformen der als Parallelwelt konzipierten CO, so die These, laden den Rezipienten dazu ein, die Schwelle zwischen Faktizität und Fiktionalität immer wieder neu abzuschreiten. Hierin, so eine weitere Annahme, liegt ein wichtiger Schlüssel für die Popularität der Serie. Schuiten und Peeters bieten dementsprechend ihrem Publikum an, auf der Grundlage eines pacte de fiction7 durch die Kombination aus Selbst- und Fremdverführung ihr »Hier« mit dem »Dort« des medial Vermittelten zu verknüpfen. In diesem Sinne wirken beispielsweise der Guide des Cités (1996), in dem sich Diegese und Exegese vermischen, oder die Anthologie mit Artikeln der in den Cités obscures erschienenen Tageszeitung L’Echo des Cités (1993). Auch die von dem absolut nicht fiktiven Pariser Institut Géographique National erstellte Landkarte von Sodrovno-Voldachie, die dem zweiten Band von La frontière invisible (2004) – der Protagonist ist Kartograph – beiliegt, spielt mit diesen Beglaubigungsoptionen. Für Schuiten und Peeters steht außer Frage, dass die BD für ihre transmedialen Abenteuer geradezu prädestiniert ist: La chose nous paraît assez claire: la bande dessinée entretient de nombreuses affinités avec le multimédia. Composite par nature, elle utilise prioritairement l’image fixe et le texte écrit, comme le font aujourd’hui le CD-ROM et les Réseaux. Tout comme le multimédia, la bande dessinée est une écriture discontinue: c’est au lecteur qu’il appartient de jeter des 3 | Vgl. Pasamonik: »De quoi la crise est-elle le nom?«, 33. Eine repräsentative Auswahl der vielfältigen intermedialen Bezüge zwischen Kino und BD erschließt Ciment (Hg.): Cinéma et bande dessinée. 4 | Vgl. Stein et al.: »Birth of a Notion«, 15-21 und 23f., sowie Lohse: »Acquefacques, Oubapo & Co. Medienreflexive Strategien in der aktuellen französischen bande dessinée«. 5 | Fabrice Leroy zitiert entsprechend als Beispiel für den »renouveau constant du neuvième art en Belgique l’œuvre magistrale de François Schuiten et Benoît Peeters, Les Cités obscures (série multimédia d’inspiration fantastique mettant en scène des univers parallèles)«. Leroy: »Repères, panorama, bilan«, 14. 6 | Schuiten und Peeters: L’aventure des images, 48. 7 | Lejeune: »Qu’est-ce que le pacte autobiographique?«
M EDIALE K OMBINATORIK , T RANSGRESSIONEN UND B EGL AUBIGUNGSSTRATEGIEN ponts entre les cases, c’est à lui de définir le rythme et le type de parcours. On pourrait donc dire que la bande dessinée est, par son fonctionnement, plus proche du multimédia que ne le sont le cinéma et la télévision. 8
Wie Peeters weiterhin hervorhebt, dient die mediale Entgrenzung der CO durch neue Kunstformen wie die conférence-fiction, die exposition-spectacle oder die dramatique sonore dem Ziel, die Konsistenz der Fiktion und somit ihre Glaubwürdigkeit zu erhöhen. Mit wachsender Entfernung von der BD habe sich der coefficient de réel9 gesteigert. Am Anfang dieses Prozesses stand zwar keine durchdachte Planung, er ist aber auch nicht das bloße Ergebnis von Zufällen, da Schuiten und Peeters als Multitalente über ein hohes autoreflexives und medientheoretisches Potential verfügen. So ist Benoît Peeters, der bei Roland Barthes studierte, seit 2007 Inhaber einer an der Sorbonne I erworbenen Habilitation à diriger des recherches. Aufgrund seiner zahlreichen Publikationen zur Geschichte und Gegenwart der BD zählt er zweifelsohne zu den profiliertesten Kennern und Theoretikern des Genres.10 Auch in der literarischen Praxis machte er sich einen Ruf als Verfasser von Romanen, Erzählungen und Essais, als Schöpfer innovativer Fotoromane, die er mit Marie-Françoise Plissart vorlegte, als Drehbuchautor und Regisseur mehrerer Filme. Weiterhin konzipierte und realisierte Peeters zahlreiche Ausstellungen, und natürlich kooperierte er in über 25 BDs mit Schuiten, aber auch mit anderen Zeichnern. Im Rahmen der CO ist Peeters vorrangig für die Themenfindung und die Gestaltung der Dialoge zuständig.11 Wenn der belgische König dem Multimediakünstler François Schuiten, dessen Alben mehrfach preisgekrönt wurden, für seine Verdienste um die BD-Kultur den Titel eines Barons verlieh, so spricht dies nicht nur für Schuitens Engagement, sondern auch für den Stellenwert der Neunten Kunst in unserem Nachbarland. Als Designer und Szenograph entwarf Schuiten Museumspräsentationen und Innenausstattungen, die als Passagen zu einer imaginären Welt konzipierten Metrostationen »Arts et Métiers« in Paris und »Porte de Hal« in Brüssel sowie die Kulissen der Filme Gwendoline (1984; Just Jaeckin) und Taxandria (1994; Raoul Servais). Von Schuiten stammt weiterhin der luxemburgische Pavillon auf der Expo 92 in Sevilla, der belgische Beitrag »Planet of Visions« auf der Expo 2000 in Hannover und der belgische Pavillon auf der Weltausstellung von 2005 im japanischen Aichi.
8 | Schuiten und Peeters: L’aventure des images, 169. 9 | Peeters: »Petites mythologies obscures«, 236. 10 | Vgl. insbes. Peeters: Lire la bande dessinée. 11 | Als bislang einzige Einführung in Peeters vielseitiges Schaffen liegt derzeit vor: Vgl. Baetens: Le réseau Peeters.
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Abb. 1: Métro »Arts et Métiers«. In: Schuiten ; Peeters: Voyages en Utopie © Casterman.12
Abb. 2: Métro »Porte de Hal«. In: Schuiten; Peeters: Voyages en Utopie © Casterman.
12 | Die Reproduktion sämtlicher Fotos und Bilder erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autoren und der Editions Casterman.
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Schuitens und Peeters CO schaffen eine Parallelwelt zur Realität des Lesers, die ihm zugleich bekannt und doch fremd ist. Brüsel, das Pendant zur belgischen Hauptstadt auf dem Continent obscur, steht beispielsweise für die negativen Folgen der Zerstörung gewachsener Stadtstrukturen. Xhystos wiederum führt im Stil des Art Nouveau die Ästhetik Victor Hortas fort. An diesen und anderen architektonisch durchkomponierten Handlungsorten verknüpfen sich die Themen Urbanismus und Politik mit phantastischen Elementen und der in den CO häufig wiederkehrenden Liebesthematik. Jeder Band der Serie besitzt dabei seine eigene Geschichte mit eigenen Figuren, denen der Leser nach dem Muster der Romane Balzacs und Zolas in anderen Bänden wieder begegnen kann. Die Transgression vom »Hier« des Lesers zum »Dort« der Fiktion wird durch Passagen ermöglicht, die auf den Ebenen der Diegese, der dargestellten Personen sowie der zitierten Texte bzw. Medien, doch auch in topographischer und architektonischer Hinsicht ausgestaltet werden. La Tour schildert beispielsweise die Passage des Protagonisten aus der schwarz-weißen Welt der Renaissance in die farbige Welt eines undefinierten anderen Zeit-Raum-Konstrukts. In L’enfant penchée und in der Affaire Desombres steht das Motiv der Passage ebenfalls im Mittelpunkt. Wie die dargestellten Welten, so besitzen auch die Personen einen unmittelbaren Bezug zu realen Vorbildern: Jules Verne beispielsweise vermag sich in L’enfant penchée zwischen der Welt des Lesers und jener der CO hin und her zu bewegen. So gesteht er, die Ideen für seine Voyages extraordinaires bei seinen Reisen auf dem Continent obscur gewonnen zu haben. Weiterhin tritt in dem genannten Band der Zeichner und Fotograph Nadar anagrammatisch verschlüsselt als Michel Ardan auf. Michel Ardan wiederum verweist auf den namensgleichen Protagonisten von Vernes De la terre à la lune. Robick, der Städtebauer aus La fièvre d’Urbicande, von dessen Schreibtisch ausgehend sich eines Tages eine geheimnisvolle Würfelstruktur ausbreitet, lässt an den Erfinder des Magic Cube, Rubik, denken. Giovanni, der Protagonist von La Tour, ist ein graphisches Porträt von Orson Welles, und er teilt seinen Vornamen mit Piranesi, dessen Gefängnisszenen in dem Band graphisch zitiert werden.13 Der Maler Augustin Desombres schließlich, von dem noch ausführlich die Rede sein wird, ist ein Doppelgänger von Martin Vaughn-James, der seinerseits als Schöpfer experimenteller graphischer Romane wirkte. Passagen zwischen Orten, Passagen personeller Art, Passagen zwischen Faktizität und Fiktionalität sind somit Schlüsselbegriffe und -konzepte, die mit den CO zu verknüpfen sind und zu denen intermediale und intertextuelle Passagen hinzutreten. Aus dem »Rauschen der Intertextualität«14 heben sich einige Stimmen besonders hervor: Die im Serientitel gegebene Referenz zu Italo Calvinos Le città invisibili (1972) ist offenkundig, und so erinnert die oftmals beklemmende Atmosphäre der Dystopien an die von Zerfall und Untergang bedrohten Città. Weitere Referenzautoren, von denen einige sogar angeblich den Continent obscur 13 | Vgl. Coulthard: »La Tour by Schuiten & Peeters.« 14 | Stierle: »Werk und Intertextualität«, 354.
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bereisten, sind Novalis, Swedenborg, Maeterlinck, Benjamin, Calvino, Gracq, Kafka, Bioy Casares, Perec, Kadaré, Autoren des Nouveau Roman und vor allem Borges. Filmische Referenzen verweisen auf den schon genannten Orson Welles und Fritz Langs Metropolis. Für die Malerei ergeben sich über Piranesi hinausgehend Bezüge zu Breughel, den Orientalisten, Symbolisten und belgischen Surrealisten, zu Böcklin und Escher. Inspiriert wurden Schuiten und Peeters auch durch die Fotographien Karl Blossfeldts, dessen Namen auf dem Continent obscur sogar zur Schaffung des Toponyms »Blossfeldtstad« Anlass gab. Unter der Oberfläche der BD schlummert somit eine rhizomatische Tiefenstruktur, die es seitens des Publikums zu entdecken gilt. Gleichwohl lehnt es Peeters ab, dass hierin der eigentliche und einzige Sinn der Rezeption liege: »Tout est conçu, pourtant, de telle sorte que l’ignorance de ces sources ne nuise en rien à la lecture«.15 Stehen viele Bände der CO bereits im Zeichen der Passage, so rückt das Thema in L’enfant penchée und L’affaire Desombres in den Mittelpunkt, da hier von dem rätselhaften Verschwinden des angeblich an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert lebenden französischen Malers Augustin Desombres berichtet wird. Aus dem Kosmos der CO führen dabei zwei Wege zum spectacle musical et multimédia16 der Affaire Desombres: der eine nimmt unmittelbar in L’enfant penchée seinen Anfang, während der zweite Weg das Ergebnis eines eher performativen Impulses bildet. Im Folgenden sollen beide Wege beschritten werden, wobei wir mit der Kommentierung von L’enfant penchée beginnen, da in diesem graphischen Roman wesentliche Teile des Geschehens und des medialen Arrangements der Affaire Desombres vorgezeichnet sind.
G RENZÜBERSCHREITUNGEN IN L’ENFANT PENCHÉE L’enfant penchée verknüpft zwei zunächst parallel angelegte Erzählstränge, von denen der erste nach Art der druckgraphischen Illustrationen des 19. Jahrhunderts in Schwarz-Weiß gezeichnet ist. Im Mittelpunkt steht die Geschichte Mary von Rathens, deren Körperschwerpunkt sich nach einer Sonnenfinsternis auf rätselhafte Weise seitlich verlagert hat. Wie der Wissenschaftler Axel Wappendorf herausfindet, wird Mary von dem Gravitationsfeld eines unsichtbaren Planeten angezogen. Es gelingt der jungen Frau, mit Wappendorf in die aus Sphären zusammengesetzte Parallelwelt dieses Planeten geschossen zu werden. Hier findet sie ihren aufrechten Gang wieder, während sich Wappendorf nun nicht mehr gerade halten kann. Die beiden Reisenden finden in einer Höhle zwischen mehreren Sphären eine Feuerstelle, eine Plattenkamera und mehrere Gepäckstücke. Während sich Mary auf die Suche nach den Besitzern macht, bleibt Wappendorf vor Ort und sieht sich unverhofft Jules Verne gegenüber, der in Begleitung des Fotographen 15 | Peeters: Écrire l’image, 53. 16 | Peeters: »Bibliographie«.
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Ardan die Gegend erforscht. Das Spiel mit Fakt und Fiktion wird bei dieser Gelegenheit besonders sinnfällig: Jules Verne erhält in der monde obscur den Status einer fiktiven Person. In dieser Eigenschaft kann er dem Fotographen Ardan alias Nadar begegnen, der vom Standpunkt der monde obscur betrachtet eine Person der Realität ist, aber in Vernes Roman über die Reise zum Mond zur Person der Fiktion wird. Mit dieser chiastischen Konstellation zitieren Schuiten und Peeters das metafiktionale Paradigma des Don Quijote, wo der Autor zur Person der Fiktion des Romans und der Protagonist zu einer Figur der Realität des Autors wird. Wie Verne berichtet, hatte er nach dem Besuch einer Ausstellung des Malers Desombres unverhofft die Fähigkeit erlangt, seine Voyages extraordinaires in die Parallelwelt durchzuführen. Hier habe er eben jene Landschaften wiedergefunden, die er auf der Erde in den Bildern des Malers bewundert habe. Offenbar wohnen Desombres’ Gemälden geheimnisvolle Kräfte inne, und seine Bilder geben Szenen aus der Parallelwelt wieder. Während dieser erste Handlungsstrang graphisch gestaltet wird, erweist sich der zweite Handlungsstrang als récit photographique,17 der die Begegnung von Comicwelt und Fotowelt ermöglicht. Vom standardisierten Fotoroman abweichend sind die Fotos in L’enfant penchée nach Art der frühen graphischen Romane Töpffers so arrangiert, dass Bild und Text dialogisch zugeordnet werden und räumlich getrennt bleiben. Im Unterschied zum Fotoroman, der ein in Kulissen erstelltes Geschehen realistisch abbilden möchte, tragen Marie-Françoise Plissarts Aufnahmen das Signum der künstlerischen Gestaltung durch die Wahl der Motive und der Bildausschnitte, die variierenden Bildgrößen, Einstellungen und Positionierungen der Kamera sowie durch die Kombination des fotographischen Bildes mit gezeichneten oder gemalten Elementen. Der im Fotoroman auf die Rolle eines simple opérateur18 beschränkte Fotograf wird durch diese Eingriffe dem Zeichner ebenbürtig. Auch in erzählerischer Hinsicht tritt im zweiten Handlungsstrang ein Wandel ein, denn Desombres nimmt als autodiegetischer Erzähler den Platz des heterodiegetischen Erzählers ein. Seine tagebuchartig vorgetragenen Gedanken lassen erkennen, dass er Schüler des französischen Historien- und Orientalismusmalers Gérôme war, sich aber dann von dessen Malstil emanzipierte. Das Unverständnis seiner Mitmenschen für diese künstlerische Entwicklung ließ ihn zum Außenseiter werden. Im Zentralmassiv erwirbt er ein leer stehendes Haus, in dem er seiner Intuition folgend Wandfresken malt, auf denen Sphären eine besondere Bedeutung haben. Eine dieser Sphären weist Risse auf – sie wird im weiteren Verlauf der Geschichte noch eine wichtige Rolle spielen. Eines Tages vernimmt Desombres erstmals Stimmen hinter den Wänden und seltsame Geräusche unter dem Boden. Vor seinem inneren Auge erscheint eine gesichtslose Frauengestalt, deren Portrait er zu malen versucht und in der der Leser dank seines durch die Lektüre des ersten 17 | Peeters: Écrire l’image, 57. 18 | Peeters: »Le roman-photo: un impossible renouveau?«, 109.
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Handlungsstrangs erworbenen Informationsvorsprungs Mary erkennt. Nachdem Desombres begonnen hat, die Wände seines Domizils auch mit Türen zu bemalen, zieht ihn eine unwiderstehliche Macht in einen immer enger zulaufenden Flur, an dessen Ende er durch eine Passage in eine dunkle Parallelwelt eintritt.19
Abb. 3a: Schuiten; Peeters: L’enfant penchée © Casterman.
Abb. 3b: Schuiten; Peeters: L’enfant penchée © Casterman.
19 | Das Motiv der Passage zitiert Carrolls Alice in Wonderland. Zugleich verweist es auf den Fotografen Carrol: »Es war Lewis Carroll, der nicht nur mit seinen Geschichten von ›Alice‹ die Unentscheidbarkeit logischer Verhältnisse demonstrierte, sondern der auch als Hobby-Fotograph Abgründe des optischen Dispositivs auslotete. Die Aura seiner Verwerfungen diskursiver Stringenz ist […] allgegenwärtig in den Photos von Marie-Françoise Plissart […]«. Wetzel: »Die ›schwankende‹ Einbildungskraft«, XXXIX.
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In dieser Phase findet im zweiten Handlungsstrang ein Medienwechsel vom Foto zur Grafik statt: Desombres verändert seinen Status, und er wird zu einer gezeichneten Figur. In der auf diesen Seiten des Albums realisierten medialen Kombinatorik aus BD, Fotographie und Malerei erkennt Peeters rückblickend »le centre secret de mes réflexions sur l’image narrative«,20 die er mit Peeters einige Jahre später in L’affaire Desombres fortgeführt habe. Auf jener von Rissen und Spalten gezeichneten Sphäre, deren Abbild er zuvor noch an die Wand gemalt hatte, begegnet Desombres erstmals Mary. Er erkennt, dass sie die Frau ist, deren Portrait er nicht fertigstellen konnte, und Mary erklärt sich bereit, ihm Modell zu sitzen. Zwischen beiden Protagonisten entwickelt sich fortan eine Liebesbeziehung. Im Gespräch mit Wappendorf erfährt Desombres später, dass Jules Verne dank seiner visionären Bilder die Passage in die Welt der Fiktion möglich war. Sie hätten aber auch die Ordnung der monde obscur gestört, die unbedingt wiederhergestellt werden müsse. Desombres steht somit vor der Entscheidung zwischen Liebe und Verantwortung. Er verzichtet auf die Erfüllung seiner Liebe mit Mary, die im Moment des Abschieds vergeblich seine rechte Hand festhält, um ihn vor der Rückkehr zur Erde zurückzuhalten.
Abb. 4: Schuiten; Peeters: L’enfant penchée © Casterman. Der Maler kehrt aus der Welt des Bildes in die Welt der Fotographie zurück und übermalt auf seinem Fresko die Risse der defekten Sphäre. Seitdem herrscht in seinem Haus Stille, aber er kann Mary umso weniger vergessen, als seine Hand ein 20 | Peeters: Écrire l’image, 60.
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Stigma trägt: die auf Plissarts Fotos eingezeichnete Hand des Malers dokumentiert die in der BD insinuierte Faktizität des Fiktionalen. Zugleich belegt diese außergewöhnliche Darstellungsweise den Artefaktcharakter der Fotographie, denn die Aufnahmen »lassen das Photo […] als Simulacrum erscheinen«, indem sie »ganz bewusst eine inauthentische Realitätsinszenierung«21 offenbaren.
Abb. 5: Schuiten; Peeters: L’enfant penchée 1996 © Casterman. Der Band endet damit, dass Mary und Wappendorf nach Mylos zurückkehren, da Desombres in seinem Fresko die Friktionen der Sphäre geglättet hat. Die junge Frau kann nun wieder aufrecht stehen und sogar die politischen Geschicke der Stadt leiten. Desombres aber geht voller Selbstzweifel über die Richtigkeit seines Handelns in eine ungewisse Zukunft. Als erstes Zwischenergebnis kann somit vermerkt werden, dass L’enfant penchée in einer für den Leser höchst attraktiven Weise implizite und explizite intermediale Systemreferenzen mit intertextuellen Anspielungen kombiniert. Zugleich erfolgt eine Auseinandersetzung mit den Optionen des fotographischen Romans bzw. des fotographischen Erzählens, wobei durch das Motiv der Passage Affinitäten und Berührungsmöglichkeiten von BD und Fotographie in fiktiven Imaginationsräumen publikumswirksam ausgelotet werden. Die Passage erscheint in diesem Zusammenhang als medientheoretisches Leitprinzip, da eine Verknüpfung zwischen zwei bis dahin vorrangig nebeneinander existierenden Kunstformen geschaffen wird. Zugleich situiert sich der Band im Kontext postmoderner Theoreme, wie
21 | Hertrampf: »PHOTO–COMIC–ROMAN«, 297.
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jenem der Dezentrierung und Dekonstruktion von Sinn, der Aufhebung von Linearität oder der Erfindung der Wirklichkeit.
TR ANSMEDIALE I MAGINATIONSR ÄUME IN L’AFFAIRE D ESOMBRES L’enfant penchée bildet aufgrund der erzählten Geschichte und der medial-thematischen Gestaltung der Transgression eine wichtige Grundlage für L’affaire Desombres. Doch noch ein zweiter, eher performativer Weg führt zur dieser Doku-Fiktion, an dessen Ausgangpunkt das Bedürfnis Schuitens und Peeters stand, die Monotonie von Signierstunden durch conférences-fiction zu durchbrechen.22 Die Autoren konzipierten Vorträge über die CO, die mit Dias aus der monde obscur unterlegt waren23 und spontan zur Schaffung neuer Figuren oder neuer Geschichten führen konnten. Mary von Rathen beispielsweise konturierte sich bei einem solchen Auftritt aus einer verschwommenen Fotografie Mary Tucholskys, und der Forscher Axel Wappendorf entstand als Figur spontan nach einem Zuruf aus dem Publikum.24 Schon vor der conférence-fiction hatten Schuiten und Peeters bereits ein anderes multimediales Genre, die exposition-spectacle, konzipiert. Im Musée des ombres von 1990, »la plus importante exposition jamais présentée au CNBDI [scil. Centre National de la Bande Dessinée et de l’Image] et à Angoulême, en terme de superficie et de scénographie«25, begegnete das Publikum Objekten, die bis dahin ausschließlich in den Cités obscures existierten. Ein dreidimensionaler Imaginationsraum erschloss sich dem Besucher, der in spektakulärer Weise, von Stimmen und Musik geleitet, durch einen Riss in einer überdimensionalen Buchseite die Grenze zwischen den Welten des »Hier« (Realität des Besuchers) und des »Dort« (Realität der CO) passieren konnte.26 Die Virtualität der CO wurde zur physisch erfahrbaren Realität, denn Objekte, Räume, Personen und auch Bilder aus den BDs,
22 | Vgl. Russo: »Le Peintre, le musée et la bande dessinée«, 123. 23 | »[…] de plus en plus souvent, nous prenions appui sur des images d’allure documentaire: curieusement, elles s’avéraient tout aussi propices à nos vagabondages. Un livre sur les usines AEG, un album sur le poète Kurt Tucholsky, le recueil Urformen der Kunst du photographe berlinois Karl Blossfeldt nous offrirent ainsi la matière de petites fictions inattendues.« Schuiten und Peeters: L’aventure des images, 52. 24 | Vgl. Peeters: »Une exploration transmédiatique«, 255. 25 | Homepage des Centre National de la Bande Dessinée et de l’Image: . Variationen der Ausstellung wurden in Sierre (Schweiz), Paris und Brüssel gezeigt. 26 | »Directement issu du diaporama, ce dispositif permettait de crédibiliser cet univers sinistre, en même temps que d’établir une nouvelle passerelle entre notre monde et celui des Cités obscures«. Schuiten und Peeters: L’aventure des images, 56.
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aber auch ein fiktives Filmdokument fanden sich im Museum wieder.27 Zudem sollten neue Personen eingeführt, neue Geschichten erfunden und wenig bekannte Städte des continent obscur wie Mylos und Calvani vorgestellt werden. Die multimediale Kombinatorik verfolgte somit über eine bloße »euphorie du multimédia« hinausgehend als »exaltation de la métamorphose« das Ziel »de rendre vraisemblable un univers de papier en multipliant les effets de réel.«28
Abb. 6: Le Musée des ombres. In: Schuiten; Peeters: Voyages en Utopie © Casterman. Zeitgleich mit ihrem Musée des Ombres schufen die Künstler Le Musée A. Desombres, den in einer Kassette befindlichen Nachlass dieses angeblich zu Unrecht vergessenen Malers, der im Alter von 37 Jahren spurlos verschwunden sei und dessen Bleibe bei Laguiole man abgerissen habe. Die Sammlung von Bildern, Fotos und Tondokumenten wurde durch einen catalogue raisonné des œuvres et des biens ayant appartenu à Augustin Desombres ergänzt. Augustin Desombres, dessen Vorname kaum zufälligerweise an Unamunos Protagonisten Augusto in Niebla erinnert,29 27 | »[…] il ne s’agissait pas de transposer la bande dessinée à une autre échelle, mais bien de développer un univers polysensoriel, s’écartant de la bande dessinée pour mieux la révéler«. Schuiten und Peeters: L’aventure des images, 58; vgl. dies.: Voyages en utopie, 21. 28 | Zitate aus Peeters: »Une exploration transmédiatique«, 261. Der Sprachgebrauch gibt Peeters als Schüler Roland Barthes zu erkennen. Vgl. Barthes: »L’effet de réel«, 167-174. 29 | Die Pointe dieses Romans besteht darin, dass Augusto, der Protagonist, und sein Schöpfer, der Philosoph und Schriftsteller Miguel de Unamuno, im Text ein Streitgespräch
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wurde aus einem Wortspiel geboren, und die Geschichte der Passage in die monde obscur, die über L’enfant penchée zur Affaire Desombres führt, nahm einen neuen Anfang.30 Mit den conférences-fiction, dem Musée des ombres, dem Musée A. Desombres sowie L’enfant penchée erhielt die Fiktion der CO eine wachsende innere Kohärenz. Auch wurde während dieses Prozesses die traditionelle Rollenaufteilung zwischen Autoren und Rezipienten überwunden, denn das Publikum trat erstmals als Ideengeber auf. Die Fiktion begann sich von ihren Autoren zu lösen. Ein regelrechter vertige fictionnel31 erfasste sie, wie Peeters einräumt, nachdem sie eines Tages Briefe von einer apokryphen Mary von Rathen erhalten hatten, in der die Person der Fiktion die Autoren bat, die von ihr vorliegenden Erzählungen in mancher Hinsicht zu korrigieren. Sogar ein von Mary verfasstes Buch habe eines Tages in der Post gelegen. Wie in Borges’ Tlön, Uqbar, Orbis Tertius32 oder in Unamunos Niebla trat die Welt der Fiktion in die als realistische Fiktion gestaltete Welt der Leser und der Autoren ein. L’affaire Desombres führt als spectacle musical et multimédia33 konsequent jene Optionen weiter, die Schuiten und Peeters in ihren Büchern und Ausstellungen entwickelt hatten. Die szenographischen Elemente der Aufführung sollen dabei wie in der BD, doch im Unterschied zum Medium Film, dem Rezipienten hinreichend Zeit geben, den Blick schweifen zu lassen und sich seiner Imagination hinzuge-
über Realität und Fiktion, die Existenz und die Autonomie des Individuums austragen. Die Grenze zwischen dem »Hier« des Autors bzw. des Lesers und dem »Dort« der Figur wird auf diese Weise Cervantes’ Quijote vergleichbar porös. 30 | Vgl. Peeters: Écrire l’image, 56. 31 | Russo und Leroy: »Entretien avec Benoît Peeters«, 154; »[…] avec ›L’affaire Mary‹ nous nous sommes trouvés pris à notre propre piège, enveloppés dans le labyrinthe de nos propres fictions, avec une vraie part d’indécidable« (Peeters: »Petites mythologies obscures«, 240). Die Verknüpfung von Fiktion und Realität inspirierte die Leser der Cités obscures zur Schaffung von derzeit 20 zum Teil interaktiven Internetseiten sowie einem Internetjournal namens Luminas, das Neuigkeiten aus dem Continent obscur bereit hält (Urbicande: und Obskür: ). Die Webseite der CO hält sogar ein Verzeichnis der Passagenorte bereit, für die der Zugang zum monde obscur möglich sei. Die Nutzer der Seite haben die Möglichkeit, von ihnen entdeckte Passagenorte hinzuzufügen (Urbicande: ). Weiterhin existiert ein Blog zu den CO: BD Paradisio: . 32 | Vgl. Kaplan: Mai 1995. »La quête du sens dans Les Cités Obscures de François Schuiten et Benoît Peeters«. 33 | Szenische Aufführungen mit einer Dauer von etwa 80 Minuten fanden in Grenoble (1999) sowie in Paris (2000 und 2006) statt. Als DVD ist die auf 50 Minuten gekürzte Affaire Desombres seit 2002 auf dem Markt.
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ben.34 L’affaire Desombres besitzt daher die Form einer szenischen Doku-Fiktion, die mit filmischen Passagen angereichert wird, welche ihrerseits wiederum einen fiktiv-dokumentarischen Charakter aufweisen. Im Mittelpunkt steht das rätselhafte Verschwinden des Malers Desombres, das durch »une enquête de Catherine Aymerie«, so der Vorspann, aufgeklärt werden soll. Insinuiert enquête eine auf Fakten basierende Suche nach Wahrheit, so erschwert der Hinweis auf Catherine Aymerie den Glauben an die Wahrhaftigkeit dieser Ankündigung: Aymerie ist eine Schauspielerin, die in der Doku-Fiktion einerseits unter ihrem korrekten Namen auftritt, sich andererseits aber auf der Bühne als Organisatorin einer Ausstellung über den Maler Jean-Léon Gérôme vorstellt.35 Aymerie berichtet, wie sie über die Briefe Gérômes auf dessen angeblich begabtesten Schüler Desombres gestoßen sei. Dieser Beglaubigung der Existenz Desombres’ durch die Textsorte steht die von Aymerie betonte Tatsache entgegen, dass einschlägige Handbücher zur Malerei Desombres ignorieren. Schon zu Beginn der Affaire Desombres verschränken sich somit Realität und Fiktion. Hierzu trägt auch bei, dass Aymerie dem Publikum Desombres’ Tagebuch präsentieren kann, dessen Seiten als kritische Ausgabe im Begleitheft zur DVD reproduziert sind. Der kombinierten Täuschungs- und Beglaubigungsstrategie dienen auch die Reproduktionen einiger Fotos Marie-Françoise Plissarts, welche angeblich die letzte Bleibe des Malers in der Nähe von Laguiole vor ihrem Abriss 1989 dokumentieren. Die wahren locations – die Brüsseler Bibliothèque Solvay und die Caserne Roi Albert – dürften dem Publikum mehrheitlich unbekannt sein, so dass die Aufnahmen ihre realistische Illusion entfalten können. Die wissenschaftliche Seriosität des Fachvortrags soll ebenfalls zu Beginn der Aufführung über den fiktionalen Charakter des spectacle hinwegtäuschen und hiermit den späteren Effekt des Phantastischen vorbereiten. Aymeries Informationen sowie die vorgelegten Dokumente appellieren dabei an die Einbildungskraft eines
34 | »In a scenography or a show the spectator is given time to look. His eye seeks, decides to wander, on a stage as in a comic book: not everyone sees the same thing and they won’t recount the story in exactly the same fashion after the show. Conversely, in cinema, everything – or almost everything – is dominated by the director’s pacing. Perhaps that’s why I’m more and more attracted to the world of live theatre.« (Peeters: »A Chat with François Schuiten«, 23). Zu dem gleichen Ergebnis kommt Aude Pivin: »Face à la linéarité du récit, le lecteur de bd est beaucoup plus autonome dans sa lecture. Si le photogramme s’anime grâce au mécanisme d’une machine à projection, la seule machine rotative en bd, c’est l’œil du lecteur. Lui seul décide de s’arrêter sur une image ou d’accélérer le rythme de sa lecture« (Pivin: »Quand la BD s’inspire du cinéma«, 114). 35 | Das Verwirrspiel setzt sich in der ersten Fußnote des Booklets zur Affaire Desombres fort: »Signalons tout de même la remarquable thèse soutenue en 1995 par Catherine Aymerie à l’Université Libre de Bruxelles. Une version légèrement modifiée est parue en 1996 aux Impressions Nouvelles (Paris) sous le titre ›Augustin Desombres, le Maître de l’Aubrac‹.«
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jeden Zuschauers und laden ihn ein, sich mit ihr auf die Suche nach der Lösung der Affaire Desombres zu machen.
Abbildung 7: Schuiten; Peeters: L’affaire Desombres © Casterman. Der Beglaubigung dient auf den ersten Blick auch die Präsentation eines kurzen filmischen Dokumentes zu Desombres’ Biographie. Bei genauerem Hinsehen wird offenkundig, dass der Film einer computergenerierten Manipulation unterlag, um als »Relikt aus früheren Zeiten« zu scheinen. Diese mediale Aufbereitung unterwandert den verbal übermittelten Authentizitätsanspruch und den vermeintlich expositorischen Charakter des Filmdokumentes, so dass das Medium durch die Thematisierung der eigenen Medialität seinen Anspruch auf Authentizität zurücknimmt. Eine »naiv-unschuldige«, einseitige Wahrnehmung des spectacle als »wahrhaftig« ist offenbar seitens der Autoren nicht gewünscht. Vielmehr möchten sie zu einem Gedankenexperiment einladen, in dem der Zuschauer ständig zwischen den Polen »Beglaubigung« und »Hinterfragung des Dargestellten« schwankt, aber nicht minder oft aufgefordert wird, mit der erzählten Geschichte einen pacte de fiction zu schließen. So kann der informierte Betrachter Schuitens Zeichenstil unschwer erkennen, wenn ihm angeblich Desombres’ Bilder gezeigt werden. Dieses Paradox wird allerdings damit erklärt, dass Schuiten mit Peeters das Musée Desombres kurz vor dessen Abriss besucht und die dort gesehenen Bilder und Fresken nach ihrer Zerstörung aus der Erinnerung rekonstruiert habe. Einen neuen beglaubigungsstrategischen Anlauf nimmt das spectacle mit der Kommentierung des Tagebuchs Desombres’, in dem der Maler als Medium einer von außerhalb kommenden Inspiration erscheint. Signalisiert die Textsorte wie
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im Fall der anfangs erwähnten Briefe den Anspruch auf Glaubwürdigkeit, so kann andererseits nicht ignoriert werden, dass gerade das Tagebuch eines pacte autobiographique36 zwischen Schreiber und Leser bedarf. Da sich im vorliegenden Fall der Authentizitätsanspruch infolge der erzählten histoire bald erneut verwischt, wandelt sich der pacte autobiographique zu einem pacte de fiction. Das Spiel mit Wahrheit und Täuschung, mit Realität und Fiktion erhält durch die von Aymerie angeblich in einem Archiv vorgefundenen Notationen eine neue Facette. Desombres habe – so ein Tagebucheintrag – hinter den Wänden seines Hauses Stimmen und Musik vernommen, die er seinem Freund Rollinat diktiert habe. Erneut greift wie zuvor im Fall Aymeries zunächst die personelle Beglaubigungsstrategie, denn der Dichter und Pianist Maurice Rollinat lebte in Frankreich zur Zeit der décadence. Durch eine Vertonung von Baudelaires Fleurs du Mal – das Motiv der transmedialen Passage erscheint hier im historischen und post-symbolistischen Zusammenhang – konnte er besonders auf sich aufmerksam machen. Das angebliche Portrait Rollinats unterläuft jedoch diese Authentisierung, da es eine spiegelverkehrte Zeichnung Schuitens aus dem Jahr 1993 reproduziert und als diskrete Hommage Claude Renard zeigt,37 der 1974 bis 1977 Schuiten in der Section bande dessinée des Institut Sant-Luc unterrichtete und zu einem seiner besten Freunde wurde. Mit dem als Interview arrangierten filmischen Auftritt Bruno Letorts erhält die Authentisierung des Fiktionalen eine neue Qualität. Der Musikwissenschaftler und Komponist habe die Notationen aus der Feder Rollinats orchestral arrangiert, so dass Desombres’ Eindrücke nun auch akustisch nachvollziehbar seien. Ein Teil der Musikgeschichte müsse nun aufgrund des innovativen Charakters der Dokumente neu geschrieben werden. Im Folgenden werden Musik, Fotos und Ausschnitte aus dem Tagebuch synchron montiert, wobei Aymeries Kommentar aus dem Off und Zitate aus dem Tagebuch das Thema der Passage erstmals explizit nennen und es in einen Zusammenhang der Poetik der voyance stellen. Mit diesem Begriff ist die Assoziation zu Rimbaud und seiner synästhetischen Kombination von Farben, Klängen und Worten gegeben. Ziel des voyant ist eben jene Transzendierung von Kunst, die für Desombres – aber nicht minder für Schuiten und Peeters – maßgeblich ist. Ein weiteres Filmdokument zitiert erneut die Form des angeblich wahrheitsstiftenden Interviews, wenn Aymerie nun Schuiten und Peeters zu Desombres befragt. Die Wahl der Metrostation Arts et Métiers als Ort des Interviews ist in hohem Maße sinnträchtig, zeichnet doch Schuiten für die architektonische Gestaltung dieser Station verantwortlich. Dies erklärt das an Jules Vernes »Nautilus« erinnernde Ambiente, welches das sous-marin zu einem sous-terrain38 transformiert. Der konkrete Ort erhält als Passage zwischen dem Hier und dem Dort zudem eine me36 | Lejeune: Le pacte autobiographique. 37 | Renards Originalportrait findet sich in Jans et al.: Schuiten & Peeters, 31. 38 | Russo und Leroy: »Entretient avec Benoît Peeters«, 157.
