Sprache und Politik: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2023, Heft 01 [1 ed.] 9783666800375, 9783525306079, 9783525310793, 9783525800379


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Sprache und Politik: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2023, Heft 01 [1 ed.]
 9783666800375, 9783525306079, 9783525310793, 9783525800379

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INDES Vandenhoeck & Ruprecht

Heft 1 | 2023 | ISSN 2191-995X

ZEIT SCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT

SPRACHE UND POLITIK Kari Palonen Politik der Debatte  Antje Kunstmann Seid doch mal leise!  Interview mit Astrid Séville und Julian Müller »Die deutsche Streitkultur

ist so eine Art Weltkulturerbe«  Paul Frommer Die Erfindung von Na’vi

Wo liegen die Wurzeln des Brexit-Dramas?

Volker Berghahn Englands Brexit und Abschied von der Welt

Zu den Ursachen des Niedergangs der britischen Weltmacht im 20. und 21. Jahrhundert

2021. 248 Seiten, geb., € 29,00 D ISBN 978-3-525-30607-9 Auch als e-Book erhältlich. Als sich 2016 die knappe Mehrheit der Briten in einem Volksentscheid für den Austritt aus der EU entschied, schüttelten nicht nur die Bürger der europäischen Nachbarländer den Kopf. Warum glaubte eine Nation im Zeitalter der internationalen Verflechtungen ihrer Wirtschaft und Politik, im Alleingang durch Erlangung nationaler Souveränität einen erneuten Aufstieg in den Kreis der Großmächte erreichen zu können? Volker Berghahn stellt den Brexit in eine historische Entwicklung, ohne die die Traditionen und Emotionen, die in der Debatte der letzten vier Jahren an die Oberfläche kamen, nicht zu verstehen sind.

Beiträge zur Migrationsforschung

Agnes Bresselau v. Bressensdorf (Hg.) Über Grenzen

Migration und Flucht in globaler Perspektive seit 1945

2019. 418 Seiten, gebunden € 60,00 D ISBN 978-3-525-31079-3 Auch als e-Book erhältlich.

Die Beitrage des Sammelbandes bieten auf aktuellem Forschungsstand ein breites Panorama an zeithistorischen, politikund sozialwissenschaftlichen Beiträgen. Sie diskutieren kontroverse Begriffe wie »Arbeits- und Wirtschaftsmigration«, »Zwangsmigration« und »politische Flucht«, analysieren Netzwerke, Infrastrukturen und Akteure verschiedener Migrationsregime und fragen nach Konzepten und Praktiken politischer Steuerung.

EDITORIAL Ξ  Volker Best / Katharina Rahlf

Bibel: Im Anfang war das Wort, sechs Tage Schöpfung, Sonntagsruhe. Demokratie: Im Anfang Wahlversprechen, vier Jahre Regieren, Erschöpfung, Sonntagsreden. Frei nach Aristoteles sind wir Menschen ebenso satzbildende wie gemeinschaftsbildende Wesen; wir sind der Sprache mächtig und sprechen der Macht zu. Doch wie spricht sie zurück, wie ist es um ihre Responsivität bestellt? Im Anfang war Adenauer, so begann Arnulf Baring seine Habilitationsschrift zur Außenpolitik in dessen Kanzlerdemokratie. Von dem »Alten von Rhöndorf« ist zum Komplex Politik und Sprache das Zitat überliefert: »Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?« Na klar, die da oben, versprochen / gebrochen, da gibt es einer sogar dreist zu! Der folgende Satz des ersten Bundeskanzlers, »[N]ichts hindert mich, weiser zu werden«, oft nicht mitzitiert, gibt der Sentenz freilich einen anderen Dreh, weniger Arroganz der Macht, eher verantwortungsvolle Politik, die auf neue Informationen reagiert. In immer kürzeren Soundbites droht immer mehr verloren zu gehen, schrumpft unsere eigene Responsivität. Zeit für ein paar Antworten. So gehen wir in diesem Heft dem Komplex Politik und Sprache auf den Grund. Dazu reisen wir zurück bis ins antike Athen, dessen Polis von Gerüchten geprägt wurde. Wir unternehmen eine Tour d’horizon zur »lingua blablativa«, wie Niklas Luhmann einst die Sprache von Politiker:innen scholt, und fragen danach, worin Reiz und Risiko von Robert Habecks andersartigem Sprechen besteht. Wir besuchen das Parlamentsplenum als Ort politischer Debatten und steigen anschließend hoch in die Abgeordnetenbüros auf der Suche nach denen, aus deren Feder die gerade vernommenen Worte stammen. Wir überschreiten die innerbelgische Sprachgrenze, zu deren Seiten Flämisch und Französisch als Spaltpilze sprießen. Blühende Metaphernlandschaften offenbaren sich auch in bundesrepublikanische Kontroversen auf den Begriff bringenden Schlagworten. Wir schreiten die Geschichtserzählungen deutscher Parteien ab, spüren dem Sprachwandel und seiner politischen Gestaltbarkeit nach, tauchen in Kunstsprachen ein, besichtigen im Museum den Einfluss von Political Correctness, ergehen uns in Ironie, Zynismus sowie Schweigen und lauschen der Pausenmusik auf dem letzten CDU-Parteitag nach.

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Wie immer bei INDES gehen dabei politisch-gesellschaftlicher Inhalt und sprachliche Form Hand in Hand, sind wir um so verständlich wie anregend formulierte Beiträge bemüht. Passend zum Schwerpunktthema und angelehnt an die Debatte über Sinn oder Unsinn von Parlamentspoet:innen Anfang letzten Jahres geben wir dabei auch zwei Dichter:innen ein Forum, über das so komplexe wie spannungsreiche Verhältnis von Politik und Sprache nachzudenken. Wir wünschen eine gleichermaßen sprachlich anregende wie politisch informative Lektüre.

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EDITORIAL

EDITORIAL

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INHALT

1 EDITORIAL Ξ Volker Best & Katharina Rahlf



>> INTERVIEW

7  »DIE DEUTSCHE STREITKULTUR, DAS IST JA AUCH

SO EINE ART WELTKULTURERBE«

Vom »Habeckisieren«, »Söderieren« und ­politischem Sprechen generell Ξ Interview mit Astrid Séville und Julian Müller



>> ANALYSE 29 Politik der Debatte Zum parlamentarischen Denk- und ­Handlungsstil Ξ Kari Palonen



>> KOMMENTAR 37 Macht und Trost Über politisches Redenschreiben Ξ Vazrik Bazil

46 GEDICHTSPOLITIK I Ξ Jan-Eike Hornauer



>> ANALYSE 48 Politik der Gerüchte und Gerüchte der Politik Hörensagen, Ruf und öffentliche Meinung in der attischen Demokratie Ξ Christopher Degelmann

57 Sprachwandel und Sprachwächter Eine linguistische Einordnung zum aktuellen Sprachgebrauch Ξ Katharina Jacob

68 Bebels Goldene ­Taschenuhr Oder: Historische Narrative deutscher ­Parteien Ξ Torsten Oppelland

76 Politische Schlagwörter Mit einem sprachgeschichtlichen Rückblick auf Politik der Stärke und Pazifismus Ξ Martin Wengeler

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85 Konnektiver Zynismus Wie grenzüberschreitender Humor in den sozialen Medien die Demokratie destabilisiert Ξ Fabian Schäfer

95 Sprache als Spaltpilz Szenen flämisch-wallonischer Zerrüttung Ξ Christoph Driessen



>> KOMMENTAR 104 Seid doch mal leise! Warum der Lärm unserer Zeit die Stille(n) braucht Ξ Antje Kunstmann

109 GEDICHTSPOLITIK II Ξ Ulrike Almut Sandig



>> INSPEKTION 111  Die Erfindung von Na’vi, der Muttersprache von Pandora Warum Kauderwelsch keine Option (mehr) ist Ξ Paul Frommer

121 I wish I was special, you’re so f***ing special Politische Kommunikation qua Pausenmusik beim CDU-Parteitag? Ξ Volker Best

PERSPEKTIVEN

>> ANALYSE 129 Nach der liberalen ­Hegemonie? Konturen einer dilemmatischen Weltordnung Ξ Thorsten Hasche

137 Kunst und Moral Der Einfluss von Political Correctness auf das Kunstfeld Ξ Charlotte Hüser

Inhalt

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SCHWERPUNKT: SPRACHE UND POLITIK

INTERVIEW

»DIE DEUTSCHE STREITKULTUR, DAS IST JA AUCH SO EINE ART WELTKULTURERBE« VOM »HABECKISIEREN«, »SÖDERIEREN« UND ­P OLITISCHEM SPRECHEN GENERELL Ξ  Interview mit Astrid Séville und Julian Müller

Warum ist es überhaupt wichtig, wie Politiker und Politikerinnen sprechen? Astrid Séville (S): Ich gehe davon aus, dass politische Kommunikation per se schon politisches Handeln ist. Denn erstens verändert sie etwas, zum Beispiel die Wahrnehmung der politischen Wirklichkeit. Und zweitens müssen politische Entscheidungen vermittelt und erklärt werden, gerade in einer repräsentativen Demokratie. Julian Müller (M): Der Kommunikation kommt in der Politik heute insofern eine noch größere Rolle zu als ohnehin schon immer, als sich die Orte, Bühnen und Medien von Politik verändert und erweitert haben. Da gibt es unterschiedliche Arten zu sprechen, unterschiedliche Tonfälle, die von Situation zu Situation variieren können. Die rhetorisch gelungene Rede im Parlament ist nur noch eine Form politischer Kommunikation neben vielen anderen. Wenn man Politikersprache hört, denkt man natürlich an diese phrasenhafte Plastiksprache, für die Niklas Luhmann den Ausdruck »Lingua blablativa« prägte. War das immer schon so? Und falls es früher anders war, wann hat diese verwaltungstechnisch geprägte Politikersprache Einzug gehalten? S: Ich wäre vorsichtig mit dem Motto »Früher war alles anders«. Politische Sprache muss viele Anforderungen und Erwartungen zugleich erfüllen. Zum einen muss sie, wie gesagt, Entscheidungen erklären, vermitteln. Zum anderen muss sich ein politischer Akteur mit ihr auf eine gewisse Art und Weise unangreifbar zeigen. Er oder sie muss in vielerlei

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Richtungen ein Angebot machen, aber auch wiederum sagen: »Hier stehe ich und ich habe etwas entschieden.« Insofern ist eine gewisse Neigung zu Phrasen dem politischen Betrieb inhärent. Was wohl zugenommen hat mit diesen neuen Formaten und dieser Schnelllebigkeit, auch dem Synchronisationsproblem von Politik heutzutage, ist die Antizipation von Angriffsmöglichkeiten in der eigenen Sprache, also sich zu überlegen, für welchen Satz bekomme ich in den sozialen Medien gleich eine brutale Rückmeldung oder Shitstorms. M: Ich glaube auch, dass wir die parlamentarische Debatte wahrscheinlich ein bisschen verklären. Man sagt immer: Strauß gegen Wehner, das war ja so großartig. Das war sicher auch großartig. Und als Sternstunden des Parlamentarismus hat man dann jene Bilder und Reden im Kopf, wo Leute am Pult mit sich gerungen haben. Wolfgang Schäuble etwa, als es darum ging, ob Berlin Bundeshauptstadt werden soll, Otto Schily, als es um seinen Vater als Wehrmachtssoldat ging. Das waren aber doch eher seltene Fälle. Einen Großteil der Emotionalität, die früher im Plenum stattfand, kann man jetzt woanders stattfinden lassen, weil es dafür wiederum eigene Kanäle gibt. Wer das gerade strategisch einsetzt, ist die AfD-Fraktion, die in ihre Reden zumindest diese halbe Minute Skandalisierungspotenzial extra für andere Plattformen einbaut. Sie haben auch viel darüber geschrieben, dass sich in der Politik bestimmte Phrasen ewig wiederholen. S: Politiker reagieren mit immer neuen Phrasen. Wir müssten über Konjunkturen von Phrasen sprechen. Ich habe beispielsweise viel gearbeitet über die Rhetorik der »Alternativlosigkeit«, die aber so skandalisiert worden ist, dass heute kaum mehr jemand so spricht. Heute stellt sich kaum noch ein Politiker hin und redet von Alternativlosigkeit, weil er oder sie die negative Wirkung schon einkalkulieren muss. Wir haben neue Phrasen. Ich denke da an die SPD, die sich offensichtlich beraten ließ zum Framing. Dann gab es plötzlich das »Gute-Kita-Gesetz« und die »Respektrente«, bei der man die Kommunikationsberatung in der Formulierung triefen hören konnte. Welche Phrasen nerven Sie denn am meisten? S: Ich glaube, ich habe mich schon geoutet, als ich von »Gute Kita« und »Respektrente« gesprochen habe. Ich bin irritiert, wenn mir als Wählerin oder als Bürgerin vorgelegt wird, was ich zu denken habe, wenn die Sprache schon vereindeutigen soll, wie ich etwas einordnen soll. Das liegt aber

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Sprache und Politik  —  Interview

natürlich an meiner akademisch vorgebildeten Perspektive, dass ich dann frage: Was soll denn das? Da reagiere ich sehr empfindlich. M: Bei mir gibt es durchaus Personen – die werde ich aber nicht nennen –, denen ich nur schwer zuhören kann. Was ich indes überhaupt nicht mag – und das gilt überparteilich – sind Fußballanalogien. Edmund Stoiber hat früher gerne die »Champions League« bemüht, jetzt sprechen sogar die Grünen davon. Oder Scholzʼ »Youʼll never walk alone«. Das sind aus einer vermeintlichen Alltagsnähe geborgte Bilder, mit denen ich nichts anfangen kann. Wahrscheinlich sind die getestet und womöglich auch erfolgreich. Aber ich selbst kann das kaum ertragen. Das »Starke-Familien-Gesetz« gab es auch noch. S: Ja, richtig. Franziska Giffey war eine Meisterin dieses brutal offensichtlichen Framings. Das ist eine Form von Phrasierung, die reagiert hat auf ein Bedürfnis nach vermeintlich klarer Sprache. Eine der neuen Phrasen von Olaf Scholz ist das »Unterhaken«. Auch das hat er sicherlich von Kommunikationsberatern. Da wurde ihm geraten, eine lebensnahe Metapher zu wählen. Auch da sehen wir den Effekt: Das hat er jetzt schon so oft gesagt, dass man nur noch müde lächelt. Deswegen muss man die zeitliche Dimension von Phrasen beschreiben; die Phrasen, über die wir uns vor zehn Jahren aufgeregt haben, sind heute nicht mehr so einfach sagbar. Eine weitere beliebte Phrase lautet, »man muss die Bedenken, die Sorgen ernst nehmen.« Was halten Sie davon? S: Ich fühle mich, sobald ich das höre, nicht ernst genommen. Nicht »abgeholt«. Das haben wir, glaube ich, auch alle durchschaut. Das ist eine völlig abgedroschene Phrase. Das ist einer von diesen Sätzen, die verpuffen. Das ist wie Rauschen. Auch die Politiker und Politikerinnen wissen ja um diese Klage über ihre phrasenhafte Sprache. Warum sind sie so träge und verwenden sie trotzdem – und wieso wird ihnen noch dazu geraten? S: Ich weiß nicht, ob sie träge sind. Auch die Politiker testen ja wiederum bestimmte Phrasen bzw. Formulierungen über Fokusgruppen. M: Du hast ja gesagt, dass man in sehr hohem Maße schon die Reaktionen auf das eigene Gesagte antizipiert. Das gilt heute noch stärker als jemals zuvor, weil diese Reaktion so unmittelbar, so schnell und ungefiltert zu spüren ist. Das ist nicht mehr ein Kommentar am nächsten Tag in der Zeitung, sondern das geschieht in Echtzeit. Und das hat schon eine neue Interview mit Astrid Séville und Julian Müller

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Qualität. Dagegen kann man sich auf unterschiedliche Arten und Weisen schützen. Man kann sich sehr verletzbar, nahbar und persönlich zeigen. Das ist aber auch eine riskante Strategie, weil siedurchgehalten werden muss. Dann will man eben auch den nahbaren, verletzlichen Politiker haben. Oder man schützt sich durch eine Sprache, die slippery, schwer angreifbar ist. Markus Feldenkirchen, der Martin Schulz als Kanzlerkandidat ein Jahr lang begleitet hat, hat an jenem Wahlkampf unter anderem kritisiert, dass er so stark durch Demoskopie gesteuert war und letztendlich nicht zur Person Martin Schulz gepasst hat. Seine Lösung des Problems wäre gewesen, ihn stärker »als Mensch« zu zeigen. Das halten wir beide für eine nachvollziehbare, aber nicht ungefährliche Strategie, weil man den Menschen in dieser harten Politik und unter permanenter Beobachtung eigentlich schützen sollte – sei es durch die Partei, das Amt oder eben auch die Sprache. Sind also vielleicht auch die Kommunikationsberatungen sehr träge? Was ist da im Argen? S: An dieser Beobachtung scheint durchaus etwas dran zu sein. Tendenziell kritisieren wir die politische Sprache, die Kommunikation von einzelnen Akteuren – dahinter steckt aber eine ganze Armada von anderen Akteuren, auch Agenturen. Das muss man sich erst einmal klar machen. Friedrich Merz hat damals seine Parteivorsitzkandidatur von Gauly Advisors – das ist eigentlich eine Unternehmensberatung – durchplanen lassen, auf eigene Kosten. Es steckt immer eine Strategie dahinter, die sich andere Leute ausgedacht und demoskopisch erprobt haben. Aber es gibt trotzdem eine gewisse Tendenz zu einer Selbstselektion der Leute, die sich diese Strategien überlegen. Das sind meistens akademisch Vorgebildete, politisch sowieso schon Interessierte. Und es sind Werbefachleute, die über den politischen Betrieb nachdenken und dann Strategien entwerfen. Hier wird mit Marketinginstrumenten Politik betrieben. M: Die Agenturen sind das eine. Das andere ist das politische Berlin als Ort. Es geht ja nicht nur darum, diese Inhalte, die Sätze und Frames zu bestimmen, sondern auch darum, wer es eigentlich schafft, in Berlin zu überleben? Kurt Beck nicht, Matthias Platzeck nicht. Gerade in der SPD gab es immer wieder Landespolitiker, die extrem erfolgreich waren, aber kaum eine Woche durchgehalten haben in Berlin. S: Das gilt ja auch für Martin Schulz. Kommen wir zu spezifischen Kommunikationsstilen, zu Versuchen von Politiker:innen, die kritisierte dröge Phrasensprache, die wahrgenommene Distanz

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zu überwinden und Nähe zu den Wähler:innen herzustellen. Wie steht es zum Beispiel um das Thema Umgangssprache? Oder wie kann etwa Jugendsprache gezielt eingesetzt werden, um zu wirken? Da kommt dann natürlich die Frage nach Authentizität ins Spiel. S: Sprachwandel macht eben auch nicht vor Politik Halt. Nehmen wir das Beispiel Robert Habeck, der in diesem Video aus Doha »In your face« sagt. Oder »Kriegste nicht, Alter«. Da werden bestimmte kolloquiale Muster aufgegriffen, in die Politik gebracht, und auch dadurch kann Nähe gestiftet werden. Vielleicht sollten wir das nicht so bildungsbürgerlich abwerten, sondern sagen: Das kann eine Möglichkeit sein, Nähe zu signalisieren. Auch fehlerhaftes Sprechen: »ʼne Pulle Bier«, Gerhard Schröder. Umgangssprachlich zu sprechen kann Nähe erzeugen. M: Das »Coole« ist einfach sehr stark an die Person gebunden, die spricht. Eine antrainierte Coolness kann kaum funktionieren. Wir gehen zwar durchaus davon aus, dass Politik immer auf eine Art inszeniert ist, und doch war dieses »Kriegste nicht, Alter« von Habeck insofern authentisch, als das seine Sprache ist, die auch zu seinem Gesicht und zu seinem Körper in dieser Situation gepasst hat. Es gibt sicherlich die Gefahr einer Inflation solcher Sätze, aber Habeck beherrscht diese Wechsel durchaus. Der kann eine Stunde lang in einem Podcast im Seminarton über Martin Heideggers Sein und Zeit sprechen, abends in den Tagesthemen diese flapsige Bemerkung fallenlassen und am Ende doch beides zusammenhalten. Wie oft man das machen kann und ob sich das abnutzt, das muss man natürlich noch sehen. S: Authentizität ist auch eine Zuschreibung; das lässt sich also nicht einfach kategorisch für alle gleich beantworten. Jugendliche oder junge Wähler können etwas authentisch finden, was wiederum andere nicht authentisch finden. Es gibt unterschiedliche politische Milieus und damit auch unterschiedliche Formen, auf politische Ansprache zu reagieren. Die meisten Erstwähler haben bei der letzten Bundestagswahl die FDP gewählt, vor allem mit Verweis auf diese wirklich guten Soziale-Medien-Kampagnen. Insofern hat man da eine Form von politischer Ansprache, die bei Erstwählern sehr fruchtet, die aber andere Wählergruppen wieder belächeln. Es gibt also keine ehernen Gesetze von authentischer politischer Ansprache. Ist ein Dialekt auch etwas Hilfreiches bei dem Versuch, Nähe herzustellen? M: Ja, auf jeden Fall. Das merkt man durchaus bei Wahlkämpfen auf landespolitischer Ebene, dass Dialekt als Mittel eingesetzt wird, von den Leuten, die das heute noch beherrschen. Aber Dialekt ist – genau wie die Interview mit Astrid Séville und Julian Müller

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oben erwähnte »Coolness« – ein habituelles Instrument, das man mitbringen muss. Nichts ist schlimmer als ein falscher oder nicht eingeübter Dialekt. Man hat das Bierzelt schnell gegen sich, wenn man das nicht beherrscht. Hinzukommt, ein oberbayerischer Dialekt ist sicher in der Landespolitik in Bayern sehr hilfreich, wir wissen aber auch, wie wenig hilfreich er in bundespolitischen Wahlkämpfen ist. S: Ich ergänze den rheinischen Dialekt. Armin Laschet hatte auch ein bisschen mit dem Vorurteil zu kämpfen: Kann man jemanden mit so einem rheinischen Singsang wirklich ernst nehmen? Was auf landespolitischer Ebene ein Plus sein kann, kann auf bundespolitischer Ebene wieder ein Malus sein. Interessanterweise gilt das aber nicht fürs Hanseatische. Das Hanseatische hat diese Aura des sachlichen, nüchternen, verantwortungsbewussten, ehrenhaften Kaufmanns. Auch Dialekte haben Konnotationen und eine potenzielle Wirkung in politischer Kommunikation, die wir noch gar nicht systematisch durchdacht haben, erst recht nicht akademisch. Aber wenn wir über Volksnähe sprechen, ist ein Dialekt sicherlich von Vorteil. Wahrscheinlich sind diejenigen politischen Akteure im Vorteil, die das strategisch einsetzen können, die nicht nur den Soziolekt wechseln können, sondern auch das Register von Hochdeutsch zu Dialekt. M: Wer das kultiviert, ist Cem Özdemir, der seine Rolle in den letzten Jahren immer wieder gesucht und sich neu positioniert hat. Er wechselt ja gern von großer Weltpolitik hin zu den Maultaschen und zum VfB Stuttgart und ändert innerhalb von zwei Sätzen auch seine Melodie und Stil. Bis vor Kurzem hatte Robert Habeck einen Höhenflug in den Umfragen mit seinem Kommunikationsstil, der auch Dilemmata und Alternativen offenlegt. Werden wir in Zukunft mehr von diesem Stil sehen, auch von anderen Politikern? M: In jedem Fall ist dieses Ausstellen der eigenen Dilemmata, auch das Ringen um die eigene Position, das Nichtverschweigen von Komplexität und Unsicherheit etwas, was Habecks Kommunikation kennzeichnet. Er ist auch jemand, der im Unterschied zu vielen anderen seine Politik und seine Position gerne erklärt. Er selbst hat sein eigenes Politikverständnis mal auf eine Formel gebracht: selbstkritisches Kämpfen. Das ist sehr interessant, weil in dieser Formulierung zwei Dinge zusammengebracht werden, die wir üblicherweise auseinanderhalten: Selbstkritik und offensiver Kampf. Wir haben schon früh betont – auch als die Beliebtheitskurve bei ihm ganz nach oben ging –, dass das eine sehr aufwändige Strategie ist. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass man diese in Regierungsverantwortung

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durchhalten kann. Daher hat uns erstaunt, dass er selbst zu Beginn des Kriegs und unter extremen Herausforderungen seines Ministeriums an diesem Stil festgehalten hat. S: Robert Habeck praktiziert eine Form sehr riskanten politischen Sprechens. Es ist immer ein Risiko, die eigenen Dilemmata oder das eigene Ringen um die politische Position so offenzulegen. Sie fragten nach einer Prognose. Ich glaube nicht, dass sich das inflationär verbreiten wird, sondern dass das eine Sprechweise unter vielen sein wird. Gerade in der Ampelkoalition gibt es verschiedene Arten, politisch zu sprechen. Mit Olaf Scholz haben wir immer noch dieses Merkeleske, Enigmatische, dieses Kurze, Knappe, wenig Transparente. Es werden nicht Prozesse oder Entscheidungsprozesse kommuniziert, sondern am Ende Ergebnisse präsentiert. Wir haben aber daneben eben auch einen Robert Habeck. Genau das kennzeichnet unsere politische Gegenwart, diese Gleichzeitigkeit verschiedener politischer Redeweisen. Sicherlich legt Robert Habeck einen Stil vor, der auch Nachahmer finden wird. Man kann das unter anderem an Markus Söder erkennen, der auch verschiedene Sprechstile oder Redeweisen ausprobiert hat. Ich erinnere mich an ein Pressevideo, das er selbst herausgegeben hat, in dem er über die eigenen Fehler der Corona-Politik öffentlich reflektiert. Da dachte ich: Söder »habeckisiert« ein wenig. Jetzt »söderisiert« er wieder. Das meine ich: Es gibt Konjunkturen politischen Sprechens, politischer Phrasen, vielleicht auch politischer Stile. Es gibt Nachahmer dieses Habeck-Stils. Aber diese scharfe Kritik – unter anderem von Friedrich Merz im Bundestag –, man könne Habeck beim Denken zusehen, führte dazu, dass auch das Risiko und die Angriffsfläche deutlich geworden sind und dadurch vielleicht klar wurde: So nachahmenswert für alle ist das nicht. Sie schreiben von Habeck, dass er den »deutschen Romantiker« verkörpere. Das ist ja noch einmal eine ganz andere Sicht auf Habeck. M: Wir haben in unsere Habeck-Analysen ein Carl-Schmitt-Zitat eingebaut. Für Schmitt ist der deutsche Romantiker dieser ewig diskutierende Mensch, der nie zu einer Entscheidung kommt. Das ist aber nur die eine Hälfte, denn gleichzeitig ist Habeck eben auch dieser sich als entschlossener Entscheider darstellende Politiker. Er bringt eigentlich genau diese beiden Pole – diesen deliberativen Geist auf der einen Seite und auf der anderen den Dezisionisten – zusammen und versucht sie auf eine sehr spezielle Art und Weise zu verknüpfen. Das gilt nicht nur für seine eigenen Bücher, das gilt auch für das Grundsatzprogramm der Grünen. Interview mit Astrid Séville und Julian Müller

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S: Es ist diese Gleichzeitigkeit von Introspektion, Selbstkritik, Zaudern, Nachdenken und dann aber Selbstsicherheit und unheimlich vielen politischen Entscheidungen. Wenn man sich die Bilanz von Gesetzen und Vorlagen der Ampelkoalition anschaut, herrscht dort eine wahnsinnig hohe Entscheidungsdichte. Introspektion und Tatkraft – das muss man erst einmal zusammenbringen. Das würden wir traditionellerweise – gerade als Politiktheoretiker – auseinanderhalten. Ist man auf der Seite von Schmitt, Gehlen, Schelsky oder ist man auf der Seite von Habermas? Interessanterweise sehen wir jetzt plötzlich: Da gibt es so seltsame Konvergenzpunkte oder Allianzen. Im Zuge der Debatte um den Streckbetrieb ist Habeck ja auch vorgeworfen worden, er hätte das Nachdenken inszeniert, aber eigentlich wäre klar gewesen, was dabei herauskommen sollte, nämlich das, was ihm parteipolitisch in den Kram passt. Ist dieser Habeckʼsche introspektive Kommunikationsstil auch eine Bewaffnung gegen den Vorwurf vorgefertigter Ideologie, der gegen die Grünen oft erhoben wird? S: Das Ausstellen von Reflexivität und Selbstkritik ist natürlich auch ein strategisches Argument, um sich gegen Kritik zu immunisieren. Das sah man auf dem letzten Grünen-Parteitag auch bei Annalena Baerbock, die mehrfach auf Dilemmata verwies, aber dann sagte: Wir müssen das jetzt eben machen. Das ist nur eine inszenierte bzw. strategisch platzierte Ideologielosigkeit. Im Falle des Streckbetriebs der Atomkraftwerke kann man natürlich sagen, dass es nicht nur ein strategisches Argument, sondern auch ein Befriedungsargument ist. Gerade indem ich auf Dilemmata und auf den zwingend notwendigen, politisch gebotenen Pragmatismus verweise, indem ich fast schon machiavellistisch auf die necessità verweise, kann ich meine Gegner stillstellen, aber auch gleichzeitig sagen: Ich mache euch ein Angebot, wir müssen diese Strecke gemeinsam gehen. M: Ich denke, dass die Frage nach dem Streckbetrieb wirklich ein Lackmustest für Habeck war. Derjenige, der immer so gerne nachgedacht hat und das auch so ausgestellt hat, tut es in dieser Situation nicht. Zumindest nicht öffentlich. Niemand hat ihm ernsthaft geglaubt, dass er wirklich über alle Alternativen nachgedacht hätte. Und genau das ist das Riskante an der Strategie der Selbstreflexität: Wenn Habeck sie einmal nicht aufrechterhält, bietet er eine besonders große Angriffsfläche, weil man ihn immer an seinem hohen Anspruch an das eigene politische Dasein und die eigene Sprache misst.

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Ist diese Strategie der Selbstreflexivität nicht auch etwas, das besonders bei der grünen Klientel sehr gut ankommt, die selbst sehr diskursfreudig ist und das Reden um des Redens willen zelebriert? M: Wir haben das Grundsatzprogramm dahingehend untersucht, welche Art der politischen Ansprache dort eingesetzt wird. Wir sind dort immer wieder auf Sätze gestoßen, die man aus dem Universitätsseminar kennt. Da wurde schon klar, dass die Grünen mit einem Gegenüber rechnen, das an diese »Diskursivierung« von Problemen gewohnt, darin auch trainiert ist. Besteht dadurch auch die Gefahr, dass Politik noch exklusiver wird? Denn diese Fähigkeit, diese Lust am Streit und daran, immer irgendetwas diskursiv auszuhandeln, ist in bestimmten gesellschaftlichen Kreisen verbreiteter als in anderen und fällt durch eine gewisse Vorbildung auch leichter. S: Tendenziell ja. Es gibt einen gewissen Bias gegenüber Diskursbereitschaften und eine gewisse soziale Selektion: Wer ist bereit, sich wirklich auf deliberative Verfahren einzulassen? Zudem zeigen Umfragen immer wieder, dass der deutsche Wähler durch verschiedene Milieus hindurch ein sehr paradoxer Wähler ist. Er beschwert sich ganz gerne darüber, dass so viel gestritten wird, aber gleichzeitig vermisst er, wenn einmal nicht so viel oder so offen gestritten wird, sofort die »deutsche Streitkultur«. Das ist ja auch irgendwie so eine Art UNESCO-Weltkulturerbe, die deutsche Streitkultur. M: Das aktuelle Grundsatzprogramm der Grünen ist sehr voraussetzungsreich. Man muss bestimmte Anspielungen erkennen, und es wird einem beim Lesen durchaus viel zugemutet. Insofern ist es exklusiv; aber das ist ja nicht per se schlecht, denn Parteien müssen ja Angebote für spezifische Gruppen machen. Was wir so interessant finden, ist, dass die Grünen im Wahlkampf 2021 den Versuch unternommen haben, ein Milieu für sich zu gewinnen, das, wenn man so will, ein Milieu an sich ist, aber kein Milieu für sich. Es gibt großstädtische, akademisch gebildete, progressive Menschen. Diese wollen sich aber gerade nicht als Gruppe verstanden wissen, sondern zeichnen sich dadurch aus, dass sie keine Gruppe sind. Nicht umsonst haben sich die Grünen – und insbesondere Habeck – stark auf Andreas Reckwitzʼ Buch Gesellschaft der Singularitäten gestützt. Habeck hat eine sehr interessante, nämlich politische Lesart dieses Buches angeboten: Wenn es so ist, dass die Gesellschaft in Singularitäten zerfällt und die Einzelnen sich in ihrer Einzigartigkeit auch permanent bestätigen, dann will ich genau diese zu einer Gruppe versammeln. Eigentlich hat Habeck den Versuch Interview mit Astrid Séville und Julian Müller

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einer Vergemeinschaftung der Singularitäten unternommen. Das heißt, er hat das Angebot gemacht, diejenigen zu versammeln, die sich dadurch auszeichnen, dass sie nicht versammelt werden wollen, und das, so paradox es klingt, mit einer Ansprache, die eher auf Intellektualität abzielt und nicht auf gemeinsam geteilte Werte. Letzteres tut das Programm der CDU, die sagt: Wir haben die richtigen Werte, wir können sie ableiten aus einer christlich-abendländischen Tradition, und was Sicherheit und Freiheit meint, das wissen wir schon. Die Grünen dagegen sagen: Nee, wir müssen darüber reden. Werte müssen in einer pluralen, liberalen Gesellschaft immer wieder neu ausgehandelt werden. Was heißt eigentlich Fortschritt? Was heißt eigentlich Nachhaltigkeit? S: Wir haben versucht zu zeigen, dass so etwas wie Diskursbereitschaft und Deliberationskompetenz zu Metawerten werden, die vergemeinschaften sollen, jenseits einer deklaratorischen Logik von Werten. Es ist wohl auch kein Zufall, dass die CDU jetzt ein neues Grundsatzprogramm schreibt und genau auf dieses Problem reagiert und sich ebenfalls an einer reflexiven Schleife versucht. Auch die CDU merkt, dass sie nicht mehr so einfach top-down sprechen kann, dass es eine andere Form von Vermittlung von Politik geben muss, die anders auf die Erwartungen von Wählerinnen und Wählern reagiert. Das ist noch keine Habeckisierung, aber es findet ein Umbruch politischer Kommunikation statt. Vielleicht befinden sich Bürgerinnen und Bürger und Politikerinnen und Politiker jetzt stärker auf Augenhöhe; zumindest ist es ein anderes Ernstnehmen. Die Forderung nach mehr Debatte oder nach mehr Streit ist ein Allgemeinplatz geworden und oft verbunden mit der Hoffnung, dass es dadurch besser wird, dass dadurch die besseren Entscheidungen getroffen werden. Ist dem tatsächlich so? Würden längere Debatten im Bundestag zu besseren politischen Entscheidungen führen? S: Das ist eine Frage, auf die ich mehrere Antworten hätte. Im Haber­ masʼschen Sinne könnte ich natürlich sagen: Je länger wir deliberieren, desto wahrscheinlicher kommen wir zu einem vernünftigen Konsens. Jetzt sprachen Sie aber vom Bundestag. Nun wissen wir, dass der Deutsche Bundestag ein Arbeitsparlament ist, dass ein Großteil der politischen Arbeit in Ausschüssen stattfindet und dass viele der Debatten eigentlich nur eine Art Inszenierung von Austausch beziehungsweise ein Ex-postAustausch sind. Aber was ist denn die Alternative, die Sie da insinuieren? Dass die Politiker weniger reden sollen, weniger öffentlich reden sollen? Die Klagen

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über zu langes Diskutieren betreffen meines Erachtens folgende Punkte: Erstens, dass es keine Zielorientierung gibt, keine konstruktiven Debatten. Zweitens hat man bisweilen das Gefühl, dass sich die Debatten wiederholen und dann trotzdem verpuffen, also diese Ergebnislosigkeit von bestimmten Debatten. Drittens geht es um die Länge von Debatten. Das ist der klassische demokratietheoretische Einwand: Es dauert zu lange, es wird nur diskutiert. Ich würde tatsächlich sagen, dass vor allem die Ergebnislosigkeit bestimmter Debatten das Frustrierende sein kann, dass man lange über etwas diskutiert, was sich dann als Scheinproblem entpuppt. M: Aber zur Ausgangsbeobachtung lässt sich doch noch ein Argument anführen: die Betonung und Emphase von Streit als gewissermaßen zivilreligiöses Fundament. Mit dem Papst Jürgen Habermas. S: Das habe ich eben kokett gemeint, als ich sagte, dass die deutsche Streitkultur als UNESCO-Weltkulturerbe angemeldet werden könne. Das ist so eine Art »Kryptosakralisierung« des Streitens: Wenn wir genug streiten, kommen wir zusammen. Ich habe das vor Kurzem an dem Beispiel Frank-Walter Steinmeiers durchbuchstabiert, um eine Art »Vulgärhabermasianismus« zu zeigen, also inwiefern hier so eine Art zivilreligiöse Komponente hineingebracht wird. Das ist dieses pastorale Motiv von Frank-Walter Steinmeier, die Versöhnung im Streit. Das ist etwas Protestantisches. Wenn wir lange diskutieren, dann kommen wir zusammen und wir sind uns dann gegenwärtig. Das sind sehr pathetische Floskeln und in dieser sakralpastoralen Aufladung finde ich auch eine dunkle Seite der Beschwörung von Streitkultur. Auch die Beschwörung von Streitkultur stößt an eine Grenze. Manche Interessenskonflikte lassen sich gar nicht auflösen und wir werden uns nicht immer pastoral versöhnen lassen können. Aber was ist denn der Gegenentwurf? Das darf natürlich kein Schmittʼscher Dezisionismus sein. Wie sehen Sie diese Verklärung oder diese Belobigung von Streit und Diskurs aus der soziologischen Perspektive? Und wie sieht das innerhalb Ihrer Disziplin aus? M: Das Gegenstück zu der problematischen Skandalisierung von Polarisierung wäre dann diese Beschwörung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, diese »Kohäsionsfetischisierung«. Wie viel Kohäsion, soziale Kohäsion braucht denn eine pluralistische, demokratische Gesellschaft? Ich muss gestehen, dass die Streitkultur in meinem Fach, aber nicht nur dort, schon deswegen zurückgeht, weil man hat sich so sehr spezialisiert hat, dass man sich weitestgehend aus dem Weg gehen kann. Auf Interview mit Astrid Séville und Julian Müller

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den großen Fachkongressen befinden sich diejenigen, die in Streit geraten könnten, bereits in separaten Räumen und unterhalten sich vor einem Publikum über eigene Probleme. Ist das Reden zu einem Wert an sich geworden? Es gibt ja auch ein Recht auf politisches Desinteresse, auf Enthaltung oder Schweigen. S: Ich habe mir im Zuge meines Habilitationsprojekts angeguckt, wie die Vermittlung, die Reflexion, ja diese Beschwörung von Streitkultur in die Lebenswelt übergehen. Wie wird diese Verhaltenslehre des guten Streitens zum Beispiel formuliert für Sportvereine oder ähnliches? Was passiert, wenn im Bus jemand den Sitznachbarn diskriminiert? Was passiert, wenn der Sportkollege plötzlich Verschwörungstheorien von sich gibt? Da findet man genau diese Beschwörung einer rationalen, aber auch empathischen Sprechkultur. Mir fällt auf, dass vor allem diese Beschwörung von Empathie stark zugenommen hat; wir sollen jetzt alle empathischer sprechen. Wir sehen also: Die Rede übers Reden hat zugenommen. Gleichzeitig sprechen wir auch exponentiell mehr über politische Kommunikation. Wir reden ganz viel darüber, wie ein Politiker, eine Politikerin spricht. Gucken wir uns die journalistische Berichterstattung in Wahlkampfzeiten an, geht es oft um das Wie der Politik und nicht um das Was. Da scheint ebenfalls eine Verschiebung stattgefunden zu haben. Das Gleiche findet sich auch in meinem Fach. Die Sektion der Politischen Theorie in der DVPW gibt sich jetzt selbst Regeln, wie man konstruktiv und diskriminierungsfrei tagen kann und wie man konstruktiv und sensibel für verschiedene Benachteiligungen Kritik artikulieren kann. Hier haben wir abermals eine Reflexion über die Debattenkultur, die mit Blick auf Empathie und Sensibilitäten operiert. Diese Kultur der Rücksichtnahme stellt meiner Ansicht nach durchaus eine Verschiebung dar. Man könnte sagen: Das ist übertrieben. Man kann aber eben auch sagen: Hier werden bestimmte Redeprivilegien angegriffen. Inwiefern ist es schon diskriminierend, wenn ein etablierter Politikprofessor zu einer jungen Doktorandin sagt, ihr Argument sei unplausibel? Darüber könnte man lange nachdenken. Was halten Sie davon, wie während der Pandemie kommuniziert wurde, beispielweise mit Begriffen wie »Impfangebot«? S: Meines Erachtens war die deutsche Debatte zur Impfkampagne, überhaupt zum Impfen, völlig schief. Anstatt das so aufzuladen, sowohl moralisch, politisch, ethisch, in jeglicher Hinsicht – und da argumentiere

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ich gegen mich selbst –, hätte ich mir fast eine Entpolitisierung bzw. Entdramatisierung dieser Impffrage gewünscht. In bestimmten Situationen – das würde ich auch als Politikwissenschaftlerin sagen – kann es strategisch nützlich sein, zu entpolitisieren, zu entdramatisieren und gar nicht so viel darüber zu reden. Aber noch einmal zur Rhetorik: In Deutschland sprach man ja bewusst von einem »Impfangebot«. Diese Semantik des Angebots hat uns auch bei den Grünen beschäftigt: eine Politik, die eine Einladung macht, die ein Angebot unterbreitet. Das ist nochmal ein ganz eigenes semantisches Feld, diese Frage von Angebot und Nachfrage. Das ist die Politik als Offerte. Ist das geglückt? Wenn man sich die Impfzahlen in Deutschland im internationalen Vergleich anguckt, eher nicht. M: Es hat sich in den letzten Jahren doch einfach durchgesetzt, dass das autoritäre, direktive Sprechen eher vermieden wird. Man soll stattdessen Angebote machen und Einladungen aussprechen. Jedoch konnte man sehen, dass in der Pandemie diejenigen besondere Beliebtheit genossen haben, zumindest kurzfristig, die die Härte der Verhältnisse gerade nicht verschwiegen haben, etwa Markus Söder, der immer zwischen fürsorglichem Vater und düsterem Mahner hin- und hergewechselt ist. Auch Karl Lauterbach wäre sicher nicht in seinem Ministerium, wenn es für diese Art zu sprechen keinen Resonanzboden gäbe. Selbst Uli Hoeneß hat sich dann in einem Interview als Fan von Lauterbach bekannt, weil dieser ein Macher sei. Da sind dann doch ein paar Klischees über das politische Sprechen einfach über den Haufen geworfen worden. S: Das hat auch etwas damit zu tun, ob wir über Krisenkommunikation sprechen oder nicht. In der Impfdebatte schien die Semantik der Freiwilligkeit, des Angebots eher als Diskrepanzerfahrung erlebt zu werden. Wie kann man denn ein Angebot machen, wenn doch eigentlich klar ist: Hier muss jetzt etwas geschehen. Ich vermute, dass hier Deckungsgleichheit eher hätte verfangen können, dass also ein autoritäres, fast schon apokalyptisches Sprechen in der Krise durchaus vielen als angemessen erschien. Diplomaten sprechen in der Regel sehr behutsam. Nun hatten wir mit Andrij Melnyk ein Gegenbeispiel, der mit seiner Art, zu kommunizieren, einiges erreicht hat. Glauben Sie, dass das Nachahmer finden wird? S: Andrij Melnyk ist als Phänomen deswegen erfolgreich, gerade weil er als Diplomat undiplomatisch spricht. Das ist eine Art und eine Form von Deutlichkeit, einer aggressiven Brutalität. Ich glaube nicht, dass das Schule macht. Interview mit Astrid Séville und Julian Müller

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M: Auch Annalena Baerbock ist solch eine andere Figur. Sie hat einen deutlicheren und härteren Ton anschlagen, als wir ihn aus dem Außenministerium gewohnt waren. S: Natürlich gibt es da deutliche Unterschiede: Melnyk konnte ein bisschen wie der Hofnarr, der Wahrheit spricht, den Finger in die Wunde legen und so auch eine Doppelmoral offenlegen. Aus einer gewissen Distanz zum politischen Betrieb hat mir sehr gut gefallen, dass da jemand ist, der die Verlogenheit der Deutschen thematisiert. Der Botschafter von Katar hat das auch gemacht: »Ihr wollt unser Flüssiggas, aber die WM dann boykottieren.« Das ist gewissermaßen der unique selling point undiplomatischer auswärtiger Diplomaten, überhaupt einer auswärtigen Perspektive. Das kann Annalena Baerbock natürlich viel weniger. Sie spricht aus dem Amt heraus, während Melnyk eben von außen darauf zeigen kann. Das sind unterschiedliche Formen undiplomatischer Diplomatie. Wie bewerten Sie die politische Kommunikation der Regierungskoalition bislang? M: Sehr interessant fanden wir, wie in den Koalitionsverhandlungen nichts an die Öffentlichkeit gedrungen ist und wie dort eine neue Art der Zusammenarbeit ausprobiert wurde. Drei Parteien, die sich historisch nicht immer ganz grün waren, müssen jetzt zusammenarbeiten und kriegen es doch hin, zu verhandeln, ohne dass die Öffentlichkeit wirklich viele Interna mitbekommen hat. Heißt das, dass es bei aller Forderung nach mehr Transparenz trotzdem wichtig ist, dass die Politik ihre geschützten Kommunikationsräume hat? S: Studien zeigen, dass Verhandlungen anders ablaufen, wenn sie im Diskreten stattfinden. Das ist auch wieder ein Spannungsfeld von demokratischer Politik und demokratischen Praktiken, das Aushandeln von Transparenz und Diskretion. Die Ampelkoalition hat für sich das Narrativ der »Fortschrittskoalition« gefunden. Wie überzeugend finden Sie das? M: Nicht wirklich überzeugend, aber ich würde sie durchaus in Schutz nehmen: Das meiste, was die sich programmatisch vorgenommen haben, konnten sie bisher gar nicht umsetzen. Das liegt auch an der politischen Situation in Europa. Olaf Scholz muss zudem mit zwei sehr starken Figuren neben sich regieren. Weder der Kanzler noch der Wirtschafsminister noch der Finanzminister kann im Moment die Politik durchsetzen, die er eigentlich machen wollte.

