Die 1980er Jahre: Indes 2014 Heft 01. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 9783666800061, 9783525800065, 9783647800066


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Die 1980er Jahre: Indes 2014 Heft 01. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft
 9783666800061, 9783525800065, 9783647800066

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EDITORIAL ΞΞ Felix Butzlaff / Katharina Rahlf

Die 1980er Jahre? Im Rückblick wirken die Jahre zwischen der zweiten Ölkrise und der deutschen Wiedervereinigung noch wenig klar charakterisierbar, jedenfalls deutlich unschärfer als die 1960er und 1970er Jahre. Vielleicht ist dies schlichtweg dem Gang der Dinge geschuldet: Zu Beginn des neuen Jahrtausends rückten, nachdem zuvor das Jahrzehnt der Studentenrevolte im Fokus stand, zunächst die 1970er Jahre in den Blick, schrieben Historiker und Literaten an ihren Einordnungen und Interpretationen. Nun also, der Logik der endenden Archivsperrfristen folgend, gelangt das Jahrzehnt von Helmut Kohl, Tschernobyl und den Yuppies in den Fokus. Nicht zuletzt auch deswegen, weil das Interesse am retrospektiven Erforschen der Zeitgeschichte von der Zugehörigkeit zu bestimmten Geburtsjahrgängen gespeist wird. Dem kann sich auch die INDES-Redaktion kaum entziehen: Ein Großteil der Redaktionsmitglieder ist während der 1980er Jahre aufgewachsen oder geboren worden, so dass eine autobiografische Anknüpfung die Neugierde weckt. Zumal: Einen Konsens darüber, was die 1980er Jahre denn nun waren, welche Bedeutung sie für uns haben und wie wir sie begreifen können, gibt es eben noch nicht. Die 1970er Jahre haben mit den Arbeiten von Axel Schildt, Anselm Doering-Manteuffel, Lutz Raphael, Konrad H. Jarausch und nicht zuletzt Gabriele Metzler Gestalt angenommen, sind plastisch und in ihrer Bedeutung für uns verständlich und fassbar geworden. Ähnliches fehlt – jedenfalls in dieser Ausführlichkeit – für die 1980er bislang noch. Denn es handelt sich um ein Jahrzehnt, in dem in Deutschland und Europa viele Entwicklungen erstmals mit Macht und neuer Dynamik an die Oberfläche drängten, die uns gleichwohl bis in die heutigen Tage prägen: von dem Bewusstsein für Umweltverschmutzung, Ressourcenknappheit und der Skepsis gegenüber vermeintlichen Zukunftstechnologien über die (erneuten) Debatten um Frieden und Atomkrieg bis hin zu den »neuen« Diskussionen um Staatsverschuldung und neuliberale Wirtschaftsparadigmen, welche mit den Regierungsübernahmen von Reagan und Thatcher nun auch an der Wahlurne mehrheitsfähig wurden. Zudem aber sowohl gesellschaftlich als auch in der Perspektive der einzelnen Menschen eine Art »neue Globalisierung« und Moderne, von der Andreas Rödder im Gespräch mit uns erzählt. Die Jahre zwischen der iranischen Revolution und dem Ende des Kalten Krieges sind also mitnichten lediglich eine Periode des konservativen

INDES, 2014–1, S. 1–3, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X

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Rollbacks, einer Verlängerung der 1970er Jahre oder gar einer vermeintlichen »geistig-moralischen Wende« – sondern vielmehr eine Zeit, in der sich das Versanden älterer und die Geburt neuer Entwicklung überschnitten und überkreuzten. Die Analyse eines ganzen Jahrzehnts ist dabei natürlich immer ungemein schwierig zwischen zwei Heftcovern zu kondensieren. Uns treibt die Erkundung eines Zeitgefühls an, wir wollen gewissermaßen ein DekadenKaleidoskop erstellen. Dieser (Retro-)Perspektive, den drängenden Fragen der 1980er Jahre selbst und was davon einerseits prägend blieb, was andererseits klanglos versandete – dem wollen wir uns mit unserem Heft widmen. Unsere Idee von INDES bringt es dabei mit sich, über die Analyse politischer Großereignisse hinaus sehr vielfältige Ansätze zu versammeln, um ein solches Kaleidoskop in all seinen schimmernden Facetten entstehen zu lassen: Dazu zählen verschiedene wissenschaftliche Blickwinkel und Perspektiven ebenso wie die Stimmen Beteiligter oder die literarische Reflexion. Einen Anspruch auf systematische und repräsentative Vollständigkeit kann ein solches Vorgehen folglich nicht erheben, möchte es auch gar nicht. Vielmehr geht es darum, neben dem Einfangen einer Art Jahrzehntegeruches Interessantes, vielleicht Neues und Lesenswertes zu versammeln, das neugierig macht – und auch zeigt, wie verwirrend und auch oft widersprüchlich ein ganzes Jahrzehnt sein kann. Hierzu zählt die ewige Frage nach der Periodisierung, danach, wie lang und von wann bis wann »die Achtziger« eigentlich waren, ebenso wie die Betrachtung kleiner Details oder internationaler Zusammenhänge. Mit Andreas Rödder im Gespräch haben wir den Auftakt gemacht, haben uns vorgetastet – wie können wir die 1980er eigentlich fassen und welche Chiffren oder Signets sind möglicherweise charakterisierend? Frank Uekötter betrachtet die »komfortabelste Risikogesellschaft aller Zeiten« und spürt dem irritierenden »Kontrast zwischen materiellen Segnungen und mentalen Phobien« nach, welcher so typisch für das Lebensgefühl dieser Dekade war. Ulrike Sterblich hat sich in ihrem Essay ebenfalls in das Lebensgefühl des Jahrzehnts zurückversetzt – aus der Perspektive einer Radiohörerin. Etta Grotrian zeichnet die Geschichtsdebatten der 1980er nach, Miriam Nandi die feministischen Positionen und Frieder Vogelmann die philophischen Diskurse um Verantwortung. Franz Walter schildert den Weg der Nachwuchsliberalen von der »jugendlichen Radikaldemokratie zum juvenilen Neuliberalismus«; die Wechselfälle eines singulären Protagonisten der 1980er Jahre illustriert Matthias Eckoldt in seinem Porträt Rudolf Bahros. Warum das Starnberger MPI Carl Friedrich von Weizsäckers zur »Erforschung der Lebensbedingun-