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taphorisch-imaginative Dimension. In diesem Zusammenhang kommentiert der filmische Rekurs auf die architektonische Gestaltung der Metrostation zugleich die mediale Kombinatorik und die Vermischung von Faktizität und Fiktionalität in den CO sowie in L’affaire Desombres. Schuiten und Peeters möchten offenbar in unsere funktionalisierte, technisierte und regulierte Welt Imaginationsräume einbringen, in denen sich die Phantasie entfalten kann. Solche Fiktionsorte sind virtueller oder konkreter Natur, sie können sich im Medium Buch entfalten, in der Architektur oder in einem Multimediaspektakel wie der Affaire Desombres. Dass sich am Ausgang der genannten Metrostration das Musée des Arts et des Métiers befindet, dessen Kapelle den Ausgangspunkt von Ecos Roman Das Foucaultsche Pendel (1988) bildet, sei nur am Rande erwähnt. Die aus Ecos Roman abzuleitende Botschaft, dass es keine Wirklichkeit mehr gibt, außer jener, die zwischen Partnern per Konsens verabredet wird, entspricht exakt einer zentralen Sinndimension der Affaire Desombres. Besonders ansprechend gestaltet sich die mediale Kombinatorik, wenn die von Letort arrangierten Musikstücke aufgeführt und die evozierten Stadtlandschaften aus den CO graphisch auf eine Leinwand projiziert werden. Das Kameraauge imitiert dabei den Blick des Betrachters, der über das Panel einer BD gleitet. Die halbtransparente Projektionsfläche trennt das Publikum und Aymerie von den konzertierenden Musikern, so dass die Passage zum continent obscur metaphorisch visualisiert wird. Zugleich bietet sich die Option einer multimedialen Rekonstruktion jener Sinneseindrücke, die Desombres hinter seinen Fresken wahrnehmen konnte. In medientheoretischer Hinsicht ist der von Aymerie geschilderte Versuch Desombres’ sehr aufschlussreich, die Welt von Brüsel, dem megalomanen Pendant zur belgischen Hauptstadt, fotographisch zu dokumentieren. Beglaubigt wird dieses Projekt durch eine überdimensionale Kamera, die die Kunsthistorikerin auf der Bühne enthüllt. Zugleich aber folgt der Hinweis, dass die Fotos, die Desombres gemacht habe, nach dem Entwickeln keine Bilder gezeigt hätten, so dass der illusionäre Charakter einer angeblich mimetischen Fotographie erneut herausgestellt wird. Die Präsentation der angeblich einzigen beiden erhaltenen Gemälde Desombres’ setzt wiederum die Beglaubigungsstrategie fort, da im Detail Mary erkennbar ist. Aymerie fördert das Interesse ihres Publikums an Mary ferner mit einer figürlichen Darstellung der Frau sowie bislang unbekannten Aufnahmen aus einem Fotoalbum Desombres’, das sich im Besitz eines Buchhändlers aus Laguiole befunden habe. Anscheinend hat sich Mary auch in unserer Welt aufgehalten, und die vorhin artikulierte Negierung des mimetischen Anspruchs der Fotografie wird zurückgenommen, um das Spiel mit der Fiktion weiterzutreiben.
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Abb. 8 und 9: Schuiten; Peeters: L’affaire Desombres © Casterman. L’affaire Desombres entwickelt unter Zuhilfenahme mehrerer Fotos und Panels mit musikalischer Unterstützung und dank einer »erzählenden Kamera« fortan unter Anlehnung an L’enfant penchée die Liebesgeschichte zwischen dem Maler und der Frau im Niemandsland zwischen den Welten. Fotos der stigmatisierten Hand als Erinnerung an Marys unerfüllte Liebessehnsucht, das im Tagebuch enthaltene Wissen des Malers um seine Verantwortung für die Zerstörung dieser Liebe und der Verlust an Schaffens- und Lebenswillen – untermalt durch melancholisch-larmoyante Klänge – zeigen Desombres als depressiven, tragischen Charakter. Im Epilog referiert Aymerie, dass sich nach 1906, als der frühzeitig gealterte Maler sein Haus verlassen habe, alle Spuren verlaufen. Das letzte Dokument vor seinem Verschwinden sei der Stummfilm eines Amateurs, der das Publikum durch seine offensichtliche mediale Aufbereitung einmal mehr vor die Frage stellt, ob es den gelieferten Informationen Glauben schenken soll. Erst wenn sich der Betrachter dafür entscheidet, den pacte de fiction erneut zu schließen, kann er die Affaire Desombres bis zum Schluss goutieren. Wie in populären Erzählmustern üblich, doch abweichend zu L’enfant penchée, wird in L’affaire Desombres ein happy ending zumindest in Aussicht gestellt: Wenn – oder besser: gerade da – von dem Künstler keine Spuren mehr erhalten seien, könne nicht ausgeschlossen werden, dass er wieder den Weg zu Mary gefunden habe, um die Liebe zu ihr neu zu entdecken. Aymeries Beantwortung der Frage, warum Desombres’ Werk so systematisch zerstört worden sei, bildet mit den atmosphärischen Bildern des winterlichen Aveyron und einem Blick durch eine camera
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obscura auf ein Foto des Malers den Ausklang des spectacle. Desombres’ Spuren seien getilgt worden, so das finale Fazit, weil er durch die Wiedergabe einer anderen Welt die unsrige in Frage gestellt habe.
F A ZIT UND A USBLICK Zusammenfassend kann vermerkt werden, dass die medialen Kombinationen in L’affaire Desombres unter Rückgriff auf das Musée des ombres, Le musée d’A. Desombres sowie L’enfant penchée eine Reihe virtueller, teilweise parallel geschalteter, im Foucaultschen Sinn heterotopischer und heterochronischer39 Imaginationsräume schaffen, zwischen denen sich der Betrachter frei hin und her bewegen kann. Zugleich erlaubt der Medienwechsel dem Rezipienten, die Fiktion der Serie kraft seiner Imagination immer weiter zu entwickeln.40 Falls der Rezipient mit dem Kunstwerk einen pacte de fiction einzugehen bereit ist, erfährt er die Möglichkeit, die Grenze zwischen Faktizität und Fiktionalität immer wieder zu überschreiten und Kraft seiner Imagination die Fiktion weiterzudenken.41 Gerade hierin liegt für die Autoren der besondere Reiz ihrer Werke: Le plus étonnant est que ce sont ces métamorphoses successives qui ont permis à un bon nombre de gens d’entrer dans un univers d’abord perçu comme lointain et sévère. Il est 39 | Vgl. Michel Foucaults Definitionen des fünften und sechsten Prinzips der Heterotopie, die in L’affaire Desombres unmittelbar umgesetzt werden: »Les hétérotopies supposent toujours un système d’ouverture et de fermeture qui, à la fois, les isole et les rend pénétrables. […] On ne peut y entrer qu’avec une certaine permission et une fois qu’on a accompli un certain nombre de gestes. […] elles ont pour rôle de créer un espace d’illusion qui dénonce comme plus illusoire encore tout l’espace réel. […] Ça serait l’hétérotopie non pas d’illusion mais de compensation.« (Foucault: »Des espaces autres«, 760f.). Siehe auch Dünne: »›Andere Räume‹ und ihre Medialität«, 233-250. Der mediale Raum bei Schuiten und Peeters, so Dünne in seiner Analyse von Les murailles de Samaris, könne »utopischillusionsstiftende oder heterotopisch-illusionsdurchbrechende Funktionen« (Ebd., 250) erfüllen. Utopische Projekte wie Schuitens Metrostationen oder die von ihm entworfenen Ausstellungen würden den Charakter von Heterotopien annehmen, sobald sie als gesellschaftliche Orte nicht mehr in der exklusiven Abgeschiedenheit existierten. 40 | »[…] à la faveur du changement de média, de nouvelles fictions se sont inventées; c’est en passant d’un domaine à l’autre que la série a pu se développer, comme si chaque projet avait entraîné le suivant.« Peeters: »Une exploration transmédiatique«, 262. 41 | Das Bedürfnis vieler Rezipienten, das Spiel mit der vermeintlichen Authentizität der Dokumentation über Desombres weiter zu betreiben, veranschaulichen zahlreiche Einträge in einem Internetblog nach der Pariser Aufführung im Jahr 2000. Nicht zuletzt berichten hier Blogger u.a. von ihren Aufenthalten in der autre monde. Vgl. BD Paradisio: .
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F RANK L EINEN également probable que ce sont ces transformations incessantes qui ont favorisé les interventions créatives du public. En passant d’un média à un autre, Les Cités obscures sousentendaient peut-être qu’il existait une réalité concrète, indépendante de ces diverses ›manifestations‹. En se révélant poreuse, la série se montrait susceptible d’accueillir de nouvelles greffes. 42
L’enfant penchée und L’affaire Desombres wie die gesamte Serie der CO erscheinen vor diesem Hintergrund als Reaktion auf den drohenden Verlust des Imaginären in den funktionalisierten und rationalisierten Gegenwartsgesellschaften. Sie sind Ausdruck des Bemühens, durch die Poetisierung des Alltagslebens auf den drohenden Verlust der Imaginationsräume zu reagieren. Um ein möglichst breites Publikum hierfür zu sensibilisieren, schaffen Schuiten und Peeters Kunstwerke, deren experimenteller Charakter stets im Dienste der Popularisierung des künstlerischen Impulses steht. Die transmediale Kombinatorik trägt in diesem Sinne dazu bei, dass das spectacle und die BD in einer publikumswirksamen Umsetzung postmoderner Theoreme den Charakter eines medialen Experimentierfeldes erhält. Ein weiterer Aspekt tritt hinzu, der im Rahmen dieses Beitrags nicht erörtert werden konnte: Im Unterschied zur BD der 1960er und 1980er Jahre begnügt sich die Serie der CO nicht damit, die Leser in fremde Welten zu entführen, in denen nichts mehr unmöglich zu sein scheint. Vielmehr hatte das Ende der Utopien, das seit den 1980er Jahren einsetzte, auch die CO ergriffen. Entsprechend sensibilisieren Schuitens Stadtlandschaften der monde obscur als parallelweltliche Dystopien für die Defekte unserer Gesellschaften, deren Architektur als Metapher dieser Missstände gedeutet wird. Wie Schuitens Zeichnungen belegen, die 2010 mit den Werken anderer Künstler in der Pariser Ausstellung Archi&BD, la ville dessinée einem breiten Publikum vorgestellt wurden, bildet die Architektur aber nicht nur eine wichtige Quelle der Inspiration, sie ist zugleich auch Ausdruck einer Desillusionierungserfahrung. Der multimediale Charakter der CO steht in dieser Perspektive im Dienste einer gesellschaftlichen Pragmatik, die das »Hier« durch das »Dort« verändern möchte. In dieser Perspektive stehen die CO zugleich in einer großen Traditionslinie des Genres: Avec ses images arrêtées, ses histoires lues et relues, la bande dessinée est sans doute un des meilleurs vecteurs pour imposer des signes durables qui façonnent notre perception. Töpffer, Winsor McCay, Hergé, Jacobs ou Franquin ne procédaient pas autrement: en faisant mine de peindre le monde, ils contribuaient à l’inventer.43 42 | Schuiten und Peeters: L’aventure des images, 61. Peeters unterstreicht auch an anderer Stelle innerhalb der CO die Bedeutung der Wahrnehmung verschiedener medialer Optionen »qui semblent avoir imposé l’idée de la série dans l’esprit du public, comme si, en sortant de la bande dessinée au sens précis du terme, elle acquérait une forme d’objectivité.« Peeters: »Une exploration transmédiatique«, 262. 43 | Thévenet: »La bande dessinée et l’esprit de l’utopie«, 96.
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Die paradoxe Logik der Serie, in der mit jeder zusätzlichen Information immer neue Fragen aufgeworfen werden, erscheint letztlich als Garant dafür, dass die CO als gut geölte »machine à ne pas s’ennuyer«44 die Qualitäten eines populären Perpetuum mobile aufweisen. So erstaunt es nicht, dass im Dezember 2009 in Paris eine neue conférence musicale beider Autoren zu dem jüngst erschienenen Band Souvenirs de l’éternel présent stattfand, in der sie an Raul Servais’ Film Taxandria (1994) anknüpften, für den Schuiten als Szenenbildner tätig war. Auch das Projekt einer Verfilmung der Serie wird von den beiden Autoren schon seit langem angedacht. A suivre…
L ITER ATUR Baetens, Jan: Le réseau Peeters. Amsterdam und Atlanta (GA): Rodopi 1995. Barthes, Roland: »L’effet de réel.« In: ders.: Essais critiques. Bd. 4 (Le bruissement de la langue). Paris: Seuil 1985, 167-174. BD Paradisio (le forum de la bande dessinée): (24.07.2010). Centre National de la Bande Dessinée et de l’Image: (25.12.2009). Ciment, Gilles (Hg.): Cinéma et bande dessinée. Condé-sur-Noireau: Ed. Corlet 1990. Coulthard, John (16.09.2009): »La Tour by Schuiten & Peeters.« (24.07.2010). Dünne, Jörg: »›Andere Räume‹ und ihre Medialität. Von der phantastischen Literatur Argentiniens zur Comic-Welt der ›Cités obscures‹.« In: Thomas Le Blanc (Hg.): Die phantastische Stadt. Wetzlar: Phantastische Bibliothek 2005, 205-250. Foucault, Michel: »Des espaces autres.« In: ders.: Dits et écrits 1954-1988. Bd. 4 (1980-1988). Paris: Gallimard 1994, 752-762. Guilbert, Xavier: »Vous avez dit ›populaire‹?« In: Jean-Marie Buisson (Hg.): L’état de la bande dessinée. Vive la crise? Actes de la troisième Université d’été de la bande dessinée. Brüssel: Les Impression Nouvelles 2009, 99-114. Hertrampf, Martina: »PHOTO–COMIC–ROMAN und COMIC–PHOTO–ROMAN: Mediale Grenzphänomene zwischen Comic, Photographie und PhotoRoman.« In: Frank Leinen und Guido Rings (Hg.): Bilderwelten – Textwelten – Comicwelten. Romanistische Begegnungen mit der Neunten Kunst. München: Meidenbauer 2007, 287-313. Jans, Michel et al.: Schuiten & Peeters. Autour des Cités obscures. St. Egrève: Dauphylactère 1994. Kaplan, Frédéric (Mai 1995): »La quête du sens dans Les Cités Obscures de François Schuiten et Benoît Peeters.« (24.07.2010).
44 | Peeters: »Petites mythologies obscures«, 236.
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Genealogische Konstellationen des Populären
Playing with Reality Reinhold Görling
Genetivkonstruktionen laden zum Spiel mit den Bezügen ein. Wenn wir über die Popularität der Literatur sprechen, geht es dann um die Frage, ob Literatur populär ist, und wenn wir das, nachdem wir wissen, was das überhaupt heißen soll, bejahen, um die Frage, wie es dazu kommt? Oder geht es darum zu fragen, wie Popularität durch Literatur entsteht, anders gesagt, darum, ob Popularität etwas mit Literatur als einer besonderen Form der Artikulation zu tun hat, ihr also etwas genuin Literarisches oder, allgemeiner formuliert, Mediales zukommt? Kann man schließlich die zweifache Möglichkeit des Verständnisses dieses Genetivs als Hinweis darauf verstehen, dass Popularität und Literatur eine gemeinsame Geschichte der Entstehung haben? Jedenfalls aus europäischer Sicht, das wird sehr schnell deutlich, lässt sich die Geschichte des einen schwerlich ohne die des anderen erzählen. Einsetzen kann man mit der Konstruktion einer solchen Geschichte etwa mit dem Hinweis auf die enge Verknüpfung zwischen der Verbreitung des Buchdruckes und der Entstehung der Literatur im modernen Sinne. Tatsächlich spricht ja sehr viel dafür, historisch die Vorstellung von Popularität mit der durch den Buchdruck hervorgerufenen Veränderung der Kommunikationsverhältnisse zu verbinden. Auch wenn der Begriff der Popularität, zumindest im deutschen Sprachraum, erst nach der Französischen Revolution üblich wird – die wichtigsten Elemente dessen, was aus meiner Sicht unter Popularität zu fassen wäre, sind medial bestimmt und historisch erst mit dem Buchdruck möglich geworden. Sicher sollte man das, was man im 16. Jahrhundert unter Volk verstand, nicht mit dem in eins setzen, was Volk seit der Französischen Revolution bedeutet. Doch einige zentrale Bestimmungen bilden sich eben schon im 16. Jahrhundert heraus, die auch bestimmende Momente dessen sind, was Popularität kennzeichnet. Dazu gehört die Anonymität des Adressaten von Kommunikation. Das, was erfolgreich popularisiert wurde und populär ist, richtet sich nicht mehr an jemanden, der dem Sprecher oder Schreiber persönlich bekannt ist. Es muss noch nicht das Volk in dem Sinne der Allgemeinheit sein, wie es die Französische Revolution als Vorstellung
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entwickelte, aber doch eine Gruppe von Menschen, die nicht mehr mit Namen angesprochen werden können. Der Buchdruck verlangte gewissermaßen von selbst nach einem solchen anonymen Adressaten, jedenfalls in den ökonomischen Bedingungen, in denen er sich in Europa entwickelte: weitgehend ohne Kontrolle durch Zunftregelungen für einen neu entstehenden, unter anderem durch ihn selbst geschaffenen Markt produzierend. Die Druckerzeugnisse, die im 16. Jahrhundert in Deutschland erschienen, hatten eine durchschnittliche Auflage von etwa 1000 Exemplaren.1 Zwischen 1501 und 1530 wurden etwa 10 000 Flugschriften gedruckt, was auf eine Gesamtzahl von etwa zehn Millionen schätzen lässt. Damit kam auf jeden Einwohner eine Flugschrift. Einen Absatz fand eine solche Produktion unter der Bevölkerung der Städte, die seit dem ausgehenden Mittelalter vermehrt des Lesens und Schreiben kundig geworden war. Die Bürger einer Stadt bilden wohl auch die soziale Vorstellung eines anonymen Adressaten, der doch über eine Öffentlichkeit verbunden ist. Sie bilden wohl auch das Modell für einen Begriff des Volkes, der tendenziell alle Bürger einschließt. Da aber jeder Einschluss auch einen Ausschluss produziert, jedenfalls unter Bedingungen einer ungleichen Verteilung von sozialen, kulturellen und ökonomischen Ressourcen, führt das spätestens dann, wenn der Begriff des Volkes sich auf eine ganze Nation bezieht, zum Widerspruch, dass alles, was mit dem Begriff des Volkes oder des Populären argumentiert, einerseits den Anspruch auf Allgemeinheit erhebt, andererseits aber faktisch immer auch einen Ausschluss praktiziert. Am frühen Buchdruck lässt sich darüber hinaus schon zeigen, dass eine solche Produktion eine Zeitform herausbildet, die man vielleicht am treffendsten mit dem Begriff der Aktualität bezeichnet könnte: Es muss etwas in aller Munde sein, um populär zu sein. Aktualität kann die Form der Neuigkeit haben, sie kann aber auch durch Kristallisationen von Zeitzusammenhängen entstehen. Dann hat sie Ereignischarakter. Es ist in den letzten Jahrzehnten in der Forschung zur Reformation zunehmend deutlich geworden, wie eng Reformation und Buchdruck verzahnt waren und sich gegenseitig bedingten. So zählt wahrscheinlich schon ein veränderter Umgang mit Texten, auch den religiösen, zu den Voraussetzungen der Reformation.2 Ich komme gleich darauf zurück, dass das Spiel mit der Realität eng mit der medialen Entwicklung verknüpft ist. Die Verbreitung der Luther’schen Schriften und ihre Popularität sind ohne Buchdruck jedenfalls nicht denkbar. Das gilt zu einem großen Teil auch für die Popularität des Autors selbst, also Luthers. Unter heutiger medienwissenschaftlicher Perspektive ist es dabei selbstverständlich, den Buchdruck nicht von den anderen Formen der Kommunikation zu isolieren, sondern ihn, wie jedes seitdem entstandene andere Medium auch, in einem Medienverbund zu verstehen. Die genannte Herausbildung einer städti1 | Vgl. Braun: »Luther«, 24. 2 | Vgl. ebd., 26.
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schen Bevölkerung bzw. der Stadt als öffentlicher Raum mit ihren Straßen, Plätzen und öffentlichen Gebäuden ist ein solcher korrespondierender medialer Zusammenhang. Dabei konkurrieren Zeichenregime, die man mit Foucault als solche der Magie und der Ähnlichkeit versus solche der Repräsentation unterscheiden kann.3 So etabliert die Katholische Kirche im Spanien der Gegenreformation die theatrale Praxis der religiösen Prozessionen, die sich an eine anonyme Bevölkerung richten und in deren Geschichte sich etwa eine auf Gemeinden und darüber hinaus sich beziehende Popularität von Madonnenfiguren herstellt. Miguel de Cervantes hat dies ja schon im ersten, 1605 erschienen Band seines »Don Quijote« herrlich karikiert und zeigt damit implizit auf, dass die Popularität der Literatur im kritischen Spiel mit der Magie der Zeichen entsteht. Theatrale Praktiken, die sich an einen anonymen Adressaten richten, können aber gerade auch zur Herausbildung eines Verständnisses von Zeichen als Repräsentationen führen. Shakespeares Theater reflektiert immer wieder über diese Spannung. Über das Zusammenspiel von Theater und Politik, vor allem auch unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung des Spiels von Rollen und der performativen Praxis des Rollenspiels etwa im Parlament, hat Stephen Greenblatt ja frappierende Einsichten geliefert.4 Sie lassen sich ohne Mühe auch in einen breiteren Kontext der Herausbildung moderner Subjektivität in Europa stellen. Das Rollenspiel ist ein zentrales Medium, über das das Subjekt sich einer sozialen Welt bewusst wird, die unabhängig von der phänomenalen Welt ist. Das hat entscheidende Konsequenzen für die Wahrnehmung und das Bewusstsein über die Handlungsmöglichkeiten im politischen aber auch im technisch-naturwissenschaftlichen Sinne. Die Ansprache, die Prospero in Shakespeares The Tempest – ein Stück, das die Differenz zwischen Magie und Repräsentation komplex thematisiert – an seine Zuschauer richtet, eine Rede im Parlament dieser Zeit, also vor allem im House of Commons, oder die Adressierung der Leser im Don Quijote sind deutliche Beispiele dafür, wie sich über das Rollenspiel ein anonymer und zugleich allgemeiner Adressat herausbildet. Umgedreht, und das wäre wohl auch ein dritter Aspekt, der bei einer Definition von Popularität eine Rolle spielt, gibt es eine Tendenz zur Personalisierung, die gewissermaßen die Anonymität des Adressaten und die Entzauberung der Zeichen aufzuwiegen scheint. Sie kann an mindestens zwei Seiten entstehen: an der der Autorschaft und an der der Heldenfigur. Auch hier kann Cervantes als Beispiel dienen, in dessen Schriften sich ja sehr schön verfolgen lässt, wie er selbst die Rolle des Autors zu entdecken, einzunehmen und einzufordern beginnt.5 Dabei spielen ökonomische Gründe, wie das noch nicht existierende Copyright, sicherlich eine Rolle. Doch gehört ja die marktförmig verfasste Öffentlichkeit mit ihrem anonymen Adressaten gerade zum Entstehungszusammenhang,
3 | Vgl. Foucault: Die Ordnung der Dinge. 4 | Vgl. Greenblatt: »At the Table of the Great«. 5 | Vgl. Görling: »Kulturelle Autorität und Fälschung«.
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lassen sich also Ökonomie, Medium und kulturelles Phänomen nicht isoliert betrachten. Von solchen ökonomischen Aspekten ist auch die Popularität Luthers nicht frei, aber hier geht es sicher stärker um die Helden- und Führerfigur, die durch den Druck seiner Schriften entstehen konnte. Dabei bestimmte das neue Medium schnell die Form. Luthers Ablassthesen von 1517 waren zum Beispiel ursprünglich in Latein verfasst und an einen begrenzten Kreis von Fachkollegen adressiert, wurden dann aber ohne sein Wissen übersetzt und als Druck verbreitet.6 Soll etwas populär werden, so meine These, muss die anonyme Kommunikation, die Popularität strukturell voraussetzt, gleichwohl als interpersonelle Kommunikation wahrgenommen werden. Personalisierung über die Konstruktion eines Autors oder Helden, einer Autorin oder Heldin ist dafür wohl der häufigste, aber nicht der einzige Weg. Einen zweiten bildet das, was man etwas grob Fiktionalisierung nennen könnte und das ja bei den von mir erwähnten Beispielen der Herausbildung von Literarizität und Theatralität in der frühen Neuzeit schon eine Rolle spielt. Beide können zusammenspielen, müssen es aber vielleicht nicht. Es wären also drei Momente, die sich auch aus historischer Perspektive als Charakteristika von Popularität herausstellen ließen: erstens die Anonymität und Allgemeinheit des Adressaten; zweitens die Aktualität als neue Zeitform; drittens die Personalisierung von Prozessen, wobei hier wiederum zwei Elemente bedeutsam sind, die Interpersonalität und die Fiktionalisierung. Bevor ich das an einem bekannten Beispiel für die Popularität der Literatur illustriere, das etwas älter ist als die Reformation, möchte ich aber noch einen Begründungszusammenhang für dieses erwähnte Zusammenspiel von Personalisierung bzw. von erfahrener Interpersonalität und Fiktionalisierung liefern. Er erklärt denn auch, hoffe ich, den Titel meines Beitrages.
I NTERPERSONALITÄT UND F IK TIONALISIERUNG »Playing with Reality« nennen Peter Fonagy und Mary Target eine Reihe von Essays, in denen sie eine psychoanalytische Entwicklungstheorie entwerfen, die als relationale oder intersubjektive Theorie den intrapsychischen und den interpersonellen Aspekt der Entwicklung zusammenzudenken versucht. Der vierte dieser Essays trägt den Untertitel »A Theory of External Reality Rooted in Intersubjectivity«7. Die wichtigste Voraussetzung für die Theorie von Fonagy und Target ist die durch vielfältige Beobachtung gestützte Annahme, dass das Neugeborene aktiv nach etwas sucht, das in der Forschungsliteratur ein joining of minds, eine soziale Begegnung und Bindung von Wahrnehmung, Affekt und Gedanken, genannt 6 | Vgl. Braun: »Luther«, 26. 7 | Fonagy und Target: »Playing with Reality«.
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wird. So reagiert es mit mentaler Aktivität, wenn eine Bezugsperson seinen Blick auf es richtet. Schaut die Bezugsperson aber woanders hin, ist keine Aktivität zu beobachten. In einem nächsten Schritt lässt sich zeigen, dass Dinge, die das Kind umgeben, in dem Maße bedeutsam werden, in dem sie als Teile einer mit dem anderen geteilten Welt erlebbar werden. Die Realität, so lässt sich daraus schlussfolgern, wird zunächst also durch die Perspektive der interpersonellen Beziehung wahrgenommen, wenn nicht gar als Teil dieser. Die grundlegende Annahme aktueller Entwicklungstheorie ist denn auch die einer primären Intersubjektivität, was in diesem Zusammenhang bedeutet, dass das Wissen über die Welt ein geteiltes Wissen ist. Auch wenn Kindern etwa ab einem Lebensalter von drei Monaten zunehmend ein Gefühl für eine körperliche Integrität zugesprochen werden kann, Denken erscheint einem Kind bis weit in das dritte Lebensjahr hinein als etwas selbstverständlich mit anderen Geteiltes. Wenn ein Kind mit drei Jahren etwas lernt, dann geht es davon aus, dass auch die anderen Kinder und die Erwachsenen davon wissen.8 Das Kind ist nicht egozentrisch, wie Jean Piaget es dachte und wie wohl noch immer viele pädagogische Theorien es glauben, es denkt vielmehr in einem mit anderen geteilten, nicht perspektivisch ausdifferenzierten interpersonellen Raum. Entsprechend weiß es auch nicht, dass sein inneres Erleben, dass seine innere Welt privat und individuell sind. Fonagy und Target geben zwei wesentliche Interaktionszusammenhänge an, die, jedenfalls in den von ihnen untersuchten kulturellen Zusammenhängen, notwendig erscheinen, damit es zu einem Bewusstsein einer Differenz zwischen dem eigenen inneren Erleben und der Welt kommt. Der erste Zusammenhang besteht wesentlich in einer Erfahrung der Kontingenz, also eines sich durch Aufeinanderfolge zeigenden Zusammenhangs zwischen den eigenen Aktivitäten und der äußeren Welt. Auch dies erfolgt maßgeblich im Rahmen einer interpersonellen Situation, wobei es wichtig ist, dass das Gegenüber die Handlung nicht einfach spiegelt, sondern dass es zu einer markierten Reaktion kommt, welche die Erfahrung eines Zugleich von Zusammenhang und Differenz erlaubt. Nur so kann ja eigentlich auch erst der eigene Anteil am Zusammenhang erfahrbar werden. Von einem Alter von vier bis fünf Monaten an suchen Kinder diese markierte Kontingenz. Auch wird die äußere Welt vom Kind nicht als etwas Unabhängiges erlebt, das gewissermaßen in der Objektivität existiere. Die äußere Welt wird wahrgenommen in der Weise, in der sich die Bezugspersonen auf sie beziehen. Entsprechend ist davon auszugehen, dass zunächst keine systematische Erfahrung der Differenz zwischen der eigenen inneren Welt, dem inneren Erleben der anderen und der äußeren Wirklichkeit existiert. Die eigenen Affekte und Phantasien sind unmittelbar mit der Welt verbunden. Fonagy und Target nennen dies den Äquivalenzmodus von Erfahrung. Unter der Maßgabe, dass die äußere Wirklichkeit als sozial geteilte Welt wahrgenommen wird, stellen sich Fonagy und Target die Herausbildung einer Erfahrung der Unabhängigkeit der äußeren Welt als etwas vor, das den Weg über 8 | Vgl. ebd., 922.
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eine Form des Spiels geht. Sie nennen dies den pretend mode, also etwa den AlsOb-Modus. Im Spiel, vor allem im Rollenspiel im weiteren Sinne, wird es möglich, eine Differenz zwischen der intersubjektiv geteilten Welt mit ihren Regeln und der äußeren Welt mit ihren anderen Bedingungen und Regeln wahrzunehmen. Dabei ist das Spiel wahrscheinlich in doppelter Hinsicht lustvoll: Es ist eine intersubjektiv geteilte Welt, und es ist eine Welt, in der das Subjekt Handlungsmöglichkeiten imaginiert, die deutlich größer sind als die, welche ihm in der Konfrontation mit der gleichsam am Horizont immer deutlicher heraufziehenden äußeren Wirklichkeit möglich erscheinen. Auch wenn die Akzeptanz einer äußeren Welt nicht leicht fallen kann, so bedeutet es doch auch die Chance, die eigenen Möglichkeiten zu erkennen und die Unmöglichkeiten in einem Außen zu verorten, das man vielleicht die Widerständigkeit der Welt nennen kann. Fiktionalisierung hat hier, so möchte ich an die Überlegungen von Fonagy/Target anknüpfen, ihre eigentliche Quelle. Sie ist lustvoll, weil sie als mit anderen geteiltes Bewusstsein erfahren wird, ein joining of minds, und sie ist es auch dann noch, wenn vielleicht das, was der Fiktionalisierung unterzogen wird, etwas deutlich Bedrohliches hat. Fiktionalisierung stellt weniger eine das Subjekt entlastende Distanz zur Welt her, als dass sie überhaupt eine Differenz zwischen interpersoneller und äußerer Welt entstehen lässt. Und auch hier ist es wohl wichtig zu sehen, dass die Fiktionalisierung nicht aus einer Ichbezogenheit heraus geschieht, sondern aus einer Wirbezogenheit, einer intersubjektiven Welt, in der es gar nicht immer eine subjektivierte Perspektive geben muss. Insoweit ist Fiktionalisierung eine Form dessen, was Freud unter Phantasie verstanden hat.9 Dabei muss sicher betont werden, dass solche entwicklungspsychologischen Einsichten für den Zusammenhang einer Diskussion über Popularität nur dann bedeutsam sind, wenn wir die psychische Entwicklung nicht mehr als etwas verstehen, das wie ein Hausbau Etage für Etage sich vollzieht und dabei die unteren Etagen von der Last des Gewichts langsam in den Erdboden versacken lässt, und auch nicht als eine Art organische Metamorphose, wie sie viele Mythen der Verwandlung imaginieren. Psychische Entwicklung ist etwas, das sich eher in der Breite abspielt, als Anbau, wenn man so will, oder als rhizomatische Wucherung. Alle Modi der Erfahrung, von den frühesten Erfahrungen etwa der Vitalitätsaffekte, auf die Daniel Stern10 so faszinierend verwiesen hat, an, bleiben als Erfahrungsweisen nebeneinander bestehen. Es hat also nichts mit Regression zu tun, wenn man das kindliche Spiel mit der Realität mit einem literarischen Spiel mit der Realität in Verbindung bringt. Überhaupt wäre zu überlegen, ob nicht alle mediale Erfahrung immer so etwas wie einen pretend mode einschließt. Wir verwechseln ja nicht die mediale Welt und die Wirklichkeit, wie einige Kritiker kurzschlüssig behaupten. Aber die mediale Welt ist – weil sie immer schon eine intersubjektiv geteilte Welt 9 | Zum Begriff der Phantasie bei Freud und insbesondere zu ihrem szenischen, nicht perspektivierten Charakter siehe Laplanche und Pontalis: Urphantasie. 10 | Vgl. Stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings.
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ist – für sich schon lustvoll, und nur zu oft auch tatsächlich lustvoller als die äußere Wirklichkeit. Wenn ich einen Roman lese, aber auch schon den Kommentar zu einem Ereignis in einer Tageszeitung, einen Spielfilm sehe oder auch nur die Fernsehreklame, es hat immer den Aspekt einer interpersonellen Welt, eines mit anderen geteilten Wissens und Bewusstseins. Fiktionalisierung in dem Sinne, wie ich den Begriff hier benutze, ist also untrennbar gekoppelt an eine Erfahrung des shared consciousness. Sie ist eine interpersonelle Erfahrung, die uns affektiv bedeutsamer ist als die Erfahrung einer äußeren Wirklichkeit und die wir nicht mit der äußeren Wirklichkeit verwechseln. Popularität nimmt dieses Spiel mit der Realität auf, sie ist eine interpersonelle Erfahrung, die gewissermaßen in einer Personalisierung ihren Ausdruck findet, gerade weil sie in ihrer realen Interpersonalität des medial inszenierten Spiels erfahrbar und doch abstrakt ist. Eine mediale Äußerung, die sich an einen anonymen und möglicherweise sogar unspezifischen Adressaten richtet, kann als interpersonelle Kommunikation gerade dann erfahren werden, wenn sie sich als fiktionale, bestimmten Spielregeln folgende auch darstellt. Insoweit tritt mediale Kommunikation per se mit dem Versprechen auf, interpersonell zu sein. Doch ist gerade dieses der medialen Kommunikation innewohnende Verhältnis nicht oder wenig perspektiviert, es ist in einem echten Sinne relational. Darstellbar wird es als solches erst wieder durch ästhetische Verfahren der Verschiebung von Rahmen (oder Regeln, welche die Rahmen konstituieren) oder eben in Form von Personalisierungen. Das kann sich auch ergänzen. Die Pop-Art ist ein Beispiel für ein sehr differenziertes Spiel mit der Verschiebung von Rahmen, der Verfremdung, wie es die alte strukturale Ästhetik nannte. Durch sie wird der interpersonelle Charakter des kommunikativen Ereignisses intensiviert und auch reflexiv erfahrbar. Das Entscheidende der ästhetischen Erfahrung ist aber die Intensivierung des kommunikativen Ereignisses. Es scheint mir auch sehr reizvoll, den dialogischen Charakter von Literatur und Kunst, über den Michail Bachtin geschrieben hat, in diesem Zusammenhang neu zu diskutieren. Das literarische Wort ist auch deshalb dialogisch, weil es in seiner Vielstimmigkeit ein joining of minds realisiert und erfahrbar macht. Wenn es in der Fiktionalisierung um die Differenzierung von intersubjektiver Welt und äußerer Welt geht, dann bedeutet das aber nicht, dass beide Welten einfach getrennt wären. Im Gegenteil, es lässt sich wohl sagen, dass die Fiktionalisierung umso gelungener und populärer ist, je mehr der äußeren Welt sie in einer Weise in sich integrieren kann, die als interpersonelle Kommunikation wahrnehmbar wird. Unglückliche noch mehr als glückliche Ereignisse fordern gleichsam, in eine interpersonelle Kommunikation überführt zu werden. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn ein Ereignis einen exemplarischen Charakter bekommt. Das Exemplarische ist im Übrigen selbst etwas, das mit Popularisierung eng verbunden ist, wie Nicolas Pethes in einer Untersuchung über die Fallgeschichte als Medium der
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Wissenspopularisierung aufgezeigt hat.11 Fallgeschichten verbinden das Besondere und das Allgemeine, das Persönliche und das Exemplarische, ohne dass diese Verbindung aufgeht. In der Fallgeschichte ist immer mehr als in der Moral. Fallgeschichten setzen außerdem voraus, dass die Hörer und Leser der Geschichten die Menschen, über die sie erzählen, nicht persönlich kennen. Sie sind aber eine Form der Personalisierung. Das gilt im Prinzip schon für die Novelas Ejemplares von Cervantes, der diese natürlich wiederum in Kenntnis der italienischen Novellen verfasst hat. Ihre Themen sind die Liebe, der Wahnsinn, der Tod. Dies sind die Topoi des Populären, das immer auch eine hohe Affektivität herstellt. Das Exemplarische der Erzählungen erweist sich gerade darin, dass Liebe, Wahnsinn und Tod etwas Dunkles, Rätselhaftes, über das Erzählte Hinausweisendes bleiben. Wäre das nicht der Fall, dann würden sie didaktisch und hätten keine Chance auf Popularität. Im Exemplarischen wird es möglich, etwas, das mit hoher affektiver Intensität verbunden sein kann, so zu konturieren, dass es eine phänomenale Qualität bekommt, über die in einem joining of minds auch ein Umgang mit Affekten möglich wird. Das Moment des Exemplarischen als Strategie des Populären lässt sich denn auch besonders am Tod von einzelnen Heldinnen und Helden aufzeigen: Lady Dianas Autounfall zum Beispiel, oder der Selbstmord des Fussballnationaltorwarts Robert Enke im November 2009. Öffentliche Trauerarbeit besteht in einem großen Maße in der medialen Inszenierung eines Verlustes. Dieser mediale Charakter erlaubt eine Form der Einbindung von Gefühlen in einen sozialen Zusammenhang, deren Intensität bei einem persönlich und direkt erfahrenen Verlust wie dem Tod eines dem Einzelnen nahe stehenden Menschen möglicherweise zu groß wäre, um ihn zuzulassen. Vor allem aber werden die Affekte in einem intensiven interpersonellen Erlebnis gebunden. Enkes Witwe hat in der von ihr gemeinsam mit dem behandelnden Psychiater und einem Manager von Hannover 96 gegebenen Pressekonferenz am Tag nach dem Tod ihres Mannes selbst beispielhaft gehandelt. »Tapferer Auftritt im TV« übertitelte die Bild-Zeitung die Fotografie der weinenden Teresa Enke.12 Weniges könnte Walter Benjamins Einsicht in die Ausstellung der Testleistung als zentrales mediales Ereignis des Filmes besser belegen. Sie besteht darin, »im Angesicht der Apparatur seine Menschlichkeit beibehalten«13 zu können. Test und Exemplum sind miteinander verbunden, ist doch der Test selbst immer exemplarisch, ohne zugleich den Charakter des Spiels ganz zu verlieren. Exemplarisch war der Tod von Enke schließlich auch darin, dass er eher verschwiegenes Wissen über die Gegenwart von Depressionen explizit machte und sicher auch einiges zur Popularisierung von fachlichem Wissen oder auch Unwissen beigetragen hat. Selbstverständlich geht auch das wieder ein in einen Marktzusammenhang, in diesem Fall den des Gesundheitssektors.