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S: Ich würde stark machen, vor welchem Hintergrund wir Fortschritt erst einmal definieren müssen. Die Ampelregierung steht vor wahnsinnigen Herausforderungen, sie ist mit einem Krieg konfrontiert, eigentlich mit einem kompletten Auseinanderfallen der Weltordnung. Im Vergleich zu 16 Jahren Kanzlerschaft Angela Merkels gelingt es ihr, inmitten dieser Krisen immer noch pragmatisch zu ringen, viele Punkte ihrer politischen Agenda nicht so recht durchsetzen zu können, aber trotzdem vieles voranzubringen. Bei den LNG-Terminals etwa sehen wir eine Beschleunigung von politischen Prozessen. Das ist auch programmatisch durchaus fortschrittlich. Zumindest am Anfang wurde auch eine neue Form des politischen Umgangs erprobt. Das konnte man beispielsweise in der Pressekonferenz erkennen, in der der Koalitionsvertrag vorgestellt wurde. Angela Merkel hat es immer geschafft, dass die SPD die Politik, bei der sie sich durchsetzen konnte, nie für sich verbuchen konnte. Das scheint eine Novität zu sein dieser Regierung, diese Pluralität der Stimmen zuzulassen; dass man zurechnen kann, wer für was zuständig ist, und dass es Spielräume der einzelnen Koalitionspartner zu geben scheint, die nicht zugekleistert werden. Es wirkt gerade so, als ob nicht alles von Olaf Scholz käme. Welche Rolle spielt Olaf Scholz dabei? Wie kommuniziert der einstige »Scholzo­ mat« als Kanzler? S: Bei Angela Merkel wurde ja diskutiert, dass sie das Bundeskanzleramt auf eine gewisse Art und Weise präsidialisiert habe, über dem politischen Betrieb schwebe. Bei Olaf Scholz bin ich mir noch nicht so sicher. Er scheint sich an einer Form von Präsidialisierung innerhalb des Kabinetts zu versuchen. Gleichzeitig merkt er aber, dass dieser Stil politischen Handelns an die Grenzen gestoßen ist. Ihm wurde lange attestiert, er sei Angela Merkels politischer Erbe, vom Auftreten, vom Stil, vom Kommunikationsverhalten her. Jetzt scheint er zu merken: Das funktioniert so nicht mehr. Wenn Scholz eine Entscheidung getroffen hat, hat er das ja schon versucht, irgendwie auch ein bisschen neu zu verkaufen: »Bazooka«, »Wumms«. S: Stimmt. Darüber haben wir noch gar nicht gesprochen, über diese Comicsprache: »Wumms« und »Doppelwumms«. Das ist ja eine Infantilisierung von Politik, »Wumms«, »Doppelwumms«. Da müsste man natürlich auch fragen: Wofür ist das eigentlich symptomatisch? M: Scholz würden wohl nur die wenigsten einen guten Rhetoriker nennen, weil er zu lakonisch, fast schon sprachlos ist und sich Journalisten Interview mit Astrid Séville und Julian Müller

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gegenüber geradezu verweigert. Interessanterweise ist er jedoch tatsächlich ein begnadeter politischer Redner, zeigt das aber nur noch sehr selten. Angela Merkel beherrschte das öffentlich Sprechen ja nicht so sehr und hat es also auch eher vermieden. Aber Olaf Scholz verzichtet auf etwas, was er eigentlich ziemlich gut kann. Als er etwa am 1. Mai 2022 auf der DGB-Kundgebung in Düsseldorf angegriffen wurde und dann aus dem Stegreif gegen ein pfeifendes Publikum einen Spontanvortrag hielt, bei dem jeder Satz saß und pointiert war, dachte ich mir: Wenn der mal ein bisschen die Fassung verliert, ist der richtig gut. S: Auch während der Bundestagsdebatte mit Friedrich Merz, als Scholz sein Skript weggelegt hat, hat man gesehen, was das für ein starker Rhetoriker sein kann. Das ist ein wichtiger Punkt: Der »Scholzomat« ist nur eine Seite. Das ist eine Masche, das ist eine Strategie, während es bei Angela Merkel eine Unfähigkeit war. Haben Sie eine Idee, warum er auf diese Fähigkeit verzichtet? M: Er hat für sich eine regierende Persona entworfen, an der er festhält, und bislang ist er sehr selten aus dieser Rolle gefallen. Ansonsten ist es doch beeindruckend, wie er diesen kalten, sachlichen Verwaltungsbeamten spielt. Das ist eine Rolle, die er sich zugelegt hat, wie andere für sich ein Kostüm erfinden und das dann anbehalten. S: Das ist auch vielleicht eine Form von hanseatischem Amtsverständnis, oder? Es ist eine Entpersonalisierung für das Amt. M: Es hängt mit seiner Koalition zusammen, aber auch mit einer persönlichen Eigenschaft: Wenn er sich in die Ecke gedrängt fühlt – und ich glaube, er hat ohnehin ein großes Misstrauen Journalisten gegenüber –, dann übertreibt er diese Rolle noch stärker. Sie plädieren für einen »progressiv-pragmatischen Pessimismus« und dafür, dass die Politik mehr die »worst cases« antizipieren müsste. In dieser Rahmung hätte Scholz sein zögerliches Handeln zu Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine doch kommunizieren können, nach dem Motto: »Ich habe mehrere alternative Szenarien im Kopf.« S: Mir scheint in der politischen Vorbereitung, Bearbeitung und auch Nachbereitung von Krisen viel zu kurz zu kommen, dass man verschiedene Szenarien durchdenkt und sich dann überlegt: Wie könnten wir darauf reagieren? Das heißt aber noch nicht, dass ich eine Dramatisierung politischer Kommunikation befürworte. In der Coronapandemie hat man

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gesehen, wie Emmanuel Macron und Angela Merkel die Herausforderungen im Vergleich verbalisiert haben. Der eine sprach von einem Krieg, die andere eher noch beruhigend. Erstes galt für manche als Überdramatisierung, hysterisch, Alarmismus. Aber das Zweite kann auch zu beruhigend wirken. Da den Mittelweg zu finden, heißt auch, mal pragmatisch zu sagen: »Wir müssen das Worst-case-Szenario benennen, wir müssen klar machen, was auf dem Spiel steht.« Ich denke, dass es auch eine produktive Form politischer Kommunikation sein kann, nicht immer zu beschönigen oder zu verschweigen oder gar zu vertuschen. Das lässt sich auf viele Krisen übertragen. Was heißt das mit Blick auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und die damit verbundenen fundamentalen Urängste, zum Beispiel die Angst vor Energieausfällen, Kälte, Frieren? S: Die Ampelkoalition hat sich seit März ʼ22 vorbereiten können. Erst hieß es Gaspreisbremse, Gasumlage etc. Dann hätte man auch überlegen können, wenn das und das passiert, was folgt daraus? Wenn wir zum Beispiel leere Gasspeicher hätten, was wären die nächsten Schritte? Mein Plädoyer lautet: Es muss immer Optionen geben, und das beinhaltet auch das Denken in Szenarien – eben nicht nur in beschönigenden Szenarien, mit denen man sich selbst beruhigen kann. Schließlich ist es ein Plädoyer für Vorbereitung, Preparedness, Krisenresilienz. Ein besonders wirkmächtiges Narrativ ist die populistische Dichotomie: Hier das Volk, da die bösen Eliten. Tun nichtpopulistische Politiker genug, um das zu entkräften? S: Das spielt ein bisschen darauf an, wie sich eigentlich liberale demokratische Akteure selbst erzählen und proaktiv oder zumindest reaktiv eine Gegenerzählung zum populistischen Narrativ anbieten können. Wenn man die Beschwörung von Streitkultur als derzeit dominante Gegenerzählung von liberalen Demokraten betrachtet, die besagt: »Wir müssen Pluralismus ernstnehmen«, dann übersetzt sich Pluralismus politisch in Konfliktkultur, Streitkultur, überhaupt erst einmal in eine Affirmation von Konflikten. Das ist eines der gängigsten Gegennarrative zum Populismus, weil Populismus immer davon zehrt, den Volkswillen als Willen ex ante, also vor dem politischen Prozess, zu hypostasieren, als die einzige politische Größe, auf die sich politische Akteure beziehen können. Es geht darum, eine höhere Legitimität des Volkswillens zu behaupten – bei dem nicht so ganz klar wird, wie er prozedural eigentlich zustande kommt. Insofern ist es durchaus sinnvoll, auf Streitkultur zu setzen. Aber wir haben natürlich Interview mit Astrid Séville und Julian Müller

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auch noch ganz andere liberaldemokratische Gegenerzählungen, von Rechtsstaatlichkeit, von Minderheitenschutz, von einer Austarierung des Mehrheitsprinzips. Ich glaube, dass es sehr wichtig für die Demokratie in ihrer jetzigen Verfasstheit ist, immer zu reflektieren, was die dunkle Seite der Demokratie ist, und diese dunkle Seite der Verführbarkeit des Volkes durch Demagogen auch zu thematisieren. Wenn wir so wollen – und das klingt jetzt ebenfalls sehr pastoral-protestantisch –, dann ist eine Ausstellung und Betonung von Selbstreflexivität, von Selbstkritik auch eine Gegenerzählung zu Populismus, weil Populismus davon zehrt, starke Sätze zu behaupten mit Verweis auf den Volkswillen und auf den vermeintlichen Antagonismus, die Dichotomie zwischen Establishment und Volk. Dummerweise haben sich die Rechtspopulisten ebenfalls auf die Fahnen geschrieben, dass sie diejenigen sind, die für mehr Demokratie, mehr Meinungs­ freiheit stehen. M: Die reflexiven politischen Kommunikationsstile, die wir uns angeschaut haben, kennzeichnen im Moment noch eher die liberale Mitte, könnten aber sicherlich auch in populistische Programme übersetzbar sein. Ich denke etwa an die Ausstellung von Verletzlichkeit oder die Betonung eigener Reflexivität. Warum sollte das nicht auch für politische Positionen in Anschlag gebracht werden können, die außerhalb der Mitte liegen? S: Das ist aber etwas anderes. Mir ging es darum, welche Narrative gerade mobilisiert werden, welche Muster dominant sind. Ich habe noch nicht über politische Aneignung gesprochen. Jeder Satz ist potenziell politisch aneignungsfähig von verschiedenen Seiten. Es gibt nicht immer eine eindeutige Ideologisierbarkeit. M: Wir haben früher bestimmte Theorien ganz selbstverständlich links verordnet, und auf einmal werden diese in Schnellroda oder an anderen Orten nicht nur gelesen, sondern in Alltagshandeln übersetzt. Man kann mit Deleuze und Foucault ganz gut auch als Identitäre auf die Straße gehen, so absurd das für uns immer klang. Das funktioniert. Daher könnte ich mir auch vorstellen, dass man sich auch bestimmte Formen der politischen Kommunikation aneignen kann. S: Diese Verschiebung findet in alle Richtungen statt. Heute scheint es viel schwieriger, eine Rede zu lesen und dann eindeutig zu erkennen: Ist die von einem CDU-Politiker, ist die von einem SPD-Politiker oder ist die womöglich sogar von einem Rechtspopulisten? Es finden sich austauschbare Muster und Begriffe. Genau diese Verschiebungen sind das Interessante. Die Alternative für Deutschland ist angetreten damit, die

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Streitkultur zu revitalisieren, eine Alternative zu bieten zur Alternativlosigkeit. Deswegen hatte ich mit meiner Dissertation zum TINA-Prinzip … THERE IS NO ALTERNATIVE …  … immer solche Probleme, weil mich Rechtspopulisten gerne einladen wollten und sagten: »Sie sind ja auch eine der großen Merkel-Kritikerinnen. Kommen Sie doch zu uns!« Ich hatte ein Angebot, jemanden von der AfD politisch zu beraten, und dachte: Was ist da schiefgelaufen? Aber es war ja die strategische Selbsterzählung der AfD, für Streitkultur zu plädieren. Doch wir haben längst begriffen, dass das nur eine Inszenierung, eine strategische Hülse dieser Partei ist. Man könnte natürlich sagen, dass die AfD im gewissen Sinne das auch selbst erzeugt hat, dass der performative Widerspruch also ein doppelter ist: Sich Streitkultur auf die Fahnen zu schreiben, aber selbst überhaupt nicht streitfähig zu sein, weil man immer apodiktisch argumentiert, sich auf metaphysische Entitäten wie den Volkswillen beruft; und trotzdem ließe sich sagen, dass die AfD die Demokratie ein Stück weit revitalisiert oder dynamisiert hat, denn jetzt ist klar: Es steht etwas auf dem Spiel, wir müssen Demokratie erklären. Das war jetzt sehr »steinmeierhaft« gesprochen, weil sich der Bundespräsident ja ganz gezielt der Demokratieförderung verschrieben hat. Welchen Politikerinnen hören Sie besonders gerne zu? S: Das können wir gar nicht beantworten, weil wir immer mit einer professionellen Deformation hören. Diese Deformation hat einen guten Grund: Julian Müller und ich arbeiten gemeinsam mit Christian Kichmeier von der Universität Groningen in einem von der Gerda-HenkelStiftung geförderten Forschungsprojekt, in dem wir uns mit politischer Ansprache und Fürsprache auseinandersetzen. Wir haben eine wahnsinnige Ambivalenz – gleichzeitige Skepsis und Faszination – für die Figur Robert Habeck. Das heißt, ich höre ihm »gerne« zu, ich höre ihm viel zu. M: Kevin Kühnert ist auch ein rhetorisches Talent und macht jetzt eine Metamorphose durch, die interessant ist, bei der ich aber noch nicht weiß, ob die gut endet. Er will unübersehbar zu einem Staatsmann reifen, und ich bin mir nicht sicher, ob das klappt. Ich glaube, dass er sich seiner größten Stärke beraubt. Der junge, bissige Kevin Kühnert war ein großes rhetorisches und auch politisches Talent. S: Man kann natürlich auch noch über andere politische Sprecher nachdenken. Luisa Neubauer etwa hat ein unglaubliches Talent, politisch zu sprechen, politische Probleme zu benennen, politische Akteure zu stellen Interview mit Astrid Séville und Julian Müller

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und überhaupt in solchen Konflikten standhaft zu bleiben. Diese Außenposition einzubauen und enorm professionell zu sprechen – damit ist sie schon eine interessante Figur für den politischen Betrieb. Ich muss gestehen, ich höre auch unheimlich gerne Boris Johnson zu, aber tatsächlich aus so einer Faszination, aus einer Ambivalenz heraus. Wir haben seine Weihnachtsansprache angeschaut: Da ist eine unheimliche Nahbarkeit, eine unheimlich gute Adressierung des Volkes, aber trotzdem ist diese Figur hochgradig problematisch. Darüber ist schon alles gesagt worden: clownesque, unernst, populistisch – das ist alles eingepreist in meine Beobachtung. Aber Sie haben mich gefragt, wem ich gerne zuhöre, und da ist es so, dass Johnson einfach eine unheimlich interessante Art hat, im politischen Raum zu sprechen. Er hat auch immer wieder so altertümlich klingende Vokabeln ausgegraben, bei denen die Leute teilweise gar nicht mehr wussten, was es überhaupt heißt. Geht es am Ende nur um das Auffallen? S: Zum einen diese überkommenen Formulierungen, zum anderen aber auch das Gegenteil, eine unheimliche Nähe, ja Nahbarkeit. Nehmen Sie zum Beispiel die Abschiedsrede im House of Commons, in der er sagt: »I’ll be back«, ein Terminator-Zitat. Das ist das gleiche wie bei Trump, nämlich das Gefährliche: Dieses Satirische, das Humoristische mit dem Effekt, dass man Politik eigentlich als Satire wahrnimmt und über politische Sprache lacht. Das macht es aber nicht weniger interessant. Hat er dann über diese Begrifflichkeiten – gerade in England, wo der Klassenkonflikt zwischen Ober- und Unterschicht noch sehr relevant ist – eine breite Anschlussfähigkeit, bevor er dann weiter polarisieren kann? Er kriegt diesen Spagat rhetorisch sehr gut hin, oder? S: Ja, klar. Sie haben einen typischen britischen Upper-class-Vertreter, der aber – die Bilder sind ja schon ikonisch – als Bürgermeister mit Sturmfrisur auf dem Fahrrad durch London fährt. Oder auch die Szene, wo er Fußball spielt und ein Kind umnietet. Das gehört alles auch zur politischen Ansprache: Diese Szenen, die ikonisch werden, die dann immer wieder geteilt werden, die memefiziert werden. M: Ich wusste nicht, dass du da so eine Faszination hast (lacht). S: Das ist so eine Faszination fürs Hässliche. Zum Thema Faszination des Bösen: Ist nicht auch Björn Höcke rein handwerklich gesehen sehr gut in dem, was er tut, also zum Beispiel wie er so zwei­deutig

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mit diesen historisch kontaminierten Ausdrücken operiert und solche Begrifflichkeiten wie »Denkmal der Schande« verwendet? Ist er – auf eine mephistophelische Art und Weise – nicht auch sein sehr guter Politiker? M: Da muss man ein bisschen aufpassen. Das galt für linkextreme und für rechtsextreme Politiker immer: Das sind natürlich Kommunikationsprofis, denn das ist ihre Aufgabe. Da sie fast nie in Regierungsverantwortung kommen, da sie nie entscheiden müssen, haben sie oft die besten Kampagnen, Plakate, Slogans, auch Anbindungen an Subkultur. In dieser Hinsicht waren sie immer im Vorteil gegenüber den Volksparteien, die das zum Glück nicht machen müssen und auch in der Regel nicht tun. Insofern stimmt das, wenn man das wirklich loslöst und politische Kommunikation nur auf einer handwerklichen Ebene betrachtet. Aber das würde ich hier ungerne genannt haben als ein gutes Beispiel für politische Kommunikation. Ein kleiner Themenwechsel: Sie haben sich ausführlich mit Podcasts befasst. Was können Sie sagen zu politischer Kommunikation in diesem Format? M: In der hektischen Welt des politischen Alltags fungieren viele Podcasts als mediale Inseln, auf denen sehr ausführlich, sehr nahbar und bisweilen intim über Politik gesprochen wird. Ich habe mich zunächst damit beschäftigt, wie politisches Sprechen im Alltag stattfindet, wie sich »normale« Subjekte als politische Subjekte beschreiben und über welche Themen das geschieht. Oft sind das Themen, die wir früher eher als eher unpolitisch betrachtet hätten. Im Zuge dessen habe ich mich gefragt, was dieses sehr ausführliche Reden über das eigene Leben bewirkt, was das Neue ist an dieser Form, biografisch zu sprechen. Es gab immer Biografisches, aber nicht so ubiquitär und auch nicht so leicht zugänglich. Zudem machen das ja auch immer mehr Politikerinnen und Politiker. Beispielsweise gibt es sehr viele Habeck-Podcasts: seine liebsten Bücher, sein Leben, seine Lieblingsmusikstücke. Das ist nicht mehr wie bei Helmut Kohl, der dann einmal bei Alfred Biolek saß und über seine liebste Nachspeise spricht und einmal im Jahr Urlaubsfotos vom Wolfgangsee verbreitet – das war doch eine wohldosierte Investition des Privaten in die Politik. Jetzt ist das aber allgegenwärtig. Wenn wir wollen, können wir sehr viel erfahren über das Leben vieler Politiker heute. Christian Lindner hat jetzt sogar einen eigenen Podcast, Friedrich Merz auch. Wer ist das eigentlich, dieser neue erzählende oder moderierende Politiker? Wir glauben, dass es eine neue Form des politischen Sprechens gibt: Interview mit Astrid Séville und Julian Müller

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der Politiker nicht mehr nur als aktiver, heroischer Entscheider, sondern als jemand, der auch als der Zuhörende, der Erlebende, der Moderierende auftritt, was eine ganz andere Art des Sprechens ist. Wenn Christian Lindner etwa Michel Friedman befragt, ist er auf einmal jemand, der anderen Fragen stellt. Und noch etwas ist an einem Podcast wahnsinnig faszinierend, nicht nur in Bezug auf die Politik: die mediale Situation. Zwei Menschen, ein kleines Studio, eine unglaubliche Nähe, in der Regel kein Bild. Das erzeugt Sätze, auf die wir sonst nicht so vorbereitet sind. Das ist doch etwas anderes als ein anderthalbminütiges Interview im Fernsehen. Fünf Stunden Zeit-Podcast mit Armin Laschet, der eine Dreiviertelstunde darüber spricht, wie sehr ihn bis heute mitnimmt, dass er sich im Wahlkampf so falsch wahrgenommen gefühlt hat. Da ist jemand, der noch einmal ausführlich vor Publikum darlegt, dass er doch niemand sei, der andere auslache. Das ist eine neue Qualität, wie Persönliches ins Spiel kommt, und das lässt sich nicht einfach als das Eindringen von Authentizität in den politischen Betrieb beschreiben mit. Das gilt zwar zweifellos auch. Aber vor allem haben wir heute zum einen andere Erwartungen an Politiker, zum anderen sind diese medialen Situationen so neu, dass das noch nicht trainiert ist. Habermas schreibt in Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit über die sozialen Medien: Als der Buchdruck in die Welt kam, wie lange haben die Menschen gebraucht, um lesen zu lernen? Heute können wir alle publizieren, aber wie lange brauchen wir, bis auch alle publizieren können? Und da ist natürlich schon etwas dran: Nicht der Einzelne, sondern wir als Gesellschaft sind noch nicht gut vorbereitet, so zu publizieren – in selbst produzierten Podcasts, in öffentlichen Fotoalben auf Instagram oder Kurzvideos auf TikTok, die kaum mehr ein Argument im klassischen Sinne zulassen.

Dr. Astrid Séville  ist derzeit ­Vertretungsprofessorin für Politische Philosophie und Theorie an der Hochschule für Politik an der Technischen Universität München. Gemeinsam mit Julian Müller und Christian Kirchmeier forscht sie zu neuen Formen der politischen Ansprache und Fürsprache.

Podcasts sind ja auch ein sehr minimalistisches Medium. Man hört einfach nur. M: Wir assoziieren mit der Stimme ja maximale Intimität. Das zieht sich durch die gesamte Geistesgeschichte. Nichts scheint so unmittelbar wie die Stimme. Hinzu kommt: Wie konsumieren wir das? Wir haben auf einmal Politiker, die uns direkt ins Ohr sprechen, während wir durch die Stadt oder durch die Gegend laufen. Das ist eine merkwürdige Situation. S: Wir sind dem immer ausgesetzt, wir haben gar keine Distanz dazu. M: Ja, genau, die sind in unserem Ohr. S: Ich schlaf’ leider immer ein. Das Interview führten Volker Best und Katharina Rahlf.

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Dr. Julian Müller, ­derzeit ­Vertretungsprofessor für ­Politische Soziologie an der ­Philipps-Universität Marburg, leitet gemeinsam mit Astrid ­Séville und Christian Kirchmeier das von der Gerda-Henkel-Stiftung ­finanzierte Forschungsprojekt »Re/Präsentation. Neue Formen der politischen Ansprache und Fürsprache«.

ANALYSE

POLITIK DER DEBATTE ZUM PARLAMENTARISCHEN DENK- UND ­HANDLUNGSSTIL Ξ  Kari Palonen

Für das Verständnis der parlamentarischen Politik ist entscheidend, ob dem Resultat der Abstimmung oder der ihr vorangehenden Debatte die höhere Bedeutung beigemessen wird. Mit diesem Beitrag will ich die Eigenart der parlamentarischen Politik als kontingentes und umstrittenes Handeln par excellence thematisieren und ihre heutige Bedeutung kurz diskutieren. Max Weber unterschied bekanntlich zwischen Arbeits- und Redeparlamenten.1 Das Westminster-Parlament war für Weber beides – natürlich ein Redeparlament, aber wegen der detaillierten Ausschussbehandlung mit Verwaltungskontrolle auch ein Arbeitsparlament. Der kaiserliche Reichstag hingegen stellte laut Weber keines von beidem dar – weder ein Arbeits- noch ein debattierendes Redeparlament. Der Deutsche Bundestag schließlich gilt als eher dem Ideal des Arbeitsparlaments verpflichtet. Allein die Anzahl der Wortmeldungen während der Plenardebatten Vgl. Max Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland [1918], in: Max-Weber-Studienausgabe (MWS) I/15, hg. v. Wolfgang J. Mommsen & Gangolf Hübinger, Tübingen 1984, S. 237 f. 1 

2  Vgl. Sven-Oliver Proksch & Jonathan B. Slapin, The Politics of Parliamentary Debate, Cambridge 2015, S. 101 ff. 3  Vgl. Kari Palonen, Was Max Weber Wrong about Westminster?, in: History of Political Thought, H. 3/2014, S. 519–537, hier S. 535 ff.

in Westminster übersteigt jene im Bundestag um ein Mehrfaches.2 Hervorzuheben ist außerdem, dass in Westminster das Ablesen vorgefertigter Manuskripte prinzipiell verboten ist und die Reden freier und spontaner als im Deutschen Bundestag gehalten werden. Diese Einordnung des Deutschen Bundestags möchte ich relativieren und hierzu Debattenstatt Redeparlament als Idealtypus benutzen.3 Die Anträge in der Tagesordnung debattierender Parlamente enthalten einen Beschlussvorschlag (resolution), auf den sich die Reden beziehen müssen. Der zentrale Unterschied zwischen den beiden Typen Arbeitsund Debattenparlament besteht darin, ob die Abstimmung als Endprodukt oder als ein letzter Schritt in der Debatte verstanden wird. Den heutigen Parlamenten liegen somit gegensätzliche Ideale zugrunde: Das eine ist eine effektive Gesetzgebungsmaschine, das andere

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das Musterbeispiel fairer und ausführlicher Debatten. Im Kongress der Vereinigten Staaten sowie in der französischen Nationalversammlung dominiert die Abstimmung, während die Kommentarliteratur zu Westminster die Debatte als »the main Process«4 ansieht und die Abstimmung einen Teil der Debatte bildet. Im Deutschen Bundestag lassen sich Aspekte beider Parlamentstypen erkennen. Die folgenden Überlegungen gründen sich auf meine Studien zum Westminster-Parlament als Annäherung an den Idealtypus des Debatten­ parlaments sowie zum Politikbegriff in den Plenardebatten des Deutschen Bundestags.5 DAS ABSTIMMUNGSPARLAMENT Seit dem 19. Jahrhundert werden Parlamente als Schwatzbuden oder talking shops gescholten, deren allzu langsame und komplexe Beschlussfassung ihre Kritiker zu reformieren und effektivieren anstreben. Das Ideal ist eine Gesetzgebungsmaschine, ein auf die Legislatur reduziertes Parlament. Mit der Demokratisierung des Wahlrechts setzte sich die Ansicht durch, dass parlamentarische Mehrheiten durch die Wahlresultate, in Mehrparteiensystemen komplettiert durch die Koalitionsverhandlungen, für die ganze Wahlperiode entschieden werden. Nach Erfahrungen aus dem Weimarer Reichstag oder der Dritten Französischen Republik wurde diese Lesart in der Bundesrepublik mit den Schlagworten Parteienstaat und Kanzlerdemokratie sowie dem konstruktiven Misstrauensvotum des Grundgesetzes gestärkt. Diese Tendenzen deuten jedoch die Gefahr an, das Parlament in ein bloß die Regierungsvorlagen ratifizierendes Abnickgremium zu verwandeln. Diese Sicht steht im Widerspruch zur historischen Eigenart des in Westminister seit dem späten 16. Jahrhundert herausgebildeten parlamentarischen Vorgehens. Ein souveränes Parlament setzt die Unabhängigkeit seiner Mitglieder voraus, die sich in den Prinzipien der Redefreiheit, des freien Mandats, der Versammlungsfreiheit und freien und fairen Wahlen ausdrückt. Die Stellung der Parlamentarier:innen ist ein Musterbeispiel des vom Historiker Quentin Skinner reaktivierten neurömischen Begriffs der Freiheit als Gegenbegriff zur Abhängigkeit von Willkürherrschaft.6 Obwohl die Abgeordneten auf Parteilisten aus Wahlkreisen gewählt werden, sprechen sie als Individuen und stimmen individuell ab. Darin

4  Robert Blackburn & ­Andrew Kinnon, Griffith & Ryle on Parliament: Functions, Practices and Procedures, London 2003, S. 86. 5  Vgl. Kari Palonen, The Politics of Parliamentary Procedure, Leverkusen 2014; ders., From Oratory to Debate, Baden-­Baden 2016; ders., Parliamentary Thinking, London 2018; ders., Politik als parlamentarischer Begriff. Perspektiven aus den Plenardebatten des Deutschen Bundestags, Leverkusen 2021.

liegt auch die Chance, dass sich parlamentarische Mehrheiten zwischen den Wahlen je nach Themenagenda oder nach Umbildung der Fraktionen ändern können.

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6  Vgl. Quentin ­Skinner, Liberty before ­Liberalism, Cambridge 1998.

Demokratische Parlamente sind keine Abstimmungsmaschinen zur Bestätigung der Regierungsvorlagen geworden. Trotz Ansätzen zur Rationalisierung haben sie ihre komplizierten und viel Zeit beanspruchenden Beratungen in Plenum und Ausschüssen beibehalten. Im frühen napoleonischen Frankreich hat man zwischen einem debattierenden Tribunat und einem bloß abstimmenden Corps législatif unterschieden,7 aber dieses Modell hat sich nicht einmal in der Fünften Französischen Republik, welche die Macht der Nationalversammlung reduzierte, durchgesetzt. Für die Regierungen besteht eine Versuchung, die parlamentarischen Beratungen und Debatten zu marginalisieren; im Grenzfall – wie in Ungarn unter Fidesz – zugunsten einer willkürlichen Herrschaft der Mehrheitspartei. Das wirft die Frage auf, ob längere Herrschaftsperioden einer Partei auch in Demokratien mit dem parlamentarischen fair play-Prinzip vereinbar sind.8 DAS DEBATTIERENDE PARLAMENT Die Prozeduren und Praktiken eines debattierenden Parlaments werden oft sehr oberflächlich präsentiert und verstanden. Mitunter wird ignoriert, dass die Debatte im parlamentarischen Sinn keine einmalige Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit einer politischen Frage darstellt. Vielmehr umfasst sie mehrere Phasen der Politik und reicht vom Agenda-Setting über die Behandlung der Anträge im Plenum und in Ausschüssen bis zur Abstimmung. Die Beratung als Teil der Debatte behandelt die Fragen auf der Tagesordnung, die Diskussion dreht sich in Bundestagsdebatten vielfach um Fragen, deren Platzierung auf der Agenda angestrebt wird und die noch nicht der spezifischen parlamentarischen Form der Fragestellung entsprechen. Die Parlamentsdebatten beziehen sich, wie erwähnt, auf den Beschlussantrag. In der Debatte können die Mitglieder Änderungsanträge (amendments) einbringen, und der »Gewinner« unter diesen wird am Schluss der Debatte gegen den ursprünglichen Antrag zur Abstimmung gestellt. Die Vertagungsanträge (adjournments) geben nicht nur Zeit zum Umdenken 7  Vgl. Jean Garrigues (Hg.), Histoire du Parlement de 1789 à nos jours, Paris 2007, S. 102 ff. 8  Zu ­Parlamentskonzeptionen vgl. Cyril Benoît & Olivier Rozenberg (Hg.), Handbook of Parliamentary Studies. Interdisciplinary Approaches to Legislatures, Cheltenham 2020.

und zu Verhandlungen, sondern können die Anträge auch in Ausschüssen begraben, also nie zur Abstimmung kommen lassen. Eine Debatte zum Verfahren (order) zu beantragen, ermöglicht etwa, zu fragen, ob ein Mitglied »zur Sache« spricht oder eine »unparlamentarische« Sprache verwendet. Idealerweise sollen die Reden pro und contra einen Antrag einander abwechseln. Plenardebatten im Bundestag können nicht nur Anträge oder Vorlagen zur Gesetzgebung, sondern auch internationale Verträge, kleine Kari Palonen  —  Politik der Debatte

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und große Anfragen der Fraktionen und – als dramatischen Höhepunkt – den konstruktiven Misstrauensantrag gegen die Regierung behandeln. In Westminster haben gemeinsame Anträge der Hinterbänkler verschiedener Parteien zunehmend an Bedeutung gewonnen.9 Die in der Geschäftsordnung verankerten Gelegenheiten zur Debatte deuten an, dass sich das debattierende Parlament auf ein anderes Modell der Erkenntnis und des politischen Urteils als das abstimmende gründet. Grundsätzlich gilt das prozedural-rhetorische Prinzip, dass ein Antrag nur dann ordentlich erfasst und ausgewertet werden kann, wenn er aus entgegengesetzten Perspektiven beurteilt wird und die Stärken sowie Schwächen aller Anträge gründlich debattiert werden. Die Geschäftsordnung und parlamentarische Praxis in Westminster verkörpern nicht nur die historische Annäherung an den Idealtypus, sondern haben ebenfalls für Max Webers Revision des Begriffs der »Objektivität« der Erkenntnis als Debattieren pro et contra als Vorbild gedient.10 In seiner Parlamentsschrift zeigt Weber darüber hinaus, dass das Wissen der Ministerialbeamten ebenso perspektivistisch, umstritten und anfechtbar wie die akademische Erkenntnis ist. Eine seiner bedeutendsten Einsichten war, dass der Streit in der Wissenschaft genau so verbreitet, angemessen und wertvoll wie in der parlamentarischen Politik ist. Dass die akademische Erkenntnis ebenso wie die parlamentarische Praxis aus Debatten besteht, vertritt heute auch der Historiker Skinner.11 Entsprechend erscheint »die Wissenschaft« nicht als eine unfehlbare Autorität, wie sie in der öffentlichen Debatte und von unvorsichtigen Akademiker:innen gern dargestellt wird. Im Deutschen Bundestag hat Helmut Lippelt (Die Grünen) das anerkannt: »Die Wissenschaft ist politisch: sie kann nicht mehr unpolitisch sein.« (1. Juni 1990). Mit Weber und Skinner: Die parlamentarische Politik mit ihrer Aufwertung des

9  Vgl. z. B. Tony Wright, Doing Politics, London 2012.

Streits und der Allgegenwart der Debatte bildet somit ein Modell für die Wissenschaft. Weder die populistische Wissenschafts- und Parlamentsschelte noch der Relativismus aller Meinungen sind legitim. Sie werden vom parlamentarischen Prozeduralismus in Verbindung mit der Unendlichkeit der Debatte – was Weber Wahrheitsstreben nennt – ebenso ausgeschlossen wie die ex cathedra-Autorität der Gelehrten. Ausführliche Parlamentsdebatten nehmen viel Zeit in Anspruch. Der methodische und politische Wert des Für-und-Widerredens rechtfertigt

10  Vgl. Max Weber, Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis [1922], in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 1973, S. 146–214. Zur Interpretation vgl. Kari Palonen, »Objektivität« als faires Spiel. Wissenschaft als Politik bei Max Weber, Baden-Baden 2010.

diesen Zeitaufwand. Zugleich haben die Parlamente seit ihren Anfängen verschiedene Möglichkeiten, die parlamentarische Zeit zu begrenzen und fair zu verteilen, wenn sie nicht zur Debatte, sondern etwa zur

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Sprache und Politik  —  Analyse

11  Vgl. Quentin Skinner, Visions of Politics I: Regarding Method, Cambridge 2002.

Profilierung der Redenden oder zur Obstruktion genutzt wird. Es ist auch wenig sinnvoll, »Handeln statt Reden« zu fordern (wie es beispielsweise der Sozialdemokrat Heinrich Deist am 11. Oktober 1962 im Bundestag tat), da das parlamentarische Handeln eben aus Reden, oder genauer: nicht aus einzelnen Reden, sondern aus Reden in Debatten besteht. Gerade das ist auch das spezifische Charakteristikum der parlamentarischen Rhetorik etwa gegenüber jener von Wahlkämpfen, Massenversammlungen oder auch Redewettbewerben. Damit meine ich nicht, dass sich im Parlament stets das »beste Argument« durchsetzen würde. Die Kriterien für die Beurteilung der Stärke von Argumenten sind vielmehr selbst Teil des politischen Streits. Das Parlament kann die Chancen des Prozederes dazu nutzen, die Maßstäbe für eine Regierungsvorlage infrage zu stellen und Alternativen zu entwerfen, die unter anderen Kriterien politisch denk- und realisierbar wären, oder gar eine Umwertung der Werte wagen. Für Weber sind die Parlamente, scheinbar bescheiden, vor allem ein Gegengewicht zur Tendenz der fortschreitenden Bürokratisierung. Deswegen ist die Verwaltungskontrolle zentraler Bestandteil der parlamentarischen Regierungsweise. Weber veranschaulicht, wie die parlamentarischen Laien das Beamtenwissen kontrollieren können, und zwar mit Mitteln, die Westminster, aber nicht dem kaiserlichen Reichstag12 zur Verfügung standen. Er unterscheidet zwischen Fachwissen, Dienstwissen und Geheimwissen und schlägt drei rhetorische Instrumente zur parlamentarischen Kontrolle vor: die parlamentarischen hearings der Ausschüsse zur Gegenüberstellung verschiedener Fachministerien, die »Inaugenscheinnahme« der Quellen des Dienstwissens durch Ausschussmitglieder sowie die Einberufung der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse.13 Diese Eigenarten des parlamentarischen Denk- und Handlungsstils dürften den meisten neu gewählten Abgeordneten heute fremd sein, obwohl von ihnen in der parlamentarischen Praxis erwartet wird, dass sie diese Regeln und Konventionen beherrschen. Unabhängig davon, ob sie 12  Zu Kontrollformen im heutigen Bundestag vgl. Sven T. Siefken, Parlamentarische Kontrolle im Wandel. Theorie und Praxis des Deutschen Bundestages, Baden-Baden 2018. 13  Vgl. Weber, ­Parlament, S. 235–248.

ihren Hintergrund in »bürgerlichen« Berufen oder in der professionellen Parteipolitik haben, verlangt der parlamentarische Denkstil von ihnen somit ein Umdenken – Handlungsweisen, die sich im alltäglichen Leben bewährt haben, müssen dies im Parlament keineswegs ebenfalls. Diese feinen Unterschiede lernt man nur in der parlamentarischen Praxis. Die üblichen Klagen über die Machtlosigkeit der einzelnen Abgeordneten oder des Parlaments überhaupt gründen vielfach darauf, dass die Kari Palonen  —  Politik der Debatte

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Kritiker:innen die in der Geschäftsordnung oder in der Parlamentspraxis enthaltenen politischen Handlungschancen nicht erkennen. Zwar werden in Kommunal- und Studierendenpolitik wichtige Teile des parlamentarischen Vorgehens angewendet, aber erst als gewählte Repräsentant:innen in Vollzeit können die Abgeordneten die politische Bedeutung dieser Chancen voll ausschöpfen. IM PARLAMENT IST ALLES POLITIK Die Platzierung auf der parlamentarischen Tagesordnung politisiert eine Frage: Sie wird im Sinne ihres offenen Ausgangs kontingent. Die Geschäftsordnung und die rhetorischen Praktiken der parlamentarischen Politik setzen voraus, dass jede Frage auf der Agenda einer Debatte unterzogen wird. Zwar streben Regierungen an, in den Begründungen ihrer Vorlagen bereits im Voraus denkbare Einwände zu beachten und damit etwaigen Kritiker:innen zuvorzukommen; und für die Opposition oder einzelne Abgeordnete lohnt es sich nicht, über jede Vorlage einen Streit zu eröffnen. Indes erfordert eine idealtypisch parlamentarische Denkweise, dass zumindest in Ausschüssen Gedankenexperimente über die Vor- und Nachteile des Beschlussantrags sowie denkbare Alternativen hierzu angestellt und ihre Begründungen kritisch geprüft werden. Jede an das Parlament gerichtete Frage ist somit als eine politische zu verstehen. Der parlamentarische Politikstil ist am explizitesten politisch, da er sowohl die Kontingenz als auch die Umstrittenheit der Politik nicht nur anerkennt, sondern auch als seinen Vorteil nutzt. In dieser Allgegenwart der Politik im Parlament liegt eben die besondere Chance, parlamentarische Debatten als politische Sprechhandlungen zu analysieren. Quentin Skinner hat angeregt, politisches Denken und Begriffsgeschichte aus der Sicht des aktuellen Wortgebrauchs zu studieren.14 Mit den Bundestagsdebatten habe ich ebendies praktiziert, indem ich Begriffsgeschichte, Rhetorik und parlamentarische Politik miteinander verbunden habe. Den Mitgliedern der demokratischen Parlamente dürfte der durchgehend politische Charakter ihrer Handlungen bekannt sein. Zumindest nach dem Zweiten Weltkrieg haben viele Abgeordnete verschiedener Parlamente Politik als Sinn der eigenen parlamentarischen Tätigkeit erwähnt und als Grund für ihre Kandidatur angeben. Jedoch findet man auch im Bundestag Beiträge, die eine Frage als »unpolitisch« gar »apolitisch« bezeichnen oder »reine Sachfragen« »politischen Fragen« gegenüberstellen. Vor allem in der Denkschule der neo-kameralistischen Ökonomen um

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14  Vgl. Quentin Skinner, The Foundations of ­Modern Political Thought, Bd. I, Preface, Cambridge 1978.

1900 hatten viele policies, etwa Diskont- oder Devisenpolitik, wenig mit »Politik« zu tun. In frühen Bundestagsdebatten gibt es noch Spuren dieser Sprache, mit der Abgeordnete das »Politikum« der Fragen herunterspielen. Wilhelm Gülich (SPD) etwa bekundete am 20. März 1953: »Es handelt sich […] eben nicht um ein Politikum, sondern darum, daß wir eine wirtschaftlich richtige Entscheidung treffen wollen.« Offenbar nahmen viele Abgeordnete an, die politische Qualität einer Frage hänge von der »Natur der Sache« ab. »Politik« wurde als ein abgesteckter Bereich aufgefasst, der nicht viel mit dem Leben der Menschen zu tun hatte. Seit der sozialliberalen Koalition ab 1969 hat man jedoch besser verstanden, dass die Rede von einer »unpolitischen Sachfrage« einen rhetorischen Schachzug zugunsten des eigenen Standpunkts darstellt. Insofern ist der naive Begriffsrealismus durch eine rhetorische Sicht der Politik als ein kontingentes Handeln ersetzt worden. Ein Indiz dafür ist, dass die Abgeordneten aller15 im Bundestag vertretenen Parteien seit den späten 1970er Jahren der Gegenseite »Politikunfähigkeit« vorwerfen, diesen Begriff jedoch unterschiedlich nuancieren. Diesem Wandel entspricht auch die zunehmende Akzeptanz der Vokabel »Politisierung«. Obwohl auch im Bundestag in der Mehrheit der Fundstellen »Politisierung« negativ konnotiert ist, gibt es deutlich mehr neutrale und akzeptierende Beispiele als im britischen Parlament.16 In der englischen Parlamentssprache scheint immer noch ein breiter Konsens über Politik als eine separate Sphäre zu bestehen, während im Bundestag eine attestierte Politisierung in Bezug auf den Charakter des Handelns bzw. der Akteur:innen auch als Aufwertung gemeint sein kann. Im Sinne der »Staatsbürger in Uniform«-Konzeption einer aktiven Teilnahme an der Politik befürwortete gar Verteidigungsminister Helmut Schmidt (SPD) »die Politisierung der Bundeswehr« (26. März 1971). Eine explizite Forderung nach Politisierung in Form der Platzierung neuer Typen von Fragen auf der Agenda oder als Umdeutung gewisser Erscheinungen als politische ist im Bundestag zuvorderst eine Domäne der Grünen: So sprach Claudia Roth etwa von der »Demokratisierung und Politisierung 15  Meine Untersuchung reicht bis zum Ende der 18. Legislaturperiode im Jahr 2017. 16  Vgl. Kari Palonen, Politicisation as a Speech Act, in: Taru Haapala & Álvaro Oleart (Hg.), Tracing Politicisation in the EU, London 2022, S. 67–90.

Europas« (18. Mai 2000). Im weiteren Sinn kann man diese Verschiebung des thematischen Interesses über die Bundesrepublik hinaus auf die europäische und globale Ebene als eine bedeutsame Verbreiterung der parlamentarischen Agenda und somit als Politisierung des Bundestags und seiner Mitglieder ansehen. Diese am Begriff der »Politisierung« beispielhaft skizzierte Entwicklung deutet an, dass auch der Bundestag durchaus Züge eines debattierenden Parlaments aufweist. Kari Palonen  —  Politik der Debatte

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BEDEUTUNG DER PARLAMENTE In Umfragen haben Parlamente heute oft einen schlechten Ruf. Die europaweite populistische Welle beruht auf einer kompletten Ignoranz der Chancen des parlamentarischen Denk- und Handlungsstils. Populisten sind bestrebt, die komplexe und langsame parlamentarische Politik nach dem Freund-Feind-Schema – »wir oder sie« – zu vereinfachen. Große Unterstützung genießt die Sehnsucht nach direkter Demokratie, die geregelte Debatten mit Änderungsanträgen für unnötig hält und die rhetorische Streitkultur der Parlamente überhaupt ablehnt. Ungewollt zeigen diese Kritiken jedoch die Vorzüge parlamentarischer Politik. Die Politik der ausführlichen Beratungen ermöglicht eine Kritik an tief verwurzelten Vorurteilen sowie an scheinbar gegebenen Begriffen und Klassifizierungen. Die Debatten über oft marginal erscheinende Unterschiede zwischen einem Antrag und den Änderungsvorschlägen machen politisch bedeutsame Scheidelinien sichtbar. Die Fraktionen können den Verlauf der Debatte niemals in all seinen Einzelheiten steuern; vielmehr verlangen sowohl das Reden als auch das Abstimmen ein unabhängiges Urteil der Abgeordneten. Jean-Jacques Rousseau hielt die Engländer nur am Wahltag für frei.17 Seine Pointe lässt sich umkehren: Die Parlamentsabgeordneten sind frei – und am Wahltag wird die parlamentarische Freiheit als Unabhängigkeit von der Willkürherrschaft auf alle Wählenden erweitert. Die Stimm­abgabe wäre dann eine erste Stellungnahme zu den erwarteten Parlaments­debatten.

Prof. Dr. Kari Palonen ist Professor emeritus der Politikwissenschaft an der Universität Jyväskylä, Finnland. Er hat zu internationalen Debatten zum Politikbegriff und seiner Geschichte, zur Begriffsgeschichte, zu Max Webers politischem Denken ­sowie zu prozeduralen, rhetorischen und zeitlichen Aspekten der parlamentarischen Politik beigetragen. Gegenwärtig studiert er die Verbindung der parlamentarischen und supranationalen Aspekte der Europäischen Vereinigung.

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17  Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Du contrat social, ­Amsterdam 1762, Kap. III: XV.

KOMMENTAR

MACHT UND TROST ÜBER POLITISCHES REDENSCHREIBEN Ξ  Vazrik Bazil

»Das also ist wohl jedem klar, dass das Redenschreiben an sich nichts häßliches ist«, so Platon in seinem einflussreichen Werk Phaidros. Im Gegenteil, »wenn ein Redner oder König […] es dahin bringt, […] ein unsterblicher Redenschreiber in seinem Staate zu werden«, hält er sich für »göttergleich«, so die ironische Behauptung von Sokrates. Ob sterblich oder unsterblich, verfassen Redenschreiberinnen und Redenschreiber Reden für andere. Sie bieten eine Dienstleistung an, die es bereits in der Antike gab und die schon damals vergütet wurde. Aber im Kern steckt in jedem Menschen ein Redenschreiber; selbst jene, die in ihrem Leben nie eine Rede geschrieben haben oder je schreiben werden, benehmen sich im Alltag wie einer – ist ein Freund in sprachlicher oder argumentativer Not, springt man ihm mit den Sätzen bei: »Du kannst ihm doch sagen …«, »Sag ihr doch einfach …«. DIENSTLEISTER IM SCHATTEN In der Rhetorik ist Redenschreiben der Rede nicht äußerlich, sondern ein Teil von ihr. Nach dem klassischen und immer noch gültigen Schema durchlaufen Reden fünf Schritte: Der Redner muss den Redestoff finden und sammeln, er muss diesen Stoff ordnen, ihn in eine Textform gießen, sich den Text ins Gedächtnis einprägen und sich in leiblicher Beredsamkeit üben (Gestik, Mimik, Stimme). Redenschreiber sind demnach grundsätzlich Redner und Redner Redenschreiber. Dass Schreiben und Reden in der Praxis oft auseinanderfallen und auf verschiedenen Schultern lasten, kann mehrere Gründe haben: Manche Redner haben keine Ideen und brauchen Ideengeber, manche keine Erfahrung und brauchen kundige Stützen und andere wiederum haben keine Zeit und brauchen Dienstleister, welche für sie die ersten drei Schritte der

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Redevorbereitung – Ideensammlung, Ordnung und Formulierung – übernehmen. Gerade in der Politik überwiegt der letzte Grund. Offensichtlich, wenn man an Sokrates’ Worte denkt, war es im antiken Athen nicht makelhaft, einen Redenschreiber zu beschäftigen. Im modernen Deutschland hingegen war es lange verpönt, dies zuzugeben. Hieße das doch, man ließe sich als mündiger Bürger von anderen Menschen Wörter in den Mund legen; und wem man Wörter in den Mund legen muss, der galt als schwach und intellektuell unbedarft. Vermutlich war dies der Grund, weshalb Redenschreiber ihren Beruf zumeist anonym ausübten: Sie waren eben »Ghostwriter«, namenlos und gesichtslos. Inzwischen hat sich die Lage hierzulande erheblich entspannt, und Redenschreiber treten sogar als eine eigenständige Zunft selbstbewusst in der Öffentlichkeit auf, wie die Gründung des Verbandes der Redenschreiber deutscher Sprache vor mehr als zwei Jahrzehnten belegt. GESICHT UND MASKE In früheren Jahrhunderten verfassten die Redenschreiber auch Briefe, speziell Liebesbriefe, für ihre weniger gebildeten Mitbürgerinnen und Mitbürger. Fragt man heute allgemein, was Redenschreiber leisteten, hört man bunte Vorstellungen: »Sie suchen die richtigen Worte«, »beherrschen die sprachliche Klaviatur der Emotionalität«, »verschweigen manches«, »benutzen Wortspiele«, »bieten thematische Anregungen« und »trainieren die Redner«. Man vergleicht Redenschreiber gerne mit Maskenbildnern und Modeberatern, während Redenschreiber selbst ihre Dienstleistung mit der eines Steuerberaters, Rechtsanwalts oder Unternehmensberaters gleichsetzen. Allein die Metaphern »Maskenbildner« oder »Modeberater« entlarven ein tiefsitzendes Vorurteil: Redenschreiberinnen und Redenschreiber sorgten für eine glanzvolle Fassade, für eine bella figura. Dass sie sich nicht gerade um die brutta figura ihrer Auftraggeber bemühen, ist verständlich, aber ihre Tätigkeit erschöpft sich eben nicht darin, nur Glanz auszustrahlen. Redenschreiber sind heute entweder freiberuflich, hauptberuflich oder nebenberuflich tätig und übernehmen in Organisationen auch andere Funktionen, in der Regel in Kommunikationsabteilungen; sie verfassen Pressetexte, bearbeiten Beschwerden, Medienanfragen, betreuen Veranstaltungen, lektorieren, schreiben Texte für Publikationen, bereiten Präsentationen vor oder erarbeiten sprachliche Leitlinien für ihre Organisationen. Zudem beraten sie ihre Rednerinnen und Redner in leiblicher Beredsamkeit, in Mimik, Gestik und Stimme, in Kleiderordnung oder im Umgang mit Zwischenrufen.