gen der wissenschaftlich-technischen Welt« gewissermaßen an der »Ungunst

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Editorial

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des Augenblicks« scheiterte, erklärt Ariane Leendertz. Und Nicole Falkenhayner blickt zurück ins Jahr 1989, als die Affäre um Salman Rushdies Roman »Die Satanischen Verse« Großbritannien in Aufruhr versetzte. Jöran Klatt, Jasper A. Friedrich und Fernando Ramos Arenas sowie Matthias Dell schließlich widmen sich den kulturellen Strömungen und Phänomenen des Jahrzehnts: den Cyberpunks, der Musikszene der DDR sowie dem »Yuppiefilm«. Norbert Ahrens erklärt als langjähriger Hörfunkkorrespondent in Lateinamerika die Demokratisierungsprozesse und die Überwindung der Militärdiktaturen auf dem Cono Sur. In den Perspektiven widmet sich Martin Sabrow – passend zum ersten Heft des »Erinnerungsjahres 2014« dem Paradigma der »Aufarbeitung«. In welcher Beziehung der Militärstratege von Moltke und der Anthroposoph Steiner in den Tagen des Ersten Weltkriegs standen, diese Beziehung portraitiert Wolfgang Martynkewicz. Hans-Joachim Lang knüpft an die Kontroverse des vorangegangenen Heftes über die Vergangenheit des Politologen Theodor Eschenburg während der NS-Zeit an und dokumentiert dessen Beteiligung an der Enteignung Wilhelm Fischbeins. Zudem stellen Christoph Hoeft, Sören Messinger und Jonas Rugenstein die »Viertelgestalterin« Ayse Massoud vor und präsentieren damit einen Blick in die Studie »Wer organisiert die ›Entbehrlichen‹?« Die Bebilderung zu diesem Heft lag – wie so oft – in den Händen von Julia Kiegeland. Auch wenn uns das Jahrzehnt noch schwer fassbar, widersprüchlich, facettenreich und schwer auf einen Nenner zu bringen scheint: Mit den Porträts von Pierre Littbarski und Joachim Löw sowie der geradezu ikonografischen Aufnahme Martina Navratilovas verbinden wir beim Anblick sofort eines – die 1980er.

Editorial

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INHALT 1 Editorial

ΞΞFelix Butzlaff / Katharina Rahlf

DIE 1980ER JAHRE >> INTERVIEW

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»Durchbruch der Globalisierung« ΞΞEin Gespräch mit Andreas Rödder über die 1980er als Jahrzehnt der Transformation

>> ANALYSE 18 Die komfortabelste Risikogesellschaft aller Zeiten

Der Kontrast zwischen materiellen Segnungen und mentalen Phobien ΞΞFrank Uekötter

27 Identität und Orientierung

Geschichtsdebatten in den 1980er Jahren ΞΞEtta Grotrian

35 Cashmere statt Cord

Von der jugendlichen Radikaldemokratie zum juvenilen Neuliberalismus ΞΞFranz Walter

47 Theoretisch virtuos, politisch engagiert

Gayatri Spivak und der Feminismus der 1980er Jahre ΞΞMiriam Nandi

53 Intensivieren, umordnen, explizieren Verantwortung im philosophischen Diskurs ΞΞFrieder Vogelmann

61 Demokratisierung und Neoliberalisierung Die 1980er Jahre in Lateinamerika ΞΞNorbert Ahrens

70 Burning Books in Baggy Pants

Das britische Jahr 1989, Rushdies »Satanische Verse« und der europäische Islam ΞΞNicole Falkenhayner

75 Cyberpunk

Die Avantgarde der Science-Fiction ΞΞJöran Klatt

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INDES, 2014–1, S. 4–5, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X

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84 »Ich lerne schnell«

Neoliberale Yuppies im amerikanischen Kino der 1980er Jahre ΞΞMatthias Dell

>> MINIATUR 89 Über Morrissey

Die Entzifferung der Zeichen in prädigitalen Zeiten ΞΞUlrike Sterblich

>> INSPEKTION 95 Bedingt eingestimmt

DDR-Popmusikkultur zwischen Autonomie und Anpassung ΞΞJasper A. Friedrich / Fernando Ramos Arenas

105 Ungunst des Augenblicks

Das »MPI zur Erforschung der Lebens­bedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt« in Starnberg ΞΞAriane Leendertz

>> PORTRAIT 117 Ein Gläubiger im Diesseits

Der Kommunist, Dissident und Prediger Rudolf Bahro ΞΞMatthias Eckoldt

PERSPEKTIVEN >> ANALYSE 126 »Aufarbeitung« als Paradigma

Vom Aufarbeitungsjahr 2013 zum Erinnerungsjahr 2014 (Teil 1) ΞΞMartin Sabrow

>> KONTROVERSE 133 Theodor Eschenburg und die deutsche Vergangenheit

Die Enteignung Wilhelm Fischbeins – und was Theodor Eschenburg damit zu tun hat ΞΞHans-Joachim Lang

>> PORTRAIT 145 Helmuth von Moltke und Rudolf Steiner Oder: Von der Notwendigkeit des Krieges ΞΞWolfgang Martynkewicz

>> STUDIE 156 Ayse Massoud, eine Viertelgestalterin

Ein Blick in die Studie: »Wer organisiert die ›Entbehrlichen‹?« ΞΞChristoph Hoeft / Sören Messinger / Jonas Rugenstein

INHALT

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SCHWERPUNKT: DIE 1980ER JAHRE

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INTERVIEW

»DURCHBRUCH DER GLOBALISIERUNG« ΞΞ E in Gespräch mit Andreas Rödder über die 1980er als Jahrzehnt der Transformation

Herr Rödder, die 1980er Jahre sind ein Jahrzehnt, das erst langsam ins Bewusstsein der Wissenschaft rückt. Wofür steht diese Dekade, was sehen Sie in ihr? Die 1980er Jahre sind eine der beiden großen Phasen, auf die sich unsere Gegenwart in historischer Perspektive beziehen lässt. Das sind zum einen die 1970er und 1980er Jahre des 20. Jahrhunderts sowie zum anderen die Zeit der ersten Globalisierung vor dem Ersten Weltkrieg. Wir erleben einen Paradigmenwechsel im gegenwärtigen Verständnis unserer Gegenwart. Der klassische Bezugspunkt des Zeitalters der Weltkriege, des Ost-West-Konflikts, der Gewalterfahrung der Diktaturen und der Unterdrückung tritt zunehmend zurück und unsere Gegenwart definiert sich sehr viel mehr über Globalisierung und beschleunigten Wandel. Und da gehören die 1980er Jahre ganz erheblich mit dazu – mit ihrem raschen technologischen Wandel, einem Wandel der politischen Ökonomie und der Finanzmärkte und, damit verbunden, einem grundlegenden Wandel der politischen Kultur. Oftmals werden Jahrzehnte ja spezifisch charakterisiert. Die 1920er Jahre gelten als »golden«; Gerd Koenen hat die 1970er als »rotes Jahrzehnt« bezeichnet. Was wäre denn so eine Signatur der 1980er Jahre? Jedenfalls eine ganz andere Signatur, als man zeitgenössisch gedacht hat. Damals meinte man, die 1980er Jahre seien die »windstillen Jahre«, in denen nicht viel passiere und in denen sich eine behagliche Gemütlichkeit der Ära Kohl breitmache. Im Nachhinein sehen wir, dass die 1980er Jahre das Jahrzehnt sind, in dem sich der Durchbruch der Globalisierung angebahnt und vorbereitet hat.