11 | Vgl. Pethes: »Vom Einzelfall zur Menschheit«. 12 | Vgl. Bild, Ausgabe Düsseldorf, 12.11.2009, Titelseite. 13 | Benjamin: »Das Kunstwerk«, 365.
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Auch mich hatte diese Geschichte ergriffen, obwohl ich, als wenig am öffentlich inszenierten Fußball Interessierter, den Namen Enke zuvor nie oder jedenfalls nicht bewusst gehört hatte. Wenn ich weiter oben auf die Spannung zwischen Allgemeinheit und Ausschluss in der Popularität verwiesen habe, welche gerade unter heutigen Vermarktungsbedingungen allem, was populär ist, als Spiel von Identitätsproduktion und Differenzsetzung inhärent ist, so wäre wohl zu ergänzen, dass in der Popularisierung von Entgrenzungen wie dem Tod die affektive Ansprache zur Gemeinschaftsbildung benutzt wird, also gerade eben zur Konstruktion des Populären. Dann ist es sicher auch ein wenig so, wie Walter Benjamin über den Romanleser geschrieben hat, dass das, was ihn zum Roman ziehe, die Hoffnung sei, »sein fröstelndes Leben an einem Tod, von dem er liest, zu wärmen.«14 Die Wärme dieses Feuers entsteht wohl durch das, was wir unsere Affekte nennen. Sie sind die Kraft der Relationalität des Lebens, des steten Austausches zwischen Innen und Außen. In solchen Personalisierungen bekommen sie ein Objekt. Das kann jedoch durchaus auch mit Gegenständen und Kunstwerken geschehen. Don Quijotes Windmühlen, der Tour Eiffel, ein Aston Martin, die Mona Lisa, ja selbst Mode und Ornamente: In ihnen finden Affekte ein Objekt, das wir mit anderen teilen. Damit werden wohl nicht Affekte selbst, aber doch die mit ihnen verbundenen Intensitäten als Soziales erfahren und in diesem Sinne auch kontrollierbar.
L ITER ARIZITÄT UND P OPUL ARITÄT Ein anderes sehr deutliches Beispiel für das Zusammenspiel von Popularität und Literarizität ist mit der Entdeckung Amerikas 1492 verbunden. Mit ihr, und nicht erst mit der Reformation, konnte die schwarze Kunst, wie der Buchdruck damals ja auch hieß, ihre kulturverändernde mediale Qualität unter Beweis stellen. Die Briefe des Christopher Kolumbus und des Amerigo Vespucci waren die ersten großen Medienereignisse des Buchdrucks.15 Auf der Rückfahrt von Amerika trat Kolumbus am 4. März 1493 an die Lissabonner Öffentlichkeit mit der Meldung, den Seeweg nach Indien entdeckt zu haben, und er übergab ihr die Kopie eines von ihm geschriebenen Briefes an Luis de Santangel, einen seiner Gönner am spanischen Hofe. Noch im selben Jahr wurde der Brief auf Spanisch in Barcelona, auf lateinisch in Basel und von zwei unterschiedlichen Verlegern in Rom und möglicherweise auch in Paris, sowie auf Italienisch in Florenz gedruckt. Dieser erste veröffentlichte Kolumbusbrief brachte es bis zirka 1520 auf 36 Ausgaben in verschiedenen Sprachen, die beiden erstmals 1503 und 1505 erschienenen Briefe von Vespucci auf 60 Ausgaben. Nimmt man wieder eine Auflagenhöhe von etwa 1000 Stück an, ergibt sich eine Verbreitung 14 | Benjamin: »Der Erzähler«, 457. 15 | Ich greife hier auf Einsichten einer älteren Arbeit von mir zurück: Vgl. Görling: »Warum heißt Amerika nicht Kolumbia?«
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des Kolumbusbriefes von etwa 36 000, der Vespucci-Briefe in einem sogar kürzeren Zeitraum von etwa 60 000. Andere Indizien für die ungleich höhere Popularität der Vespucci-Briefe sind aber noch deutlicher. Die Referenzen in der Literatur der Zeit sind ungleich größer auf die Briefe von Vespucci und haben immerhin zu zwei weitreichenden Entwicklungen geführt: dazu, das Amerika seinen heutigen Namen eben mit Bezug auf Vespucci und nicht auf Kolumbus erhalten hat, und auch zur Entstehung eines neuen oder zumindest der Wiederentdeckung eines älteren literarischen Genres, der Utopie. Beides ist bekannt, ich will es nur kurz in Erinnerung rufen: Amerikas Namensgeber waren ein Geograph, Martin Waldseemüller, und ein Schriftsteller, Matthias Ringmann, die 1507 in dem Vogesenstädtchen Saint Dié, wo der Herzog von Lorraine und Anjou einen Gelehrtenzirkel versammelt hatte, die Cosmographia von Ptolomäus neu herausbrachten. Der zu dieser Zeit wieder zugänglich gewordene griechische Text ist ohne Karten überliefert. Waldseemüller entwarf eine neuartige Weltkarte und zeichnete einen Globus, Ringmann schrieb einen Text, der neben der eigentlichen Einführung in die Geographie noch ein Gedicht umfassen sollte, und dem als Anhang eine lateinische Übersetzung von Vespuccis »Brief über die jüngst entdeckten Inseln auf vier meiner Reisen« beigefügt war. Im neunten Kapitel der Einführung kommt Ringmann darauf zu sprechen, dass die Erde, Ptolomäus folgend, bisher in drei Teile – in Europa, Afrika und Asien – aufgeteilt worden sei: Nun sind aber diese Erdteile umfassender erforscht und ein anderer vierter Erdteil ist durch Americus Vesputius entdeckt worden […]. Ich wüßte nicht, warum jemand mit Recht etwas dagegen einwenden könnte, diesen Erdteil nach seinem Entdecker Americus, einem Mann von Einfallsreichtum und klugem Verstand, Amerige, gewissermaßen Land des Americus (quasi Americi terram), oder America zu nennen, denn auch Europa und Asien haben ihren Namen nach Frauen genommen. Seine Lage und die Gebräuche seines Volkes sind aus den zweimal zwei Reisen des Americus, die unten folgen, leicht zu erfahren.16
Die Renaissancegelehrten liebten den Beziehungsreichtum von Worten, und es ist schon viel über die Diskurshorizonte von Ringmanns Einfall geschrieben worden. Die Personalisierung eines abstrakten und neuen Wissens durch eine Frauenfigur dürfte deutlich auch als Strategie der Popularisierung verstanden werden können. Doch all dies wäre auch mit dem Namen des Cristóbal Colón möglich gewesen. Warum wählten die beiden Vespuccis Namen und wieso setzte er sich, obwohl es bald auch Kritik daran gab, etwa durch Bartomlomé de las Casas, durch? Die Antwort liegt, so scheint mir, in der Popularität der Literatur. Sie macht sich weniger an Auflagenzahlen fest als am Verständnis des Textes – seitens des Autors wie der Rezipienten. Und hier liegt zwischen Kolumbus und Vespucci eine Differenz, die man mit Tzvetan Todorov, dessen vorzüglichem Buch über die Er16 | Schmitt (Hg.): Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, 17.
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oberung Amerikas ich hier zentrale Gedanken entnehme, eine Revolution von Wahrnehmung und Erfahrung nennen könnte, welche eine Differenz zwischen Mittelalter und Neuzeit markiert und die, so eben meine These, auch erst Popularität als spezifische Form der medialen Qualität möglich macht.17 Kolumbus hatte noch kein literarisches Verständnis von Sprache, und damit auch keines von Fiktionalität und Interpersonalität. Er war ein eifriger Leser der Bibel und auch der Reiseberichte seiner Zeit, vor allem dem des Marco Polo, aber sie waren für ihn eher heilige als literarische Texte. Er hatte durch sie eine mythische Geographie gewonnen, eine heilige Ordnung mit ihren bedeutungsvollen Zeichen. Die Welt, in die er ausfuhr, war ein aufgeschlagenes Buch, er suchte sie nach ihm bekannten Zeichen ab: China zum Beispiel, das hatte er bei Marco Polo gelesen, war ein großes Reich, also suchte er auf den Inseln danach, ob es große Städte und Administrationen gab. Er suchte nach Gold, weil er in derselben Quelle vom Reichtum Asiens gelesen hatte. Von den Monstren und Schwanzwesen war in vielen Reisebüchern des Mittelalters berichtet worden, auch von Amazonen und Anthropophagen. Es verwundert kaum, dass er sie auch vorfindet. Und dass Kolumbus sofort danach schaute, ob Privat- oder Gemeineigentum vorherrscht, dürfte neben seiner Paradiessuche auch damit zu tun haben, dass das für die Franziskaner, von denen seine tiefe Religiosität stark beeinflusst war, ein wichtiges Thema gewesen ist.18 Und er forschte sofort auch danach, wie es die Indianer mit dem Glauben halten und ob sie leicht zu christianisieren sind, denn die Apokalypse (des Matthäusevangeliums19) sagte die Wiederkunft Christi für den Tag voraus, an dem allen Völkern der Welt die christliche Botschaft verkündet sein würde. Für Kolumbus waren die Zeichen und die phänomenale Welt nicht unterschieden, auch waren es Fiktion und Wirklichkeit nicht. Sprache war Kolumbus ein Medium der Offenbarung, sie hatte in ihrer Heiligkeit eine große soziale Intensität, aber sie hatte keine Qualität eines Spiels. Diese mangelnden Unterscheidungen machten es Kolumbus auch bis zu seinem Lebensende unmöglich zu akzeptieren, dass es nicht Indien war, zu dem er einen Seeweg entdeckt hatte. Es gab für ihn keine Vorstellung davon, dass es etwas geben könnte, worüber nicht schon geschrieben stand. Die gleichwohl von ihm erahnte ungeheuerliche Tragweite seiner seefahrerischen Großtat fand allein in apokalyptischen Visionen einen Ausdruck. Vespuccis Großtat dagegen war eine literarische. Sie bestand zunächst vor allem darin, das entdeckte Land eine Neue Welt genannt zu haben. Mundus Novus, so der Titel, unter dem sein erster Brief bekannt wurde, wurde wahrscheinlich im Herbst 1502 auf Italienisch verfasst. Das Original ist allerdings nicht erhalten, eine lateinische Übersetzung erschien in Florenz Anfang 1503. Es ist nicht ganz klar, welche Fahrten von Kolumbus oder anderen Vespucci tatsächlich mitgemacht hat. 17 | Vgl. Todorov: Die Eroberung Amerikas. 18 | Vgl. Milhou: Colón y su mentalidad mesiánica en el ambiente franciscanista español. 19 | Vgl. Matthäus 24/14, sowie 10/5; ebenso Markus 10/13; den Missionsbefehl in Markus 16/15-16 und Matthäus 28/19-20.
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Es kann als gesichert gelten, dass er zumindest auf einer Expedition von Kolumbus dabei war. Es kann aber auch als gesichert gelten, dass er nicht vier Reisen über den Atlantik absolvierte, wie in seinem zweiten veröffentlichten Brief über die Vier Reisen des Amerigo Vespucci behauptet. Das Fehlen der Originale, also der Handschriften, ebenso wie eine Reihe von Ungereimtheiten haben zu verschiedenen Spekulationen über die Autorschaft der Briefe geführt. So ist mit einiger Plausibilität argumentiert worden, nicht Vespucci, der als Florentiner Geschäftsmann in Sevilla lebte, sei der Autor dieser Briefe, sondern eine Gruppe Florentiner Intellektueller, die sie, zweifellos nicht ohne Spaß an diesem Spiel, zusammengeschrieben hätten. Als Material könnten ihnen heute verlorengegangene Originale gedient haben. Die Differenz ist aus der Sicht meiner Fragestellung wenig bedeutsam, da es mir eben nicht um Authentizität, sondern um Popularität und Literarität geht. Und Vespuccis Texte sind literarisch in einem modernen Sinne: Sie spielen mit den Vorstellungen und den Zeichen, präsentieren Sensationen und sind sich dabei immer darüber im Klaren, sich an einen Lesen zu richten. Er wird in die Situationen eingeführt, seine Erwartungen werden geweckt, Spannungsbögen werden aufgebaut. Vespucci greift auch durchaus die Themen von Kolumbus auf, sie werden von ihm aber metaphorisch oder bewusst fiktional eingesetzt. Der Hauptteil von Vespuccis Brief, der auch sofort die Illustratoren ganz Europas herausforderte, liest sich wie ein Sensationsbericht, eine aufreisserische Reportage über die Sitten und Gebräuche nie gesehener Völker, ihre Gesellschaftsform, ihr Liebesleben und ihre Essgewohnheiten, Promiskuität und Antropophagie selbstredend eingeschlossen. In seinem zweiten Brief ergänzt Vespucci diese Themenbereiche noch um die Beschreibung der Bestattungsriten sowie der Krankheiten und ihrer Heilungsmethoden. In vielen Bereichen ist dabei die neue Welt, von der Vespucci berichtet, eine karnevaleske Verkehrung der alten. Ein weiterer schöner Beleg für die Popularität von Vespucci und auch für die spielerische oder literarische Wahrnehmung seiner Texte ist seine Aufnahme in Tomas Mores Utopia. Hythlodeus, Mores Berichterstatter von der Insel Utopia, wird ja explizit als jemand vorgestellt, der Vespucci auf »drei seiner vier Reisen« begleitet habe. Er habe mit drängenden Bitten bei Amerigo durchsetzen können, »dass er zu jenen vierundzwanzig gehörte, die am Ende der letzten Seereise in dem Kastell zurückgelassen wurden (ut ipse in his XXIIII esset qui ad fines postremae nauigationis in Castello relinquebantur).«20 Jene vierundzwanzig: das Demonstrativpronomen unterstellt, dass dem Adressaten dieser Information – in der szenischen Konstellation dem Ich-Erzähler More, im weiteren aber auch dem Leser – der Brief des Vespucci bekannt ist, in dem von der Errichtung und der Zurücklassung der 24 Mann erzählt wird. Die Inseln, über die Hythlodeus dann berichtet, am ausführlichsten also Utopia, habe er, so versichert er seinen beiden Zuhörern 20 | Morus: Utopia, 17. Der lateinische Text: More: The Complete Works of St. Thomas More Vol 4, 50.
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More und Aegid in Antwerpen, auf jener Reise nach der Trennung von Vespucci kennengelernt. Dieser deutliche Bezug Mores auf Vespucci ist in der umfangreichen Literatur zu »Utopia« wenig beachtet worden, doch es ist möglich und der intertextuelle Bezug fordert geradezu dazu heraus, Mores literarisches Werk als einen Dialog mit Vespuccis »Neuer Welt« zu lesen. Und zwar sowohl auf formaler bzw. ästhetischer wie auch auf inhaltlicher Ebene. Zu den ästhetischen Aspekten dieses Dialogs gehört etwa die Aufnahme des Spiels karnevalesker Verkehrungen, auch in Hythlodeus‹ vom Gestus her so trocken vorgetragenem Bericht, zum Beispiel dort, wo er davon erzählt, dass das Gold in Utopia als unanständig gilt und als Rohmaterial für Nachttöpfe dient.21 Um einige Punkte nochmals herauszustellen: Popularität setzt eine Öffentlichkeit voraus, in der der Einzelne in seiner Anonymität angesprochen wird. Diese Anonymität wird aber durch Formen der Personalisierung flankiert, die durch verschiedene Strategien entstehen. Eine sehr wichtige ist dabei die Fiktionalisierung oder das Spiel mit der Realität. Schließlich gehört eine Zeitform der Aktualität, der Verdichtung oder des Ereignishaften dazu. Idealerweise lässt sich das sogar verbinden, indem das Spiel eine solche Verdichtung herstellt: Alle populären Heldinnen oder Helden, Enke, Diana, Vespucci, Don Quijote, Luther, Hamlet, erscheinen selbst als Verdichtungen von sozialen Merkmalen, soziologisch gesprochen, sie haben multiple Zugehörigkeiten. Ob literarisch konstruiert oder medial produziert: sie können wegen ihrer Komplexität auch ganz unterschiedliche soziale Lagen affektiv ansprechen. Sie bleiben dabei immer ein wenig geheimnisvoll, literarische Heldinnen und Helden mehr noch als die einer sozialen oder politischen Öffentlichkeit.
L ITER ATUR Benjamin, Walter: »Der Erzähler.« In: Ders.: Gesammelte Schriften Bd II, 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, 438-465. —: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Zweite Fassung).« In: Ders.: Gesammelte Schriften Bd VII, 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, 350-384. Braun, Manuel: »›Wir sehens, das Luther by aller welt berympt ist‹ – Popularisierung und Popularität im Kontext von Buchdruck und Religionsstreit.« In: Gereon Blaseio, Hedwig Pompe und Jens Rauchatz (Hg.): Popularisierung und Popularität. Köln: DuMont 2005, 13-42. Fonagy, Peter und Mary Target: »Playing with Reality IV. A Theory of External Reality Rooted in Intersubjectivity.« International Journal of Psychoanalysis 88 (2007), 917-937.
21 | Vgl. Morus: Utopia, 83.
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Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1971, 46-76. Görling, Reinhold: »Warum heißt Amerika nicht Kolumbia? Fiktionalisierung als Mittel von Macht und Suberversion in der Erfindung und Eroberung der Neuen Welt?« In: Claus Füllberg-Stolberg und Reinhold Görling (Hg.): Amerika – Das andere Gesicht Europas. Pfaffenweiler: Centaurus 1997, 35-56. —: »Kulturelle Autorität und Fälschung: Vom unterbrochenen Kreislauf der Symbole.« In: Jürgen Forman et al. (Hg.): Autorität der/in Sprache, Literatur, Neuen Medien. Bielefeld 1999, 705-723. Greenblatt, Stephen: »At the Table of the Great: More’s Self-Fashioning and SelfCancellation.« In: Ders.: Renaissance Self-Fashioning: from More to Shakespeare. Chicago: University of Chicago Press 1980, 11-73. Laplanche, Jean und J.-B. Pontalis: Urphantasie. Phantasien über den Ursprung, Ursprung der Phantasie. Frankfurt a.M.: Fischer 1992. Milhou, Alain: Colón y su mentalidad mesiánica en el ambiente franciscanista español. Valladolid: Casa-Museo Colón 1983. More, Thomas: The Complete Works of St. Thomas More Vol 4. New Haven and London: Yale University Press 1965. Morus, Thomas: Utopia. Stuttgart: Reclam 1990. Pethes, Nicolas: »Vom Einzelfall zur Menschheit. Die Fallgeschichte als Medium der Wissenspopularisierung zwischen Recht, Medizin und Literatur.« In: Gereon Blaseio, Hedwig Pompe und Jens Ruchatz: Popularisierung und Popularität. Köln: DuMont 2005, 63-92. Schmitt, Eberhard (Hg.): Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion. Bd. 2. München: Beck 1984. Stern, Daniel N.: Die Lebenserfahrung des Säuglings. Stuttgart: Klett-Cotta 2007. Todorov, Tzvetan: Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985.
Medienangst als Maßstab Der wechselhafte Umgang mit dem Populären am Beispiel der Literatur Susanne Keuneke
Populäre1 Medien und ihre Inhalte werden von Angehörigen der Bildungseliten traditionell als minderwertig definiert. Daran schließen sich scheinbar paradoxe Umgangsweisen an: Entweder werden populäre Medien und ihre Stoffe im öffentlichen Diskurs ignoriert oder sie werden gegenteilig mit einem Übermaß an kritischer Aufmerksamkeit bedacht. So hat sich in Deutschland in den letzten Jahren um Computer- und Konsolenspiele eine emotional stark aufgeladene Debatte entwickelt, während die ebenfalls weit verbreiteten Heftromane in der öffentlichen Diskussion praktisch nicht vorkommen.2 Auch andere triviale Formen der Literatur werden in der Öffentlichkeit stillschweigend übergangen; Buchhandlungen werben mit dem Slogan »Lesen gefährdet die Dummheit«, womit sie einer allgemeinen Neigung folgen, die Literaturrezeption pauschal/verkürzt mit einer intellektuell herausfordernden und somit begrüßenswerten Tätigkeit gleichzusetzen.3 Im 18./19. Jahrhundert dagegen brach1 | Populär soll hier sowohl im Sinne von »gemeinverständlich, volkstümlich« als auch von »beliebt, allgemein bekannt« sowie »Beifall, Zustimmung, Anklang findend« verstanden werden; vgl. Dudenredaktion (Hg.): Duden, 830. 2 | Allein der Verlag Bastei-Lübbe hat bisher Heftromane in einer Gesamtauflage von über zwei Milliarden Exemplaren veröffentlicht (vgl. (07.12.2010); im Kelter Verlag erscheinen monatlich 55 Heftromane mit einer Auflage von insgesamt 3,3 Millionen Exemplaren (vgl. (07.12.2010). 3 | Die »Stiftung Lesen« nennt beispielsweise als ihr zentrales Ziel, »das Lesen in der Medienkultur zu stärken« (vgl. (07.12.2010); die Bayerische Landesregierung hat die Initiative »Mehr lesen – mehr verstehen!« ins Leben gerufen (vgl. 07.12.2010)
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ten Teile des deutschen Bildungsbürgertums dem Lesen ein ähnlich pauschales Misstrauen entgegen, während populäre Literatur zugleich Gegenstand erhitzter öffentlicher Debatten war. Wie ist dies zu erklären? Aus welchen Gründen wurde das Medium Buch, das heute als Kulturgut gehandelt wird, einst als ernstzunehmende Gefährdung der Gesellschaft eingeordnet und wie ist der Wechsel zwischen der Fokussierung und der Ausblendung seiner populären Spielarten zu erklären? Ich werde im Folgenden argumentieren, dass die beiden Umgangsweisen nicht nur in einem zeitlichen, sondern auch in einem kausalen Zusammenhang stehen, wobei als moderierender Faktor ein Phänomen auftritt, das ich als Medienangst bezeichnen möchte.
M EDIENANGST Bevor ein Blick auf die Literaturdebatte des 18./19. Jahrhunderts geworfen wird, soll zunächst das theoretische Konzept von Medienangst vorgestellt werden. Es basiert auf sieben Prämissen zur Angst im Allgemeinen, ihren Erscheinungsformen und Mechanismen. Im Folgenden werden sie kurz skizziert und schließlich gedanklich zusammengeführt.
1. Angst ist an keine bestimmte Epoche oder Gesellschaft gebunden. Angst lässt sich definieren als »eine auf die gegenwärtige oder auf die zukünftige Situation gerichtete kognitive und emotionale Einstellung, nämlich die Erwartung, bedroht zu werden – an Leib und Leben, an Geborgenheit oder Ansehen«4 . Sie wird als »die zentrale Emotion«5 des Menschen eingeordnet, als »Urphänomen«6, als »archaische«7 Regung: »Die Angst ist ohne Zweifel so alt wie der Mensch selbst.«8
2. Angst muss keinen vernünftigen Grund haben. Die meisten Theoretikerinnen und Theoretiker unterscheiden zwischen den Phänomenen Angst und Furcht; letztere sei auf eine objektiv identifizierbare Gefahrenquelle gerichtet, während sich erstere durch Diffusität und »Stimulusunsicherheit«9 auszeichne: »Furcht [ist] die Wirklichkeit, Angst eine Möglichkeit«.10 Furcht
und eine zwischen 2003 und 2008 ausgestrahlte Literatursendung des deutschen Fernsehens hieß schlicht »Lesen!«. 4 | Bräutigam und Senf: »Erscheinungsformen von Angst und Angsttherapie«, 246. 5 | Krohne: Psychologie der Angst, 13; vgl. auch Rachmann: Angst, 7. 6 | Lenné: Das Urphänomen Angst. 7 | Müller: »Archaische Angst«, 241. 8 | Levitt: Die Psychologie der Angst, 12. 9 | Krohne: Psychologie der Angst. 10 | Lenné: Das Urphänomen Angst, 13; vgl. auch Rachmann: Angst, 9.
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besitzt nach dieser Definition im Vergleich mit Angst gewissermaßen rationale Züge, während Angst irrational, unbegründet sein kann.11
3. Menschen neigen dazu, nach rationalen Begründungen ihrer Ängste zu suchen, wenn der eigentliche Grund ihrem Bewusstsein nicht zugänglich ist. Es kommt vor, dass irrationale Angst als (rationale) Furcht missverstanden wird, nämlich dann, wenn ein Gegenstand zu Unrecht als Gefahrenquelle eingeordnet wird.12 Gefördert werden derartige Fehlattributionen durch den Umstand, dass angstauslösende Faktoren nicht immer dem Bewusstsein zugänglich sind. Wenn man jedoch Angst verspürt, ohne den genauen Grund benennen zu können, löst dies nicht nur neue Angst aus, sondern widerspricht auch dem Wunsch, sich selbst als ein vernünftiges Wesen begreifen zu können. Diese aversiven Empfindungen werden aufgelöst, indem man ex post einen scheinbar rationalen Grund für seine Angstreaktion konstruiert.
4. Menschen neigen überkulturell und -historisch dazu, ihre Angst vor dem Fremden fälschlicher weise als Furcht vor einer konkreten Bedrohung zu rationalisieren. Eine Sorte von Angst, auf die dies regelmäßig zutrifft, ist die Angst vor dem Fremden (Xenophobie). Bei ihr handelt es sich ebenfalls um eine »Universalie«13 der Menschheitsgeschichte, die »tief im prähumanen Erbe vorangelegt«14 ist – so tief, dass sie in vielen Fällen nicht als Angst vor dem Fremden wahrgenommen wird. Vielmehr neigen Menschen dazu, Xenophobie als Furcht vor einer konkreten Bedrohung zu rationalisieren. Ein prägnantes Beispiel für eine solche Rationalisierung von Fremdenangst liefert die Anthropologin Lindenbaum in ihrem Forschungsbericht über die Fore, einen Stamm im Hochland von Neuguinea: Die Fore waren erstmals 1947 mit Weißen in Kontakt gekommen. Prompt fürchteten sie, allesamt krank zu werden, ja möglicherweise zu sterben. Also reinigten sie sich gründlich. Doch der Bazillus hatte die Gesellschaft ergriffen. Die jungen Männer begannen, für die Kolonialbehörden zu arbeiten, Fußball zu spielen und ihren Freundinnen Haaröl zu schenken. 1963 brach eine verheerende Milzbrandepidemie unter den Schweinen aus. Die Alten wußten warum: ›Der Geruch von Fußball und Haaröl war in die Nasen der Schweine eingedrungen, hatte ihre Atmung behindert und ihnen so den Tod gebracht.‹ 15
11 | Vgl. Paul: »Angst: eine evolutionsbiologische Perspektive«, 13. 12 | Vgl. Rachmann: Angst, 9. 13 | Atzwanger, Schäfer und Schmitt: »Verhaltenswissenschaftliche Überlegungen zur Fremdenscheu«, 3. 14 | Müller: »Archaische Angst«, 254. 15 | Zitiert nach ebd., 246.
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Dieses Fallbeispiel illustriert nicht nur die Wirkmechanismen von (Fremden-) Angst und den Prozess ihrer Rationalisierung, sondern belegt zudem, dass Xenophobie keineswegs eine Problematik moderner Gesellschaften ist.
5. Fremdenangst kann sich auch gegen neue Techniken (Apparate und Verfahrensweisen) richten. Während die Fehlattribution der Fore für Leserinnen und Leser dieses Buches leicht durchschaubar sein sollte – wahrscheinlich würde niemand annehmen, dass der Geruch von Fußbällen oder Haaröl ganze Schweinepopulationen vom Leben zum Tod befördern können – lassen sich andere Rationalisierungen von Fremdenangst weniger gut erkennen. Naturgemäß gilt dies vor allem für die eigenen. In westlichen Gesellschaften fällt das Maß der erreichten Selbstreflektion je nach Gegenstand unterschiedlich aus: Auf Menschen gerichtete Attitüden wie Ausländerfeindlichkeit oder Homophobie werden inzwischen – zumindest im wissenschaftlichen Diskurs – weitverbreitet auf Angstreflexe zurückgeführt;16 die Abwehr andersartiger Dinge dagegen diskutiert man seltener unter dieser Prämisse. Dennoch scheint eine gegenstandsbezogene Xenophobie ebenso Konstante der Menschheitsgeschichte zu sein wie eine menschenbezogene. Häufig richtet sie sich gegen neue Techniken; Techniken einerseits im Sinne von Verfahrensweisen und andererseits im Sinne von Apparaten, die zur Exekution dieser Verfahrensweise nötig sind. Dabei können auch Techniken, die innerhalb einer Kultur entwickelt wurden, mit xenophoben Fehlattributionen belegt werden:17 Innovationen mussten das traditionelle Ordnungsgefüge verletzen; sie wurden als Abweichungen vom rechten Weg, nicht als Chance begriffen […]. Noch in den ersten Dezennien des vergangenen Jahrhunderts fürchteten polnische Bauern, dass Eisenpflüge zu Ernteeinbußen, metallene statt der alten hölzernen Melkgefäße bei Haustieren zu geringeren Milchabgaben führen würden.18
Eine solche gegenstandsbezogene Xenophobie gründet wie die menschenbezogene in der Tatsache, dass Fremdes die Ordnung der Dinge in Frage stellt. Tatsächlich lassen neue Techniken ältere Verfahrensweisen und ihre Mittel regelmäßig obsolet werden oder drängen sie zumindest zurück – ein Vorgang, der je nach sozialer Position als bedrohlich empfunden werden kann.19
16 | Vgl. bspw. Nick: Ohne Angst verschieden sein; Beckers: Homosexualität und Humanentwicklung; Sommerfeld: Fremdenfeindlichkeit durch Emotionen? 17 | Vgl. Hofstätter: »Das Stereotyp der Technik«. 18 | Müller: »Archaische Angst«, 253. 19 | Vgl. ebd.
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6. Technikbezogene Fremdenangst wird durch den gesellschaftlichen Generationenkonflikt verstärkt. Die Verdrängung älterer Techniken wird insbesondere von denjenigen Menschen als krisenhaft erlebt, die durch jahrelange (Aus-)Übung daran gewöhnt sind. Aus ihrer Sicht birgt der Fortschritt die Anforderung, von etwas Vertrautem Abschied zu nehmen und sich auf unsicheres Terrain zu wagen. »Technikgewohnheiten« stellen mithin eine »innovationshemmende Erfahrung«20 dar, welche die technikbezogene Fremdenangst noch verstärkt. Zugleich geht diese eine enge Verbindung ein mit einer weiteren Konstante der Menschheitsgeschichte, dem Generationenkonflikt.21 Er resultiert aus einer steten Macht- und Autoritätsverschiebung zwischen der älteren und der jüngeren Generation, wobei sich die ältere zunächst (idealtypisch betrachtet) in einer superioren Position befindet, um nach und nach in eine inferiore zu geraten.22 Eine zentrale Rolle spielt hierbei der Umgang mit neuer Technik: Während die Älteren ihr noch ablehnend gegenüberstehen, haben die eigenen Kinder oder Enkelkinder – die nicht nur physiologisch bedingt lernfähiger, sondern auch dem Neuen gegenüber offen sind – sie längst adaptiert.23 Technische Vorsprünge jedoch bedeuten wirtschaftliche und/oder normative Macht (z.B. die Möglichkeit, sich dem Weisungsbereich von technisch weniger versierten Personen zu entziehen), so dass die Abwehr der älteren Generation noch verstärkt wird. Dieses Amalgam aus Angst vor Machtverlust und Angst vor fremder Technik kann zu heftiger Abwehr von Innovation führen. Ein Beispiel aus der jüngeren deutschen Geschichte stellt die Einführung der Dampflokomotive dar, die durch Interventionen von älteren Ingenieuren über Jahre verzögert wurde.24 Als 1835 die erste Eisenbahnstrecke zwischen Nürnberg und Fürth in Betrieb genommen werden sollte, ließen ihre Gegner ein Gutachten erstellen, das die Gefährlichkeit der neuen Technik belegen sollte. Darin heißt es, »die schnelle Bewegung« des Zuges müsse »bei den Reisenden unfehlbar eine Gehirnkrankheit, eine besondere Art des Delirium furiosum, erzeugen«;25 man empfahl, auf beiden Seiten der Eisenbahnstrecke einen blickdichten Zaun zu errichten, damit zumindest Passanten von derartigen gesundheitlichen Folgen verschont blieben. Die Parallelen zur gegenstandsbezogenen Fremdenangst der Fore (s.o.) sind offensichtlich: In beiden Fällen waren die Älteren davon überzeugt, die Jüngeren würden zusammen mit den Innovationen Verderben über ihr Volk bringen – und in beiden Fällen lässt sich diese Deutung rückblickend als Rationalisierung der Angst interpretieren, man könne von seinem angestammten Platz verdrängt werden.
20 | Sackmann: »Technischer Wandel und Generationsunterschiede«, 523. 21 | Vgl. Hruschka: Aspekte des Generationenkonfliktes. 22 | Vgl. ebd., 137-147. 23 | Vgl. Sackmann: »Technischer Wandel und Generationsunterschiede«, 523. 24 | Vgl. Hruschka: Aspekte des Generationenkonfliktes, 128-137. 25 | Ebd., 128.
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7. Technikbezogene Fremdenangst wird generell durch die Veränderung von (Macht-)Strukturen verstärkt. Doch es sind nicht nur die Machtverschiebungen zwischen Jung und Alt, die einer technikbezogenen Fremdenangst Vorschub leisten: Auch die Machtverhältnisse zwischen anderen gesellschaftlichen Gruppen werden durch die Ausbreitung neuer Techniken verändert. Beispielsweise hat die Industrialisierung dazu geführt, dass »Wissensmonopole bei den ›Technikern‹ geschaffen wurden, die die Machtmonopole der ›humanistisch‹ Gebildeten bedrohen«.26 Der im Bildungsbürgertum verbreitete Technikpessimismus der frühen Moderne kann als Reaktion auf diesen Prozess verstanden werden.27 Tatsächlich bringt jede technische Innovation Gewinner und Verlierer hervor – sei es auf wirtschaftlicher, sei es auf politischer oder sei es auch nur auf normativer Ebene, wo es um die Verteilung von Definitionsmacht geht. Die (potenziellen) Verlierer neigen dazu, an den bestehenden Techniken festzuhalten und die neuen abzulehnen. Insofern sind »negative kulturkritische Einstellungen zum technischen Fortschritt« immer »auch als konservative Abwehrstrategien im Wettbewerb um Einflußmöglichkeiten« zu deuten.28 Conclusio: Da ein neues Medium stets mit einer neuen Technik verbunden ist, sei es im Sinne einer neuen Verfahrensweise (›Kulturtechnik‹), sei es im Sinne eines neuen Apparats, lassen sich die Ausführungen zur Technikphobie direkt auf den Erkenntnisgegenstand Medium übertragen: Ein neues Medium löst Angst aus, da es fremd ist und zudem zu Veränderungen im bestehenden Machtgefüge der Gesellschaft führt. Diese Gründe werden häufig nicht erkannt oder zumindest nicht expliziert; vielmehr zeigen Menschen – unabhängig von historischer Epoche und Kultur – die Tendenz, ihre ablehnende Haltung gegenüber dem Medium durch die Behauptung scheinbar vernünftiger Gründe zu rationalisieren bzw. argumentativ abzusichern. Dies schließt im Übrigen keineswegs aus, dass es auch rationale Gründe geben könnte, Medienkritik zu üben.29 Die Kritik an empirisch nachweisbaren Negativfolgen soll jedoch nicht als Indikator für Medienangst, sondern – der zweiten Prämisse folgend (s.o.) – als Ausdruck von Medienfurcht verstanden werden. Der Begriff Medienangst hingegen dient der Beschreibung einer Emotion mit irrationalen Zügen, die in der Folge auch irrationale Handlungen auslösen kann. Zusammengefasst soll Medienangst als ein überhistorisch und -kulturell auftretendes Gefühl der Bedrohung definiert werden, das von einem Medium ausgelöst, von mehreren Mitgliedern einer Gesellschaft geteilt und durch skeptische, 26 | Uhlmann: Technikkritik und Wirtschaft, 24. 27 | Vgl. ebd. 28 | Ebd. 29 | Tatsächlich besitzen Medien (wie alle kulturellen Errungenschaften) auch empirisch erwiesene Schattenseiten: Sie können durch falsche Informationen desorientieren, als Suchtmittel dienen, bei übermäßigem Gebrauch gesundheitliche Schäden nach sich ziehen, destruktive Handlungen auslösen, Persönlichkeitsrechte verletzen u.v.m.