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Sprache und Politik  —  Kommentar

GUTE REDEN, SCHLECHTER REDNER – UND UMGEKEHRT Was aber nennen wir eine »Rede«? Eine Rede ist nicht bloß der »Vortrag«. »Statements«, »Grußworte«, »Präsentationen«, »Impulse«, »Video-­ Botschaften« sind weitere Namen für diese elastische Form mündlicher Kommunikation. Entscheidend ist: Redenschreiber schreiben für das Ohr, fürs Hören und nicht für das Auge, fürs Lesen. Deshalb kann alles, was für das Ohr bestimmt ist, als »Rede« bezeichnet und von Redenschreibern entworfen werden. Heute kommt ein weiterer Faktor hinzu: Wir gehen in unseren Breitengraden von einer schriftlichen in eine mündliche Kultur über. Selbst Schriften, die für das Auge bestimmt sind, haben zunehmend mündlichen Charakter. Die sogenannten »sozialen« Medien sind das beste Vazrik Bazil  —  Macht und Trost

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Beispiel dafür. Facebook-Einträge oder Twitter-Texte sind eher mündliche als schriftliche Texte. Deshalb können Redenschreiber selbst solche Texte abfassen und, was das Twittern betrifft, auch als Aphoristiker reüssieren. Wenn Rednerinnen und Redner eine Zielgruppe haben, nämlich das Publikum, haben ihre Redenschreiberinnen und Redenschreiber deren zwei: den Redner und das Publikum, und zwar in dieser Reihenfolge. Was ein guter Redetext ist, entscheidet der Redner, denn schließlich ist die Rede seine Rede und nicht die des Redenschreibers. Es gibt Redner, wie Richard Nixon, die aus guten Texten schlechte Reden, und welche, wie Ronald Reagan, die aus schlechten Texten gute Reden zauberten. Und was das Publikum betrifft, lobt es nie den Redetext, sondern immer die Rede, sagt nie: »Der Redetext war gut, aber die Rede schlecht«. Selbst wenn der Redner wenig Ahnung von gelungenen Redetexten hat, ist er der Herr des Geschehens. Am besten ist immer die freie Rede. Das heißt jedoch nicht die unvorbereitete. Auch die freie Rede bedarf der Vorbereitung, an der Redenschreiber beteiligt sind. Es liegt an der Geschicklichkeit des Redners, sich den Text gut einzuprägen oder ihn so vorzulesen, als ob er die Rede frei hielte. Die freie Rede gibt dem Redner die Möglichkeit, nicht vor dem Publikum, sondern zu dem Publikum zu sprechen, dessen Regungen aufzugreifen und auf sie einzugehen. Dies ist wichtig, weil eine gute Rede ein einziges gemeingültiges Kriterium hat: Angemessenheit. Die Rede soll dem Redner, dem Thema, dem Publikum, dem Ort, dem Anlass und dem Zeitpunkt angemessen sein. Ist der Redestil dem Anlass unangemessen, verfehlt die Rede ihre Wirkung genauso, wie wenn der Redner das Publi­ kum mit einem unpassenden Thema behelligt oder sich als ungeeignet herausstellt, zu dem anstehenden Thema zu sprechen. Auch die Qualität des Redenschreibers beruht auf Angemessenheit; er muss sich in die Lage des Redners, aber auch des Publikums versetzen können, um einen angemessenen Redeentwurf anzufertigen. Dazu brauchen beide – Redner ebenso wie Redenschreiber – das, was die Sprache Gemeinsinn nennt, Common Sense. Denn der Gemeinsinn ist das Vermögen der Angemessenheit. REDE UND WIRKUNG Nicht das »Gemessene«, sondern das »Angemessene« ist somit das Kriterium einer guten Rede. Der heute verbreitete Hang, alles, selbst die menschliche Kommunikation, messen zu wollen, überträgt neuzeitliche mathematisch-naturwissenschaftliche Vorstellungen auf das menschliche Leben und übersieht leicht, dass Menschen keine Maschinen sind. Messverfahren haben ihren Sinn, sie dürfen uns aber nicht einlullen und als

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höchstes Kriterium für Gelingen und Misslingen menschlicher Angelegenheiten, wie der Rhetorik, gelten. Den »Erfolg« einer Rede, das heißt die Übereinkunft zwischen dem Ziel des Redners und der Wirkung der Rede, festzustellen, ist sehr schwer. Für manch einen Redner ist die Rede gelungen, wenn das Publikum seine Witze mit Applaus und Heiterkeit bedenkt. Sicher ein wichtiger Wink. Für manch einen anderen ist die Resonanz der Medien maßgeblich. Die Rede ist demgemäß gelungen, wenn die Medien insgesamt positiv auf sie reagieren. Ebenfalls ein wichtiger Hinweis. Doch nicht der Applaus, nicht das positive Medienecho sind das Ziel einer Rede, sondern die Überzeugung der Zuhörer mit entsprechenden Anschlusshandlungen. Reden sind auf Beibehaltung oder Änderung von Einstellungen und vor allem Handlungen des Publikums aus. Redner wollen, dass die Publika ihre Meinungen zu einem Thema übernehmen und entsprechend handeln. Doch wie will man erfahren, ob eine Rede gewirkt und, vor allem, wie lange ihre Wirkung angehalten hat? Hatte sie ihre Wirkung auf alle im Saal oder nur auf wenige? Waren Menschen nur am Tag danach von ihr begeistert oder auch drei Tage später? Hinzu kommt: Das Publikum einer Rede sitzt heute nicht nur im Saal. Durch Medien erreichen Reden eine wesentlich größere Hörweite, doch nur jene, die im Saal sind, hören Reden vom Anfang bis zum Ende. Alle anderen begnügen sich in der Regel mit Satzfetzen und Zitaten, zuweilen garniert mit den Kommentaren von Tagesschreibern. Zum Schluss kann man nicht einmal klar benennen, worauf die mehr oder minder festgestellte Wirkung zurückzuführen wäre: auf eine sprachliche Wendung, auf ein Argument, auf einen Witz, auf die Lichtverhältnisse im Saal? Heinrich von Kleist hat es in seinem berühmten Aufsatz Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden treffend formuliert: »Vielleicht, dass es auf diese Art zuletzt das Zucken einer Oberlippe war, oder ein zweideutiges Spiel an der Manschette, was in Frankreich den Umsturz der Ordnung der Dinge bewirkte.« Anders als in der Technik gilt in der Rhetorik und in menschlichen Angelegenheiten insgesamt: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. AUTOR UND AUTORITÄT Der Autor der Rede ist zugleich die Autorität, die über das Gelingen und Misslingen von Reden entscheidet. Und der Autor ist nicht der Redenschreiber, sondern der Redner, der die Rede hält. Sympathie und Antipathie beschweren die Waage genauso wie Bekanntheit, Rang und Stellung. Wer dem Publikum sympathisch ist, hat bessere Chancen, es von seinen Ideen zu überzeugen. Ähnlich ergeht es »berühmten« Menschen, die einen Vazrik Bazil  —  Macht und Trost

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weiten Hörerkreis erreichen können und oft Organen vorstehen, die mit ihren bürokratischen Apparaten diese Reden bewerben, deuten und herausstellen. Blättert man in einschlägigen Redeanthologien, trifft man nahezu ausschließlich auf »Berühmtheiten«. In Deutschland sind es vornehmlich die Bundespräsidenten, die Bundeskanzler oder die Minister­ präsidenten. Ich bin sicher, gute und große Reden werden auch von weniger berühmten Politikern gehalten, doch weil man sie in der breiten Öffentlichkeit nicht kennt, überschreitet die Wirkung ihrer Reden kaum die lokale Schwelle. Wer weiß, wie viele solche Reden uns unbekannt bleiben? Die Wirkung der Rede geht oft auf die Person des Redners zurück, auf den Ruf, der ihr vorauseilt. Würde man heute einem Publikum mitteilen, John F. Kennedy betritt in fünf Minuten den Saal und spricht über Demokratie, kann man mit Sicherheit voraussagen, dass danach alle von seiner Rede begeistert wären, selbst wenn er die bekanntesten Banalitäten von sich gäbe. Ähnliches gilt für die nationale Herkunft: Die Briten und US-Amerikaner halten stets das rhetorische Ass in der Hand und dienen hierzulande als Beispiele für mustergültige Redner. Als ob die Franzosen oder Italiener von schlechteren Eltern wären. Ganz zu schweigen von anderen Kontinenten, die gar nicht erst in in unser Blickfeld geraten. Kurzum: Bedingt durch Vorurteile und Erwartungen, die nicht unbedingt falsch sein müssen, überträgt sich die Strahlkraft eines Redners auf seine Rede – wie relevant oder irrelevant, gut oder schlecht sie auch sein mag – und bestimmt unsere Wahrnehmung von ihr. POLITISCHE REDEN Politische Reden sind nicht nur jene, die Politiker halten – Mitglieder der Exekutive oder Legislative, Landes- oder Bundesminister oder Parlamentarier. Politisch sind Reden, die das Gemeinwohl betreffen und öffentlich gehalten werden. Selbst ein Modeschöpfer, ein Künstler oder ein Unternehmer kann politische Reden halten, wie ein Günter Grass oder ein Heinrich Böll es so oft taten. Wenn man von Privatanlässen, wie Jubiläums-, Geburtstags-, Hochzeits- oder Trauerreden absieht, hat jede Rede mit Macht zu tun, weil man Einfluss auf das Publikum ausüben will – man will es von der eigenen Meinung und Haltung überzeugen. Jede Rede ist ein Machtinstrument. Und politische Reden sind besonders machttrunken. Das deutsche Wort »Macht« stammt vom gotischen magan (können, vermögen) und steckt im altpersischen Wort magus (der Magier) sowie im altgriechischen mechané (Kunstmittel), von dem sich wiederum das deutsche Wort »Mechanik« (»Maschine«) ableitet. Politische Reden deuten die

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Lage, benennen das Richtige und Falsche, zeigen Perspektiven in die Zukunft und ergreifen Partei. Und um diese Deutung und Benennung ringen Parteien, politische Gruppierungen und Personen aus anderen Bereichen des Lebens jeden Tag. Politische Reden schreibt man in der Regel in Institutionen und Organisationen, in denen viele an ihrer Entstehung mitwirken, inhaltlich und politisch. Entscheidend ist nun, dass Redenschreiberinnen und Redenschreiber aus fachlichen Zuarbeiten politisch angemessene Reden anfertigen müssen. Die meisten dieser Reden sind keine »8. Mai«-Reden (Richard von Weizsäcker), »Ruck«-Reden (Roman Herzog) oder »Mehr ­Demokratie wagen«-Reden (Willy Brandt). »Historische Reden« sind keine »alltäglichen Reden« und bilden eine sehr kleine Minderheit. In der Regel handelt es sich um Routine-Reden zu – nicht selten langweiligen – Routine-Anlässen: Grußworte, Vorträge, Eröffnungen, Preisverleihungen, Wahlkampfreden, Plenarreden usw. Auch Medien selbst sind gute Recherchequellen für die Redenschreiber. Sie erfahren in ihnen, welche Themen angesagt sind, über welche Themen öffentlich mit welchen Begriffen und Sprachwendungen argumentiert wird und welche Für- und Widerargumente ins Feld geführt werden. Indem Redenschreiber diese verschiedenen Stoßrichtungen berücksichtigen, sind sie imstande, ihre Redetexte medial »hoffähig« zu gestalten. Sie können indes von diesen öffentlich-medialen »Vorgaben« abweichen und neue Wendungen und Blickrichtungen ins Spiel bringen, allerdings nicht ohne Risiko, weil sie nie genau voraussehen können, wie Medien diese Abweichungen aufgreifen und ob diese nicht missverstanden werden. Das größte Risiko der Kommunikation ist das Missverständnis, denn es verleitet zu Fehldeutungen und Fehlhandlungen, die nicht im Sinne der Rede und des Redners sind. Lieber nicht verstehen als missverstehen. DAS ALTE IST DAS NEUE Müssen Reden originell sein? Wer politische Reden aus einer bestimmten geschichtlichen Zeit unter die Lupe nimmt, erkennt sofort, wie sich Sprachduktus, Problembenennungen, Wortwahl oder Metaphern verschiedener Redner ähneln. Will man originelle Reden – und das heißt, einen anderen Sprachduktus und eine andere Wortwahl –, dann sollte man zum Beispiel politische Reden aus den 1950er Jahren hören; sie klingen neu in unseren Ohren, weil wir diese Reden längst vergessen haben. Das Neue ist nicht selten das vergessene Alte. Dass der aktuelle Koalitionsvertrag das Wort »Fortschritt« enthält, ist ebenfalls ein Rückgriff auf die 1960er, Vazrik Bazil  —  Macht und Trost

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70er oder 80er Jahre, in denen dieses Wort noch »fortschrittlich« war. Schon seit den 1990er Jahren wurde es nicht mehr häufig gebraucht und mehr und mehr von einem anderen, damals neuen und aurabehafteten Wort ersetzt: »Innovation«. Heute ist auch »Innovation« kein schillerndes Wort mehr, und »Fortschritt« klingt wieder neu und frisch. Es ist Aufgabe der Redenschreiber zu schauen, ob und inwiefern sie von der geltenden Sprachwelt abweichen wollen oder können. Ähnliches gilt für die Metaphern. Die starke Neigung der 1990er Jahre, wirtschaftliche Bilder auf alle anderen Bereiche des menschlichen Lebens zu übertragen, war bei den meisten Politikern, Wirtschaftslenkern oder selbst Bildungsexperten deutlich zu erkennen. Selbst »Familien« wurden zu »Unternehmen« erklärt, und man wollte den »Return on Investment« von Bildung »messen«. Man mag die grobe Absicht solcher Aussprüche gut finden, aber Metaphern schaffen einen mentalen Rahmen, innerhalb dessen man sich auch verirren kann: Sind einmal Familien zu Unternehmen verbildet und ist Elternarbeit mit der Erwerbsarbeit gleichgesetzt, dann ist der Schritt nicht weit, eines Tages auch Kinder als »Produkte« zu preisen und zu bepreisen, die man im Sommer- oder Winterschlussverkauf teuer oder billig kaufen oder verkaufen kann. Metaphern sind nicht harmlos. Sie bewirken mehr, als nur Reden mit bunten Bildern zu verzieren und sie zu veranschaulichen. Die Scheu vor Floskeln muss ebenfalls überdacht werden. Diese vergilbten Wendungen können durchaus sinnvoll sein. Politiker wollen sich nicht immer weit aus dem Fenster herauslehnen, haben Angst, Falsches zu sagen, oder haben gerade nichts Weltbewegendes zu einem Thema zu verkünden. Deshalb nehmen sie Zuflucht im Bekannten, Erprobten, Abgenutzten und Sicheren. Manchmal fragt man sich auch, wie denn die Öffentlichkeit einerseits Authentizität verlangt, andererseits aber jedes Wort auf die Goldwaage, ja Diamantenwaage legt und Abweichungen gnadenlos bestraft. Für Außenstehende klingen Floskeln langweilig, aber Langeweile kann für Redner eine Oase der Rettung und Sicherheit sein. Floskeln und Redundanzen ergeben durchaus einen Sinn. Es ist daher irrig zu glauben, Kreativität sei immer und überall willkommen. Nein. Sie verunsichert. Und Unsicherheit will kein Redner im Publikum erzeugen – schon gar nicht in der Politik. Die meisten Politikerinnen und Politiker benutzen daher dehnbare, in jede Richtung deutbare Begriffe, die schön und anheimelnd klingen und dem Ohr nie wehtun: »Zukunft«, »Fortschritt«, »Verantwortung«, »gesellschaftliches Engagement«, »Werte«, »Demokratie«, »Selbstbestimmung«, »Innovation«, »neu« usw. Diese Wörter haben mythische Kräfte. Wenn

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Sprache und Politik  —  Kommentar

Reden fürs Ohr bestimmt sind und das Ohr der Zeit zugeordnet ist und das Auge dem Raum, so sind Reden als Machtinstrument zugleich ein Zeitinstrument. Der Mensch lebt von der Zukunft her, von seinen Erwartungen, Hoffnungen und Träumen. Politische Reden als Macht- und Zeit­instrumente haben daher immer eine einzige, alles überwölbende Botschaft: Mit mir/ uns wird es Dir, oh Bürgerin/oh Bürger, besser gehen. Der Kern einer jeden politischen Rede ist der Trost für die Zukunft. Der Mensch ist ein trostbedürftiges Wesen. Die unsichere Zukunft ist Mächten ausgesetzt, vor denen wir entweder fliehen, wenn sie uns bedrohen, oder deren Nähe wir suchen, wenn sie uns Halt bieten. Wir können diese Mächte mythisch nennen. Sie zeigen uns ihre Gunst oder Ungunst, sie wenden sich gegen uns oder zu uns. Die Affekte, die wir der Zukunft entgegenbringen, waren für die Griechen Götter: »Deimos« (Schrecken), »Phobos« (Furcht), »Eris« (Zwietracht) und so weiter. Redenschreiberinnen und Redenschreiber formulieren den Trost für die Zukunft und nehmen zugleich den Kampf gegen jene Götter auf, die ihre Zeitgenossinnen und Zeitgenossen behelligen, bedrängen, bedrohen. Die vorerwähnten dehnbar wohlklingenden Wörter sind so betörend, dass sie die Menschen auf ihre Reise in diese unbestimmte Zukunft ermutigen und vorbereiten. DER MENSCH – EIN RHETORISCHES WESEN Friedrich Hölderlin hat in seinem Gedicht In lieblicher Bläue geschrieben: »dichterisch wohnet der Mensch auf dieser Erde.« Wir können diesen Satz geringfügig ändern in: »Rhetorisch wohnet der Mensch auf dieser Erde.« Nur der Mensch führt ein rhetorisches Leben – im Betragen, in der Architektur, Malerei, Literatur und in der Rhetorik im engeren Sinne; selbst dann, wenn er keine Ahnung von der Kunst der Rede hat. Dafür gibt es zwei Gründe: Er ist auf Handeln aus und hat keine unmittelbare Evidenz, ob eine Handlung richtig oder falsch ist. Er braucht die Rhetorik, um sich im Leben zu orientieren und Entscheidungen zu treffen. Redenschreiberinnen und Redenschreiber helfen ihm über den Umweg eines Redners oder einer Rednerin, diese Orientierung zu finden. Ob sie aber deshalb schon »göttergleich« sind, bleibt auch weiterhin eine ironische Frage, ganz im Sinne von Sokrates.

Vazrik Bazil ist Autor von Büchern, Beiträgen, Gedichten. Dozent für Kommunikation und PR.

Vazrik Bazil  —  Macht und Trost

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GEDICHTSPOLITIK I Ξ  Jan-Eike Hornauer

ENERGIEKRISEN-SONETT Es fehlt bald, so sagt ihr, an Energie, und dies sei, so sagt ihr, neu und erschreckend? Ich frage euch ernstlich: Wa…wa…wa…wie? Voll Ehrfurcht vor euch ganz aufrichtig steckend.   Mir selber ist dies seit jeher normal: erschlafft sein und schläfrig, müde, zerschossen. Ich bin energetisch im untersten Tal, sind auch erst Minuten vom Tage verflossen.   Dem Nichtstun im Sommer folgt Herbstdepression, im Winter erschlaf’ ich aus Tagen mir Nächte,  im Frühjahr hat’s Mattsein so richtig Saison – ich lebe im Bann energiefremder Mächte.   Ihr habt Energie bislang stets gehabt? Ein Luxus! Oh sagt mir, wie hat’s geklappt?

GENERALVERDACHT Große Worte, kleine Taten, das kann man per se erwarten, denn es führt von Sieg zu Sieg auf dem Feld der Politik.   Aufgefallen, ohne Fehler, ja, das honoriert der Wähler, hievt drum in den ersten Rang Töner ohne Tatendrang. Kaum gestalten, Macht verwalten, ihre Position behalten,

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heißt’s für sie dann, sind sie wer, dazu lärmt’s: Ich bin, seht her!   Klar gibt’s mehr an Politik  – doch bringt dies zu oft den Sieg.

DER BUNDESKANZLER ERKLÄRT SICH IM INTERVIEW Olaf Scholz ist sehr direkt … Der Umweg, der Umweg, er ist in der Tat mir nicht jeden Tag der bevorzugt’ste Pfad. … schwurbeltechnisch unbeleckt … Der Wahrheit ist immer die Ehre zu geben! Die meinige Wahrheit, sie ist und bleibt eben: Erinnerungslücken, die prägen das Leben. Fangt Geister nicht ein, lasst freiestens sie schweben! … er entscheidet, zieht fix durch … Jo! (Er sitzt da und lächelt, von sich ganz entzückt, ist sich und der Welt bald völlig entrückt. War das eine Antwort! Genialisch geglückt.) … er ist dies: ein Oberlurch. Es ist mir das Führen, jaja, inhärent! Und wer mich nur kannte, und wer mich nur kennt, der weiß: »Ach, der Olaf, der pennt, pennt und pennt!«, das sagt ja nur der, der schlicht nicht kapiert, auf welcheste Weise man alpha-gut-tiert: Man macht’s unbemerkt, ohne dass man’s benennt, dann ist man der Chef, ohne dass man’s erkennt. So bleibt man’s denn auch, wird zeitlos dadurch und all-überallig: oberster Lurch. (Er lächelt und sitzt und ist wohl im Glück; ich lass’ ihn und zieh’ mich nun leise zurück.)

© Sven Kössler

Jan-Eike Hornauer, geb. 1979, lebt als Textzüchter (freier Autor, Herausgeber, Lektor, Texter) in München. Er ist Magister der Germanistik und Soziologie, schreibt v. a. komische Gedichte, politische Lyrik und Verse zum Thema Liebe, Frauen, ­Erotik und wirkt u. a. als freier Redakteur bei »Das Gedicht blog«. Seine letzten Printtitel: sein ­zweiter Solo-Lyrikband Das ­Objekt ist ­beschädigt und die von ihm herausgegebene Anthologie Wenn ­Liebe schwant (beide muc ­Verlag). Gedichte von ihm sind u. a. in Main-Echo und taz, bei Reclam und dtv sowie auf WDR 3 und 5 veröffentlicht. www.textzuechterei.de

Jan-Eike Hornauer  —  GEDICHTSPOLITIK I

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ANALYSE

POLITIK DER GERÜCHTE UND GERÜCHTE DER POLITIK HÖRENSAGEN, RUF UND ÖFFENTLICHE MEINUNG IN DER ATTISCHEN DEMOKRATIE Ξ  Christopher Degelmann

Eine Generation nachdem die Athener die erste Demokratie der Weltgeschichte errichtet hatten (483/2 v. Chr.), schaltete der große Staatsmann Themistokles seinen schärfsten innenpolitischen Konkurrenten Aristeides aus, indem er das Gerede (logos) verbreitete, dieser wolle die Volksherrschaft beseitigen und eine Alleinherrschaft (tyrannis) errichten. Dadurch kam Aristeides vor das berühmte Scherbengericht (ostrakismos) und wurde tatsächlich verbannt. Wenig später brachte Themistokles in diplomatischer Mission Sparta davon ab, militärisch gegen seine Heimatpolis zu intervenieren; dazu hielt er die Spartaner hin, indem er wider besseren Wissens behauptete, alle Kunde vom Mauerbau der Athener zur Abwehr ihrer Feinde sei lediglich Geschwätz (logoi), bis die Befestigung tatsächlich abgeschlossen war.1 In Zeiten zunehmender populistischer Agitation oder zumindest deren gesteigerter Wahrnehmung ist die hier knapp skizzierte Rhetorik allzu vertraut geworden. Fake News und das Postfaktische sind in aller Munde. Besonders beliebt ist dabei der Rekurs auf Gerüchte, um Vorwürfe zu zerstreuen oder zu lancieren. Entweder sei alles, was von der Gegenseite behauptet werde, nur Hörensagen oder man habe seinerseits durch inoffizielle Kanäle erfahren, was die tatsächliche Absicht hinter einem vorgestellten Plan sei. Der Glaube an Gerüchte oder deren Zurückweisung besitzen das Potenzial, Gesellschaften erheblich zu polarisieren. Daher gilt eine an diese Rhetorik angelehnte Politik heute insgesamt als demokratiegefährdend. Gegenwärtige Formen der Volksherrschaft westlichen Typs versuchen sich gegen die Beeinflussung der politischen Deliberation durch Gerüchte

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1  Vgl. Plutarch, Leben des Aristeides, 7 bzw. Thuky­ dides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges, 1,91.

und »alternative Fakten« zu immunisieren. Moderne Demokratien streben danach, das Emotionale, Affektive und Irrationale aus der Deliberation zu verbannen und eine weitgehend objektive, allein auf Fakten beruhende Entscheidungsfindung zu gewährleisten. Die US-amerikanische Historikerin Sophia Rosenfeld hat in ihrem über die Fachgrenzen hinaus rezipierten Buch Democracy and Truth: A Short History die These vertreten, das verbreitete Unbehagen an den aktuell unter den Oberbegriffen posttruth und fake news subsumierten Phänomenen sei als Erbe der Aufklärung zu verstehen. Im 18. und 19. Jahrhundert hätten sich die intellektuellen Väter der modernen Volksherrschaft auf wissenschaftliche Erkenntnisse berufen und den Wert der Objektivität beschworen, um sich von der auf Intransparenz beruhenden Willkür des Ancien Régime abzuheben.2 Während diese älteren, autokratischen Regierungsformen im Laufe des langen 19. Jahrhunderts in vielen westlichen Ländern von einem aufstrebenden Bürgertum einerseits und einer wachsenden Arbeiterschaft andererseits verdrängt worden sind, sahen sich einige Staaten rasch mit autoritären bis totalitären Herrschaftsansprüchen ganz neuen Stils konfrontiert. Deren Erfolg fußte in nicht geringem Maße auf der rhetorischen Finesse ihrer führenden Köpfe. Aufgrund dieser Entwicklungen galt die Eliminierung des Gerüchts aus dem politischen Diskurs sowohl einem aufklärerischen als auch einem demokratischen Programm als zentrales Anliegen. EIN SPEZIFIKUM DER ATHENISCHEN VOLKSHERRSCHAFT? Viele dieser modernen, vor allem westlichen Charakteristika trafen auf das klassische Athen (ca. 480–320 v. Chr.) nicht zu. Der Bürgerschaft gehörten formal lediglich Männer ab dem 18. Lebensjahr an, die frei geboren wurden und (ab 451 v. Chr.) Nachkommen zweier athenischer Eltern sein mussten. Allein das führte bereits zu einem völlig anders gearteten Wertekanon, der aus historischer Perspektive soziale Hierarchien deutlicher zutage treten ließ als gegenwärtig. Der Status freier Frauen und Minderjähriger war abhängig vom männlichen Vormund und ist gerade im Hinblick auf bürgerliche Privilegien der Athenerinnen bis heute umstritten. Sklaverei war allgemein akzeptiert; persönlich freie Metöken ohne Bürgerrecht oder Fremde (xenoi) besaßen nur eingeschränkte Rechte und waren von politischen Ämtern ausgeschlossen, deren Zugang anfangs auch noch durch einen Zensus begrenzt war, ehe dieser im Verlauf des 5. Jahrhunderts langsam gelockert wurde, um später komplett an Bedeutung zu 2  Vgl. Sophia Rosenfeld, Democracy and Truth. A Short History, Philadelphia 2019.

verlieren. Außenpolitisch trat die athenische Demokratie hochgradig aggressiv und imperialistisch auf. Eine Verfassung im heutigen Sinne gab es Christopher Degelmann  —  Politik der Gerüchte und Gerüchte der Politik

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nicht; Normen und Werte wurden im alltäglichen Umgang eingeübt und durch situative Gesetzgebung bzw. Volksbeschlüsse, die kein System aufeinander bezogener Regeln darstellten, erlernt, eingeübt und verteidigt.3 Aus dieser Perspektive mutet die erste Volksherrschaft der Menschheitsgeschichte recht fremd an. Vor allem die gegenwärtigen Versuche, der Macht der Gerüchte Einhalt zu gebieten, unterscheiden sich von den Usancen zur Zeit der athenischen Demokratie. So verteidigte der Redner Aischines 343 v. Chr. die Verbreitung intimer Details über seinen Kontrahenten Timarch mit dem Argument, das Gerücht (pheme) spiegle nur den Ruf (ebenfalls pheme) einer Person wider: »Doch in Bezug auf das Leben und die Handlungen von Menschen läuft von freien Stücken ein untrügliches Gerücht (pheme) durch die Stadt und verkündet der Menge die einzelnen besonderen Handlungen und sagt auch manches von dem, was künftig eintreten wird, voraus. Und so in die Augen springend und so wenig erdichtet ist das, was ich sage, dass ihr finden werdet, wie unsre Stadt und die Vorfahren dem Gerücht als einer der größten Gottheiten einen Altar errichteten […]. Erinnert euch nun, ihr Männer, welchen Ruf (pheme) ihr von Timarch kennt.«4 Demnach konstituiert das, was über eine Person gesprochen wird, ihre Reputation. Pheme, was sich nicht zufällig von phemi (»sprechen«) ableitete, besitzt jedoch nicht nur die Doppelbedeutung von Gerücht und Renommee. Vielmehr sei pheme praktisch gleichbedeutend mit öffentlicher Meinung, die wiederum zum Funktionieren der Demokratie beitrage, denn sie wirke ohne jedes äußere Zutun und allein aus freien Stücken auf das Volk ein, so Aischines. Platon legt fast zeitgleich in seinem Spätwerk Nomoi einem Dialogpartner die Worte in den Mund: »Du hast zumindest darin völlig recht, dass Gerüchte eine geradezu wunderbare Macht erlangt haben, wenn keiner jemals auch nur einen einzigen Atemzug entgegen dem Gesetz zu tun wagt.«5 Gerede, das nicht breit geteilt werde, sei hingegen Verleumdung (diabole), so wiederum Aischines in einer späteren Rede. Er selbst bediene sich lediglich der pheme, während seine Rivalen stets diabole einsetzten: »Aber Ihr wisst recht wohl, Männer Athens, dass Gerücht (pheme) und Denunziation (sykophantia) wesentlich verschiedene Dinge sind. Das Gerücht hat mit Verleumdung (diabole) nichts zu schaffen, dagegen sind Verleumdung und Denunziation Geschwister […]. Ein Gerücht ist es, wenn eine Menge

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Sprache und Politik  —  Analyse

3  Vgl. bündig Wilfried Nippel, Antike oder moderne Freiheit? Die Begründung der Demokratie in Athen und in der Neuzeit, Frankfurt a. M. 2008, S. 17–87. 4  Aischines, Rede gegen Timarchos (1), 125–131. 5  Platon, Nomoi, 838c–d.

Leute von freien Stücken ohne irgendeine äußere Veranlassung von etwas als einer geschehenen Tatsache sprechen, Denunziation dagegen ist es, wenn ein einzelner Mann eine Beschuldigung unter die Menge hinschleudert und jemanden in allen Versammlungen und vor dem Rat verleumdet.«6 In den Ausführungen des Aischines wird nicht nur das Eigenleben des Geredes deutlich sichtbar, sondern auch der fließende Übergang zwischen Hörensagen und übler Nachrede, den schon der »Vater der Geschichtsschreibung« Herodot hundert Jahre zuvor festhielt.7 Eine ähnliche Argumentation findet sich in zahlreichen Reden jener Epoche und kommt auch gänzlich ohne Beweismittel aus. Aristoteles betont in seiner Rhetorik die Durchschlagskraft einer Strategie, die unterstellt, jeder wisse Bescheid. Die Anwesenden einer Versammlung stimmten derartigen Behauptungen zu, um sich keine Blöße geben zu müssen: »Einen gewissen Eindruck auf die Zuhörer machen auch Wendungen, die die Redenschreiber (logographoi) bis zum Überdruss gebrauchen, wie: ›Wer weiß denn nicht‹ und: ›Alle wissen‹. Der Zuhörer stimmt aus Scham zu, um auch daran teilzuhaben, was alle anderen wissen.«8 Zu solchen Situationen kam es in einer Kultur der »Kommunikation unter Anwesenden« (A. Kieserling) unentwegt. Ohne Unterlass tauschte sich das zoon politikon über die eigene Lebenswelt und die Tagespolitik aus. Vor diesem Hintergrund scheint es lohnenswert, die zahlreichen Belege von Hörensagen in der politischen Kultur des klassischen Athens ernst zu nehmen und nicht in die Schmuddelecke zu verbannen. GEGENWÄRTIGE ANNÄHERUNGSVERSUCHE Die ältere Forschung hat Gerüchte noch als Hindernisse einer an Fakten orientierten Geschichtsschreibung verstanden; ihnen widmete man sich lediglich, um den wahren Kern eines Berichts freizulegen: Konnte man etwa glauben, dass der athenische Politiker und Admiral Kimon (ca. 510– 449 v. Chr.) eine inzestuöse Beziehung zu seiner Schwester pflegte, die ihm 6  Aischines, Rede über die Truggesandschaft (2), 144 f. 7  Vgl. Herodot, ­Historien, 6,121–123. 8  Aristoteles, ­Rhetorik, 1408b 33–36.

das Exil einbrachte, wie eine Reihe zeitgenössischer Quellen nahezulegen scheinen? Spätere Ansätze verstanden das Geschwätz als Spiegel antiker Diskurse und als Einblick in die Geistesgeschichte. Andere Untersuchungen ordneten Gerede als Mittel der sozialen Kontrolle ein, das Werte und Normen des Gemeinwesens aufrechterhalte. Indem sie das Gegenteil der Norm aufzeigen und dadurch bestimmen, wem man einen unsittlichen Christopher Degelmann  —  Politik der Gerüchte und Gerüchte der Politik

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Lebenswandel, Korruption oder gleich Verrat der Heimat zutraut, vermessen Klatsch und Tratsch, was als normal und sagbar in einer Gesellschaft gilt. Geschwätz entfaltet auf diese Weise eine geradezu disziplinierende Wirkung, die sich nicht nur auf die Protagonist:innen des Geredes bezieht, sondern darüber hinaus das Publikum einbindet, indem Anpassungen an genormtes Verhalten eingefordert werden. Werden Grenzen jener Handlungsweisen überschritten, drohen die soziale Isolation und der Skandal; dies wusste schon der Tragiker Aischylos, als er 458 v. Chr. den Agamemnon seines gleichnamigen Werkes sagen ließ: »Die Stimme (pheme), die das Volk erhebt, hat große Macht!«9 Daraus folgerten einige Autor:innen, dass marginalisierten Gruppen wie Sklaven oder Frauen mit Klatsch ein Instrument zur Verfügung stehe, das ihnen zumindest indirekt politischen Einfluss ermögliche. Zudem ist darauf hingewiesen worden, dass Pheme auch göttliche Ehren zugestanden habe, die zweifelsfrei dem von Zeitgenossen wahrgenommenen Einfluss des Hörensagens auf das athenische Gemeinwesen Rechnung trugen. Die Gerüchteküche war jedoch nicht allein Austragungsort gesellschaftlicher Normkonflikte, son9  Aischylos, ­Agamemnon, V. 938. Einen Forschungsüberblick bietet Christian Mann, Politik und Pheme. Zur (Dys)funktionalität von Klatsch in der athenischen Demokratie, in: Werner Rieß (Hg.), Colloquia Attica, Bd. III. Neuere Forschungen zu Athen im 4. Jahrhundert v. Chr. (Dys-)Funktionen einer Demokratie, Stuttgart 2021, S. 99–114.

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11  Ein Überblick zur sozialwissenschaftlichen Forschung findet sich bei Klaus Merten, Zur Theorie des Gerüchts, in: Publizistik, H. 1/2009, S. 15–42.

dern auch Arena politischer Machtkämpfe. Für den intentionalen Umgang mit Gerüchten interessierten sich Studien zur politischen Kommunikation vor allem mit Blick auf das 4. Jahrhundert.10 Dem direkten Einfluss von phemai und logoi auf die politische Willensbildung der gesamten attischen Demokratie haben sich bisherige Arbeiten indes kaum gewidmet. Dieses Desiderat mag zwei Gründe haben: zum einen die unüberschaubare Vielfalt an Definitionen von Hörensagen und zum anderen die schwierig zu konzeptualisierenden Unterschiede zwischen Gerücht und Klatsch in den modernen Sozialwissenschaften, die einen Zugang erheblich verkomplizieren – noch dazu in historischer Perspektive, die nach einer begrifflichen Annäherung auf Textgrundlage verlangt. In aller Regel wurde Gerüchteforschung betrieben, um den Wahrheitsgehalt einer Information korrekt einschätzen und das Verhältnis des Hörensagens zur Nachricht bestimmen zu können.11 Seinen Ursprung hat dieser

12  Vgl. Pascal Froissart, Historicité de la rumeur. La rupture de 1902, in: Hypothèses, H. 1/2001, S. 315–326. 13  Vgl. Hans-Joachim Neubauer, In der »Zone der Legendenbildung«. Zu einigen Kontexten der amerikanischen rumor clinics im Zweiten Weltkrieg, in: Werkstatt­Geschichte, H. 15 (1996), S. 33–40.

Forschungszweig schon in der frühen Psychologie der Belle Époque – verbunden mit so illustren Namen wie Sigmund Freud und C.G. Jung12 –, erfuhr aber erst im Zweiten Weltkrieg einen Aufschwung. Damals wollten die USA Fehlinformationen im eigenen Land gezielt entgegenwirken, indem sie sog. rumor clinics einrichteten, die Falschmeldungen sammelten und korrigierten.13 Untersuchungen zum Klatsch hingegen widmeten sich vornehmlich gruppendynamischen Prozessen. Klatsch sei eine Form der Kommunikation, die, erstens, innerhalb eines sich gegenseitig bekannten Christopher Degelmann  —  Politik der Gerüchte und Gerüchte der Politik

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Personenkreis stattfinde und sich, zweitens, stets auf eine dieser Personen beziehe, welche aber, drittens, in diesem Moment nicht anwesend sein dürfe.14 Gerüchte gelten demnach als abstrakter und weniger persönlich als Klatsch; sie bergen politische, mitunter subversive Sprengkraft. Für das klassische Athen ist diese Unterscheidung jedoch nicht von Nutzen. In der attischen Anwesenheitskultur, in der zumindest die Exponenten einander kannten und erkannt wurden, bekam das Private rasch politische Züge. Jemand, der einen Antrag in die Volksversammlung einbrachte oder eine Klage vor Gericht erhob bzw. selbst unter Anklage stand, wurde stets auch moralisch auf den Prüfstand gestellt. ENTSCHEIDEN AUF GRUNDLAGE VON HÖRENSAGEN Vor diesem Hintergrund vermag man die Regeln der politischen Kultur Athens besser zu entschlüsseln. Dabei erweisen sich einige Strategien als wohlbekannt – so in den Reden für und gegen eine militärische Intervention Athens auf Sizilien 415 v. Chr., die uns der griechische Historiker Thukydides überliefert. Alkibiades, Unterstützer der Kampagne, bringt in der Volksversammlung (ekklesia) an, dass »nach allem, was [er] an Berichten gehört habe«, keine Einheit unter den sizilischen Poleis herrsche, sie schlecht mit Waffen und Verteidigungsanlagen ausgestattet seien und nur über wenige schwer gepanzerte Hoplitenkrieger verfügten, sodass man sie durch Versprechungen leicht für sich gewinnen könne.15 Darauf kontert der Kriegsgegner Nikias mit folgender Bemerkung, die den Angaben des Alkibiades zuwiderläuft und gezielt eine Äußerung seines Rivalen aufgreift, welche die vermeintlich sichere Faktenlage hatte bezeugen sollen: »Die Städte, die wir anzugreifen gedenken, sind nach allem, was ich an Berichten gehört habe, groß und nicht einander untertan, nicht begierig nach einem Wechsel, der etwa aus gewaltsamer Unterdrückung willkommene Erleichterung bringen könnte, vermutlich auch nicht gerade bereit, ihre Freiheit für unsere Herrschaft einzutauschen […].«16 Zumindest der zeitgenössische Historiker hielt es für wahrscheinlich, dass beide Politiker auf Grundlage von Hörensagen um die Deutungshoheit einer unsicheren Situation und letztlich um die öffentliche Meinung stritten. Dabei ist nicht auszuschließen, dass sowohl Nikias als auch Alkibiades die gleichen Informationen unterschiedlich interpretierten. Woher sie ihre Berichte bezogen, erhellt der kaiserzeitliche Autor Plutarch. In seiner Biographie des Nikias vermerkt er, dass dessen Rivale,

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14  Zum Klatsch siehe umfassend die Beiträge in Francesca Giardini & Rafael Wittek (Hg.), The Oxford Handbook of Gossip and Reputation, New York 2019. 15  Vgl. Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges, 6,17. 16 

Ebd., 6,20.

»[…] bevor überhaupt eine Volksversammlung stattfand, die Menge durch Versprechungen und Gerüchte (logoi) so betört hatte, dass die jungen Leute in den Ringschulen, die Greise in den Werkstätten und auf den öffentlichen Ruhebänken beisammensaßen und den Plan von Sizilien […] in den Sand zeichneten.«17 Es waren öffentliche Räume, in denen man sich im Vorfeld einer Abstimmung austauschte, wo man Einfluss nehmen, sich aber auch erst informieren konnte. Vor allem Barbierstuben galten als Tauschbörse von Gerüchten; so traf die Kunde (pheme) von der verheerenden Niederlage des attischen Expeditionsheeres in Sizilien – Alkibiades hatte sich durchgesetzt – bei einem Friseur im Piräus ein, wenn man Plutarchs Nikias-Vita Glauben schenkt.18 Viele zeitgenössische Quellen berichten, dass man beim Haareschneiden Gerüchte austauschte. In einem Fragment von 421 v. Chr. spottet der Dichter Eupolis, der Demagoge Hyperbolos habe durch stilles Zuhören beim Barbier mehr über Politik gelernt als in den politischen Institutionen Athens. In einer aristophanischen Komödie wiederum, die bezeichnenderweise während der Sizilienexpedition uraufgeführt wurde, ist es ebenfalls die Frisierstube, die als Umschlagsplatz von Gerüchten fungiert.19 Die politische Willensbildung fand ihren Ort also zum Teil weit abseits der Organe des Gemeinwesens; es konnte sich dabei neben den Barbiersalons unter anderem um allerlei Geschäfte und Werkstätten, Gymnasien zur körperlichen Ertüchtigung, das Theater mit seinen Aufführungen und vor allem die Agora, den Marktplatz, handeln, der in der Überlieferung immer wieder als Raum der vorpolitischen 17  Plutarch,­ Leben des Nikias, 12. 18 

Vgl. ebd., 30.

19  Eupolis, Fragment, 194 (hg. v. Rudolf Kassel & Colin Austin) bzw. Aristophanes, Die Vögel, 1439–1441. 20  Die Forschung hat von free spaces gesprochen, obwohl nicht ganz klar ist, was daran »frei« sein soll; vgl. erstmals Kostas Vlassopoulos, Free Spaces. Identity, Experience and Democracy in Classical Athens, in: Classical Quarterly, H. 1/2007, S. 33–52. 21  Vgl. Platon, Nomoi, 838d–e.

Meinungsbildung auftaucht.20 Das erinnert zum Teil an die Entwicklungen, die Jürgen Habermas für das frühneuzeitliche Europa ausgemacht hatte, wonach Kaffeehäuser und dergleichen ihren Teil zur Ausbildung einer öffentlichen Meinung beitrugen. Allerdings fehlten dem klassischen Athen Flugschriften und Zeitungen, die in solchen Räumen zirkulierten; die attische Demokratie nutzte stattdessen Gerüchte, an denen nicht nur Bürger, sondern allerlei subalterne Gruppen teilhatten: Sklaven, Fremde, Kinder und Frauen.21 DIE »›SCHWATZHAFTESTE‹ ALLER STAATSFORMEN« (H. ARENDT) In unserer Demokratie wird Hörensagen als wenig zweckdienliches In­ strument der Meinungsbildung wahrgenommen, weil es auf unsicheren, irrationalen und subjektiven Informationen beruht. Im demokratischen Athen des 5. und 4. Jahrhunderts sah man das anders. Dort stießen Christopher Degelmann  —  Politik der Gerüchte und Gerüchte der Politik

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Verleumdung und Klatsch in einer primär oralen Gesellschaft ohne Massenmedien und bei – für antike Verhältnisse – hoher Bevölkerungsdichte auf besonders fruchtbaren Boden. Eruiert man, woher die Bürger ihr Wissen bezogen, um kompetente Entscheidungen in der ekklesia treffen zu können, stellt sich heraus, dass Gerüchte die politische Deliberation der ersten Volksherrschaft der Weltgeschichte in erheblicher Weise beeinflussten, weil es grundsätzlich an zuverlässigen Quellen mangelte. Die Bürger waren geradezu darauf angewiesen, Hörensagen unentwegt in ihre Entscheidungen einzubeziehen, sodass einige Beobachter über die »›schwatzhafteste‹ aller Staatsformen« sinnierten.22 Daher stellt sich letztlich gerade vor der Folie gegenwärtiger Debatten die Frage, in welchem Verhältnis Demokratie und unbestätigte Rede überhaupt stehen. So scheint es, als ob antike Modi der politischen Kommunikation in einer durch Globalisierung und digitale Vernetzung wieder unmittelbarer gewordenen Gesellschaft gefragter sind denn je. Durch eine solche Perspektive auf die politische Kultur Athens kann man möglicherweise aus den Umständen unserer Zeit heraustreten und Wege des Umgangs mit kontrafaktischen Argumenten und (politischen) Falschmeldungen zu eruieren lernen, denn Gerüchten vermag man den Wandel von Normen, Deutungsmustern und Politikstilen abzulesen. Folglich sollte man sich genau anschauen, welche Gerüchte gerade im Umlauf sind, um die normativen Einstellungen der Gerüchteverbreiter:innen und ihrer Rezipient:innen ableiten zu können. Daraus lässt sich einerseits ein elaborierter Umgang mit unsicheren Informationen gewinnen, andererseits etwas über einen unterschwelligen Einstellungswandel in der Gesellschaft erfahren, sodass sich politische Entwicklungen vielleicht leichter antizipieren lassen.

Dr. Christopher Degelmann  ist wissenschaft­licher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Alte Geschichte in globaler Perspektive an der Humboldt-Universität zu Berlin und Mitglied der Jungen Akademie. Neben der politischen Kulturforschung interessiert er sich für die historische Anthropologie und Rezeptions­ geschichte der klassischen Antike.

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22  Vgl. Christopher Degelmann, Über die »›schwatzhafteste‹ aller Staatsformen«: Jacob Burckhardt, Hannah Arendt und die Polis, in: Antike und Abendland, 2022, S. 173–193.

SPRACHWANDEL UND SPRACHWÄCHTER EINE LINGUISTISCHE EINORDNUNG ZUM AKTUELLEN SPRACHGEBRAUCH Ξ  Katharina Jacob

Jede Legislaturperiode, jede Regierungskonstellation bringt neue Wörter und typische Redeweisen hervor. So entstehen auch in der aktuellen Regierung Wortneuschöpfungen, wie das »Lexikon der ampeligsten Ampelbegriffe«1 der Zeit zeigt. Angesichts der erschreckenden weltpolitischen Lage und der damit einhergehenden Energiekrise sticht hier das Wort »Freiheitsenergien« ins Auge, das Christian Lindner in seiner Rede während der Bundestagssondersitzung zum Ukrainekrieg am 27. Februar 2022 erstmals und mehrfach verwendete: Vgl. Peter Dausend u. a., »Kriegst du nicht, Alter«. Ein (nicht ganz vollständiges) Lexikon, der ampeligsten AmpelBegriffe, in: Die Zeit, 08.12.2022, tinyurl.com/indes231c1. 1 

2  Zit. nach Bundesministerium der Finanzen, Rede von Christian Lindner während der Sondersitzung des Bundestags zum Krieg in der Ukraine, tinyurl.com/indes231c2.

»Erneuerbare Energien leisten nämlich nicht nur einen Beitrag zur Energiesicherheit und -versorgung. Erneuerbare Energien lösen uns von Abhängigkeiten. Erneuerbare Energien sind deshalb Freiheitsenergien. Wir setzen auf Freiheitsenergien.«2 Linguistisch kann es als Fahnenwort charakterisiert werden. Ein Fahnenwort hat die Funktion, im politischen Kampf um Worte Symbolkraft zu erlangen. »Freiheitsenergien« soll für die politische Position der FDP innerhalb der Ampelkoalition stehen, identitätsstiftend sein und eine Grenze zu

3  Zu nennen wären hier das DeReKo des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim oder das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS), hier im Speziellen der Webmonitor, tinyurl.com/indes231c3. Im DeReKo ist das Wort zwar im Jahr 1978, aber nicht in diesem energiepolitischen Sinne belegt, ebenso einmal im Jahr 2012 und einmal im Jahr 2015. 4  Auf Twitter gibt es einen Beleg im Jahr 2018, aber auch hier nicht im energiepolitischen Sinne (für die Recherche auf Twitter danke ich Jöran Landschoff).

anderen politischen Gruppen ziehen. Im Streit um Worte zeigt sich immer auch ein Streit um politische Sachverhalte und Macht. Hätte Lindner ausschließlich die Wortverbindung »erneuerbare Energien« verwendet, hätte das Alleinstellungsmerkmal gefehlt, denn auch andere Parteien gebrauchen diese. Ohne das politische Programm bewerten zu wollen, kann die Wortwahl linguistisch als originell eingeordnet werden, denn wir haben es hierbei mit einer kreativen Wortneuschöpfung zu tun. Zum einen ist es wirklich neu, in keinem Wörterbuch und in keinem großen der Linguistik vorliegenden Korpus3 vor diesem Datum ist das Wort mit dieser Äußerungsbedeutung belegt; auch ein Blick auf Twitter zeigt, dass Lindner dieses Wort zum ersten Mal äußert.4 Zum anderen wird durch ein Determinativkompositum (ein zusammengesetztes Wort, bei dem der erste Teil den

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zweiten näher bestimmt) ein umstrittenes Wort wie »Energie« mit einem Hochwertwort wie »Freiheit« eng verbunden. Das mit dem Wort »Energie« verbundene Konzept ist umstritten, denn unter der vagen Bezeichnung »Energie« verstehen manche Parteien Atom- bzw. Kernenergie, Sonnen-, Wind- oder andere erneuerbare Energien. In politischen Diskursen wird in sogenannten semantischen Kämpfen um die Bedeutungszuschreibung gerungen.5 Bei erstmaliger Rezeption kann diese Verknüpfung irritieren und hat damit eine aufmerksamkeitslenkende Funktion.6 SPRACHE IST LEBENDIG, WEIL WIR MENSCHEN MITEINANDER SPRECHEN Was soll dieses Eingangsbeispiel zeigen? Sprache ist ein lebendiges und bewegliches Medium. Das deutsche Alphabet hat zwar nur 26 Buchstaben (plus die drei Umlaute ä, ö und ü sowie das ß). Aber die Kombination der Buchstaben zu kleinsten bedeutungstragenden Einheiten, den sogenannten Morphemen (von denen sich beispielsweise fünf in Freiheit-s-energie-n finden), innerhalb von Wörtern erlaubt ein gigantisches Potenzial an sprachlicher Kombinatorik.7 Das ermöglicht sprachliches Experimentieren, menschliche Kreativität und Anpassung an die Gegebenheiten und Erfordernisse unserer Kommunikationssituationen. Eine Wortneuschöpfung ist nur ein Beispiel dafür, wie Neues aus Bestehendem kreiert werden kann. Denken wir weiter an die Kombinato-

5  Vgl. Katharina Jacob, Begriffe besetzen, in: Diskursmonitor. Glossar zur strategischen Kommunikation in öffentlichen Diskursen, hg. von der Forschungsgruppe Diskursmonitor und Diskursintervention, 19.12.2022, tinyurl.com/indes231c4.

rik von Mehrwortverbindungen, Teilsätzen und Sätzen, Texten sowie Redebeiträgen und Gesprächen, aber auch von Sprachverbünden wie Text-, Gesprächs- oder Bildnetzen, so potenziert sich die Möglichkeit dieser sprachlichen Kombinatorik. Sprache lädt also dazu ein, auf den bestehenden Wortschatz zurückzugreifen, konventionalisierten Satzbaumustern zu folgen, kommunikative Routinen aufzugreifen, und dabei zugleich zu variieren. Sprache oszilliert daher zwischen Stabilität und Dynamik: Ohne ein durch Konventionen festgelegtes Repertoire (an dem wir überwiegend en passant arbeiten und uns nur selten darüber metakommunikativ austauschen) könnten wir uns nicht verständigen, ohne stetige Reaktualisierung und Veränderung wären wir aber auch nicht in der Lage, Sprache an die gegebenen Kommunikationssituationen anzupassen.8 Und das Ganze passiert nicht einfach so mit der Sprache, sondern weil wir Menschen miteinander sprechen und dabei unsere Sprache lebendig und beweglich halten. Sich diese Zusammenhänge vor Augen zu führen, ist wichtig, um Sprachwandel linguistisch zu verstehen und nachzuvollziehen.

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6  Für nähere Ausführungen zur Funktion von Fahnen- und Hochwertwörtern vgl. Martin Wengeler, Wortschatz I: Schlagwörter, politische Leitvokabeln und der Streit um Worte, in: Kersten Sven Roth u. a. (Hg.), Handbuch Sprache in Politik und Gesellschaft, Berlin & Boston 2017, S. 22–46. 7  Vgl. Katharina Bremer & Marcus Müller, Sprache, Wissen und Gesellschaft. Eine Einführung in die Linguistik des Deutschen, Berlin & Boston 2020, S. 114–137. 8  Vgl. Katharina Jacob & Jöran Landschoff, Stabilität und Dynamik in Semantik und Grammatik am Beispiel des Coronapandemiediskurses – ein Dialog, in: Aptum, H. 1/2022, S. 83–105.

WENN SICH SPRACHE WANDELT UND VERSELBSTSTÄNDIGT: DAS PHÄNOMEN DER DRITTEN ART Sprache wandelt sich nicht einfach so, sondern wir verändern sie, weil wir miteinander reden. Doch so einfach lässt sich Sprachwandel nicht erklären. Das eingangs dargestellte Wechselverhältnis von Stabilität und Dynamik der Sprache verweist darauf, dass wir es hierbei mit einem sowohl individuellen als auch kollektiven Phänomen zu tun haben. Einzelne Personen äußern sich in einer Situation, greifen dabei aber auch auf das sprachliche Repertoire einer Sprache zurück (Text- und Gesprächsroutinen) und nehmen Bezug auf vorangegangene Äußerungen anderer Personen, das heißt, ein individueller Sprachbeitrag ist immer an ein Sprachkollektiv rückgebunden. Zugleich äußert sich die Person meist nicht für sich, vielmehr ist die Vertextung an einen oder mehrere Personenkreise adressiert, ein Redebeitrag wird in einer interaktionalen Gesprächssituation an andere Redebeiträge angeschlossen, ein individueller Sprachbeitrag ist also nicht nur an ein Sprachkollektiv rückgebunden, sondern auch anschlussfähig für ein kommunikatives Geschehen danach. Bei diesen Transformationsprozessen vom Kollektiven hin zum Individuellen und wieder zurück zum Kollektiven schreibt sich Wissen in das Medium Sprache ein, und zwar Wissen über Sprache (zum Beispiel syntaktisches oder lexikologisches Wissen) und Wissen über die Gebrauchssituationen – Person(en), Ort(e), Zeit(en), kognitive Faktoren, soziale und kulturelle Hintergründe. Sprache hat daher auch eine indexikalische Funktion, sie verweist darauf, wer, wo, wann und wie gesprochen hat. In das Medium Sprache schreibt sich aber auch Wissen über konkrete oder abstrakte außersprachliche Sachverhalte ein. Sprache spricht, metaphorisch gesprochen, Bände: Als Gewordenes erzählt sie uns etwas über die historischen, sozio-kulturellen und gesellschaftspolitischen Zusammenhänge, in denen sie sich bewegt. Sprache ist da9  Vgl. Wilhelm Köller, Sprache und Perspektivität. Zur Struktur von Objektivierungsformen in Bildern, im Denken und in der Sprache, Berlin 2004, S. 555. Vgl. Mechthild Elstermann, Vagheit – eine grundlegende Eigenschaft der sprachlichen Kommunikation und ihre Konsequenzen, in: Wolfdietrich Hartung (Hg.), Kommunikation und Wissen. Annäherungen an ein interdisziplinäres Forschungsgebiet, Berlin 1991, S. 281–296.

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her kein neutrales Medium, in ihm manifestieren sich Perspektiven: Ob ich die Zeit zwischen den Jahren als arbeitsfreie Tage bezeichne oder als arbeitslose Tage, macht einen gehörigen Unterschied, obwohl die beiden kleinen Morpheme -frei und -los lediglich die Abwesenheit von etwas bezeichnen.9 Die grund­legende Eigenschaft der Sprache, gestaltbar und vage zu sein,10 lädt also dazu ein, sprachliche Äußerungen an die gegebenen Sprachsituationen anzupassen und zu modifizieren. Und so wird Sprache, wie das Eingangsbeispiel gezeigt hat, ein Ort, an dem Meinungen verhandelt werden, um Sachverhalte zu gestalten und Macht durchzusetzen, und zwar nicht nur in der Politik. Sprache ist daher ein Archiv, Katharina Jacob  —  Sprachwandel und Sprachwächter

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also ein Resonanzkörper unterschiedlicher Wissensbereiche, und indes Medium für die Herstellung sozialer Wirklichkeit. Eben vor diesem Hintergrund kann Sprachwandel skizziert werden. Auf der einen Seite sind die Menschen Grund für Sprachgestaltung. Auf der anderen gewinnt Sprache durch die Transformationsprozesse vom Kollektiven zum Individuellen hin zum Kollektiven und durch ihre Speichereigenschaft an Eigendynamik, an Kraft, aber auch an Macht. Sicherlich kennt jede:r die Situation, dass man nicht von anderen Personen direkt sprachlich angegriffen wird, sondern sich gewissermaßen von der Sprache selbst angegriffen fühlt. Damit sind nicht nur Situationen gemeint, in denen es um angemessene Bezeichnungen von Personen(gruppen) geht, hier sind vor allem auch Situationen angesprochen, in denen es um sprachlichen Zugriff auf Welt geht und man nicht selten meint, dass Sprache nicht das tut beziehungsweise vermag, was man von ihr verlangt. Es kann dann so der Eindruck entstehen, dass Sprache ein Eigenleben entfaltet und sich verselbstständigt. Sie ist also gebunden an die Person oder Sprachgemeinschaft, die sie spricht; sie wird immer wieder von ihr aufgegriffen und dabei stabilisiert und verändert. Sprache unterliegt aber zugleich auch dem Prinzip der Emergenz: In der oben angesprochenen sprachlichen Kombinatorik reihen sich im Transformationsprozess vom Kollektiven zum Individuellen hin zum Kollektiven Sprachelemente, die beim gemeinsamen Auftreten neue Eigenschaften hervorbringen. Ein konkretes Beispiel dafür ist die Reihung von Zitaten in Büchern: Die einzelnen Zitatabschnitte in Verbindung mit den Textpassagen des Autors/ der Autorin emergieren zu etwas Neuem, das andere Eigenschaften als die Summe ihrer Teile hat. Dieses Prinzip der sprachlichen Emergenz, die uns manchmal so erscheint, als verselbstständige sich die Sprache, zeigt sich aber auch in großen Gesellschaftsdiskursen, beispielsweise bei der Kontextualisierung von Wörtern: Die Wortverbindungen notwendige Impfungen und gefährliche Impfungen konturieren beispielsweise das mentale Konzept ›impfen‹ auf ganz unterschiedliche Weise. Je nachdem, wie häufig Individuen die eine oder andere Wortverbindung äußern, färbt sich die Bedeutung auf kollektiver Ebene metaphorisch gesprochen auf das Wort Impfungen ab. Weiter gedacht kann sich Sprache so über verschiedene Kommunikationsbereiche und über längere Phasen hinweg verändern. Und wenn diese Veränderungen eine längerfristige Konsequenz im Sprachgebrauch haben, wenn sich Regularitäten innerhalb eines kleinen Kommunikationsbereichs in Regeln verwandeln, auf weitere Teile einer Sprachkultur erstrecken und in Wörterbüchern und

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Grammatik kodifiziert werden, dann können wir von einem nachweisbaren Sprachwandel sprechen. Peter von Polenz nennt vier Gründe für Sprachwandel: Sprachökonomie (Sprache wird reduziert, um Zeit zu sparen), Innovation (sprachliches Inventar reicht nicht aus, um auf Erfordernisse kreativ zu reagieren), Variation (Personen können ihre sprachlichen Mittel flexibel an die kommunikativen Gegebenheiten anpassen) und Evolution (gesellschaftliche Kräfte wirken sich auf Sprachgebrauch aus).11 Die ersten drei Gründe haben ihren Ausgangspunkt auf individueller Ebene, stehen aber unmittelbar mit der kollektiven Ebene in Verbindung. Der vierte zeigt eine Bewegrichtung vom Kollektiven hin zum Individuellen. An dieser Stelle ist ein Bezug zu Rudi Keller hilfreich, denn er spricht in diesem Zusammenhang »von der unsichtbaren Hand«. In seiner Auseinandersetzung mit dem Sprachwandel überträgt er ein Konzept aus der Ökonomie auf die Sprache, wobei hier kein identisches Verständnis besteht.12 Er beschreibt, dass natürliche Sprachen weder Naturphänomene sind (also ausschließlich natürlich sind) noch Artefakte (also ausschließlich künstlich sind). Er verortet sie dazwischen und spricht von natürlichen Sprachen als Phänomene der dritten Art: Sprache ist sowohl 11  Peter von Polenz, Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart, Band 1: Einführung – ­Grundbegriffe – 14. bis 16. Jahrhundert, Berlin & New York 2000, S. 26. 12  Neben dieser existieren in der Linguistik auch andere Sprachwandeltheorien, beispielsweise evolutionäre Theorien, vgl. etwa Lars Bülow, Sprachdynamik im Lichte der Evolutionstheorie – Für ein integratives Sprachwandel­modell, Stuttgart 2017; Tim Lewens, Cultural Evolution. Conceptual Challenges, Oxford 2015. Vgl. Rudi Keller, Sprachwandel. Von der unsichtbaren Hand in der Sprache, Tübingen 1994/2014.