INDES, 2014–1, S. 7–17, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X

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Wo sehen Sie die wichtigsten Veränderungsschübe, welche diesen Charakter unterstreichen? Die entscheidende Zäsur liegt in den frühen 1970er Jahren, zugespitzt: im Jahr 1973, als der Nachkriegsboom abrupt zu Ende ging. Das bedeutete nicht nur einen ökonomischen Einschnitt, sondern auch einen politisch-kulturellen, indem nämlich die planungsgläubige und zukunftseuphorische Modernisierungsideologie der 1960er zu Ende ging. Diesem Umbruch Anfang der siebziger Jahre folgte zunächst eine Zeit der Suche, der Desorientierung. Die siebziger Jahre wurden daher als Krise wahrgenommen, die nicht zuletzt in der zweiten großen Konjunkturkrise und dem Wettersturz in den Ost-West-Beziehungen Ende der 1970er sowie dem Aufkommen der neuen sozialen Bewegungen zum Ausdruck kam. Dieses Krisenbewusstsein wurde im Laufe der 1980er Jahre von einem neuen Zukunfts- und Modernisierungsoptimismus abgelöst, der von der sich durchsetzenden Computerisierung, der sich anbahnenden Internationalisierung, einer günstigen Konjunkturentwicklung und dem heraufziehenden Ende des Ost-West-Konflikts getragen wurde. Insofern sind die 1980er zum Ende hin offen, weil sie einen katalytischen Moment in der Durchsetzung der Globalisierung darstellen, die sich dann nach dem Ende des Ost-West-Konflikts noch einmal massiv verstärkte. Die 1980er also als ein sehr langes, irgendwie ausfaserndes Jahrzehnt? Ja. Wobei man aufpassen muss, dass man dieses Denken in Jahrzehnten nicht zu eng fasst. Irgendwann klebt man nur noch Labels auf. Aber die 1980er sind das Transformationsjahrzehnt hin zu den Entwicklungen, die uns bis in die Gegenwart hinein massiv beschäftigen. Und insofern ist es natürlich offen. Gegensätze traten gleichzeitig auf den Plan: kulturell zum Beispiel die Yuppies auf der einen und die linksalternativen Milieus auf der anderen Seite; politisch die politischen Großprojekte, die mit Thatcher und Reagan auf der einen und Mitterand auf der anderen Seite verbunden sind. Sind die 1980er also geprägt von einem Aufeinanderprallen von Gegensätzen, wie wir es, zumindest in den Jahren seitdem, nicht mehr gesehen haben? Wenn Sie auf die gesellschaftlich-politischen Auseinandersetzungen schauen, insbesondere in der Bundesrepublik in den frühen 1980er Jahren, beispielsweise auf die Debatten um die Stationierung der atomaren Mittelstreckenraketen zu Beginn der 1980er, dann sind diese tatsächlich von Polarisierungen und Gräben gekennzeichnet – nicht zuletzt zwischen den sich selbst so nennenden bürgerlichen Kräften auf der einen Seite und den

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Die 1980er Jahre  — Interview

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neuen sozialen Bewegungen auf der anderen Seite. Diese Gräben waren so unüberbrückbar tief, viel tiefer als heute, dass man sich im Jahr 1983 nicht hätte vorstellen können, dass es jemals zu einer schwarz-grünen Koalition in Hessen oder anderswo kommen würde. Dennoch gibt es, wenn wir etwas näher auf die 1980er Jahre schauen, natürlich immer Hauptströmungen und Gegenbewegungen. Wir haben als Überhang aus den 1970er Jahren Protestbewegungen und ein Krisenbewusstsein aus den frühen 1980ern – die Auseinandersetzungen an der Frankfurter Startbahn West, die Proteste gegen Kernenergie in Brokdorf, Wackersdorf oder Gorleben, bis hin zu den Auseinandersetzungen um die Stationierung der amerikanischen Mittelstreckenraketen. In diesen Zusammenhang gehört auch, sozusagen als Nachschlag zum Staatsinterventionismus der Nachkriegszeit, ein Modell wie die Sozialpolitik Mitterrands in den ersten zwei Jahren des Jahrzehnts. Und genau hier wird der Umschlag innerhalb der 1980er Jahre sichtbar: Nach zwei Jahren vollzieht Mitterrand eine scharfe Kehrtwende von einer wohlfahrtsstaatlichen Politik hin zu einer Konsolidierungspolitik. Der französische Fall spiegelt den allgemeinen Übergang der westlichen Industriegesellschaften hin zu einem neuen markt- und stabilitätsorientierten Konsens im Zeichen der sich durchsetzenden neuen Technologien, der sich in den 80er Jahren zunehmend breitmacht. Die USA und Großbritannien der Regierungen Reagan und Thatcher waren die Vorreiterländer, und andere Länder zogen nach. Das ist übrigens auch die Grundlage, auf der man sich überhaupt auf die Europäische Währungsunion hat einigen können. Worauf schauen Sie, um eine solche Transformation greifbar zu machen? Als Historiker fährt man immer ganz gut damit, zunächst einmal mit dem alten Schema von Max Weber zu operieren und nach Herrschaft beziehungsweise Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur zu fragen. Dann ist es sinnvoll, die zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Debatten und ihre Schwerpunkte zu sondieren und diese auf ihre historische Signifikanz hin zu befragen, sei es als empirische Aussagen, sei es als analytische Kategorien. Wenn man dies getan hat, hilft schließlich ein Schuss historischer common sense, um das Tableau abzurunden: die pragmatische Erwägung der Frage, was ist eigentlich plausibel und was ist historisch bedeutsam? Vorstellungen von der Zukunft sagen ja oftmals auch etwas aus über die Befindlichkeiten und Gemütszustände der Gegenwart. Inwiefern sind dabei Zukunftsvorstellungen der 1980er als eine Art Stimmungsbarometer aussagekräftig, und was findet man dort generell an Zukunftsideen? Ein Gespräch mit Andreas Rödder  —  »Durchbruch der Globalisierung«