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besorgte oder ablehnende Äußerungen zum Ausdruck gebracht wird. Die Gesamtheit dieser Äußerungen soll als Medienangstdebatte bezeichnet werden; das Objekt einer Medienangstdebatte als Angstmedium.
M EDIENK ARRIEREN Wie eingangs dargelegt, wurde das Buch einst als Angstmedium diskutiert, während ihm heute pauschales Wohlwollen entgegengebracht wird. Mit dieser wechselhaften Rezeptionsgeschichte steht es nicht allein; faktisch waren fast alle Medien, die heute als harmlos oder gar wertvoll gelten, in einer bestimmten Phase ihrer Entwicklung massiver Kritik und Abwehr ausgesetzt.30 Die Gründe hierfür lassen sich aus dem oben entwickelten theoretischen Konzept ableiten: Da Medienangst dann entsteht, wenn ein Medium a) fremd ist und b) zu Veränderungen gesellschaftlicher Machtstrukturen führt, muss dieses Gefühl abklingen, sobald dieses Medium a) den Status des Fremden und b) seine transformatorische Kraft verloren hat (etwa, weil die Verschiebungen in den gesellschaftlichen Strukturen abgeschlossen sind). Tatsächlich lassen sich an den Faktoren Novität und Penetration der Gesellschaft die Stufen einer idealtypischen Medienkarriere festmachen,31 wobei Medienangst interessanterweise erst dann und nur dann auftritt, wenn die beiden Faktoren zusammenfallen. Solange von einem neuen Medium nur wenige Exemplare in exklusiven Besitzverhältnissen existieren, wird es als Fortschritt bzw. Faszinosum euphorisch begrüßt. Im Zuge seiner Diffusion jedoch, wenn das neue Medium die Verhältnisse zwischen Alt und Jung und/oder zwischen anderen gesellschaftlichen Gruppen zu verschieben beginnt, gerät es als Angstmedium ins Kreuzfeuer öffentlicher Kritik. Zwar nimmt ein Teil der Gesellschaftsmitglieder stets eine positive Haltung ein, die Stimmen derer, die sich an der Medienangstdebatte beteiligen, fallen jedoch stärker ins Gewicht – sei es, weil sie sich in der Mehrheit befinden, sei es, weil negative Positionen mehr Aufmerksamkeit binden als positive.32 Die Phase der Medienangst endet, wenn das Medium alltäglich geworden ist (Profanität); selbst wenn es noch an Verbreitung hinzugewinnen sollte, hat es ohne den Faktor Novität 30 | Vgl. Bartsch: »Zeitungs-Sucht, Lesewut und Fernsehfieber«; Roß: »Traditionen und Tendenzen der Medienkritik«; Weßler: »Der ›befremdete‹ Blick auf das Selbstverständliche«; Kunczik und Zipfel: Gewalt und Medien. 31 | Novität und Fremdheit lassen sich direkt gleichsetzen, während die Penetration der Gesellschaft (also eine allgemeine Verbreitung, verbunden mit der Durchdringung des Alltags) die Voraussetzung dafür darstellt, dass ein Medium das Machtgefüge verändern kann. 32 | »Negativismus« ist einer der wirksamsten Nachrichtenfaktoren, die darüber bestimmen, ob ein Ereignis (oder eine Aussage) zur Nachricht werden oder nicht (vgl. Maier, Stengel und Marschall: Nachrichtenwerttheorie).
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seinen beängstigenden Charakter verloren. Der Übergang vom Angst- zum Alltagsmedium kann beschleunigt werden, sofern eine weitere mediale Innovation nachdrängt: Unvermittelt erscheint das bisherige Angstmedium relativ vertraut, so dass sich die öffentliche Aufmerksamkeit (bei der es sich zudem um eine begrenzte Ressource handelt, die nicht beliebig aufgeteilt werden kann) auf das neue Objekt verlagert. Auf der Stufe des Alltagsmediums verschwindet ein Medium nach und nach aus der öffentlichen Diskussion; man begegnet ihm zunehmend mit Gleichmut: Es ist da, es hat Vor- und Nachteile, es erscheint weder förderungs- noch verdammenswürdig. Ist schließlich ausreichend Zeit verstrichen, wird der Blick auf das Medium abermals pauschalisiert, diesmal jedoch nicht unter negativen, sondern unter positiven Vorzeichen: Es wird zum Kulturgut erklärt, seine (tatsächlichen oder angeblichen) Vorzüge werden in den Fokus gerückt und unerwünschte Inhalte bzw. Wirkungen ausgeblendet. Diese erneute Perspektivverengung dürfte darin begründet sein, dass die einstige Angstdebatte über den Wechsel der Generationen hinweg in kulturelle Vergessenheit geraten ist, so dass das altehrwürdige Medium vor dem dunklen Hintergrund der aktuellen Medienangstdebatte umso heller strahlen kann. Zusammengefasst stellt sich eine Medienkarriere folgendermaßen dar: 1. Stufe: Faszinosum (Novität/exklusive Besitzverhältnisse) 2. Stufe: Angstmedium (Novität/einsetzende oder weitgehende Penetration der Gesellschaft) 3. Stufe: Alltagsmedium (Profanität/weitgehende oder vollständige Penetration der Gesellschaft) 4. Stufe: Kulturgut (Profanität/vollständige oder rückläufige Penetration der Gesellschaft)
P OPUL ARISIERUNG Unter Popularisierung soll ein Prozess verstanden werden, in dessen Verlauf ein Medium inhaltlich dem Geschmack des Volkes angepasst wird. Dieser Vorgang ist untrennbar mit der Penetration der Gesellschaft verbunden: Nur ein Medium, dessen Inhalte gemeinverständlich und volkstümlich sind, findet weithin Anklang und kann somit allgemeine Verbreitung und Bekanntheit erlangen. Insofern bildet das Amalgam aus der Popularisierung eines Mediums und der Penetration der Gesellschaft die eingangs genannte Definition von »populär«33 mit allen Bedeutungsebenen ab. Die Popularisierung eines Mediums trägt maßgeblich zu seinem Übergang vom Faszinosum zum Angstmedium bei, bringt sie doch bereits die ersten ›Gewinner‹ und ›Verlierer‹ hervor: Zuvor hatten die gesellschaftlichen Eliten exklusi33 | Vgl. Fußnote 1.
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ven Zugriff auf das Medium; sie konnten es ihrer Definitionsmacht unterwerfen, es nach eigenen Wertsetzungen gestalten und diesen damit Geltung verleihen. Im Zuge der Popularisierung nun wird das Medium sowohl physisch als auch normativ aus dem Monopol der dominanten Kultur gelöst, der so genannten Trivialkultur einverleibt und nach deren Wertsetzungen – die sich im Unterschied zu denen der so genannten Hochkultur um Vergnügen und Unterhaltung drehen34 – umgestaltet. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Medienangstdebatten zumeist von Angehörigen der gesellschaftlichen Eliten in Gang gebracht werden.35
M EDIENANGSTDEBAT TEN Medienangstdebatten haben die Menschheitsgeschichte begleitet, soweit die schriftlichen Überlieferungen zurückreichen: »Es gilt als Faustregel, dass jedes neue Medium zunächst negativ bewertet und von Kulturpessimisten angegriffen wird.«36 Auch inhaltlich sind die Medienangstdebatten von Wiederholung gekennzeichnet: Im Zeitraffer zeigen sich da vielfältige Verwandtschaften und Analogien. Sie nähren die Hypothese, daß die Medienkritik von einem relativ überschaubaren und stabilen Repertoire an Denkmodellen und Argumentationsmustern geprägt ist. Ungeachtet der rapiden Veränderungen und der grundlegenden Umbrüche in der Medienszenerie der vergangenen 200 Jahre scheinen die Motive, Absichten und Parameter der Medienkritik im Kern weitgehend unverändert geblieben zu sein. 37
Tatsächlich lässt sich bei einer vergleichenden Betrachtung38 der Medienangstdebatten eine Art history repeating ausmachen: Gleichwohl die Debatten zum Teil Jahrhunderte auseinander liegen, werden einzelne Argumentationsfiguren wieder und wieder verwendet, mitunter in beinahe wörtlicher Übereinstimmung. In fast allen Fällen handelt es sich dabei um Wirkungsannahmen über das betreffende Medium; ihm wird eine Vielzahl schädlicher Effekte auf den einzelnen Menschen, 34 | Vgl. Hügel: Lob des Mainstreams, 109. 35 | Ein weiterer wichtiger Grund für die dominante Position von Bildungs- und anderen Eliten ist selbstverständlich die Tatsache, dass die Medienangstdebatten selbst mithilfe von Medien geführt werden, zu denen diese Gruppen bevorzugt Zugang erhalten. 36 | Kunczik und Zipfel: Gewalt und Medien, 27; vgl. auch Faulstich: Medienkulturen, 171-188. 37 | Roß: »Traditionen und Tendenzen der Medienkritik«, 29. 38 | Dabei wurden, je nach historischer Epoche, Traktate, Pamphlete, Zeitungsartikel, Internetquellen usw. sowie vereinzelt auch künstlerisch-literarische Verarbeitungen von Medienkritik herangezogen. Ein Anspruch auf Vollständigkeit wird nicht erhoben; er ist auch nicht nötig, insofern es zunächst darum geht, Indikatoren für Medienangst aufzuzeigen.
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die gesamte Gesellschaft und/oder Kultur unterstellt. In der Regel werden diese Aussagen nicht als Thesen im Sinne von unbelegten Annahmen gehandhabt, obwohl es sich meist um solche handelt,39 sondern als Behauptungen formuliert: So wie die Fore überzeugt waren, der Verlust ihres Viehbestands sei auf Haaröl und Fußbälle zurückzuführen, zeigen sich die Teilnehmer von Medienangstdebatten überzeugt, (tatsächliche oder angebliche) negative Entwicklungen und Ereignisse seien vom jeweiligen Medium ausgelöst. Auf diese Weise erhält die Diskussion um popularisierte Medien einen eigentümlichen Doppelcharakter: Einerseits wird das betreffende Medium u.a. wegen seiner volkstümlichen Inhalte angegriffen; andererseits bedienen sich seine Kritiker selbst ›volkstümlicher‹ (nämlich nach wissenschaftlichen Kriterien ungültiger) Argumente, die allgemein großen Anklang finden. Es soll abermals betont werden, dass nicht jede Art der Medienkritik in diese Kategorie fällt. In der öffentlichen Diskussion um neue Medien werden auch empirisch gesicherte Argumente vorgebracht oder Vermutungen als solche kenntlich gemacht. Diese Diskussionsbeiträge sollen jedoch nicht als Teil der Medienangstdebatte begriffen werden. Diese formt sich vielmehr aus drei Sorten von Aussagen: 1. Aussagen, die ohne empirischen Beleg als Behauptung formuliert werden, 2. Aussagen, die sich zwar auf wissenschaftliche Forschung beziehen, dabei jedoch (absichtlich oder unabsichtlich) einen Teil der Befundlage und/oder angebrachte methodische Zweifel ausblenden, um die jeweilige Wirkungsbehauptung scheinbar abzusichern,40 3. Aussagen, die einen konkreten Einzelfall zu allgemeinen Medienwirkung pauschalisieren. Im Folgenden sollen Aussagen dieser Art als populäre Thesen bezeichnet werden. Aus den Medienangstdebatten der verschiedenen Jahrhunderte lässt sich ein festes Repertoire extrahieren, das im Folgenden kurz skizziert wird. 39 | Dies gilt naturgemäß insbesondere für Medienangstdebatten, die vor Beginn der empirischen Medienwirkungsforschung stattfanden. 40 | Ein Beispiel für eine absichtsvolle Selektion liefert ein 2006 geführtes Interview mit dem niedersächsischen Innenminister, Uwe Schünemann, der sich für das Verbot so genannter Killerspiele einsetzt. Auf die zutreffend formulierte (vgl. hierzu Kunczik und Zipfel: »Traditionen und Tendenzen der Medienkritik«, 322-326) Frage »Die Wissenschaft streitet darüber, ob Killerspiele die Gewaltbereitschaft der Spieler erhöhen. Wie können Sie von diesem Zusammenhang so überzeugt sein, wenn selbst die Experten das nicht sind?« antwortet Schünemann: »Ich kann Ihnen genug Experten nennen, etwa von der medizinischen Hochschule Hannover, die diesen Zusammenhang eindeutig festgestellt haben.« ( (07.12.2010). Damit übergeht er diejenigen Studien, die zu entgegengesetzten Ergebnissen kommen, oder schließt zumindest (ohne die entsprechende Fachkompetenz zu besitzen) deren Gültigkeit aus.
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P OPUL ÄRE THESEN Am deutlichsten werden die kulturellen Konflikte, die sich an der Popularisierung eines Mediums entzünden, von der Trivialitätsthese gespiegelt. Sie besagt, das neue Medium sei im Vergleich mit errungenen kulturellen Gütern, insbesondere älteren Medien, minderwertig und senke somit das kulturelle Niveau der Gesellschaft.41 Daraus ist direkt die (Miss-)bildungsthese ableitbar, wonach sich das neue Medium negativ auf die Denk-, Sprach- und Imaginationsfähigkeit seiner Rezipienten auswirke. In ähnliche Richtung zielt die Pathologiethese, die dem Medium generell – also nicht nur bei Personen, die es übermäßig nutzen oder über bestimmte Prädispositionen verfügen – physisch und/oder psychisch schädigende Effekte unterstellt. Ähnlich verhält es sich mit der Suchtthese, die letztlich ein Sonderfall der Pathologiethese ist: Auch sie geht davon aus, dass eine suchtartige Mediennutzung nicht mit der Verfasstheit des Nutzers, sondern mit der des Mediums zu erklären sei. Den Blick auf die Inhaltsebene eines Mediums lenkt die Tabubruchthese; sie beklagt, das Medium zeige Bereiche der Wirklichkeit, deren Veröffentlichung die gesellschaftliche Ordnung gefährdeten und/oder zu Werteverfall führten. Die Täuschungsthese hingegen geht von der Tatsache aus, dass Medien häufig gerade nicht die Realität abbilden, sondern Fiktionen enthalten: Dies sei gefährlich, da der Rezipient so ein falsches Bild von der Wirklichkeit erhalte und sich vom wahren Leben entfernte – unter Umständen so weit, dass er sich in den fiktionalen Welten verliere und dieselben nicht mehr von der Realität unterscheiden könne. Diese Argumentationsfigur lässt sich zur (A-)sozialisationsthese ausdehnen, wonach das Medium zu Störungen/Pathologien in der Identitätsentwicklung führe, festzumachen an charakterlichen Defiziten, mangelnder Alltagskompetenz und Anpassungsschwierigkeiten. Als Steigerung der (A-)sozialisationsthese ist schließlich die Violenzthese zu nennen: Sie besagt, das Medium führe zu einem Anstieg von Gewalt in der Gesellschaft, etwa in Form körperlicher Angriffe auf andere, Kriminalität oder auch Selbstmord. Besonders fokussiert werden bei fast allen populären Thesen Kinder und Jugendliche. Dies hat einerseits den rationalen Hintergrund, dass junge Menschen aufgrund der Vielzahl der vor ihnen liegenden Entwicklungsaufgaben leichter bzw. nachhaltiger zu beeinflussen sind als ältere. Andererseits lässt sich diese Fokussierung auch als emotionaler Effekt des Generationenkonflikts interpretieren, der hinter jeder Medienangstdebatte liegt: Die Eltern oder Großeltern, von ihren Kindern oder Enkelkindern kulturell überholt, könnten auf diese Weise (bewusst oder unbewusst) die ihnen angestammte superiore Position verteidigen. Für diese Deutung spricht, dass – je nachdem, welche Bevölkerungsanteile sich des neuen 41 | Dieser Vorwurf muss notwendigerweise thesenhaft bleiben. Ein Forschungsdesign, mit dem sich die Qualität einer Kultur ermitteln ließe, wäre zweifellos überkomplex; gleichzeitig erforderte bereits der Umfang einer solchen Unternehmung eine unrealistische Bündelung von Ressourcen.
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Mediums bemächtigten – auch andere Gruppen als besonders gefährdet eingeordnet werden können. Die Buchangstdebatte des 18./19. Jahrhunderts liefert hierfür ein Beispiel, wie im Folgenden gezeigt werden soll.
D IE B UCHANGSTDEBAT TE IM D EUTSCHL AND DES 18./19. J AHRHUNDERTS Die gedruckte Literatur war im deutschsprachigen Raum bereits im 15./16. Jahrhundert kritisch diskutiert worden, als die Schriften der Reformation die Vormachtstellung der römisch-katholischen Kirche ins Wanken brachten und schließlich brachen.42 Eine Popularisierung im Sinne einer Gemeinwerdung jedoch hatte sich nicht vollzogen; die exklusiven Besitzverhältnisse an der Literatur waren lediglich von der einen Elite (katholischer Klerus) auf andere Eliten (reformatorischer Klerus, Humanisten) ausgeweitet worden. So ist zu erklären, dass neben der buchkritischen Debatte, geführt von Angehörigen und Unterstützern der katholischen Kirche, auch ein umfangreicher medieneuphorischer oder zumindest -bejahender Diskurs stattfand.43 Dieses Verhältnis begann sich am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert zu wandeln, als das Buch – getragen von der zunehmenden Alphabetisierung der Bevölkerung, sinkenden Papierkosten sowie der Maschinisierung der Produktion – einen wahren Popularisierungsschub erlebte.44 Dies lässt sich zunächst am sprunghaften Ansteigen seiner Reichweite (Penetration der Gesellschaft) festmachen: Während 1740 auf deutschem Boden etwa 750 Neuerscheinungen zu verzeichnen waren, fielen vier Jahrzehnte später rund 5000 Erstveröffentlichungen pro Jahr an.45 Im gleichen Zeitraum ging der Anteil der lateinisch abgefassten Bücher von 27,7 auf 3,9 Prozent zurück, während sich die Belletristik auf den Produktionsrängen stetig nach oben schob. Zur Jahrhundertwende schließlich hatten die Romane mit einem ›Marktanteil‹ von 21,4 Prozent den bisherigen Spitzenreiter, die theologischen Schriften, überflügelt.46 »Der Buchmarkt ist nun auch in Deutschland, gut ein Jahrhundert später als in anderen europäischen Nationen,
42 | Vgl. Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, 48-60; Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, 168-191. 43 | Vgl. ebd., 146-167. 44 | Vgl. Funke: Buchkunde, 189. 45 | Vgl. Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, 122. Wittmann kann allerdings nur die überregional gehandelten (und damit in den Meßkatalogen aufgeführten) Bücher erfassen; die tatsächlichen Produktionszahlen lassen sich nicht mehr ermitteln. 46 | Vgl. ebd., 122-123.
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keine Domäne der Gelehrten und Gebildeten mehr.«47 Die Popularisierung des Mediums Buch hatte sich vollzogen.48 Wie zu erwarten, wurde dieser Prozess von einer Medienangstdebatte begleitet bzw. gefolgt, die von den vormaligen Exklusivnutzern des Buches, den Angehörigen der Kirche sowie der humanistischen Bildungselite, geführt wurde. Aus Platzgründen kann die Debatte, welche sich über mehrere Jahrzehnte erstreckte, hier nur anhand weniger Zitate skizziert werden. Ich werde mich dabei auf diejenigen Thesen konzentrieren, die für die Diskussion der damaligen Zeit typisch sind.
S UCHT-, T ÄUSCHUNGS - UND (A-) SOZIALISATIONSTHESE Im Jahr 1795 hielt der Oberschulrat und Superintendent Johann Rudolph Gottlieb Beyer an der Erfurter Academie nützlicher Wissenschaften einen Vortrag über den »Luxus« des Bücherlesens.49 Darin nahm er Bezug auf eine These, die quasi die gedankliche Klammer der gesamten Buchangstdebatte bildet: »Kein Tabaksbruder, keine Kaffeeschwester, kein Weintrinker, kein Spielgeist kann so an seine Pfeife, Bouteille, an den Spiel- oder Kaffeetisch attachirt seyn, als manche Lesehungrige an ihre Lesereyen.«50 Tatsächlich zieht sich die Suchtthese so prominent durch die Buchangstdebatte, dass diese im Rückblick gemeinhin als »Lesesucht-« bzw. »Lesewut«-Debatte adressiert wird.51 Doch die Idee, das Buch würde vormals psychisch stabile Menschen in pathologische Abhängigkeit führen, steht nicht für sich allein. Erst zusammen mit weiteren populären Thesen entwickelte die Suchtthese aus Sicht ihrer Verfechter ihren beängstigenden Charakter. So warf Beyer im weiteren Verlauf seiner Ausführungen die Frage auf, Ob nun die bürgerliche Glückseligkeit und der häusliche Wohlstand dabey gewinnen, wenn […] der Jüngling, der höhern Wissenschaften sich gewidmet hat, seine Zeit mit amüsanter Lektüre hinbringt, oder das Mädchen, statt in häuslichen Verrichtungen sich zu üben, und sich zu einer guten Hausmutter zuzubereiten, sich mit Romanen, Gedichten, Allmanachs und Rittergeschichten unterhält; oder wenn der Mensch, der zu Handarbeiten und andern mühsamen Geschäften bestimmt ist, sich an ein Vergnügen gewöhnt, das so verführe47 | Ebd., 122. 48 | Zwar muss die ›Durchdringung‹ der Gesellschaft nach wie vor relativ betrachtet werden – zur Jahrhundertwende konnte bestenfalls ein Viertel der deutschen Bevölkerung lesen (vgl. ebd., 189-190) – dennoch überschritt das Medium Buch in dieser Zeit gesellschaftliche Demarkationslinien und erreichte in einem nennenswerten Umfang auch Personen, die nicht zu den Eliten zu rechnen sind. 49 | Vgl. Beyer: Ueber das Bücherlesen. 50 | Ebd., 3. 51 | Vgl. bspw. Bartsch: »Zeitungs-Sucht, Lesewut und Fernsehfieber«, 113; Schenda: Volk ohne Buch, 57-66; Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, 203.
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S USANNE K EUNEKE risch ist, und ihm einen Ekel, wenigstens eine Unlust gegen andere Zeibenutzungen [sic!] beybringt?52
Hinter dieser rhetorisch eingesetzten Frage stehen die Täuschungs- und die (A-) sozialisationsthese: Die Rezeption populärer Literatur, so impliziert Beyer, entfernt Menschen von der realen Welt und lähmt ihre Bereitschaft, sich in das für sie vorgesehene Lebensmuster zu fügen. Als Opfer hat er dabei neben den Heranwachsenden zwei weitere Gruppen im Blick: Frauen sowie die Angehörigen mittlerer oder niederer Stände. Wie im Folgenden gezeigt wird, steht Beyer mit dieser Fokussierung nicht allein; die Idee, dass die Romanlektüre auf die Jugend, auf ›das einfache Volk‹ bzw. die ›Frauenzimmer‹ verheerende Wirkung haben müsse, spielt in der Buchangstdebatte eine zentrale Rolle.53 Heranwachsende werden, wie erwähnt, in jeder Medienangstdebatte als besonders gefährdet angesehen, was sich u.a. auf den steten Konflikt zwischen den Generationen zurückführen lässt. Die Fokussierung der niederen Stände und der Frauen dagegen wird verständlich, wenn man die historischen Rahmenbedingungen betrachtet: Im 18. Jahrhundert war das Gesellschaftsgefüge im deutschsprachigen Raum, angeregt durch die Ideen der Aufklärung sowie der Französischen Revolution, in Bewegung geraten. Nachdem sich zunächst das neu entstandene Bürgertum gegen die Vormachtstellung von Klerus und Adel gewandt hatte, entwickelten nun auch weniger Privilegierte politisches Selbstbewusstsein.54 Gleichzeitig meldeten sich erstmals Frauen und Männer in der Öffentlichkeit zu Wort, welche die überkommenen Geschlechterverhältnisse in Frage stellten.55 Die Emanzipationsbestrebungen beider Gruppen führten zum Konflikt mit denjenigen, deren Privilegien bedroht waren: mit den männlichen Angehörigen der höheren Stände. Zugleich standen sich die genannten Gruppen im Kulturkampf um die Popularisierung des Buches als Gegner gegenüber, denn die gestiegene Reichweite bei gleichzeitiger Anpassung an den Massengeschmack war vor allem der Tatsache geschuldet, dass neben Jugendlichen zunehmend Nichtakademiker und Frauen zum Lesepublikum zählten.56 Wie die buchkritischen Texte Beyers und anderer Autoren zeigen, kamen die männlichen Vertreter der Bildungselite zu dem Schluss, zwischen der einen und der anderen Bedrohung müsse es mehr als nur einen zeitlichen Zusammenhang geben: Frauen und andere Minderprivilegierte seien nicht mehr willens oder in 52 | Beyer: Ueber das Bücherlesen, 5-6. 53 | Vgl. Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, 204-205. 54 | Vgl. Schmidt: Wandel durch Vernunft, 291-322. 55 | Vgl. Gerhard: Frauenbewegung und Feminismus, 11-26; Frevert: Frauen-Geschichte, 15-62. Drei Jahre vor Beyers Vortrag war Theodor von Hippels Buch Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber erschienen, in dem er sich für die Verleihung der Bürgerrechte an Frauen ausspricht; vgl. ebd., 15. 56 | Vgl. Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, 198-199; 211; Schmidt: Wandel durch Vernunft, 268-269.
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der Lage, ihre gottgegebene gesellschaftliche Position zu akzeptieren, da sie über die Romanlektüre ihren Realitätssinn verloren hätten. Der Leser oder die Leserin füllt ihre Seele nur mit einer Menge überspannter, schwärmerischer und romanhafter Ideen, deren Realisierung in dieser sublunarischen Welt nicht statt findet, lernt die Welt nicht aus der Welt, sondern aus Büchern kennen, träumt sich eine Welt, nicht wie sie ist, sondern wie sie seyn sollte, beurtheilt die Menschen nicht nach der wirklichen Geschichte der Menschheit, sondern nach den erdichteten Erzählungen der Romanwelt – : so wird durch solche Lektüre ein Geschöpf gebildet, das mit dem Schöpfer und der Schöpfung immer unzufrieden ist; durch übertriebene Klagen und Vorwürfe sich unleidlich macht, bald an der Obrigkeit und Staatsverwaltung, bald an der Gesetzgebung und Gesetzhandhabung, bald an den Sitten und Gebräuchen des Landes und der Zeitgenossen, etwas auszusetzen hat, und alles in der Welt reformirt und umgeschmolzen haben möchte.57
Interessanterweise erwartet Beyer also, die Rezeption fiktiver, unterhaltender Stoffe bringe Menschen dazu, sich politischen Ideen zuzuwenden – heute, da unser demokratisches System auf Partizipation angewiesen ist, wird vor allem ein gegenteiliger Effekt befürchtet.58 Gleichzeitig sieht er aber auch in Druckwerken mit politischen Inhalten59 eine Gefährdung der bestehenden Verhältnisse: Der wegwerfende Ton, mit welchem in Schriften dieser Art von Regenten und den höhern Ständen gesprochen wird, ist eine Schmeicheley für die niedern Stände […] wodurch […] der Gedanke erzeugt wird, daß jeder auch mit Recht erworbene und zu gemeinnützigen Zwecken zugestandne Vorzug eine Usurpation sey, die man nicht zu dulden brauche. 60
Mit bangem Blick auf die Französische Revolution überlegt Beyer im Folgenden, wie die ›rechtmäßige und gemeinnützige‹ Bevorzugung seines eigenen Standes vor der Bedrohung durch die popularisierte Literatur geschützt werden könne.61 Ein Lektüreverbot erscheint ihm genauso wenig der geeignete Weg wie explizite Leseempfehlungen;62 vielmehr spricht sich Beyer dafür aus, das Leseverhalten der einfachen Leute verdeckt zu steuern: Einerseits sollte um »Schriften, die zur Lektüre des grosen Publikums nicht taugen […] weder in gelehrten Zeitungen, noch in gemischten Gesellschaften groß Aufhebens«63 gemacht werden, andererseits sollten die Leiter von Lesegesellschaften und Leihbüchereien (letztere seien durch 57 | Beyer: Ueber das Bücherlesen, 7. 58 | Vgl. bspw. Holtz-Bacha: »Verleidet uns das Fernsehen die Politik?«, 239. 59 | Vgl. Beyer: Ueber das Bücherlesen, 9. 60 | Ebd. 61 | Vgl. ebd., 10. 62 | Vgl. ebd., 10; 11. 63 | Ebd., 12.
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eine Beschränkung des Berufszugangs unter die Kontrolle der Bildungselite zu stellen)64 unauffällig Literatur in Umlauf bringen, die bestehende Werte stützte:65 Man muß dem Geiste der Menschen der Fesseln so wenige anlegen, als möglich ist, damit er es nicht zu sehr fühle, daß er nicht ganz frey ist, und damit er die unvermeidlichen Fesseln, die er bey jeder Verfassung tragen muß, desto williger trage. 66
Weniger verblümt geht der Schweizer Buchhändler Johann Georg Heinzmann, ein erklärter Gegner der Aufklärung,67 das weibliche Lesepublikum an. In seinem 1780 publizierten Buch Die Feyerstunden der Grazien, offensichtlich zur geistigmoralischen Erbauung seiner Leserinnen verfasst,68 warnt er im Sinne der Täuschungsthese zunächst vor den unglückseligen Wirkungen der Romanlektüre (»so werden wir unzufrieden, misvergnügt, und sehen uns als den unglücklichen Gegenstand eines hartverfolgenden Schicksals an«69), aber auch vor allzu großem Wissensdurst: Denn so schätzbar eine solche (gelehrte Kenntniß, SK) ist, und so große Vortheile sie dem menschlichen Leben gewähret, so scheint sie mir doch dem Eigenthum der Männer vorbehalten zu seyn, und unsre Mädchen und Weiber können dieses Vorzugsrecht nicht verkennen, ohne zugleich ihre ersten und wesentlichen Pflichten, als da sind: die Versorgung des
64 | Vgl. ebd., 14. Beyer schlägt vor, dass die Führung einer Leihbibliothek nur noch Personen gestattet werden solle, die »sich entweder als ein Bücherkenner legitimieren, oder wenigstens einen bedeutenden Gelehrten sich adressiren müsse, der sich anheischig mache, ihm mit seinem Rathe und Vorschlägen an die Hand zu gehen« – die also entweder dem Bildungsbürgertum angehören oder von einem seiner Mitglieder kontrolliert werden können. De facto wurden viele Leihbibliotheken von weniger gebildeten Personen geführt; vgl. Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, 213. 65 | Vgl. Beyer: Ueber das Bücherlesen, 12-14. Der Literaturwissenschaftler Schenda sieht die Buchangstdebatte des 18./19. Jahrhunderts mit ihrem »Programm einer ›beschränkten Aufklärung‹« als eine direkte Folge der »allgemeinen Revolutions-Angst« seitens der privilegierten Schichten; vgl. Schenda: Volk ohne Buch, 62; vgl. auch 66-72. Die konkrete Furcht vor einem Bauernaufstand dürfte allerdings nur einen (wenn auch bedeutsamen) Faktor im komplexen psychologischen Geflecht der Buchangst dargestellt haben. Wittmann dürfte der Sache näher kommen, wenn er die Kampagnen gegen die angebliche »Lesewut« des Volkes auf ein allgemeines »Mißbehagen der politischen und gesellschaftlichen Führungsschichten und auch der irritierten Volksaufklärer, denen die Zügel zu entgleiten drohten«, zurückführt; vgl. Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, 194. 66 | Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, 194. 67 | Vgl. Heinzmann: Appel an meine Nation über Aufklärung und Aufklärer. 68 | Vgl. Heinzmann: Die Feyerstunden der Grazien. 69 | Ebd., 106.
M EDIENANGST ALS M ASSSTAB Hauswesens, Ordnung, Reinlichkeit, die gute Pflege der Kinder, dabey zu vernachläsigen, oder doch zu schwächen.70
Anschließend legt Heinzmann den »Entwurf zu einer Damenbibliothek«71 vor, deren Inhalt ihm zur Vorbereitung auf die genannten Pflichten geeignet erscheint. Die ›Täuschung‹ der Romane soll also durch die ›Aufklärung‹ erbaulicher und lehrreicher Literatur ersetzt werden, wobei Heinzmann keineswegs das sapere aude der Aufklärungsbewegung im Blick hat.72 Ein ähnliches Gemisch aus Angst vor der populären Literatur und Abwehr weiblicher Emanzipationsbestrebungen findet sich beim Theologen und Historiker Johann Gottfried Hoche, der mit Blick auf »schwärmerische Demokratinnen«,73 denen auch »die völlige Gleichheit in ihrer Wohnstube nicht übel gefallen (möchte)«,74 für eine Eindämmung der »Lesesucht« plädiert. Wie wenig dieser und andere Versuche gefruchtet haben, sowohl die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse als auch die Popularisierung der Lesekultur rückgängig zu machen, zeigt sich am Text »Eine Warnung vor den Gefahren der Lesesucht«75 des Theologen und Schriftstellers Heinrich Zschokke. Gleichwohl drei bzw. vier Jahrzehnte nach Heinzmanns bzw. Beyers Schriften veröffentlicht, werden darin dieselben Befürchtungen und Argumente wiederholt: Wie viele leben, verdorben durch den Fehler der Lesesucht, welche für ihren nachmaligen Stand und Beruf nicht passen; Männer, die, ohne Würdigkeit und Kraft zum Bessern, sich immerdar aus ihrem ihnen zu klein scheinenden Wirkungskreise hinwegsehnen; Weiber, die in den Freuden und Leiden und Sorgen des ehelichen Standes und bürgerlichen häuslichen Alltagslebens keine Genugthuung überspannter Erwartungen, keine Nahrung ihrer Einbildungskraft und Empfindelei finden, und Alles, aber nicht das gelernt haben, was zu richtiger Beurtheilung ihrer Lage, zur wirthschaftlichen Hausfrau, zur treuen Pflege des Gatten, zur weisen Leitung des Gesindes, zur zweckmäßigen Behandlung der Kinder gehört.76
Faktisch prägen vergleichbare Argumentationen die Auseinandersetzung mit populärer Literatur bis hin zur Schmutz-und-Schund-Debatte in den ersten Deka-
70 | Ebd., 404. 71 | Ebd., 401; 406-412. 72 | Heinzmanns Auswahl reicht von »Bertrams christlichen Unterweisungen« über Gellerts »Moral für Frauenzimmer«, das Wochenblatt »Der Kinderfreund«, »Fabeln für das schöne Geschlecht«, »Die Hausmutter, in allen ihren Geschäften« bis zu Lockes »Erziehung der Kinder«. 73 | Hoche: Vertraute Briefe über die jetzige abentheuerliche Lesesucht, 115. 74 | Ebd., 113. 75 | Zschokke: Eine Warnung vor den Gefahren der Lesesucht. 76 | Ebd., 135 (Hervorhebung im Original).
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den des 20. Jahrhunderts, als die Buchangst mit fortschreitender Medienkarriere abklang bzw. durch die Kinoangst abgelöst wurde.77
W EITERE POPUL ÄRE THESEN Die Kombination aus Sucht-, Täuschungs- und (A-)sozialisationsthese ist in der Buchangstdebatte des 18./19. Jahrhunderts klar prädominant. Dennoch lassen sich auch andere populäre Thesen finden. Sie sollen im Folgenden beispielhaft belegt werden. Zunächst ist die Trivialitätsthese zu nennen, die am deutlichsten die Angst und Abwehr der sprunghaft wachsenden Populärliteratur widerspiegelt. Sie bildet beispielsweise den Ausgangspunkt von Zschokkes Text, in dem er die »Lesesucht« seiner Zeitgenossen auf die angebliche Minderwertigkeit der unterhaltenden Literatur zurückführt.78 Der Trivialitätsthese schließt sich oft die (Miss-)bildungsthese an. In diesem Sinne ist auch Zschokke überzeugt, dass populäre Bücher – selbst diejenigen informativen Charakters – ihre süchtige Leserschaft verdummen müssten: Diejenigen zum Beispiel, welche ein vortreffliches natürliches Gedächtniß besitzen, häufen durch ihre Leserei eine ungeheure Menge nützlicher und unnützer Kenntnisse in ihrem Gedächtnisse auf, aber auf Unkosten ihres eigenen Denkvermögens. Das Gelesene geht nicht in ihr ganzes Wesen über, sondern bleibt roh und todt, wie die Speisen im Magen des Vielfressers, dessen Gesundheit durch das Uebermaas der Nahrung weit mehr geschwächt, als genährt wird.79
Diese Argumentationsfigur rundet Zschokke, ähnlich wie im Fall der Täuschungsthese, durch die (A-)sozialisationsthese ab: 77 | Vgl. Maase und Kaschuba (Hg.): Schund und Schönheit. 78 | Vgl. Zschokke: Eine Warnung vor den Gefahren der Lesesucht, 131-132. Als Referenzpunkt dient ihm bezeichnenderweise nicht das ›hochwertige‹ Druckwerk, sondern die weitaus ältere Handschrift, mit der, so Zschokke, allein »vorzügliche Männer« ihre Gedanken verbreitet hätten. Zwar räumt er ein, dass es »schon damals nicht an […] Arbeiten schlechter, selbst schädlicher Art fehlte«, zeigt sich jedoch überzeugt, dass diese auf kein nennenswertes Interesse gestoßen seien. Hier irrt Zschokke allerdings. Tatsächlich setzten einige ›Verleger‹ bereits im Zeitalter der Handschriften erfolgreich auf eine schnelle, qualitativ minderwertige ›Massenproduktion‹ von unterhaltenden Stoffen. Einer von ihnen war Diebold Lauber, der zwischen 1425 und 1467 mit großem Erfolg u.a. lebhaft bebilderte Liebes- und Heldengeschichten vertrieb. Die von Laubers Schreibwerkstatt produzierten Abschriften wurden bis in die Schweiz verbreitet (vgl. Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, 20). 79 | Ebd., 134.