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organisch, weil sie wachse, als auch künstlich, weil sie von Menschen konzipiert und motiviert sei. Daher ist Sprachwandel etwas, dass zwischen individueller und kollektiver Ebene oszilliert. Sprachliches Handeln ist untrennbar von der menschlichen Intention (Mikroebene) und vom sozialen Umfeld (Makroebene).13 BEOBACHTUNGEN ZUM AKTUELLEN UMGANG MIT SPRACHE IN POLITISCHEN DISKURSEN UND ALLTAGSKOMMUNIKATION Sprache selbst ist ein Medium, sie kann aber auf sehr unterschiedliche Weise medialisiert werden. Briefe lesen sich anders als Mailtexte, und das liegt nicht nur daran, dass Briefe mittlerweile eher im privaten, Mails im beruflichen Kontext verfasst werden und daher andere Inhalte vermitteln; und auch politische Statements haben eine andere Wirkkraft als politische Tweets. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass in Brief und Mailtext oder in Statement und Tweet ein und derselbe Inhalt formuliert wird, das Trägermedium und das damit einhergehende Kommunikationsumfeld verändert Form und Inhalt der Äußerung.14 Im Folgenden sollen nun sieben verschiedene Bereiche des aktuellen Sprachgebrauchs

14  Vgl. Marshall McLuhan, Understanding Media: The Extensions of Man, London 1964.

angesprochen werden, die von linguistisch relevantem Sprachwandel betroffen sind: Katharina Jacob  —  Sprachwandel und Sprachwächter

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(1) Ohne eine Wertung abgeben zu wollen, ob die zunehmende Kommunikation in Social Media im privaten wie im politischen Raum gut oder schlecht, zu begrüßen oder abzulehnen ist, kann doch festgehalten werden, dass sich Sprache durch Social Media verändert. Wir können schneller kommunizieren, in Windeseile Inhalte weitergeben und verbreiten, wir können virtuell interagieren und kommentieren. In der Social-Media-Kommunikation wird Schrift durch (bewegtes) Bild ergänzt. So kann eine Kopräsenz nahezu authentisch hergestellt werden, wie wir es aus dem mündlichen Gespräch kennen. Sprache wird hier zu einem hybriden Gebilde zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Es eröffnet sich ein sozialer Raum für virtuelle Identitätsstiftung und Gruppenbildung, der Interessen verbindet, in dem aber auch Personen(gruppen) ausgrenzt werden und sich Formen der verbalen Gewalt abzeichnen. (2) Sprachwandel zeigt sich ebenso durch die Digitalisierung der Gesellschaft. Da wir unsere Lebensabläufe zunehmend ins Digitale transformieren, ergeben sich neue Kommunikationskonstellationen. Die ­Corona-Pandemie hat eindrücklich gezeigt, was mit Kommunikation durch digitale Übertragung passieren kann, erleichternd wie erschwerend. Lange Distanzen zwischen beruflichen Standorten werden überwunden, Terminkalender können enger getaktet werden, weil wir keine Zeit mehr brauchen, uns von Besprechungsort zu Besprechungsort zu bewegen, Kopräsenz in parallel laufenden Meetings oder Tagungen wird Realität. Zugleich schafft die neu gewonnene Nähe Distanz, und zwar soziale Distanz. Nach wenigen Monaten Pandemieerfahrung merken wir, dass die virtuelle Kommunikation keine reale ersetzt. Wie oben angesprochen, verändert das Medium die Qualität unserer sprachlichen Interaktion auf essenzielle Weise. (3) Durch unsere Kommunikation in Social Media, durch rege Digitalisierung unseres Alltags hinterlassen wir Daten und Spuren im Netz. Das Ausmaß kann an dieser Stelle nicht weitergehend beleuchtet werden. Ein Beitrag zum aktuellen Sprachwandel muss die Stichworte Big Data und Künstliche Intelligenz aber nennen, denn auch hier zeichnet sich eine linguistisch nennenswerte Veränderung ab. Intelligentes Verhalten wird automatisiert, die Maschine lernt von realisierter und in Daten kodifizierter Kommunikation, sie lernt aus diesen Erfahrungen und generiert Wissen und Sprache. Mit Alexa interagieren, ist nur ein Beispiel für diese linguistisch brisante Veränderung. Zu nennen wäre auch die Entwicklung von Bots, kleinen Computerprogrammen, die Aufgaben übernehmen, ohne auf menschliche Interaktion angewiesen zu sein. Sie kreieren Social Media-Beiträge, die Sprache nahezu authentisch erscheinen lassen, durch

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Fotos werden Menschen virtuell zum Leben erweckt, die keine reale Entsprechung haben. (4) Hier gerät ein weiteres Phänomen in den Blick, das für die Linguistik und für die Auseinandersetzung mit Sprachwandel von erheblicher Relevanz ist: Fake News. Mit dem ersten Schriftzeichen, mit der ersten Höhlenmalerei können wir sagen, dass es keinen neutralen Zugriff auf Welt gibt. Sobald wir unsere Welt in Zeichen symbolisieren, bilden wir sie nicht ab, sondern stellen sie her. Die Massenmedien zeigen uns, dass es keine neutrale Berichterstattung gibt, jedes Foto ist aus einer bestimmten Perspektive aufgenommen, jede Äußerung verweist auf eine bestimmte Haltung, selbst wenn versucht wurde, so neutral wie möglich zu sprechen und zu schreiben. Kippt dieser Media Bias, werden Fakten verfälscht dargestellt, wird mit der Unwissenheit des Adressatenkreises gespielt oder erfolgt Zensur, verändert sich die Funktion der Sprache von einem perspektivierenden hin zu einem manipulierenden Medium. Die Präsidentschaftswahlen in den USA oder die Berichterstattung über den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zeigen dies eindrücklich. In Politik, Bildung und Gesellschaft wird die große Frage nach dem Umgang mit Fake News gestellt, unser Kommunikationsverhalten wird aus linguistischer Sicht herausgefordert.15 (5) Schon immer hat sich Gesellschaft verändert, schon immer haben sich diese Veränderungen in Sprache niedergeschlagen, schon immer wurden diese Auswirkungen diskutiert. Der Einfluss des Lateinischen, Französischen und des Englischen wurde seit jeher debattiert. Der Streit um Entlehnungen, der von einzelnen Personen oder Vereinen geführt wird, beispielsweise zur Frage, wie viel englische Wörter die deutsche Sprache aushalte, zeigt regelmäßig auf, wie eng Sprache, Identität und Nation zusammenhängen. Kultur- und Sprachkontakt zeigen sehr schön, dass wir nicht von der deutschen Sprache sprechen können, sondern streng genommen nur von den deutschen Sprachen, denn mit ihren unterschiedlichen Dialekten, Soziolekten (Gruppensprachen) und Funktiolekten (Fachsprachen) ist sie ein heterogenes Gebilde. Umso mehr erfreut sich die Linguistik an Variationen, wenn die deutsche Sprachkultur durch Migration, Mobilität und viele andere Faktoren pluralistischer wird. Die übliche Position in der Linguistik, wie sie aktuell in Forschung und Lehre betrieben wird, bemängelt keinen Sprachverfall, sondern ist am Sprachwandel interessiert. Deutschland zeigt sich aktuell als ein Land, das Mi15  Vgl. beispielsweise bpb.de/themen/medien-journalismus/stopfakenews.

gration mehr denn je möglich macht, die sprachliche und kulturelle Integration sind dabei zentrale Säulen, damit Migrationspolitik gelingen Katharina Jacob  —  Sprachwandel und Sprachwächter

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kann. Ein Weg, der sich an einer europäischen Leitkultur orientiert,16 die es möglich macht, dass sich Landsleute und ihre Kulturen auf Augenhöhe begegnen und miteinander kommunizieren, scheint nicht nur politisch, sondern auch linguistisch angesagt. (6) In diesem Zuge zeichnet sich aktuell eine politische Lagerbildung ab, stärker als noch vor zehn Jahren. Die Kräfte, die sich derzeit in politischen Diskursen Europas abzeichnen, scheinen Positionen und Akteure von innen nach außen und von außen nach innen zu katapultieren. Zu beobachten ist dies beispielsweise beim Brexit, der Präsidentschaftswahl in den USA oder anderen nationalen Wahlen. Medial am Rand etablierte Diskurspositionen gelangen ins Zentrum politischer Debatten, vermeintlich konsensuale Paradigmen werden von der Mitte nach außen gedrängt. In der Linguistik stellt sich die Frage nach sprachlichen Spezifika dieser zentrifugalen und zentripetalen Kräfte: Entwickeln sich hier neue soziokommunikative Praktiken oder können wir einen spezifisch »populistischen« Sprachgebrauch dingfest machen?17 Der Vertrauensverlust in die Politik, die Querdenkerbewegung, all diese Entwicklungen schlagen sich in Sprache und ihrer Funktion, auf Welt zuzugreifen, nieder. (7) Der letzte Bereich, der unter Gesichtspunkten des Sprachwandels beleuchtet werden kann, ist mit der Frage verbunden, wie wir Personen in unserem engeren und weiteren Umfeld bezeichnen und ansprechen. Die Genderdebatte und die Gender Studies als wissenschaftliche Disziplin, die unter anderem verbunden sind mit feministischen Themen, aber auch der gesellschaftlichen Debatte um »Political Correctness« oder »Wokeness«, werden aktuell auf allgemeine und fundamentale Weise intensiv diskutiert. Die Unterscheidung zwischen Sex und Gender, das pluralistische Verständnis, wie viele und welche Geschlechtsidentitäten es gibt, stellt die Linguistik vor neue Herausforderungen. Neben diesem sensiblen Sprachbereich wird aber auch in der Gesellschaft die Frage gestellt, wie Personen mit einem anderen kulturellen Hintergrund oder mit anderen physischen und psychischen Voraussetzungen bezeichnet werden können. WIE GEHEN WIR MIT VERÄNDERUNGEN UM UND WER SIND DIE SPRACHWÄCHTER:INNEN UNSERER GESELLSCHAFT? Wie die Darstellung der sieben Bereiche gezeigt hat, geht die Linguistik mit Sprachwandel in der Regel aufgeschlossen um, erachtet ihn als wünschenswert und macht ihn zum Forschungsgegenstand. Wertneutral geht sie dabei nicht vor, denn so sehr wir uns wünschen, neutral zu sein: Wir

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16  Der Begriff ist hier angelehnt an das Verständnis Bassam Tibis: »Im Gegensatz zum Unsinn und zur Missdeutung dieses Konzeptes bedeutet Leitkultur nichts anderes als eine Hausordnung für Menschen aus verschiedenen Kulturen in einem wertorientierten Gemeinwesen.« (Bassam Tibi, »Ohne Leitkultur kann Europa muslimische Einwanderer nicht integrieren«, in: Neue Zürcher Zeitung, 23.07.2020). 17  Vgl. Katharina Jacob & Jöran Landschoff, Zentrifugale und zentripetale Rededynamiken in politischen Diskursen am Beispiel des Coronapandemiediskurses, in: Akten des XIV. Internationalen Germanistikkongresses Palermo 2021 – Wege der Germanistik in transkulturellen Perspektiven, Frankfurt a. M. u. a. (im Erscheinen), S. 555–563.

forschen, schreiben und sprechen immer von einem bestimmten Standpunkt aus. Die Linguistik, wie sie von meinen Kolleg:innen und mir betrieben wird, pflegt dabei ein pluralistisches Sprach- und Kulturverständnis. Wir versuchen, beschreibend vorzugehen, und politische Standpunkte, wenn wir sie vertreten, offen darzulegen. Nur so scheint uns Sprachwissenschaft eine an die Gesellschaft anschlussfähige Wissenschaft zu sein. Unser Selbstbild divergiert in den meisten Fällen von unserem Fremdbild. Einige gehen davon aus, dass die Linguistik die zentrale Instanz ist, Sprache zu hüten und zu bewachen, dass die Sprachwissenschaftler:innen diejenigen sind, die die Sprache normieren. Diesem Mythos möchte ich widersprechen und die Frage aufwerfen, wer denn dann die Sprachhüter:innen und -wächter:innen der deutsche(n) Sprache(n) sind. In der Geschichte der deutschen Sprache sind unterschiedliche Instan­ zen zu beobachten, die sich selbst den Status zuschreiben oder denen von anderen die Rolle zugeschrieben wird, Sprache im Blick zu behalten, zu bewerten und zu normieren. Zu nennen wären Personen(gruppen) wie beispielsweise Intellektuelle oder Sprachgesellschaften und -vereine, aber auch Werke aus dem (populär)wissenschaftlichen Bereich.18 Jede:r kennt die Situation, dass das Wörterbuch oder die Grammatik aufgeschlagen wird, wenn wir nicht wissen, was ein Wort bedeutet oder wie die Rechtschreibung des Deutschen ist. Damit solche Werke entstehen, werden im Deutschen keine Personen oder Institutionen befragt, sondern große Korpora. Das, was als Norm in Wörterbüchern und Grammatiken kodifiziert ist, ist im Deutschen unsere Gebrauchsnorm. Ändern wir unsere Sprache, ändert sich die Norm, nicht sofort, aber über einen längeren Zeitraum hinweg. Anders formuliert: Jede:r Einzelne ist Teil eines großen Regu18  Ekkehard Felder u. a., Sprachnormierung und Sprachkritik (Sprachnormenkritik) im Deutschen, in: Ekkehard Felder u. a. (Hg.), Handbuch Europäische Sprachkritik Online (HESO), Band 1, Heidelberg 2017, S. 53–62 (tinyurl.com/ indes231c5); Katharina Jacob & Horst Schwinn, Sprachinstitutionen und Sprachkritik im Deutschen, in: Felder u. a. (Hg.), Band 4, Heidelberg 2019, S. 79– 86 (tinyurl.com/indes231c6). Vgl. Edgar Radtke u. a., Sprachinstitutionen und Sprachkritik in europäischer Perspektive, in: ebd., S. 45–50. 19 

lierungskonglomerats. Ganz im Sinne von Rudi Keller ist zwar jedes Individuum ernst zu nehmen, kann aber nicht allein den Sprachgebrauch bestimmen, d. h. Sprachwandel ergibt sich eben aus dem Zusammenspiel zwischen individueller und kollektiver Ebene. Jede:r Einzelne ist Sprachwächter:in und zugleich kein:e Sprachwächter:in. Anders als beispielsweise im Französischen, bei dem die Académie française eine politisch motivierte sprachnormierende Rolle einnimmt, können wir fürs Deutsche sagen, dass Sprache und Politik nur punktuell in Kontakt treten – sicherlich aufgrund der deutschen Nationalgeschichte, in der es Phasen gab, in der Sprache politisch missbraucht wurde.19 1996 gab es beispielsweise eine staatlich initiierte Rechtschreibreform, die zum Politikum wurde. Der staatlich durch die GEZ-Gebühren finanzierte öffentliche Rundfunk bezieht in der Genderdebatte eine klare Position. Katharina Jacob  —  Sprachwandel und Sprachwächter

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Und auch der Rat der Rechtschreibung zur Regelung orthografischer Fragen20 ist zwischenstaatlich. Zudem gibt es immer wieder Bemühungen, die deutsche Sprache in das Grundgesetz aufzunehmen, aber eben auch Gegenstimmen. Obwohl sich also Sprachwandel in den meisten Fällen durch ein Konglomerat aus Individuellem und Kollektivem ergibt, bilden sich vereinzelt sichtbare Aktionen und Instanzen heraus, die dem sprachlichen Geschehen im Deutschen einen bestimmten Dreh geben wollen. EIN PLÄDOYER FÜR DEN ABBAU VON MISSVERSTEHEN ­ Was können wir nun damit anfangen, dass Sprache individuell und zugleich nicht individuell, kollektiv und zugleich nicht kollektiv ist, dass wir Menschen Sprache lebendig und beweglich halten und sich Sprache zugleich verselbstständigt, und dass dann doch einzelne Versuche unternommen werden, Sprache zu justieren? Wo finden wir eine linguistische Orientierung, wenn es im Deutschen keine Sprachwächter:innen per definitionem gibt, wenn jede:r selbst Sprachwächter:in ist und zugleich doch nicht, weil niemand etwas allein bewirken kann, sondern wir nur zusammen Sprachgebrauch verändern, und dann eben auch nicht zuverlässig, weil Sprache ein Eigenleben entwickeln kann? Führt das nicht zu einer essenziellen Verunsicherung, die keinem etwas bringt, die eher Tor und Türen öffnet für radikale Sprachpositionen und -aktionen? Vonseiten der Linguistik kann nicht häufig genug gesagt und geschrieben werden, dass genau dieser Zustand, in dem sich die deutsche Sprachkultur befindet, dass genau diese Formen von Aushandlungsprozessen aufrechterhalten werden sollte. Wir alle halten, metaphorisch gesprochen, den Ball in der Luft. Ein zentraler Fehler wäre, Sprache zu zementieren, ihr aus einem gut gemeinten Regulierungsbedürfnis Regeln vorzuschreiben. Je lebendiger wir sie halten, desto beweglicher und anpassungsfähiger bleibt Sprache. Mit diesem Plädoyer wird aber keine wertneutrale, gleichgültige Haltung gegenüber Sprache und Kommunikation beansprucht. Sowohl das Individuum als auch die Kollektive sind essenziell für einen förderlichen Umgang mit Sprache und Kommunikation. Und ich spreche hier bewusst von Kollektiven, weil die Gesellschaft ein sehr abstraktes Konstrukt ist. Wir führen selten große Gesellschaftsdiskurse, viel häufiger sprechen wir in kleineren Kollektiven, die wiederum zum großen Gesellschaftsdiskurs emergieren. Wenn wir uns die Sprache, wie sie eingangs charakterisiert wurde, stets vor Augen halten, wenn wir versuchen, nicht nur bei brisanten politischen

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20  Vgl. rechtschreibrat.com.

Themen, sondern auch in alltäglichen Interaktionen mit unseren Mitmenschen in Dialog zu treten, so halten wir Sprache lebendig und beweglich und ermöglichen Sprachwandel, der für ein Funktionieren von Sprache auch in Zukunft zentral ist. »Perspektivenvielfalt und Multiperspektivität sind Stabilitätsgaranten für demokratische Gesellschaften, sofern sie keinem beliebigen Relativismus 21  Ekkehard Felder, Strukturelle Dialogizität, in: Friedemann Vogel & Fabian Deus (Hg.), Diskursintervention. Normativer Maßstab der Kritik und praktische Perspektiven zur Kultivierung öffentlicher Diskurse, Wiesbaden 2020, S. 29–37, hier S. 30 ff. 22 

Ebd.

23  Vgl. Birte Arendt & Pavla Schäfer: Angemessenheit. Pragmatische Perspektiven auf ein linguistisches Bewertungskriterium, in: Aptum, H. 2/2015, S. 97–100.

24  Ottmers 1996, 153; zit. nach Thomas Niehr, Angemessenheit: Eine Kategorie zwischen Präskriptivität und Inhaltsleere? Überlegungen zum Status einer für die Sprachkritik fundamentalen Kategorie, in: Aptum, H. 2/2015, S. 101–110.

anheimfallen und (gemäß dem Grice’schen Kooperationsprinzip) aufrichtig um Wahrheit ringen. Multiperspektivität und die Durchsetzung von Wahrheit schließen sich nicht aus, sondern ersteres ist die Voraussetzung für das zweite […] Streit oder Kämpfe um Wahrheitsansprüche sind also nicht zu vermeiden, sondern zu kultivieren.«21 Ekkehard Felder spricht in diesem Zusammenhang von »struktureller Dialogizität«22. Wenn wir in unseren Dialogen und Diskursen Missverstehen abbauen und uns dabei an Prinzipien der Angemessenheit orientieren, so erfolgt Wandel der Sprache im Sinne der Menschen, die sie sprechen. »Aptum« (lat. das Angemessene) ist keine starre Norm,23 sondern ein »äußerst komplexes Beziehungsgeflecht«24, das auf Angemessenheit hinzielt. Sie ist wiederum als Aufforderung zu verstehen, über die eigenen sprachlichen und kommunikativen Mittel nachzudenken, um eine gelingende Kommunikation wahrscheinlicher zu machen. Beachtet werden dabei die Variablen der Darstellung der Sache, das Publikum und die Situation. Orientieren wir unsere Sprache an diesem funktionalen Konzept, so verläuft Sprachwandel funktional und Sprache bleibt lebendig und für jede neue Sprachsituation beweglich.

© HAdW / Tobias Schwerdt

Dr. Katharina Jacob  ist Nachwuchsgruppenleiterin am Lehrstuhl für Germanistische Linguistik der Universität Heidelberg und Kollegiatin der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Sie wurde 2016 mit der Arbeit Linguistik des Entscheidens promoviert. Sie arbeitet im Bereich der Diskurs- und Korpuslinguistik mit Schwerpunkt auf politischen Handlungsfeldern, zur linguistischen Zeitforschung sowie zum Zusammenhang von Sprache und Empathie. Seit 2017 ist sie Mitherausgeberin des Handbuchs Europäische Sprachkritik Online (HESO).

Katharina Jacob  —  Sprachwandel und Sprachwächter

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BEBELS GOLDENE ­TASCHENUHR ODER: HISTORISCHE NARRATIVE DEUTSCHER ­PARTEIEN Ξ  Torsten Oppelland

Am 18. Dezember 1966, seinem 53. Geburtstag, wurde dem damaligen SPD-Vorsitzenden Willy Brandt im Rahmen einer großen Parteikonferenz in Bad Godesberg von Herbert Wehner, einem seiner Stellvertreter im Parteivorsitz, eine goldene Taschenuhr übergeben, die einst dem legendären Parteigründer und -vorsitzenden August Bebel gehört hatte. Ob dies als persönliches Geburtstagsgeschenk gemeint oder daran die Erwartung geknüpft war, dass Brandt die Uhr nach Ende der Amtszeit seinem Nachfolger im Parteivorsitz weitergeben werde, blieb etwas im Vagen. Brandt hatte es offenbar im letzteren Sinne verstanden, indes nicht danach gehandelt, als er unter etwas unschönen Umständen 1987 nach fast 25 Jahren vom Vorsitz der SPD zurücktrat. So ist die Uhr schließlich mit Brandts Nachlass im Archiv der Friedrich-Ebert-Stiftung gelandet.1 Diese Anekdote ist in mehrfacher Hinsicht bezeichnend für den Umgang von politischen Parteien mit ihrer Geschichte. Wehners Handeln war in hohem Maße symbolisch aufgeladen. Es stand in einer Zeit für die Kontinuität zur alten SPD, in der sich diese als moderne Volkspartei deutlich von ihrer Vergangenheit als Arbeiterpartei gelöst hatte (und das am selben Ort, an dem nun Bebels Uhr an Brandt gelangte – Bad Godesberg). Zugleich war dies die Zeit, in der die Partei ein großes Ziel erreicht hatte und erstmals seit der Weimarer Republik auf nationaler Ebene in Regierungsverantwortung stand, wenn auch erst einmal nur als Juniorpartner in der ersten Großen Koalition. Bebels Uhr wurde von Wehner bewusst als ein »historisches Symbol … für die Identitätsstiftung einer Organisation«2 eingesetzt. Dass die SPD es heute der ihr nahestehenden Stiftung überlässt, dieses Symbol zu verwahren bzw. museal auszustellen, ist durchaus typisch für den Umgang der deutschen Parteien mit ihrer Geschichte. Zugleich wirft der Vorgang aber auch die Frage auf, warum eigentlich politische Parteien, die auf die Lösung aktueller Probleme, auf Umsetzung ihrer Programmatik (policy-seeking) und Machterwerb (office-seeking) geeicht sein sollten, sich um historische Narrative kümmern.

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1  Vgl. erinnerungsorte.fes. de/august-bebels-uhr. Dort ist auch der an der Anekdote etwas verwirrende Aspekt beschrieben, dass Brandt selbst, damals noch als stellvertretender Parteivorsitzender, von Vertretern der Sozialdemokratischen Partei Zürichs genau diese Uhr ausgehändigt bekommen hatte, als er 1963 anlässlich Bebels 50. Todestages zu dessen dortiger Grabstätte gereist war. Brandt hatte die Uhr dann der SPD-Bundesgeschäftsstelle in Bonn übergeben, drei Jahre später kehrte sie dann aus der Hand Wehners zu ihm zurück. 2 

Zit. nach ebd.

WOZU ENTWICKELN PARTEIEN HISTORISCHE NARRATIVE? Parteien sind unabhängig von ihrer Mitgliederzahl komplexe Organisationen mit spezifischen strukturellen Problemen.3 Elmar Wiesendahl nennt zuerst das Freiwilligkeitsproblem: Mitglieder opfern ihrer Partei Ressourcen, zumindest den Mitgliedsbeitrag; und je mehr sie sich in der Partei engagieren, desto mehr Zeit und Mühe wenden sie auf. Dafür müssen sie motiviert und vom Sinn des Engagements überzeugt werden. Hinzu kommt, dass Parteien wenig Kontrolle darüber haben, ob die Mitglieder bleiben oder die Partei wieder verlassen, sie haben daher mit erheblichen Fluktuations- und Kontinuitätsproblemen zu ringen. Die (ehemals) großen Volksparteien etwa erlebten seit dem enormen Mitgliederzustrom in den 1970er Jahren einen mehr oder weniger kontinuierlichen Abschmelzungsprozess. Während der Zustrom eine Folge allgemeiner gesellschaftlicher Politisierung war, hat der Rückgang mehr mit der Anreizschwäche der Parteien zu tun. Das heißt, das Human- und Finanzkapital, das Mitglieder und Anhänger in die Parteien investieren, »rechnet« sich nicht – außer für die Minderheit, die über die Partei eine Karriere in Politik, Verwaltung oder anderen Bereichen machen, auf die sich der Einfluss der Parteien erstreckt. Ein weiteres spezifisches Organisationsproblem von Parteien liegt in den Zielunklarheiten und -widersprüchen. Neben strukturellen Zielkonflikten zwischen Basis und Führung – den einen geht es eher um Inhalte, den anderen tendenziell mehr um Ämter und Mandate – treten Divergenzen zwischen verschiedenen Parteiflügeln oder -gliederungen auf. Was können Parteien tun, mit diesen spezifischen Problemen fertig zu werden? Sie konstruieren in einem mehr oder weniger permanenten 3  Zum folgenden vgl. besonders Elmar Wiesendahl, Parteien in Perspektive. Theoretische Ansichten der Organisationswirklichkeit politischer Parteien, Opladen 1998, S. 189 ff. 4  Ebd., S. 194. 5  Vgl. Richard ­Jenkins, Social Identity, ­London & New York 2008. 6  Vgl. Karl Rohe, Politische Kultur und ihre Analyse, in: Historische Zeitschrift, H. 250 (1990), S. 321–346, hier besonders S. 330 ff.

Prozess, der mal mehr, mal weniger erfolgreich verlaufen kann, kollektive Identität, die überhaupt erst eine soziale Gruppe mit wahrnehmbaren »Wahrheits- und Gewissheitsbarrieren gegenüber der Außenwelt«4 konstituiert. Der Begriff der kollektiven Identität, verstanden als die sozial konstruierte Identität von Gruppen, die bei allen sozialen Gruppen vom Fußball-Fanclub bis zur politischen Partei nicht in erster Linie auf objektiven, sondern auf subjektiv für wichtig erachteten Kriterien beruht,5 ist zentral in der politischen Kulturforschung, insbesondere wenn das weite, über die auf Individualdaten beruhende empirische politische Kulturforschung hinaus gehende Verständnis von politischer Kultur in der Tradition von Karl Rohe zugrunde gelegt wird.6 Häufig wird kollektive Identität durch geteilte soziale Interessen erzeugt, insbesondere im Falle von Klassen- oder Klientelparteien. Je größer aber Torsten Oppelland  —  Bebels Goldene ­Taschenuhr

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eine Partei wird und je größer ihr Anspruch, verschiedenen Interessen gerecht zu werden, sich also zu einer Volkspartei zu entwickeln, desto weniger taugen die sozialen Interessen als Kitt und führen vielmehr zu innerparteilichen Konflikten. Identitätsstiftung geschieht in erster Linie über Inhalte, die festgeschrieben sind in Parteiprogrammen, besonders Grundsatzprogrammen, in deren Gestaltung die Mitglieder häufig direkt einbezogen werden können, was per se schon motivierend und identitätsstiftend wirken kann. Der Bezug zu den beschriebenen Organisationsproblemen wird schnell deutlich: Indem Grundsatzprogramme die Ziele und Werte explizit machen, liefern sie in erster Linie der Parteibasis Motivation und Anreize, sich für deren Verwirklichung einzusetzen. Zugleich wird mit dieser expliziten Ausformulierung von Zielen und Werten ein Selbstbild und damit natürlich implizit auch ein Fremdbild der Anderen entworfen. »Wir setzen uns für Frieden, Freiheit und soziale Gerechtigkeit ein« – das denkt immer mit, dass die anderen Parteien das nicht oder nur in unzureichendem Maße tun. Es werden also Grenzen gezogen, Abgrenzungen zu den konkurrierenden Parteien vorgenommen, die die Voraussetzung für jegliche kollektive Identitätsbildung sind. Das kollektive Gedächtnis ist ein zentraler Bestandteil von kollektiver Identität; dies gilt für alle sozialen Gruppen, nicht nur für Nationen.7 Wie dieses kollektive Gedächtnis aussieht, welche Elemente der jeweiligen Gruppengeschichte darin aufgehoben werden, ist auch eine Machtfrage. Denn wer die (Deutungs-)Macht hat festzulegen, woran man sich erinnert, kann entscheidenden Einfluss auf das Selbstbild und -verständnis der jeweiligen Gruppe ausüben.8 Deshalb bieten fast alle Parteien – keineswegs nur in Deutschland – heutzutage auf ihren Webseiten beziehungsweise jenen der ihnen jeweils nahestehenden Stiftung eine Darstellung der eigenen Geschichte. Es liegt ihnen daran, die Deutungshoheit über die eigene Herkunft und Geschichte zu behaupten, um damit diesen zentralen Aspekt der eigenen kollektiven Identität, die positive Identifizierung mit einer Tradition und einem historisch gewachsenen Selbstbild, steuern und kontrollieren zu können. Historische Narrative von Parteien müssen sich keineswegs auf die eben beschriebene Ausrichtung der Kontrolle über das Bild der eigenen Parteigeschichte beschränken, sondern können auch darauf gerichtet sein, das eigene Bild der nationalen Geschichte gegen konkurrierende Deutungseliten in der Gesellschaft durchzusetzen.9 Die folgenden Beispiele beziehen sich indes nur auf die Narrative zur jeweils eigenen Parteigeschichte.

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7  Vgl. Aleida Assmann, ­Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999; Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1989. 8  Vgl. Rohe, Politik. Begriffe und Wirklichkeiten. Eine Einführung in das politische Denken, Stuttgart u. a. 1994, S. 168 ff. 9  Der Historikerstreit der 1980er Jahre, der gewissermaßen stellvertretend für die Parteien von ihnen nahestehenden Intellektuellen ausgetragen wurde, wird, je länger er zurückliegt, desto mehr als ein solcher Deutungskonflikt mit politischen Zielen interpretiert. Vgl. Steffen Kailitz, Die politische Deutungskultur im Spiegel des »Historikerstreits«. What’s right? What’s left?, Wiesbaden 2001.

HISTORISCHE NARRATIVE DER (EHEMALIGEN) VOLKSPARTEIEN Seit den 1960er und den 1970er Jahren hat sich die Sozialstruktur sowohl der SPD-Mitgliedschaft als auch der Wählerschaft so stark verändert, dass die eingangs erwähnte Traditionslinie zur Arbeiterpartei August Bebels nur in einer sehr allgemeinen Form für das Selbstverständnis der Partei und ihre Identität Bedeutung behielt. Als eine Partei, die für soziale Gerechtigkeit und die sozial Benachteiligten in der Gesellschaft eintrat, konnte sie noch an die Tradition der Klassenpartei des 19. Jahrhunderts anknüpfen. Insofern ist es kein Wunder, dass Bebels Uhr als »Erinnerungsort« heute keine große Rolle mehr spielt. Am 23. März 2023 jährte sich die große Rede des damaligen SPD-Vorsitzenden Otto Wels im Reichstag beziehungsweise in der nach dem Reichstagsbrand als Ausweichort genutzten Kroll-Oper, in der er die Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes begründete, zum 90. Mal. Das bot Gelegenheit, ein für das Selbstverständnis der SPD zentrales historisches Narrativ zu aktualisieren. Denn anders als die Bebelsche Traditionslinie spielt das Narrativ, die SPD habe in der Auseinandersetzung mit den totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts als einzige Partei stets auf der moralisch richtigen Seite der Geschichte gestanden, für die heutige SPD eine wichtige Rolle. Auf der Webseite der Friedrich-Ebert-Stiftung heißt es, »die klare Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes wurde nach dem Zweiten Weltkrieg für die Sozialdemokratie der zentrale Bezugspunkt, um ihre Haltung zur nationalsozialistischen Diktatur historisch zu verorten.«10 Das ist selbstverständlich richtig. Es verwundert allerdings, dass man einen weiteren wichtigen, gewissermaßen daran anschließenden historischen Bezugspunkt der eigenen demokratisch-integren Haltung gegenüber jeder Form von Diktatur nicht berücksichtigt, nämlich das Widersetzen großer Teile der SPD gegen die Zwangsvereinigung mit der KPD zur SED in der Sowjetischen Besatzungszone im Jahr 1946. Auch dieses widerständige Handeln zog große Repressalien nach sich. Die Kontinuität der Opfer, die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im Kampf gegen totalitäre Ideologien brachten, kommt in besonderer Weise im »Gedenkbuch der Sozialdemokratie« zum Ausdruck, worin versucht wurde, möglichst alle 10 

­erinnerungsorte. fes.de/otto-wels.

11  Vgl. Sozialdemokratische Partei Deutschlands (Hg.), Der Freiheit verpflichtet. Gedenkbuch der Sozialdemokratie im 20. Jahrhundert, Marburg 2000.

Opfer in Kurzbiografien zu würdigen.11 Das Narrativ des mit großen Opfern verbundenen Kampfes gegen den Totalitarismus des 20. Jahrhunderts ist zwar in der SPD unstrittig und bietet eine historische Fundierung, es hat indes wenig gegenwartsbezogene Relevanz (wenn man von der Auseinandersetzung mit der AfD bzw. dem Rechtsextremismus absieht). Das verhält sich im Hinblick auf ein Torsten Oppelland  —  Bebels Goldene ­Taschenuhr

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weiteres, zum Kern des sozialdemokratischen Weltbilds gehörendes Narrativ seit dem 24. Februar 2022, dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine, und der »Zeitenwende« etwas anders. Die Überzeugung, die Brandtsche Ost- und Entspannungspolitik habe das Ende der Kalten Krieges und damit auch die deutsche Wiedervereinigung überhaupt erst ermöglicht, ist ein wichtiger Bestandteil sozialdemokratischer Identität: »Wir knüpfen an die erfolgreiche Entspannungspolitik Willy Brandts in Europa an, für die das Konzept gemeinsamer Sicherheit, vertrauensbildende Schritte und wirtschaftliche wie zivile Zusammenarbeit wichtige Elemente waren.«12 Dieses Credo der gemeinsamen Sicherheit aus dem noch immer gültigen Grundsatzprogramm von 2007 bezieht sich offensichtlich auf Russland als den wichtigsten Nachfolgestaat der Sowjetunion. Seit Beginn des von Putin befohlenen russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine jedoch wird innerhalb der SPD kontrovers diskutiert, wie weit Fehleinschätzungen der deutschen Außenpolitik gegenüber Russland in SPD-geführten Bundesregierungen bzw. im sozialdemokratisch geführten Außenministerium der Großen Koalitionen unter Merkel ihre tiefere Ursache in einem dogmatisierten historischen Narrativ der Entspannungspolitik hatten.13 Beide Narrative, Antitotalitarismus und Entspannungspolitik, waren zudem hilfreich bei der Integration der 1989 (wieder-)gegründeten Sozialdemokratischen Partei der DDR in die gesamtdeutsche SPD während des Prozesses der Wiedervereinigung, denn Brandts Politik war in der DDR überaus populär und die Abgrenzung von der SED war zumindest in der Zeit der Friedlichen Revolution und unmittelbar danach ebenfalls unumstritten. Für die SPD, die für sich mit einem gewissen Stolz in Anspruch nimmt, »die älteste demokratische Partei in Deutschland«14 zu sein, gibt es zahlreiche Anknüpfungspunkte für die historischen Narrative. Bei der erst in der Nachkriegszeit gegründeten CDU sieht das etwas anders aus. Sie sieht sich im Grunde als die BRD-Partei schlechthin: »Vier Bundeskanzler und eine Bundeskanzlerin aus den Reihen der CDU haben unser Land maßgeblich geprägt: Grundgesetz und demokratischer Rechtsstaat, Soziale Marktwirtschaft und ›Wohlstand für Alle‹, Westbindung und Aussöhnung, Einigung Europas und deutsche Einheit waren entscheidende Weichenstellungen, die uns über Jahrzehnte hinweg ein Leben in Frieden, Freiheit und Wohlstand ermöglicht haben.«15 Die Elemente der Aufzählung lassen sich mit den prägenden Figuren der CDU-Geschichte verbinden: Adenauer steht für die Westbindung und die Anfänge der europäischen

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Sprache und Politik  —  Analyse

12  SPD-Parteivorstand (Hg.), Hamburger Programm. Grundsatzprogramm der Sozialdemokratische Partei Deutschlands. Beschlossen auf dem Hamburger Bundesparteitag der SPD am 28. Oktober 2007, tinyurl.com/indes231d1, S. 20. 13  Vgl. Markus Wehner, Brandt, Bahr und Putin. Ist die Ostpolitik der SPD schuld an Deutschlands Fehlern gegenüber Russland?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.10.2022. 14  SPD-Parteivorstand, Hamburger Programm, S. 12. 15  Christdemokratische Union, Grundwertecharta der CDU Deutschlands. Beschluss des 35. Parteitags der CDU Deutschlands, 9.bis 10. September 2022, Deutsche Messe Hannover, tinyurl.com/indes231d2, S. 2.

Integration, Ludwig Erhard für die soziale Marktwirtschaft und Kohl für die Verwirklichung der deutschen Einheit und die Vertiefung der europäischen Integration. An dieser Aufzählung wird aber auch das aktuelle Problem der CDU hinsichtlich ihres historischen Selbstbildes deutlich. Denn obwohl »eine Bundeskanzlerin« erwähnt wurde, verbindet sich keines der Schlagworte mit der Kanzlerschaft von Angela Merkel. Die »Zeitenwende« hat auch in der CDU dazu geführt, dass manche Entscheidungen in der Ära Merkel, angefangen mit dem ohnehin ungeliebten Ausstieg aus der Kernkraft bis hin zur Steigerung der deutschen Abhängigkeit von russischen Erdgasimporten, kritisch bewertet werden. Darüber hinaus hat sich unter dem Parteivorsitz Angela Merkels auch das historische Narrativ verändert. Hatte sie als Oppositionsführerin den grünen Außenminister Joschka Fischer wegen dessen einstigen 68er-Aktivitäten noch scharf angegriffen, findet sich eine Profilierung der CDU als Anti-68er-Partei heute nicht mehr.16 Der Grund dafür liegt auf der Hand: Für die Union sind schwarz-grüne Koalitionen in mehreren Ländern eine Realität und im Bund eine reale Option. Wie in manch anderer Hinsicht auch, hat die AfD hier frühere CDU-Positionen besetzt (»links-grün versifft«). Insofern ist noch völlig offen, wie die Ära Merkel in einer Phase, da der konservative bezieVgl. Torsten Oppelland, Parteien als geschichtspolitische Akteure, in: ders. & Antonius Liedhegener (Hg.), Parteiendemokratie in der Bewährung, Baden-Baden 2009, S. 57–72, hier S. 64 ff. 16 

hungsweise wirtschaftsliberale Flügel den Ton in der Partei angibt, in das historische Narrativ der CDU integriert werden wird. Wahrscheinlich wird die Rettung der europäischen Integration in den Turbulenzen der Euro-Krise später einmal in einer Reihe mit den Errungenschaften Adenauers und Kohls stehen. Torsten Oppelland  —  Bebels Goldene ­Taschenuhr

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DAS SYNKRETISTISCHE NARRATIV DER PARTEI DIE LINKE Keine andere Bundestagspartei wendet derart viel Raum in ihrem Grundsatzprogramm auf, um zu klären, mit welchen historischen Traditionen sie sich identifiziert.17 Die Gründe für diesen großen Aufwand sind offensichtlich. Zum einen entstand Die LINKE aus dem Zusammenschluss einer neu gegründeten Partei im Westen, der im Widerstand gegen Gerhard Schröders Agenda 2010 entstandenen WASG, und einer elektoral weitgehend auf das Gebiet der ehemaligen DDR begrenzten postkommunistischen linken Sammlungspartei, der PDS. Und zum anderen war letztere durch ihr spezifisches Erbe als SED-Nachfolgepartei belastet. In dem ausführlichen historischen Teil des Programms unter dem Titel »Woher wir kommen, wer wir sind« nimmt die Partei, etwas despektierlich ausgedrückt, alles für sich in Anspruch, was in der deutschen Geschichte links von der SPD war. Eigentlich stimmt das nicht einmal, denn die SPD vor der Spaltung der Arbeiterbewegung im Ersten Weltkrieg, die allein darauf zurückging, dass »die SPD-Führung […] die Politik der nationalistischen Abgrenzung [befürwortete] und […] schließlich für den Krieg [stimmte]«18, wird ebenfalls für die Tradition der LINKEN vereinnahmt: »Die USPD, die KPD und linkssozialistische Bewegungen gehören heute ebenso zum historischen Erbe der LINKEN wie die Geschichte der Sozialdemokratie«.19 Die Spaltung der Arbeiterbewegung wird als fatal bewertet, weil sie dem Aufstieg des Faschismus Vorschub geleistet habe; der Widerstand sowohl von Kommunisten wie auch von Sozialdemokraten und »religiös engagierten Menschen«20 wird als erster Schritt zu deren Überwindung gewürdigt. Sodann wird die Entwicklung der Bundesrepublik geschildert, die einerseits durch das KPD-Verbot und Berufsverbote, durch das weitgehende Ausbleiben einer Entnazifizierung sowie »autoritäre und obrigkeitsstaatliche Strukturen«, andererseits aber eben auch »durch zunehmenden gesellschaftlichen Wohlstand, an dem alle gesellschaftlichen Schichten teilhatten, sowie eine parlamentarische Demokratie«21 geprägt gewesen sei. Aus dieser Epoche werden alle oppositionellen Bewegungen, von der

17  Vgl. DIE LINKE, Programm der Partei DIE LINKE. Beschluss des Parteitages der Partei DIE LINKE vom 21. bis 23. Oktober 2011 in Erfurt, bestätigt durch einen Mitgliederentscheid im Dezember 2011, tinyurl.com/ indes231d3.

Frauenbewegung über die APO, die Umweltbewegung und besonders die Friedensbewegung für die Tradition der LINKEN reklamiert. Danach wird der Blick auf die Entwicklung im Osten gerichtet. Der Zusammenschluss von KPD und SPD zur SED im Jahr 1946 sei als Lehre aus der Spaltung der Arbeiterbewegung von der großen Mehrheit der Mitglieder von KPD und SPD befürwortet worden, aber: »Der Zusammenschluss war […] auch mit Druck verbunden. Vor allem Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, welche ihm Widerstand entgegensetzten, wurden verfolgt«.22 Eine

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Sprache und Politik  —  Analyse

18 

Ebd., S. 9.

19 

Ebd., S. 10.

20 

Ebd.

21 

Ebd., S. 11.

22 

Ebd., S. 12.

derartige Bewertung der »Zwangsvereinigung« war das nötige Minimum, um Koalitionen mit der SPD auf Landesebene zu ermöglichen. Ähnlich differenziert wird dann der »Sozialismusversuch« der DDR beschrieben. »[D]ie Beseitigung von Erwerbslosigkeit und die wirtschaftliche Eigenständigkeit der Frauen, die weitgehende Überwindung von Armut, ein umfassendes soziales Sicherungssystem, ein hohes Maß an sozialer Chancengleichheit im Bildungs- und Gesundheitswesen«23 seien mit staat­ licher Willkür, eingeschränkten Freiheiten und einem staatlichen Überwachungsapparat einhergegangen. Bürokratische Planung und Leitung der Wirtschaft habe die Innovations- und Leistungsfähigkeit und damit die »Anziehungskraft« des DDR-Sozialismus beschränkt. Das emphatische Bekenntnis zum demokratischen Sozialismus des SED-Parteitags vom Dezember 1989 wird wiederaufgegriffen. Auf jenem Parteitag war die Selbstauflösung der Partei abgelehnt und diese stattdessen in SED-PDS umbenannt worden. Sogar die Bürgerbewegungen, die sich während der Wende in der DDR für einen »Wandel zu einem besseren Sozialismus«24 engagiert hatten, werden in die Traditionslinie der LINKEN eingeordnet. In diesem umfassenden historischen Narrativ konnten sich alle wiederfinden, egal ob sie aus West- oder Ostdeutschland stammten und egal, wie weit links sie standen! Am Beispiel der LINKEN zeigt sich jedoch mehr als bei den anderen Parteien, dass historische Narrative allein die Integration einer ideologisch heterogenen Partei nicht bewirken können. Denn gewiss würden auch heute noch die meisten Mitglieder und Politiker jener Darstellung der linken Traditionslinien aus dem Jahr 2011 zustimmen können. Trotzdem scheint die Partei aktuell auf dem besten Wege zu sein, sich in internen Kämpfen zu zerreiben und dadurch jegliche elektorale Attraktivität einzubüßen. Historische Narrative von Parteien können zu einer 23  24 

Ebd.

Ebd., S. 13.

Identität und zu einem Wir-Gefühl beitragen; wenn aber die Grundlagen für solche Identitätskonstruktionen nicht oder nicht mehr bestehen, können sie sie nicht ersetzen.

Dr. phil. habil. Torsten Oppelland, geb. 1959, ­studierte in Kiel, Brest und Köln Geschichte, Politikwissenschaft und Anglistik und ist seit 2010 außerplanmäßiger Professor für Vergleichende Regierungslehre an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

© Uni Jena, Anne Günther

Torsten Oppelland  —  Bebels Goldene ­Taschenuhr

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POLITISCHE SCHLAGWÖRTER MIT EINEM SPRACHGESCHICHTLICHEN RÜCKBLICK AUF POLITIK DER STÄRKE UND PAZIFISMUS Ξ  Martin Wengeler

Wenn in den letzten Jahren öffentlich über politische Sprache gesprochen wurde, dann war der Begriff des »Framing« nicht weit. Er ist zu einem Modewort geworden, das Wissenschaftlichkeit suggeriert, ähnlich wie »triggern«, »Resilienz« oder »Narrativ«. Wie diese hat auch »Framing« eine durchaus ehrwürdige wissenschaftliche Tradition, insofern mit dem Begriff in den Kommunikationswissenschaften1 so etwas wie Deutungsrahmen für eine politische Problemlage oder Fragestellung erfasst werden, die sich unter anderem in Medienanalysen anhand einer gut operationalisierten Methode systematisch beschreiben lassen. FRAMING? NEIN DANKE! Das heute verbreitete Verständnis von Framing zielt eher auf einzelne Wörter – in der Regel politische Schlagwörter –, vermittels derer ein Sachverhalt aus einer bestimmten Perspektive betrachtet wird. Dieser Begriffsgehalt wurde durch das Buch Politisches Framing der deutsch-kalifornischen Sprachwissenschaftlerin Elisabeth Wehling (2016) und ihr mediales Auftreten in vielen Interviews, Reportagen oder auf der re:publica 20172 popularisiert. In einem anderen Zusammenhang3 habe ich erläutert, welche Probleme Sprecher:innen sich mit einer solchen Verwendung einhandeln. Hier lasse ich es dabei bewenden zu betonen, dass ich zum einen die kognitionswissenschaftliche Grundlage des Konzepts für problematisch halte, nach der Frames, »sind sie erst einmal über Sprache – etwa jener in öffentlichen Debatten [also eben durch politische Schlagwörter] – in unseren Köpfen aktiviert, […] unser Denken und Handeln [leiten], und zwar ohne dass wir es merken.«4 Mit ihrem Framing-Konzept, so Wehling, berufe sie sich auf die »moderne Neuro- und Kognitionsforschung«, die »die ›klassische Vernunft‹ längst zu Grabe getragen hat«5 und deren Erkenntnissen wir hinterherhinken würden.6 Ich möchte bestreiten, dass die sprachlich Handelnden als Marionetten ihrer Frames aufgefasst werden können, die »über Sprache aktiviert« werden, »ohne dass wir es merken«; und ebenso, dass

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1  Vgl. Jörg Matthes, ­Framing, Baden-Baden 2014. 2  re:publica 2017 – Elisabeth Wehling, Die Macht der Sprachbilder – Politisches Framing, in: YouTube, 11.05.2017, tinyurl.com/indes231e1. 3  Vgl. Martin Wengeler, Warnung vor Framing? Kritische Überlegungen zu Frames und Framing aus polito- und diskurslinguistischer Perspektive, in: Kersten Sven Roth & Martin Wengeler (Hg.), Diesseits und jenseits von Framing. Politikspracheforschung im medialen Diskurs, Hamburg 2022, S. 9–29. 4  Elisabeth Wehling, Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht, Köln 2016, S. 18. 5  Ebd., Klappentext. 6  Ebd., S. 17.