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Wenn wir auf die Nachkriegsgeschichte blicken, dann sehen wir, wie sich in den späten 1950er Jahren und dann stark in den 1960er und frühen 1970er Jahren eine wissenschaftsgläubige, planungsorientierte Modernisierungsideologie ausbildet, die mit Hilfe von Mechanismen wie der »Globalsteuerung«, der »Reformplanung« oder der Kybernetik meinte, Zukunft rational gestalten zu können. Das bricht mit der großen Zäsur um 1973 ab und macht einem Krisenbewusstsein Platz. Und wenn Sie auf die neuen sozialen Bewegungen der späten 1970er schauen, dann ist das vorherrschende Zukunftsbild im Grunde Zukunftsangst: die Angst vor dem atomaren Tod, sei es durch ein explodierendes Kernkraftwerk, sei es durch den Einsatz von Nuklearwaffen – und wenn nicht durch »das Atom«, dann durch den sauren Regen. Und diese sehr krisenhafte Gegenwartswahrnehmung und Zukunftsvorstellung schlägt im Laufe der 1980er in einen neuen Zukunftsoptimismus um, der mit den neuen Technologien heraufkommt und in den 1990er Jahren eine neue Form von Modernisierungsideologien freisetzt, die freilich weniger von staatlicher Steuerung ausgehen als in den 1960er Jahren, sondern von Marktkräften, Netzwerken und Selbststeuerung. Lassen Sie mich hier einmal einhaken und fragen, wodurch kommt das eigentlich genau? Ist es allein die Technologiebegeisterung? Am Anfang war die Krise des Wohlfahrtsstaates der Nachkriegszeit. Im Moment macht sich gerade in den Geschichtswissenschaften ein, wie ich finde, vereinfachtes Bild breit: Eine Lesart der Nachkriegsgeschichte, die besagt, dass sich in den 1950er und 1960er Jahren ein wohlfahrtsstaatlicher Nachkriegskonsens etabliert habe, der in den 1970er Jahren in den Neoliberalismus umgeschlagen sei, der dann seit den 1980er Jahren implementiert worden sei, Solidaritäten deformiert, Demokratien entkernt und geradewegs in die Krise von 2008 geführt habe – wobei der normative Unterton nicht zu überhören ist. Diese Lesart ist nach meinem Dafürhalten zu einfach, allein schon deshalb, weil man in den 1970er Jahren hat erkennen müssen, dass die Form des keynesianisch inspirierten Staatsinterventionismus schlicht und einfach nicht funktionierte. Insbesondere in Großbritannien, von wo diese Bewegung ja in starkem Maße ausging, herrschte in den 1970er Jahren kein Konsens mehr, sondern eine lähmende Krise. Wofür die 1980er Jahre dann stehen, ist eine Politik der Freisetzung von Marktkräften als Reaktion auf den nicht mehr funktionierenden Interventionismus der 1970er Jahre. Die 1980er sind aber nicht die neunziger und nicht die frühen 2000er Jahre, vielmehr haben sich Entwicklungen verselbstständigt, weil Nachregulierungen ausgeblieben sind. Das aber waren nicht die Jahre Margaret Thatchers, sondern Tony Blairs.

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Die 1980er Jahre  — Interview

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In welchem politischen Klima entwickelt sich denn dieses Neue? Für uns sehr viel sichtbarer als für die Zeitgenossen ist ein doppelter Bezugsrahmen in den 1970er Jahren. Auf der einen Seite prallen marktliberale und klassisch wohlfahrtsstaatliche Positionen aufeinander, ohne die Kenntnis der weiteren Entwicklung. Als die Regierung Kohl 1982 ins Amt kam, prognostizierten die Gewerkschaften eine neue »soziale Kälte«. Die weitere Entwicklung hat gezeigt, dass, zumindest für die 1980er Jahre in der Bundesrepublik, nichts davon eingetreten ist. Der andere Bezugspunkt – und man muss aufpassen, dass man ihn aus unserer heutigen Perspektive nicht zu sehr aus den Augen verliert – ist immer der Hintergrund der Systemkonkurrenz des Kalten Krieges. Gerade die frühen 1980er Jahre sind von einer wieder aufgelebten Furcht vor der Bedrohung durch die Gegenseite im »zweiten Kalten Krieg« beseelt. Frank Uekötter, der in diesem Heft über Angst und Bedrohung schreibt, stellt die 1908er Jahre in England mit einer sehr viel schärferen Polarisierung einem, wie er es nennt, abgedämpften Jahrzehnt in Deutschland gegenüber. Wie kommen eigentlich diese Unterschiede zustande? Ich würde drei Gründe namhaft machen. Zum einen steckte England in den siebziger Jahren in einer sehr viel tieferen Krise als die Bundesrepublik. Eine flächendeckend nicht mehr funktionsfähige Industrie, das ist das britische Problem, plus die gesellschaftlich-politische Macht der Gewerkschaften, die in der Lage waren, das ganze Land lahmzulegen. Das ist das eine. Das andere sind eine politische Kultur und ein politisches Institutionen­system, die sehr viel kontroversere und konsequentere Entscheidungen möglich machten, wenn man einmal eine Mehrheit hatte. Hinzu kommt freilich der Faktor der Persönlichkeit, und das heißt: Margaret Thatcher. Es gab ja genug Konservative, die einen sehr viel moderateren, kompromissbereiteren Kurs befürworteten. 1981 wurde Thatcher von ihren eigenen Parteikollegen bestürmt, ihren harten Sparkurs zu ändern, und sie antwortete mit dem berühmten Satz: »The lady is not for turning.« In der Bundesrepublik war weder die Krise so tief wie in Großbritannien, noch war Kohl auch nur in Ansätzen so kontrovers wie Thatcher. Kohl war der Inbegriff des »Modells Deutschland« und der »Politik des mittleren Weges«. Dem gegenüber stand ein hohes Maß an Bürgerpartizipation, insbesondere in den neuen sozialen Bewegungen. Täuscht der Eindruck oder verhalten sich Protest und Engagement über die Zeit wellenförmig? Und wenn ja, wodurch geschieht so etwas? Ein Gespräch mit Andreas Rödder  —  »Durchbruch der Globalisierung«

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Wenn es solche Wellen denn wirklich gibt. Wir haben in der Bundesrepublik immer mal wieder Ausschläge von Protest und Partizipation, von der Kampagne gegen die Wiederbewaffnung in den 1950ern bis zu den Demonstrationen gegen den Irak-Krieg 1991. Diese Politisierung scheint mir in der bundesdeutschen Geschichte eher eine Ausnahmephase zu sein. Wenn Sie überlegen, dass noch Anfang der sechziger Jahre die Rede davon war, dass die »Studenten von heute« völlig angepasst wären, dann wird schnell klar, dass die Politisierung, die wir mit »68« und den 1970er bzw. frühen 1980er Jahren verbinden, erst in den späten 1960ern wirklich massiv auftritt und in den 1980ern dann wieder abebbt, wobei es nicht nur die Politisierung und die Partizipation der neuen sozialen Bewegungen gegeben hat, sondern ebenso auch die ihrer politischen Opponenten. Auf den Autos klebten ja nicht nur »Atomkraft – Nein danke!«- oder SPD-Sticker, sondern auch CDU- und CSU-Aufkleber, bis zum Konterfei von Franz Josef Strauß 1980. Sehen Sie

heute noch ein Auto mit einem Aufkleber einer politischen Partei, wenn es nicht gerade das Wahlkampfmobil der Kandidaten ist? Mir scheint die Zeit von den späten sechziger bis zu den frühen 1980er Jahren eher eine besondere Phase in der Geschichte der Bundesrepublik zu sein, weniger eine zyklische Wellenbewegung. Diese Form der Politisierung hing offensichtlich mit einer bestimmten Phase der Selbstverständigung der bundesdeutschen Gesellschaft zusammen. Es ist auffällig, dass sich in den 1980er Jahren etwas ballt. Gerade in Bezug auf die eigene Vergangenheit, wenn man an den Historikerstreit und an die Diskussion der Weizsäcker-Rede zum Tag des Kriegsendes denkt, bis hin zu den Debatten um Museumsgründungen. Ist das auch eine Phase, in der generationell dieses Thema der Vergangenheitsbewältigung anders angefasst wird? Generationell kommt der eigentliche Umbruch erst in den 1990er Jahren mit dem Übergang von der kontroversen »Bewältigung« zur konsensualen »Aufarbeitung« durch die gar nicht mehr beteiligten Nachgeborenen, die heute die NS-Vergangenheit von Ministerien oder Unternehmen untersuchen. Das ist in den 1980er Jahren ja noch anders. Hier stoßen die Flakhelfergeneration der um 1930 Geborenen und die Achtundsechziger aufeinander, wobei die Konfliktlinien auch quer durch die Generationen laufen, so dass wir es nicht nur mit einem Generationenkonflikt zu tun haben. Was wir in den 1980er Jahren allerdings erleben, ist ein Paradigmenwechsel im Geschichtsbild: ein Paradigmenwechsel hin zu den Opfern. Bis in die 1970er Jahre haben Darstellungen zum Nationalsozialismus in aller Regel die Jahre 1933–1939 umfasst und die Frage der Implementation der Diktatur in der deutschen Gesellschaft