M EDIENANGST ALS M ASSSTAB Dadurch entspringt die geckenhafte, hohle Vielwisserei, welche eben darum auch nur Halbwisserei ist, und glänzt und schimmert, ohne innern Werth zu haben. Dadurch wird die Neigung zum stolzen, voreiligen Absprechen genährt, welche das unfehlbare Kennzeichen einer blöden Urtheilskraft und sich selbst genügender Unwissenheit bleibt. Dadurch entsteht jene Abneigung gegen nützliche, ernste Arbeiten und Beschäftigungen, zu welchen ein ganz anderer Aufwand von Kräften, als ein spielender Witz, als ein träumendes Dichtungsvermögen, erfordert wird. 80
Auch die Pathologiethese ist bei Zschokke zu finden; er verbindet sie mit der Tabubruchthese, indem er erotisch gefärbter Romanliteratur unterstellt, zu sexueller Devianz zu verleiten. So müssten junge Leute nur ein einziges »Machwerk eines geilen Wollüstlings« mit »verschönernden Gemälden viehischer Triebe« in die Hände bekommen, um Opfer einer »vergifteten Phantasie« zu werden:81 »Sehet da die Ursachen ihres frühern Hinwelkens, ihres geistigen und körperlichen Absterbens unter der Wuth geheimer Sünden!«82 Andere Autoren sehen vor allem Frauen als Opfer einer literaturbedingten Sexualpathologie. Auch hier klingt, ähnlich wie bei der Täuschungsthese, zwischen den Zeilen die Sorge um einen männlichen Kontrollverlust an: Die erzwungene Lage und der Mangel aller körperlichen Bewegung beym Lesen, in Verbindung mit der so gewaltsamen Abwechslung von Vorstellungen und Empfindungen, Schlaffheit, Verschleimung, Blähungen und Verstopfung in den Eingeweiden, mit einem Wort Hypo-
80 | Ebd., 135. Diese Argumentationsfigur taucht im Laufe der Geschichte immer wieder auf. Ein prominentes Beispiel liefert Platons Werk »Phaidros«, das ungefähr 360 v. Chr. entstand. Darin schildert der Philosoph einen fiktiven Streit zwischen dem König Thamus und dem Gott Theut, der sich um eine von Theuts Erfindungen dreht, die Buchstabenschrift. Während der Gott sich brüstet, die Schrift werde die Menschen »klüger machen und ihr Gedächtnis verbessern«, behauptet der König das genaue Gegenteil: »Denn diese Erfindung wird in den Seelen derer, die sie erlernen, Vergeßlichkeit bewirken, weil sie ihr Gedächtnis nicht mehr üben; denn im Vertrauen auf Geschriebenes lassen sie sich von außen erinnern durch fremde Zeichen, nicht von innen heraus durch sich selbst.« Auch die behaupteten Folgen dieser (Miss-)bildung auf die Charakterentwicklung sind bei Platon dieselben wie bei Zschokke: »Denn da sie durch deine Erfindung vieles hören ohne mündliche Unterweisung, werden sie sich einbilden, vieles zu verstehen, wo sie doch gewöhnlich nichts verstehen, und der Umgang mit ihnen wird schwierig, da sie überzeugt sind, klug zu sein, es aber nicht sind.« (Heitsch: Platon, Phaidros, 61-62.) Bemerkenswerterweise beschreibt Platon also genau dasselbe Medium als ›Sündenfall‹ der abendländischen Kultur, das Zschokke über 2000 Jahre später mit ›paradiesischen Zuständen‹ in Verbindung bringt. 81 | Zschokke: Eine Warnung vor den Gefahren der Lesesucht, 136-137. 82 | Ebd., 137.
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S USANNE K EUNEKE chondrie, die bekanntermaassen bey beydem, namentlich bey dem weiblichen Geschlecht, recht eigentlich auf die Geschlechstheile wirkt […]. 83
In diesem Sinne zeigt sich J. G. Heinzmann überzeugt, »daß die Männer, die solche Weibchen heyrathen, Hörnerträger werden«.84 Darüber hinaus schreibt Heinzmann dem Buch generell gesundheitsschädigende Wirkungen zu: Nach der Erfahrung unserer Stadtärzte sind große Empfindlichkeit, leichte Erkältung, Kopfschmerzen, schwache Augen, Hitzblattern, Podagra, Gicht, Hämorrhoiden, Engbrüstigkeit, Schlagflüsse, Lungenknoten, geschwächte Verdauung, Verstopfung der Eingeweide, Nervenschwäche, Migräne, Epilepsie, Hypochondrie, Melancholie, die gewöhnlichsten Krankheiten; unsere Lebenssäfte stocken und faulen; häßliche Leidenschaften: Traurigkeit, Unwillen, Mißvergnügen, Eifersucht und Neid, Trotz und Eigendünkel; Müßiggang und Unzucht findet man in Strohhütten wie in Pallästen. 85
Auch die Violenzthese ist in der Buchangstdebatte des 18./19. Jahrhunderts anzutreffen, am prägnantesten wahrscheinlich in der Diskussion um eine Serie von Selbstmorden, die durch Goethes »Die Leiden des jungen Werther« ausgelöst worden sein soll.86 Ansonsten scheint die Vorstellung, die Medienrezeption führe zu körperlicher Gewalt (von der die Medienangstdebatten seit Beginn des 20. Jahrhundert stark geprägt sind) bei der Buchkritik eine nachgeordnete Rolle gespielt zu haben. Dies unterstreicht abermals, wie sehr die Debatten durch die Befindlichkeiten ihrer Akteure beeinflusst werden: Die Angehörigen der Bildungselite im 18./19. Jahrhundert fühlten sich offenbar weniger durch individuelle Gewalt als vielmehr durch gesamtgesellschaftliche Wandlungsprozesse und die daraus resultierenden Machtverschiebungen bedroht.
F A ZIT Aus heutiger Sicht erscheint die Buchkritik des 18./19. Jahrhunderts befremdlich; zwischen dem kulturellen Image, das dem Buch damals zugewiesen wurde, und dessen aktueller Version bestehen kaum noch Überschneidungen. So werden die Argumentationsfiguren der Sucht-, der Pathologie- oder der Violenzthese inzwischen mit der Buchlektüre nicht mehr in Verbindung gebracht. Zwar würden die meisten Menschen wohl der Aussage zustimmen, dass die Buchlektüre wie jede Art von Mediengebrauch gesundheitsschädliche Ausmaße annehmen könne; öf83 | Bauer: Über die Mittel, dem Geschlechtstrieb eine unschädliche Richtung zu geben, 190. 84 | Heinzmann: Appel an meine Nation über Aufklärung und Aufklärer, 448. 85 | Ebd., 450-451. 86 | Vgl. Bartsch: »Zeitungs-Sucht, Lesewut und Fernsehfieber«, 114.
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fentlich diskutiert wird dieser Umstand jedoch nicht mehr. Gleiches gilt für die Tatsache, dass gleich mehrere prominente Gewaltverbrecher der vergangenen Jahrzehnte ihre Taten explizit auf ein Buch zurückführten.87 Die Trivialitäts-, die (Miss-)bildungs- und die (A-)sozialisationsthese werden heute sogar in ihr Gegenteil verkehrt: Das Buch wird pauschal als förderlich für die geistige und charakterliche Entwicklung angesehen, obwohl, wie eingangs gezeigt, nach wie vor im großen Umfang Literatur kursiert, die den Wertmaßstäben der so genannten Hochkultur nicht entspricht. Insofern verdeutlicht die historische Beschäftigung mit dem Buch, wie (scheinbar) willkürlich die dominante Kultur populären Medien begegnet: Nicht das Vorhandensein populärer Inhalte führt zu öffentlichen Debatten, sondern ihr erstmaliges Auftreten; die behauptete Gefährlichkeit des Populären scheint somit einem Verfallsdatum zu unterliegen. Als Hintergrund dieser irrationalen Umgangsweisen wurde in diesem Artikel das Phänomen der Medienangst herausgearbeitet. Es wurde zudem gezeigt, dass Populäres und Medienangst untrennbar miteinander verbunden sind: Die Popularisierung eines Mediums löst Medienangst aus; die Medienangst öffnet ein Zeitfenster, in dem die populären Spielarten des Mediums öffentlich debattiert werden und das sich bei ihrem Abklingen wieder schließt. Das Beispiel des Buches zeigt überdies, dass der Durchlauf eines solchen Wechselkreises mehrere Jahrzehnte dauern kann und der Weg vom Angstmedium zum Kulturgut sogar Jahrhunderte. Insofern ist mit der ersten staatlichen Kampagne zur Förderung der kindlichen Computerspielnutzung wohl nicht vor dem 22. Jahrhundert zu rechnen.
L ITER ATUR Atzwanger, Klaus, Katrin Schäfer und Alain Schmitt: »Verhaltenswissenschaftliche Überlegungen zur Fremdenscheu.« Zeitschrift für Sozialpsychologie und Gruppendynamik in Wirtschaft und Gesellschaft 22.1 (1997), 3-6. Bartsch, Anne: »Zeitungs-Sucht, Lesewut und Fernsehfieber. Zur Geschichte der kritischen Diskurse über Medien und Emotionen.« In: Matthias Buck, Florian Hartling und Sebastian Pfau (Hg.): Randgänge der Mediengeschichte. Wiesbaden: VS 2010, 109-122. Bauer, Karl Georg: Über die Mittel, dem Geschlechtstrieb eine unschädliche Richtung zu geben. Leipzig: Verlag 1791.
87 | Zuteil wird diese zweifelhafte Ehre J. D. Salingers Roman Der Fänger im Roggen, den sowohl der Mörder John Lennons als auch der Bandenführer Charles Manson als Inspirationsquelle für ihre Taten nannten. Außerdem wurde das Buch im Besitz des Reagan-Attentäters sowie des so genannten »Unabombers« gefunden; vgl. Oppolzer: »Eine Bibel für Mörder?«.
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Soothing Music for Stray Cats? Zur Ausdifferenzierung des Populären in und an der Literatur Christoph Reinfandt
Die Frage nach der ›Popularität der Literatur‹ kann in verschiedene Richtungen verfolgt werden: Einerseits kann es, ganz vordergründig und durchaus im rein quantitativen Sinne, darum gehen herauszufinden, wie populär die Literatur zu bestimmten historischen Zeitpunkten wirklich war – und es ist zu erwarten, dass die Befunde eher deprimierend ausfallen werden. Wie populär ist denn der von Moritz Baßler und anderen beschriebene Pop-Roman wirklich, wenn man ihn mit Lady Gaga oder Stephenie Meyers Bis(s)en vom großen Kuchen des Buchhandels vergleicht?1 Zahlen aus dem englischsprachigen Literaturbetrieb stimmen hier nachdenklich: Bestseller wie Dan Browns The Da Vinci Code oder J.K. Rowlings Harry Potter Romane haben schon 2006 die Marke von 4 Millionen verkauften Exemplaren überschritten; Romane, die über das Fernsehen oder Literaturpreise Prominenz gewinnen, können schon mal in 200.000 bis 300.000 Exemplaren über den Ladentisch oder die Internetplattform gehen; alle anderen Romane hingegen liegen zahlenmäßig unter 1000 Exemplaren, mit einem deutlichen Sog nach unten.2 Wie populär war die romantische Lyrik (um nicht von späteren Entwicklungsstadien der modernen Lyrik zu sprechen)? Andererseits aber, und das ist der Weg, der im Folgenden eingeschlagen werden soll, kann man sich die Frage nach den Beziehungen zwischen dem Populären und der Literatur eher systematisch und damit auch und gerade qualitativ stellen. Nahe liegend erscheint hier zunächst zu fragen, welche Rolle das Populäre für die Ausdifferenzierung der Literatur gespielt hat. Näheres Nachdenken allerdings führt schnell zu unlösbaren Problemen, weil es offenbar noch niemand so recht gelungen ist, das Populäre eindeutig zu identifizieren und zu definieren. Niemand bestreitet, dass es das Populäre gibt, aber jenseits eher vager quantitativer Annahmen und einer Betonung von ›Gewöhnlichkeit‹ im Gegensatz zu auf Hierarchie 1 | Vgl. Baßler: Der deutsche Pop-Roman; oder, für die englische Szene, Viol: Jukebooks. 2 | Vgl. Clee: »The Fictional Marketplace«, 21.
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ausgerichteten Formen der sozialen Distinktion wird die Lage unübersichtlich.3 Tatsächlich handelt es sich beim Populären also wohl um ein relationales Konzept, das jenseits der genannten Groborientierungen im Auge des Betrachters liegt und somit nur unter historisch spezifischen Bedingungen in historisch spezifischen Kontexten beobachtet werden kann. Akzeptiert man diese Prämissen, so muss die Frage, welche Rolle das Populäre für die Ausdifferenzierung der Literatur gespielt hat, um die komplementäre Frage danach ergänzt werden, welche Rolle denn die Literatur für die Ausdifferenzierung des Populären gespielt hat, und eben darauf hebt die Doppelung von ›in‹ und ›an‹ im Titel dieses Beitrags ab. Die Argumentation bewegt sich also im Folgenden in einem strikt historisierten Raum wechselseitiger kommunikativer Zuschreibungen und Semantisierungen, wie er sich aufschlussreich mit Hilfe einer systemtheoretischen Optik entwerfen lässt.4 Weitere Komponenten des theoretischen Bezugsrahmens sind Modernisierungstheorien mit ihren je unterschiedlichen Perspektiven,5 mediengeschichtliche Überlegungen,6 Pierre Bourdieus Theorie der gesellschaftlichen Distinktionsmechanismen,7 und das breite Spektrum der in aufschlussreicher Weise kulturell-politisch verorteten Diskurse über das Populäre seit dem 18. Jahrhundert.8 Insbesondere der letztgenannte Punkt ist von zentraler Bedeutung, weil hier gerade in jüngerer Zeit unumstößlich klar geworden ist, dass das Populäre jenseits dessen, was sich für vergleichsweise breite Bevölkerungsschichten einfach so vollzieht, im größeren kulturellen und historischen Bezugsrahmen immer nur das ist, was vergleichsweise einflussreiche Schichten darüber kommunizieren – und hier kommt neben der Literatur auch und gerade dem breiteren Diskurs der intellektuellen Meinungsführer unterschiedlichster Couleur und dem sich später ausdifferenzierenden Bereich der akademischen Cultural Studies zentrale Bedeutung zu. Die Literatur also, dass ist die eine These, etabliert in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts überhaupt erst ein bestimmtes Verständnis des Populären, das sie anschließend immer wieder inszeniert und weiterentwickelt, so dass sich unser Verständnis dessen, was das Populäre ist, zu einem Gutteil eben dieser Ausdifferenzierung des Populären in der Literatur verdankt. Andererseits aber, und dies ist die zweite These, ist die moderne Literatur seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kein genuin populäres Phänomen. Sie oszilliert vielmehr auf prekäre Weise 3 | Für einen ausführlichen Überblick siehe Reinfandt: »Historicising the Popular«. 4 | Vgl. hinsichtlich zentraler Annahmen und Vorarbeiten Reinfandt: Romantische Kommunikation und Huck und Zorn (Hg.): Das Populäre der Gesellschaft. 5 | Vgl. dazu die aufschlussreiche Überblicksdarstellung in Degele und Dries: Modernisierungstheorien. 6 | Vgl. etwa Lury: »Popular Culture and the Mass Media« sowie Helmstetter: »Der Geschmack der Gesellschaft«. 7 | Vgl. Bourdieu: Die feinen Unterschiede. 8 | Vgl. etwa Shiach: Discourse on Popular Culture und Storey: Inventing Popular Culture.
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zwischen ihrem Streben nach Distinktion als Kunst und ihrem Anspruch, für alle zu sprechen. Die Rolle des Populären in der Literatur muss vor diesem Hintergrund widersprüchlich bleiben, es ist etwas, wonach die Literatur zugleich strebt und nicht strebt, etwas, dass sie für sich nur in Überwindung real existierender Formen des Populären reklamieren kann. Es geht hier um einen Mehrwert jenseits der reinen Unterhaltung, es geht darum, als Literatur nicht nur Soothing Music for Stray Cats bereitzustellen, wie es der Titel eine jüngst erschienenen (Pop-?)Romans treffend formuliert, sondern womöglich die Cats von Abwegen auf gültige Wege (in welchem Sinne auch immer) zurückzulocken.9 Und so, wie sich die Literatur in diesem Sinne am Populären abarbeitet, so kommt es eben auch zu einer Ausdifferenzierung des Populären an der Literatur.
D AS P OPUL ÄRE IN DER L ITER ATUR Lässt man vor seinem geistigen Auge die Geschichte der englischen Literatur Revue passieren, so zeigt sich, dass empirisch nachweisbare Popularität im Sinne eines deutlichen Ansprechens breiter Bevölkerungsschichten eher die Ausnahme als die Regel war. Die wenigen Beispiele, die einem sofort einfallen, also etwa das elisabethanische Theater oder die Popularität Shakespeares im Amerika des 19. Jahrhunderts,10 lassen sich nur mit Einschränkungen dem engeren, auf eine vergleichsweise private oder gar intime Beziehung zwischen Leser und Text ausgerichteten Literaturbegriff zuordnen, wie er sich mit der Romantik endgültig durchsetzte. Im Folgenden stehen deshalb die Lyrik und der Roman im Mittelpunkt der Überlegungen.
a) Lyrik Am Beispiel der Lyrik als Gattung lässt sich zunächst das Problemfeld besonders aufschlussreich explizieren, ist sie doch einerseits wiederholt als ›Paradigma der Moderne‹ identifiziert worden, während andererseits die Wahrnehmung einer gewissen kulturellen Randständigkeit seit dem 18. Jahrhundert zunehmend an Gewicht in der Gattungsreflexion gewinnt.11 Wie passt das zusammen? Die Lyrik im modernen Sinne lässt sich in ihrer kulturellen Funktionalität als Medium der modernen Subjektivität begreifen, das sich zunächst im Rahmen der Vorgaben höfischer Kultur ausdifferenziert – zu denken ist etwa an die europaweite Mode des 9 | Vgl. Joso: Soothing Music for Stray Cats. 10 | Vgl. dazu Levine: »William Shakespeare in America«. 11 | Vgl. zu Lyrik als Paradigma der Moderne insbes. Iser (Hg.): Immanente Ästhetik, ästhetische Reflexion, Homann: Theorie der Lyrik, Hühn: Geschichte der englischen Lyrik sowie zusammenfassend und weiterführend im Sinne einer kulturellen Einbettung Reinfandt: Romantische Kommunikation, 89-234 und Jahraus: Literatur als Medium, 554-577.
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sonneteering im petrarkistischen Stil12 – um sich dann stark zu individualisieren, sei es im Hinblick auf die Liebesbeziehung wie in Shakespeares Sonetten, im Hinblick auf die individuelle Glaubenserfahrung wie bei den metaphysical poets, oder im Hinblick auf alle möglichen Thematiken, wie etwa bei John Milton. Obwohl die hier gerade im Medium des Sonetts präfigurierte Privatheit der individuellen Erfahrung auch in gewissem Maße allgemeine Zugänglichkeit und damit Popularität suggeriert, eröffnet sich jedoch auch ein fundamentales Problem: Warum sollte die Erfahrung eines Einzelnen kulturell relevant sein? Worin begründet sich die Autorität des Autors in diesem modernen Sinne? Die Neoklassizisten in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gingen diese Frage einfach normativ an – das Subjektive wurde hier unter striktem Rückgriff auf das Imitationsmodell der Autorschaft einfach ausgeklammert, mit der Konsequenz, dass sich Literatur im neoklassizistischen Sinne eindeutig und elitär auf eine kosmopolitische Deutungsgemeinschaft einschlägig gebildeter Menschen beschränkte. Die Dichtung der Empfindsamkeit hingegen hatte in ihrem Bemühen, das Inspirationsmodell der Autorschaft für die Repräsentation alltäglicher Erfahrung und mitunter sehr extremer Emotionen in Dienst zu nehmen, Schwierigkeiten, volle kulturelle Legitimität für sich zu reklamieren.13 Erst mit der Romantik gelingt eine Versöhnung der beiden Orientierungen unter modernen Prämissen – allerdings um den Preis der Paradoxie, das fortan Jedermann als etwas Besonderes und potentieller Dichter anerkannt wurde, während zugleich eben doch Distinktionsmerkmale des Literarischen gewahrt bleiben mussten. Wie kann das gelingen? Kann das gelingen? William Wordsworths epochemachendes Vorwort zur zweiten Ausgabe der von ihn gemeinsam mit Samuel Taylor Coleridge konzipierten und verfassten Lyrical Ballads aus dem Jahre 1800 ist in dieser Hinsicht höchst aufschlussreich. In zuvor noch nie da gewesener Art und Weise speist sich die hier vorgetragene Programmatik einer neuen Art von Dichtung aus dem Rohmaterial einer »plainer and more emphatic language [as spoken in] [l]ow and rustic life,« die sich Wordsworth als ›natürlicher‹ und von den korrumpierenden Einflüssen der Modernisierung weniger belastet vorstellt.14 Die Wurzeln der Literatur werden hier radikal neu verortet. Es ist nicht länger eine normative Tradition, die die Rahmenvorgaben setzt, sondern vielmehr die populäre Kultur, wie sie sich Wordsworth und viele neben und nach ihm idealisierend als folk culture vorstellten.15 Allerdings ist die Kehrseite der Idealisierung die Angst vor der Realität des Populären, und über weite Strecken beschäftigt sich das ›Preface‹ mit nichts anderem als der Frage, wie man durch diese Realität ›hindurch‹ zum Wahren, Guten und Schönen vorstoßen könnte. Grundsätzlich wird für dieses Projekt die Vernunft in Anspruch genommen. Die Lyrical 12 | Vgl. etwa Oppenheimer: The Birth of the Modern Mind. 13 | Zu den Grundmodellen von Autorschaft in der westlichen Kultur vgl. Kleinschmidt: Autorschaft. Konzepte einer Theorie und Jannidis et al. (Hg.): Rückkehr des Autors. 14 | Zitiert nach Mellor und Matlak (Hg.): British Literature 1780-1830, 575. 15 | Vgl. dazu Storey: Inventing Popular Culture, 1-15.
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Ballads seien, so heißt es etwa gleich zu Beginn, »an experiment […] to ascertain, how far, by fitting to metrical arrangement a selection of the real language of men in a state of vivid sensation, that sort of pleasure and that quantity of pleasure may be imparted, which a poet may rationally endeavor to impart.«16 Die Vernunft also soll gewährleisten, dass der lebende Sprachgebrauch in angemessener Qualität, und das heißt vor allem auch: ohne Emotionsexzess re-präsentiert wird, und das Medium dieser Glättung ist das Metrum: [I]f the words by which […] excitement is produced are in themselves powerful, or the images and feelings have an undue proportion of pain connected to them, there is some danger that the excitement may be carried beyond its proper bounds. Now the co-presence of something regular, something to which the mind has been accustomed when in an unexcited or a less excited stage, cannot but have great efficacy in tempering and restraining the passion by an intertexture of ordinary feeling.17
Mit einem Taschenspielertrick hat Wordsworth hier die Vernunft mit der Gewöhnlichkeit des Populären kurzgeschlossen und beide als Maßstab in das Ungewöhnliche der Dichtung hinübergespielt, deren metrisches Arrangement fortan dafür sorgt, dass sich die Authentizität der »real language of men in a state of vivid sensation« voll enfalten kann, nämlich »purified indeed from what appears to be its real defects, from all lasting and rational causes of dislike or disgust.«18 Was wir hier beobachten, ist die Transformation des Populären in eine reinere Sphäre seiner Repräsentation, eine Transformation, die einhergeht mit einer Ausblendung von Kontingenz und einer Fortschreibung von Normativität. Der Dichter ist in diesem Sinne zwar einerseits »man speaking to men,« andererseits aber a man, it is true, endued with more lively sensibility, more enthusiasm and tenderness, who has a greater knowledge of human nature, and a more comprehensive soul, than are supposed to be common among mankind, a man […] who rejoices more than other men in the spirit of life that is in him, delighting to contemplate similar volitions and passions in the goings-on of the Universe, and habitually impelled to create them where he does not find them.19
16 | Mellor und Matlak: British Literature 1780-1830, 573f. (eigene Hervorhebung). 17 | Ebd., 580. 18 | Ebd., 575 (eigene Hervorhebung). 19 | Ebd., 577 (Kursivdruck im Original zur Markierung einer im Jahre 1802 hinzugefügten Passage).
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Der Dichter ist fortan, um mit George Orwell zu sprechen, ›more equal than others,‹ oder, wie Wordsworth es formuliert, »[not] differing in kind from other men, but only in degree.«20 Was bedeutet dies für das Verhältnis von Literatur und Popularität? Zunächst einmal zeigt sich deutlich, dass sich die romantische Literatur ihre eigene Popularität konstruiert, diese dann anschließend für sich selbst reklamiert und daran auch festhält, wenn sich die Welt davon nicht beeindrucken lässt. »The proof of a poet is that his country absorbs him as affectionately as he has absorbed it,« schreibt etwa Walt Whitman euphorisch in seinem ›Preface‹ zur Erstausgabe seiner Leaves of Grass 1855. Schon ein Jahr später wird daraus jedoch ein verschnupftes »The proof of a poet shall be sternly deferred till his country absorbs him as affectionately as he has absorbed it.« Im Wiederabdruck des ›Preface‹ im Jahre 1882 ist die Passage zum ›proof of a poet‹ schließlich ganz verschwunden.21 Und auch Wordsworths ›Preface‹ ist in diesem Sinne eher eine Reaktion auf das Ausbleiben real existierender Popularität als ihr Reflex. Literarische Popularität nach der Romantik ist also eine Art, to coin a phrase, ›virtuous virtuality,‹ die auf die Wirklichkeit zurückprojiziert wird, wo man sie etwa in ländlichen Balladen- und Liedtraditionen zu finden vorgibt, oder im häuslichen Setting der conversation poems. Beispiele dieser Spielart der romantischen Lyrik versammeln sich unter dem Banner einer ›neuen Natürlichkeit,‹ deren ideologische Funktion eben darin besteht, die Existenz und die Popularität einer vorgängigen, von Modernisierungsprozessen nicht korrumpierten Realität zu beglaubigen, die den unentfremdeten Ursprung der Dichtung bildet, während es sich in Wirklichkeit eben nur um eine Konstruktion handelt.22 Andererseits aber, und hier liegt die Ursache der Entfremdung zwischen (post-)romantischer Literatur und Popularität, ist das Neue der romantischen Lyrik ihre intensive Bearbeitung der Beziehung zwischen subjektiver Erfahrung und den zur Verfügung stehenden ›Ausdrucksmedien.‹ Sprache wird hier eben nicht nach Maßgabe ihrer ›Natürlichkeit‹ sondern vielmehr in ihrer jeweils spezifischen Formung als Chance und Problem aufgefasst, und die intensive Auseinandersetzung der Romantiker mit Fragen der poetischen Form, wie sie sich etwa in Sonetten und formal ambitionierten Oden oder den Experimenten der für die englische Romantik so charakteristischen composite orders (Stuart Curran) findet, begründet eine völlig neue, in ihrer Dynamik spezifisch moderne literarische Tradition.23 Der damit verbundene Paradigmenwechsel von normativer Tradition zu Originalität und Innovation als Leitideen der Literatur zieht unweigerlich formale Verfremdung nach sich, und die damit einhergehende Schwierigkeit der Lyrik wiederum führt zur Entfremdung des Lesers und abnehmender Popularität. Was bleibt, ist 20 | Ebd., 579 (Kursivdruck im Original zur Markierung einer im Jahre 1802 hinzugefügten Passage). 21 | Vgl. Railton: »›As If I Were with You‹ – The Performance of Whitman’s Poetry«, 13; 26. 22 | Vgl. dazu Reinfandt: Englische Romantik, 73-102. 23 | Vgl. ebd., 102-130.
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bis zum heutigen Tage der Anspruch der Lyrik, eine ›irgendwie‹ besonders dichte Erfahrungsrepräsentation zu sein, ob der Fokus dabei nun auf der subjektiven Erfahrung selbst (wie bei den confessional poets) oder auf der Beziehung von Sprache und Erfahrung (wie etwa bei den L=A=N=G=U=A=G=E poets) liegt – eine breite Leserschaft jedenfalls gab und gibt es nicht, wenn nicht der Schritt ins Performative und in andere Medien jenseits von Schrift und Buchdruck vollzogen wird, wie etwa im Falle der ›alternativen‹ Lyriktradition der Liedtexte.24
b) Roman Etwas anders liegt der Fall beim Roman, der sich von Beginn an genuiner Popularität im quantitativen Sinne erwehren musste. Wie ein roter Faden zieht sich durch die Vorworte der frühen Romane ein Legitimierungsdiskurs, der etwa in Defoes Robinson Crusoe (1719) betont, dass es sich um eine wahre Geschichte handele, die »with modesty, with seriousness, and with a religious application […] to the instruction of others« vorgetragen werde, während die Leserschaft doch tatsächlich wohl schon immer eher an »[t]he wonders of this man’s life [which] exceed all that is found extant« interessiert war. Und es ist sicher kein Zufall, dass das Vorwort eben diese Eigenschaften des Textes anpreist, bevor es auf das moralisch Exemplarische zu sprechen kommt.25 Ebenso ist anzunehmen, dass sich das Leserinteresse an dem Harry Potter des 18. Jahrhundert, Samuel Richardsons Roman Pamela (1740) mit all seinen spin-offs, eher auf das Schlafzimmer und das Innenleben junger Damen als auf Virtue Rewarded richtete.26 Und Henry Fielding schließlich verschiebt den Akzent von der Moral zur Ästhetik, wenn er durch Verwendung des Adjektivs ›eleemosynary‹ im ersten Satz von Tom Jones (1749) deutlich macht, dass zwar prinzipiell jeder gegen Bezahlung zu dem dann im ersten Kapitel vom authorial narrator angekündigten Festmahl des Romans eingeladen ist, Bezahlung allein aber nicht reicht: ein angemessenes Bildungsniveau muss mitgebracht werden, und dies überrascht nicht, wenn man bedenkt, dass Fielding in seinem früheren Roman Joseph Andrews (1742) die Legitimation der neuen Gattung des fiktionalen Erzählens durch dessen Beschreibung als »comic epic-poem in prose« in direktem Anschluss an den Diskurs des Neoklassizismus unternommen hatte.27 Auch der von Ian Watt in seiner klassischen Studie The Rise of the Novel (1957) als Zentralmerkmal der neuen Gattung Roman beschworene formal realism geht also mit Reinigungsbewegungen gegenüber der realen Realität einher, und zu viel Popularität tut der Respektabilität der neuen Gattung ebenso wenig gut wie die Darstellung extremer Emotionen in empfindsamen Romanen und Schauerroma24 | Vgl. dazu Eckstein: »The Culture of Lyrics« sowie ausführlich Eckstein: Reading Song Lyrics. 25 | Zitiert nach Defoe: Robinson Crusoe, 7. 26 | Vgl. dazu Keymer und Sabor: Pamela in the Marketplace. 27 | Zitiert nach Fielding: Tom Jones, 27 und Fielding: Joseph Andrews, 25.
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nen. Nach der in der traditionellen Literaturgeschichtsschreibung immer wieder beschworenen ›Krise des Romans‹ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts greifen diese Reinigungsimpulse erst mit einer Rückorientierung zum Realismus wieder, wie sie etwa Jane Austen eingeleitet hat. Die Extreme der Empfindsamkeit und der Schauerromantik hingegen bleiben zwar populär, gelten aber fürderhin als tendenziell nicht mehr literaturwürdig. So liest man etwa in den Spirit of the Public Journals for 1797 folgendes satirisches Rezept: Take – An old castle, half of it ruinous. A long gallery, with a great many doors, some secret ones. Three murdered bodies, quite fresh. As many skeletons, in chests and presses. An old woman hanging by the neck; with her throat cut. Assassins and desperadoes, quant. suff. Noises, whispers, and groans, threescore at least. Mix them together, in the form of three volumes, to be taken at any of the watering places, before going to bed. 28
Und Coleridge nörgelt in seiner Biographia Literaria (1817) über die Popularisierung des Romans: »[A]s to the devotees of the circulating libraries, I dare not compliment their pass-time, or rather kill-time, with the name of reading.«29 Deutlich erkennbar ist hier eine Absetzbewegung der Literatur von der schnöden populären Unterhaltung, obwohl doch die moderne Literatur strukturell durch ihre Orientierung am literarischen Markt eines interessierten Publikums immer auch eine Unterhaltungsfunktion hatte und hat, wie man insbesondere aus systemtheoretischer Sicht argumentieren kann.30 Klar ist aber auch, dass die Unterhaltungsfeindlichkeit der Literatur mit dem Modernismus ihren Höhepunkt erreicht, und dass sich erst im Postmodernismus nach Leslie Fiedlers Motto »Cross the Border – Close that Gap!« ein entspannteres Verhältnis einstellt. Der Roman ist dabei hinsichtlich des Verhältnisses von Literatur und Popularität auf eine andere Art signifikant als die der fortschreitenden Spezialisierung der modernen Literatur stärker ausgesetzte Lyrik: Durch seine Komplizenschaft mit der emergence of prose als dominanter signifiying practice der Moderne im 18. Jahrhundert ist der Roman einerseits sozusagen kulturell für hohe Signifikanz und Relevanz autorisiert.31 Andererseits bietet er in seiner prosaischen Kontinuität mit allen erdenklichen Diskursen größtmögliche Anschlussmöglichkeiten für alle erdenklichen Muster des
28 | Zitiert nach Greenblatt (Hg.): The Norton Anthology of English Literature, 602. 29 | Zitiert nach ebd., 606 (Hervorhebungen im Original). 30 | Vgl. dazu Reinfandt: Der Sinn der fiktionalen Wirklichkeiten, 25-29. 31 | Vgl. dazu Kittay und Godzich: The Emergence of Prose.
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Populären, insbesondere in narrativer Hinsicht.32 Der Roman kann also beides: er kann das Populäre konstruieren und reflektieren (wie es etwa der Pop-Roman tut), und er kann genuin populär sein – auch wenn er dann Gefahr läuft, nicht mehr als ernstzunehmende Literatur zu gelten.
2) D AS P OPUL ÄRE JENSEITS DER L ITER ATUR Wo bleibt nun bei all dem das Populäre der modernen Gesellschaft? Deutlich geworden ist, dass es außerhalb der Literatur liegt und sich dennoch in seinen Selbstund Fremdbeschreibungen aus den Vorstellungen speist, die sich die moderne Literatur im Kontext der wirkmächtigen, auf Fragen der kulturellen Konstituierung von Subjektivität ausgerichteten Diskursformation Romantik von ihm gemacht hat. Diese Vorstellungen sind paradoxerweise zugleich von Idealisierung und Ausgrenzung geprägt, und man könnte vielleicht wortspielerisch argumentieren, dass diese Paradoxie in der Doppeldeutigkeit des Wortes ›Vorstellung‹ im Deutschen gut erfasst ist: ›Vorstellung‹
? Popularität Performanz Medienvielfalt Starkult
? Literatur Imagination Text/Universalpoesie Autorschaft
institutionelle Vernetzung
›Autonomie‹
kollektive Individualität
Individualität
Öffentlichkeit soziale Einbettung
Privatheit Freiheit, Transzendenz
Abbildung 1: ›Vorstellung‹ Die Literatur, so zeigt sich hier – und das grenzt sie in der Tat vom Theater ab und macht ›romantisches Drama‹ zu einer so umstrittenen und problematischen Gattung33 – schafft sich einen Bedeutungshorizont, der soziokulturelle Bedingun32 | Vgl. etwa Berger: Narratives in Popular Culture, Media and Everyday Life, und Nash (Hg.): Narrative in Culture. 33 | In der Tat lässt sich eine vergleichbare Gegenüberstellung erstmals für die Abgrenzung der modernen Literatur vom Theater in der Romantik aufmachen. Vgl. dazu Reinfandt: Englische Romantik, 153-172. Zum Wortspiel, aber mit deutlichem Akzent auf der rechten Seite des Schemas, siehe auch Hörisch: Ende der Vorstellung.
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gen programmatisch transzendiert. In ihrem Reich der Imagination firmiert das Populäre in idealisierter Form als Hort der Authentizität. Genuine Popularität hingegen ist unter modernen Bedingungen weniger der Einbildungskraft als vielmehr der kulturellen Performanz in ganz unterschiedlichen Registern geschuldet, sei es ganz konkret als Aufführung und Inszenierung, oder aber als Repräsentation in verschiedenen medialen Formaten mit ihren jeweils anschließenden Praktiken. In zugespitzter Form findet sich dieser Gegensatz in der Gegenüberstellung von folk culture und mass culture im Discourse on Popular Culture seit dem 18. Jahrhundert und in den aus dieser Tradition gespeisten Cultural Studies des 20. Jahrhunderts.34 Das Problem ist jedoch, und das ist der Punkt der Gegenüberstellung, dass sich beide Bereiche gar nicht sauber voneinander trennen lassen. So wie die moderne Literatur ihren Selbststilisierungen zum Trotz immer auch qua Schrift, Buchdruck, Vermarktung und Lektüre in das Spiel kultureller Performanzen eingebunden ist, so spielt auch noch das entfremdetste massenkulturelle Produkt der Kulturindustrie mit den Vorstellungen von Authentizität, wie sie seit der Romantik entwickelt und entfaltet worden sind. »Es gibt kein richtiges Leben im Falschen,« hat Adorno in seinen Minima Moralia (1951) betont, aber gibt es ein falsches wenn das Richtige ein Fantasma ist? Auch Adorno war eben ein Romantiker.