»wir« – ich beziehe das eben Erwähnte hier auf die linguistische Forschung zu politischen Schlagwörtern – irgendwelchen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen »hinterherhinken«. Zum anderen verzichte ich auf diesen Mode-Begriff, weil mit ihm nichts mehr erfasst werden kann bzw. insgesamt Phänomene weniger differenziert beschrieben werden als mit der mittlerweile schon fünfzigjährigen vor allem deutschsprachigen linguistischen Terminologie zu politischen Schlagwörtern. Diese Terminologie, also die Kategorien der Beschreibung von Schlagwörtern, möchte ich hier vorstellen, und im Anschluss sollen zwei Schlagwörter, die gerade wieder aktuell und brisant sind, in ihrer begriffsgeschichtlichen Entwicklung kurz nachgezeichnet werden. POLITISCHE SCHLAGWÖRTER? JA, ABER DIFFERENZIERT! Eine nützliche und gegenstandsangemessene Terminologie zur Beschreibung des Gebrauchs politischer Schlagwörter hat sich in der Linguistik seit Walther Dieckmanns Einführung in die Sprache in der Politik von 1975 entwickelt. Sie beruht mehr oder weniger explizit darauf, dass mit Sprache »Realität(en)« zumindest mit-konstituiert werden und dass es insofern nicht ausbleiben kann, dass unterschiedliche politische »Weltansichten« (W. v. Humboldt) sich in heterogenem Sprachgebrauch, also auch in verschiedenen Wörtern oder unterschiedlichen Verständnissen/Bedeutungen gleicher Ausdrücke niederschlagen. Dies wird zudem als konstitutiv für eine Demokratie angesehen, und insofern sollte ein Sprachgebrauch, der einem nicht passt, der anders als der eigene ist, nicht gleich als »­Manipulation«, »Propaganda« oder Ähnliches abgetan werden. Der »Streit um Worte«, der Versuch, »Begriffe zu besetzen«, gehört also zur Demokratie, muss allerdings im Sinne einer wehrhaften Demokratie, wenn es um menschen- oder demokratiefeindliche Sprache (Hatespeech, Fake News) etc. geht, auch seine Grenzen finden.7 Linguisten haben sich schon frühzeitig bemüht, den in der Öffentlichkeit zumeist abwertend genutzten Begriff Schlagwort als einen wissenschaftlichen Terminus zu definieren. Walther Dieckmanns erstem Versuch von 1964 folgen in den 1970er Jahren sein erwähntes Einführungsbuch Sprache in der Politik und Horst Grünerts Studie zur Paulskirche unter dem Titel Sprache und Politik, seit den 1990er Jahren dann einige Syste7  Vgl. dazu zuletzt Martin Wengeler, Werbung als Grundprinzip der Demokratie, in: Nina Janich u. a. (Hg.), Handbuch Werberhetorik, Berlin & Boston 2023 (im Erscheinen).

matisierungsbemühungen. Mit dem Begriff der ideologischen Polysemie bezeichnet dabei schon Dieckmann den Sachverhalt, dass gleiche Wörter »ideologisch« gänzlich Unterschiedliches bedeuten können, was impliziert, dass die Welt durch Martin Wengeler  —  Politische Schlagwörter

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den (politischen) Sprachgebrauch unterschiedlich organisiert und konstituiert wird: »Der Wortstreit in der Politik ist nicht Streit ums bloße Wort, sondern Ausfluß der politisch-ideologischen Auseinandersetzung.«8 Auch in der Bestimmung, dass in Schlagwörtern »Programme kondensiert«9 sind, wird der realitätskonstitutive Charakter der Schlagwörter deutlich. Horst Grünerts Untersuchungen zum Sprachgebrauch der »­Paulskirche« (1974) sind dann die erste empirisch umfassende Studie politischer Schlagwörter. Seine Analysen der ›rechten‹ und der ›linken Seite‹ des Paulskirchenparlaments von 1848/49 nehmen den Gebrauch zentraler Schlagwörter wie Volk, Ehre, Freiheit, soziale Frage oder Klassen in den Blick. Indem er die lexikalischen Einheiten im Rahmen eines Argumentationsmodells in ihrer Verwendung und somit ihren Funktionen untersucht, zeigt er, wie mit Sprache unterschiedliche Denkweisen und Überzeugungen artikuliert werden, um andere von eigenen Positionen zu überzeugen. Er betont auch, dass es schon bei diesem ersten Demokratieversuch auf deutschem Boden um »bipolaren, binären, dualistischen, alternativen Sprachgebrauch«10 widerstreitender Gruppen ging, also um das, was heute semantische Kämpfe genannt wird. Im politischen Raum wurden solche semantischen Kämpfe in den 1970er Jahren im Anschluss an Kurt Biedenkopfs CDU-Parteitagsrede von 1972 unter dem Label Begriffe besetzen diskutiert. Mit der Diagnose, dass die politischen Gegner eine Revolution eingeleitet hätten, indem sie zentrale Begriffe besetzt hätten, machte Biedenkopf – wenn auch aus rein sprach- und politikstrategischen Interessen – öffentlich auf die wirklichkeitskonstitutive Kraft der Sprache aufmerksam und bewirkte, dass sich in der Folge auch Linguist:innen mit dieser Metapher und mit semantischen Kämpfen beschäftigten.11 Fritz Hermanns hat auf die nicht nur kognitiven, sondern auch appellativen (Sollens-), emotiven (Gefühls-) und volitiven (Wollens-)Dimensionen der politischen Semantik hingewiesen. Auf ihn geht die Differenzierung politischer Schlagwörter in Fahnenwort, Stigmawort, Hochwert- und Unwertwort sowie Affirmationswort zurück.12 Fahnenwörter »sind dazu da, daß an ihnen Freund und Feind den Parteistandpunkt, für den sie stehen, erkennen sollen«13; Stigmawörter sollen den gegnerischen Parteistandpunkt negativ kennzeichnen, unter anderem, um nicht auf die positiven Selbstkennzeichnungen der Gegner zurückgreifen zu müssen.14 In späteren Reflexionen erschien Hermanns diese Zweiteilung des politischen Wortschatzes, die gerade auch für ideologisch polyseme Wörter gelten sollte, bei denen das Fahnenwort der einen das Stigmawort der

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Sprache und Politik  —  Analyse

8  Walther Dieckmann, Sprache in der Politik. Eine Einführung in die Pragmatik und Semantik der politischen Sprache, Heidelberg 1975, S. 72. 9 

Ebd., S. 103.

10  Horst Grünert, Sprache und Politik. Untersuchungen zum Sprachgebrauch der »Paulskirche«, Berlin & New York 1974, S. 22. 11  Vgl. dazu Josef Klein, Kann man »Begriffe besetzen«? Zur linguistischen Differenzierung einer plakativen politischen Metapher, in: Frank Liedtke u. a. (Hg.), Begriffe besetzen. Strategien des Sprachgebrauchs in der Politik, Opladen 1991, S. 44–69. 12  Vgl. Fritz Hermanns, Schlüssel-, Schlag- und Fahnen­ wörter. Zu Begrifflichkeit und Theorie der lexikalischen »politischen Semantik«. Arbeiten aus dem SFB 245 »Sprache und Situation«, Heidelberg & Mannheim 1994. 13  Ders., Brisante Wörter. Zur lexikographischen Behandlung parteisprachlicher Wörter und Wendungen in Wörterbüchern der deutschen Gegenwartssprache, in: Herbert Ernst Wiegand (Hg.), Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie II, Marburg 1982, S. 87–108, hier S. 91. 14 

Vgl. ebd., S. 92.

anderen sein kann (Sozialismus, liberal, konservativ), als zu grob, da beispielsweise »nicht jedes positive Schlagwort auch ein Fahnenwort sein muß«15 (seine Beispiele: Staatsbürger in Uniform; Umwelt). Aufgrund der Beobachtung, dass sich Stigmawort allgemein für die Bezeichnung von »irgendetwas Negative[m] (das man allerdings bekämpfen möchte)«16 durchgesetzt hat, ohne dass damit ein gegnerischer Parteistandpunkt negativ gekennzeichnet wird (seine Beispiele: Chaot, Sympathisant, Asylant), schlägt er als Pendant dazu Affirmationswort als Bezeichnung für etwas als positiv Prädiziertes vor, wovon Fahnenwort dann nur eine Unterkategorie darstellt. Auf der Ebene darüber führt Hermanns den Terminus Hochwertwort und dessen Pendant Unwertwort ein, die beide eben nicht parteilich-programmatisch gebunden sind und auf »über der aktuellen politischen Diskussion stehende« positiv respektive negativ bewertete Konzepte verweisen: Zukunft, Frieden, Menschenwürde, Aufschwung, Gesundheit, Solidarität vs. Kommunismus, Populismus, Rassismus, autoritär, Terrorist, Verschwörungstheorie. Da aber gerade auch die Hochwertwörter ideologisch polysem sein können, insofern unter Sicherheit, Freiheit, Solidarität oder Gemeinschaft sehr Unterschiedliches verstanden werden kann, scheint mir die von Burkhardt17 gewählte Systematik, bei der Schlagwörter als Oberbegriff fungieren und in die er noch vier weitere Kategorien einführt, konsequenter und differenzierter zu sein.

15 

Ders., Schlüssel-, Schlagund Fahnenwörter, S. 17. 16 

Vgl. ebd., S. 19.

17  Vgl. Armin Burkhardt, Deutsche Sprachgeschichte und politische Geschichte, in: Werner Besch u. a. (Hg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, 1. Halbbd., Berlin & New York 1998, S. 98–122, hier S. 103. 18  Ders., Das Parlament und seine Sprache. Studien zu Theorie und Geschichte parlamentarischer Kommunikation, Tübingen 2003, S. 357.

Abb. 1: Klassifikation von Schlagwörtern Quelle: Burkhardt, Deutsche Sprachgeschichte, S. 103.

Dabei sind Zeitgeistwörter »überparteilich und außerpolitisch« sowie »an die charakteristischen Diskursthemen der jeweiligen Zeitabschnitte gebunden«18 (Postmoderne, Politikverdrossenheit, Pandemie). Themawörter Martin Wengeler  —  Politische Schlagwörter

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heben lediglich »besonders wichtige Aspekte des Bezeichneten lexikalisch (bzw. semantisch)«19 hervor: Erneuerbare Energien, SchwarzgeldAffäre, 3G-Regel. Auf Seiten der positiv und negativ wertenden Schlagwörter werden der bis heute gängigen Terminologie von Fahnen- und Stigmawörtern außerdem Programm- (Entspannung, Gesundheitsreform), Schelt- (Steuerlüge, Blockadepolitik, Querdenker) und Gegenschlagwörter (Neidsteuer, Herdprämie, Klimalüge) hinzugefügt.20 Karin Böke nimmt noch zusätzliche Differenzierungen, die weitere Funktionen der Schlagwörter zum Ausdruck bringen, vor, wozu beispielsweise Legitimationsvokabeln (wie Recht auf Heimat oder Selbstbestimmungsrecht) und Vorwurfsvokabeln (man wirft dem Gegner Politik der Stärke oder Sozialabbau vor) gehören.21 Aus der Beschäftigung mit der im politischen Raum genutzten Metapher des ›Begriffe besetzen‹ geht Josef Kleins Differenzierung des politischen Kampfes um Wörter in unter anderem Bezeichnungskonkurrenz 22

(Reform des Sozialstaats vs. Sozialabbau) und deskriptive (das Umdeuten, z. B. Solidarität, Gerechtigkeit, Subsidiarität) sowie deontische (das Um-

19 

Ebd., S. 358.

20  Vgl. ebd., S. 357 f. 21  Vgl. Karin Böke, Politische Leitvokabeln in der Adenauer-Ära. Zu Theorie und Methodik, in: dies. u. a., Politische Leitvokabeln in der Adenauer-Ära, Berlin & New York 1996, S. 19–50, hier S. 40. 22  Vgl. Klein. 23  Georg Stötzel & Martin Wengeler, Kontroverse Begriffe. Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin & New York 1995.

werten, z. B. konservativ, Sozialismus, liberal, multikulturell) Bedeutungskonkurrenz hervor, die den Fokus stärker auf die Umstrittenheit der politischen Schlagwörter lenkt. ERSTES BEISPIEL: POLITIK DER STÄRKE Mit Hilfe dieser Beschreibungsterminologie sind in der Linguistik seit den 1980er Jahren vor allem sprachgeschichtlich orientierte empirische Forschungen zum Streit um politische Schlagwörter vorgenommen worden, die entweder in narrativen themenbezogenen Darstellungen des jeweiligen Wortschatzes oder in Wörterbüchern präsentiert worden sind. Auf

24 

Böke u. a.

25  Thorsten Eitz & Georg Stötzel, Wörterbuch der »Vergangenheitsbewältigung«. Die NS-Vergangenheit im öffentlichen Sprachgebrauch, Bd. 2, Hildesheim u. a. 2009. 26  Martin Kessler, Landräuber Wladimir Putin, in: Rheinische Post, 01.10.2022, tinyurl.com/indes231e2.

die Sammelbände Kontroverse Begriffe23 , Politische Leitvokabeln24 und auf das Wörterbuch der Vergangenheitsbewältigung25 gehen die folgenden Beobachtungen zu den aktuellen Schlagwörtern Politik der Stärke und Pazifismus zurück. Ich gebe zunächst vier Beispiele für den aktuellen Gebrauch der Wortverbindung Politik der Stärke: »Der Westen muss nach den Annexionen Putins auf eine Politik der Stärke setzen und die Ukraine mit schweren Waffen unterstützen.«26 »Für die Politik der Stärke.«27 »Putin versteht nur die Sprache der Stärke.«28 »Der Rückfall in die Politik der Stärke.«29

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Sprache und Politik  —  Analyse

27  Stephan Lorenz, Für die Politik der Stärke, in: Freie Presse, 27.06.2022, tinyurl.com/indes231e3. 28  Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), zit. nach Reinhard Kowalewsky, Für einen neuen Doppelbeschluss des Westens, in; Rheinische Post, 17.11.2022, tinyurl.com/indes231e4. 29  Albrecht Müller, Der Rückfall in die »Politik der Stärke«, in: NachDenkSeiten, 14.08.2018, tinyurl.com/indes231e5.

Diese Belege für die Verwendung der Wortverbindung Politik der Stärke (respektive der leichten Abwandlung Sprache der Stärke, die von StrackZimmermann hier synonym verwendet wird) zeigen die erwähnte deontische Bedeutungskonkurrenz bei diesem gerade wieder aktuell werdenden politischen Schlagwort. Die einen nutzen es positiv und drücken damit ein Sollen und Wollen aus, das Schlagwort hat eine appellative, emotive und volitive Dimension. Für NachDenkseiten-Autor Müller dagegen ist der negative deontische Gehalt des Schlagworts stillschweigend vorausgesetzt, wenn er vor einem »Rückfall« in ein von ihm verworfenes politisches Konzept warnt. Während in der historischen Rückschau das Schlagwort Politik der Stärke in der Regel für die Politik Adenauers gegenüber der Sowjetunion/dem Ostblock als relativ wertungsfreie historische Vokabel – oft als Antonym, also in Entgegensetzung zu Entspannungspolitik – verwendet wird und eher seltener auch für die NATO-Rüstungspolitik der 1980er Jahre, ist es in seiner Entstehungszeit von Beginn an evaluativ so heterogen, wie es auch in den aktuellen Belegen zum Ausdruck kommt. »›Politik der Stärke‹: nun ja, man wirft sie uns vor. Das ist ein Schlagwort, das in manchen Zirkeln nicht schlecht wirkt. Aber es ist doch einfach die Wahrheit! Haben wir nicht in den letzten Jahren gelernt, daß es einzig die Stärke ist, die den Sowjetrussen imponiert und die sie dazu bringt, Zugeständnisse zu machen?!«30 Dieses Kiesinger-Zitat zeigt prototypisch die positive Verwendungsweise der Wortverbindung auf Seiten der Regierungsparteien der 1950er Jahre. Schon zu dieser Zeit wird sie – anders als man erwarten könnte, da Entspannungspolitik als historische Vokabel heute zumeist auf Willy Brandts Ostpolitik Bezug nimmt – als Antonym zu Politik der Entspannung genutzt. Auch wenn es Nuancen bezüglich dessen gibt, worauf genau referiert wird31, ist es doch bemerkenswert, wie offensiv die Wortverbindung, die von dieser Seite zum Teil auch als Vorwurfsvokabel an die Adresse der Sowjetrussen 30  Kurt Georg Kiesinger (CDU), in: Bundestagsprotokoll vom 15.12.1954, S. 3152. 31  Vgl. Martin ­Wengeler, Gleichgewicht im Kalten Krieg. Leitvokabeln der Außenpolitik, in: Böke u. a., S. 279–323, hier S. 296 ff.

gerichtet wird, als Fahnenwort verwendet wird, da sie gleichzeitig beim politischen Gegner eine (siehe Zitat) eindeutige pejorative Funktion hatte. Der Vorwurfscharakter, den die Wortverbindung im innenpolitischen Diskurs – vor allem auch im Gebrauch der SPD-Opposition gegen die Regierungspolitik – hat, ist zumindest so stark, dass Unionspolitiker und konservative Presse mit expliziten Sprachthematisierungen versuchen, dem Ausdruck »harmlosere« Bedeutungsgehalte zu geben als das in den Martin Wengeler  —  Politische Schlagwörter

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Vorwürfen unterstellte ›Streben nach Überlegenheit durch militärische Aufrüstung, um die Sowjetunion unter Druck setzen zu können, auf westliche Forderungen einzugehen‹. Hier ein Beispiel aus der Presse: »Politik der Stärke wurde zum Schlagwort, stiftete Verwirrung und wurde mißbraucht. […] Der Westen meinte mit Politik der Stärke auch keine aggressive Gewaltanwendung, sondern nur die Bereitschaft zu einer Gewaltabwehr, falls der Osten angreifen oder seine Expansionspolitik weitertreiben sollte.«32 Der Vorwurf des »Missbrauchs« richtete sich einerseits gegen den außenpolitischen Gegenspieler, die Sowjetunion und ihre Statthalter in der DDR, die die westliche Politik mit dem Stigmawort Politik der Stärke bekämpften. Andererseits zielte er aber auch auf die SPD-Opposition, die mit dem Wort zum einen stillschweigend voraussetzte, dass die so bezeichnete Politik Wiedervereinigung, Abrüstung und Entspannung verhindere, und dies zum anderen auch ausdrücklich behauptete. So sagte zum Beispiel der SPD-Vorsitzende Ollenhauer im Bundestag 1956: »Die Politik der Stärke als Politik der Wiedervereinigung ist gescheitert.«33 Wie schon gegenüber der Politik der Wiederbewaffnung seit 1954, so nutzte die SPD das Stigmawort auch gegen die Versuche der Bewaffnung der Bundeswehr mit Atomwaffen in den Jahren 1957/58. Für die frühe Bundesrepublik ist diese heterogene Verwendung von Politik der Stärke mentalitätsgeschichtlich aufschlussreich, was hier natürlich in der Kürze nur angedeutet werden kann. Man kann über den Wortgebrauch und den Streit um ihn etwas darüber lernen, wie zu dieser Zeit hinsichtlich des Verhältnisses zum Ostblock, zur Sowjetunion gedacht und gefühlt wurde. Auch Koexistenz, Abrüstung, Wettrüsten, Abschreckung und Gleichgewicht sind diesbezüglich relevant.34 Nicht nur deshalb wird es interessant sein zu sehen, welche dieser 1950er-Jahre-Schlagwörter nun nach der »Zeitenwende« reanimiert werden. ZWEITES BEISPIEL: PAZIFISMUS Bei Pazifismus ist dies der Fall. Der Begriff Pazifismus/Pazifist wird auch in der aktuellen Diskussion wieder zur Diskreditierung von Diskurspositionen als weltfremd, defätistisch und den Interessen Russlands dienend verwendet, die der Mehrheitsposition widersprechen, man müsse Waffen an die Ukraine liefern und selbst aufrüsten, um der Bedrohung durch Putins Russland Verteidigungsbereitschaft entgegenzusetzen: »Der deutsche Pazifismus sei ein Verbrechen«, »wer […] bei Friedensdemonstrationen

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32  Passauer Neue Presse, 29.03.1956. 33  Zit. nach Bundestagsprotokoll vom 29.06.1956, S. 8517. 34  Vgl. Wengeler, Gleichgewicht im Kalten Krieg, S. 300 ff.

mitläuft, sei die fünfte Kolonne von Wladimir Putin«, Gegner von Waffenlieferungen seien »Lumpenpazifisten«35. Auch in den 1950er Jahren wurden die anfänglich nach dem Krieg verbreitete ohne-mich-Haltung36 sowie die Rehabilitierung des Pazifismus37 35  Alles zit. nach »Ich bleibe Pazifistin«. Interview mit Margot Käßmann, in: Der Freitag, 22.09.2022, S. 7. 36  Vgl. dazu Martin Wengeler, Die Sprache der Aufrüstung. Zur Geschichte der Rüstungsdiskussionen nach 1945, Wiesbaden 1992, hier S. 162 ff. 37  Vgl. Karl Holl, Pazifismus, in: Otto Brunner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 4, Stuttgart 2004, S. 767–787, hier S. 786. 38  Vgl. Frank Liedtke, Sozialismus – ein Reizwort, in: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht, H. 64 (1989), S. 23–38, hier S. 36. 39  Vgl. Gerhard Strauß u. a., Brisante Wörter von Agitation bis Zeitgeist. Ein Lexikon zum öffentlichen Sprachgebrauch, Berlin & New York 1989, S. 285 und Eitz & Stötzel, S. 347 f. 40  Ebd., S. 354. 41  Wengeler, Die Sprache der Aufrüstung, S. 277 f. 42  Zit. nach Bundestagsprotokoll vom 15.06.1983, S. 755. 43  Wengeler, Die Sprache der Aufrüstung, S. 278. 44  Hermann Scheer (SPD), zit. nach Bundestagsprotokoll vom 15.06.1983, S. 764; vgl. zu weiteren Reaktionen Eitz & Stötzel, S. 356 ff. 45  Vgl. dazu Eitz & ­Stötzel 2009, S. 360 ff.

im Zuge der Debatten um Wiederbewaffnung und eine neue Armee mit der Diffamierung und Pejorisierung des Ausdrucks Pazifismus aufzubrechen versucht. Durch so genannte spezifische Kontextualisierung38, sprich durch negative Adjektivattribute zum Nomen Pazifismus oder abwertende Nomen zum Adjektiv pazifistisch wie illusionärer, zersetzender oder aggressiver Pazifismus sowie pazifistische Sekte und pazifistisches Gequackele wurde Pazifismus in Richtung Stigmawort entwertet, das es in der NS-Zeit natürlich auch schon gewesen war.39 »Erst Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre wurde der Ausdruck Pazifismus wieder brisant«40, in einer Zeit also, als gegen den sogenannten NATO-Doppelbeschluss von 1979 und die sogenannte Nachrüstung eine außerparlamentarische Oppositionsbewegung entstand, durch die das Thema Aufrüstung/Krieg und Frieden über Jahre hinweg ganz oben auf die öffentliche Agenda gelangte und in der es dieser Bewegung mit ihrer Namengebung als Friedensbewegung gelang, sich als diejenigen darzustellen, die »für den Frieden« die richtigen politischen Positionen (eben vor allem gegen die Nachrüstung) einnehmen. In diesem Zusammenhang gelang es ihr auch, den »Ausdruck Pazifismus wieder positiv verwendbar zu machen und der Diffamierung der damit verbundenen Einstellungen erfolgreich entgegenzutreten«.41 Den Höhe­punkt der Auseinandersetzung um den Ausdruck Pazifismus stellte in diesen Jahren der Diffamierungsversuch des Wortes im Bundestag durch den CDU-Generalsekretär Heiner Geißler dar, der am 15. Juni 1983 den berüchtigten Satz sagte, dass »der Pazifismus der 30er Jahre […] Auschwitz erst möglich gemacht« habe.42 Die anschließende Verteidigung des Ausdrucks wie des Konzepts durch FDP- und SPD-Politiker:innen zeigt indes, »daß im Gefolge der Friedensbewegung Pazifismus als Stigmawort kaum noch verwendet werden konnte«43: »[…] ich sage, daß es diesem Lande gutgetan hätte, wenn es in früheren Jahrzehnten mehr Pazifisten als Nazis und Militaristen in Deutschland gegeben hätte«44, ist eine dieser Reaktionen. Im Zusammenhang des Ukrainekriegs ist (siehe oben) die Stigmatisierung des Ausdrucks allerdings wieder hoffähig. Eine weitere Phase der Diskussion um Pazifismus stellen nach dem Kalten Krieg die Debatten um out-of-area-Einsätze der Bundeswehr vor allem in den 1990er Jahren dar,45 in denen auch der Gegenbegriff Bellizismus Martin Wengeler  —  Politische Schlagwörter

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(1991) geprägt wurde: »Durch die Debatten um den ersten Golfkrieg (17.1. bis 28.2.1991)«46 und durch die Auseinandersetzungen um Einsätze der Bundeswehr vor allem in Ex-Jugoslawien »nahm das diffamierende Potenzial des Ausdrucks Pazifismus wieder zu.«47 Bezüglich der Haltungen zu deutschen Beteiligungen am Golfkrieg gegen Saddam Husseins Irak, den Kriegen in Bosnien und im Kosovo sowie den Reaktionen auf die 9/11-Anschläge wurde besonders in der Partei Bündnis 90/Die Grünen über Pazifismus diskutiert. Der Ausdruck wurde mit den bewährten sprachlichen Mitteln abgewertet und auch neu definiert,48 woraus wiederum der Vorwurf des Etikettenschwindels resultierte: Fundamentalistischer Gesinnungspazifismus, reiner Pazifismus, Radikalpazifismus, Pazifismus-Nostal­giker sind solche Mittel, das Wort wieder zum Stigmawort werden zu lassen. Pragmatischer und politischer Pazifismus dagegen sind Versuche, nicht nur das Wort, sondern auch die Idee des Pazifismus zu retten und dabei doch Gewalteinsatz zu rechtfertigen, wozu vor allem Joschka Fischers wiederholtes Diktum »Nie wieder Krieg, aber auch nie wieder Auschwitz« einen legitimatorischen Beitrag leistete. Die taz resümierte 2002 die Debatten bei den Grünen, dass sie sich »in einem quälenden Prozess« von der »Gewaltfreiheit und dem Pazifismus der Gründerjahre […] verabschiedet«49 hätten. Dass dies wohl der Fall ist, zeigen wiederum die aktuellen Diskussionen um Waffenlieferungen in die Ukraine, bei denen GrünenPolitiker:innen sich zum Teil mit radikaleren Vorschlägen, als sie von der SPD kommen, von diesen Konzepten der Gründerjahre abheben und der

46  Es war der zweite ­ Golfkrieg, da bei dieser Zählung der Iran-/Irak-Krieg der 1980er Jahre übersehen wird. 47  Eitz & Stötzel, S. 360.

Ausdruck selbst wieder stigmatisiert wird.50 Es wird interessant bleiben, welche Rolle die beiden ausgewählten Bezeichnungen in den kommenden Debatten um Aufrüstung, Waffenlieferungen und Militäreinsätze spielen werden und was die Diskussionen um diese Ausdrücke über die gesellschaftlich verbreiteten Denkweisen aussagen. Diese zu erforschen, ist das Ziel einer sprach- und begriffsgeschichtlich ausgerichteten diskurslinguistischen Erforschung politischer Schlagwörter, die mit den beiden Beispielen hier nur kurz angerissen werden konnte und die, wie eingangs kurz begründet, das Modewort Framing nicht benötigt. Prof. Dr. Martin Wengeler ist Professor für Germanistische Linguistik an der Universität Trier. In Forschung und Lehre beschäftigt er sich insbesondere mit der deutschen Sprachgeschichte nach 1945, politischer Sprache, Argumentationsanalyse, Sprachkritik und Diskurslinguistik. Seit Juni 2022 ist er Sprecher der DFG-Forschungsgruppe »Kontroverse Diskurse. Sprachgeschichte als Zeitgeschichte seit 1990«.

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48  Vgl. dazu ebd., S. 360 ff. 49  taz, 18.03.2002, zit. nach ebd., S. 364. 50  Einen aktuellen Versuch, dem entgegenzutreten, stellt die moralphilosophische Rechtfertigung eines verantwortungsethischen Pazifismus von Olaf Müller dar: Olaf Müller, Pazifismus. Eine Verteidigungsrede, Stuttgart 2022.

KONNEKTIVER ZYNISMUS WIE GRENZÜBERSCHREITENDER HUMOR IN DEN SOZIALEN MEDIEN DIE DEMOKRATIE DESTABILISIERT Ξ  Fabian Schäfer

Wir leben in einem Zeitalter des Zynismus.1 Wir wissen, dass unsere Smartphones unter fragwürdigen Bedingungen in China hergestellt werden; wir steigen in Flugzeuge, obwohl wir uns im Klaren darüber sind, dass die Emissionen zur Klimaerwärmung beitragen; und wir nutzen täglich soziale Medien, ohne uns jemals die Nutzungsbedingungen durchgelesen zu haben. Peter Sloterdijk hat diese moderne zynische Haltung als »aufgeklärt falsches Bewusstsein« bezeichnet, also als »modernisiertes unglückliches Bewusstsein, an dem Aufklärung zugleich erfolgreich und vergeblich gearbeitet hat«.2 Der Religionsphilosoph Klaus Heinrich beschreibt Zynismus als das »Abschieben einer Erkenntnis um einer Selbstbehauptung willen«, als »Ausdruck einer stummen, wissenden Indifferenz.«3 Zyniker:innen sind demnach Menschen, die sich über die Konsequenzen ihres Handelns im Klaren sind, aber dennoch weiterhin handeln, wie sie handeln – und zwar aus höchst eigennützigen Motiven. POLITIK IM ZEITALTER DES ZYNISMUS 1  Dieser Aufsatz basiert in Auszügen auf meiner gleichnamigen Monografie mit dem Titel Konnektiver Zynismus. Politik und Kultur im digitalen Zeitalter, Bielefeld 2023. Peter Sloterdijk, ­Kritik der zynischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1983, S. 37.

2 

3  Klaus Heinrich, Parmenides und Jona. Vier Studien über das Verhältnis von Philosophie und Mythologie, Basel 1982, S. 147, 155. 4  Harald Fricke u. a. (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. III, Berlin 1997, S. 901–902.

Auch in der Politik hat diese zynische Haltung Fuß gefasst. Sie drückt sich aus in einer »Distanz bei gleichzeitiger Zustimmung gegenüber herrschenden Machtverhältnissen«.4 Politischen Zyniker:innen geht es nicht um die Abschaffung der freiheitlich demokratischen Ordnung. Vielmehr widersetzen sie sich zwar für alle sichtbar der herrschenden Ordnung und den geltenden Moralvorstellungen, brauchen diese aber paradoxerweise auch, weil es sonst ja nichts gäbe, wogegen sie sich auflehnen könnten. Mit anderen Worten: Sie benötigen ein äußeres Moralsystem, um von innen heraus dagegen anstürmen zu können. Diese Mixtur aus eigennütziger Selbstbehauptung und gleichzeitiger Ablehnung staatlicher Institutionen hat sich während der Coronapandemie ganz besonders deutlich gezeigt und ihren Ausdruck in einer grundlegenden Skepsis gegenüber wissenschaftlichen, politischen und journalistischen Institutionen gefunden. Zumeist verbargen sich hinter dieser zynischen Einstellung keine ideologischen, sondern individualistische

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und egozentrische Beweggründe, die sich in einem radikalisierten Widerstand gegen eine als unangemessen empfundene Einschränkung der persönlichen Freiheit entladen haben. Diese Menschen sind nicht unbedingt unglücklich darüber, in einem demokratischen System zu leben, fühlen sich aber als Angehörige einer selbst ernannten Minderheit durch dieses System nicht hinreichend repräsentiert und somit benachteiligt. Besonders auffallend an diesem Verhalten ist, dass es oft mit einem äußerst aggressiven Kommunikationsgebaren in den sozialen Medien einhergeht. Dass die sozialen Medien den Resonanzraum für den modernen Zynismus so drastisch erweitert haben, liegt vor allem an ihrer besonderen Funktionsweise. Denn unter den Bedingungen der Aufmerksamkeitsökonomie lässt sich zynisches Verhalten dort nicht nur besonders einfach monetarisieren, sondern auch sehr effektiv in der politischen Kommunikation einsetzen. Während der Pandemie hat sich ein Phänomen wie unter dem Brennglas offenbart, das bereits viel früher entstanden ist. In diesem Essay geht es darum, die Entstehung von bestimmten Spielarten des kulturellen und politischen Zynismus (grenzüberschreitender Humor und Rechtspopulismus) in einem direkten Zusammenhang mit den durch die sozialen Medien geschaffenen technosozialen Bedingungen zu betrachten. Dieses Zusammenspiel erfasse ich mit dem Begriff des »konnektiven Zynismus«. POLITISCHER ZYNISMUS: RECHTSPOPULISTISCHE METAPOLITIK Im Feld des Politischen zeigt sich die enge Verbindung von Zynismus und sozialen Medien am deutlichsten am Aufstieg des Rechtspopulismus. Die Tatsache, dass der politische Erfolg von Donald Trump oder Jair Bolsonaro ohne den strategischen Einsatz von Twitter oder Facebook nicht möglich gewesen wäre, gilt inzwischen als Gemeinplatz. Mit dem Begriff des konnektiven Zynismus gehe ich jedoch einen Schritt weiter. Denn in Wirklichkeit ist die enge Verbindung von Medientechnologie und zynischer Politik eine symbiotische. Rechtspopulist:innen nutzen die sozialen Medien nicht nur besonders geschickt, sondern die sozialen Medien bevorteilen den auf Affekte und Tabubrüche abzielenden Rechtspopulismus. Zynismus und Rechtspopulismus sind sozusagen der »Default-Modus« der sozialen Medien. Sie sind tief in den Code der Plattformen eingeschrieben, weil »die werkseitig installierten Mechanismen der Plattformen sich […] in genuiner Weise für rechte und mikrologische Agitation« eignen.5 Die Neue Rechte ist sich dieser Mechanismen bewusst und nutzt sie für ihre Diskursstrategie, die sie selbst als »Metapolitik« bezeichnet. Damit ist eine langfristige Strategie gemeint, durch die extreme Standpunkte

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5  Simon Strick, Rechte Gefühle. Affekte und Strategien des digitalen Faschismus, Bielefeld 2021, S. 71.

zunächst im »vorpolitischen« Feld der Alltagssprache und -kultur verbreitet werden sollen, um so mittels einer Transformation der Sprache neurechte Standpunkte im allgemeinen Diskurs zu »normalisieren«.6 Ziel dieser Strategie ist die Verschiebung der Grenze des öffentlich Sagbaren nach rechts. In der Rhetorik der AfD finden sich zahlreiche Belege für dieses Vorgehen. Ein besonders infames Beispiel ist Björn Höckes Bezeichnung des Berliner Holocaust-Mahnmals im Januar 2017 als »Denkmal der Schande«. Die anschließende mediale und politische Empörung war vorprogrammiert, und die darauf folgenden Schritte des Thüringer AfD-Landesvorsitzenden haben metapolitischen Handbuchcharakter. Zunächst relativierte Höcke seine Aussage in einer Pressemitteilung. Er behauptete, dass er selbstverständlich den während des Nationalsozialismus verübten Völkermord an den Juden als »Schande« verstanden wissen wolle und nicht das Mahnmal selbst. Höckes Formulierung war indes von Anfang an bewusst zweideutig formuliert, weil die Wendung vom »Mahnmal der Schande« sowohl als genitivus objectivus (das Denkmal erinnert an die Schande) als auch als genitivus explicativus (das Denkmal ist schändlich) verstanden werden kann.7 Bei seinem vermeintlich einordnenden Statement ging es also keineswegs um eine Entschuldigung; die einkalkulierte anschließende Skandalisierung dieses unglaubwürdigen Erklärungsversuchs in der Politik und den Medien sollte vor allem die Aufmerksamkeitsmaschine am Laufen halten. Durch die ambige Form seiner Aussage konnte Höcke davon ausgehen, dass seine Formulierung in der Medienöffentlichkeit den erwünschten Skandal hervorrufen würde. Zudem erreichte seine über die sozialen Medien weiterverbreitete zynische Rede mitsamt ihrem geschichtsrevisionistischen Grundton auch die eigene politische Basis. Hieran zeigt sich, dass rechtspopulistische und neurechte Akteur:innen in der Regel 6  Vgl. Ruth Wodak, Politik mit der Angst. Zur Wirkung rechtspopulistischer Diskurse, Wien & Hamburg 2016, S. 147–148. 7  Vgl. Heinrich Detering, Was heißt hier »wir«? Zur Rhetorik der parlamentarischen Rechten, Stuttgart 2019, S. 27. 8  Enno Stahl, Die Sprache der Neuen Rechten. Populistische Rhetorik und Strategien, Stuttgart 2019, S. 135.

in zwei Richtungen gleichzeitig kommunizieren, nämlich bewusst »trialogisch«8 bzw. genauer gesagt: doppelt monologisch. Einerseits sollen mit einer absichtlich gewählten sprachlichen Grenzüberschreitung Aufmerksamkeit in den sozialen Medien und Empörung in den Massenmedien erzeugt werden. Andererseits soll in öffentlichen Debatten niemals nur das anwesende Gegenüber angesprochen werden (was rechtspopulistische Politiker:innen zu schwer integrierbaren Talkshowgästen macht), sondern durch die bloße Nennung bekannter metapolitischer Chiffren und Codes (z. B. der »Große Austausch« bzw. »Bevölkerungsaustausch«) oder bewusst mehrdeutig gehaltene Formulierungen auch die eigene Fabian Schäfer  —  Konnektiver Zynismus

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Basis in der Semi-Öffentlichkeit der sozialen Medien in ihren ideologischen Einstellungen bestätigt werden. Dabei handelt es sich um eine die Gepflogenheiten des politischen Diskurses bewusst zersetzende zynische Strategie, die auch als dog whistling bezeichnet wird, weil diese Chiffren und Codes ebenso wie der hochfrequente Ton einer Hundepfeife nur für Eingeweihte zu verstehen sind. Es kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu. Aufgrund der bewussten Ambiguität seiner Aussage kann Höcke zudem im Nachhinein behaupten, lediglich falsch verstanden worden zu sein. Das wiederum erlaubt es ihm, sich vor der eigenen Basis zum Opfer eines voreingenommenen medialen und politischen Systems zu stilisieren. Auf diese Weise gelingt es ­Höcke, sich selbst »als anti-totalitär und dissidentisch« zu inszenieren; sein bewusst zynisches Handeln erscheint so wie ein »Akt notwendiger und berauschender Selbstermächtigung«.9 An der metapolitischen Strategie Höckes zeigt sich, dass es bei der Kommunikationsstrategie der Neuen Rechten selten um die Sache an sich geht. Das Langzeitziel dieser zynischen Diskursstrategie ist vor allem die Destabilisierung der politischen, journalistischen und wissenschaftlichen Institutionen, was auf längere Sicht einen strategischen Vorteil verschaffen soll.

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Strick, S. 131.

KULTURELLER ZYNISMUS: GRENZÜBERSCHREITENDER HUMOR Kulturell zeigt sich der konnektive Zynismus an der Ausbreitung eines immer unverhohlener vorgetragenen misogynen, rassistischen, antisemitischen und islamfeindlichen Humors. Die aus Österreich stammende Kabarettistin und Poetry-Slammerin Lisa Eckhart ist ein gutes Beispiel für diese Form des zynischen Humors. Ihre antisemitischen Tabubrüche im öffentlich-rechtlichen Fernsehen (2018 im WDR und 2021 im ORF) haben die öffentliche Debatte um die Grenzen der Kunstfreiheit und den Vorwurf der Cancel Culture im deutschsprachigen Raum erst so richtig angeheizt. Für Eckhart dürfte die konnektive Nachverwertung ihrer Auftritte in den sozialen Medien eine nicht unerhebliche Einnahmequelle sein – das Video des im ORF ausgestrahlten Auftritts wurde auf ihrem persönlichen YouTube-Kanal bereits mehr als 1,4 Millionen Mal angeschaut (Stand: Januar 2023). Der Journalist Hardy Funk zieht aus der Perspektive des konnektiven 10  Vgl. Hardy Funk, Lisa Eckhart. Huch, ich hab’ schon wieder einen antisemitischen Witz gemacht, in: BR KulturBühne, 12.11.2021, tinyurl.com/indes231f1.

Zynismus eine aufschlussreiche Parallele zwischen Eckharts Humor und der metapolitischen Diskursstrategie der AfD.10 Auch wenn Eckhart sich von der rechtspopulistischen Partei, die versucht hatte, sie für ihre Zwecke einzuspannen, öffentlich distanziert hat, trage sie zur Normalisierung Fabian Schäfer  —  Konnektiver Zynismus

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antisemitischer Ressentiments bei. Das liege daran, dass ihr »Witz keinen größeren Kontext und nicht die Spur eines doppelten Bodens hat«. Warum nicht? Es gebe keine den Witz brechende Kunstfigur, denn Eckhart spiele nur sich selbst – eine sich »ambivalent gebende, aber doch allzu leicht durchschaubare rechtspopulistische Komikerin«, die den »Judenwitz nicht persiflierend« nachahme, sondern diesen schlicht wiederhole – »und damit das antisemitische Klischee«.11 Zynische Wiederholung statt ironischer Demaskierung, das entspricht exakt der Logik und dem in den sozialen Medien grassierenden grenzüberschreitenden Humor. Auch dort darf sich unter den Bedingungen der Aufmerksamkeitsökonomie eine verbale Grenzüberschreitung nicht bloß wiederholen; vielmehr muss jeder neue Witz den vorausgegangenen in seiner Krassheit idealerweise gar überbieten, um überhaupt noch wahrgenommen zu werden. Ein weiteres Moment des Erfolgs des Eckhartʼschen Humors ist das antagonistische Lachen über andere, das im Gegensatz zum s­ elbstironischen Lachen oder dem gemeinsamen Lachen über die eigene Gruppe steht. Das herabsetzende Auslachen von Schwächeren und Minderheiten hat selbstverständlich auch eine politische Dimension. Die Medienaktivistin danah boyd bezeichnet diese Strategie als »weaponization« von Humor, als die Verwendung von Humor als Waffe, durch die sich »Kommunikationsstrukturen und Weltanschauungen anderer fundamental destabilisieren« lassen.12 Gerade deshalb gehören als Witz getarnte verbale Beleidigungen und Internet-Memes auch zum diskursiven Waffenarsenal neurechter und rechtspopulistischer Diskursstrategien.13 PHATISCHE KOMMUNIKATION IN DEN SOZIALEN MEDIEN Die sozialen Medien haben nicht nur zur Verbreitung des zynischen Humors und zum Aufstieg des Rechtspopulismus einen entscheidenden Beitrag geleistet, sie haben auch ermöglicht, dass kulturelle und politische Zynismen sich konnektiv miteinander verbinden und gegenseitig verstärken konnten. Anders als offene Systeme, wie das HTML-basierte World Wide Web, schreiben geschlossene Plattformen wie die sozialen Medien den Nutzer:innen eine sehr effektive, aber auch stark eingeschränkte Verwendung vor. In der Medientheorie bezeichnet man dies als Affordanz, was sich am besten mit »Angebotscharakter« übersetzen lässt. Wie die Bezeichnung soziale Medien schon besagt, besteht deren Affordanz in der vereinfachten Anbahnung und Aufrechterhaltung von Sozialkontakten. Das soziale Netzwerk, das dieses Angebot mit dem größten Erfolg bereitstellt,

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Ebd.

12  danah boyd, You Think You Want Media Literacy … Do You?, in: Data & Society, 09.03.2018, tinyurl.com/indes231f2. 13  Vgl. Strick; Joachim Scharloth, Hässliche Wörter. Hatespeech als Prinzip der neuen Rechten, Berlin 2021.

dürfte mit knapp drei Milliarden Nutzer:innen weltweit wohl Facebook sein (Stand: Januar 2023). Zentrales Charakteristikum der Affordanz sozialer Medien ist wiederum, dass ein sehr großer Teil der Interaktionen nicht verbal-kommunikativ stattfindet, sondern phatisch-konnektiv. Phatisch meint hier in Anlehnung an den Anthropologen Bronisław Malinowski eine sehr basale Form des Kontakts, die ein Gefühl der Gemeinschaftszugehörigkeit (communion) und eine parasoziale Verbundenheit (»Konnektivität«) erzeugt und aufrechterhält.14 Das gegenseitige Grüßen im öffentlichen Raum ist ein gutes analoges Beispiel für die phatische Kommunikation, weil dessen Zweck einzig und allein darin besteht, dem Gegenüber zu signalisieren, dass man nach wie vor im Kontakt miteinander steht. Der Clou an sozialen Medien ist nun, dass sie das Phatische zu einem zentralen technologischen Element der Plattformarchitektur gemacht haben. Auf Facebook oder Twitter konstituiert sich Kommunikation größtenteils anhand phatischer Operatoren wie Gefällt-mir-Buttons, @-Zeichen, Hashtags, Retweets oder Weiterleitungen, durch die sich mit einem einfachen Klick oder der Verwendung eines Symbols ein konnektiver Kommunikationsakt ausführen lässt. Den Gebrauch dieser phatischen Operatoren in den sozialen Medien hat ein Großteil der Gesellschaft inzwischen genauso habitualisiert wie das von Malinowski beschriebene wechselseitige Grüßen. In der Allgegenwärtigkeit dieser Art zu kommunizieren dürfte wohl die weitestreichende technosoziale Veränderung zu finden sein, die die sozialen Medien in heutigen Gesellschaften herbeigeführt haben. Diese Affordanz der phatischen Konnektivität in sozialen Medien begünstigt die in den bisherigen Ausführungen zum kulturellen und politischen Zynismus beschriebenen Entwicklungen. Denn sowohl die metapolitische Diskursstrategie als auch der grenzüberschreitende Humor funktionieren vorwiegend phatisch. Flache antisemitische Witze eignen sich perfekt für einen mit den sozialen Medien monetarisierbaren Skandal (das zeigt das Beispiel Eckhart sehr deutlich), und auch auf sprachliche und sachliche Vereinfachung und Erregung abzielende rechtspopulistische Aussagen lassen sich mittels der phatischen Konnektivität der Vgl. Bronisław ­Malinkowski, The Problem of Meaning in Primitive Languages, in: Charles K. Ogden & Ivor A. Richards (Hg.), The Meaning of Meaning: A Study of the Influence of Language upon Thought and of the Science of Symbolism, London 1923, S. 296–336.

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sozialen Medien effektiv verstärken. Auch die Verbreitung von diffamierenden Memes und Hashtags oder einschlägiger »kryptofaschistischer« Chiffren und Codes wird durch das – teils durch Bots und Fake Accounts unterstützte – massenhafte Teilen und Retweeten extrem erleichtert. Die konnektive Verwendung von wüsten Beschimpfungen und pejorativen Hashtags erzeugt phatisch ein »emotives und kollektivierendes« Fabian Schäfer  —  Konnektiver Zynismus

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Gefühl von Gemeinschaft und markiert das Gegenüber als Feind.15 Selbst die ursprünglich aus dem PEGIDA-Umfeld stammende, nur auf den ersten Blick harmlos erscheinende Bezeichnung »Frau Merkel« (anstelle von »Kanzlerin Merkel«) erfüllt diese phatische Funktion. Sie ist ein gutes Beispiel für die Normalisierung der sprachlichen Herabsetzung einer Politikerin sowie ihres Amtes durch eine misogyne Strategie, die gleichzeitig das Zugehörigkeitsgefühl zu einer durch das System vermeintlich benachteiligten Gruppe stärkt. Dieses phatisch erzeugte Gefühl, zu einer ausgegrenzten Gruppe zu gehören, dürfte auch bei der Popularität des grenzüberschreitenden Humors eine große Rolle spielen: Hier empfindet man sich als Teil einer Gruppe, die sich von einer als übertrieben empfundenen Political Correctness bevormundet fühlt. KONNEX STATT KONTEXT: DER INFLUENCER ADLERSSON Neben den phatischen Konnektivitäten auf der Ebene des Sprachlichen und der Affordanz der phatischen Operatoren durch die Nutzer:innen selbst stellen zudem auch die sozialen Plattformen algorithmisch Konnektivitäten her. Im Fall von YouTube geschieht dies beispielsweise über Videovorschlagslisten (related videos), die die Nutzer:innen dazu verleiten sollen, so lange wie möglich auf der Plattform zu verweilen. Mittels einer Datenanalyse der inzwischen teilweise gesperrten YouTube-Accounts des Dresdner Influencers Adlersson, der einem bundesweiten Publikum durch den preisgekrönten Dokumentarfilm Lord of the Toys bekannt wurde, konnten Peter Mühleder und ich nachweisen, wie der YouTube-Algorithmus dazu beigetragen hat, dass sich subkultureller Zynismus und politischer Zynismus in den sozialen Medien direkt miteinander verbinden konnten.16 Zum einen belegt unsere Analyse, wie der YouTube-Algorithmus als »Radikalisierungsbeschleuniger« Nutzer:innen aus dem Feld des ideologisch und sprachlich bewusst in der Schwebe gehaltenen Humors Adlerssons zu immer radikalerem Content der neurechten Szene führt.17 Zum anderen zeigt sich an Adlersson, wie Influencer sexistischen, rassistischen und antisemitischen Content auf Plattformen wie YouTube monetarisieren. Adlersson stellt ein anschauliches Beispiel für die zynische Ambiguität eines mit rechten Inhalten spielenden Internethumors dar, der sich aufgrund der Affordanz der sozialen Plattformen zu Geld machen lässt und der, begünstigt durch die algorithmische Konnektivität der sozialen Medien, auch eine gefährliche politische Dimension hat. Die Analyse des Influencers Adlersson offenbart eine entscheidende entgrenzende Dimension der phatischen Konnektivität. In vordigitalen Zeiten

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15  Vgl. Zizi Papacharissi, Affective Publics: Sentiment, Technology, and Politics, Oxford & New York 2015, S. 9, 27. 16  Die Details der Analyse und ihre Ergebnisse sind nachzulesen in: Fabian Schäfer & Peter Mühleder, Konnektiver Zynismus und Neue Rechte. Das Beispiel des YouTubers Adlersson, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, H. 1/2020, S. 130–149. 17  Vgl. dazu auch Julia Ebner, Radikalisierungsmaschinen. Wie Extremisten die neuen Technologien nutzen und uns manipulieren, Berlin 2019.

hatten Pausenclowns wie Adlersson eine sehr begrenzte Reichweite, weil sie ihren grenzüberschreitenden Humor nur in den lokalen Milieus ihres direkten Umfelds entfalten konnten. Die Konnektivität der sozialen Medien sorgt allerdings dafür, dass die engen Grenzen des milieutypischen und grenzüberschreitenden Humors von Kleingruppen jederzeit durchbrochen werden können. Die beiden Kommunikationswissenschaftler:innen Whitney Phillips und Ryan M. Milner beschreiben dies als den durch phatische und algorithmische Konnektivitäten hervorgerufenen Verlust einer für den kollektiv geteilten grenzüberschreitenden Humor eigentlich notwendigen »Spielrahmen« (play frame).18 Waren misogyner oder rassistischer Humor vor der Existenz der sozialen Medien primär der Privatsphäre des Stammtischs oder der Männerumkleide vorbehalten (dem »locker room talk«, wie Trump-Anhänger:innen eine über die sozialen Medien verbreitete sexistische Bemerkung des US-amerikanischen Ex-Präsidenten nachträglich zu rechtfertigen versuchten), erreichen sie durch die Konnektivität der sozialen Medien potenziell eine viel größere Öffentlichkeit. Die Konnektivität der sozialen Medien führt dazu, dass der lokale und inhaltliche Entstehungskontext eines Witzes dekontextualisiert wird. In den sozialen Medien tritt Konnex an die Stelle von Kontext. Ein misogyner oder rassistischer Witz ist ohne die Spielrahmung seines Entstehungskontextes nicht mehr »nur« ein besonders schlechter Witz, sondern eben nur noch misogyn oder rassistisch. Es ist diese entgrenzende und dekontextualisierende Eigenschaft der phatischen Konnektivität der sozialen Medien, die entscheidend zur strategischen oder geflissentlich in Kauf genommenen Normalisierung von radikalen und grenzüberschreitenden Positionen beiträgt. KULTURKAMPF IN DER IDEOLOGISCHEN GRAUZONE Im digitalen Zeitalter hat das Zusammenspiel von kulturellem und politischem Zynismus dazu beigetragen, hart erkämpfte Normen und Werte des kulturellen und politischen Miteinanders in kürzester Zeit zu destabilisieren. Rechtspopulistische Parteien setzen den konnektiven Zynismus strategisch als Instrument im Wahlkampf und zur Mobilisierung ihrer Basis ein, während Influencer:innen und Humorist:innen mithilfe der sozialen Medien ihren zynischen Humor zu Geld machen. Dabei geht es nicht in erster Linie um politische Inhalte oder gelungene Satire, sondern um 18  Vgl. Whitney Phillips & Ryan M. Milner, The Ambivalent Internet: Mischief, Oddity, and Antagonism Online, Cambridge (UK) & Malden (MA) 2017.

die Produktion und Verbreitung von phatischem Content, der monetarisierbar oder strategisch einsetzbar ist. Gerade dadurch, dass der grenzüberschreitende Humor eben nicht explizit rechtsextremistisch ist und die metapolitische Diskursstrategie der Neuen Fabian Schäfer  —  Konnektiver Zynismus

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Rechten den eigenen Extremismus durch mehrdeutige Aussagen bewusst zu verschleiern versucht, können beide ihre große Reichweite entfalten. Der konnektive Zynismus spielt sich also in einem ambigen Feld zwischen ideologischer Radikalität und demokratischer Normalität ab, in einem Feld der bewussten sprachlichen Unschärfen und ideologischen Zwischentöne. Dass der kulturelle und politische Zynismus bereits seine Wirkung in der Mitte der Gesellschaft entfaltet, belegt die Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung.19 Laut dieser repräsentativen Umfrage sei der Anteil der Befragten, die rechtsextreme Positionen teilen, im Vergleich zur vorausgegangenen Mitte-Studie zwar geschrumpft und betrage nur noch 8,9 Prozent (im Vergleich zu 12,1 Prozent). Gleichzeitig sei jedoch das Anwachsen einer gefährlichen ideologischen Grauzone zu beobachten, denn ein immer größerer Anteil der Befragten gebe »teils teils« als Antwort bei Fragen zur ideologischen Einstellung an. Das heißt, sie stimmen rechtsextremen, antisemitischen oder rassistischen Einstellungen zwar nicht zu, lehnen diese aber auch nicht eindeutig ab. Das Anwachsen dieser ideologisch ambigen Grauzone stellt ein erhebliches politisches und kulturelles Problem dar, weil es stark antiaufklärerische und antidemokratische Züge trägt. Während der Coronapandemie hat sich diese Ausdehnung einer ideologischen Grauzone auch in einem drastischen Anstieg von politisch motivierten Straftaten niedergeschlagen, die sich keiner Ideologie eindeutig zuordnen lassen. Laut eines Sonderberichts zu Verschwörungsmythen und »Corona-Leugnern« des Verfassungsschutzes des Landes Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2021 sind diese Straftaten weder rechts- oder links­

19  Vgl. Andreas Zick & Beate Küpper (Hg.), Die geforderte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2020/21, Bonn 2021. 20  Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen, Sonderbericht zu Verschwörungsmythen und »Corona-Leugnern«, Mai 2021, tinyurl.com/indes231f3. 21  Zit. nach Reiner Burger, Extremismus, der in der Mitte Anschluss findet, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.06.2021.

extremistisch noch religiös motiviert.20 Aus Sicht des nordrhein-westfälischen Innenministers Herbert Reul (CDU) ist dies »extrem beunruhigend«, weil sie »keine konkrete Motivation haben, sondern einfach gegen ›den Staat‹, gegen ›die Medien‹ oder gegen ›die Politiker‹« gerichtet seien.21 Diese beiden Beispiele zeigen sehr deutlich, wie wichtig es ist, sich nicht nur mit den extremen Radikalismen einer Gesellschaft auseinanderzusetzen, sondern auch mit diesem expandierenden Feld der kulturellen und politischen Ambiguität. Denn es ist genau dieser Bereich, in dem einerseits ein Kulturkampf tobt und in dem andererseits die Neue Rechte mit ihrer Mobilisierungsstrategie ansetzt. Eine Strategie, die mit bewusst mehrdeutigen politischen Aussagen genauso arbeitet wie mit Schulterschlüssen zum grenzüberschreitenden Humor – und eben nicht mit rechtsradikalen Slogans, die auf die gesellschaftliche Mitte eher abstoßend wirken.