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Die 1980er Jahre  — Interview

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thematisiert. In den 1980er Jahren verschiebt sich die Perspektive hin zu den Opfern, insbesondere natürlich im Hinblick auf den Mord an den europäischen Juden. Das verliert man heute leicht aus dem Blick, da uns die gesamte Geschichte und Dimension der Opfer des Holocaust in aller Deutlichkeit vor Augen steht. Als ein wirklich flächendeckendes geschichtsprägendes Element hat sich dies, übrigens auch europaweit, erst in den 1990er Jahren, nach dem Ende des Kalten Kriegs, durchgesetzt. Dieser Wechsel in der Perspektive in den 1980er Jahren geschieht immer noch unter dem Gesamteindruck der Systemkonkurrenz. Ein Beispiel etwa ist das Verhältnis zu Polen: Nach 1990 rückte Polen als Opfer deutscher Gewalt ins Bild, vor 1989 war Polen immer Teil des gegnerischen politischen Blocks. Was sind denn Generationen, die hier in den 1980er Jahren diese Transformation mitmachen, wodurch sind sie geprägt und welche Werthaltungen ringen da miteinander? Nach der klassischen Definition Karl Mannheims setzt die Generationenprägung nicht nur ein statistisches Geburtsjahr, sondern immer auch das spezifische Generationenerlebnis voraus. Davon kann man, was die Weltkriege angeht, sicher auch mit Grund ausgehen. Insofern haben wir es in den 1980er Jahren in der alten Bundesrepublik mit drei Generationen zu tun. Da ist die Generation der Soldaten, zu denen auch Helmut Schmidt gehört, die Generation der Flakhelfer, die zuweilen auch die »45er« genannt wird, also die um 1930 Geborenen, die ihre Jugend im Nationalsozialismus erlebt und den Krieg am Schluss möglicherweise als Flakhelfer sogar noch aktiv miterlebt hatten. Und drittens die Achtundsechziger-Generation, der im oder kurz nach dem Krieg Geborenen und nach dem Krieg Aufgewachsenen. Die Generation, die die 1980er prägt, ist in ganz starkem Maße die Flakhelfer-Generation. Ihre Vertreter, ohnehin früh in führende Positionen gelangt, stehen in ihren 50ern und in ihrem Zenit – das typischste Beispiel: Helmut Kohl. Sie bringen übrigens in europapolitischer Hinsicht eine ganz eigene Prägung mit, eine Bereitschaft zur europäischen Integration, wie sie davor bei denjenigen, die sehr viel stärker im klassischen Konzept von Nationen verhaftet waren, aber auch danach bei denjenigen, die die Dinge wieder pragmatischer und nüchterner sehen, so kaum mehr anzutreffen ist. Womit erklären Sie das? Die Lehre der »alten Bundesrepublik« hieß »Nie wieder Krieg« und »Nie wieder deutsche Vormacht« – allerdings in unterschiedlichen Varianten. Die Friedensbewegung stand für die pazifistische Variante, Kohl hingegen für Ein Gespräch mit Andreas Rödder  —  »Durchbruch der Globalisierung«

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Westbindung und Bündnisloyalität, die freilich nicht verhindern konnten, dass die Bundesrepublik in den 1970er und 1980er Jahren immer stärker und mehr und mehr zur europäischen Vormacht wurde – zum Erschrecken vieler Deutscher, von Helmut Schmidt bis Helmut Kohl. Man muss sich klar machen: Dieses Land hatte den Krieg verloren, es war geteilt worden, es war keine Nuklearmacht, hatte seine Schwerindustrie in den 1950er Jahren vergemeinschaftet – und wurde nun wieder zur zentralen Macht in Europa, und zwar nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch. Insofern war übrigens Helmut Schmidts Wort, die Bundesrepublik sei »ein wirtschaftlicher Riese und politischer Zwerg« immer schon im Ansatz falsch. Vor diesem Hintergrund war die Botschaft der 45er-Generation, insbesondere Kohls, diesem Umstand Rechnung zu tragen und Deutschland auf jeden Fall in Europa einzubinden, um eine neue deutsche Vormacht zu verhindern, was sich dann nach der Wiedervereinigung noch einmal erheblich verstärkte. Kann man hier also schon den Beginn eines ökonomischen Wettstreits mit anderen Ländern erkennen, der bald die Diskussion über Wettbewerbsfähigkeit und Standortbedingungen befeuern sollte? Diese Sichtweise setzte sich in Deutschland erst in den 1990ern durch. Die deutsche Perspektive in den 1980ern war eine andere: die Vorstellung, dass man mit einer Politik der Haushaltskonsolidierung und der Währungsstabilität die Dinge aus eigener Kraft wieder flott machen könnte. Und dies gelang in der Bundesrepublik in den 1980ern ja auch. Bald nach dem Regierungswechsel von 1982 setzte eine wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung ein, die zunächst eher moderat verlief und in den späten 1980ern in einen veritablen Boom überging. Ende der 1980er Jahre erlebte die Bundesrepublik eine solche Wachstumsphase, dass das Land vor Kraft kaum laufen konnte. Schauen Sie einmal auf die Feiern anlässlich des 40-jährigen Bestehens im Frühjahr 1989: Die Bundesrepublik war noch nie so sehr bei sich gewesen, und allerorten war glücklich und zufrieden die Rede vom »Modell Deutschland«. Eine historische Erfahrung am Rande: Wenn bislang in Deutschland vom »Modell Deutschland« die Rede war, befand sich das Land gerade auf dem Weg in Strukturprobleme. Und als der »Abstieg eines Superstars« ausgerufen wurde, war das Land schon wieder auf dem Weg nach oben. Insofern ist immer Vorsicht geboten, wenn das »Modell Deutschland« allzu positiv kommuniziert wird. In den 1980ern war zwar zuweilen von einem »Reformstau« die Rede, aber in den späten 1980er Jahren waren die ökonomischen und sozialen Daten so positiv, dass die Debatte in Deutschland nur sehr verhalten einsetzte. Hinzu

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Die 1980er Jahre  — Interview