3) S OOTHING M USIC FOR S TR AY C ATS ? Ich breche die allgemeinen Überlegungen an diesem Punkt ab und versuche, meine Gedanken mit einem Beispiel weiterzuführen und zum Abschluss zu bringen, nämlich dem bislang nur beiläufig erwähnten titelgebenden Debütroman von Jayne Joso, Soothing Music for Stray Cats: Sowohl das Cover als auch der Romananfang machen hier deutlich, dass wir es ganz im Sinne Adornos mit dem falschen Leben im Falschen zu tun haben. Während auf der Umschlagsillustration (vgl. Abb. 2) sowohl der Protagonist als auch das unbeachtet neben und hinter ihm liegende ikonische London mit den Houses of Parliament und Westminster Abbey pointilistisch fragmentiert und schemenhaft erscheinen, markiert der Romananfang eine Lebens- und Sinnkrise: My name is Mark Kerr, I’m 35, and one of what my dad calls ›Thatcher’s youth, and the generation who thought they could have it all.‹ I don’t even know what that means anymore, I’m not sure I ever did. And now that my friend, Jim Jakes, has jumped from a window on the twentieth floor, all I do know is, I’ve been living the wrong life. I guess Jim was too. (9) 35
34 | Vgl. Shiach: Discourse on Popular Culture, 1-31. 35 | Seitenangaben im Text beziehen sich auf Joso: Soothing Music for Stray Cats (vgl. Fußnote 9).
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Abbildung 2: Umschlagsillustration Das ›falsche‹ Leben und der Tod liegen hier also nahe beieinander. Was aber wäre das ›richtige‹ Leben? Der Erzähler kommt hier sofort auf Kindheits- und Jugenderinnerungen und eine damit verbundene, als ›authentisch‹ stilisierte Praxis aus dem Bereich der populären Kultur zu sprechen: »When we were kids, me and Jim, we dreamt of writing songs together. We should have tried, should have given it a go, and written the songs, and lived the lives we wanted to.« (Ebd.) Am Beginn des Romans steht also der Gegensatz von Authentizität und Entfremdung, von folk culture und mass culture, wie er seit der Romantik in unterschiedlichen kulturellen Registern ausgebildet und durchgespielt wurde, und die jüngste Inkarnation der negativen Seite dieser Entwicklung ist am Ende des 20. Jahrhunderts im britischen Kontext der Thatcherismus mit seiner ideologischen Präferenz für einen radikalen Individualismus und Materialismus. Schon im dritten Absatz des Romans beschreibt der Erzähler programmatisch die entfremdete Existenzform des Menschen am Beginn des 21. Jahrhunderts:
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C HRISTOPH R EINFANDT The thing is, you’re supposed to keep passing the open window. But once you need to keep passing it, in some ways it’s already too late – because you start to notice it in that particular way, and then you notice it more, and the pull gets greater, and then you’re stuck with finding ways of passing it, dodging it, putting it off, until finally it pretty much sucks you out. (Ebd., Hervorhebungen im Original)
Bereits hier sieht der Leser den Erzähler-Protagonisten am Rande seines eigenen Selbstmords, und das Motiv des geöffneten Fensters taucht im Verlauf des Romans immer wieder auf.36 Von hier aus entfaltet sich ein nicht besonders origineller Plot, in dem Mark Kerr nach der Beerdigung seines Freundes während der Heimfahrt im Zug spontan beschließt, aus seinem bisherigen Leben auszusteigen. So erfährt weder seine derzeitigen Lebensabschnittsgefährtin Doris noch Jules, die Schwester seines toten Freundes, der er während der Trauertage näher gekommen ist, von seinem Entschluss, das Angebot eines entfernten Bekannten anzunehmen, dessen Wohnung in London zu hüten, während dieser ins Ausland geht. Auslöser dieser Entscheidung ist die Bahnreise als Nicht-Ort im Sinne Marc Augés, die den Protagonisten aus zeitlichen und örtlichen Bindungen löst und auf sich selbst zurückwirft.37 Alles davor liegende wird abgestreift, und der Roman erzählt, trotz des prinzipiell retrospektiven Charakters der Ich-Erzählung in Vergangenheitsform überwiegend im Modus des erlebenden Ichs gehalten, von den nach diesem Nullpunkt liegenden Bekanntschaften Mark Kerrs. In der Reihenfolge ihres Auftretens sind dies (und auf dieser Ebene kann der Roman dann einige Originalität für sich reklamieren): • ein kleiner schwarzer Junge, »the blackest little kid I’d ever seen« (29), der im Zug die Passagiere mit einer gesanglichen Improvisation über die Worte »I’m black« (29-33) unterhält, die ihren Höhepunkt beim Aussteigen in dem Ausruf »I’m blue!« (33) erreicht und von Mark (im Gegensatz zu anderen Passagieren) nicht als ›child‹ sondern, vielleicht in unbewusster Anerkennung der konstitutiven Rolle des Blues für die populäre Musik, als ›song writer-genius-in-the-making‹ (32, alle Hervorhebungen im Original) interpretiert wird, • eine ältere Dame, mit der Mark im Zug sein Paperback von Italo Calvinos Invisible Cities gegen ein Paperback von Virginia Woolfs Mrs Dalloway tauscht, • Ron Pope, der Besitzer der Designereigentumswohnung in London, der mit dem in seiner CD-Sammlung dokumentierten schlechten Musikgeschmack bei 36 | Das Leitmotiv des ›passing the open window‹ in Soothing Music for Stray Cats verweist auf einen der populärsten Middle Brow-Romane der letzten Jahrzehnte, John Irvings The Hotel New Hampshire (1981), der die Formulierung ebenfalls als Leitmotiv verwendet und mit dem Satz »You have to keep passing the open windows« schließt. Ich danke Chri stian Huck für diesen Hinweis. 37 | Vgl. Augé: Orte und Nicht-Orte.
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Spitzen-Hifi-Equipment all das repräsentiert, dem Mark Kerr zu entkommen versucht, • Mike, Bono und Joe, drei Heranwachsende aus zerrütteten sozialen und familiären Verhältnissen, die Mark Kerr unter seine Fittiche nimmt, und schließlich • Kazuhiro Watanabe, kurz Kazu, ein japanischer Austauschstudent mit Selbstmordabsichten, der sich als Experte für die Weisheit der Samurai und Kricket erweist. Mit dieser Figurenkonstellation verweist der Roman auf exzentrische Weise insbesondere auf race und class als zentrale Problemfelder der Gegenwart, ohne diese jedoch in den Mittelpunkt zu stellen. Der Plot dreht sich vielmehr, so scheint es zunächst, darum, dass Mark Kerr sich selber findet, indem er anderen hilft: Er holt Mike, Bono und Joe von der Strasse und hält Kazu vom Selbstmord ab, indem er letzteren zum Krickettrainer und erstere zu seiner Mannschaft erklärt. Jenseits aller sozialen Zwänge ergibt sich so eine Fünfergemeinschaft, die unter Rückgriff auf das im Roman leitmotivisch auftauchende Wort mate als authentisch markiert wird (vgl. 187). Ausgerechnet der labile Kazu ist es dann, der Mark zur Rückkehr in ›sein‹ Leben auffordert, nachdem er dessen nicht abgeschickte Postkarten an Jules gelesen hat. Mark wertet dies als sicheres Anzeichen dafür, dass Kazu seine Selbstmordpläne hinter sich gelassen hat, und macht sich auf den Weg – nur um dann festzustellen, dass man niemals in die Köpfe anderer Menschen hineinschauen kann. Unmittelbar nachdem er sich an der Euston Station von Mark verabschiedet hat, wirft sich Kazu vor einen Zug der Victoria Line. Mit dieser überraschenden Schlusswendung scheint Mark Kerr an den Anfang zurückgeworfen: Erneut hat sich ein ihm nahestehender Mensch das Leben genommen, und der konventionelle Plot der Überwindung seines durch den Selbstmord seines besten Freundes hervorgerufenen Traumas durch neue Beziehungen realisiert sich entgegen der Lesererwartung nicht. Dies gilt auch für die eigentlich geplante Hinwendung zu Jules und für den Plan, schließlich doch noch Lieder zu schreiben, wie dem Epilog unter dem Titel ›Notes from My Rough Book‹ zu entnehmen ist. Erst nach Monaten ist Mark zu ersten Schreibversuchen in dem Notizbuch fähig, das ihm Kazu für seine zukünftigen Lieder geschenkt hat, und die Einträge enden nach einigen fehlgeschlagenen Versuchen mit »Can’t do it, man, ain’t no songs in me –« und dem Hinweis, dass er immer noch hofft, irgendwann in der Zukunft den kleinen schwarzen Jungen und die ältere Dame wiederzutreffen, um ersterem sein rough book wiederzugeben, dass er damals im Zug vergessen hatte, und mit letzterer über Calvino und Woolf zu diskutieren (198). Trotz dieses deprimierenden Ausgangs erscheint der Roman allerdings keineswegs fatalistisch, zu vital und humorvoll ist der umgangssprachlich gehaltene Erzählerdiskurs ebenso wie dessen Engagement mit kulturellen Artefakten und Ereignissen der unterschiedlichsten Provenienz (und in dieser Hinsicht hat der Roman etwas Archivarisches im Sinne des Pop-Romans). Von der wiederholten Selbstidentifikation des Erzählers mit Dick Whittington, einem seit dem frühen 17.
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Jahrhundert dokumentierten Protagonisten des »Gehe nach London und mache dein Glück«-Plots, wie er in unzähligen Pantomimen und Theaterversionen Eingang in die populäre Kultur Englands gefunden hat, über Kindheitserinnerungen an Fernsehserien (Mr. Benn) und Lektüre (Winnie-the-Pooh) sowie Musicals, Filme und Popmusik bis hin zur Literatur; von historischen Ereignissen, wie sie sich etwa in der Nelsonsäule auf dem Trafalgar Square niederschlagen, bis hin zu Medienereignissen der Gegenwart wie etwa der Einhand-Weltumseglung Ellen Mac Arthurs 2005, die wiederum zusammenklingt mit Dr. Bradshaws letztlich nicht hilfreichem Ratschlag an Septimus Warren Smith in Virginia Woolfs Mrs Dalloway, er möge Abstand gewinnen, dann werde es ihm schon besser gehen, und zwei Passagen aus Moby Dick, die Mark geradezu als Verheißung erscheinen (»sublime uneventfulness invests you« und »lost in the infinite seas, with nothing ruffled but the waves«, 154): all dies und noch viel mehr ist sozusagen ständig als Bezugsrahmen für Mark Kerrs Erzählung präsent. Auffallend ist dabei, dass er durchweg aus der Vergangenheit schöpft und der Gegenwart eher ratlos gegenübersteht, wie eine Bestandsaufnahme des Lesestoffs in der U-Bahn deutlich macht: I looked about some more, there was a Stephen King, though I couldn’t quite see the title on that one; and that kid’s book that everyone’s reading, and then some book with a brown cover, The Code or something by some geezer called Brown, Dan Brown, that’s it – in fact I spotted three of those. Weird. (55)
Sozusagen unter der Hand schleicht sich hier dann eben doch das prekäre Verhältnis von Popularität und Literatur wieder ein: Zwar wird einerseits die Bedeutung aller kulturellen Praktiken und Repräsentationen, ob populär oder literarisch, in ihrer Bindung an die persönlichen Erfahrungshorizonte von Rezipienten vorbehaltlos anerkannt, und es ist gleichzeitig klar, dass all dies als Repräsentation in einem unüberbrückbaren Differenzverhältnis zum Lebensvollzug insgesamt steht, in dem zwischenmenschliche Beziehungen im Vordergrund stehen sollten. Auf dieser Ebene handelt es sich somit bei allen kulturellen Praktiken um ›Soothing Music for Stray Cats,‹ die zwar sowohl orientierend als auch unterhaltend wirkt und damit sowohl notwendig als auch angenehm ist, zugleich aber vom eigentlichen ablenkt. Und genau an diesem Punkt scheint dann andererseits der Literatur (und Literatur heißt hier in erster Linie: Roman) doch wieder eine besondere Leistungsfähigkeit zuzukommen, weil sie in ihrer Gesamtkomplexität näher an die Komplexität der Realität heranführen kann. Eben dies führt der Roman Soothing Music for Stray Cats selbst vor, wenn er jenseits der scheinbar so lockeren Narration mit ihren populären Anspielungen ein dichtes Netz von Leitmotiven entfaltet, das sozusagen als retrospektiver (oder auch fiktionaler) Mehrwert der Repräsentation deutlich macht, wie sich die Summe der Einzelphänomene und Einzelwahrnehmungen zu einem Ganzen fügen könnte, das auch das im wirklichen Leben nicht Wahrnehmbare einbezieht. Letzteres identifiziert der Erzähler unter Rückgriff auf sein Eröffnungsmotiv des auf jeden (oder zumindest jeden potentiellen Selbstmör-
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der) wartenden offenen Fensters wie folgt: »Was this whole idea of ›moments‹ really the key? Because there really is a moment just before the window sucks a person out […] The thing is, capturing those moments, seeing them, well maybe that’s too hard […].« (155f.) Und in der Tat gelingt es Mark Kerr nicht, den Moment zu sehen, in dem Kazu aus dem Fenster gesogen wird und auch dem Leser gelingt es beim ersten Lesen des Romans nicht notwendigerweise – und dennoch ist er da und kann in seiner Vernetzung identifiziert werden. Es ist in diesem Sinne kein Zufall, dass Mark Kerr den Moment, wenn auch zu spät, anhand eines der Leitmotive des Romans identifiziert: ›a private matter‹ steht auf dem Umschlag, den Kazu ihm zum Abschied gibt (196), und als ›a private matter‹ hatte Kazu seine Selbstmordabsichten zuvor auch schon einmal bezeichnet (150). Andererseits sind aber auch die Postkarten, die Mark an Jules geschrieben hat, »private matters« (169) und markieren damit die zwischenmenschliche Kommunikation und Nähe als Gegenpol zum Tod, wie ja auch Mark Kazus Selbstmordabsichten anfangs nur deshalb erkannt hat, weil dieser sie ihm mitgeteilt und um Hilfe bei der Durchführung gebeten hat (»I mean, I’d seen Kazu’s moment only because he’d thrust it, fuckin‹ neon lit, right into my face« 156). Und irgendwie hat Mark diese Hilfe ja auch geleistet, indem er Kazu die für ihn bis dahin unbekannte Erfahrung der Bedeutung des Wortes mate hat zukommen lassen, so dass er schließlich und paradoxerweise aus eigener Kraft zum Selbstmord fähig ist. Und hier läuft schließlich der letzte Motivstrang zusammen: Das Lied des schwarzen Jungen (»I’m black … I’m blue!«) wird in völlig anderem Zusammenhang wieder aufgenommen, wenn Kazu berichtet, dass in Tokyo Selbstmörder die orangene U-Bahnlinie bevorzugen, weil da die besten Chancen bestehen, dass ihre Angehörigen gar nicht oder nur in geringem Maße für die Reinigungsunkosten der Betreibergesellschaft aufkommen müssen – oder, wie Kazu zu bedenken gibt, »maybe they just like orange« (177). Wenn er dann kurz darauf beim Einschlafen vor sich hin murmelt »My favorite colour is blue« (ebd.), dann weist das einerseits zurück auf den schwarzen Jungen, dessen eigentliche Lieblingsfarbe, wie sein Vater betont, blau ist (30), und andererseits voraus auf seinen Selbstmord auf der Victoria Line, die auf allen Übersichtsplänen blau erscheint. Es geht hier, wie der Roman durch diesen Bezug ganz deutlich macht, um einen Akt der Selbstbestimmung, dessen ganze existentielle Notwendigkeit jenseits der Kommunikation im letzten Absatz vor dem Epilog deutlich markiert wird: »A woman traumatised, thought she’d heard him call out, but it made no difference, not like a cry for help, and the words, they’d made no sense, for he had called out softly, ›My favourite colour is blue.‹« (196) Nur die Literatur, so scheint der Roman zu sagen, kann auch in diesem scheiternden Akt der Kommunikation das vieldimensionale Netzwerk existentieller Selbstvergewisserung und Selbstbestimmung aufscheinen lassen und damit der Kommunikation zugänglich machen, und genau hier liegt ihre spezifische Qualität und Leistungsfähigkeit. Wie populär aber ein derartiger, bei einem kleinen Verlag in Wales erschienener Roman trotz seines Aufgreifens zahlreicher populärer Diskurse werden kann, muss an dieser Stelle offen bleiben.
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Die Genealogie des Populären im Zusammenhang des Nachgelassenen Monika Gomille
Bei den aktuellen Diskussionen des Populären steht häufig dessen massenkulturelle und mediale Dimension im Vordergrund. Die folgende historisierende Betrachtung des Populären bringt vor dem Hintergrund seiner Genese im Kontext der Wissenschaftsgeschichte des späten neunzehnten Jahrhunderts eine Reihe von Gesichtspunkten in Anschlag, die sowohl die (gegenwärtige) Wahrnehmung als auch die Analyse popkultureller Phänomene und deren Ästhetiken prägen; die dabei entstandenen, bis heute produktiven Ambivalenzen und ungelösten Spannungen, die Begriff und Konzept des Populären bestimmen, entstammen, so meine These, dem liminalen Dispositiv, das, wie ich im Folgenden zeigen möchte, die Genealogie des Populären grundiert. Das Folgende beleuchtet daher die Entfaltung des Konzeptes des Populären in den letzten drei Dezennien des neunzehnten Jahrhunderts und damit in einem wissenschaftshistorisch einzigartigen, durch vielschichtige Grenz(be)ziehungen und –überschreitungen zwischen der erst im Entstehen begriffenen Wissenschaftsdisziplin der Anthropologie und der Literatur gekennzeichneten Zeitraum. Die Bedeutung dieses liminalen Prinzips ist für den literarischen Modernismus von Autoren wie William B. Yeats (1865-1939), Ezra Pound (1885-1972), James Joyce (1882-1941), T.S. Eliot (1888-1965) und D.H. Lawrence (1885-1930) ausführlich dargestellt worden1, während es in Bezug auf Definition und Konzept des Populären noch zu thematisieren ist. Der Charakter des Populären als Geschöpf einer Kontaktzone2 und damit einer komplexen Semantisierungsdynamik Unterworfenes kommt in heu1 | Yeats, Pound, Joyce, Eliot und Lawrence wurden nach Crawford von Walter Paters kulturtheoretischen Schriften (vgl. Crawford: »Pater’s Renaissance«, 849) geprägt; zum Einfluss von James G. Frazers Hauptwerk The Golden Bough (1890) auf die klassische Moderne vgl. den von Robert Frazer herausgegebenen Band: Frazer (Hg.): Sir James Frazer and the Literary Imagination. 2 | Vgl. Pratt: Imperial Eyes.
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M ONIKA G OMILLE
te ungewöhnlich erscheinenden Umgebungen zum Ausdruck: So erscheint 1869 in der Zeitschrift Fortnightly Review beispielsweise das Künstlerporträt »Notes on Leonardo da Vinci«3 des Oxforder Gräzisten und Schriftstellers Walter Pater (18371909), begleitet von einem Gedicht des ästhetizistischen Dichters Charles Swinburne (1837-1909) und dem zweiten Teil einer Abhandlung über das die Anfänge der wissenschaftlichen Anthropologie dominierende Thema des Totemismus, deren Verfasser John Ferguson McLennan (1827-1881) seine anthropologischen Beobachtungen einer 1823-1841 unter dem Titel The Last of the Mohicans erschienen Sammlung von Erzähltexten Charles Fenimore Coopers (1789-1851) entnommen hatte.4 Diese die auf die literarischen Ursprünge der Anthropologie5 verweisende Gemengelage lässt sich durch den Hinweis auf den literarischen Stil des Golden Bough (1890) des Cambridger Altphilologen James G. Frazer (1854-1941) ergänzen, der die Anfangsjahrzehnte der Anthropologie prägte6 und dessen im Umkreis der Anthropologen John Ferguson McLennan, Edward Burnett Tylor (1832-1917) und William Robertson Smith (1846-1894) gewecktes kulturtheoretisches Interesse eine »anthropologische« Wende einleitete, die durch Artikel wie »Taboo« und »Totemism« (1888) für die von Smith herausgegebene Encyclopedia Britannica markiert ist.7 Im Zentrum des hier skizzierten, die Emergenz des Konzepts des Populären prägenden Kulturkontaktes steht ein schillernder und alles andere als unumstrittener Begriff: das kulturelle »survival«; er bildet den Kern des 1871 publizierten Werkes Primitive Culture des britischen Geologen und Archäologen Edward Burnett Tylor, das als Gründungsdokument der wissenschaftlichen Anthropologie gelten 3 | Der Leonardo-Aufsatz gehört in die Serie der unter dem Titel Studies in the History of the Renaissance (1873) zusammengefassten Essays, in denen Pater die Vorstellung einer kulturellen Wiedergeburt Italiens und Frankreichs auf der Grundlage der Rückwendung zur griechischen Kultur entwickelt; vgl. Dowling: »Walter Pater and Archaeology«, 210. 4 | Vgl. Crawford: »Pater’s Renaissance«, 849. 5 | Vgl. Frazer: »The Face beneath the Text«, 16. Eine bis in die Gegenwart reichende Sichtweise, die Frazers Rolle in der wissenschaftlichen Anthropologie eher im Bereich einer literarischen Tradition als eines wissenschaftlichen Diskurses situiert, unterschlägt die ›literarische‹ Vorgeschichte der späteren akademischen Disziplin. Frazers Hauptwerk The Golden Bough erschien in vier unterschiedlichen Editionen: die erste, zweibändige Ausgabe datiert von 1890; 1900 erschien sie in drei und zwischen 1906 und 1915 in 12 Bänden; schließlich wurde 1922 eine einbändige abgekürzte Edition veröffentlicht; vgl. Frazer: »A Note on Abbreviations«, xv. 6 | Crawford: »Frazer and Scottish Romanticism«, 19. Als einer der Gründe dafür wird die Prägung Frazers durch die schottische Romantik bzw. Sammlungen folkloristischer Materialien im Gefolge des Schaffens Sir Walter Scotts genannt, dessen Werke, insbesondere die mit antiquarischen Annotationen bestückte Magnum-Opus-Ausgabe Frazer bereits als Jugendlicher besaß; vgl. Crawford: »Frazer and Scottish Romanticism«, 20. 7 | Sie bildeten die Grundlage des Golden Bough, dessen Erstausgabe Smith gewidmet war; vgl. Frazer: »The Face beneath the Text«, 5.
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darf. Tylor war 1884 »Reader of Anthropology« an der Universität Oxford und erster Präsident der neu eingerichteten »Section for Anthropology of the British Association for the Advancement of Science«8 geworden. 1869 geprägt, markiert der Terminus »survival« die Anfänge einer Anthropologie, deren wichtigstes Studienobjekt das Populäre, verstanden als Wissen des gemeinen Volkes, bildete. Die »the lore of the people«9 genannte Wissenskultur, die unter dem Etikett »popular antiquities and literature«10 vormals das Interessengebiet gelehrter Sammler und kultivierter Amateure gebildet hatte, wurde mittels des von dem Antiquar William John Thoms (1803-1885) auf der Basis eines »good Saxon compound«11 1846 kreierten Neologismus »folk lore« in den Rang einer akademischen Disziplin erhoben, deren Gegenstände, wie aus einem Artikel im Athenaeum, einer Rezensionszeitschrift für Literatur, Wissenschaft und Künste, hervorgeht, »manners, customs, observances, superstitions, ballads, proverbs«12 bildeten. Konstitutiv für die »new science«13, zu deren Bezeichnung die Termini »Anthropology or Comparative Folk-Lore«14 synonym verwendet wurden und deren Untersuchungsobjekt »mankind from the time when the earth and the human family were young down to the present time«15 bildete, ist das evolutionistische Prinzip, das der Amerikaner Lee Vance anlässlich der Gründung der American Folkloristic Society 1896 umreißt, indem er feststellt: »[T]his science studies the progress of man in culture. It reveals the evolution of modern culture from the beliefs and usages of savages and simple-minded folk«.16 Die Voraussetzung für die Durchsetzung des evolutionistischen Schemas bildete Tylors Abwendung von der romantischen Dialektik von Verlust und Bewahrung, die populäres Wissen, »folk memory«17, in Form von Totenkulten, Festen, Volksmärchen usw. zum Gegenstand der Sammlung und Aufzeichnung gemacht hatte18, hin zu einem Prinzip der Selektion. Natürlich reicht die Genealogie des Populären 8 | Vgl. Kuklick: »Tribal Exemplars«, 59. Zur Entwicklung der Anthropologie von einem »amateur pursuit« zur wissenschaftlichen Disziplin vgl. ebd., 59-82. Tylors prägende Rolle in Hinsicht auf die Kulturtheorie ist die erstmalige Formulierung eines holistischen Kulturbegriffs; den ersten Satz von Primitive Culture bildet die Definition von Kultur als »that complex whole which includes knowledge, belief, art, morals, law, custom and any other capabilities and habits acquired by man as a member of society«; Tylor: Primitive Culture, 1; zit.n. Bronner: Following Tradition, 16. 9 | Ebd., 93. 10 | Zit. nach ebd., 93. 11 | Zit. nach ebd., 93. 12 | Ebd., 93. 13 | Lee Vance: »The Study of Folk-Lore«, 249; zit.n. Bronner, Following Tradition, 45. 14 | Vance: »The Study of Folk-Lore«, 249. 15 | Ebd. 16 | Ebd. 17 | Hodgen: The Doctrine of Survivals, 49. 18 | Vgl. ebd.
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weiter zurück. Nachgelassenes in Form materieller Spuren der Vorgeschichte oder überkommener, in der jeweiligen Gegenwart funktionsloser Praktiken und abergläubischer Einstellungen hatte bereits im siebzehnten Jahrhundert das Interesse des Dichters, Sammlers und Antiquars Sir Thomas Browne (1605-1682) geweckt und die dafür verwendeten Termini »remains«, »vestiges« oder »reliques«19 beherrschten den Diskurs über das Populäre noch bis ins späte neunzehnte Jahrhundert; bei der Assoziation dieser »survivals« mit rückständigen, isolierten Kulturen, wie sie sich in Tylors Primitive Culture ebenso findet wie in Frazers Golden Bough (1890), handelt es sich jedoch um Elemente eines romantischen Erbes. Es stellt, wie das Beispiel des als »peasant poet« bezeichneten Dichters John Clare (1793-1864) zeigt, die Sphäre des Populären, d.h. die Welt der Bauern und des einfachen Volkes, einer sich wandelnden übrigen Welt gegenüber.20 Die aus Sicht des Primitivismus des achtzehnten Jahrhunderts von der Zivilisation unberührte Welt des Populären hatte den Ausgangspunkt der komparatistischen Methode der Anthropologie gebildet21, die auf der Basis der von William Jones (1746-1794) begründeten vergleichenden Philologie von einer gemeinsamen Wurzel der Zivilisationen ausging.22 Gemäß dieser Logik konnte der Bereich des Populären – in eins gesetzt mit den außereuropäischen Zivilisationen der Gegenwart und ihren fremdartigen religiösen und kulturellen Praktiken und Glaubensformen – der zivilisatorischen Moderne als deren Anderes gegenübergestellt werden23; zum Ausdruck kommt dies etwa in Sir Walter Scotts (1771-1832) Roman Waverly (1814), der die Stammesführer der Highland Clans auf eine Zivilisationsstufe mit »African Negroes or Esquimaux Indians«24 stellt. Der konstitutive Akt der Konzeptualisierung des europäischen Populären und des außereuropäisch Fremden als nachgelassenes, der kulturellen Übersetzung unzugängliches Anderes, das die Anfänge der Anthropologie als Wissenschaftsdisziplin markiert und deren Praxis bis in die ersten Dezennien des 20. Jahrhunderts bestimmen sollte, vollzog sich, wie oben angedeutet, nicht ohne Einsprüche. Ich möchte deren Spektrum im Folgenden anhand des anthropologischen Entwurfs Paters erläutern. Er verleiht dem Terminus »survival«, der das Fortleben funktionsloser kultureller Praktiken und Formen (»continuance of a custom, observance etc. after the circumstances or conditions in which it originated or which 19 | Ebd. 20 | Vgl. ebd., 152. 21 | Vgl. ebd., 40ff. Bereits in Scotts Roman Rob Roy (1817) ist die mit dem romantischen Primitivismus des achtzehnten Jahrhunderts assoziierte Nebeneinanderstellung des »Primitiven« und des Zivilisierten zu finden; vgl. Crawford: »Frazer and Scottish Romanticism«, 21. Zur Geschichte des Primitivismus seit Giambattista Vico vgl. die Studie Frances S. Conollys‹: Conollys: The Sleep of Reason, 11ff. 22 | Vgl. Frazer: »The Face beneath the Text«, 5. 23 | Vgl. Fabian: Time and the Other. 24 | Vgl. Crawfords Hinweis, dass »[to] travel geographically in Scott’s work is frequently to travel in time«, Crawford: »Frazer and the Scottish Romanticism«, 21.
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gave significance to it have passed away«)25 als eine Aberration26 kultureller Evolution darstellt, wenige Jahre nach dem Erscheinen von Primitive Culture eine überraschende Volte, die ein bei Tylor unerklärtes, erratisches Element der Kultur als deren Fähigkeit zur Erneuerung umdeutet. Die Gedankenfigur der Wiedergeburt entwickelt Pater im Rahmen eines Essays, in dem er die Verarbeitung einer »popular tale« (Kursivierung M.G.) in der von dem englischen romantischen Dichter William Wordsworth (1770-1850) verfassten »Ode on the Recollection of Childhood« (1804/7) als »survival« bezeichnet.27 Während Pater mit der Vorstellung des Weiterlebens heidnischer Traditionselemente im populären Imaginären und in der Literatur, der Privilegierung populärer, d.h. »primitiver« Formen und kulturell isolierter Regionen primitivistische Denkfiguren aufnimmt, speist sich seine Ablehnung des teleologischen Modells28 aus seiner Theorie des Mythos bzw. der Kultur, als deren Ursprung er die agrarische Welt und damit die Sphäre des Populären betrachtet. Diese Sichtweise bringt ihn in die Nähe seines Cambridger altphilologischen Kollegen Frazer, dessen rund eineinhalb Jahrzehnte später erschienenes religionsgeschichtliches Werk The Golden Bough ebenfalls agrikulturell geprägte Bevölkerungsschichten29 und deren auf den jahreszeitlichen Wechsel bezogene religiöse Praxis als Ursprung der Kultur profiliert. Nach der Lektüre der Erstausgabe des Golden Bough, mit den ihn der Folklorist Edward Clodd (1840-1930) bekannt gemacht hatte, konnte Thomas Hardy (1840-1928) in einer Notiz festhalten, dass »the superstitions of a remote Asiatic and Dorset labourer are the same«.30 Hier 25 | Tylor: Primitive Culture, 166; zit.n. Hodgen: The Doctrine of Survivals, 40. 26 | Tylor verwendet hier den Begriff »unhealthy«; Tylor: Primitive Culture, 172; zit.n. Shuter: Rereading Walter Pater, 172. 27 | Vgl. Shuter, Rereading Walter Pater, 100. Seit dem 16. Jh. ist das Adjektiv »popular« als Synonym für »low standing« überliefert; sein Gebrauch bezieht sich auf mit »ordinary people« assoziierte kulturelle Formen vgl. Shiach: Discourse on Popular Culture. 28 | Paters Problematisierung des teleologischen Prinzips erhellt nicht zuletzt sein Gebrauch des Konzepts von Entwicklung als »a slow and natural growth, impeded here, diverted there«; Pater: »The Myth Demeter and Persephone«; zit.n. Dowling: »Walter Pater and Archaeology«, 215. Lang, dessen anthropologisches Interesse dem Totemismus galt, traf Tylor 1872; vgl. Crawford: »Pater’s Renaissance«, 864. 29 | Zentral für die dritte Auflage des Golden Bough sind die bäuerlichen Frühjahrsriten zu Ehren des Gottes Attis; die von Frazer behauptete Umwandlung des Vegetationsgottes in Christus (vgl. Frazer: »The Face beneath the Text«, 9f.) spiegelt die für Lang bzw. Pater charakteristische Idee des »refinement«, allerdings ohne deren ästhetizistische Komponente. 30 | Frazer: »Preface«, v. In seinem Roman Jude the Obscure (1895) beschreibt Hardy das Weiterleben heidnischer Traditionen im ländlichen Wessex; vgl. Frazer: »Preface«, v. Hardy traf Frazer 1901 bei einer privaten Veranstaltung; vgl. Frazer: »The Face beneath the Text«, 4. Langs Sicht der Kultur als Palimpsest ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert; er betrachtete »primitive elements in ballads and tales« als »gradually transmitted through a process of continuing refinement into higher mythological words, through the surface of
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lässt sich ergänzend das Modell Andrew Langs (1844-1912) anschließen, der wie Pater die in den Mythen überlieferten »survivals« nicht als kulturelle Degeneration, sondern als »refinement and apex of cruder materials«31 betrachtet. Der aus Glasgow stammende Schriftsteller, Übersetzer und Fellow des Oxforder Merton College hatte 1857 in Anlehnung an einen Roman Sir Walter Scotts die Oxforder Diskussionsrunde »Old Mortality« gegründet, zu deren Mitgliedern auch Swinburne32 und Pater zählten, der dort seine kulturtheoretischen Thesen vortrug.33 Pater fasst in einem 1876 veröffentlichten Essay den Mythos als »a peculiar creation of country people of high impressibility, dreaming over their work in spring or autumn«34 auf. Die Sphäre der »transactions between country-people and the earth they cultivate«,35 die in jenem vermeintlich eintönigen jahreszeitlichen Rhythmus des bäuerlichen Lebens vonstatten gehen, enthält nicht nur geheimnisvolle (»mystical«36), sondern vor allem dynamische Elemente, die sie zu einem Strukturmodell von Verhandlungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit37, in anderen Worten, der kulturellen Übersetzung machen. Der in Paters Mythenkonzept enthaltene kulturelle Relativismus wird anhand seiner Deutung des Demeter-Persephone-Mythos38 evident, den er als Verwandlung der in Asien bzw. dem Nahen Osten verbreiteten Göttin Gaia begreift.39 which traces of the original material could still be seen« (Crawford: »Pater’s Renaissance, 868); Lang war der Überzeugung, dass »all relics of folklore [...] do survive beneath a thin covering of Christian conformity«; Dowling: »Walter Pater and Archaeology«, 218. Dies verbindet sein kulturelles Konzept mit Paters Aufmerksamkeit gegenüber den in späteren (Populär-)Kulturen wahrnehmbaren »faint traces« (Pater: »Myth«, Fortnightly Review, 95; zit.n. Dowling: »Walter Pater and Archaeology«, 212) der Vorgängerkultur. 31 | Vgl. Crawford: »Pater’s Renaissance«, 867. Crawford stellt in diesem Zusammenhang fest, dass »anthropology and aestheticism merge«; ebd., 874. 32 | Vgl. ebd., 855f. 33 | Vgl. Dowling: »Walter Pater and Archaeology«, 221. 34 | Ebd., 217. Die mit primitivistischen Sichtweisen zusammenhängende Korrelierung des Vergangenen mit dem Gegenwärtigen verbindet Paters Mythenkonzept mit Frazers Golden Bough. 35 | Ebd., 220. 36 | Zu Paters etymologischer Deutung dieses Terminus vgl. ebd., 213f. 37 | Pater studiert diese Verhandlungen als Beziehung zwischen den Lebenden und den Toten; vgl. Shuter, Rereading Walter Pater, 104. 38 | Pater betont in diesem Aufsatz den populären Aspekt des Mythos, indem er feststellt, dass »[it] bring[s] the every-day aspect of Greek religion home to us«; Pater: »The Myth of Demeter and Persephone«, 272; zit.n. Dowling: »Walter Pater and Archaeology«, 228. Der Essay »The Myth of Demeter and Persephone« wurde 1895 in den posthum erschienenen Band Greek Studies aufgenommen; vgl. ebd., 209. 39 | Paters Texte können als Fiktionalisierungen der wissenschaftlichen Ausgrabungen zum Alltagsleben der Antike gelesen werden. Sein »Myth of Demeter and Persephone« ba-
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Pater insistiert auf der Bedeutung der Materialität40 dieser Prozesse, wie sich insbesondere an der Thematisierung des Objektgebrauchs zeigt, die sich in Form vergrabener Relikte und geöffneter Gräber durch sein gesamtes literarisches, von seinen wissenschaftlichen nicht zu trennendes Werk zieht.41 Das Thema gewinnt erstmals im Rahmen eines Aufenthalts Paters in Ravenna im Juni 1865 Kontur, bei dem er Gelegenheit hatte, das Weiterleben der Reliquienverehrung in der populären Kultur und damit einen der Grundpfeiler seiner Theorie des »survival« zu studieren: Beim Einsturz einer Mauer des Friedhofs der Franziskanerkirche, auf dem der Dichter 1321 begraben worden war, waren angeblich Fragmente seiner körperlichen Überreste gefunden worden, die im Rahmen einer volkstümlichen translatio in der Kirche beigesetzt wurden.42 Emblematische Bedeutung in Bezug auf Paters Vorstellung der Erde als Substrat einer sowohl kreatürlichen als auch kulturellen Wiedergeburt43 erhält schließlich die auf »dead things and people«44 bezogene Archäologie, die sich in dieser Phase als akademische Disziplin herauszubilden begann; Pater selbst hielt 1878 eine Vorlesung zur archaischen griechischen Kunst.45 Ihre Bedeutung manifestiert sich in dem 1885 erschienen Roman Marius the Epicurean. Der im zweiten nachchristlichen Jahrhundert spielende Bildungsroman beschreibt insbesondere populäre Begräbnisriten der frühen Christen, die der Hauptprotagonist Marius, ein in der Regierungszeit des Kaisers Marcus Aurelius aufwachsender Römer, mit den Augen des Anthropologen und damit des Verfassers beobachtet; wie Shuter bemerkt, kennzeichnet diesen Roman ein »imperceptible merging of the protagonist’s reflections with those of the
siert nach Dowling auf der Ruinenbeschreibung von Knidus bzw. den ca. 1857/61 durch den Archäologen Charles Newton (1816-94) vorgenommenen Grabungen; vgl. ebd., 218f. Auf der Grundlage populärer »survivals« des Demeter-Kultes in Form zahlloser Öllämpchen, Votivfiguren etc. (vgl. ebd., 223) erfindet er Biographien einstiger Bewohner bzw. macht Fragmente sog. ›dirae‹, auf dünne Bleiplättchen geschriebener Bitten an die Göttin, zur Grundlage kurzer Geschichten; vgl. ebd., 229. In Bezug auf ein fiktionales Verfahren, dessen Quellen ebenfalls Ausgrabungen darstellen, ist Edward Bulwer-Lyttons populärer Roman The Last Days of Pompeii (1834) zu nennen; vgl. ebd., 222. 40 | Die Materialität verwandelt sich nach Dowling in das Sinnliche des Ästhetizismus Paters; vgl. ebd., 211. Künstlerische und kulturelle Artefakte sind nach Pater »sensuous and material, addressing themselves, in the first instance, not to the purely reflective faculty, but to the eye« (Pater, Greek Studies, 189; zit.n. Dowling: »Walter Pater and Archaeology«, 222). 41 | Ebd., 220. 42 | Zum Rekurs auf die Reliquienverehrung in den Imaginary Portraits vgl. Shuter: Rereading Walter Pater, 92. 43 | Dowling: »Walter Pater and Archaeology«, 211. 44 | Pater: Marius the Epicurean, 147 (im Folgenden im Text zitiert als ME). 45 | Dowling: »Walter Pater and Archaeology«, 221.