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Prof. Dr. Fabian Schäfer ist Professor für Japanologie an der FAU Erlangen-Nürnberg. Er forscht zur digitalen Transformation der politischen Öffentlichkeit, insbesondere den Themen Social Bots und Hatespeech, sowie zur sprachlichen Normalisierung von neurechten und rechtspopulistischen Diskursen in Japan und Deutschland.

SPRACHE ALS SPALTPILZ SZENEN FLÄMISCH-WALLONISCHER ZERRÜTTUNG Ξ  Christoph Driessen Eine Autofahrt entlang der belgischen Sprachgrenze hat mitunter surrealen Charakter. Binnen Minuten wechseln die Schilder neben der Autobahn. Mal heißt es: »De provincie Vlaams-Brabant heet u welkom.« Dann wieder: »Province du Brabant Wallon«. Wenig später ist man womöglich schon wieder auf flämischem Gebiet und wird erneut entsprechend willkommen geheißen. Manchmal werden sogar einzelne Ortschaften durch die Sprach- und Kulturgrenze in zwei verschiedene Zonen geteilt – dann stehen auf der einen Seite Schilder auf Französisch und gegenüber auf Niederländisch. Als Außenstehender fragt man sich perplex: Wie ist ein solches Sprachwirrwarr möglich? EIN MISSVERSTANDENES LAND Trösten kann man sich damit, dass auch die Belgier selbst ihr Land oft nicht durchschauen. So fielen zahllose Wallonen 2006 auf eine Satire im französischsprachigen belgischen Fernsehen herein, der zufolge das flämische Regionalparlament die Unabhängigkeit Flanderns ausgerufen hatte. Zu sehen waren flämische Nationalisten, die den Grand-Place in Brüssel in Besitz genommen hatten. Obwohl der satirische Charakter der Sendung eigentlich unverkennbar war – unter anderem hieß es, die belgische Regierung habe sich zu Krisenberatungen in die (nicht existierende) unterirdische zehnte Kugel des Atomiums zurückgezogen –, hielten viele Zuschauer das Geschehen für Realität. Nach einer Intervention der Medienministerin der französischsprachigen Gemeinschaft wurde nach einer halben Stunde der Vermerk »ceci est une fiction« eingeblendet.1 Die TV-Satire führte der ganzen Nation die Selbstisolierung der beiden Sprachgemeinschaften eindringlich vor Augen. Denn dass es bei der Sendung nicht mit rechten Dingen zuging, hätte man allein durch Umschalten auf das niederländischsprachige Programm herausfinden können. Dort war nichts dergleichen zu sehen, obwohl ja die Flamen gerade einen eigenen Staat gegründet haben sollten. Das Umschalten erfolgte 1 

Vgl. Christoph Driessen, Geschichte Belgiens. Die gespaltene Nation, ­Regensburg 2020, S. 218.

aber eben nicht, weil gerade die Wallonen völlig in ihrer eigenen Welt leben und des Niederländischen meist gar nicht oder nur sehr rudimentär mächtig sind. Im Schuljahr 2020/21 wählte ein Drittel aller wallonischen

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Schüler an der weiterführenden Schule Niederländisch, knapp sieben Prozentpunkte weniger als 2019/20. Vom Schuljahr 2027/28 an soll Niederländisch allerdings in ganz Wallonien Pflichtfach werden, so wie jetzt bereits in Brüssel. An den flämischen Schulen ist Französisch ein Pflichtfach. Allerdings beklagen Hochschuldozenten hier gleichfalls eine Verschlechterung der Sprachkenntnisse, weil den Schülerinnen und Schülern im Alltag praktisch kein Französisch mehr begegne, völlig anders als früher, als zum  Beispiel französischsprachige Zeitungen in Flandern überall verfügbar waren. Beide Bevölkerungsgruppen beziehen einen Gutteil ihrer Identität aus dem Gegensatz zur anderen. Zahllose Ärgernisse, Anekdoten und Mythen ranken sich um das Verhältnis. So erzählte man sich zeitweise in Flandern, es gäbe dort 1400 Radarfallen, in Wallonien aber nur ganze fünfzehn. Da die Bußgelder aber in den gesamtbelgischen Steuertopf kämen, würden hier wieder einmal die fleißigen Flamen die schmarotzerischen Wallonen subventionieren.  Belgien ist dem Rest der Welt ein Rätsel, und der Nachbar Deutschland bildet da keine Ausnahme. In der Zeitung liest man nur selten etwas über belgische Politik, und wenn, dann ist es oft fehlerhaft. So beschrieb der Spiegel Belgien 2016 als »dieses künstliche Gebilde, das irgendwann im 19. Jahrhundert aus einem Betriebsunfall der Geschichte entstanden ist, aus einer Rangelei großer Mächte. […] Ein Gebilde, das optimistisch zusammenfügte, was ohne gemeinsame Geschichte war: das flämische Flandern, das frankophone Wallonien und Ostbelgien, in dem 76 000 Menschen Deutsch sprechen«.2 An diesem Text stimmt nichts. Belgien entstand nicht aus einer Rangelei der Großmächte, sondern aus der belgischen Revolution von 1830/31, und die beiden Landesteile Flandern und Wallonien verband zu diesem Zeitpunkt bereits eine jahrhundertelange gemeinsame Geschichte. Das deutschsprachige Ostbelgien wiederum gab es 1830 noch nicht: Dieses Gebiet gehörte zum Königreich Preußen und kam erst nach dem Ersten Weltkrieg zu Belgien. EIN URALTER STREIT Die Wurzeln des belgischen Sprachenstreits reichen unvorstellbar tief in die Geschichte zurück. Asterix-Leser wissen, dass Julius Cäsar die Belgier – der wirkliche Cäsar sprach von Belgern – als die tapfersten aller gallischen Stämme beschrieb.3 Das Siedlungsgebiet der Belger erstreckte sich zu Cäsars Zeit (100 bis 44 v. Chr.) in etwa von der Seine bis zum Rhein. Von 58 bis 50 v. Chr. Christus unterwarf Cäsar bekanntlich ganz Gallien einschließlich der von den Belgern bewohnten Gebiete und verleibte es

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2  Melanie Amann u. a., ­Nagelbomben an Gate B, in: Der Spiegel, 25.03.2016, tinyurl.com/indes231g1, S. 91. 3  Zur Entstehung des Sprachenstreits vgl. Driessen, S. 11 ff.

dem Römischen Imperium ein. In der Folge übernahmen die Gallier weitgehend die römische Lebensform mit allem, was dazugehörte. Im späteren Belgien und den nördlich davon gelegenen späteren Niederlanden war die gallo-römische Kultur allerdings weniger ausgeprägt als im Gebiet des heutigen Frankreich. Dort verbreitete sich im Laufe der Zeit ein keltisch und germanisch beeinflusstes Vulgärlatein, aus dem sich das Französische entwickeln sollte. Die Sprachgrenze verlief ungefähr entlang der römischen Heerstraße Via Belgica, die die Stadt Colonia Claudia Ara Agrippinensium – das heutige Köln – mit Gesoriacum – dem heutigen Boulogne-sur-Mer am Ärmelkanal – verband. Südlich davon wurde vor allem Vulgärlatein gesprochen, nördlich davon viel weniger. Das Faszinierende ist: Ungefähr entlang dieser Linie verläuft noch heute die belgische Sprachgrenze. Im fünften Jahrhundert verstärkte sich diese Entwicklung, als die germanischen Franken Gallien zwar eroberten, ihre Sprache dort aber nicht durchsetzten. Vielmehr übernahmen sie umgekehrt das prestigeträchtige Vulgärlatein. Nur ganz im Norden Galliens, im heutigen Flandern, schoben die Franken die germanische Sprachgrenze in das eroberte Gebiet vor, weil sich die gallo-römische Kultur dort nie so stark ausgebreitet hatte wie im Süden. Auch im Mittelalter lag das Gebiet des heutigen Belgien auf der Schnittstelle der Kulturen. So besaß die Grafschaft Flandern eine geteilte Lehnshoheit: Der größere, westlich gelegene Teil unterstand der französischen Krone und hieß deshalb Kron-Flandern. Der kleinere Teil östlich des Flusses Schelde gelegene Teil, das sogenannte Reichsflandern, gehörte zum Heiligen Römischen Reich. Schon damals wurde auf diesem Territorium sowohl Niederländisch als auch Französisch gesprochen. Dass im heutigen Belgien Flamen und Walonen in einem Staat zusammenleben, ist also nichts »Unnatürliches« oder »Künstliches«, wie immer wieder behauptet wird – nicht zuletzt von flämischen Nationalisten und Rechtsextremisten –, sondern vielmehr das hervorstechendste Merkmal dieser Region seit frühesten Tagen. GESCHICHTE WIRD INSTRUMENTALISIERT Die flämischen Nationalisten verzerren diese Geschichte heute bewusst. So ist der offizielle Feiertag von Flandern seit 1973 der 11. Juli, der Jahrestag der Schlacht der Goldenen Sporen von 1302. In dieser Schlacht hatten aufständische flämische Bauern ein Ritterheer des französischen Königs vernichtend geschlagen. Dem heutigen Narrativ zufolge stellten sich damals niederländischsprachige Flamen der französischen Fremdherrschaft Christoph Driessen  —  Sprache als Spaltpilz

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entgegen. In Wahrheit waren die Fronten weit weniger übersichtlich: Keineswegs alle Flamen waren Feinde des französischen Königs – die großen Patrizierfamilien in Brügge und Gent unterstützten ihn. Umgekehrt kämpften auch französischsprachige Flamen gegen Frankreich. Ursache des Konflikts war ein Feudalstreit zwischen dem König von Frankreich und dem Grafen von Flandern, der aber kein Niederländisch sprach, sondern Französisch. Hinzu kamen soziale Auseinandersetzungen innerhalb der flandrischen Städte. Fragen von Sprache und Nation spielten eine untergeordnete Rolle. Als staatliche Einheit bildete sich das heutige Belgien im 16. Jahrhundert heraus. Es unterstand jedoch immer einem fernen Landesherrn, zunächst für lange Zeit dem König von Spanien, dann dem Kaiser in Wien, dann Napoleon, dann dem König der Niederlande.4 Von ihm befreiten sich die Belgier 1830/31 in einer Revolution, die vom Brüsseler Großbürgertum angeführt wurde. Das Königreich, das nun auf der Landkarte entstand, war der liberalste Staat Kontinentaleuropas mit einer äußerst fortschrittlichen Verfassung, in der sehr viel von Rechten und sehr wenig von Pflichten die Rede war. Zudem war Belgien das erste industrialisierte Land Kontinentaleuropas. Der Umstand, dass sich die belgischen Industriegebiete alle im Süden befanden, führte zu einem starken Übergewicht Walloniens. Das agrarisch geprägte Flandern stand für Armut und Rückständigkeit. So konnte man leicht übersehen, dass die Mehrheit der Belgier niederländischsprachige Flamen waren. Auch in Brüssel dominierte bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts das Niederländische. Der belgische Staat allerdings kannte nur Französisch. Der König, das Parlament, die Regierung, die Behörden, die Gerichte, die Universitäten und höheren Schulen:  Alle sprachen ausschließlich Französisch. Die Regierenden erkannten für Belgien noch nicht einmal die Existenz des Niederländischen an: Ihrer Meinung nach wurde in der Nordhälfte des Landes lediglich eine Reihe stark variierender flämischer Dialekte gesprochen. DIE UNTERDRÜCKUNG DER FLAMEN Gegen diese Haltung regte sich bald Widerstand. Flamen, die im Vereinigten Königreich der Niederlande aufgewachsen waren und sich aus dieser Zeit eine Wertschätzung für ihre Muttersprache bewahrt hatten, strebten nach Anerkennung des Niederländischen als vollwertiger Kultursprache. Diese sogenannten Flaminganten konzentrierten sich zunächst darauf, die flämischen Dialekte zugunsten des Niederländischen, so wie

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4  Zur Geschichte Belgiens innerhalb des niederländischen Raums vgl. Johan C. H. Blom & Emiel Lamberts (Hg.), History of the Low Countries, New York 2006.

es in den nördlichen Niederlanden gesprochen wurde, zurückzudrängen. In den 1840er Jahren erhoben sie dann erstmals sprachpolitische Forderungen. Dazu gehörte die Einführung des Niederländischen in der Verwaltung, in Gerichtsprozessen und an weiterführenden Schulen. Die Regierung lehnte dies hochmütig ab. Dies muss als der Kardinalfehler des belgischen Staates betrachtet werden. Erst die Ausweitung des Wahlrechts in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der allmählich auch in Flandern einsetzende Wirtschaftsaufschwung führten dazu, dass die Brüsseler Politiker die Flamen schließlich nicht mehr ignorieren konnten. 1873 wurde Niederländisch als Gerichtssprache zugelassen, 1878 als Verwaltungssprache, und ab 1883 konnten einige Fächer an weiterführenden Schulen auf Niederländisch unterrichtet werden. Es dauerte aber noch bis 1898, ehe das Parlament Niederländisch als gleichberechtigte Amtssprache anerkannte. Von diesem Punkt an hätte sich Belgien zu einem wirklich zweisprachigen Land entwickeln können. Da es die Französischsprachler aber schlichtweg ablehnten, sich in irgendeiner Weise für die »minderwertige« Sprache des Nordens zu interessieren, setzten auch die Flamen zunehmend auf Abgrenzung. Waren die Flaminganten bis dahin für Zweisprachigkeit eingetreten, so verlangten sie nun ein rein niederländischsprachiges Flandern. Schon 1912 schrieb deshalb der wallonische Sozialist Jules Destrée in einem berühmt gewordenen Brief an König Albert: »Sire, Sie regieren über zwei Völker. In Belgien gibt es Flamen und Wallonen; es gibt keine Belgier.«5 In Deutschland ist weitgehend unbekannt, dass die erste adminis­ trative Teilung Belgiens in ein niederländischsprachiges Flandern und ein französischsprachiges Wallonien von der deutschen Besatzungsmacht im Ersten Weltkrieg vorgenommen wurde. Dieser Schritt ging direkt auf Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg zurück.6 Dieser hatte schon relativ früh erkannt, dass Deutschland den Krieg nicht mehr würde gewinnen können. Er ging deshalb auch nicht davon aus, dass Deutschland das in den ersten Kriegswochen eroberte Belgien würde behalten können. Stattdessen setzte er darauf, die Spaltung zu vertiefen. Er erfüllte sprachpolitische Forderungen, die seit Langem erfolglos von den Flamen erhoben worden waren, weil er darauf hoffte, sie auf diese Weise an das Deutsche Reich binden zu können. Auch im Zweiten Weltkrieg verschärften die deutschen Besatzer die Spannungen zwischen beiden Be5  Zit. nach Driessen, S. 120. 6  Vgl. ebd., S. 160 ff.

völkerungsgruppen durch eine Besserbehandlung der Flamen. Dies war einer der Gründe dafür, warum der Widerstand in Wallonien und Brüssel wesentlich stärker ausfiel als in Flandern. Christoph Driessen  —  Sprache als Spaltpilz

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ABGRENZUNG DER SPRACHGEMEINSCHAFTEN Nach dem Zweiten Weltkrieg grenzten sich beide Bevölkerungsgruppen mehr und mehr voneinander ab und arbeiteten nur noch dort zusammen, wo es unerlässlich war. Gleichzeitig entwickelten sie aber auch Strukturen, die eine friedliche Koexistenz sicherstellten. So gab es von 1921 bis 1962 alle zehn Jahre eine Zählung, bei der jeder Bürger angeben musste, welche Sprache er am meisten benutzte. Wenn sich dabei herausstellte, dass ein bestimmter Anteil (zunächst zwanzig, dann dreißig Prozent) der Bevölkerung die jeweils andere Sprache sprach, mussten auch Schulen und andere Einrichtungen und Dienste in dieser Sprache angeboten werden. So entwickelte sich die Hauptstadt Brüssel rasch zu einer überwiegend französischsprachigen Stadt, obwohl sie in Flandern liegt – unter anderem, weil viele Niederländischsprachler aufgrund seines höheren Status und der damit verbundenen Karrierechancen das Französische übernahmen. Noch bis in die 1970er Jahre wurde auch in den Vorstandsetagen großer Unternehmen in Flandern Französisch gesprochen. Zudem zogen viele reiche französischsprachige Brüsseler in die ursprünglich rein niederländischsprachigen Vororte, so dass diese allmählich »französisierten«, wie es die Flamen nennen. Dies erzeugte bei den Flamen den Eindruck, dass sich das französische Sprachgebiet wie ein Ölfleck nach Norden hin ausbreitete. Um das zu verhindern und das niederländischsprachige Gebiet ein- für allemal verbindlich festzulegen, wurde 1962/63 eine starre Sprachgrenze eingezogen und gesetzlich verankert. Seitdem besteht Belgien aus vier Sprachgebieten: dem niederländischen Sprachgebiet, das die Provinzen Westflandern, Ostflandern, Antwerpen, Flämisch-Brabant und Limburg umfasst; dem französischen Sprachgebiet mit den Provinzen Hennegau, Luxemburg, Namur, Wallonisch-Brabant und einem Teil der Provinz Lüttich; dem deutschen Sprachgebiet, das neun Gemeinden der Provinz Lüttich umfasst; und der zweisprachigen Hauptstadt Brüssel, die in 19 Gemeinden eingeteilt ist. Brüssel ist also das einzige offiziell zweisprachige Gebiet in Belgien. Davon abgesehen gilt die Regel »ein Gebiet – eine Sprache«. Die einzigen Ausnahmen sind 25 sogenannte »Fazilitäten-Gemeinden«, die sich entlang der Sprachgrenze aneinanderreihen. Hier müssen bestimmte öffentliche Dienste auch in der Minderheitssprache angeboten werden, das heißt zum Beispiel, dass man in einer niederländischsprachigen Gemeinde die Geburt seines Kindes auch auf Französisch melden kann. Gleichzeitig gilt, dass die Sprachgrenze unverrückbar ist. Selbst wenn – rein theoretisch – die Einwohner einer Ortschaft im flämischen Territorium durch Weg- und Zuzug alle französischsprachig werden sollten, würde es doch

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eine niederländischsprachige Gemeinde bleiben. Die Botschaft, die davon ausgeht, ist: Wer hierherzieht, muss sich anpassen. GETEILTE UNIVERSITÄTEN Geteilt wurden nicht nur Regionen und Gemeinden, sondern 1968 auch die größte und älteste Universität des Landes: In Löwen verblieb die niederländischsprachige Katholieke Universiteit Leuven, während südlich der Sprachgrenze ein komplett neuer Campus auf freiem Feld entstand, die französischsprachige Université Catholique Libre mit der dazugehörigen Planstadt Louvain-la-Neuve, zu Deutsch Neu-Löwen. Sie hat heute mehr als 30.000 Einwohner. Die Bücher der Universitätsbibliothek wurden zwischen den beiden Institutionen aufgeteilt: Solche mit gerader SignaturNummer gingen nach Louvain-la-Neuve, die ungeraden blieben in Löwen. Das Verfahren erinnert an die Aufteilung der Bibliotheks­bestände zwischen Indien und Pakistan kurz vor der Unabhängigkeit 1947. Die Universität Brüssel wurde 1969 ebenfalls in zwei unterschiedliche I­ nstitutionen gesplittet. Die Flamen, die seit der Gründung des Königreichs Belgien 1830 stets der Underdog gewesen waren, kehrten dieses Verhältnis nach dem Zweiten Weltkrieg zu ihren Gunsten um.7 Das hatte zwei Gründe: Zum einen lag die Geburtenrate bei ihnen höher, sodass sie ihr auch zuvor schon bestehendes zahlenmäßiges Übergewicht noch ausbauen konnten. Zum anderen konnte Flandern Wallonien wirtschaftlich überflügeln. Die wallonische Kohle- und Stahlindustrie geriet in den 1960er Jahren in die Krise und wurde zunehmend abgewrackt, während in Flandern zahlreiche kleine und mittlere Unternehmen in Wachstumsbranchen und im Dienstleistungssektor entstanden. Das demografische und wirtschaftliche Übergewicht Flanderns ließ bei den Wallonen die Befürchtung aufkommen, in Zukunft dauerhaft von den Flamen beherrscht zu werden. Um das zu verhindern, forderten sie eine größere Selbstständigkeit Walloniens. Eine Auflösung Belgiens strebten sie dagegen nicht an. Dementsprechend wurde Belgien immer weiter föderalisiert. »La Belgique de papa a vécu«8, erklärte Ministerpräsident Gaston Eyskens 1970 – »Papas Belgien hat sich überlebt«.  Mit »Papas Belgien« meinte er den bis dahin existierenden Zentralstaat, der von einer Französisch sprechenden Elite geführt wurde. Im Laufe der Zeit erhielten Zur Nachkriegsgeschichte Belgiens vgl. Xavier Mabille, La Belgique depuis la Seconde Guerre mondiale, Brüssel 2004. 7 

8  Zit. nach Driessen, S. 214.

die Regionen immer mehr Zuständigkeiten auf Kosten der Zentralregierung. So können die Regionen sogar internationale Verträge abschließen und blockieren, wie der europäischen Öffentlichkeit spätestens seit 2016 bewusst ist, als das Parlament der Region Wallonien vorübergehend den Abschluss eines EU-Freihandelsvertrags mit Kanada verhinderte. Christoph Driessen  —  Sprache als Spaltpilz

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VOR- UND NACHTEILE DER FÖDERALISIERUNG Die Föderalisierung hat das Konfliktpotenzial zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen verringert. Sie hat dem Streit seine Schärfe genommen und den belgischen Staat dadurch letztlich gerettet. Dementsprechend muss man sie als Erfolg werten. Sie hat indes auch manchen Nachteil, in erster Linie die dadurch entstandene Komplexität des belgischen Staatsgefüges. Die sich überlappenden Zuständigkeiten der vielen unterschiedlichen Regierungsgremien führen zwangsläufig zu Reibungsverlusten und Blockaden. Es kann sein, dass auf den unterschiedlichen Ebenen (nationale Ebene, Regionen und Sprachgemeinschaften) fünf, sechs oder sieben Minister für dieselbe Angelegenheit zuständig sind. Zudem ziehen die sogenannten Sprachschranken in der belgischen Verfassung ein Demokratiedefizit nach sich: Bestimmte Gesetze können nur dann erlassen werden, wenn ihnen die Mehrheit sowohl der flämischen als auch der wallonischen Abgeordneten zustimmt. Das hat zur Folge, dass die Wallonen de facto ein Vetorecht ausüben, obwohl sie nur vierzig Prozent der Bevölkerung stellen. Die Föderalisierung führte auch zu einer Aufspaltung der Parteienlandschaft. Seit 1978 gibt es keine gesamtbelgischen Parteien mehr, sondern nur noch flämische und wallonische. Christdemokraten, Sozialisten, Liberale und Grüne – sie alle existieren in zweifacher Ausfertigung. Dadurch, dass man mit Ausnahme Brüssels nur noch Parteien der eigenen Region wählen kann, lohnt es sich für Politiker elektoral nicht mehr, die Interessen der jeweils anderen Bevölkerungsgruppe mit zu berücksichtigen. »Wir haben keine nationalen Parteiführer mehr«9, beklagte denn auch der langjährige Ministerpräsident Wilfried Martens (1936–2013). Nach der Parlamentswahl von 2010 dauerte es eineinhalb Jahre, ehe eine neue Regierung gebildet werden konnte, nach der Wahl 2020 ging es nicht viel schneller. Ergebnis war die sogenannte »Vivaldi-Koalition« – eine Anspielung auf dessen Die Vier Jahreszeiten in Anbetracht der Beteiligung von vier Parteienfamilien, bis auf eine jeweils in doppelter, also flämischer und wallonischer, Ausführung. Gegen den Erfolg der Föderalisierung spricht auch, dass der flämische Separatismus während dieses Prozesses nicht ab-, sondern zugenommen hat. Zudem radikalisierte er sich in Form des rechtsextremen Vlaams Blok, der die Forderung nach Unabhängigkeit mit Ausländerfeindlichkeit und Islamhass verband. 2004 benannte sich die Partei nach einer Verurteilung wegen Rassismus in Vlaams Belang um. In den darauf folgenden Jahren verlor die Partei zunehmend Wähler an die gemäßigtere Nieuw-Vlaamse Alliantie

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Zit. nach ebd., S. 217.

(N-VA) unter ihrem Chef Bart De Wever, der nun schon lange Bürgermeister von Antwerpen ist. De Wevers mittelfristiges Ziel ist die Umwandlung des jetzigen Föderalstaates Belgien in eine Konföderation, also in einen Staatenbund der dann weitgehend souveränen Einzelstaaten Flandern und Wallonien. Indem immer mehr Kompetenzen entweder nach unten an die beiden Landesteile oder nach oben an die Europäische Union abgegeben werden, soll Belgien gleichsam verdunsten. Auf den ersten Blick ist es schwer zu verstehen, warum es in Flandern immer noch eine so starke separatistische Bewegung gibt, obwohl die niederländische Sprache nun nicht mehr benachteiligt wird. Die Antwort darauf lautet, dass es sich eben nicht nur um einen Sprachenstreit handelt. Die lange Geschichte der Diskriminierung der Flamen ist nicht vergessen. Zudem sehen 10 

Zit. nach ebd.

11  Zur Debatte um die Zukunft des belgischen Zentralstaats vgl. Benno Barnard u. a., How can one not be interested in Belgian History? War, Language and Consensus in Belgium since 1830, Gent 2005; Tony Judt, Is there a Belgium?, in: The New York Review of Books, 02.12.1999, tinyurl.com/indes231g2.

viele von ihnen nicht ein, warum sie sich auf einen offenbar dauerhaften Wohlstandstransfer in den Süden einlassen sollten. Die Flamen, so wirft ihnen der französischsprachige Brüsseler Schriftsteller Pierre Mertens vor, »treten als Reiche auf, die nicht mehr bereit sind, für die ärmeren Wallonen zu zahlen. Das ist hässlich und ungerecht. Es ist wie in Italien, wo die Lega Nord behauptet, im Süden seien die Menschen faul. Dabei geht es um hartnäckige Ressentiments, eine Art Rache, die schon sehr lange dauert.«10 Umgekehrt müssen sich die Wallonen vorwerfen lassen, die separatistischen flämischen Parteien N-VA und Vlaams Belang häufig in unzulässiger Weise mit ganz Flandern gleichzusetzen.11 Einen Moment seltener nationaler Eintracht erlebte Belgien im Sommer 2018 während der Fußballweltmeisterschaft in Russland. Die »Roten Teufel« besiegten England und Brasilien, bevor sie im Halbfinale gegen den späteren Weltmeister Frankreich unterlagen. Plötzlich war nicht mehr

Dr. Christoph Driessen, ­geboren 1967 als niederländischer Staatsbürger in Oberhausen, studierte Journalistik und Geschichte und war danach viele Jahre Auslandskorrespondent in Den Haag, London und New York. Heute arbeitet er für die Deutsche Presse-Agentur in Köln. Buchveröffentlichungen zur Geschichte des niederländischen Raums, darunter Geschichte der Niederlande – Von der ­Seemacht zum Trendland (4. Auflage 2022) und Geschichte Belgiens – Die gespaltene Nation (3. Auflage 2023).

von Spaltung die Rede, sondern von Vielfalt. Das kleine, aber bunte Land sah sich gespiegelt in der Goldenen Generation belgischer Nationalspieler. Zu den Ausnahme-Kickern zählten Flamen wie der Taktgeber Kevin De Bruyne, Wallonen wie Kapitän Eden Hazard, Kongolesischstämmige wie Mittelstürmer Romelu Lukaku und Halbmarokkaner wie Offensivspieler Nacer Chadli. Nicht weniger als 13 der 23 Spieler im belgischen WM-­Kader hatten einen Migrationshintergrund – ein Ergebnis gezielter Jugendsportförderung in Problemvierteln wie Molenbeek und Anderlecht in der Millionenmetropole Brüssel. Und das Sprachenproblem? Existierte nicht. Denn der Trainer Roberto Martínez war Spanier. Deshalb kommunizierten alle einfach auf Englisch.  Christoph Driessen  —  Sprache als Spaltpilz

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KOMMENTAR

SEID DOCH MAL LEISE! WARUM DER LÄRM UNSERER ZEIT DIE STILLE(N) BRAUCHT Ξ  Antje Kunstmann

Ungefähr hundert Jahre ist es her, dass der Psychiater C.G. Jung die Begriffe Extra- und Introversion geprägt hat. Das Persönlichkeitsmerkmal, dessen Pole mit ihnen beschrieben werden, ist aber natürlich wesentlich älter. Es wird vor allem in der Interaktion mit der sozialen Umwelt sichtbar und ist mit handfesten Unterschieden, was Aufbau und Funktion von Nervensystem und Gehirn angeht, verbunden und etwa zur Hälfte angeboren: Etwa dreißig Prozent von uns sind introvertiert – sie wenden Energie und Aufmerksamkeit eher nach innen, sind ruhiger, nachdenklicher, zurückhaltender –, genauso viele zählen zu den Extravertierten, die sich stärker nach außen orientieren, und die größte Gruppe befindet sich in der Mitte – verhält sich also je nach Situation mal eher intro-, mal eher extravertiert – und wird als ambivertiert bezeichnet. WIR WERDEN IMMER LAUTER Dass die Lauten den Ton angeben und als Ideal gelten, ist eine Erfindung der Moderne.1 Denn seit der Industrialisierung leben Menschen immer seltener in Gemeinschaften, in denen sich die allermeisten von klein auf oder schon lange kennen und regelmäßig wiederbegegnen; umso wichtiger sind die Persönlichkeit und das Vermögen geworden, in der anonymen Masse immer wieder aufs Neue und schnell auf sich aufmerksam zu machen, Eindruck zu hinterlassen und sich zu behaupten. Im Internetzeitalter umfasst der soziale Raum, in dem wir derart zu bestehen haben, längst die ganze Welt. Hinzu kommen das kapitalistische Leistungsprinzip unserer Gesellschaft, das Menschen nach äußeren Maßstäben beurteilt und jeden von uns zur Marke macht, die es permanent in Szene zu setzen gilt, sowie die allgemeine Beschleunigung einer Welt, die sich ständig wandelt und

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1  Vgl. Susan Cain, Still. Die Kraft der ­Introvertierten, München 2013, S. 36 f.

jederzeit maximale Flexibilität von uns erfordert. Extravertierte Menschen sind unter diesen Bedingungen klar im Vorteil: Sie gehen offen auf andere zu, lieben Aufmerksamkeit und suchen sie, mögen den Wettbewerb mit anderen, haben wenig Schwierigkeiten, sich auf Neues einzustellen, und sind oft auch einen Tick schneller als introvertierte Charaktere. Nicht zuletzt wird unsere Welt auch im Wortsinn immer lauter: Die Lärm­verschmutzung nimmt zu, ständig strömen neue Reize auf uns ein, durch Smartphones und andere digitale Geräte begleiten sie uns durch Tag und Nacht. Stille ist rar geworden und ein Rückzug schwieriger. Wir leben mit einem Grundrauschen, einer permanenten Stimulation, die den Leisen schnell zu viel wird, die Lauten aber besser verkraften und manchmal sogar brauchen, um sich wohlzufühlen. Die Ursache dafür liegt in einem unterschiedlichen Erregungsniveau des Gehirns. Untersuchungen zeigen, dass Introvertierte sensibler auf Hintergrundgeräusche reagieren und Stille bevorzugen, um zu lernen und zu arbeiten. Unter diesen Bedingungen erzielen sie auch 2  Vgl. Sepehrian Firouzeh & Ketabi Afsaneh, The effect of background music, noise and silence on performance of introvert and extrovert students on the academic aptitude test, in: Contemporary Psychology, H. 2/2014, S. 213–217, tinyurl.com/indes231h1.

bessere Ergebnisse. Extravertierte dagegen schneiden besser ab, wenn es nicht zu ruhig ist und sie zum Beispiel Musik hören.2 Sogar die menschliche Psyche hat sich dem lauten Ideal ein Stück weit angepasst: Bereits zwischen 1935 und 1970 hat die Extraversion in westlichen Nationen kontinuierlich zugenommen3 und auch für US-amerikanische Studierende der Geburtsjahrgänge 1966 bis 1993 findet sich ein deutlicher Anstieg in der Ausprägung dieser Persönlichkeitsdimension.4 Vielleicht verhält es sich

3  Vgl. Richard Lynn & Susan Hampson, Fluctuations in national levels of neuroticism and extraversion, 1935–1970, in: British Journal of Social and Clinical Psychology, H. 2/1977, S. 131–137. 4  Vgl. Jean Twenge, Birth cohort changes in extraversion. A cross-temporal meta-anal­ysis, 1966–1993, in: Personality and Individual Differences, H. 5/2001, S. 735–748, tinyurl.com/indes231h3. 5  Cain, S. 16. 6  Vgl. Mirjam Stieger u. a., Changing personality traits with the help of a digital personality change intervention, in: Proceedings of the National Academy of Scienes, H. 8/2021, tinyurl.com/indes231h04.

ein bisschen wie bei einer Party, auf der langsam die Musik aufgedreht wird: Je lauter es um uns wird, desto lauter werden auch wir. WIE LINKSHÄNDER IN EINER RECHTSHÄNDIGEN WELT Introversion ist hingegen zu etwas geworden, das man am liebsten loswürde. Die US-amerikanische Autorin Susan Cain nennt sie ein Persönlichkeitsmerkmal »zweiter Klasse«, »das irgendwo zwischen enttäuschenden und pathologischen Merkmalen angesiedelt ist«5. In einer 2021 veröffentlichten Studie aus der Schweiz gaben 24,6 Prozent von gut 1.500 Befragten an, sie wären gerne extravertierter; den umgekehrten Wunsch, nämlich introvertierter zu sein, äußerten nur 0,2 Prozent, also praktisch niemand.6 Schon bei unseren Kindern sehen wir es nicht gern, dass sie in sich gekehrt und lieber für sich sind; in der Schule werden der mündlichen Beteiligung und dem Präsentieren heute viel größere Bedeutung beigemessen. Kinder sollen aus sich herauskommen, aufgeschlossen sein und spontan. Wie ein Linkshänder in einer rechtshändigen Welt – so fühle es sich heutzutage an, ein introvertiertes Kind zu sein, schreibt der Antje Kunstmann  —  Seid doch mal leise!

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schwedische Autor Linus Jonkman, und vergleicht die Art, wie wir mit den Stillen umgehen, mit der Zeit, als Schülerinnen und Schülern im Unterricht auf die Finger geschlagen wurde, wenn sie mit der »falschen«, also der linken Hand schrieben. Es bestehe das Risiko, »dass wir eine ganze Generation von Introvertierten auf die gleiche Weise behandeln, indem wir ihnen beibringen, dass ihre Persönlichkeit falsch ist«7. Auch introvertierte Menschen können sich extravertiert verhalten, dauerhaft zu empfehlen ist es nicht. Die US-amerikanische Psychologin Katharine Benziger geht davon aus, dass viele Menschen gegen ihre Persönlichkeit leben und dass dieses Verfälschen unglücklich und krank macht, schlichtweg weil es Stress bedeutet.8 Wer als introvertierter Mensch sich selbst als defizitär und extravertiertes Verhalten als Maßstab wahrnimmt,

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Sprache und Politik  —  Kommentar

7  Linus Jonkman, Introvertiert. Die leise Revolution, Mannheim 2021, S. 201. 8  Vgl. Interview with Dr Katherine Benziger, in: ACLW Leadership Interviews, hg. v. Australian Center for Leadership for Women Pty Ltd., 2020, S. 9–20, tinyurl.com/indes231h5.

ist erwiesenermaßen unzufriedener.9 Das negative Bild, das unsere Gesellschaft von den Stillen zeichnet, schadet indes nicht nur ihnen selbst, sondern auch uns allen. Denn gerade in unserer lauten Welt brauchen wir introvertierte Menschen und ihre Fähigkeiten. Aus ihnen erwachsen echte Stärken; viele gängige Annahmen über Introvertierte sind hingegen schlicht Vorurteile. Wer seine Meinung nicht sofort herausschreit, sondern erstmal für sich behält, dem wird zum Beispiel schnell unterstellt, er hätte keine. Dabei denken Introvertierte oft gründlicher nach und besitzen im sogenannten präfrontalen Kortex, der eine wesentliche Rolle in Denk- und Entscheidungsprozessen spielt, offenbar mehr graue Substanz, also Nervenzellkörper.10 Außerdem sind Introvertierte, eben weil sie nicht so sehr auf Aufmerksamkeit und Anerkennung von außen angewiesen sind, in ihrem Denken und Handeln oft besonders unabhängig. Fast acht von zehn »Intros« sagen, dass sie bei Entscheidungen ganz auf ihre Intuition und ihr eigenes Empfinden 9  Vgl. Rodney Lawn u. a., Quiet flourishing. The authenticity and well-being of trait introverts living in the west depends on extraversion-deficit beliefs, in: Journal of Happiness Studies, H. 20/2019, S. 2055–2075, tinyurl.com/indes231h6.

vertrauen; dagegen geben zwei Drittel der Extravertierten an, jemanden zu brauchen, der sie in die richtige Richtung lenkt, und jeder Zweite von ihnen hat einen Hang zu vorschnellen Entscheidungen.11 Einfallslose Langweiler sind Introvertierte ebenfalls nicht. Da sie ihre Aufmerksamkeit gern nach innen kehren, haben sie oft sogar einen besonders guten Zugang zur Welt der Fantasie. Kreativität benötigt trotz aller Brainstor-

10  Vgl. Avram Holmes u. a., Individual differences in amygdala-medial prefrontal anatomy link negative affect, impaired social functioning, and polygenic depression risk, in: Journal of Neuroscience, H. 50/2012, S. 18087–18100, tinyurl.com/indes231h7. 11  Rehana Khalil, Influence of extroversion and introversion on decision-making ability, in: International Journal of Research in Medical Sciences, H. 5/2016, S. 1534–1538, tinyurl.com/indes231h8. 12  Vgl. bspw. Kelly Candaele, Dispatches from the Democratic National Convention: Part I, in: Los Angeles Review of Books, 06.09.2012, tinyurl.com/ indes231h9 oder Peter Barker, Education of a President, in: The New York Times Magazine, 12.10.2010.

ming-Runden und offener Bürolandschaften, die Innovationen fördern sollen, immer auch Rückzug und Stille. Wir alle – auch die Extravertierten – haben mehr und bessere Ideen, wenn wir die Chance haben, allein und in Ruhe über etwas nachzudenken. AUCH DIE POLITIK BRAUCHT DAS SCHWEIGEN Aber die Debatte verlangt doch das Wort! Selbstredend, doch erstens ist es ein Vorurteil, dass Introvertierte sich nicht trauen, den Mund aufzumachen. Schüchternheit ist etwas anderes als Introversion und Selbstbewusstsein etwas anderes als forsches Auftreten und in der leisen Variante nicht weniger stabil. Deswegen ist es nicht verwunderlich, dass introvertierte Menschen auch in der alles andere als leisen Politik erfolgreich sind, wie Barack Obama12 oder Angela Merkel bewiesen haben. Und zweitens braucht die Debatte das Schweigen genauso wie die Rede. Natürlich ist Schweigen vielsagend und kann auch bedeuten, dass jemand sich einem Thema oder seinem Gegenüber verweigert. Dann wird die Stille zum unüberhörbaren Konfliktfall und beklemmend. Aber Schweigen kann eben auch zugewandt und verbindend sein. Denn nur wer still Antje Kunstmann  —  Seid doch mal leise!

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sein kann, kann zuhören. Ohne diese Fähigkeit können wir uns in Gesprächen und Diskussionen nicht aufeinander beziehen und monologisieren, statt zu kommunizieren. Auch die Politik ist voll vom Reden um des Redens willen, vom Reden als Machtinstrument, um die andere Seite zum Schweigen zu bringen und stets das letzte Wort zu haben. Aber zu einem Ergebnis oder auch nur irgendwie voran wird man nicht kommen, ohne die Gegenseite zu Wort kommen zu lassen und ihr auch zuzuhören. Insofern sind introvertierte Menschen meist sehr angenehme Gesprächsund auch Arbeitspartner und eben nicht automatisch unsoziale Eigenbrötler, wie ein weiteres gängiges Vorurteil lautet. Teams mit Extravertierten funktionieren besser, sobald ein Introvertierter dazu kommt,13 auch die Lösungen werden besser, wenn unterschiedliche Charaktere zusammenarbeiten. Zwar haben extravertierte Menschen das Talent, andere mit ihrer Energie und offen gezeigten Begeisterung anzustecken, aber dieser positive Effekt hält oft nicht lange an; weniger extravertierte Charaktere fühlen sich dann mehr und mehr an den Rand gedrängt und dominiert. Auf lange Sicht und wenn es zu Konflikten kommt, überzeugt eher die introvertierte Art, sich zurückzunehmen und anderen Raum zu geben.14 Eben weil sie so gut wie nie schnelle Lösungen haben, denen sofort alle zustimmen, profitieren deswegen auch politische Verhandlungen und Debatten von den Stillen. ZEIT FÜR EINE STILLE REVOLUTION? Es gibt also gute Argumente, den Lauten nicht das Sagen zu überlassen. Susan Cain, die vor gut zehn Jahren den Weltbestseller Quiet: The power

13  Vgl. Amy Kristof-Brown u. a., When opposites attract. A multi-sample demonstration of complementary person-­ team fit on extraversion, in: Journal of Personality, H. 4/2005, S. 935–958, tinyurl.com/indes231h10. 14  Vgl. Kristin Culen-Lester u. a., Energy’s role in the extraversion (dis)advantage. How energy ties and task conflict help clarify the relationship between extraversion and proactive performance, in: Journal of Organizational Behavior, H. 7/2016, S. 1002–1022. 15  Susan Cain im persönlichen Gespräch mit der Autorin im Mai 2022.

of introverts in a world that can’t stop talking (deutsch: Still: Die Kraft der Introvertierten, Goldmann) veröffentlichte, beobachtet mittlerweile ein

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Jonkman, ­S. 52.

größeres Selbstbewusstsein leiser Menschen. Sie sieht gar Zeichen für eine »quiet revolution«, einen Wertewandel, der zwar noch lange nicht abgeschlossen sei, aber unumkehrbar begonnen habe.15 Auch die Digitalisierung nutzt den Introvertierten, weil sie ihnen die Kommunikation erleichtert, die ihnen von Angesicht zu Angesicht und gegenüber den redegewandteren Extravertierten oft schwerfällt. Es gibt immer mehr Literatur über die Stärken der Stillen, Unternehmen beschäftigen sich damit, wie sie sich besser nutzen lassen, und der schwedische Autor Linus Jonkman schreibt: »Wir bewegen uns auf eine Kultur zu, in der das Introvertierte mehr und mehr überwiegt.«16 Ob das wirklich stimmt, bleibt abzuwarten. Momentan ist unsere Welt immer noch ziemlich laut und funktioniert weiterhin meist nach dem Motto: »Ich rede, also bin ich.«

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Sprache und Politik  —  Kommentar

© Andreas Sibler Dr. Antje Kunstmann  ist Biologin und Journalistin, vor allem in den Themenbereichen Gesundheit und Psychologie. Zum Thema Introversion hat sie das Buch Lauter leise Kinder geschrieben, das bei Ullstein erschienen ist.

GEDICHTSPOLITIK II Ξ  Ulrike Almut Sandig

im Anfang steht niemand. im Anfangsland lag ich und schrie. am Ende schweig ich und zieh ein weiß beschriftetes Spruchband hinter mir her. was draufsteht? am Anfang, am Ende der gleiche Vokal und immer, immer im Liegen hört ihr meinen Anfang: ich bin ein Strom, der in andere mündet in den wieder andere münden. ich bin ganz aus Sprache gemacht ich bin ein irrer Anfangsvokal Alleinstellungsmerkmal meiner verlorenen Art, die sprechen muss um sich selbst zu begreifen. wir sind allein und jetzt alle zusammen: dona nobis pacem uns zartem gefräßigem Alphagetier. ich bin nicht allein. du bist nicht allein wir irren, o Herr, von einem Verhör zum andern und stecken einander Messer rein: ich habe, du hast nein, wir haben wohl eine Tendenz zur Ausuferung, also wo ist, o Big Bang, der Anfang vom Argen? im Anfangsland lag mein Flüsschen mit Schnabel. am Anfang lag ich niemand war ich und niemand werde ich sein. dazwischen bin ich Stimmgabel aus flüssigem Stoff ich bin mein eigenes  Lied aus dem Off über ein vollkommen weißes Rapsfeld im Schnee

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NACHRICHT VON DER DEUTSCHEN SPRACHE, 2026 AD Berlin. wenn es gelingt, bin ich ein Feld voller Raps, verstecke die Rehe und leuchte wie dreizehn Ölgemälde übereinander gelegt. wenn es jetzt schon gelingt, will ich Schaum sein vom Sirup irakischer Datteln, Würfel aus türkischem Honig, syrischer Lyrik, eine rundgeschliffene geometrische Form wie Kiesel, Wiesenblüten, Bonbonmund, sprichs aus: ich bin das Pidgin der schönen, schwarzlockigen, schweren Jungs, die ihre ­Rhymes austeilen in zärtlichen Bomben, gucksdu: keiner fliegt hier in die Luft außer den Tauben. (wenn es nicht gelingt, will ich meine Sprache vergessen. je suis ein Feld voller Monokultur, ersticke die Schlehen und drehe mich weg. je suis nicht mehr mein eigen Heimatland, jedoch) wenn es gelingt, werden wir, ihr alle und ich, zeitgleich ein Kinderlied reimen wie aus einem einzigen Mund voller Raps, wir werden ein fließender Leim sein auf weißem Papier. wir werden leicht sein und schwer. vor allem aber werden wir sein.

© Poetry International Rotterdam

Ulrike Almut Sandig, aufgewachsen in Sachsen, lebt als Schriftstellerin und Performancedichterin in Berlin. Sie ist Frontfrau des deutsch-ukrainischen Poesiekollektivs Landschaft, das Videokunst und elektronische Musik mit politischer Poesie verbindet. Im Schöffling-Verlag erschienen zuletzt ihr Roman Monster wie wir sowie (2020) ihr Gedichtband Leuchtende Schafe (2022). Im September 2023 erscheinen in der Edition Azur (Voland & Quist) die Gedichte der neuseeländischen Maori-Dichterin Hinemoana Baker unter dem Titel Funkhaus, nachgedichtet aus dem neuseeländischen Englisch.