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kommt, dass gerade unter dem Eindruck der sozialen Härten der ThatcherRegierung, gerade aus dem anglo-amerikanischen Ausland, die Bundesrepublik in den 1980er Jahren als das »Modell Deutschland« wahrgenommen wurde, als Musterfall einer prosperierenden und sozial stabilen Wirtschaft und Gesellschaft. Inwieweit ist denn die geistig-moralische Wende Kohls eigentlich Teil dieser Transformation? Wenig. Die »geistig-moralische Wende« ist ein Slogan Kohls gewesen, der die meisten von denen, die darauf gehofft hatten, völlig unbefriedigt gelassen hat. Was die Regierung Kohl verändert hat, war erstens, eine Politik der Haushaltskonsolidierung einzuleiten, und zweitens, eine Außen- und Sicherheitspolitik der dezidierten Westbindung und loyalen Bündnispolitik zu betreiben. Das ist aber beides nicht das, was im Zentrum der sogenannten »geistig-moralischen Wende« stand. Wenn es diese in einem Bereich gab, dann in der Familienpolitik, vor allen Dingen mit der Anrechnung von Erziehungszeiten auf die Rentenanwartschaft, weil ebendies letztendlich eine Strukturveränderung zugunsten der Kindererziehung in den deutschen sozialen Sicherungssystemen darstellte. Mit der Besserstellung der Frau … Schlicht und ergreifend mit der Anerkennung von Familienarbeit in sozialversicherungsrechtlicher Hinsicht. Das blieb natürlich weit hinter dem zurück, was viele Familienpolitiker immer im Hinblick darauf gefordert haben, Familienarbeit anzuerkennen und gleichzustellen. Aber hier war sozusagen der sozialrechtliche Durchbruch erzielt, dies zumindest im Prinzip anzuerkennen. Für Sie als Historiker sind die 1980er nicht nur wissenschaftliches Anschauungsgebiet, sondern im Prinzip tragen Sie das immerwährende Ringen zwischen dem Wissenschaftler und dem Zeitzeugen in sich. Wie charakterisieren Sie persönlich für sich die 1980er Jahre? Die 1980er Jahre sind mein Jahrzehnt! Meine politische Sozialisation ist untrennbar verbunden mit den Auseinandersetzungen um den NATO-Doppelbeschluss und die Stationierung der Mittelstreckenraketen in den frühen 1980er Jahren. Vor einiger Zeit sah ich eine ganzseitige Zeitungsseite mit einer großen Zahl von Porträtfotos der Beteiligten dieser Kontroverse, sowohl auf Seiten der Friedensbewegung als auch auf der Seite ihrer Gegner – und ich kannte alle sofort beim Namen und hatte eine präsente Erinnerung daran. Insofern: ja, hier liegt eine Spannung vor, die eigene Erinnerung und die Ein Gespräch mit Andreas Rödder  —  »Durchbruch der Globalisierung«

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wissenschaftliche Erkenntnis miteinander zu verbinden. Dabei erschließe ich mir über die wissenschaftliche Erkenntnis immer wieder völlig neue und mir ganz unbekannte Welten meiner eigenen Vergangenheit und der Zeit, in der ich gelebt habe. Inwiefern? Die historische Betrachtung als Zeitzeuge ist gefährlich und chancenreich zugleich. Natürlich ist die Brille der eigenen persönlichen Erinnerung eine Gefahr, Dinge in einer ganz bestimmten Perspektive zu sehen – angefangen von geglaubten Gewissheiten im Kleinen bis hin zu grundsätzlichen Einschätzungen, die man weitertransportiert. Diese Gefahr gilt im Grundsatz für alle Geschichtsschreibung: Ein Katholik schaut anders auf die Reformation als ein Protestant und ein Mann anders auf die Hexenverbrennung als eine Frau. Aber es gilt natürlich in Hinblick auf die Zeitgeschichte sehr, sehr zugespitzt. Auf der anderen Seite macht die Nähe zum Gegenstand einen besonderen intellektuellen Reiz aus, sie ist eine Herausforderung an die Erkenntnisfähigkeit von Historikern und den Anspruch des Bemühens um Vorurteilslosigkeit, um mit vermeintlichen Gewissheiten wissenschaftlich umzugehen und bislang Geglaubtes durch neu Erkanntes zu ersetzen. Was macht für Sie die Faszination dieser Jahre aus als jemand, der in der Zeit aufgewachsen ist? Die Faszination – und das macht die Zeit seit den 1980ern der Zeit vor 1914 ähnlich – liegt in den Vorgängen der Pluralisierung und der Beschleunigung: von Computern über moderne Kommunikationsmittel, Möglichkeiten der Mobilität und des Reisens bis hin zu gesamtgesellschaftlichen Pluralisierungsprozessen. »Radikale Pluralität« hat Wolfgang Welsch dies genannt, wobei die historische Empirie zeigt, dass die gesamtgesellschaftlich verbreiteten Lebensformen sich sehr viel langsamer gewandelt haben als der intellektuelle Anspruch auf den Höhen der philosophischen oder intellektuellen Debatten der Postmoderne. Diese neue Pluralität war zugleich mit großen Unsicherheiten verbunden: Niemand weiß, wohin das Ganze eigentlich geht. Und genau das erleben wir ja auch im Moment – ein Beispiel: Mit einem Federstrich in der FAS widerruft Sascha Lobo sein Credo vom Internet als dem Medium einer neuen Demokratie. Je selbstgewisser die Propheten, desto weniger sollte man ihnen glauben. Es hilft nichts: Wir müssen Unsicherheit aushalten, auch die Unsicherheit, wo sich eine zunehmend beschleunigte Entwicklung eigentlich hinbewegt. Das macht die Zeit seit den 1980ern der vor 1914 so ähnlich – und die gegenwärtige Wiederentdeckung der Geschichte

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vor 1914 eröffnet zugleich neue Perspektiven für die historische Einordnung und das Verständnis der Gegenwart. Kann man denn identifizieren, dies als letzte Frage, welche neuen grundlegenden Tendenzen sich seit den 1980er Jahren herausgebildet haben? Genau diese Frage versuche ich in meinem neuen Buch zu beantworten, das den vielleicht etwas vermessenen Arbeitstitel »Geschichte der Gegenwart« trägt und das zentrale Entwicklungen und Probleme der Gegenwart in ihrer historischen Entstehung und in ihren internationalen Bezügen erklären will. Anfang nächsten Jahres möchte ich damit fertig sein, und nun bitte ich Sie um Nachsicht, dass ich nicht schon heute alles verraten möchte. Das Interview führte Felix Butzlaff.

Prof. Dr. Andreas Rödder, geb. 1967, ist Professor für Neueste Geschichte mit dem Schwerpunkt Internationale Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Johannes-Gutenberg-Universität. Im akademischen Jahr 2012/13 nahm er die Gerda-Henkel-Gastprofessur an der London School of Economics und am Deutschen Historischen Institut London wahr.