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narrator.46 Das kulturelle »survival« fungiert in diesem Roman als Spur früherer Stadien einer der Zerstörung anheim gefallenen Vergangenheit47, deren Wissensspeicher die in der Erde und damit der Sphäre der toten Vorfahren48 verwurzelte Populärkultur bildet; dort kann es als ein die jeweilige Gegenwart erneuerndes, der anthropologischen Deutung Zugängliches jederzeit wieder auftauchen. Dem Leser des Marius-Romans präsentiert sich die Kultur der Antoninen als »some vast intellectual museum« (ME, 132) kultureller »survivals«, die dem Protagonisten nicht nur als »remains of older art« (ME, 227) oder »precious corner-stones of immemorial building« (ME, 227), sondern, z.B. in Form der »crystal vessels, darked with old wine« (ME, 218), auch als Gegenstände einer überkommenen Alltagskultur entgegen treten. Marius’ Wissbegierde in Bezug auf die Details der populären Kultur lässt ihn trotz des in Jahrtausenden zu messenden Abstands zu einem Zeitgenossen des in der populären Kultur verwurzelten Dichters Wordsworth werden. Während die Artefakte im Zusammenhang des »impressionistischen« Schreibens Paters einerseits das Interesse des »Anthropologen« Marius an ihrem ursprünglichen Gebrauchskontext wecken, werden sie andererseits im Zusammenhang mit der Wendung einer barocken Vanitasbildlichkeit zu Bildern für den Ursprung der Kultur bzw. deren ästhetischer Verfeinerung aus dem Populären, der Bearbeitung der Erde; so ist die Schönheit der Marmorbauten und Skulpturen (»marbles« [ME, 150]) Zeugnis und materielle Spur der Mühe der Bodenbearbeitung – Pater benutzt hier in einer mit gängigen Vorstellungen des Ästhetizismus schwer zu vereinbarenden Weise das Bild der Schwielen (»callosities« [ME, 150]) – während die kostbaren »silken robe[s]« [ME, 150]) aus dem Lager bzw. der weichen Umhüllung der Seidenraupe (»a worm’s bedding« [ME, 150]) gewonnen wurden. Wirklich populär in dem modernen, massen- und medienkulturelle Aspekte betonenden Sinn49 wurde die im Marius-Roman erkennbare Musealisierung des folkloristischen Details in der ethnographischen Fiktion50, die die Gründungsjahrzehnte der Anthropologie begleitet und nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem kolonialistischen Dispositiv den Blick auf die Peripherie inszeniert. Ich möchte 46 | Shuter: Rereading Walter Pater, 30. 47 | Hier ergibt sich eine weitere Parallele zu Frazer, der wie Pater die Periode der Antoninen, in der der Marius-Roman spielt, unter dem romantischen Dispositiv des Verfalls sah: »›It was in this mellow autumn [...] of the ancient world, when the last gleanings of the Greek genius were being gathered‹«; Pausanias; zit.n. ebd., 30; vgl. dort außerdem den Hinweis auf die Zeitgenossenschaft des Pausanias mit Marius. 48 | Pater spielt hier auf die etymologische Verbindung zwischen »human« und »humation« an; vgl. ebd., 106. 49 | Medien der Popularisierung sind neben der literarischen Zeitschrift und dem Roman auch neue Institutionen der Repräsentation wie z.B. die seit 1851 stattfindenden Weltausstellungen sowie die neue für die Verbreitung folkloristischer Details grundlegende Technik der Fotografie. 50 | Vgl. Evans: Before Cultures, 21.
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als Beispiel dafür abschließend Rudyard Kiplings 1901 veröffentlichten Roman Kim erwähnen, der Elemente des historischen Romans, des Bildungsromans, der Reiseerzählung sowie des Spionagethrillers51 vereinigt und nicht zuletzt in der Figur des Ethnologen und Kolonialbeamten Colonel Creighton – sein der kolonialen Wissensproduktion dienendes ethnographisches Projekt soll ihm den Zugang zur Royal Society of Science ermöglichen52 – die neue akademische Disziplin zum Thema macht. Er schildert die Pilgerreise eines tibetischen Mönchs und seines auch als Agent und Spion aktiven Schülers, Kim, zu einem Heilung von allem weltlichen Begehren versprechenden Fluss, der in alten, nur Wenigen zugänglichen Quellen beschrieben wird. Der Weg dorthin birgt nicht nur eine Fülle von Begegnungen mit Erscheinungsformen des Populären wie z.B. »a troop of longhaired, strong-scented Sansis [...] the gaily dressed crowds of whole villages turning out to some local fair [...] a marriage procession with music and shoutings, and a smell of marigold and jasmine« (K, 85f.), sondern führt Kim und seinen Begleiter auch in das Museum von Lahore, das im Zeichen der Pax Britannica das Gegenstück des Kapitolinischen Museums in Paters Marius darstellt. In Museum von Lahore befinden sich kulturelle Artefakte, deren zentrales Gestaltungsprinzip das »survival« darstellt, jener »mysteriously transmitted Grecian touch«53, der ihre heterogenen, durch den unvordenklichen Kontakt historisch und geographisch disparater Kulturen bestimmten Ursprünge prägt; der mittels Bergung, Bewahrung und Kategorisierung geschaffenen Ordnung des Museums (K, 14) steht das Kim zur Übernachtung angebotene Ladenlokal gegenüber, in dem der undurchsichtige Händler Lurgan Sahib Kulturobjekte heterogener Herkunft (»Tibetan devil-dance masks [...] ghost daggers and prayer-wheels [...] gilt figures of Buddha, and little portable lacquer altars [...] yellow ivory crucifixes [...] carpets in dusty bales [...]« [K, 200ff.]) hortet. Die kulturelle Transfers indizierende Lokalität unterstreicht das periegetische Erzählprinzip und damit den intertextuellen Bezug auf das Schreibverfahren Paters54 , der eine mit kultureller Migration korrelierte Ästhetik der Melancholie anhand der Statue der Knidischen Demeter beschrieb, indem er feststellte, dass »the sorrows of her long wanderings seem to have passed into the marble«.55 Insofern markiert die Beschreibung der im Museum ausgestellten »hundreds of pieces, friezes of figures in relief, fragments of statues and slabs crowded with figures« (K, 14) ein Erbe des archäologischem Antriebs der Anthropologie Paters, die die Entwicklung des ethnographischen Romans angestoßen hatte. Damit lässt sich die in den »Buddhist stupas and viharas of the North Country« (K, 14) anklingende Beziehung zwischen regionalen und kulturellen bzw. religiösen Praktiken in Ver51 | Wegner: »›Life as He Would Have it‹«, 139. 52 | Edward Said hat die Figur Creightons eingehend beleuchtet; vgl. Said: »Kim, The Pleasures of Imperialism«, 32ff. 53 | Kipling: Kim, 14 (im Folgenden im Text zitiert als K). 54 | Vgl. Shuter: Rereading Walter Pater, 16ff. 55 | Pater: »Myth«, 273; zit.n. Dowling: »Walter Pater and Archaeology«, 230.
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bindung bringen, die zugleich den selbstbezüglichen Charakter der Erzählgattung ausstellt. In Bezug auf die Anthropologie sowohl Paters als auch Frazers wurden die kulturgeschichtlichen Beschreibungen der Landschaften Griechenlands durch Pausanias prägend;56 Shuter sieht in Marius deshalb »a sort of scholarly pilgrim«57 und charakterisiert Paters narrative Technik als durch Erzählrahmen bestimmte »visits to some site, monument, or artifact«, deren Ziel es ist, »[to] relate its untold or forgotten story«.58 Diesem Modell des Erzählens stehen in Kiplings Roman die epistemologischen Probleme des Protagonisten – als irischstämmiger Kimball O’Hara bildet er das Paradigma eines »syncretic self«59, eines pikaresken Grenzgängers und Übersetzers zwischen den Kulturen des britischen Raj und denen des imperialen Indien – im Weg. Vordergründig mag seine Wanderschaft der Profilierung der Landkarte des sich auf der Höhe seiner politischen Macht befindlichen Empire60 dienen, doch deutet sich angesichts der Begegnung mit dem indigenen Populären, seinen Mythen und Kulturobjekten ein Konflikt epistemologischer Ordnungen an. Er untergräbt ein imperiales Narrativ, das den zu kolonisierenden Raum als »leer« und damit als eine epistemologisch aus einer zentralen Perspektive zu kontrollierende Sphäre repräsentiert hatte.61 Kim trifft dagegen auf einen kulturellen Raum, der immer schon bewohnt, d.h. von populärem Wissen und seinen dinghaften Manifestationen bevölkert war.62 Die in Kim erzeugte Subversion von Verfahren zentraler Narrative des Empire durch ein sich dazu heterogen verhaltendes natives Wissen führt nicht nur zu Doppelungen und Brechungen des narrativen Raumes, sondern profiliert in diesem Zusammenhang den Untergrund als narratives Setting. Vordergründig das Gebiet einer politischen Verschwörung, der sog. Mutinity (1857) bzw. ihrer Nachgeschichte, lässt sich die Betonung des Subterranen als weiteren Verweis auf Paters Anthropologie lesen. Kim spielt in dieser Beziehung die utopische Dimension der anthropologischen Konzeptualisierung des Populären durch Pater aus, deren Grundidee die erwähnte Verbindung der Lebenden mit den Toten bildet. Die subversive und damit utopische Kraft dieser Verbindung war in Marius besonders treffend anhand der unterirdischen Welt des 56 | Vgl. Crawford: »Frazer and the Scottish Romanticism«, 19ff. 57 | Shuter: Rereading Walter Pater, 31. 58 | Ebd., 32. 59 | Wegner: »›Life as He Would Have it‹«, 130; vgl. den in Kim ausgespielten, mit der vergleichenden Methode der Anthropologie kombinierbaren kolonialistischen Imperativ ›rassischer‹ Differenz: »Though [Kim] was burned dark as any native; though he spoke the vernacular by preference, and his mother-tongue in clipped, uncertain sing-song; though he consorted on terms of perfect equality with the small boys of the bazaar; Kim was white« (Kipling: Kim, 49); dazu Wegner: »›Life as He Would Have it‹«, 154. 60 | Ebd., 143f. 61 | Ebd., 136. 62 | Erhellend ist in diesem Zusammenhang der Vorwurf eines Kritikers, nach dem es in Kim nicht gelingt, »›to brush away like cobwebs the native myth and beliefs‹«; ebd., 130.
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spätantiken Christentums und seiner Nähe zu den Toten in den römischen Katakomben, jener »vast necropolis [...] with [...] layers of beds or berths« (ME, 229), gezeigt worden63, wobei der Umstand, dass sich der Protagonist auf dem Totenbett dem neuen Glauben zuwendet, das Hervorgehen der neuen aus der alten Kultur symbolisch unterstreicht. In Kim wird die anhand der frühchristlichen Grabstätten (»many with slabs of marble [...] taken [...] from older pagan tombs« [ME, 230]) entwickelte, mittels des Palimpsests (»the inscriptions sometimes a palimpsest (Kursivierung im Original), the new epitaph being woven into the faded letters of an earlier one« (ME, 230) verbildlichte Idee des kulturellen Synkretismus auf die Spitze getrieben und damit nicht zuletzt die von Northrop Frye hervorgehobene »comic narrative mode«64 erzeugt, während gleichzeitig im Zuge des orientalisierenden Ästhetizismus Kiplings die archäologische Bildlichkeit des Marius-Romans mittels Figurationen der Dislozierung durchbrochen wird. Kims Rekurs auf die koloniale Episteme am Ende des Romans65 stellt eine deutliche Markierung der Grenzen der Übersetzbarkeit dar, wobei unter den von Wegener apostrophierten Verfahren eines »freezing out the forces of historical change«66 dem archaisierenden sprachlichen Stil des Romans zentrale Bedeutung zukommt. In dieser Hinsicht exploitiert Kim Modelle der Zirkulation folkloristischer Details im populären ethnographischen Roman des fin de siècle; das zentrale Kennzeichen der Dialoge zwischen den Vertretern der Kolonialmacht und den Einheimischen in den Erzähltexten Kiplings, nämlich die Verwendung eines erfundenen sprachlichen »survivals« – Salman Rushdie nennt die Kombination von Wörtern aus dem Hindi, dem Urdu und einem altertümlichen Englisch lakonisch »invented Indiaspeak« – entfaltet indessen eine subversive Potenz ganz eigener Art: Rushdie umschreibt sie mit feiner Ironie als »an image of the inability of the sahibs to comprehend what they pretend to rule«.67
L ITER ATUR Bronner, Simon: Following Tradition. Folklore in the Discourse of American Culture. Logan (UT): Utah State Univ. Press 1998. Conollys, Frances S.: The Sleep of Reason. Primitivism in Modern European Art and Aesthetics, 1725-1907. University Park (MA): Pennsylvania State Univ. Press 1995. 63 | Vgl. Shuter: Rereading Walter Pater, 106. 64 | Vgl. dazu Wegner: »›Life as He Would Have it‹«, 130. 65 | Vgl. Taylor: »Kipling’s Imperial Aestheticism«, 64. 66 | Wegner: »›Life as He Would Have it‹«, 147. 67 | Rushdie: »Kipling«, 79f. Zu intertextuellen Beziehungen zwischen Kim und Rushdies Hauptwerk Midnight’s Children (1981) vgl. Moore-Gilbert: »I am Going to Rewrite Kipling’s Kim«, 44.
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Mexikanische Profanierungen. Cultura popular oder die Kontingenz 1 Vittoria Borsò
D IE H ER AUSFORDERUNG DER E PISTEMOLOGIE DURCH DAS P OPUL ÄRE IN E UROPA UND L ATEINAMERIK A Wie für viele andere Phänomene ist auch für die Analyse der Populärkultur Lateinamerika ein Laboratorium, in dem nicht nur die Komplexität, sondern auch die Problematik epistemologischer Entscheidungen beobachtet werden kann. Eines der Probleme bei der Analyse des Populären ist der Essentialismus, mit dem die Epistemologie immer wieder die Provokation dieses Phänomens domestiziert. So zeigt der Umgang mit Populärkultur in Lateinamerika die Konfigurationen einer souveränen Macht, die den Willen zum Wissen begleitet, denn sowohl kolonialistische Zugriffe als auch Selbstdefinitionen des Populären im Namen einer vermeintlichen »Authentizität« oraler Traditionen Amerikas haben stets eine asymmetrische Beziehung produziert, die der Populärkultur den Status eines Objekts für einen im besten Falle anthropologischen, jedenfalls kolonialistisch geprägten Blick zugewiesen hat. Was sich in Lateinamerika in eklatanter Weise zeigt, gilt aber auch für Europa. So wurde auch diesseits des Atlantiks das Populäre als soziale Eigenschaft einer Unterschicht gesehen, der Begriffe wie »anonymes Volk« bzw. »amorphe Masse« oder bestimmte ästhetische bzw. kulturelle Eigenschaften als Wert oder Unwert zugeschrieben wurden. In diesem Zusammenhang müsste auch die apologetische These zur vermeintlich gegenkulturellen Funktion der sog. Populärästhetik hinterfragt werden, insbesondere dann, wenn sie mit der Essentialisierung ihrer Medienformen einhergeht, etwa wenn dem Populären das orale Medium zugeschrieben, und dieses als »authentischer Ausdruck« des Volkes bewertet wird, während 1 | Der Titel ist eine Anspielung auf die Studie zur Kontingenz von Deleuze und Agamben am Beispiel von Melvilles Bartleby und von Beckett. Vgl. Agamben und Deleuze: Bartleby, la formula della creazione, und Agamben: Bartleby oder die Kontingenz.
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die Schriftlichkeit der »Elite« vorbehalten wird. Die hegemoniale Topographie, die eine Hierarchie von Wissensformen ontologisiert, wird mit Apologien der Authentizität kompensiert. In dieser Hinsicht wären auch einige politische Utopien der cultural studies marxistischer Prägung zu überdenken, die durch apologetische Argumente die Herausforderung des Populären nicht immer mit der nötigen Schärfe gedeutet haben, insbesondere dann nicht, wenn sie – der Literatursoziologie ähnlich – lediglich das zwar zu begrüßende, jedoch nicht hinreichend reflektierte politische Ziel verfolgt haben, das Kulturelle gegen Elitebegriffe zu behaupten und die Kultur zu demokratisieren. Viel operabler scheint mir die Konzeption des Populären als ein medialer Artikulationsraum zwischen Hochkultur und Massenkultur. Zu diesem Zwischenbereich könnten folgende jeweils zu untersuchende Komponenten gehören: • eine Semantik der Evidenz (etwa durch Archetypen, Mythen, Dinge und Orte des kulturellen Gedächtnisses) • Eine ästhetische Materialität, die neben Präsenzeffekten2 auch ein breites Angebot an Investitionsmöglichkeiten von Subjektivität umfasst. Wollte man Letzteres systemtheoretisch definieren, wäre dies eine inklusive Ästhetik, die jedoch wie die Summe aller Teile auch einen hohen Grad an Differenzen in sich trägt. • Ein Begehren nach dem Medialen als Bedingung für den Erfolg von Popularität, denn es sind Mediatisierungsprozesse, die durch einen hohen Diffusionsgrad die Popularität erst ermöglichen, weshalb mit den Netzwerktechnologien das Ende des Pop nicht abzusehen ist. • Bei den Mediatisierungsprozessen muss man den Materialitätsgrad differenzieren. In der medialen Nutzung können z.B. populärästhetische Materialisierungsformen zu eher abstrakten Stereotypen werden – etwa wenn die Materialität von pictures zurückgenommen wird oder von mentalen images überdeterminiert wird. Das Angebot von Möglichkeiten subjektiver Investitionen wäre in diesem Falle ebenso wie die Diversität der Zugriffe und der subjektiven Einschreibungen oder Verortungen eingeschränkt. In der historischen Dynamik können dann Normierungs- oder Institutionalisierungsdiskurse zu Bewertungen des Populären, als Trivialprodukt oder umgekehrt als Expertenwissen (z.B. Graphic Novels), führen. Je nach Verhältnis dieser Dimensionen kann es zu verschiedenen Dynamiken und Ausdifferenzierungen des Populären kommen. In Bezug auf die ästhetische Dimension der Materialität gilt es ein weiteres Moment zu berücksichtigen, welches die Populärkultur als bestimmte Manifestation des Populären präziser zu fassen ermöglicht. Denn die Ästhetik der Populärkultur ist »amateurhaft« im Sinne von unorthodoxer wie aber auch leidenschaftlicher, deshalb intensiver Aneignung hochkultureller Traditionen. Die Ästhetik der Populärkultur respektiert Grenzen 2 | Vgl. Nancy: The Birth to Presence, und Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik.
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nicht, kehrt Topographien um, »familiarisiert« das Erhabene und macht Entferntes nahe, wie wir dies von der berühmtesten Form der Populärkultur kennen, nämlich der Kultur des Karnevals.3 Aufgrund paradoxaler Inklusionen, die potentielle Differenzen in Identitäten stiften, erscheint Populärkultur hybrid, oder, topologisch ausgedrückt, heterotopisch und beides stört die Ordnung der Dinge. Die »unreine« Ästhetik der Populärkultur hat eine profanierende Wirkung in Bezug auf die gesellschaftliche oder epistemologische Ordnung. Diese Störung ist aber auch eine Chance: Wie Michel Foucault im Falle der Heterotopien feststellte, funktionieren unreine mentale oder materielle Bilder wie opake Spiegel, die nicht nur die Kultur parodistisch oder verzerrt reflektieren, sondern die Ordnung zu Prozessen höchster Selbstreflektivität und zu Öffnungen im Geschlossenen führen können. Es ist also nicht verwunderlich, dass Populärkultur in postkolonialen Gesellschaften – zum Teil mit essentialistischen Apologien seitens der postcolonial studies – den Status von Counter-culture hat und gerade deshalb auch einen in Bezug auf verschiedene Wissensgruppen erfolgreichen Popularisierungsprozess erreichte. Ich spitze diese ersten Bemerkungen auf folgende These zu: Das Populäre ist ein Phänomen von Unbestimmtheit. Die latente Opazität verlangt, dass man nicht nur »über die Populärkultur« reflektiert; es sollte vielmehr anhand der Populärliteratur oder Populärkultur über die geltenden epistemologischen Prämissen des eigenen Diskurses nachgedacht werden, hierbei der Geste von Roland Barthes im Zusammenhang mit der »Popularität« des zum Mythos gewordenen Jean Racine folgend. Barthes Studie Sur Racine ist nämlich sowohl ein Essay »über Racine« als auch ein Experiment mit den eigenen epistemologischen Instrumenten anhand der Popularität von Racine, die Barthes dazu führt, den zeitgenössischen literaturtheoretischen Ansätzen – von der Literatursoziologie eines Lucien Goldmanns bis hin zur Psychoanalyse von Charles Mauron – einen Mangel an Selbstkritik und einen szientistischen Umgang mit dem literarischen Text vorzuwerfen, der dessen Pluralität reduziert.4 Weiterhin gilt es, das Populäre als einen epistemologischen Ort zu erfassen, von dem aus die Analyse des Kulturellen durchgeführt wird und nicht – wie ein kolonialistischer Ethnologe – auf das Phänomen blickt. Damit erhält die Populärkultur den Status eines andersartigen optischen Dispositivs, das ein »fremdes« oder verfremdendes Licht auf verbürgte Kulturkonzepte wirft. So scheint es mir notwendig und gewinnbringend, ästhetische Medienformen von Populärkultur in 3 | Vgl. Bachtin: Literatur und Karneval. 4 | Vgl. Barthes: Sur Racine. Ähnliches führte Barthes auch im Zusammenhang mit »Mythologies« auf, wo er den »Mythos Racine« als eine Normierung des Autors durch das Pariser Bildungsbürgertum bezeichnete, der die eigentliche Sprengkraft Racines entschärft. Die Popularität der Literatur wird hier im Rahmen der Kritik des Bürgertums als eine bürgerliche Konsumform kritisiert: »La littérature est pour eux un vaste magasin d’objets perdus, où l’on va a la pêche«. Barthes: »Mythologies«, 746.
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Kolonialgesellschaften als epistemologischen Ort aufzusuchen, der die Reflexionsfähigkeit über unsere eigenen europäischen Konzeptualisierungen steigert. Darin sehe ich die Funktion, über »mexikanische Profanierungen« nachzudenken, einen Ort der sog. Peripherie in der Topographie des Globus, wo seit 1968 die cultura popular zum Instrument selbstreflexiver Praktiken von visueller Kultur und Literatur geworden ist. Diese bringen auch die Ordnung von Zentrum und Peripherie direkt ins Spiel und demontieren sie. Dass die Populärkultur in Mexiko, wie in anderen postkolonialen Gesellschaften, diese Funktion übernehmen kann, wird nach der These der Subversivität der Mimikry in kolonialen Übersetzungsprozessen seitens Homi Bhabha nicht überraschen.5 Tatsächlich ist selbst die Gründung dessen, was »lateinamerikanische Kultur« genannt wird, nämlich die im Kolonialbarock entstehende(n) Kultur(en), bereits eine ausgeprägte Form von cultura popular. Elemente der populären Mythologie prähispanischer Kulturen, insbesondere die Körperbezogenheit nicht-christlicher Traditionen, haben sich in die Details der Ornamentik im Innenteil und in den Fassaden barocker Kirchen eingeprägt. Zusammen mit der Verschiebung des Materials, das nicht nur aus Marmor, sondern auch aus Kalk besteht, hat die barocke Proliferation der Ornamentik die hegemoniale Kolonialarchitektur überlagert. Prähispanische Kulturelemente, die fortan als »populär« im Sinne von aus dem Kreis der Elite exkludierten Schichten des Kulturellen galten, haben sich in den barocken Details fortgesetzt. Tatsächlich erforderte der bei der Gründung von »Nueva España« unmittelbar einsetzende sincretismo popular e instintivo6 vom überstarken Klerus die Akzeptanz individueller und spezieller Ausdrucksformen trotz einer gleichzeitig wirksamen, extremen Durchsetzung zentralistischer Strukturen und trotz der Stärkung der Inquisition zur Bekämpfung der Häresie. Unter diesen Bedingungen geschieht die Produktion von Kultur unter Einfluss extremer Spannungen: Als zentripetaler Plan in den unmittelbar nach der Eroberung durch Überschreibung von México-Tenochtitlán, der Hauptstadt der Azteken, entstehenden Stadtzentren und differentiellen Räume in der materiellen Kulturproduktion.7 In den konkreten Praktiken haben Elemente der Populärkultur den Ton mit angegeben. Ähnliches gilt für die Literatur. Durch die intensiven, konkreten Textübersetzungen und auch Übertragungen von Kulturtraditionen aus Spanien verwirklichen diese Kulturen schon in dieser ersten Phase der Globalisierung ein Prinzip, das wir auch in der heutigen globalen Popkultur feststellen. Sie sind nämlich eine Form von Kultur »aus zweiter Hand«, die der in Mexiko lebende argentinische Soziologe und 5 | Vgl. Bhabha: Location of Culture. 6 | Paz: Sor Juana Inés de la Cruz o las Trampas de la Fe, 71. 7 | Ich übernehme den Antagonismus von abstraktem Raum des Planes und dem differenziellen Raum nach Lefevbre, in dem gesellschaftliche Praktiken auch subversive Funktionen übernehmen können (Lefevbre: La Production de l’espace). Vgl. Borsò: »Topologie als literaturwissenschaftliche Methode«, 279-295. Ich beziehe mich auch auf die Studie der Zentralisierungspraktiken der Kolonialkultur von Rama: La ciudad letrada.
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Kulturwissenschaftler Nestor García Canclini schon 1989, also 5 Jahre vor Homi Bhabha, mit ähnlichen Implikationen »cultura híbrida« genannt hatte.8 Damit ist bei der Analyse des Populären die Frage der Derivate von grundlegender Bedeutung. In der Moderne ist Kultur aus zweiter Hand der programmatische Modus einer Ästhetik, die nichts Neues schöpft, was den essentialistischen Apokalypse-Verdacht der Frankfurter Schule begründete, ein Verdacht, der ebenso problematisch wie die Apologie der Integrierten ist, wie es Umberto Eco 1967 in einer Kritik der Kritik der Massengesellschaft zu Recht diagnostizierte.9 Gerade der Versuch, populäres Wissen zu definieren, zeigt, dass »die Wahrheit im Dazwischen« liegt. Tatsächlich wissen wir heute, dass Walter Benjamin mit der These Recht hatte, die besagt, dass mit der technischen Reproduzierbarkeit Kreation ein Phänomen der Umdeutung, Übersetzung und der wiederholenden Aneignung sei, bei der Subjektivierungsprozesse stattfinden. Sinnliche Investitionen sind dabei der Motor für Transformationen und Kulturproduktionen. Ebenfalls wissen wir, dass Medien nicht der Kultur äußerlich sind, weshalb wiederum Umberto Eco darin zu folgen ist, massenkulturelle Phänomene für eine kulturwissenschaftliche Analyse zu gewinnen, aber ohne Apologie, vielmehr um von diesem Ort aus die Kulturanalyse als eine Art semiotische guerilla gegen Essentialismen durchzuführen. Kulturanalyse als guerrilla ist eine Metapher für hohe Mobilität und Flexibilität, für Agentialität aus dem Untergrund indirekter Kommunikation. Guerrilleros nutzen nämlich Ereignisse jenseits des Plans und sind, wie die Populärkultur, auf die Unterstützung der lokalen Bevölkerung angewiesen, die sie mit Nahrung und Informationen versorgt. Gerade in Mexiko ist die inhärente und produktive Verbindung von Populärkultur und guerrilla durch die Figur des zapatistischen Subcomandante Marco dokumentiert. Er schaffte es, durch popkulturelle Praktiken im Zeitraum von sechs Jahren (zwischen 1994 und 2000) die Partei der institutionalisierten Revolution (PRI) in die Knie zu zwingen, die bis dahin 71 Jahre ununterbrochen an der Macht gewesen war.10 Wenn ich auf Mexiko näher eingehe, werde ich mit Carlos Monsiváis, dem am 19. Juni 2010 verstorbenen mexikanischen Schriftsteller, Mediensoziologen, Filmkritiker und intellektuellen Widersacher des Fürstendichters Octavio Paz, die Frage des Populären auf eine epistemologische und topologische Ebene heben.
8 | Vgl. García Canclini: Culturas híbridas. 9 | Vgl. Eco: Apocalittici e integrati. Bei Ersteren, den Apokalyptikern, besteht das Heimweh nach einer Epoche, in der die Werte der Kultur das Erbteil und der Besitz einer einzelnen Klasse waren und noch nicht jedermann offenstanden. Vgl. auch Duque: Arte público y espacio político. Weiterhin sei hingewiesen auf Maase (Hg.): Die Schönheiten des Populären. 10 | Vgl. z.B. Subcomandante insurgente Marcos: »La muerte nos visita vestida de verde olivo«, 16. Zur Dokumentation der Praktiken des Ejercito Zapatista de Liberación Nacional [Zapatistische nationale Befreiungsarmee] vgl. EZLN: Documentos y comunicados.
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M E XIKO , C ARLOS M ONSIVÁIS UND DIE CULTURA POPULAR : V ON DER C OUNTERCULTURE ZUM EPISTEMOLOGISCHEN R EFLE XIONSORT Monsiváis hat in den 70er Jahren cultura popular zunächst als contracultura vorgeschlagen, also als konkrete Taktik11 gegen das kulturelle System der nationalen Elite, um dann aber nach und nach die subversive Dimension auf eine metakulturelle Dimension zu heben und grundlegende Kategorien des Kulturellen umzudeuten. Er gilt ob seiner literarischen Crónicas als Kultfigur des transversalen Widerstandes mit den sprachlichen Mitteln des Witzes, und er meldet sich durch seine Interpretationen kultureller Alltagspraktiken als »Agens« im permanenten Umbau der Gesellschaft zu Wort. Auch schon vor seinem Tod gehörte er zu den führenden lateinamerikanischen, auch in den USA renommierten Intellektuellen. In Deutschland ist die Rezeption seiner Schriften überaus schwierig. Einmal entspricht er nicht dem popularisierten exotistischen Rezeptionsrahmen lateinamerikanischer Literatur; zum anderen sind seine Texte als hoch hybrides Genre zwischen Chronik, Erzählung und Essay schwer übersetzbar, wobei er die Kreativität des Sprachwitzes und den Spielraum des Essays intensiv nutzt. Durch die metaphorische Begrifflichkeit und das dichte Netz indirekter Zitate, Anspielungen, Übernahmen medialer Formate und verschiedener Sprachregister, nicht zuletzt durch seine ironische und aphoristische Schreibweise,12 ist er eine intellektuelle Herausforderung sowie – eben wegen populärer Anspielungen auf Evidenzen der mexikanischen Lebenswelt und wegen der Sprachspiele mit populären Registern – ein in Mexiko von jedermann konsumierter und nachgeahmter Popstar der Sprache. Wir sehen also mit Monsiváis das Beispiel einer materiellen Ästhetik des Populären die ein breites Investitionsangebot enthält, dabei stets an semantischen Kernen der Evidenz arbeitet, Materialitäten und Sinnlichkeiten als Resultat einer höchst elaborierten und virtuosen Rhetorik praktiziert. In seinen Schriften finden wir Anschauungsmaterial für eine Konzeption der cultura popular aber auch – umgekehrt – für die Transformation der Literatur durch populäre Massenmedien und für eine Materialitätsästhetik des Populären. Die crónicas »Días de guardar« (1971) und »Entrada libre. Crónicas de la sociedad que se organiza« (1987) reflektieren jeweils die Emergenz der cultura popular nach Tlatelolco (1968) und die Emergenz der Zivilgesellschaft in der Megalopolis México Stadt nach dem Erdbeben (1985). Beide Daten führen Phasen des Autoritätsverlustes des Staates ein: die ’68er Studentenbewegung im Vorfeld der Olympiade in Mexiko wurde durch die Staatsmiliz auf dem Platz von Tlatelolco (Platz der drei Kulturen) am 2.10.1968 brutal niedergeschlagen, weil sie das für die internationalen Medien vorgesehene, politische Selbstbild eines modernen, prosperierenden 11 | Im Sinne von de Certeau: Arts de faire. 12 | Vgl. Borsò: »La ciudad (post-)apocalíptica y la contingencia«, 379-393 und Moraña und Prado: El arte de la ironía; Egan (Hg.): Monsivaisiana.
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Mexikos störten; nach dem Erdbeben von 1985 war der Staat unfähig zu Maßnahmen des Krisenmanagements oder des Wiederaufbaus des schwer beschädigten Stadtzentrums; die Stadt wurde von der Zivilbevölkerung rekonstruiert. Amor perdido (1977) und Escenas de pudor y liviandad (1981) behandeln die Migrationen medialer Formate in die Alltagskultur. Mit Los rituales del caos (1995) liegt erneut eine zwischen Essay und crónica gespannte Textform vor, die den komplexesten Theorieentwurf im ganzen Œuvre Monsiváis’ impliziert. Hier werden die Denkfiguren vorangehender crónicas auf ein schwieriges Problem zugespitzt, nämlich die dem Populären inhärente paradoxale Beziehung von Chaos und Form, womit Monsiváis urbane Ressourcen an der Schwelle zum neuen Jahrtausend als Umschreibung von Figuren erfasst, die schon den Beginn der Philosophie des Abendlandes markieren. Aires de familia (2000) ist eine Geschichte der Transformationen literarischen Schreibens in Lateinamerika aus dem Blickwinkel der Massenmedien – oder Las tradiciones de la imagen und ›No sin nosotros‹. Los días del terremoto 1985-2005 (2005), in dem Bilanz aus den kulturellen Entwicklungen seit 1985 gezogen wird. Theoretische Implikationen der cultura popular sind: • die Interrelation von Macht und Subjekten als Artikulation einer Beziehung, als Potentialität transversalen Widerstandes.13 • die Ressourcen und Transformationskraft kultureller Alltagspraktiken und Alltagsregister der Sprache. • Produktivität durch Recycling von Resten im globalen wie lokalen Reservoir kultureller Materialien. Diese wird seit den ersten Chroniken inszeniert, die Fotografien integrieren und transmediale Bezüge zu Radio, Musik, Film, Fotografie, Malerei, Wandmalerei und Architektur inszenieren. • Eine materielle Ästhetik, die Investitionen auf mehreren Ebenen ermöglicht und das Populäre als Paradoxie von Praktiken der Inklusion und Exklusion inszeniert – es gibt Monsiváis-Fanclubs, populäre Nachahmer ebenso wie eine nun aufgrund seiner Popularität gezwungener Maßen entstandene, offene Akzeptanz seitens der Elite, was den Status des subversiven Kritikers zwar gefährdet, ohne jedoch den populären Mythos eines Monsiváis als »luchador popular« gebrochen zu haben.
13 | Ich beziehe mich auf das Spätwerk von Michel Foucault. Vgl. Foucault: »Le sujet et le pouvoir«, 222-243; Foucault: »Espace, savoir et pouvoir«, 270-285. Zu den Implikationen in Bezug auf Monsiváis, México und Lateinamerika verweise ich auf Borsò: »Machtgrenzen und Körperschwellen«, 103-134. Zur Interaktivität in der medialen Kommunikation vgl. Sennett: The Fall of Public Man.