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Sprache und Politik  —  GEDICHTSPOLITIK II

INSPEKTION

DIE ERFINDUNG VON NA’VI, DER MUTTERSPRACHE VON PANDORA WARUM KAUDERWELSCH KEINE OPTION (MEHR) IST Ξ  Paul Frommer Sie sind Filmproduzent oder Regisseur und arbeiten an einem ScienceFiction-Film, der in einer fernen Welt spielt. Die außerirdischen Bewohner dieser Welt sprechen ihre eigene Sprache, die in Ihrem Film zu hören sein muss. Was müssen Sie tun? Bis Mitte der 1980er Jahre hätten Sie Ihre Schauspieler höchstwahrscheinlich angewiesen, irgendein unsinniges Kauderwelsch zu erfinden. Um dem Publikum die beabsichtigte Bedeutung zu vermitteln, hätten Sie das Geplapper beliebig untertiteln können – und das wärʼs auch schon gewesen. Niemand hätte gemerkt, dass das, was er hört, keine echte Sprache ist. Wie auch? Heutzutage würde jedes Filmprojekt, das einen solchen Ansatz verfolgt, allgemein verunglimpft und der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Alex McDowell, Professor für Filmpraxis an der University of Southern California, der sich auf den Aufbau von fiktionalen Welten spezialisiert hat, findet klare Worte über Sprachen außerirdischer Wesen: »Kauderwelsch ist niemals in Ordnung.« Die Sprache der Außerirdischen muss alle Bestandteile echter Sprachen aufweisen – nicht nur ein konsistentes ­Vokabular, sondern auch sämtliche grammatikalischen Regeln, wie sie in echten Sprachen vorkommen. Um eine solche Sprache für Ihren Film zu konstruieren, brauchen Sie einen Spezialisten. Sie werden also auf jeden Fall einen Linguisten einstellen müssen. KLINGONISCH STATT KAUDERWELSCH Der Wendepunkt kam 1984 mit der Einführung der klingonischen Sprache für die Star-Trek-Filmserie. Klingonisch wurde von dem Linguisten Marc

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Okrand entwickelt und ist eine seltsam klingende, komplizierte Sprache mit einer ungewöhnlichen Struktur, die einer linguistischen Untersuchung standhält. In den fast vierzig Jahren seit ihrem Debüt hat sich eine rege Fangemeinde entwickelt, und einige engagierte Klingonisten übersetzen sogar Shakespeares Hamlet in ihre Sprache. Seitdem müssen konstruierte Sprachen in Film, Fernsehen und Literatur sprachlich tragfähige Kommunikationssysteme sein. Ob der durchschnittliche Kinobesucher zwischen einer gut konstruierten erfundenen Sprache und Kauderwelsch unterscheiden kann, ist eine meiner Kenntnis nach noch unerforschte Frage, so dass Schlussfolgerungen notwendigerweise spekulativ sind. Dennoch gibt es Gründe für die Annahme, dass die Unterschiede deutlich zutage treten. Zum einen können Schauspieler ihren Text mit mehr Überzeugung sprechen, wenn sie die einzelnen Wörter eines Satzes identifizieren können und wissen, was sie bedeuten. Viele Zuschauer werden zudem – bewusst oder unbewusst – in der Lage sein, Wörter und Phrasen zu erkennen, die in verschiedenen Szenen immer wieder vorkommen, was ein Gefühl der Konsistenz vermittelt. Eine gut konstruierte »Conlang« (abgeleitet von engl. constructed languages, dt. »konstruierte Sprachen«) wirkt einfach realer als unstrukturiertes Geplapper. Abgesehen von solchen Überlegungen bleibt jedoch die Tatsache bestehen, dass sich bei jedem Science-Fiction- oder Fantasy-Film, in dem eine fremde Sprache vorkommt, eine winzige, aber leidenschaftliche und sehr lautstarke Gruppe von Kinobesuchern auf diese Sprache stürzt und sie mit dem Mikroskop untersucht, um sie im Lichte aller verfügbaren Informationen zu zerpflücken. Wenn sie eine schlampige Konstruktion oder unzureichende Detailgenauigkeit entdecken, werden sie aller Welt ihre Enttäuschung mitteilen und der Ruf des Films wird leiden. Kurz gesagt: Von fiktionaler Kommunikation wird heute einfach erwartet, dass sie in Form einer funktionierenden Sprache daherkommt, auch wenn diese Sprache nur auf der Leinwand oder auf den Seiten einer Geschichte oder eines Drehbuchs existiert. DIE LANGE TRADITION ERFUNDENER SPRACHEN Obwohl konstruierte Sprachen in letzter Zeit durch Science-Fiction-/Fantasy-Filme und Fernsehserien ins öffentliche Bewusstsein gerückt sind – Klingonisch in Star Trek, Na’vi in Avatar, Dothraki und Hoch­valyrisch in Game of Thrones und viele mehr –, haben die Menschen schon seit Jahrhunderten, wenn nicht gar Jahrtausenden conlingiert. Historische

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Sprache und Politik  —  Inspektion

Darstellungen der Sprachentwicklung1 heben meist bestimmte Meilensteine hervor, beginnend mit der spektakulär erfinderischen Hildegard von Bingen, einer deutschen Benediktineräbtissin, die im 12. Jahrhundert eine unvollständige Sprache entwickelte, die sie »Lingua Ignota« nannte, über Thomas Mores Konversationssprache für das fiktive Land Utopia (16. Jahrhundert) und John Wilkinsʼ »philosophische Sprache« (17. Jahrhundert), die versuchte, alles im Universum zu klassifizieren und ohne die den natürlichen Sprachen innewohnende Mehrdeutigkeit zu kommunizieren, bis hin zu J. R. R. Tolkiens für das Fantasyreich Mittelerde entworfenen Sprachen (20. Jahrhundert). Die bekannteste Conlang aus der Zeit vor Hollywood ist jedoch Esperanto, das Hauptwerk des polnischen Augenarztes und Jiddisten L.L. Zamenhof, der 1887 seine sprachliche Schöpfung der Welt in der Hoffnung vorstellte, dass sie als universelle Zweitsprache – eine »Auxlang« oder Hilfssprache – angenommen würde, die, da sie jedem ermöglicht, mit jedem anderen zu kommunizieren, unweigerlich den Weltfrieden herbeiführen würde. Leider kam es nicht dazu, und heute können wir Zamenhofs Idealismus und Naivität belächeln, denn die Geschichte der Bürgerkriege zeigt deutlich, dass sich Gewalt zwischen Völkern nicht allein durch sprachliche Verständigung beseitigen lässt. Und obwohl Zamenhof Esperanto als kulturell neutral anpries, wurde es als eurozentrisch kritisiert, da sein Wortschatz stark romanisch geprägt ist und weitere deutliche Einflüsse aus dem Germanischen und Slawischen aufweist. Warum sollten Menschen in Asien oder Afrika eine neu konstruierte europäisch anmutende Sprache lernen wollen – selbst wenn sie außerordentlich simpel und klar strukturiert sein sollte –, wenn sie mit etwas mehr Mühe eine echte europäische Sprache lernen können, die von Millionen Menschen gesprochen wird? Dennoch ist Esperanto nach wie vor die bei weitem erfolgreichste aller konstruierten Sprachen. Unter den ca. 100.000 immer noch idealistischen Sprechern in der ganzen Welt befinden sich erstaunlicherweise etwa tausend echte Muttersprachler: Menschen, deren Eltern begeisterte Esperantisten waren und die zu Hause mit dieser Sprache aufgewachsen sind. Ich hatte das Vergnügen, einige von ihnen zu treffen und zu hören, wie sie sich unterhalten; sie sprechen Esperanto ebenso fließend und 1  Vgl. Arika Okrent, In the Land of Invented ­Languages. Esperanto Rock Stars, Klingon Poets, Loglan Lovers, and the Mad Dreamers Who Tried to Build a Perfect Language, New York 2009.

mühelos wie ihre natürlichen (Mutter-)Sprachen. Doch während die bereits erwähnten konstruierten Sprachen – die, denen bei Wikipedia ein eigener Artikel gewidmet ist – die gesamte Aufmerksamkeit auf sich ziehen, ist die wirkliche Welt des Conlanging eigentlich viel größer und ihr Großteil befindet sich, wie der sprichwörtliche Paul Frommer  —  Die Erfindung von Na’vi, der Muttersprache von Pandora

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Eisberg, unter der Oberfläche. Überall auf der Welt investieren Menschen enorm viel Zeit und Mühe, um ihre eigenen Sprachen zu entwickeln, meist ohne an eine Veröffentlichung oder Entlohnung zu denken. Die sprach­lichen Artefakte, die sie hervorbringen – komplizierte Grammatiken, reiche Vokabularien, wunderschöne Schriftsysteme und Kalligraphien, aufwendig illustrierte Bücher und Manuskripte –, können einem den Atem rauben. Ihre Beweggründe sind vielfältig: Manche tun es der intellektuellen Herausforderung halber oder um eine bestimmte Vermutung zu beweisen (zum Beispiel, ob es ein brauchbares grammatikalisches System ohne Verben oder mit 27 Varianten des Pronomens »du« geben kann); manche hoffen, eine Hilfssprache für eine bestimmte Region zu entwickeln; manche brauchen eine Sprache für eine fiktive Welt, die sie erschaffen haben; viele wollen eine persönliche Sprache, die ihre tiefsten Empfindungen – über die Natur, über zwischenmenschliche Beziehungen, über Spiritualität – auf eine Art und Weise ausdrückt, wie es bestehende Sprachen nicht können. Dies sind die unbesungenen Helden des Conlanging. Ihre Geschichten werden in dem umfassenden Dokumentarfilm von Britton Watkins aus dem Jahr 2017 erzählt, Conlanging: The Art of Crafting Tongues2 (der Transparenz halber: Ich war Ko-Produzent des Films). Die 2007 gegründete Language Creation Society3 ist die wichtigste Organisation, die sich der Sprachkonstruktion und den Sprachkonstrukteuren widmet. Auf dieser Online-Plattform treffen sich Conlangierer, um über ihr Handwerk zu diskutieren, sich gegenseitig zu unterstützen und auf einer Jobbörse für Sprachkonstruktionsprojekte Stellen anzubieten und zu finden. WILLKOMMEN IN PANDORA Meine eigene Reise in die Welt der Konversation begann im Jahr 2005, als ich Professor an der University of Southern California (USC) war. Obwohl ich einen Doktortitel in Linguistik habe (meine Dissertation befasste sich mit einem Aspekt der persischen Grammatik), lehrte ich an der Marshall School of Business der USC Wirtschaftskommunikation und hatte gerade den Vorsitz meiner Abteilung übernommen. Ein Kollege im Fachbereich Linguistik und Mitverfasser des Arbeitsbuchs, das wir ge-

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www.conlangingfilm.com.

meinsam geschrieben hatten, Edward Finegan, war darauf aufmerksam 4

geworden, dass James Cameron einen Linguisten suchte, der eine Sprache für einen Science-Fiction-Film konstruieren könnte, der damals den Codenamen »Projekt 880« trug. Ed leitete die Information an mich weiter: »Das klingt nach dir!« Ich ergriff die Chance und schickte Cameron

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Sprache und Politik  —  Inspektion

3  www.conlang.org. 4  Paul R. Frommer & Edward Finegan, Looking at Languages: A Workbook in Elementary Linguistics, Stanford 2015.

ein Exemplar unseres Arbeitsbuchs, das zufälligerweise eine Aufgabe zur klingonischen Wortstellung enthielt (ich hatte zuvor gerade genug Klingonisch gelernt, um mir ein pädagogisches Rätsel dazu auszudenken), zusammen mit einem Brief, in dem ich meine Begeisterung für das Projekt zum Ausdruck brachte. Ich wurde zu einem Vorstellungsgespräch mit ­Cameron eingeladen, das gut verlief. Nach neunzig Minuten standen wir auf, gaben uns die Hand und Jim sagte: »Willkommen an Bord!« Dieser Moment stellte sich als ein wichtiger Wendepunkt in meinem Leben heraus. Wenn man ein kreatives Projekt in Angriff nimmt, ist es wichtig, sich über die Rahmenbedingungen klar zu werden, unter denen man arbeitet. Im Fall von Na’vi gab es zwei Arten von Zwängen, die ich im Auge behalten musste: externe und interne. Die äußeren Zwänge ergaben sich aus Camerons Vision. Na’vi musste völlig neu sein; es musste mit den feinen Details übereinstimmen, die Cameron beim Aufbau seiner pandoranischen Welt erdacht hatte; es musste »schön« klingen (natürlich eine sehr subjektive Einschätzung!); es musste mit den etwa dreißig Wörtern übereinstimmen, die er sich bereits ausgedacht hatte – hauptsächlich Namen von Figuren und Tieren. Natürlich musste es auch für die Schauspieler aussprechbar sein, da es keine elektronische Manipulation der Stimmen geben würde. Und da die Sprache Teil der Handlung war, musste sie sowohl für Menschen als auch für die Na’vi selbst erlernbar sein. SO KOMPLEX WIE NÖTIG, SO ZUGÄNGLICH WIE MÖGLICH – DIE ERFINDUNG VON NA’VI Diese letzte Einschränkung verdient eine nähere Erläuterung. »Erlernbar« bezieht sich in einem linguistischen Kontext auf eine Sprache, die von jedem durchschnittlich entwickelten Kind in einer Umgebung, in der die Sprache gesprochen und verstanden wird, automatisch und mühelos erworben werden kann. Sprachen, die auf diese Weise erlernbar sind, können von Erwachsenen spontan angewendet werden. Auf Noam Chomsky geht die Annahme zurück, dass die Prinzipien der mensch­ lichen Sprachstruktur in unserem Gehirn fest verdrahtet sind, und zwar in der sogenannten Universellen Grammatik (UG), und dass die Aufgabe des Kindes lediglich darin besteht, die Details der jeweiligen Sprache zu entdecken, der es ausgesetzt ist. Wenn eine Sprache, ob natürlich oder konstruiert, erlernbar sein soll, muss sie also den angeborenen Prinzipien der UG entsprechen. Wenn eine Sprache gegen eines dieser Prinzipien verstößt, kann sie vielleicht von einem Computerprogramm oder Paul Frommer  —  Die Erfindung von Na’vi, der Muttersprache von Pandora

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von Menschen, die Sätze so konstruieren, wie sie Schachaufgaben lösen, leicht gehandhabt werden, aber sie wird am Ende von niemandem fließend gesprochen werden. Betrachten wir als Beispiel zwei in Inhalt und Struktur identische Sätze auf Englisch und Deutsch: »I saw the film last year« und »Ich sah den Film letztes Jahr«. In der englischen Version können wir »last year« an den Anfang setzen, was zu »Last year I saw the film« führt, einem grammatikalisch vollständigen Satz, wenn auch vielleicht mit einer anderen Betonung. Die parallele Verschiebung im Deutschen ergibt jedoch »Letztes Jahr ich sah den Film«, was nicht grammatikalisch korrekt ist. Es bedarf einer zusätzlichen Umstellung: Das Verb muss an die »zweite Position« rücken – »Letztes Jahr sah ich den Film«. Aber was bedeutet eigentlich »zweite Position«? Diese Regel genau zu spezifizieren ist schwierig und erfordert eine detaillierte Analyse der syntaktischen Struktur, aber eines ist klar: Die »zweite Position« ist die Position nach der ersten Phrase des Satzes, und diese Phrase kann beliebig lang sein (»Letztes Jahr an meinem fünfzigsten Geburtstag sah ich den Film.«). Dies veranschaulicht die Tatsache, dass sich grammatikalische Prozesse in der menschlichen Sprache auf Phrasen beziehen – was Linguisten als »Konstituenten« bezeichnen –; und dieser Begriff ist eines der Kernelemente der in der UG kodierten Sprachstruktur. Wenn man dieses Prinzip vorsätzlich unterlaufen wollte, könnte man beispielsweise die Regel aufstellen, dass das Verb nach dem ersten Wort eines Satzes und nicht nach der ersten Phrase steht. Ein Computer könnte eine solche Regel mit Leichtigkeit umsetzen, aber es ist zu bezweifeln, dass einem Menschen Formulierungen wie »Letztes sah Jahr ich den Film« mühelos und spontan von den Lippen kommen würden. Eine Sprache mit einer solchen Grammatikregel wäre nicht erlernbar. Die inneren Zwänge wiederum kamen von mir. Da ich davon ausging, dass die Sprache eine gewisse Aufmerksamkeit erhalten würde, wollte ich sicherstellen, dass sie interessant und ungewöhnlich ist und einer genauen Prüfung standhält. Außerdem wollte ich ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Komplexität und Zugänglichkeit erreichen und die Ex­ treme von beidem vermeiden – weder wollte ich eine Sprache entwickeln, die so komplex ist, dass potenzielle Lernende frustriert die Hände in den Schoß legen würden, noch eine Sprache, die so simpel ist, dass sie langweilig wirkt und keine Herausforderung darstellt. Mit diesen Überlegungen im Hinterkopf konnte ich beginnen, Na’vi zu konstruieren. Jedoch startete ich nicht mit dem, was man als den

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Sprache und Politik  —  Inspektion

grundlegendsten Aspekt einer solchen Konstruktion bezeichnen könnte, nämlich: die eigentlichen Wörter der Sprache zu erfinden. Der Prozess der Sprachkonstruktion variiert je nach Konstrukteur, aber es gibt eine Abfolge geordneter Schritte, die die meisten von uns absolvieren – eine Reihe von »Modulen« sozusagen –, in Verbindung mit einer entsprechenden Reihe von Fragen, die man sich stellen muss. Das erste dieser Module ist Phonetik und Phonologie – die einzelnen Laute und das Lautsystem einer Sprache. Da die Na’vi einen Sprachproduktionsmechanismus haben, der dem unseren sehr ähnlich ist, ähneln auch die Laute ihrer Sprache stark denen verschiedener menschlicher Sprachen. Aber welche Sprachlaute sind in der Sprache enthalten? Und, was ebenso wichtig ist, welche Laute kommen nicht in der Sprache vor? Im »Forest Na’vi« – dem Dialekt des Omatikaya-Clans, der ausschließlich im ersten Avatar«-Film zu hören ist – fehlen b, d, g, ch, sh und th, aber es gibt knallende, »ejektive« Laute, die im Na’vi-Rechtschreibsystem mit px, tx und kx bezeichnet werden; diese kommen zwar in den bekannten europäischen Sprachen nicht vor, aber in vielen indianischen, afrikanischen und asiatischen Sprachen. Wie werden die Laute nun verteilt, und wie werden sie miteinander kombiniert? Na’vi hat einen s-Laut, der jedoch nicht am Ende eines Wortes vorkommen kann; Na’vi hat einen ngLaut – einen sogenannten velaren Nasal –, der aber im Gegensatz zum Englischen durchaus am Anfang eines Wortes vorkommen kann; Na’vi hat ein k und ein l, aber anders als im Englischen kann ein Wort nicht mit kl beginnen. Allerdings kann ein Na’vi-Wort mit einigen seltsam aussehenden Konsonantenclustern beginnen, was zu Wörtern wie fngap (Metall), fpxäkìm (eintreten), skxom (Chance), stxeli (Geschenk), tskxe (Stein) und tsngawvìk (weinen) führt. Und wird es Ausspracheregeln geben, die bestimmte Laute unter bestimmten Bedingungen in andere verwandeln? In Na’vi verwandeln sich kʼs manchmal in hʼs, und tʼs in sʼs. Das nächste Modul ist die Morphologie – die Regeln der Wortstruktur. Wie sehen die Substantive aus? Werden sie flektiert, um die grammatikalische Funktion zu kennzeichnen, ähnlich wie die Kasusmarkierung im Deutschen, Russischen, Lateinischen und Griechischen, oder bleiben sie unflektiert, wie im Chinesischen und (meistens) im Englischen? Für Na’vi habe ich mich für ein »dreiteiliges« Kasusmarkierungssystem entschieden, das in den realen Sprachen extrem selten vorkommt und bei dem die Agenten transitiver Verben, die Objekte transitiver Verben und die Subjekte intransitiver Verben alle unterschiedlich markiert werden. Was ist mit den Verben? Werden sie nach Genus, Numerus, Tempus, Aspekt (d. h., Paul Frommer  —  Die Erfindung von Na’vi, der Muttersprache von Pandora

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ob eine Handlung als abgeschlossen oder fortlaufend betrachtet wird) usw. flektiert, und wenn ja, wie? Na’vi-Verben werden nach Tempus und Aspekt flektiert, aber die Beugungen erscheinen nicht als Präfixe oder Suffixe, sondern als Infixe, die in eine Wurzel eingefügt werden. Außerdem gibt es Ableitungsprozesse, die eine Wortart in eine andere umwandeln, z. B. Substantive in Verben und andersherum. Und wie sieht es mit der Syntax aus? Wie werden die Wörter zu Phrasen und Sätzen zusammengesetzt? Gibt es eine feste Wortfolge von Subjekt, Objekt und Verb (SVO? SOV? VSO? VOS? OSV? OVS?) oder ist die Wortfolge flexibel? Stehen Adjektive vor oder nach den Substantiven, die sie modifizieren? Wie sieht es mit der Wortstellung der Possessiva aus? Eher wie »des Buches Cover« oder eher wie »das Cover des Buches«? Und Relativsätze? Eher »der Mann, der ein Buch liest« oder »der buchlesende Mann«? Und was ist mit der Subordination, also der Verknüpfung von (Teil-)Sätzen? Wie sagen die Na’vi zum Beispiel: »Ich glaube, dass …«? Diese und viele weitere Überlegungen bestimmen, wie Na’vi-Sätze aussehen. Ein übergeordnetes Ziel, das ich mit der Syntax verfolgte, war jedoch, die Wortfolge so flexibel zu gestalten, dass ein Schauspieler, der Schwierigkeiten mit einem bestimmten Satz hat, diesen so umstellen kann, dass er leichter auszusprechen ist, aber dennoch grammatikalisch korrekt bleibt und die gleiche Bedeutung hat. Neben diesen grammatikalischen Entscheidungen bestand eine große Herausforderung darin, die Welt von Pandora so gut zu verstehen, dass die Sprache der Na’vi ihre Umgebung, Kultur und sogar ihre Physiologie angemessen widerspiegelt. Ein Beispiel, das ich gerne anführe: Da die Na’vi an jeder Hand vier statt fünf Finger haben, kam mir der Gedanke, dass sie wahrscheinlich eher ein oktales als ein dezimales Zählsystem haben. Ich habe das mit James Cameron besprochen, und seine Antwort lautete: »Ja, absolut!« VON FÄCHERECHSEN IN GELEE UND SENSIBLEN WALDGEWÄCHSEN Jetzt können Sie sich endlich an den Wortschatz machen, den Linguisten als »Lexikon der Sprache« bezeichnen. Aber auch hier ist Vorsicht geboten: Sie müssen sich jede einzelne Vokabel vornehmen und ihren Anwendungsbereich bestimmen. Nehmen wir an, Sie haben ein Wort für »lang« gefunden. Bezieht es sich nur auf die physische Länge, oder kann es auch für die zeitliche Länge verwendet werden (wie im Englischen, wenn wir »a long time« sagen)? Vielleicht ist es auch das Wort für »groß«! Diese

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Sprache und Politik  —  Inspektion

Antworten liegen nicht auf der Hand; man muss solche Dinge herausfinden, wenn man die Sprache richtig verwenden will. Eine der schönsten Aufgaben bei der Entwicklung von Na’vi war es, Gleichnisse, Metaphern, Redewendungen und Sprichwörter zu finden, die auf natürliche Weise auf Pandora entstanden sein könnten und die Gesellschaft und Umwelt der Na’vi widerspiegeln – Dinge, die eine Sprache bereichern und zu ihrer Einzigartigkeit beitragen. Dies sind einige meiner Favoriten: Na loreyu ’awnampi – »Wie eine berührte Helikoradiane«. Die Helikoradiane ist eine ikonische Waldpflanze, die sich bei Berührung schnell in den Boden zurückzieht. Dieses Gleichnis wird für eine schüchterne Person verwendet. Na kenten mì kumpay – »Wie eine Fächerechse in Gelee«. Eine Fächerechse in Gelee wäre nicht in der Lage, ihre riesigen Flügel auszubreiten und fortzuschweben. Wird verwendet, wenn man sich in einer Situation befindet, in der man daran gehindert wird, sich natürlich zu verhalten. Fwäkì ke fwefwi. – »Eine Gottesanbeterin pfeift nicht.« Ein Sprichwort mit einem Wortspiel (fwäkì/fwefwi), das bedeutet, dass man von einem Menschen nicht erwarten kann, dass er etwas tut, was nicht in seiner Natur liegt. Po keynven sìn ketse. – »Er tritt auf Schwänze.« Das heißt, jemand ist gesellschaftlich unbeholfen. WIE EINE SPRACHGEMEINSCHAFT ENTSTEHT Zum Schluss möchte ich noch den vielleicht lohnendsten Aspekt meiner gesamten Beschäftigung mit Na’vi erwähnen. Die Entstehung von lì’fyaolo’ – der Sprachgemeinschaft aus Na’vi-Anhängern, die sich die Sprache angeeignet haben und sie so perfekt beherrschen, dass sie auf Na’vi kommunizieren, und dies höchst kreativ und elegant – war für mich ein unerwartetes Vergnügen. Ihre bohrenden Fragen regen mich nicht nur intellektuell an und helfen mir, die Sprache zu erweitern; meine Einbindung in diese Gemeinschaft hat auch wertvolle Freundschaften entstehen lassen, die zu einem festen Bestandteil meines Lebens geworden sind. Doch warum sollte sich jemand mit solcher Leidenschaft in das Studium einer erfundenen Sprache stürzen? Im Jahr 2011 führte die linguistische Anthropologin Christine Schreyer, eine außerordentliche Professorin an der Paul Frommer  —  Die Erfindung von Na’vi, der Muttersprache von Pandora

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University of British Columbia Okanagan, eine soziolinguistische Studie über die Na’vi-Sprachgemeinschaft durch, die zu mehreren Artikeln und Zeitschriftenartikeln5 führte, darunter auch zu einer Präsentation vor der American Anthropological Association. Ihre Studie dokumentierte nicht nur die Vielfalt der Gemeinschaft, sondern ermittelte auch die Gründe der Na’vi-Sprecher für das Erlernen der Sprache. Wie erwartet, war eine der Hauptmotivationen der Wunsch, eine Verbindung zu Pandora und der Welt von Avatar aufrechtzuerhalten. Fans des Films, die ihn mehrfach gesehen hatten und nichts lieber täten, als auf diesen Mond zu ziehen und unter seinen blauen Bewohnern zu leben, können zumindest ihre Sprache lernen. Das war jedoch nur der zweithäufigste Grund. Der erste war der »Coolness«-Faktor – die Erkenntnis, dass die Sprache an sich faszinierend und schön ist. Eine andere wichtige Gruppe von Na’vi-Lernenden sprach von der freundlichen und nicht wertenden Natur der Online-Community, in der sie sich akzeptiert und respektiert fühlten, da sie sich mit Gleichgesinnten zusammenschlossen. Was auch immer die Gründe für ihr Interesse sein mögen, einige der besonders versierten Mitglieder unserer Sprachgemeinschaft haben eine erstaunliche Reihe von Lernressourcen erstellt, um Anfängern beim Studium von Na’vi zu helfen: Wörterbücher, Grammatiken, Sprachkurse, sogar einen Text-to-Speech-Generator, der das eingegebene Na’vi korrekt ausspricht. Um nur zwei davon herauszugreifen: William Annisʼ A Reference

5  Vgl. u. a. Christine Schreyer, 2015. The Digital Fandom of Na'vi Speakers, in: Transformative Works and Cultures. Special Issue: Performance and Performativity in Fandom, 2015, tinyurl.com/indes231i1. 6  William Annis, Horen Lì’fyayä leNa’vi. A Reference Grammar of Na'vi, 2021, tinyurl.com/indes231i2. 7  Stefan G. Müller, An Annotated Na’vi Dictionary. Aysìkenonghu a Lì’upuk leNa’vi, 2023, tinyurl.com/indes231i3. 8  www.naviteri.org.

Grammar of Na’vi ist ein Kompendium im akademischen Stil, in dem alles, 6

was über die Na’vi-Grammatik bekannt ist, systematisiert ist. Und Stefan Müllers An Annotated Na’vi Dictionary7 bietet nicht nur detaillierte Informationen zu jedem Eintrag im Na’vi-Lexikon, sondern veranschaulicht dessen Verwendung anhand zahlreicher kanonischer Beispiele, die meist aus meinem Na’vi-Blog8 stammen, in dem ich neue Vokabeln vorstelle. Diese beiden Werke, die regelmäßig aktualisiert werden, sehen aus, als wären sie von einem großen Wissenschaftsverlag veröffentlicht worden. Mit dem Erscheinen des ersten Avatar-Sequels, Avatar: Der Weg des Wassers, in der eine neue Na’vi-Variante auftaucht, hat die Fangemeinde neuen Auftrieb erhalten, und die Zahl der Mitglieder in den OnlineSprachgemeinschaften ist gestiegen. Auch ich fühle mich wieder motiviert, den Na’vi-Wortschatz auszubauen, den neuen Reef- Dialekt weiter auszuleuchten und an zusätzlichen Lernressourcen zu arbeiten. Da noch drei weitere Avatar-Sequels in Arbeit sind, wird es für mich sicher noch viel zu tun geben. 

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Übersetzt von Katharina Rahlf Sprache und Politik  —  Inspektion

Paul R. Frommer ist Professor emeritus für Clinical Business Communication an der Marshall School of Business der University of Southern California. Er promovierte 1981 in Linguistik mit einer Dissertation über einen Aspekt der persischen Syntax. Vor seiner Tätigkeit an der Marshall School lebte und lehrte er in Malaysia sowie im Iran und war zehn Jahre lang in der Geschäftswelt tätig. Frommer begann 2005 mit der Entwicklung der Na’vi-Sprache für James Camerons Avatar. Außerdem entwickelte er die Sprache der Marsmenschen für den Film John Carter (2012).

I WISH I WAS SPECIAL, YOU’RE SO F***ING SPECIAL POLITISCHE KOMMUNIKATION QUA PAUSENMUSIK BEIM CDU-PARTEITAG? Ξ  Volker Best

Ursprünglich exklusiv den Delegierten vorbehalten, sind Parteitage spätestens seit dem Leipziger Parteitag der SPD 1998 »zu einem Stück Politmesse für den Nachrichten-Großhandel geworden«, bei dem versucht wird, »das Markenzeichen Partei facettenreich zu präsentieren«.1 Damit gerieten sie zu hochgradig professionell durchchoreografierten Veranstaltungen, bei denen wenig dem Zufall überlassen bleibt. Sicherlich ist hier noch mal zu differenzieren zwischen regelrechten »Krönungsmesse[n]«2 im Rahmen von Wahlkämpfen und Arbeitsparteitagen inmitten der Legislaturperiode. Aber auch bei Letzteren gilt es in Zeiten des permanent campaigning und der allgegenwärtigen Demoskopie, gewünschte Botschaften und Images nach außen zu kommunizieren. Schließlich liegen irgendwo in der Bundesrepublik stets wichtige Wahlen mit Ausstrahlungswirkung auf die nationale Ebene an. KAKOFONIE UM QUOTE UND GLEICHSTELLUNG Beim Parteitag der CDU im September 2022 stand die niedersächsische 1  Klaus Liepelt & Markus Rettich, Wahlparteitage als Meinungsklima im Wahljahr 2002, in: Otto Altendorfer u. a. (Hg.), Die Inszenierung der Parteien am Beispiel der Wahlparteitage 2002, Eichstätt 2003, S. 83–110, hier S. 83. 2  Hans Georg Soeffner & Dirk Tänzler, Medienwahlkämpfe – Hochzeiten ritueller Politikinszenierung, in: Andreas Dörner & Ludgera Voft (Hg.), Wahl-Kämpfe, Frankfurt a. M. 2022, S. 92–115, hier S. 94. 3  Vgl. Daniel Delhaes, Erster Parteitag unter Friedrich Merz. Die CDU muss vieles klären, in: Handelsblatt, 09.09.2022.

Landtagswahl vor der Tür. Wenig verwunderlich also, dass er in Hannover stattfand und vom niedersächsischen Spitzenkandidaten Bernd Althusman eröffnet wurde. Nachdem der erste Parteitag nach der Niederlage bei der Bundestagswahl im Januar noch digital stattgefunden hatte, so dass das noch von Annegret Kramp-Karrenbauer angestoßene Thema Frauenquote abermals vertagt worden war, hieß es nun beim ersten Präsenzparteitag seit Corona für Friedrich Merz, in dieser Sache Farbe zu bekennen. Um den hierzu letztlich nur mit knapper Mehrheit und widerwillig getroffenen Beschluss nicht zur Hauptbotschaft des Parteitags werden zu lassen, wurden zunächst aber ein eilig formulierter Plan zur Energie- und Inflationskrise infolge Russlands Überfall auf die Ukraine und am Ende noch das verpflichtende Gesellschaftsjahr verabschiedet.3 Außerdem setzte die CDU einen Kontrapunkt zu ihrer neuen ungeliebten Quote, indem sie sich in einer länglichen Debatte darüber erging, ob man

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nun Gleichstellung – wie bereits vor 15 Jahren in der CDU-Programmatik verankert – anstrebe, oder ob das ein fieser rot-grün-woker Kampfbegriff sei und man sich lieber auf den Begriff der Gleichberechtigung zurückziehen solle.4 Merz’ euphemistische Kommentierung der Kakofonie: Die CDU habe auf dem Parteitag gezeigt, dass sie eine »auch emotional engagierte Partei« sei.5 PARTEITAGSPAUSE – KOMMUNIKATIONSPAUSE? »Ein gut organisierter, gut gestalteter und damit gut kommunizierter Parteitag ist ein Test für die zukünftige Regierungsorganisation. Das Publikum stellt sich die Frage: ›Können sie es oder können sie es nicht?‹«.6 Auch Musik ist Kommunikation und wird daher mit Bedacht eingesetzt. Inwiefern das ebenso für Pausenmusik auf Parteitagen gilt, ist weniger offenkundig. Ein überwölbendes Konzept hierzu hatte man sich beim CDUParteitag wohl schon überlegt: Jazzige Coverversionen bekannter Pop- und Rocksongs – per se vielleicht nicht das ungeschickteste Volksparteienmusikgenre, weil viele sich darin zumindest ein bisschen wiederfinden können, die einen eher im Original, die anderen eher im Stil des Covers. Welche Sorgfalt auf die Auswahl einzelner Titel im Rahmen eines solchen Konzepts verwendet wird, wo diese doch nur die Pause füllen sollen, und welche Schlüsse man somit daraus für die Situation und die Kommunikationsstrategie einer Partei ziehen kann, ist schwer zu sagen. Im Folgenden wird daher auf zwei Songs Bezug genommen, die im Rahmen des Hannoveraner Parteitags gleich zweifach zum Einsatz kamen, was eher gegen das schlichte Zurückgreifen auf eine der vorgefertigten Playlists etwa des Musikstreaming-Anbieters Spotify spricht, die zig Songs enthalten. Dennoch ist durchaus denkbar, dass die Pausenmusik nicht explizit ausgewählt wurde oder jedenfalls wenig Gedanken darauf ver(sch)wendet wurden. Das verhindert freilich nicht, dass der geneigte Beobachter sich hierzu seine Gedanken macht. Hier sei Paul Watzlawicks erstes Axiom

4  Vgl. Tagesschau, Christdemokraten beschließen Grundwertecharta, 10.09.2022, tinyurl.com/indes231j2. 5  Zit. nach o. V., Merz sieht CDU nach Parteitag auf Erneuerungskurs, in: Der Stern, 10.09.2022, tinyurl.com/indes231j3.

menschlicher Kommunikation in Erinnerung gerufen: »Man kann nicht nicht kommunizieren.«7 Und in den fraglichen Momenten ist die musikalische Übermalung der visuellen Ereignislosigkeit eben das einzige Signal, das von einem Parteitag ausgeht. Es war im konkreten Fall ein eher zurückhaltendes Signal: Die JazzCover drängen sich nicht unangemessen in den Vordergrund. Auch darin besteht ein wahrscheinlicher Grund für die Wahl dieses Genres. Wenn es weitergeht im Ablaufplan des Parteitags, lässt sich solche Musik vergleichsweise elegant herunterpegeln.

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6  Marion G. Müller, Parteitage in der Mediendemokratie, in: Ulrich von Alemann & Stefan Marschall (Hg.), Parteien in der Mediendemokratie, Wiesbaden 2002, S. 147–172, hier S. 168. 7  Paul Watzlawick u. a., Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, Bern 2007, S. 53 (Hervorhebung im Original).

Dennoch bringt das ungewohnte musikalische Gewand bekannter Songs – und der Umstand, dass eben ansonsten »tote Hose« ist8 – mit sich, dass man vielleicht umso mehr auf die Lyrics achtet. Und die lassen sich – ob intendiert oder nicht – durchaus beziehungsreich auf die Situation der CDU ummünzen. Ob das dann spekulativ angeleitete Wissenschaft mit satirischen Tendenzen, wissenschaftlich angeleitete Satire mit spekulativen Tendenzen oder satirisch angeleitete Spekulation mit wissenschaftlichen Tendenzen ist oder sonstwas, liegt im Auge jeder geneigt lesenden Person und mag sich auch im Textverlauf ändern. WER IST HIER DER WEIRDO? 8  Nicht zu verwechseln mit der Band Die Toten Hosen, bei deren Frontmann Campino sich die Kanzlerin 2013 für das Feiern zu ihrem An Tagen wie diesen mit Deutschlandfähnchen schwenkendem Generalsekretär Gröhe entschuldigte, vgl. Kristin Dowe, Der Wahlkampf macht die Musik, in: Westdeutsche Zeitung, 27.06.2017, tinyurl.com/indes231j4. 9  Vgl. CDU.TV, 35. Parteitag der CDU Deutschlands – Tag 1, tinyurl.com/indes231j5. 10  Vgl. Florian Naumann u. a., CDU-Parteitag: Schlappe für Junge Union – Mehrheit stimmt für verpflichtendes soziales Jahr, in: ­Münchner Merkur, 11.09.2022, tinyurl.com/indes231j6. 11  Zit. nach Maximilian Breer, CDU-Parteitag: Merz begrüßt »stolze Zahl« von 58 ÖRR-Redakteuren, in: Berliner Zeitung, 09.09.2022, tinyurl.com/indes231j7. 12  Vgl. Daniel P ­ okraka, CDU will Öffentlich-Rechtliche reformieren, in: tagesschau.de, 10.09.2022, tinyurl.com/indes231j8. 13 

Vgl. Frauke Niemeyer, Merz balanciert zwischen Demut und Keilerei. Ein Parteichef on fire, in: NTV, 09.09.2022, tinyurl.com/indes231j9.

Nur kurz eingegangen werden soll auf den Song, mit dem unter anderem die Live-Übertragung des Parteitags auf dem Youtube-Kanal der CDU9 beginnt: mit Jamie Lancasters Version des The Cure-Hits Boys Don’t Cry – vielleicht als subtile Aufforderung an die Konservativen, sich mit der Einführung der Frauenquote abzufinden und sich nicht als deren Opfer zu gerieren, analog zu den von der Frauen-Union an die Delegierten verteilten rosa Donuts mit der »Aufschrift »Don’t panic, it’s just equality«?10 Die größte Irritation entsteht aber – jedenfalls beim Autor, der ein großer Fan der Band Radiohead ist – beim Cover von deren Hit Creep durch Karen Souza. Dessen Refrain lautet nämlich: »But I’m a creep / I’m a weirdo / What the hell am I doing here? / I don’t belong here«. Ein creep – ein widerlicher Mensch –, ein weirdo – ein Spinner oder gar Psychopath? Das scheint so gar nicht zur Bürgerlichkeit zu passen, welche die CDU zu verkörpern sich auf die Fahne schreibt. Also: Was zur Hölle mache ich hier, ich gehöre hier nicht hin – die ultimative Aufforderung an alle creeps und weirdos, den Parteitag zu verlassen? Aber wie und warum wären diese dann überhaupt dorthin gekommen – doch wohl nicht als Delegierte der christdemokratischen Basis? Sollten etwa die 58 Vertreter:innen der öffentlich-rechtlichen Medien gemeint sein, die Friedrich Merz eingangs eher unterschwellig drohend als warmherzig willkommen hieß, man werde sich mit ihnen »im Verlaufe dieses Parteitages besonders liebevoll beschäftigen«11, genauer: damit, dass die Öffentlich-Rechtlichen mehr zusammenarbeiten und weniger kosten sowie ihre Journalist:innen ihre Privatmeinung weniger offensiv äußern und bitte überhaupt nicht mehr gendern sollen?12 Eigentlich ein bisschen arg konfrontativ für auf (gesellschaftliche) Harmonie bedachte Konservative. Aber es brauchte, obwohl man mit solchem Gestus doch recht nah an die AfD heranrückte, mit der es eine Zusammenarbeit »niemals« geben werde,13 offenbar derlei Volker Best  —  I wish I was special, you’re so f***ing special

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Spitzen als plakative Kontrapunkte zur offenkundig opportunistisch motivierten Anpassung an den Zeitgeist in Sachen Frauenquote. Vielleicht sollte das musikalische Zitat aber auch aufzeigen, wie sich junge Frauen fühlen, die das erste Mal in von alten Männern dominierten CDU-Ortsvereinen aufschlagen?

14  So Schlagzeuger Ed O’Brien, zit. nach Tom ­Bryant, So F**king Special, in: Everything In Its Right Place, (Q Special Edition Radiohead), London o. J., S. 19­–21, hier S. 20.

SO FUCKING MITTE Ebenso wichtig wie der Refrain von Creep sind die ihm in beiden Strophen unmittelbar vorausgehenden Zeilen »I wish I was special / You’re so fucking special« und die in die nur wenige Sekunden lange Lücke zum Refrain zweifach verfrüht reinrotzende E-Gitarre. Der Band zufolge handelt es sich dabei um einen Sabotage-Versuch des beim ersten Erproben des neuen Materials unzufriedenen Gitarristen – »That’s the sound of Jonny trying to fuck the song up«14 –, der dann aber zum eigentlichen Charakteristikum des Songs geriet, der Radiohead zum Durchbruch verhalf. Dieser Durchbruch führte die Band freilich an den Rand der Auflösung. Ihre Plattenfirma vermarktete sie als die nächsten Nirvana, glaubte aber nicht wirklich an mehr als ein One Hit Wonder15 und versuchte, den Hype um Creep auf schlauchenden Touren durch Israel, die USA und Europa mit massenhaften Promotion-Terminen anzuheizen und auszubeuten, solange er eben andauern würde. Die Band geriet dadurch teils hart an die Grenze nicht nur der Erschöpfung, sondern auch der Selbstverleugnung, etwa wenn sie im Call-in-Radio Teenagern mit Rat zu deren sexuellen Problemen zur Seite stehen oder ihre creepy Hitsingle bei MTVs Beach House Party inmitten tanzender Bikini-Babes aufführen sollten. Nach einem

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15  »Nirvana’s Nevermind (1991) is Pablo Honey’s closest contemporary musical and lyrical counterpart«, urteilen auch Allan F. Moore & Anwar Ibrahim, »Sounds Like Teen Spirit«. Identifiying Radiohead’s Idiolect, in: Joseph Tate (Hg.), The Music and Art of Radiohead, Aldershot & Burlington 2005, S. 139–158, hier S. 142 (Hervorhebung im Original). Auf dem Debütalbum Pablo Honey gibt es nach übereinstimmender Expertenmeinung wenig, dass der damaligen One Hit WonderPrognose der Plattenfirma entgegenstand, während sich die drei nachfolgenden Alben alle auf der »The 500 Greatest Albums Of All Time«-Liste 2020 des Rolling Stone wiederfinden: The Bends (1995) auf Platz 276, OK Computer (1997) auf Platz 42 und Kid A (2000) auf Platz 20. Ihr siebtes Album In Rainbows (2007) schaffte es zudem auf Platz 387. Vgl. tinyurl.com/ indes231j10. In einer Gesamtübersicht des Band-Œuvres wird Pablo Honey weder unter »MustHaves« noch unter »Further Listening«, sondern nur unter »Going Deeper« aufgeführt und wie folgt kommentiert: »If this was all they’d ever done, they’d be a platinum-plated Nineties relic, synonymous only with the killer misanthrope kitsch of ›Creep‹. The rest is bad, often embarrassingly so: future greats not quite getting it together yet.« Jonah Weiner, Radiohead: A Complete Album Guide, in: Rolling Stone, 20.06.2016, tinyurl.com/indes231j11.

Jahr fühlten sich Radiohead weniger wie eine Band als wie eine Jukebox, von der immer nur das Abspulen desselben Songs erwartet wurde, den sie intern in »Crap« (Müll) umtauften und zeitweise gar nicht mehr und auch später nur noch gelegentlich wieder spielten.16 Obszöne Ausdrücke, so disziplin- wie rücksichtsloses destruktives Reindreschen und dann auch noch Leistungsverweigerung – weniger »im besten Sinne bürgerlich«17, weniger maßund-mittig, weniger staatstragend, weniger »dienend« geht es kaum. Sowohl das »fucking« als auch der doppelte Stör-Powerchord blieben den christdemokratischen Parteitagsdelegierten freilich erspart, weil ersteres in der Coverversion zu einem »very« entschärft18 und über zweiteres fugenlos hinweggeplätschert wurde. Hier kommt ein Zitat in den Sinn, das die CDUWahlkampfstrategie der asymmetrischen Demobilisierung in die Metapher fasste, dass die Christdemokraten die Wahlkampfschlager ihrer Wettbewerber als Easy-Listening-Versionen 16 

Vgl. ebd.

präsentierten.19 Als Nach-langer-Zeit-mal-wieder-Oppositionspartei versucht sie sich freilich

CDU, Grundwertecharta der CDU Deutschland. Beschluss des 35. Parteitags der CDU Deutschlands, 10.09.2022, tinyurl.com/indes231j12, S. 5. 17 

18  Selbst Radiohead hatten für den US-Markt eine Version aufgenommen, in der »fucking« durch »very« ersetzt ist. 19  Leider kam nur die Metapher in den Sinn, deren Urheber:in ließ sich auch mit einiger Recherche nicht ermitteln. Der Autor dankt für sachdienliche Hinweise. 20  Anja Günther, Auf der Suche nach Erneuerung, in: tagesschau.de, 11.09.2022, tinyurl.com/indes231j13.

derzeit eher am umgekehrten Kunststück: Ihrer in 16 Merkel-Jahren unter zumeist großkoalitionären Vorzeichen weich- oder fortgespülten Programmatik wieder einige markante Akzente zu verpassen – »I wish I was special«? MITTIG KRITTELN, RECHTS CREEPEN Der mit einem neuen Grundsatzprogramm betraute Carsten Linnemann packte diese Sehnsucht in den Satz: »Ziel sollte es eigentlich sein, dass jedes CDU-Mitglied nachts um drei Uhr geweckt wird und jeder sofort sagt: Erstens, zweitens, drittens, dafür steht die CDU.«20 Eigentlich – aber mit der Schaffung einer solchen Klarheit tut sich Friedrich Merz zum Erstaunen Volker Best  —  I wish I was special, you’re so f***ing special

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seiner Anhänger:innen doch recht schwer, so sehr er auch »brilliert in der Rolle des Oppositionsführers mit schneidiger Selbstgewissheit« und einem »Sound des oberlehrerhaften Besserwissens«.21 Das teils kleinliche Bekritteln der im permanenten Krisenmodus operierenden Ampel – für Merz »eine der wohl schwächsten Bundesregierungen aller Zeiten«22 – mag wohlfeil und für eine konservative Partei, die erst vor einem Jahr die Machthebel aus der Hand gelegt hat und an den aktuellen Krisensymptomen nicht unschuldig ist, seltsam geschichtslos anmuten. Aber es gehorcht der und gehört zur Funktionslogik des parlamentarischen Systems. Wahrlich creepy erschienen indes jüngst das InsFeld-Führen falscher Zahlen zur Vergiftung des Meinungsklimas gegen das Bürgergeld23 und der tiefe Griff in die Ressentiment-Kiste, erst unter Rückgriff auf das Unwort des Jahres 2013 »Sozialtourismus« mit Blick auf die Ukraine-Flüchtlinge,24 dann in Sachen doppelte Staatsbürgerschaft, die nicht »verramscht« werden dürfe »wie eine Billigware am Black Friday«25, schließlich nach den Silvester-Krawallen vor allem in Berlin bereichert um die Rede von »kleinen Paschas«. Die Berliner CDU-Fraktion verlangte zudem, die Vornamen der deutschen Tatverdächtigen zu erfahren, Generalsekretär Mario Czaja forderte eine Deutschpflicht auf Schulhöfen.26 Dabei wollte die CDU neben Frauen und jungen Familien eigentlich auch Menschen mit Migrationshintergrund als Wählerpotenzial stärker ins Visier nehmen.27 »Bürgerliche Politik lädt ein und schließt nicht aus. Sie steht für ein Versprechen, in Deutschland mitwirken, seine Talente und Begabungen einbringen und aufsteigen zu können, für gesellschaftliche Integration und Selbstbestimmung […]«28 – Grundsatzpapier ist geduldig, Parolen wollen raus. Auch eine Spitze im Gastauftritt des Schwesterpartei-Vorsitzenden Markus Söder gegen Anton Hofreiter kann dahingehend gedeutet werden, dass aus Unionssicht Integration (in einem weiteren Sinne) noch immer gleichbedeutend ist mit Assimilation: Diesem glaube er erst, »dass er für die Bundeswehr ist, wenn er sich endlich einen ordentlichen militärischen Haarschnitt zulegt«.29 Die Bundeswehr selbst ist in Bezug auf langhaarige linke Weirdos mittlerweile toleranter. Klar: ein Witz – aber eben einer, von dem Söder ahnte, dass er auf dem CDU-Parteitag ankommen würde. RADIOHEAD FEAT. MARK FORSTER »CDU ist wie Mark Forster«, war ein Artikel der taz überschrieben, der im Vorfeld der Bundestagswahl 2021 die musikalischen Vorlieben der Spitzenkandidat:innen in den Blick nahm. Aufgehängt war diese Überschrift

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21  Karl-Rudolf Korte, Im Land der Oberlehrer, in: Süddeutsche Zeitung, 09.12.2022, tinyurl.com/indes231j14. 22 

Zit. nach Günther.

23  Vgl. Moritz Serif, Bürgergeld Kritik der Union: »Völlig falsch und widerlegt«, in: Frankfurter Rundschau, 22.11.2022, tinyurl.com/indes231j15. 24  Vgl. Gabor Halasz, Friedrich Merz weiß, was er sagt, in: Tagesschau, 27.09.2022, tinyurl.com/indes231j16. 25  Unionsfraktionsvize Alexander Dobrindt bzw. Parlamentarischer Geschäftsführer Thorsten Frei, zit. nach Hannah Bethke, Staatsbürgerschaft leicht gemacht, in: Die Zeit, 26.11.2022, tinyurl.com/indes231j17; ähnlich auch Generalsekretär Mario Czaja, vgl. o. V., Wirtschaft für schnellere Einbürgerungen, in: tagesschau.de, 29.11.2022, tinyurl.com/indes231j18. 26  Vgl. o. V., Zwischen Rassismus und Diskriminierung. Die Aussagen der CDU im neuen Jahr, in: Frankfurter Rundschau, 14.01.2023, tinyurl.com/indes231j19. 27  Vgl. Robert Rossmann, Gretchenfrage Integration, in: Süddeutsche Zeitung, 13.01.2023, tinyurl.com/indes231j20. 28 

CDU, S. 5.

29  Zit. nach Frauke Niemeyer, Der harte Kampf, sich selbst zu verändern, in: NTV, 10.09.2022, tinyurl.com/indes231j21.

an dem Bekenntnis Armin Laschets in einem Interview mit dem Musikmagazin Rolling Stone, eines der letzten von ihm besuchten Konzerte sei das von Mark Forster gewesen. Die Autorin knüpft daran folgende Deutung an: »CDU-Politik und die runtergesülzten Nerv-Songs von Mark Forster verbindet eines: Man könnte es besser haben, ist sich aber zu bequem, mal die Komfortzone der Schlechtheit zu verlassen. Deswegen wählen die Deutschen 30  Nadia Shehadeh, CDU ist wie Mark Forster. Musikgeschmack im Wahlkampf, in: taz, 27.08.2022, tinyurl.com/indes231j22. 31  Diese Zeilen entstammen dem Refrain von Mark Forsters erster Hitsingle Au revoir. 32  Vgl. Matthew Lampert, Why a Rock Band in a Desolate Time?, in: Brandon W. Forbes & George A Reisch, Radiohead and Philosophy. Fitter Happier More Deductive, S. 203–220, hier S. 204 ff. 33  Das nur mühsame Einfinden der Union in die Oppositionsrolle lässt sich auch daran ablesen, dass sie weit weniger Kleine Anfragen (302) gestellt hat als die weit kleineren Fraktionen von AfD (768) und Die LINKE (538). Auch in puncto Gesetzesinitiativen und Anträge fällt ihre Bilanz im Vergleich mau aus. Vgl. Deutscher Bundestag, Statistik der Parlamentarischen Initiativen – 20. Wahlperiode. Stand der Datenbank: 02.01.2023, tinyurl.com/indes231j23. 34  Vgl. Benjamin Höhne, Grenzen des Demokratielabors. Wie wahrscheinlich ist eine Parlamentskooperation von CDU und AfD in Ostdeutschland?, in: GWP – Gesellschaft. Wirtschaft. Politik, H. 2/2020, S. 157–168; Konrad Litschko, CDU in Thüringen – Erneutes Spiel mit dem Dammbruch, in: taz, 06.12.2022, tinyurl.com/ indes231j24; Iris Mayer, Risse in der Brandmauer, in: Süddeutsche Zeitung, 16.12.2022, tinyurl.com/indes231j25.

immer wieder die Union, so wie sie immer wieder auf mittelmäßige Konzerte rennen.«30 Doch das war die mainstreamige Merkel-Union, bevor sie bei der Bundestagswahl 2021 runtergerockt wurde. Inzwischen liegt die CDU/CSU in der Gunst der Wählerschaft zwar tatsächlich wieder an der Spitze, aber weiterhin unter der 30-Prozent-Volksparteienschamgrenze. Um mit Mark Forster zu sprechen: »Vergesst, wer ich war / Vergesst meinen Namen / Es wird nie mehr sein, wie es war«.31 An dieser Stelle ist der Stadionpopper Forster zwar nicht musikalisch, aber doch textlich überraschend nah an den (späteren) Artrockern von Radiohead. Zentrale Motive in deren Opus, die bereits in Creep anklingen, sind Entfremdung, Passivität und Kontrollverlust.32 Trotz aller Prima-facie-Unstimmigkeiten passt das doch irgendwie, vielleicht sogar ganz hervorragend, zur aktuellen Lage der CDU: Von ihrer eigenen Regierungspolitik der Ära Merkel ist sie entfremdet, in der Opposition ist sie zu relativer und für sie ungewohnter Passivität verurteilt,33 und die Kontrolle über die östlichen Landesverbände droht ihr zu entgleiten34 – oder in den Worten des von der CDU gewählten Pausenfüllers: »What the hell am I doing here?«

Dr. habil. Volker Best, geb. 1981, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und seit 2022 Mitglied der Redaktionsleitung der INDES. Seine Interessenschwerpunkte sind Parteien- und Koalitionsforschung sowie Demokratiereform.