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ANALYSE

DIE KOMFORTABELSTE RISIKOGESELLSCHAFT ALLER ZEITEN DER KONTRAST ZWISCHEN MATERIELLEN SEGNUNGEN UND MENTALEN PHOBIEN ΞΞ Frank Uekötter

Eine neue Regierung tritt an und verkündet die Wende. Unangefochten von den Wechselfällen der öffentlichen Meinung herrscht fortan ein klarer politischer Kurs. Unverbrüchlich steht die Regierung zum NATO -Doppelbeschluss und zum transatlantischen Bündnis, während die Opposition mit der Friedensbewegung flirtet. Im Innern stehen die Zeichen auf Neoliberalismus: Nach der Misswirtschaft der siebziger Jahren, so die Devise, ist es Zeit für eine neue Ordnung in Wirtschaft und Gesellschaft. Mit Verve nimmt die Regierung den Kampf mit den Gewerkschaften auf, lässt alte Industriezweige sterben und setzt auf den Dienstleistungssektor. Unruhen in armen Vierteln lassen erkennen, wie der neue Kurs die Gesellschaft auseinanderbrechen lässt. So war das in den 1980er Jahren in Großbritannien, als Thatcher ihr Land auf Neoliberalismus trimmte und im Londoner Stadtteil Brixton die Autos brannten. Als das Jahrzehnt vorüber war, hatten viele Briten das Gefühl, als lebten sie in einem anderen Land. Vergleichbares sagte in Deutschland kaum jemand. Wo in Großbritannien die Konflikte eskalierten, regierte in der alten Bundesrepublik der Ausgleich. Auseinandersetzungen mit den Gewerkschaften gerieten nie zu Kulturkämpfen. Wirtschaftliche Krisenregionen wie das Ruhrgebiet und das Saarland wurden mit Subventionen und aufwendigen Strukturprogrammen aufgefangen. Die vollmundig proklamierte »geistigmoralische Wende« entpuppte sich bald als hohle Phrase. Die Erregung, die Kohls programmatische Formel zunächst auslöste, kann man im 21. Jahrhundert nur noch mit Mühe nachvollziehen.

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INDES, 2014–1, S. 18–26, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X

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Frank Uekötter  — Die komfortabelste Risikogesellschaft aller Zeiten

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Wenn man von der Britischen Insel auf die Bundesrepublik schaut, dann wirken die 1980er Jahre wie ein umfassend abgedämpftes Jahrzehnt. Selbst den Verlierern ging es vergleichsweise gut: Ältere Arbeitnehmer, die in die Dauerarbeitslosigkeit abrutschten, konnten auf eine Frühverrentung hoffen. Während Thatcher einen erbitterten Konflikt mit der Bergarbeitergewerkschaft durchstand – laut jüngst freigegebenen Akten ließ sie sogar Pläne für einen Militäreinsatz zur Sicherung der Kohleversorgung erarbeiten –, genossen die Kumpel im Ruhrgebiet politischen Artenschutz. Die beginnende kulturelle Hegemonie des Neoliberalismus begegnete dem Bundesbürger damals vor allem im Auslandsteil der Zeitung. Daheim standen die Christdemokraten fest zur sozialen Marktwirtschaft. Das Paradoxe ist jedoch, dass all dies nicht in einer Stimmung resultierte, die von Ruhe und Zufriedenheit gekündet hätte. Ganz im Gegenteil: Vielleicht nie zuvor in der bundesdeutschen Geschichte haben so viele Menschen aus so zahlreichen Gründen so viel Angst gehabt. Wohin man auch schaute, drohte in den 1980er Jahren der Untergang, wahlweise verursacht durch Atomraketen, sterbende Wälder, explodierende Reaktoren oder vergiftete Nahrungsmittel. Die soziologische Theorie der »Risikogesellschaft«, von Ulrich Beck im Tschernobyl-Jahr 1986 veröffentlicht, traf die Zeitstimmung ziemlich gut. Und wem derlei zu links vorkam, der hatte halt Angst vor den Ausländern. In jener Dekade entstand das Klima, in dem nach der Wiedervereinigung die »Asylantenhetze« eskalierte. Der Kontrast zwischen materiellen Segnungen und mentalen Phobien hat schon die Zeitgenossen irritiert. Einmal mehr feierte die Völkerpsychologie fröhliche Urstände: Bücher über »deutsche Ängste« spürten den Bruchlinien der germanischen Seele nach, und manche ausländischen Beobachter räsonierten darüber, was sich denn da nun wieder im potenziell immer noch fruchtbaren Schoß zusammenbraute. Erst mit der Distanz eines Vierteljahrhunderts wird langsam klarer, dass man seinerzeit ganz einfach eine Krisenerfahrung zu bewältigen suchte. Und da beschritt Deutschland, gerade im Vergleich mit anderen westlichen Ländern, gar nicht einmal den schlechtesten Weg. Die Zufälligkeit der runden Jahreszahlen bietet im Falle der bundesdeutschen 1980er Jahre einen ziemlich guten Rahmen. Am Ende steht die Wiedervereinigung, die als Zäsur keiner weiteren Erläuterung bedarf. Der Anfang ist in der bundesdeutschen Erinnerungsgemeinschaft weniger scharf markiert. Der zweite Ölpreisschock 1979/80 hat im kollektiven Gedächtnis weniger Spuren hinterlassen als die Krise von 1973, bei der man unwillkürlich an die leeren Autobahnen und die Grenzen des Wachstums des Club of

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Rome denkt. Dabei war die zweite Krise gerade in politischer Beziehung weitaus folgenreicher. Eine schwere Wirtschaftskrise erschütterte alle westlichen Industrienationen und provozierte heftige Reaktionen. Innerhalb weniger Jahren wurden die Koordinaten der politischen Landkarte neu definiert. Das Großbritannien der Thatcher-Jahre war in dieser Hinsicht durchaus typisch. Auch in den USA regierte mit Reagan fortan der Neoliberalismus. In Frankreich setzte Präsident Mitterrand auf eine späte Form des Staatssozialismus, bis ihn die wirtschaftliche Stagnation – hallo, Monsieur Hollande, bitte herhören – zur Kehrtwende und Flucht in die Europäisierung zwang. Das Rätsel der seltsam mutlosen Wende in der Bundesrepublik wird für die Zeitgeschichtsschreibung noch einigen Diskussionsstoff bieten: Lag es an der Lustlosigkeit des Kanzlers, dessen mentale Disposition Hans-Peter Schwarz jüngst in die schöne Formulierung fasste: »Sozialpolitisches Tiefpflügen war nie sein Fall«?1 Oder fehlte seiner Regierung, die mit allerlei Skandalen und Hickhack startete, das politische Kapital für große Richtungswechsel? Oder hatte seine Amtszeit ihre eigene Gnade der späten Geburt, indem Kohl später begann als Thatcher und Reagan und seine erste Wiederwahl 1987 vom Verfall des Ölpreises beflügelt wurde, der faktisch ein gigantisches Konjunkturprogramm frei Haus bedeutete? Anders als später die Regierung Schröder kam Kohl nie in eine fiskalische Zwangslage, die den Impuls für eine rigide Reformpolitik hätte liefern können. Erst die Wiedervereinigung katapultierte Kohls Amtszeit in eine neue Umlaufbahn. So fehlte es dem sozioökonomischen Strukturbruch, der sich in den 1970er und 1980er Jahren vollzog, an einem Diskursprojekt. Langsam schlidderte die Bundesrepublik in eine Welt »nach dem Boom«, aber es fehlte an einem entsprechenden politischen Unternehmen, an dem man sich politisch wie intellektuell hätte abarbeiten können.2 Während sich in Wirtschaft und Gesellschaft tektonische Verschiebungen abzeichneten, blieb Deutschland in politischer Hinsicht ein behäbiges Volk der Mitte. Man kann die Heftigkeit, mit der die Bundesrepublik sich ökologischen Gedanken verschrieb, vor diesem Hintergrund als eine Art Ausweichbewegung verstehen: ein Ventil für Ängste und Phobien, die sich an ihrem Ursprungs1 