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A IRES DE FAMILIA UND DIE MASSENMEDIALEN TR ANSFORMATIONEN DER L ITER ATUR Im Vorwort zu Aires de familia definiert Monsiváis Modernität als »el derecho de todos.«14 Modernität ist in Lateinamerika ein Programm und nicht ein historischer Prozess oder ein historisches Narrativ. Während politische Demokratisierungsprozesse und kulturelle Modernität in Europa parallel emergente Phänomene waren, hat politische Demokratisierung in den postkolonialen Gesellschaften Lateinamerikas und auch in Mexiko trotz der Revolution von 1910-1917 nicht wirklich stattgefunden.15 Dies erklärt die problematische Gleichsetzung des Modernitätsbegriffs mit gesellschaftlichem Fortschrittsgedanken in den Diskursen von und über Lateinamerika, oder auch die kritikwürdige Konzeption einer peripherischen Moderne.16 Derartige Kategorien sind deshalb problematisch, weil damit kulturelle Phänomene am Maße europäischer Geschichtsteleologie beurteilt werden, wohingegen die Chance besteht, im diskontinuierlichen Gang der Modernisierung Lateinamerikas auch die Selbstwidersprüche der europäischen Moderne zu analysieren. Genau dies wollen wir hier im Zusammenhang mit dem Populären versuchen. Was gesellschaftliche Prozesse im postkolonialen Kontext Mexikos nicht erreichen konnten, sieht Monsiváis in der Populärkultur als Chance gegeben. Die Chance des Populären besteht in der Möglichkeit des popkulturellen Imaginären, das durch die massenmediale Vermittlung ein unbegrenztes Recht auf Mobilität erhält und Subjekte dieser Chance bewusst macht. Auch jenseits der Elite können sich Subjekte im von Fotografie, Kino und Fernsehen erzeugten medialen Raum von der alleinigen Beherrschung durch die Mythen des Nationbuilding befreien. Das Imaginäre öffnet so Lateinamerikanern den Weg zu partizipativen Prozessen, denn sie werden damit am internationalen Fluss der Bilder und an ihren kulturellen Migrationen beteiligt: »Los latinoamericanos son parte ya del proceso internacional.«17 Im medialen Artikulationsraum des Populären kann man Gewinner und Verlierer des Globalisierungsprozesses nicht definitiv festlegen. So Monsiváis iro-
14 | Monsiváis: Aires de familia, 11-12. 15 | Vgl. Monsiváis: »La dependencia de la cultura mexicana de los setentas«, 50; 54. Der »von Autoren als Individuen« produzierte kulturelle Raum scheiterte, meint Monsiváis. Denn solche bürgerlichen Autoren waren Interpreten der Bourgeoisie und damit lediglich der Ausdruck der staatlichen Kulturpolitik. Dies beweise etwa der Fall von Alexander Jorodowski, der nach seiner Ankunft in Mexiko zuerst das Bürgertum erschreckte, dann nur noch gefällig war (Monsiváis: »La dependencia de la cultura mexicana«, 54). 16 | Für diese Position vgl. z.B. den chilenischen Soziologen Brunner: América Latina. Für einen Überblick über die Diskussion vgl. Yúdice: The Expediency of Culture. 17 | Monsiváis: Aires de familia, 12.
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nisch: »Soy globalizado y nada de lo que es global me es ajeno.«18 In diesem Satz ist die personale Artikulation »me es ajeno« entscheidend, denn nur die sinnliche Dimension dieses Artikulationsraums erlaubt die subjektive Investition, jene performative Subjektivität, die eine Taktik der Diversität gegen die nicht nur in den sog. Schwellenländern apokalyptisch anmutende Expansion der machttechnologischen und ökonomischen Globalisierung sein kann. Genau in der Möglichkeit subjektiver Investition, in der Möglichkeit im medialen Raum der cultura popular singuläre Wege von Sinnlichkeit zu erfahren, ein singuläres Idiom zu materialisieren, sieht Monsiváis die Chance der Entgrenzung und Mobilisierung des Imaginären sowohl gegenüber der Macht nationaler Mythen als auch gegenüber den »normalisierenden« Tendenzen der Massenmedien. Mit dem Satz »Ich bin globalisiert und nichts was global ist, ist mir fremd« illustriert Monsiváis die einzig mögliche Taktik gegen die global bestehende Gefahr der Macht der Medien zu unterliegen, und diese Taktik besteht in einer der Populärkultur eigenen, ironischen Dimension, die nicht überwinden, sondern deplatzieren, verschieben will. Hay que desmovilizar la censura, quizás el instrumento más efectivo de reducción del horizonte mental del público (en tanto público), y que sostiene a la modernización que no moderniza en medio de las tradiciones que se deshacen.19
Diese parodistische Transformation demobilisiert die Zensur, das vielleicht effektivste Dispositiv zur Schwächung der mentalen Ressourcen der Öffentlichkeit oder auch der Weitsichtigkeit des Publikums – so Monsiváis’ Angriff gegen die mentale Beherrschung der Öffentlichkeit durch die Medien, für den er die militärische Metapher der Demobilisierung nutzt. Weiterhin adressiert dieses Zitat das bürgerliche Establishment, das die Medien beherrscht und in Mexiko (wie in anderen Ländern Lateinamerikas) eine problematische Rolle spielt. Das Junktim von Bürgertum und Medien unterstützt eine »Modernisierung, die nicht modernisiert«, und erklärt zugleich die Traditionen für nichtig – gemeint sind damit keine Archaismen, sondern lokale Ressourcen. Teil der Demobilisierung der Zensur und wichtigstes Prinzip des Angriffes gegen die Zwänge der mediopolitischen Oligarchie ist die Strategie, der Diversität der Geschmäcker und der Wertmaßstäbe Vorschub zu leisten (»dar paso a la genuina diversidad del gusto y del criterio«)20. Die Paradoxalität der massenmedialen Populärkultur, nämlich die Gefahr der Kolonialisierung des Bewusstseins und zugleich die Chance der Diversifizierung des Geschmacks, ist indes, so auch Monsiváis, kein auf postkoloniale Kulturen beschränktes Phänomen. Vielmehr ist auf globaler Skala zu beobachten, dass die technologische Macht in den globalen Massenmedien sowohl Uniformität und Alternativlosigkeit durch 18 | Monsiváis: No sin nosotros, 53. [»Ich bin globalisiert und nichts was global ist, ist mir fremd«]. Sämtliche Übersetzungen der Zitate von Monsiváis: Vittoria Borsò. 19 | Monsiváis: Aires de familia, 222. 20 | Monsiváis: »La dependencia de la cultura mexicana de los setentas«, 42.
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Konvergenzphänomene zuzuspitzen vermag21 als auch das Gegenteil erleichtern kann. Denn gerade am Höhepunkt der Expansion der technologischen Medien im Sinne von kriegerischen Dispositiven können sich die Medien auch als Quelle von Diversität behaupten – eine Diagnose, die sich in Bezug auf das Internet als Raum eines beschleunigten Wechsels von technologischer Macht und subversiven Taktiken bestätigt hat – wie die Wikileaks-Ereignisse gezeigt haben. Der Inszenierung einer partikulären Stimme, einer partikulären Geste, die sich nicht durch eine gesellschaftliche oder medienpolitisch globale Hegemonie einverleiben lässt, sondern im globalisierten Raum der Medien die partikuläre Verortung der eigenen Subjektivität sucht, ist die ästhetisch getragene planetarische22 Ethik und militante guerrilla cultural von Carlos Monsiváis gewidmet. Es ist eine globale Staatsbürgerschaft (ciudadanía global), sagt Monsiváis, »die sich gegen den Krieg durch zahlreiche Regierungen und gegen die große Mehrheit der nationalen Gesellschaften setzt.«23 Gerade hier haben wir das Prinzip einer neuen Urbanität in der »apokalyptischen« Megalopolis von Mexiko Stadt.
TR ANSFORMATIONEN DER L ITER ATUR - UND K ULTURWISSENSCHAF T DURCH DAS P OPUL ÄRE An diesem Prinzip, nämlich am Maß der subjektiven Investition beurteilt Monsiváis in Aires de Familia auch die gesamte Literatur Lateinamerikas seit Ende des 19. Jahrhunderts. Im ersten Kapitel mit dem Titel »De las versiones de lo popular« (Monsiváis 2000: 13-50) schaut er auf die Literatur Mexikos vom Ort des Populären aus. Die Untersuchung der narrativen Rhetorik der Romane erfolgt anhand der Frage, inwieweit der Erzähler von der olympischen Höhe der Elite aus auf das Volk schaut und zu ihm für eine gleichgestellte Elite spricht, oder ob sich auch andere Stimmen, andere timbres und Körperlichkeiten autark – also nicht erst durch die erzählerische Mimesis – in dem narrativen Diskurs, oder besser, durch die Buchstaben hindurch, Raum verschaffen. Monsiváis’ Diagnose ist hart: Dem Populären wird in den großen Klassikern der mexikanischen Literatur bis zu Pedro Páramo (1955), dem Roman von Weltrang von Juan Rulfo,24 höchst bauchrednerisch eine 21 | Dies ist Monsiváis’ Diagnose zum Golfkrieg von 2003, der im Fernsehen fast wie eine Show aus James-Bond-Filmen aussieht (« […] y si se prende la televisión se atiende a un show casi extraído de un film de James Bond.«) Monsiváis: No sin nosotros, 53. 22 | Vgl. Spivak: Imperative zur Neuerfindung des Planeten. 23 | Monsiváis: No sin nosotros, 53. »Se opone a la guerra de numerosos gobiernos y de la gran mayoría de las sociedades.« 24 | Nach dessen Erscheinen im Jahre 1955 wurde dieser höchst experimentelle Roman in 19 Sprachen übersetzt. Die hervorragende deutsche Übersetzung besorgte Mariana Frank (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1975). Für die Analyse der Herausforderung dieses Textes vgl. Borsò: Mexiko jenseits der Einsamkeit.
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Stimme verliehen – eine auch in manchen Fällen bis heute andauernde Methode. Das ›Volk‹ ist dabei stets die unemanzipierte, gefährliche ›Masse‹, wie sie von Gustave Le Bons Psychologie des foules (1934) oder Ortega y Gassets La rebelión de las masas (1956) beschrieben wurde. Die Populärkultur hat hier keine eigene Stimme, keine eigene Präsenz oder Körperlichkeit. Gerade die körperliche Dichte der Sprache, aber auch die Sinnlichkeit der Populärkultur wird zu einem ästhetischen Prinzip der Chroniken von Carlos Monsiváis selbst. In seinen Texten ist deshalb der Chronist ein Flaneur. Sein Blick ist nicht panoptisch, der Sprecher schaut nicht aus einer sicheren Höhe in die Totalität des Raumes hinein. Der Ort, von dem aus Monsiváis schreibt, situiert sich inmitten der Menge, ähnlich wie ein interviewender Reporter. Der Sprecher befindet sich mitten in der Menge der Stimmen der Megalopolis Mexiko Stadt; seine Position im Raum ist beweglich. Blick und Ohr sind auf einer Höhe mit der Menge der Stadt; die Sinne sind offen, empfänglich für Dissonanzen. Durch Nachbarschaftsbeziehungen werden Räume durchlässig, etwa der Innenraum und der öffentliche Platz. Die urbanen Konstellationen von México D.F. sind sinnliche und synästhetische ›parcours‹, die der Leser erlaufen muss, und nicht Texte,25 die man hermeneutisch durchdringen oder lesen kann, wie die Stadtliteraturforschung im Kontext von Moderne und Spätmoderne nahelegt.26 Die Stadtchroniken verwirklichen eine Art ›neuen Urbanismus‹, bei dem die Diversität der ›Nutzer‹ und ihre transversalen Kräften und Widerstandsformen eine differenzielle Dynamik entfalten. Die Zentralität der Stadt und die planerische Einheit der Metropole werden durch die Präsenz der populären barrios fragmentiert. Die Stadt ist nicht mehr das Produkt der Elite, sondern das Œuvre der cultura popular. Hier wird Kultur ›gebraucht‹, transformiert, in Szene gesetzt. Durch die Diversität der Nutzer erfolgt in der Stadt potentiell eine ähnliche Dezentralisierung wie bei den Wahrnehmungscodes von Fernsehen, Videos und Internet.27 Diese Analyse der cultura popular ist eine guerrilla gegen essentialistische Begriffe des Populären, so Monsiváis im Kapitel »Versionen des Populären«. Hier werden der noch im Marxismus herrschende Begriff der anonymen Masse (pleba, vulgo) und dessen pejorative Varianten (gleba, populacho) kritisch beleuchtet. Die 25 | Ich beziehe mich insbesondere auf den Begriff der »Textstadt« (Mahler: Stadtbilder. Allegorie – Mimesis – Imagination). 26 | Die parcours laufen quer durch die Normierung des Konsums, quer durch die Geographie der Stadtplaner (des Staates) und des Spektakels und verändern auch die Begrifflichkeit des Raums, so die Quintessenz der Raumanalyse von de Certeau (Arts de faire) und Lefevbres »neuer Urbanität«. 27 | Für die medientheoretischen Implikationen solcher Thesen vgl. z.B. Borsò: »Medienkultur«, 36-65. Ohne spezielle Nennung ist Walter Benjamin für Monsiváis – wie auch für weitere lateinamerikanischen Medien- und Kulturtheoretiker – von eminenter Bedeutung. Dies betrifft z.B. den Begriff der Zerstreuung in der doppelten Funktion von (auch kritisch zu sehendem) Vergnügen und offener Sinnlichkeit.
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Masse wird in eine Menge der Koexistenz partikulärer Subjektivitäten in globalen Netzen verwandelt.28 Menge als Moment des Populären betont Unbestimmtheit und Potentialität des Populären jenseits der exkludierenden Polarität von Elite und Volkstümlichkeit. Anders als Masse impliziert ›Menge‹ Diversität, Differenz, lokale Kontextualisierung und situiertes Sprechen; Körnigkeit der Stimme, persönliche körperliche Präsenz sind dann Ereignisse im Netzwerk globaler Migrationen von Bildern. Das Imaginäre wird also von den Bilderflüssen in den Massenmedien entnationalisiert und erhält deshalb das Recht auf lokale und persönliche Investitionen. Eine solcherart verstandene ›Populärkultur‹ macht weitere Polaritäten obsolet, insbesondere die aus der anthropologischen Kulturwissenschaft stammende Opposition von Mündlichkeit als Volkstechnik und Schriftlichkeit29 als eine Technik der Emanzipation des Geistes. Wie auch in der von den technologischen Medien modulierten, europäischen Erzählliteratur seit den 80er Jahren, ist Mündlichkeit in der Textur von Monsiváis’ Chroniken ein akustisches Material, eine besondere Art sinnlicher Aufmerksamkeit, die von einem anderen Kanal als der Sicht erzeugt wird, eine Kultur der Nähe etabliert30 und Präsenzeffekte im Sinne existentiell wichtiger, wenn auch kontingenter Alltäglichkeiten bewirkt. Dies bezeichnet Monsiváis als »el son de lo vivido« [»der Klang des Lebendigen/Gelebten«]31 . So ist cultura popular als Raum sinnlicher Zerstreuung auch der Raum einer Politik des Ästhetischen, die zu einer anderen Aufteilung des Sinnlichen führen kann und schon auf diesem Wege eine ›Einstellung‹ der Welt gegenüber vermittelt,32 d.h. ein anderer epistemologischer Ort ist. Als Raum führt cultura popular zu einer anderen Aufteilung des Sinnlichen – um Jacques Rancière zu zitieren – und ist eine Einlassstelle für Ereignisse im alltäglichen Kontext urbaner Kulturen. Allerdings fehlt in dieser kurzen Skizze das zentrale theoretische Element, das Monsiváis in Los rituales del caos (1995), einem der anspruchsvollsten Texte, ästhetisch bearbeitet: Die Kontingenz des Populären als Ritual. Im Oxymoron des Titels »Rituale des Chaos« wird vielmehr die Koextensivität33 von Chaos und Ritual postuliert. Damit werde ich schließen. Aber zuvor ein kurzer Exkurs zur Profanierung, die ich mit Bezug auf Giorgio Agambens Profanierungen (2005) erklären werde.
28 | Die Bedeutung des Begriffs ist dem von Hart und Negri nicht unähnlich – allerdings ohne deren utopischen Zug. Vgl. Hart und Negri: Empire. 29 | Vgl. Ong: Oralität und Literalität. 30 | Zu Audiovisionen zur Unterscheidung zwischen dem Oralen und dem Akustischen vgl. Borsò: »Audiovisionen der Schrift an der Grenze des Sagbaren und Sichtbaren«. 31 | Das Kapitel »El son de lo vivido« [der Klang des Lebendigen/Gelebten] beginnt mit der Frage: »¿A qué sueña una sociedad? ¿Cómo se oye«? [Wonach klingt eine Gesellschaft? Wie hört sie sich an?] (Monsiváis: Aires de familia, 37). 32 | Vgl. Rancière: La Mésentente; Rancière: Le partage du sensible. 33 | %RO]Das kontrollierte Chaos, 260.
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G ESTEN UND L EBENSSTILE : M E XIK ANISCHE P ROFANIERUNGEN Profanierungen sind zuallererst Gesten im Sinne unbestimmter Öffnungen zur Nähe und zur Interaktion. Als solche schaffen sie Übergänge dort, wo Grenzen bestehen. Deshalb sind Gesten ›profanierend‹. Sie können die Strukturen entgrenzen, die sich durch die Absonderung des Dings in allen Bereichen des Alltags ergeben haben.34 Denn durch die Absonderung des Dings in besonderen Orten wie dem Museum, touristischen Dörfern oder auch Shopping Malls konstituiert sich Kultur als das Unprofanierbare, das die Dinge ihrem Gebrauch entzieht. Vom quasi-religiösen Bann des Unprofanierbaren angezogen, verlieren Menschen die Fähigkeit zum Gebrauch. Profanieren heißt dann, die Dinge dem Gebrauch jenseits der Funktionalität zurückgeben. Giorgio Agamben entsprechend ist die materielle Aneignung eine transgressive Praktik, denn sie überschreitet die Grenzen, die den Menschen von den unantastbaren Dingen trennt. Profanierung verstehen wir auch als Praxis und zwar als diejenige mediale Praxis, in der sich das Medium vom Zweck emanzipiert und reine Medialität wird, oder, um mit Benjamin zu argumentieren, die Praxis der reproduktiven Aneignung, die die Möglichkeiten des Mediums ›taktil‹ spielen lässt. Monsiváis profaniert in beide Richtungen, nämlich indem er die Dinge von atopischen Orten wie Museen oder von den katalogisierten Plätzen wie Malls befreit und in der transmedialen Textur der Chroniken respektlos vereint, verflicht, verändert. Dieses taktile Anfassen beginnt mit der Art und Weise, in der das Radio oder der Film nationale Narrative als Spektakel zum Konsum anbieten, damit aber auch neu kontextualisieren. In lokalen Kontexten werden Mythen ›zum Anfassen angeboten‹ – etwa wenn historische Helden in ruralen Kontexten dargestellt werden – und damit profaniert. Im Film spielt das Melodram eine ambivalente Rolle als Vermittler der staatlichen und christlichen Moral und zugleich als Mittel zu ihrer Umkehrung oder Erosion.35 Die parodistischen oder sentimentalen Transpositionen der Nutzer entziehen sich der Kontrolle des Staates.36 Ikone der massenmedialen, filmischen cultura popular, wie Cantinflas – einer Chaplin analo34 | So Agamben in »Lob der Profanierung« (in Agamben: Profanierungen.) mit Bezug auf Benjamins Fragment »Kapitalismus als Religion«. 35 | Santa (1931) von Antonio Moreno ist der erste Tonfilm im mexikanischen Film und eine Wiederaufnahme des auf den Roman von Federico Gamboa zurückgehenden Stummfilm (1918). Wie Moreno kam die Hauptdarstellerin, die Mexikanerin Lupita Tovar, aus Hollywood nach Mexiko zurück. Monsiváis setzt das sinnliche Kapital der Bilder gegen die moralisierende Fabel (eine Prostituierte, die an Krebs erkrankt und bei der Operation stirbt). 36 | Allá en el rancho grande (1936) von Fernando de Fuentes. Das Hollywood-Motiv wird in eine ländliche Umgebung verlegt, in der die Cowboys wie mexikanische Charros erscheinen. Als erster international erfolgreicher und in Mexiko populärster Film dieses Regisseurs (der 1935 den Revolutionsfilm Vámonos con Pancho Villa gedreht hatte) markierte er einen Wendepunkt in der mexikanischen Filmindustrie.
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gen Figur mit populärem Sprachregister37 – autorisieren die Inszenierung lokaler Subjektivitäten, welche analog zum pelado, jenem Mexikaner, der in Kalifornien zur hybriden Gestalt wird, die Mythen der Elite parodieren. Mit dem Fernsehen38 stellen die Nutzer eine jeweils persönliche ›Familienszene‹ her. Die Diversität dieser Szenen fragmentiert die Einheit der ›großen‹ Familie, die im Nationbuilding als Metonymie der Einheit des Staates diente. Es wäre auch auf die in Mexiko nicht unbedeutende Verbindung von Religion und Fernsehen hinzuweisen, die eine Art Säkularisierung des Sakralen mit sich bringt und die Mediennutzung ›profaniert‹. Spezifische Orte des Spektakels bringen ebenfalls Diversität hervor: Sport oder Musik. Der Sport macht das Vaterland zum Spektakel, das mimetische Vermögen der Fans passt den nationalen Mythos an die lokalen Ressourcen an und verändert ihn; außerdem erfahren emotional beteiligte Subjekte den Disput der Sportler als ihren eigenen. ›Sich zeigen‹ wird zur konstitutiven Bedingung des Existierens, was einen Weg zur Autorisierung marginalisierter Subjekte darstellen kann. Ähnliches gilt für die Musik und die Reproduktion von Idolen durch Gestik, Kleidung etc. in Alltagssituationen der urbanen Szene. Die Übergänge von Innen und Außen (Wohnzimmer und Straße) mittels des Fernsehspektakels oder die Übergänge von Individuum und Kollektiv im Kino verändern die topographischen Dichotomien u.a. in Folge kultureller Migrationen über die Nordgrenze, oder von Migrationen der Bilder aus Hollywood. Medienbilder werden zu figürlichen Dispositiven der historischen Narration, das Sentimentale macht aus den nationalen Helden Idole, und konsumiert oder ›verbraucht‹ diese. Bei dieser re-visionären Arbeit an den Grundsätzen abendländischer Kultur bleibt auch die Ästhetik nicht unprofaniert. Los rituales del caos gründen eine Ästhetik der »industriellen Sensibilität«,39 die nicht nur die dissidenten Eigenschaften besitzt, die Susan Sonntag der Kultur des camp zuschreibt, sondern in viel radikalerer Weise als Produktion von Kultur durch Kitsch, d.h. als populäre, also dilettantische Kreuzung der Stile oder als respektlose Form der Vulgarisierung und
37 | Cantinflas war ein auch von Chaplin geschätzter Schauspieler, Komiker, Sänger und Kinoproduzent. Die Mimesis des hybriden Sprechens im populären Register sowie auch der Sprachprobleme einfacher Menschen (etwa verhaspeln) hatte eine doppelte Funktion: Einerseits die Ironisierung der Elite durch Wortwitz; zum anderen die Autorisierung der sozial Schwachen. »Cantinflear« ist bis heute eine bedeutende Taktik, aber auch eine Praxis des Populären. 38 | Auch Monsiváis differenziert zwischen der Phänomenologie von Film und Fernsehen. Im Film stellt sich das Individuum neu oder anders zur Kollektivität. Zu dieser Differenzierung vgl. auch Zielinski: Audiovisionen. 39 | Innerhalb der Debatte zwischen dem Kulturpessimismus und dem Optimismus hinsichtlich möglicher Potentiale einer Kultur der Reproduzierbarkeit verweise ich auf den bedeutendsten Vertreter des Letzteren: Martín-Barbero: »Modernidad y medios masivos en América Latina«. Eine ähnliche Position findet sich in García Canclini: Culturas híbridas.
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Popularisierung der Sprache verstanden wird.40 Als ästhetische Anschauungskraft der Massengesellschaft macht der Kitsch die urbane Kultur zum ›Supermarkt der Stile‹, aber auch zur Quelle lokaler Diversitäten durch unterschiedliche Aneignungsformen. Das Lob der Profanierung kommt in Monsiváis’ Chroniken auch durch eine Ästhetik an die Oberfläche,41 die die Dichte materieller Stimmen und Sprachregister im urbanen Raum inszeniert. Die literarische Ästhetik dieser Texte liegt somit gerade in der Profanierung des Systems der Literatur und gerade dadurch als Öffnung eines bewohnten und begehbaren Raumes der populären Repräsentation durch die Materialität des Textes. Hier ergibt sich aus dem Tod des Autors die transgressive Geste der Profanierung, indem Faktitzitäten ›benutzt‹ und damit konsumiert und reformuliert werden.42
C ULTURA POPULAR ODER DIE K ONTINGENZ : U NBESTIMMTHEITEN UND P OTENTIALITÄTEN Monsiváis’ Essays »Rituale des Chaos« bringen die Kontingenz zur Aufführung. Die stabilisierende und normalisierende Wirkung massenmedialer Rituale und zugleich die profanierende Funktion massenmedialer Praktiken wechseln sich ständig ab, ohne dass jedoch eine der beiden Richtungen des Kulturellen definitiv obsiegt. Genau diese Unbestimmtheit macht das Populäre zu einer Potentialität, die ins Triviale verflachen würde, würde eine der Bewegungen zum Stillstand kommen. »Rituale des Chaos« ist eine Ästhetik der Unterbrechung. Die normalisierende Kraft des Rituals populärkultureller Formen wird durch das unterbrochen, was Monsiváis relajo bezeichnet, eine Art momentanes, unbestimmtes »Loslassen«, was zugleich eine gewaltsame aber auch temporär erlösende Entkoppelung von Ritual und Automatismus bewirkt. Nachstehend sollen einige programmatische Sätze die Kohäsion von temporärer Befreiung des populären Imaginären und normierender Funktion massenmedialer Kodifizierungen illustrieren. In »Parábola de las imágenes en vuelo« (Parabeln der fliegenden Bilder) aus dem Beginn von Rituales del caos heisst es: […] Y las imágenes iluminan el perpetuo Camino del Exceso (la intimidad masificada), y en las imágenes la gente se acomoda en el espacio físico que es, también, la visión del 40 | Im Mexikanischen ist cursi der Begriff für Kitsch. 41 | Zur Ästhetik der Oberfläche vgl. auch Flusser: Lob der Oberflächlichkeit und Deleuze und Guattari: Mille Plateaux. 42 | In einer Aneignung von Foucault deutet Agamben den Tod des Autors produktiv um: »Der Autor […] ist ein bestimmtes funktionelles Prinzip, mit dessen Hilfe man in unserer Kultur eingrenzt, ausschließt, selegiert: kurz das Prinzip, durch das man der freien Zirkulation, der freien Manipulation, der freien Komposition, Dekomposition und Rekomposition der Fiktion Fesseln anlegt« (Agamben: Profanierungen, 59).
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V ITTORIA B ORSÒ mundo. Todos juntos, aunque nadie lo quiera, en la implosión de recursos y la explosión de familias, en la lujuria y el ascetismo. La diosa de los modernos, la demografía, expulsa y atrae, preserva y anega, es un diluvio y es la sequía que florece.43
Die Paradoxie wird hier schon durch das Oxymoron einer massifizierten Intimität oder durch den materiell-physischen Raum ausgedrückt, der zugleich auch eine abstrakte Weltsicht ist. Die Serie weiterer, im obigen Zitat kursiv hervorgehobene Paradoxien demonstriert das Prinzip, von dem die Rede ist, nämlich die Wirkung der ins Ekzessive erfolgenden Proliferation der Bilder in der Menge, zugleich die Fragmentierung der Metaerzählung der ›nationalen Familie‹ durch die Vermehrung der konkreten Familien in massifizierten Gesellschaften, die Gegenbewegung von Schutz und Überschwemmung, die schließlich im Bild einer Dürre, die aufblüht, zusammengefasst ist. Pero en el Distrito Federal la obsesión permanente (el tema insoslayable) es la multitud que rodea a la multitud, la manera en que cada persona, así lo sepa o no lo admita, se precave y atrinchera en el mínimo sitio que la ciudad le concede. Lo íntimo es un permiso, la ›licencia poética‹ que olvida por un segundo que allí están, nomás a unos milímetros, los contingentes que hacen de la vitalidad urbana una opresión sin salida […] El tumulto despliega sus propuestas estéticas y la ciudad popular entrega sus rituales. 44
Wiederum wird in dieser Passage die Metapher des umkämpften Raums der Megalopolis so materialisiert, dass sie zu einer pyhsischen Erfahrung der regelrechten Bedrohung durch die umgebende chaotische Menge oder der zufälligen Ereignisse wird, welche die urbane Vitalität zu einer erdrückenden Einbahnstraße macht. Ein solcher Albtraum kann, ja muss durch die Poesie des Vergessens unterbrochen werden, wie man die ironische Verwendung des Begriffs licencia poética interpretieren kann. Es gibt tatsächlich kein Entrinnen aus der Apokalypse einer 21-Millionen-Megalopolis. Es besteht aber eine mit den Mitteln der populären Äs43 | Monsiváis: Los rituales del caos, 17. [Und die Bilder beleuchten den permanenten Weg zum Exzess (die massifizierte Intimität) und in den Bildern richten sich die Leute im physischen Raum ein, der auch eine Sicht der Welt ist. Alle zusammen, obwohl es niemand wünscht, in der Implosion der Ressourcen und der Explosion der Familien, in der Wollust und der Askese. Die Göttin der modernen Menschen, die Demographie, exkludiert und zieht an, schützt und überschwemmt, ist eine Sintflut und eine Dürre, die aufblüht]. 44 | Ebd., 18-19. [Aber in Mexiko Stadt ist die permanente Obsession (das Unvermeidbare) die die Menge umgebende Menge [multitude], die Art, in der jede Person, ob sie es weiß oder nicht zugibt, sich in dem kleinsten Ort, der ihm die Stadt gewährt, wie in einem Schützengraben abschirmt. Das Intime ist eine Genehmigung, die ›poetische Freiheit‹, die vergisst, dass die Kontingenzen, die die urbane Vitalität zu einer Unterdrückung ohne Ausweg machen, ganz nahe sind, ein Paar Millimeter weit […]. Der Tumult entfaltet seine ästhetischen Vorschläge und die populäre Stadt überreicht seine Rituale].
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thetik erzeugte Unterbrechung, die vom Spektakel der Medien selbst ermöglicht wird, so Monsiváis, der sich im Vorwort von »Rituale des Chaos« auf La société de spectacle des situationistischen Künstlers Guy Debord bezieht.45 Chaos ist die Unterbrechung des Automatismus des Spektakulären zu Gunsten transitorischer Öffnungen. Cultura popular ist also kein metaphysischer, kein utopischer, sondern ein krisenhaft-kreativer, kontingenter Ort. Gerade die Unbestimmtheit der kontingenten Ereignisse des Populären entfaltet aber das selbstreflexive Potential für die Analyse des Kulturellen. Denn Populärkultur bringt all dies ins Spiel, was die klassische Epistemologie verschmäht hat, Materie, Körper, Gegenwart, Transitorisches, Kontingentes und damit auch Tod, und transformiert die binomische Relation zu den Gegensätzen durch temporäre Übergänge. Das Inferno des umkämpften Raums in der globalisierten Megalopolis ist durch keine Utopie zu heilen. Schon am Ende von Dias de guardar, der erwähnten Chronik über die Studentenbewegung von `68 und ihrer brutalen Niederschlagung, imaginiert Carlos Monsiváis ein Spiel, das er ironischerweise »Profunda« nennt. In diesem Spiel seien Fragen zu stellen – so die Regel –, welche die Realität ändern: Zwei dieser Fragen im Kapitel, das den Titel »Homenaje al espíritu lúdico de una década (del camp a la trivia)«46 trägt, betreffen die Kontingenz: ¿Cómo se llama la contingencia que separa inequívocamente al ser del no ser?47 ¿- Si el azar es la contingencia, entonces, la contingencia es el azar?48 Desde el punto de vista epistemológico ¿es la existencia un devaneo, un delirio, un deliquio, un desastre?49
Der erste Aphorismus spielt auf jene Kontingenz an, die definitiv entscheidet, nämlich den Tod. In Umkehrschluss ist die Auflösung der Unbestimmtheit kontingenter Ereignisse zugunsten einer unzweideutigen Unterscheidung zwischen Sein und Nicht-Sein tödlich. Im zweiten scheinbaren Syllogismus verbindet das Verb ›sein‹ ein Subjekt mit einem prädikativen Nomen. Im ersten Teil des Satzes ist Kontingenz in prädikativer Stellung, im zweiten ist Kontingenz in Subjektstellung und der Zufall das Prädikat. Dies bedeutet, dass im ersteren Fall der Zufall kontingent ist, im Zweiten die Kontingenz als Zufall definiert wird. Kontingenz als Zufall integriert den Zufall in die Matrix der Unterscheidung zwischen Zufall und Letztbestimmung.
45 | Vgl. Debord: La société du spéctacle. 46 | [Hommage an den ludischen Geist einer Dekade (vom camp zu Trivia)] – letzteres im Sinne von Allgemeinwissen, ›trivial‹. 47 | [Wie heißt die Kontingenz, die unzweideutig das Sein vom Nicht-Sein trennt?]. 48 | [Wenn der Zufall die Kontingenz ist, ist dann die Kontingenz der Zufall?]. 49 | [Ist die Existenz vom epistemologischen Standpunkt aus betrachtet eine Verwirrung, ein Delirium, eine Verflüssigung, ein Desaster?].
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Kontingenz ist pures Ereignis, das geschehen kann oder auch nicht. Sie ist die Gegenwart des Sich-Ereignens, die Unbestimmtheit der Schwelle. Kontingenz impliziert den Zufall nicht als (immer noch metaphysischer) Gegensatz der letzten Bestimmung, sondern als Teil des Sich-Ereignens, das auf das Handelnde zu- und nicht von diesem herkommt. Ja, mit dem Syllogismus betont Monsiváis die enge Verbindung des Geschehens und des Zufalls, aber so, dass die Ursachenreihe, aus der sich solch ein zufälliges Zusammentreffen ergeben kann, ins Unbestimmte verläuft. Zufall ist kontingentes Geschehen; Kontingenz ist Geschehen als Bewegung, welche die Potentialität des Werdens oder Nicht-Werdens erst ermöglicht. Nach Prigogine nimmt die Chaostheorie die Kreativität der Natur jenseits des thermodynamischen Gleichgewichts zum Modell, um die spontane Selbstorganisation und Entstehung von Ordnung in dissipativen Strukturen zu erklären.50 Das Paradoxon Prigogines, nämlich die unbestimmte Relation von Chaos und Ordnung, ist das was Monsiváis im Vorwort von Los rituales del caos angesichts der apokalyptischen Entwicklungen der 21 Millionen-Stadt ein »befreiendes« Moment nennt. Anhand der Chroniken der Stadt in Rituales del caos definiert Monsiváis die Megalopolis als postapokalyptisch. Postapokalyptisch ist der Zustand, in dem der Mensch nicht mehr an Erlösungsutopien des Konsums und seiner Ordnung (oder an das Gegenteil) glaubt: »No imagina detrás de cada show los altares consagrados al orden«.51 Dies ist die Chance der Unbestimmtheit von Kontingenz und Ereignis, und es ist ein Potential, das dem Populären in besonderer Weise inhärent ist.
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Irina Gradinari Genre, Gender und Lustmord Mörderische Geschlechterfantasien in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa Oktober 2011, 378 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1605-7
Ursula Hennigfeld (Hg.) Nicht nur Paris Metropolitane und urbane Räume in der französischsprachigen Literatur der Gegenwart Februar 2012, ca. 250 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1750-4
Lettre Astrid Henning Die erlesene Nation Eine Frage der Identität – Heinrich Heine im Schulunterricht in der frühen DDR Oktober 2011, 318 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1860-0
Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Rhetoriken von Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin Februar 2012, ca. 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1760-3
Stephanie Waldow (Hg.) Ethik im Gespräch Autorinnen und Autoren über das Verhältnis von Literatur und Ethik heute Februar 2011, 182 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1602-6
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Lettre Christine Bähr Der flexible Mensch auf der Bühne Sozialdramatik und Zeitdiagnose im Theater der Jahrtausendwende
Kentaro Kawashima Autobiographie und Photographie nach 1900 Proust, Benjamin, Brinkmann, Barthes, Sebald
Dezember 2011, ca. 364 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1557-9
August 2011, 314 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1764-1
Sandra Evans Sowjetisch wohnen Eine Literaturund Kulturgeschichte der Kommunalka
Tabea Kretschmann »Höllenmaschine/ Wunschapparat« Analysen ausgewählter Neubearbeitungen von Dantes »Divina Commedia«
Juni 2011, 322 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1662-0
Markus Fauser (Hg.) Medialität der Kunst Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne Mai 2011, 290 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1559-3
Evi Fountoulakis, Boris Previsic (Hg.) Der Gast als Fremder Narrative Alterität in der Literatur März 2011, 274 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1466-4
Sabine Frost Whiteout Schneefälle und Weißeinbrüche in der Literatur ab 1800 November 2011, ca. 330 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1884-6
Dezember 2011, ca. 244 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1582-1
Ines Lauffer Poetik des Privatraums Der architektonische Wohndiskurs in den Romanen der Neuen Sachlichkeit September 2011, 356 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1498-5
Henrike Schmidt Russische Literatur im Internet Zwischen digitaler Folklore und politischer Propaganda April 2011, 738 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 43,80 €, ISBN 978-3-8376-1738-2
Philipp Schönthaler Negative Poetik Die Figur des Erzählers bei Thomas Bernhard, W.G. Sebald und Imre Kertész August 2011, 348 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1721-4
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