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PERSPEKTIVEN

ANALYSE

NACH DER LIBERALEN ­HEGEMONIE? KONTUREN EINER DILEMMATISCHEN WELTORDNUNG Ξ  Thorsten Hasche

Kritische Zeitdiagnosen gehören zum Instrumentarium der soziologisch fundierten Moderne und sind seit dem 19. Jahrhundert vielfältiger Ausdruck wissenschaftlicher Rationalität in einer umkämpften öffentlichen Debatte. In kritischen Zeitdiagnosen verbindet sich das standortgebundene Erkenntnisinteresse des Beobachtenden mit einer breiteren, theoriegebundenen Perspektivierung. Vornehmliches Ziel einer Zeitdiagnose ist es, die Irritationen der vorherrschenden Selbstverständnisse auf den Punkt zu bringen.1 Ein zentrales Leitthema in puncto schwankender Gewissheiten gerade der deutschsprachigen Öffentlichkeit nach der von Bundeskanzler Olaf Scholz identifizierten »Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents«2 ist die Krise des westlichen Liberalismus in der Weltpolitik. Da1  Vgl. die Ausführungen von Hans-Peter Müller, Krise und Kritik. Klassiker der soziologischen Zeitdiagnose, Berlin 2021. 2  So die Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022. 3  Vgl. die sehr vielschichtigen historischen, philosophischen und soziologischen Beiträge in Kursbuch. Der Westen, H. 211/2022. 4  Vgl. das Standardwerk von Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens. Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München 2016.

runter wird gemeinhin die ökonomische und geo- bzw. sicherheitspolitische Herausforderung der US-amerikanisch fundierten Weltordnung durch Iran, Russland und China, in Teilen auch Indien, verstanden. Als Merkmal des »Westens« wird zudem in der Regel auch die aus der transatlantischen Expansion des 19. und 20. Jahrhunderts hervorgegangene Wertefundierung des weltweiten Menschenrechtssystems gefasst.3 Beide Dimensionen einer liberalen Hegemonie scheinen aus vielschichtigen Gründen unter Druck zu geraten und es herrscht eine grundsätzliche Verunsicherung bezüglich der Zukunft des Westens als der bestimmenden Kraft globaler Entwicklungen.4 Zeigen die vorherrschenden Ideen und Ideologien der bestimmenden Strukturen der Weltordnung also eine Zeitenwende »nach der liberalen Hegemonie« an? Wenn ja, wie kann diese erklärt werden und was lässt ein solcher ideeller und struktureller Wandel erwarten?

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ASIEN ALS MOTOR EINER NEUEN WELTORDNUNG Für ein Verständnis einer als Zeitenwende verstandenen Krise des westlichen Liberalismus boten sich für eine längere Zeit vornehmlich zwei zeitdiagnostische Hauptstränge als Erklärung an. Auf der einen Seite wurden die hausgemachten Schwächen des Westens identifiziert, vor allem das Scheitern seiner Interventionspolitik nach den Anschlägen des 11. Septembers 20015 in Staaten und Konfliktherden der MENA-Region6 und Zentralasiens.7 Auf der anderen Seite wurden in zahlreichen Studien die vielschichtigen Stärken Asiens als des ökonomischen und zunehmend auch sicherheitspolitischen Motors einer post-westlichen Welt herausgestellt, was mit einer prognostizierten Veränderung in der globalen Sicherheitsarchitektur einhergehe.8 Auf den ersten Blick erscheinen diese beiden zeitdiagnostischen Stränge vor allem zusammengenommen sehr überzeugend, um die gegenwärtige Zeitenwende zu verstehen. Eine Mischung aus der leidlich wertegeschmückten Hybris der westlichen Staaten und dem porösen Fundament ihrer einst unangefochtenen globalökonomischen Ausnahmestellung machte es den nicht-westlichen Staaten nur allzu leicht, eine neue globale Ordnung nicht nur auszurufen, sondern auch sukzessive zu installieren. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, Chinas rücksichtslose Umgestaltung der politischen Ordnung in Hongkong sowie der Region Xinjiang und der überhastete Abzug der westlichen Staaten aus Afghanistan im Sommer 2021 konnten somit als Ausdruck einer sich unaufhaltsam verändernden post-westlichen Weltordnung verstanden werden. In einem gewissen Sinne gewannen diese beiden zentralen Zeitdiagnostiken ihre Überzeugungskraft auch daraus, dass in ihnen eine Art historische Gerechtigkeit zum Ausdruck zu kommen schien. Gerade für die asiatischen Staaten, aber durchaus auch aus postkolonialer Perspektive, erscheint der Abstieg des Westens als Rückkehr zu einer vormals jahrhundertelangen Dominanz einer gerechteren sino-zentrierten Weltordnung.9 Hier wird jedoch eine ergänzende – realistischere – Zeitdiagnose gestellt. Sie verortet sich jenseits einer zu kurz gegriffenen Sicht allein auf die Schwächen und »blinden Flecken« der westlich-liberalen Weltordnung und einem latent mitschwingenden Automatismus hin zu einer gerechteren, post-westlichen Ordnung. Ein solcher – wohl eher naiver – Automatismus unterschlüge schlicht die politisch wie ökonomisch fundierten Interessenskonflikte der führenden Staaten im 21. Jahrhundert. Vielmehr 10

ist es notwendig, die historischen Konfliktdynamiken zu identifizieren, welche die liberale Hegemonie des Westens als dominante Ordnungsform

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Perspektiven — Analyse

5  Vgl. dazu Stefan Weidner, Ground Zero. 9/11 und die Geburt der Gegenwart, München 2020. 6  MENA = Middle East and North Africa, d. h. die Staaten Nordafrikas und des Nahen Osten von Marokko bis Iran. 7  Vgl. Carlo Masala, Weltunordnung. Die globalen Krisen und Illusionen des Westens, München 2022. 8  Vgl. Parag Khanna, The Future is Asian. Global Order in the Twenty-First Century, London 2019 und Oliver Stuenkel, Post Western World. How Emerging Powers Are Remaking Global Order, Cambridge 2016. 9  Vgl. Kishore ­Mahbubani, Has the West Lost it? A Provocation, London 2019. 10  Vgl. Helen Thompson, Disorder. Hard Times in the 21st Century, Oxford 2022 und Daniel Yergin, The New Map. Energy, Climate and the Clash of Nations, London 2021.

des 20. Jahrhunderts mit sich führt, um die spezifischen Konfliktfelder der Gegenwart sichtbar zu machen und einer kritischen Diagnose zuzuführen. Zunächst wird einer Spur in der jüngsten Werkentwicklung Francis Fukuyamas11 gefolgt und diese mit der grundlegenden ideengeschichtlichen Studie Perry Andersons zum Begriff der Hegemonie12 verbunden. Ausgehend davon, dass sich tatsächlich eine liberale Hegemonie sowohl strukturell als auch ideell manifestiert hat, wird untersucht, welche Dilemmata sich ergeben, wenn diese Hegemonie durch Staaten wie China, Russland und den Iran an neuralgischen Punkten der Weltwirtschaft und Weltpolitik herausgefordert wird. Gemäß dieser Lesart ist es nur wenig erkenntnisbringend, das westliche Projekt der Moderne vorschnell ad acta zu legen und sein »geschichtsphilosophisches Heil« in einer post-westlichen Welt zu suchen. Ohne es zu einem Argument weiterzuentwickeln, sei bezüglich eines solchen Verständnisses bemerkt, dass es die oftmals zu einseitige Rezeptionsgeschichte von Fukuyamas End of History als einem vollständigen Sieg des liberalen Westens nur unter anderen Vorzeichen als einen unaufhalt­ samen Sieg Asiens wiederholen würde. HISTORISCHE MOMENTE UND STRUKTURELLE MERKMALE DER LIBERALEN HEGEMONIE Der Begriff der Hegemonie wird von Perry Anderson in seinen semantischen Ambivalenzen und Nuancen vom griechisch-antiken Ausgangspunkt über zentrale historische Epochen der europäisch bestimmten Neuzeit bis zur Gegenwart der pax americana nachgezeichnet Hegemoniale Ordnungen changieren trotz ihrer historischen Varianzen erkennbar zwischen einer legitimitätsbezogenen Freiwilligkeit in der Folgebereitschaft ihrer Herrschaftssubjekte und einem (durchaus tragischen) Kipppunkt: der gewaltbasierten Durchsetzung der Interessen des Hegemons. Letztere wird gemeinhin eher als Ausdruck einer imperialen Ordnung verstanden und geht in der Regel mit vielfältigen Kontestationen der Machtstellung des Hegemons einher. An dieser Stelle lohnt es sich, Francis Fukuyamas jüngste Überlegungen einzubeziehen: die vielschichtigen Aspekte der Herausforderung libera11 

Vgl. Francis Fukuyama, Liberalism and its Discontents, London 2022.

ler Ideen und Ordnungen. Sowohl innerhalb als auch außerhalb des Westens sind liberale Leitvorstellungen gesellschaftlicher Ordnung nicht nur unter Druck geraten oder werden schlichtweg abgelehnt, sondern es wer-

12  Vgl. Perry Anderson, Hegemonie. Konjunkturen eines Begriffs, Berlin 2018.

den zunehmend vielfältige Alternativen zum liberalen Denken artikuliert, die zudem an politischer Wirksamkeit gewinnen. Zeitdiagnostisch fällt Thorsten Hasche  —  Nach der liberalen ­H egemonie?

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dabei besonders stark ins Auge, dass die Infragestellungen der liberalen Hegemonie in der Gegenwart auf eindrückliche Weise von den Randzonen der durch den Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg begründeten und infolge ihrer globalen Dominanz seither etablierten Weltordnung ausgehen: dem Iran, dessen nationale Entwicklungen aufs engste mit der anglo-amerikanischen Einflussnahme während und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg verbunden sind; der (Ost-)Ukraine, einem Staatsgebiet, das zum wiederholten Male durch gewaltsame Verheerungen stärkerer Mächte in tragische Mitleidenschaft gezogen wird; der Weltregion Ostasien mit seinen im Nachklang des Zweiten Weltkriegs, der Phase der Dekolonisation und des Endes des Kalten Krieges weiterhin ungelösten Krisenherden.13 Um diese ideengeschichtlichen Überlegungen für eine kritische Analyse der Irritationen gegenwärtiger Selbstverständnisse nutzbar zu machen, sei

13  Vgl. den klassischen Ansatz von Edward Hallett Carr, The Twenty Years’ Crisis, 1919–1939. An Introduction to the Study of International Relations, New York 2001 sowie die narrativen Rekonstruktionen auf der Individualebene von Peter Englund, Momentum. November 1942 – Wie sich das Schicksal der Welt entschied, Berlin 2022.

des Weiteren auf zwei stärker strukturelle Erklärungsrahmen verwiesen. Erstens ist in der umfangreichen Theorienlandschaft des Fachbereichs der Internationalen Beziehungen die (selbstverständliche) Bezugnahme auf eine US-amerikanische Weltordnung im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg zentral für die Herausbildung zweier rationalistischer Ansätze der Makrodynamik der Weltpolitik gewesen. Beide Ansätze, der (Neo-) Liberalismus14 und der (Neo-)Realismus15, obgleich sie die institutionellen Einhegungsmöglichkeiten der anarchischen Grundstruktur der Weltpolitik diametral anders einschätzen und insofern andere Politikempfehlungen abgeben16, akzentuieren dennoch die dynamische Stabilität und anhaltende Konkurrenzfähigkeit der US-amerikanischen Weltordnung. Die Betonung einer liberalen Hegemonie schließt zweitens aktuelle Analysen der Entwicklung der Weltwirtschaft mit ein. Der Begriff des Neoliberalismus in Bezug auf weltwirtschaftliche Institutionen und Regelungen bezieht sich vor allem auf Entwicklungen hin zu einer primär marktorientierten politischen Ökonomie. Die endgültige Etablierung neoliberaler Wirtschaftsvorstellungen wird zumeist auf die Phasen nach den Verwerfungen der Preisschocks der 1970er Jahre sowie der Transformationen des ehemaligen »Ostblocks« nach dem Fall der Berliner Mauer datiert. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass es der Kommunistischen Partei Chinas oftmals gelungen scheint, das Primat ihrer zentralistischen und kaderbasierten Politik gegenüber rein marktbasierten Ordnungsvorstelllungen durchzusetzen.17 Die politische Ökonomie der Gegenwart – gerade auch infolge massiver staatlicher Interventionen während der Hochphase der COVID-19-Pandemie – kann daher als stärker

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Perspektiven — Analyse

14  Vgl. die (neo-)liberale Grundlegung von G. John Ikenberry, Liberal Leviathan. The Origins, Crisis, and Transformation of the American World Order, Princeton 2011. 15  Vgl. den (neo-)realistischen Gegenpol von John J. Mearsheimer, The Great Delusion. Liberal Dreams and International Realities, New Haven & London 2018. 16  Vgl. die öffentlichen Interventionen von G. John Ikenberry, Why American Power Endures. The U.S.-led Order Isn’t in Decline, in: Foreign Affairs, November/Dezember 2022 und John J. Mearsheimer, Playing with Fire in Ukraine. The Underappreciated Risks of Catastrophic Escalation, in: Foreign Affairs, 17.08.2022. 17  Vgl. Gary Gerstle, The Rise and Fall of the Neoliberal Order. America and the World in the Free Market Era, New York 2022; Adam Tooze, Crashed. How a Decade of Financial Crises Changed the World, New York 2018 und Isabella M. Weber, How China Escaped Shock Therapy. The Market Reform Debate, New York 2021.

staatszentriert verstanden werden, als es die Chiffre des »Washington Consensus«, einer durch Weltbank und WTO durchgesetzten neoliberalen Politik, längere Zeit suggeriert hat. CHINA, RUSSLAND UND IRAN: KONTESTATIONEN DER LIBERALEN HEGEMONIE IN DER GEGENWART Chinas Politik war in den vergangenen Jahren stark durch den chinesischen Staats- und Parteichef Xi Jinping und seine Versuche gekennzeichnet, eine dritte Amtszeit als Generalsekretär und Vorsitzender der Zentralen Militärkommission der kommunistischen Partei (KP) zu erlangen. Seit Mao Zedong konnte kein KP-Generalsekretär eine solche Amts- und Machtfülle etablieren. Die Außenhandelspolitik Chinas gegenüber Ostafrika, Zentralasien (die sogenannte »Neue Seidenstraße«) sowie Mittelund Südamerika wird als eine den nationalen Interessen untergeordnete und stark ressourcenorientierte Wirtschaftspolitik charakterisiert und gelegentlich als neo-kolonial bezeichnet. Nach kurzen international beachteten Protesten konnten die chinesische KP und ihr Sicherheitsapparat die vollständige Kontrolle über die Politik Hongkongs erlangen und der dortigen global vernetzten Opposition jegliche Einflussnahme entziehen. Kritik an der chinesischen Politik in der Region Xinjang ist außerhalb 18  Vgl. Peter Frankopan, Die neuen Seidenstraßen. Gegenwart und Zukunft unserer Welt, Berlin 2020; Nadine Godehardt, Wie China Weltpolitik formt. Die Logik von Pekings Außenpolitik unter Xi Jinping, SWP Studie, Berlin, 12.10.2022; Kishore Mahbubani, Has China won? The Chinese Challenge to American Primacy, New York 2020 und Shoshana Zuboff, The Age of Surveillance Capitalism. The Fight for a Human Future at the new Frontier of Power, London 2019. 19  Vgl. Martin Aust u. a., Osteuropa zwischen Mauerfall und Ukrainekrieg. Besichtigungen einer Epoche, Berlin 2022; Manfred Hildermeier, Die rückständige Großmacht. Russland und der Westen, München 2022 und M. E. Sarotte, Not One Inch. America, Russia and the Making of the Post-Cold War Stalemate, New Haven & London 2021.

der EU und USA kaum zu vernehmen; selbst Staaten wie Saudi-Arabien und die Türkei halten sich sehr zurück, China selbst unterbindet kritische Berichte im UN-System so stark wie möglich. Ideenpolitisch betont Chinas KP die Überlegenheit der eigenen Corona-Politik, artikuliert selbstbewusst die globalen Vorzüge der eigenen Volksdemokratie und etabliert auf diese Weise die eigene diskursive Machtstellung auf internationaler Bühne. Auch unter dem Einfluss des Krieges in der Ukraine schwelt der zentrale geopolitische Konflikt Chinas mit den USA ungelöst weiter: Taiwan.18 Der russische Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 ließ die konflikt- und spannungsreiche Situation Osteuropas und der Schwarzmeerregion weiter eskalieren. Der globale Deutungskampf um Ursachen und Verantwortungen des Kriegsgeschehens wird von allen Konfliktparteien intensiv geführt. Das äußerst verlustreiche Kampfgeschehen ist aufs Engste in die geopolitischen Rivalitäten zwischen einerseits Russland, China, dem Iran und andererseits den USA, der EU und der NATO eingebettet. Eine realistische Lesart einer russischen Anfechtung der liberalen Hegemonie vermag bisweilen weniger beachtete Aspekte miteinander zu verbinden. Die tragische Selbstbehauptung des ukrainischen Staates erscheint aktuell unlösbar in diese geopolitische Makrodynamik eingebettet.19 Der Thorsten Hasche  —  Nach der liberalen ­H egemonie?

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imperiale Blick des Kremls, das persönliche historische und ideelle Verständnis des russischen Staatspräsidenten sprechen der Ukraine die staatliche Eigenständigkeit grundsätzlich ab und rechtfertigen den Angriff als innerrussische Angelegenheit. Die US-amerikanische Einflussnahme auf Osteuropa und die Schwarzmeerregion sowie die EU- und NATO-Osterweiterung werden von Russland als nicht akzeptable Interventionen in die eigene Einflusszone gedeutet. Bis dato scheint keine Konfliktpartei ihre strategischen Ziele zu erreichen und es zeichnet sich ein intensiver, aber militärisch längerfristig eingefrorener Konflikt ab. Spätestens seit dem globalen Schlüsseljahr 197920 und der Etablierung einer schiitischen Theokratie im Iran ist dessen politisches System in seiner Innen- und Außenpolitik auf Engste mit der US-amerikanischen Politik verbunden. Das 2015 abgeschlossene Atomabkommen und eine damals noch anhaltende Euphorie ob der Entwicklungen des sogenannten »Arabischen Frühlings« vermochten eine Zeit lang Hoffnungen auf eine konstruktivere Einbindung des Irans in die Politik der Golfregion wecken. Doch inzwischen sind die Staatsführung des Iran und sein Sicherheitsapparat außenpolitisch vollständig isoliert, befinden sich im Konflikt mit Israel, Saudi-Arabien und teilweise der Türkei und können – wohl auch ob der russischen Isolation auf der Weltbühne – einzig noch auf Russland als Verbündeten zählen. Innenpolitisch wird das Regime regelmäßig durch Proteste erschüttert und ist infolge der Corona- Pandemie in eine tiefgreifende Gesundheits- und Wirtschaftskrise gerutscht. Die anhaltenden Proteste unter dem Motto »Frau! Leben! Freiheit!« können nur mit äußerster Gewaltanwendung unterdrückt werden und zeigen die vollständige Isolation der Staatsführung und seiner Sicherheitsapparate von einem Großteil der iranischen Bevölkerung.21 Für Iran, China und Russland insgesamt scheinen die verbindenden Mo­mente ihrer außenpolitischen und militärischen Kooperationen die wechselseitige Ressourcenabhängigkeit und das Feindbild des Westens zu sein. Die geopolitische Herausforderung einer liberalen Hegemonie bleibt ihr Versuch, Legitimität für ihre Politik zu generieren. WELTINNENPOLITIK NACH DER LIBERALEN HEGEMONIE: ­Z UNEHMEND FRAGMENTIERT UND KONFLIKTGELADEN Angesichts dessen, dass die Verheißungen einer liberalen politischen Ökonomie und Sicherheitspolitik keineswegs realisiert worden sind, sollten die fragmentierten und konfliktiven Dimensionen einer Weltinnenpolitik

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Perspektiven — Analyse

20  Vgl. Frank Bösch, Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann, München 2020. 21  Vgl. Sharam Akbarzadeh, Routledge Handbook of Political Islam, New York 2021; John L. Esposito u. a., Islam and Democracy after the Arab Spring, Oxford 2016 sowie Gilles Kepel, Chaos und Covid. Wie die Pandemie Nordafrika und den Nahen Osten verändert, München 2021.

des 21. Jahrhunderts ohne Scheuklappen in den Blick genommen werden. Standortgebunden kann die Zeitdiagnose eines westlichen Beobachters daher nur ernst ausfallen: Die US-amerikanisch dominierte und in der Regel als westlich bezeichnete Weltordnung fragmentiert zusehends und wird ökonomisch und militärisch vielerorts herausgefordert. Sie vermag keine global akzeptierten Leitideen sowie ausreichenden sicherheitspolitischen oder wirtschaftlichen Wohlfahrtsgewinne mehr anzubieten, um ihre Widersacher ausreichend einzubinden oder einzuhegen. In diesem Sinne wird eine Zeitenwende nach der liberalen Hegemonie immer stärker real und wirksam. Der Westen als liberaler Hegemon vermag es nicht mehr allein, einen umfassenden globalen Ordnungsrahmen vorzugeben. Doch ebenfalls muss konstatiert werden, dass die aufstrebenden neuen Mächte, die Herausforderer des Westens, ihre Leitideen und ordnungspolitischen Interventionen in regionale Konflikte und ihre Einflussnahme auf die Weltwirtschaft kaum ersichtliche Sicherheits- und Wohlfahrtsgewinne generieren. Noch gelingt es ihnen nicht, die Lücke globaler Ordnungsbildung zu füllen, die der Westen hinterlassen hat. Um diese dilemmatische Entwicklung zu verstehen, bieten sich vielschichtige kritische Zeitdiagnosen an, die die konfliktiven Verschränkungen von Innen- und Außen-, von Identitäts- und materialer Interessenspolitik sichtbar machen und dennoch versuchen, normative Maßstäbe diesund jenseits des Westens, d. h. für einen globalen Akzeptanzrahmen, zu Thorsten Hasche  —  Nach der liberalen ­H egemonie?

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identifizieren.22 Selbst schonungslose Kritiken des westlichen Aufklärungsund Modernisierungsprojekts, wie die so erhellenden Arbeiten Kehinde Andrews’23, kommen nicht umhin, die Macht- und Einflussnahme Chinas und der arabischen Petrostaaten zu kritisieren. Sie ringen gleichwohl um die Sichtbarmachung anhaltender kolonialer Praktiken und rassistischer Ausgrenzungsmechanismen weltweit, also auch außerhalb des Westens und zunehmend jenseits seiner direkten Einflussnahme. Ganz ähnlich verhält es sich mit Studien zur Intersektionalität.24 Soziale Konflikte entladen sich an zahlreichen und miteinander verwobenen Sozialdimensionen und entwickeln sich international entlang vergleichbarer Mechanismen. Die primär vom Westen und seiner kolonialen Expansion ausgegangenen Modernisierungseffekte sind maßgeblich auch für die Dynamik sozialer Konflikte außerhalb des Westens. Ihre Entfaltungsdynamik in geo-, identitäts- und sicherheitspolitischer Hinsicht lässt sich gegenwärtig indes nicht mehr zufriedenstellend durch den Rekurs auf das Versagen oder die Hybris des Westens erklären. Dafür sind globale Macht- und Wohlstandsverschiebungen in Richtung Asien bereits zu weit vorangeschritten. Nicht-westliche Staaten müssten zunehmend in die faktische und moralische Verantwortung einer fragmentierten Weltinnenpolitik einbezogen werden. Abschließend ließe sich zuspitzen, dass in einer Zeitenwende nach der liberalen Hegemonie die geopolitischen und weltwirtschaftlichen Konflikte und Verwerfungen, die sich tief durch Gesellschaften, Nationen und Milieus ziehen und vornehmlich sozialstrukturell bedingt scheinen, scho-

22  Vgl. Susanne Schröter, Global gescheitert? Der Westen zwischen Anmaßung und Selbsthass, Freiburg i. Br. 2022. 23  Vgl. Kehinde Andrews, How Racism and Colonialism still Rule the World, London 2021. 24  Vgl. Patricia Hill Collins, ­Intersectionality. A Critical Social Theory, Durham & London 2019.

nungslos zutage treten – ohne dass aktuell auf den Trost oder das Versprechen eines demokratischen oder liberalen Aushandlungsprozesses verwiesen werden könnte.25

Dr. Thorsten Hasche  ist politischer Bildner und als Führungskraft in der Bundesverwaltung tätig. Seine Schwerpunkte liegen in der internationalen politischen Theorie und den wissenschaftstheoretischen Grundlagen der  Sozialwissenschaften.

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Perspektiven — Analyse

25  Vgl. Craig Calhoun u. a., Degenerations of ­Democracy, Cambridge (MA) 2022.

KUNST UND MORAL DER EINFLUSS VON POLITICAL CORRECTNESS AUF DAS KUNSTFELD Ξ  Charlotte Hüser

»Kunst […] muß […] zu weit gehen, um herauszufinden, wie weit sie gehen darf«.1 Diese fast siebzig Jahre alte Aussage Heinrich Bölls scheint heute umstritten. In der Kunstszene wird vermehrt über die Political ­Correctness von Kunstwerken und Künstlern diskutiert. Dabei geht es häufig auch um die so genannte Cancel Culture, mit der die neue Art von Kritik an »NichtErwünschtem« bezeichnet wird. Die Debatte bewegt sich im Spannungsfeld von Macht, Deutungshoheit, Identitätspolitik, Gerechtigkeit, Zensur und der Streitkultur selbst.  Exemplarisch hierfür ist der Eklat auf der documenta fifteen im Sommer 2022. Die internationale Kunstausstellung mit dem interessanten neuen Ansatz einer kollektiven, nicht-eurozentristischen Kuration wurde letztlich komplett vom Antisemitismus-Vorwurf überschattet. Bei Kritik an Kunstwerken geht es also heute nicht mehr nur um Stil, Technik und Inhalt. Die Wahrnehmung und Bewertung von Werk und Künstler erhält eine zusätzliche Komponente – die »politische Korrektheit«. Kunst wird nun auch unter diesem Aspekt betrachtet und beurteilt. Dieses Phänomen, dass auch unser Blick auf die Kunst dem Zeitgeist unterworfen ist, und dessen Folgen für die Akzeptanz von Werken verdienen eine genauere Analyse.

Heinrich Böll, Die Freiheit der Kunst, in: Melos, H. 33 (1966), S. 393–395, hier S. 393 (Hervorhebung im Original).

1 

Georg Herold (1981), Ziegelneger. © VG BildKunst, Bonn 2022.

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DER SKANDAL IM STÄDEL-MUSEUM Ein besonders anschauliches Beispiel, wie sich eine öffentliche Debatte um ein Kunstwerk zu einer Art Lawine entwickeln kann, die auch die ausstellende Institution in Bedrängnis bringt, ist der Skandal um das Werk Ziegelneger (1981) von Georg Herold, welches 2020 vom Frankfurter Städel-Museum ausgestellt wurde. Das Bild war Teil der neu präsentierten Sammlung für Gegenwartskunst Zurück in die Gegenwart und wurde in einer Ausstellung zu politischer Kunst der 1980er Jahre gezeigt. Zu sehen ist auf dem Bild der Angriff einer Gruppe von mintgrünen Menschen auf einen lilafarbenen Mann. Dieser befindet sich im Zentrum des Bildes und scheint davonzulaufen, während die Gruppe einen Ziegelstein in seine Richtung wirft und nach ihm greift. Am rechten Bildrand hält einer der Angreifer eine Steinschleuder in der Hand. Nur der Angegriffene ist in seiner Darstellung ausgestaltet und hat auffallend große Lippen. Die Aggressoren sind auf ihre Umrisse reduziert. Zwischen Angreifern und Angegriffenen steht eine Verkehrsampel, in deren farbigen Signalfeldern Gesichter zu erkennen sind. In dem grünen Feld ist ein dunkles Gesicht zu sehen, welches karikaturartig das stereotypische Profil eines schwarzen Mannes darstellt, das mittlere gelbe Feld zeigt ein gelbes Gesicht und im roten Feld ist ein hellhäutiges Gesicht mit einer Schirmmütze zu sehen. Die Ampel steht auf grün. Auch wenn das Städel-Museum schreibt, das Bild entziehe sich einer eindeutigen Lesart,2 so scheint es unmittelbar bildlich gelesen einem rassistischen – weil auf unterschiedliche Hautfarben beruhenden – Angriff grünes Licht zu geben. Überdies verleiht auch der vom Maler gewählte Titel der Szenerie noch mehr Eindeutigkeit. Der Maler Georg Herold, der sich in der Diskussion um sein Werk nicht geäußert hat, wurde 1947 im damals zur DDR gehörenden Jena geboren, studierte in Hamburg bei Sigmar Polke und ist seit 1999 selbst Professor an der Düsseldorfer Kunstakademie.  Dem Städel-Museum nach gehören seine Werke zum typischen Repertoire der figurativen deutschen 1980er-Jahre-Malerei.3 Diese sei direkt, brachial, provokant und häufig ironisch gewesen und habe mit ihren malerischen Mitteln und der Wahl der Bildtitel oft die Grenzen des »guten« Geschmacks überschritten. In den Arbeiten der Neuen Wilden, zu denen auch Herold gezählt wird, werden häufig politische, historische oder gesellschaftliche Themen verarbeitet. Das Museum erklärte, dass es sich bei dem umstrittenen Werk um eine bewusst politisch unkorrekte Darstellung handle.4 Bis vor Kurzem war auf der Städel-Website noch zu lesen: »Der Titel ist offenkundig rassistisch«.

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Perspektiven — Analyse

2  Vgl. Städel Museum, »Ziegelneger« – Informationen zum Werk, tinyurl.com/indes231l1. 3  Vgl. ebd. 4  Vgl. ebd.

Zugleich sagte Martin Engler, Leiter der Sammlung für Gegenwartskunst, in einem Interview, er verstehe das Bild als ein »explizit antirassistisches Kunstwerk«5. Weiter schreibt das Museum dazu, dass sich der Künstler mit diesem Bild eines rassistisch motivierten Übergriffs auf die Lage in Deutschland in den 1980er Jahren beziehe.6 WIE EIN WERK ZUM SKANDAL WURDE Der Sturm der Empörung gegen Maler und Museum wurde am 22. Juni 2020 durch den Instagram-Post einer jungen (weißen) Frau losgetreten. Sie forderte in empörtem Ton eine klare antirassistische Positionierung des Städel-Museums zum Bild und dessen Maler. Daraufhin wurde in den Sozialen Medien darüber gestritten, wer bei diesem Thema mitdiskutieren dürfe und wer das Recht habe, was zu sagen oder zu schreiben. Hierbei ging es um Fragen der Betroffenheit, der Hautfarbe, der Diskriminierung und des Minderheitenstatus. Etwa die Hälfte der über tausend Kommentare zu dem Instagram-Post kamen von lautstarken Befürwortern einer Abhängung des Bildes. Sie betonten fast sämtlich, dass sie zu einer Minderheit gehörten, und sahen offensichtlich in diesen Zugehörigkeitsmerkmalen eine Legitimation für die eigene Stellungnahme zum Thema Rassismus. Der Maler und das Museum inklusive all seiner Mitarbeiter wurden als Rassisten beschimpft. Demgegenüber positionierte sich eine Gruppe, die das Bild und seinen Titel im Einklang mit dem Museum als gesellschaftskritisch interpretierten und darin eine gewollte Provokation sahen, die sie als unbedenklich empfanden, in der sie sogar einen wichtigen Beitrag zum Thema Rassismus erkannten. Das Museum reagierte zwei Wochen nach der Veröffentlichung des 5  Axel Rahmlow, GeorgHerold-Bild »Ziegel­ neger« – Kunsthistorikerin kritisiert Position des Städel Museums, in: Deutschlandfunk Kultur, 02.07.2020, tinyurl.com/indes231l2.

Posts ebenfalls auf Instagram. Es nahm die Forderung des digitalen Mobs ernst und kontextualisierte das Bild ausführlicher in einer Art Mindmap neben dem ausgestellten Werk. Aber auch dieser Versuch wurde stark kritisiert. Die Medien griffen die Debatte auf und dort begann ebenfalls eine Diskussion darüber, ob ein Bild mit diesem Titel ausgestellt werden und ob ein weißer Maler einen Gewaltakt gegen einen schwarzen Mann

6  Vgl. Städel ­Museum, »Ziegelneger«. 7  Die großen Printmedien behielten dabei größtenteils einen moderaten Ton bei, berichteten sachlich und sprachen sich zumeist gegen eine Abhängung aus. Die öffentlichen Kommentare der Leser:innen hingegen waren zum Großteil unsachlich und aggressiv aufgeladen.

überhaupt malen dürfe.7 Seit 2022 ist das Bild nicht mehr in der Ausstellung zu sehen. Die Diskussion um das Werk scheint damit beendet zu sein. KONTROVERSEN UND SKANDALE IN DER VERGANGENHEIT Die Kunstwelt ist immer wieder von Skandalen um einzelne Kunstwerke erschüttert worden, die auf unterschiedliche Weise als Provokation empfunden wurden. Die damaligen Gründe sind heute oft kaum noch Charlotte Hüser  —  Kunst und Moral

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nachzuvollziehen, einige empfinden wir als geradezu grotesk. Steine des Anstoßes waren vor allem die Darstellung umstrittener Themen (politisch, religiös, sozial oder moralisch) oder ein kontroverser Stil, also nicht den damals geltenden Normen für Technik, Format oder Größe entsprechend. So wurde das heute weltweit hochgeschätzte Frühstück im Grünen von Édouard Manet8 1863 vom Pariser Salon abgelehnt, weil man eine nackte Frau, die zwischen zwei bekleideten Männern ihr Picknick einnimmt, als unerhört empfand. Nicht nur die Juroren des Salons, sondern auch das Publikum, das es anschließend im Salon des Refusés sehen konnte, nahmen das Werk als eine Verletzung des Anstands wahr. Heute schockiert die Darstellung einer nackten Frau in der westlich geprägten Kunstszene kaum jemanden mehr. Ein weiteres anschauliches Beispiel für eine uns heute nicht mehr verständliche Aufregung um ein Bild stellen Die Ährenleserinnen von JeanFrançois Millet9 aus dem Jahr 1857 dar. Das Bild, auf dem in realistischer Manier drei Bäuerinnen bei der Feldarbeit zu sehen sind, stieß damals allein wegen seiner Größe (84 cm × 112 cm) auf Empörung. Die Abbildung der einfachen Bevölkerung bei der Arbeit in einem solchen Format erschien den konservativen Kunstkritikern als Aufruf zum Volksaufstand. Völlig unverständlich heute, erscheint uns die Darstellung doch geradezu romantisch. HEUTIGE DEBATTEN IM KUNSTFELD Dass uns heute der Stil eines Werkes kaum mehr schockieren kann, hängt mit der starken Erweiterung des Kunstbegriffes insbesondere im 20. Jahrhundert zusammen. Indes gibt es auch heute eine Reihe Themen beziehungsweise Motive, die ein Kunstwerk zum Skandal werden lassen:

8  Vgl. tinyurl.com/indes231l3.

Ausstellungspublikation zur 2021 geplanten und auf 2024 verschobenen Retrospektive von Philip Guston.10

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Perspektiven — Analyse

9  Vgl. tinyurl.com/indes231l4. 10 

Vgl. tinyurl.com/indes231l5.

Zunächst einmal begibt man sich als Künstler heute, wie schon der eingangs ausführlich dargestellte Fall des Werkes Ziegelneger zeigt, mit dem Thema Rassismus auf ein sensibles Terrain. Als weiteres Beispiel soll hier die Absage der Ausstellung Philip Guston Now kurz vor der Eröffnung ihrer ersten Station 2020 in der Washington National Gallery genannt werden. Die Motive des Malers sind im Cartoon-Stil gemalt und erinnern an den Ku-Klux-Klan, der wiederum in der Biografie des jüdischstämmigen Künstlers eine nicht unerhebliche Rolle spielte. Die beteiligten Museen verschoben die Retrospektive des Künstlers auf das Jahr 2024, da laut einer Sprecherin der Nationalgalerie die Gefahr bestehe, dass die Ausstellung in der aktuellen politisch aufgeladenen Lage nach der brutalen Tötung von George Floyd im Mai 2020 missverstanden werde und das Gesamtwerk überschatte. »Schmerzhafte Erfahrungen« bei den Besuchern sollten vermieden werden.11 Im Ergebnis wurde die Ausstellung also aus Sorge vor einer möglichen negativen Auseinandersetzung mit dem Werk und damit mit dem Museum abgesagt. Der Biograf Gustons sprach von einer »Feigheit der Museen«12. Seinem Protest haben sich inzwischen Künstler:innen aus der ganzen Welt in einem offenen Brief angeschlossen. In Deutschland provoziert natürlich vor allem ein Bezug zum Nationalsozialismus. Der Künstler Jonathan Meese sorgte in der Vergangenheit immer wieder für heftige Debatten, weil er den Hitlergruß (von ihm Meese-Gruß bezeichnet) in der Öffentlichkeit zeigte, was 2012 zu einer Anklage wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen führte. Im Ergebnis sprach ihn das Amtsgericht, nachdem er sich persönlich zu dem Vorwurf geäußert hatte, mit der Begründung frei, es handele sich um eine von der Kunstfreiheit geschützte Aufführung.13

11  Vgl. Catrin Lorch, Kunst kommt von Konflikt. Museumsdebatte, in: Süddeutsche Zeitung, 04.10.2020, tinyurl.com/indes231l6. 12 

Ebd.

13  Vgl. AG Kassel, Urteil vom 14.08.2013 – 1614 Js 30173/12 – 240 Cs, tinyurl.com/indes231l8.

Foto des Meese-Gruß. Jan Bauer © Jonathan Meese.

Charlotte Hüser  —  Kunst und Moral

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Andere skandalträchtige Themen sind Ekel und Sexualität. Beispiele hierfür wären das Werk Cloaca (2000) von Wim Delvoye, eine Maschine, die den menschlichen Verdauungsvorgang nachstellt, deren »Ergebnisse« in Plastik verpackt als Kunst verkauft werden, oder die Arbeiten von Hermann Nitsch, die unter anderem Schweineblut und blutdurchtränkte Menstruationsbinden zeigen. Der performative Akt von Deborah De Roberti im Pariser Musée d’Orsay (2014), mit dem sie sich an Gustave Courbets Werk LʼOrigine du monde (1866), der detailgetreuen Abbildung der weiblichen Vagina, anlehnte, wurde von der Online-Plattform Artnet.com zu einem der zehn größten Kunstskandale des Jahres erklärt.14

Deborah De Roberti (2014), Mirroire de l’origine. © Deborah de Robertis.

2017 richtete sich eine Empörungswelle gegen das Bild Thérèse träumt von Balthus15 aus dem Jahr 1938. Mit diesem im Metropolitan Museum in New York ausgestellten Bild, glaubten Aktivisten, werde pädophiles Gedankengut visualisiert. Gefordert wurden seine Abhängung und Verbannung aus den Ausstellungsräumen.16 Auch Gewalt und Selbstverletzung sind Themen, die so verstörend auf das Publikum wirken, dass eine künstlerische Auseinandersetzung damit

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14  Vgl. Benjamin Sutton, Artist Enacts »Origin of the World« at Musée d’Orsay – And, Yes, That Means What You Think, in: artnet.com, 05.06.2014, tinyurl.com/indes231l9. 15  Vgl. tinyurl.com/indes231l10. 16  Vgl. Catrin Lorch, Streit um Gemälde: Lolita soll gehen, in: Süddeutsche Zeitung, 06.12.2017, tinyurl.com/indes231l11.

häufig in der Presse thematisiert wird. Hier ist besonders die inzwischen 76-jährige Performance-Künstlerin Marina Abramović zu nennen, die zeit ihres Lebens die Grenzen ihres Körpers ausgelotet und in den Mittelpunkt von Aktionen gestellt hat. Dazu gehörten unter anderem Hungern, Auspeitschen, Schneiden sowie das stundenlange Verharren in derselben Position. Schließlich ist auch die künstlerische Auseinandersetzung mit Religion ein besonders heikles Thema. Fällt die Darstellung besonders provokativ aus, so werden damit gewollt oder auch ungewollt die Gefühle von Religionsanhängern verletzt. Ein extremes Beispiel ist hier sicherlich die Darstellung von Mohammed in den Karikaturen der Satirezeitung Charlie Hebdo, die zu brutalen Morden an den Redaktionsmitgliedern und vielen weiteren Menschen führte, aber ebenso die Veröffentlichung des Buches Die satanischen Verse. Dessen Autor Salman Rushdie muss bis heute unter Polizeischutz leben. Dennoch kam es im August 2022 während eines Vortrages in Chautauqua (New York) zu einer Messerattacke durch einen religiösen Extremisten, in deren Folge Rushdie auf einem Auge blind ist und eine Hand nicht mehr bewegen kann. Den umstrittenenen niederländischen Filmemacher Theo van Gogh kostete ein solcher Angriff 2004 gar das Leben. Schließlich kann auch der Künstler selbst – heute wie früher – durch seine Person und zum Beispiel seine politische Einstellung, aber auch seine Ethnie oder Hautfarbe einen Skandal auslösen. So wurde der zeitgenössische Künstler Axel Krause von Galerien ausgeschlossen und ihm sogar die Teilnahme an Ausstellungen verwehrt, weil er sich nicht nur als AfD-Mitglied zu erkennen gibt, sondern auch dem Kuratorium der parteinahen Desiderius-Erasmus-Stiftung angehört und sich offen kritisch zu einzelnen politischen Entwicklungen in der Gesellschaft geäußert hat.17 DER BLICK AUF DIE KUNST Die erstaunliche Veränderung unseres Blickes auf und Verständnisses von Kunst hat mit der Veränderung des »Nährbodens« zu tun, auf den unsere optische Wahrnehmung in unserem Gehirn trifft. Dieser »Nährboden« be17  Der Vollständigkeit halber möchte ich darauf hinweisen, dass Kunst von beiden politischen »Richtungen« bedroht wird. Künstler:innen und Kultureinrichtungen wurden in den letzten Jahren immer wieder ernsthaft sowohl von Linken als auch von Rechten bedroht.

steht aus Wissen, Erfahrungen, Emotionen, Überzeugungen und Werten und wird wesentlich von unserem jeweiligen kulturellen Umfeld geprägt. So wird ein Franzose beim Betrachten des Gemäldes Die Freiheit führt das Volk von Eugène Delacroix sicherlich ganz andere Assoziationen und Gefühle haben als ein Deutscher. Aber es ist nicht nur der individuelle kulturelle Hintergrund, der uns dazu bringt, Bilder auf die eine oder Charlotte Hüser  —  Kunst und Moral

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andere Weise wahrzunehmen, es sind immer auch die aktuellen Themen der Zeit, die unseren Blick prägen – und so geriet auch das jahrelang unauffällig im Städel-Museum hängende Bild von Georg Herold plötzlich in den Fokus einer aktivistischen Bewegung, die sich engagiert und lautstark gegen Diskriminierung einsetzt, wo immer sie diese auszumachen glaubt.

Eugène Delacroix (1830), Die Freiheit führt das Volk.18

Nun bin ich auch der Auffassung, dass wir energisch gegen Rassismus angehen müssen. Genauso bin ich dafür, dass wir unbedingt gegen Pädophilie kämpfen und die Gesellschaft von Frauenfeindlichkeit befreien müssen. Diese Werthaltung darf allerdings nicht dazu führen, dass plötzlich Werke, nur weil wir sie heute anders »lesen«, in einer Weise attackiert werden, die im Ergebnis als Zensur gesehen werden muss. Vielen Aktivisten scheint die Bedeutung der Kunst für eine funktionierende Gesellschaft nicht bewusst zu sein. Mit den Forderungen nach Abhängung oder gar Zerstörung bestimmter Kunstwerke begibt man sich in gefährliche Nähe zu Menschen und Zeiten, mit denen man nicht in Verbindung gebracht werden möchte. Nicht ohne Grund genießt die Kunst in Deutschland nach den entsetzlichen Erfahrungen in der NS-Zeit mit der Verfolgung jüdischer Künstler:innen

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Perspektiven — Analyse

18  Vgl. tinyurl.com/indes231l12.

und Brandmarkung moderner Kunst als »entartet« und deren Verbrennung einen außergewöhnlich hohen Verfassungsschutz, der nicht nur das Kunstwerk selbst, sondern auch den Schaffensprozess betrifft und sogar umfassender ist als die ebenfalls in Art. 5 GG geregelte Meinungsfreiheit.  So kommt auch der Verfassungsrechtler Christoph Möllers in seinem nach dem Skandal um die documenta fifteen von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen Gutachten zur Frage des Umganges des Staates mit antisemitischer und rassistischer Kunst in seinen Kulturinstitutionen zu der deutlichen Aussage, dass die Freiheit der Kunst auch bei Werken mit derlei Tendenzen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit vor staatlichen Zugriffen geschützt werden muss. Aus der Sicht von Möllers ist dies der »freiheitliche Skandal der grundgesetzlichen Ordnung«19. Im Klartext bedeutet dies, dass der Staat sich deutlich von rassistischer und antisemitischer Kunst distanzieren kann, jedoch keinesfalls eine Entfernung von Werken anordnen bzw. durchsetzen darf. Ein demokratischer Rechtsstaat hat eben auch extreme Positionen in der Kunst auszuhalten. Jenseits des Justiziellen ist allerdings derzeit eine beachtliche Beeinflussung der künstlerischen Freiheit durch die lautstarken Kommentare in den Sozialen Medien festzustellen. Das Beispiel der Debatten um das Werk Ziegelneger zeigt deutlich, wie Menschen, die für das Feld der Kunst zuvor völlig irrelevant waren, jetzt aktiv in die kuratorische Praxis eines Museums eingreifen können (und wollen). An dieser Stelle werden der Einfluss und die Macht der Sozialen Medien deutlich. »Digitale Schwärme«, sprich Mobs, können eine eigene Dynamik entwickeln, die extreme Einstellungen und Rhetorik fördern. Die Folgen dieser Art von »Urteilen« sind zum Teil dramatisch: Menschen fühlen sich vielfach nicht mehr frei, ihre Meinung in Wort und Bild zu äußern, einige erleiden erhebliche Reputationsschäden oder werden tatsächlich aus ihren Positionen gedrängt, und zwar ohne ein entsprechendes Verfahren, sondern nur, um dem Druck der Öffentlichkeit ein Ende zu setzen. Wenn die Kunst geschützt werden soll, dann gilt es dies als Staat zu verhindern. Kunst muss nicht moralisch einwandfrei sein – ebenso wenig der Künstler. Das bedeutet natürlich nicht, dass er damit frei von jeder Verantwortung für sein Werk wäre, geschweige denn einen Anspruch auf Kritiklosigkeit erheben könnte. Aber er ist weder dazu verpflichtet, sich oder sein Werk 19  Zit. nach Jörg Häntzschel, Documenta und Antisemitismus: Einmischung unerwünscht, in: Süddeutsche Zeitung, 20.01.2023, tinyurl.com/indes231l13.

zu erklären, noch dazu, jede mögliche Lesart seines Werkes bei der Herstellung zu berücksichtigen. Dies würde einer Selbstzensur gleichkommen. Über viele Kunstwerke soll gerade diskutiert und gestritten werden. Seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte nutzen Menschen die Kunst, Charlotte Hüser  —  Kunst und Moral

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um ihre Träume, Ängste und vor allem die Realität ihres Lebens zu reflektieren. Sie ist identitätsstiftend, kann Therapie, Ventil und auch Katalysator sein, sie verbindet Menschen und Kulturen. Kunst ist wichtig für die ständige Selbstreflexion und die Transformation der Gesellschaft. Sie regt durch Kreativität und Innovation in besonderer Weise zum Denken an, verändert die Wahrnehmung der Wirklichkeit und wirkt so auf die Gesellschaft ein. Es ist nicht nur gut, sondern wünschenswert, dass sich die Gesellschaft mit ihren Künstler:innen und deren Arbeiten auseinandersetzt. Es ist ebenso zu begrüßen, dass Werke, die Themen wie Rassismus, Kolonialismus und Geschlecht zum Gegenstand haben, öffentlich diskutiert werden. Und es gibt durchaus Ergänzungen von Ausstellungen, welche den Nährboden der Rezeption in fruchtbarer Weise bereichern können – ohne den Betrachter zu bevormunden, indem ihm vorgeschrieben wird, wie er ein Bild zu verstehen hat.  Schließlich ist das Wunderbare (im wahrsten Sinne des Wortes) an der Kunst doch, dass ihre Wahrnehmung, Interpretation und damit auch die daraus resultierenden Empfindungen absolut subjektiv sind und damit gleichzeitig höchst unterschiedlich ausfallen können.

Charlotte Hüser ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Lehrstuhl Soziologie des Kunstfeldes und der Kreativwirtschaft bei Prof. Franz Schultheis an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen, wo sie eine interdisziplinäre Ausbildung in Soziologie, Kultur und (internationaler) Politik genossen hat.

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INDES ZEITSCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT Herausgeber: Prof. Dr. Frank Decker Redaktionsleitung: Katharina Rahlf (V. i. S. d. P.), Dr. Volker Best Redaktion: Jacob Hirsch, Dr. Matthias Micus, Tom Pflicke, Luisa Rolfes Praktikant der Redaktion: Till Schröter Konzeption dieser Ausgabe: Dr. Volker Best, Katharina Rahlf Redaktionsanschrift: Redaktion INDES c/o Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie Universität Bonn Lennéstr. 27, 53113 Bonn [email protected] Online-Auftritt: www.indes-online.de Anfragen und Manuskriptangebote schicken Sie bitte an diese Adresse, möglichst per E-Mail. – Die Rücksendung oder Besprechung unverlangt eingesandter Bücher kann nicht gewährleistet werden. Die Zeitschrift erscheint viermal jährlich. Es gilt die gesetzliche Kündigungsfrist für Zeitschriften-Abonnements. Die Kündigung ist schriftlich zu richten an: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice mbH, Leserservice, Teichäcker 2, D-72127 Kusterdingen, E-Mail: [email protected]. Unsere allgemeinen Geschäftsbedingungen, Preise sowie weitere Informationen finden Sie unter www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com. Verlag: BRILL Deutschland GmbH, Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen; Tel.: 0551-5084-40, Fax: 0551-5084-454 www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Ver- wertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. ISBN 978-3-666-80037-5 ISSN 2191-7962 © 2023 by Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-BoschBreite 10, 37079 Göttingen, Germany, an imprint of the Brill-Group (Koninklijke Brill NV, Leiden, The Netherlands; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Germany; Brill Österreich GmbH, Vienna, Austria) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Gestaltung, Satz und Lithografie: SchwabScantechnik, Göttingen

Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Ursula Bitzegeio Dr. Felix Butzlaff Dr. Sandra Fischer Prof. Sigmar Gabriel Prof. Dr. Alexander Gallus Hasnain Kazim Prof. Dr. Christine Krüger Dr. Astrid Kuhn Prof. Dr. Torben Lütjen Dr. Julia Reuschenbach Prof. Dr. Jürgen Rüttgers Prof. Dr. Ulrich Schlie Prof. Dr. Grit Straßenberger Prof. Dr. Berthold Vogel Ulrike Winkelmann

BEBILDERUNG Julian Waldvogel liebt Illustrationen mit dem Hang zum Skurrilen. Sein Stil ist vorwiegend cartoonesque, expressiv und gerne surreal. Besonders reizt ihn die Darstellung subjektiver, verzerrter Wahrnehmung. Der Illustrator aus Freiburg versucht, jede Zeichnung wie seine Erste anzugehen – stets auf der Suche nach dem Besonderen. Seine Experimentierfreudigkeit führt ihn oft auf unkonventionellen Wegen zu außergewöhnlichen Ergebnissen – mal ekelhaft schön, mal wunderbar grotesk. So wie das Leben. Mehr aus Julian Waldvogels Feder: www.warjul-illustration.de/

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9 783525 800379