Hans-Peter Schwarz, Helmuth Kohl. Eine politische Biographie, München 2012, S. 328. 2  Anselm Doering-Manteuffel u. Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008.

ort, in Wirtschaft und Gesellschaft, nicht so recht ausleben ließen. Wie sollte man über soziale Gerechtigkeit streiten, wenn zugleich Menschen mit 58 in Frührente geschickt wurden? Und irgendwie wirkte es ja auch tröstlich zu erkennen, dass sich hinter dem so ungemein folgenreichen Ende der Industriegesellschaft eine noch bedrohlichere ökologische Krise verbarg. Zudem zeigte sich, dass das Umweltthema, zuvor auf der politischen Agenda eher zweit- oder drittrangig, als politischer Spielball erstaunlich viel zu bieten hatte. Frank Uekötter  — Die komfortabelste Risikogesellschaft aller Zeiten

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Beim Friedensprotest gegen die NATO-Nachrüstung, mit dem die Protestgeschichte der 1980er Jahre begann, war Deutschland noch Teil eines allgemeinen westeuropäischen Trends. Mit dem Waldsterben begab sich die Bundesrepublik jedoch auf ihren eigenen grünen Sonderweg: Kein anderes Land des Westens erlebte in den frühen achtziger Jahren einen Boom der Umweltdebatte. Während ökologische Parteien in anderen Ländern schwach blieben und oft etwas sektenhafte Züge trugen, avancierten die bundesdeutschen Grünen zur ersten erfolgreichen Parteiengründung seit den 1950er Jahren. Und es waren ja nicht nur langhaarige Pulloverträger, die sich nun um den blauen Planeten sorgten. Die Kohl’sche Regierung ergrünte im Laufe der 1980er Jahre in einer Weise, die zu Beginn des Jahrzehnts kaum ein Beobachter vermutet hätte. Man hätte sich ein schlechteres Ventil denken können. Tatsächlich gab es in der Umweltpolitik eine Menge Probleme, für die sich um 1980 keine klare Lösung abzeichnete. Zwar hatte die Bundesrepublik schon seit den fünfziger Jahren eine Umweltpolitik der kleinen Schritte verfolgt, bei der Experten, Staatsbeamte und Industrielle sich ohne viel Getöse auf das Machbare verständigten. Aber diese »Umweltpolitik vor der Umweltpolitik« kam Ende der siebziger Jahre an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Man war mit den kostengünstigen Maßnahmen weitgehend durch, zumal in wirtschaftlichen Krisenjahren die Gesprächsbereitschaft der Industrie spürbar schrumpfte. Da kam die grüne Euphorie just zum rechten Moment. Zahlreiche Umweltprobleme waren technisch leicht zu bekämpfen, nur fehlte der erforderliche politische Wille. Deutsche Kraftfahrzeuge hatten noch keinen Katalysator, sofern sie nicht für den Export nach Amerika nachgerüstet wurden. Kohlekraftwerke wurden noch ohne Rauchgasentschwefelung gebaut, sogar dort, wo – wie im Kraftwerk Buschhaus bei Helmstedt – besonders schwefelhaltige Kohle verfeuert wurde. Beim Müll steuerte man nach Expertenmeinung auf einen eklatanten Notstand zu. Und die Störfälle der Chemiefabriken waren so zahlreich, dass sie es nur im Ausnahmefall in die Nachrichten schafften. Das machte es freilich nur noch attraktiver, ökologische Themen als Ventil für populäre Ängste zu nutzen. Man konnte tatsächlich etwas bewegen, sehr im Unterschied zur Krise des Sozialstaats und der heraufziehenden Konkurrenz asiatischer Volkswirtschaften, wo niemand eine wirklich gute Antwort hatte. Für einige Jahre wirkte die Umweltbewegung phänomenal erfolgreich: neue Gesetze und Verordnungen, neue Studiengänge und Forschungseinrichtungen, neue Ministerien und Behörden – für umweltbewegte Menschen waren es Jahre wie im Rausch. Am Ende scheiterte sogar das Wiederaufarbeitungsprojekt im

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oberpfälzischen Wackersdorf, das Franz-Josef Strauß wie den Beton gewordenen Kategorischen Imperativ des Atomstaats verfochten hatte. Die Umweltproblematik passte auch gut zur Gemütslage im linksalternativen Milieu, das sich nach den siebziger Jahren zutiefst nach einem populären Thema sehnte. Bei aller Breitenwirkung ökologischer Gedanken ist schließlich kaum zu übersehen, dass die leidenschaftlichsten Umweltschützer, ob im Parlament oder auf den Schornsteinen, stets aus dem linken Teil des politischen Spektrums stammten. Erhellend ist in dieser Hinsicht die Entwicklung der Partei Die Grünen, die nach einer kurzen Zeit ostentativer Überparteilichkeit (»Nicht rechts, nicht links, sondern vorn«) ihren konservativen Flügel verlor und zu einem Sammelbecken des linksalternativen Spektrums wurde. Das erforderte mancherlei ideologische Umbauarbeit, die von Verfechtern der reinen Lehre leicht als Vulgärmarxismus zu entlarven war. Aber war die Ausbeutung der Natur nicht doch so etwas Ähnliches wie die Ausbeutung der Arbeiter? Gab es nicht auch eine ökologische »Entfremdung«? Und wirkte der Schulterschluss von Staat und Wirtschaft bei der Atomkraft nicht wie eine schulmäßige Verkörperung des staatsmonopolistischen Kapitalismus? Nach den Enttäuschungen der siebziger Jahre waren viele Linke dankbar, wenn sie im Tausch für etwas ideologische Flexibilität ein wahrhaft populäres Anliegen bekamen. Wie gut die Übertragung funktionierte, kann man daran erkennen, dass das Umweltbewusstsein der 1980er Jahre die soziale Dimension der ökologischen Herausforderung weitgehend ignorierte. Auch in dieser Beziehung war Ulrich Becks »Risikogesellschaft« ein getreuliches Stimmungsbarometer: »Not ist hierarchisch, Smog ist demokratisch«, schrieb Beck.3 Andere Länder waren zu dieser Zeit schon weiter. In den USA entstand seinerzeit die Environmental Justice-Bewegung, die sich dem Kampf gegen soziale und ethnische Ungleichheiten bei ökologischen Belastungen verschrieb. Im Globalen Süden hat man ein von allen Kontexten befreites ökologisches Bewusstsein ohnehin nie so recht nachvollziehen können. Niemand kann behaupten, dass es in Deutschland an einschlägigen Anstößen gefehlt habe. Einer der wichtigsten Bestseller des Jahrzehnts, Günter Wallraffs »Ganz Unten«, führte eindringlich vor Augen, dass sich die Diskriminierung türkischstämmiger Arbeiter auch in einer exzessiven Umweltbelastung dokumentierte. Nur wollte der ökologisch bewegte Mensch eben mehr oder weniger bewusst vor sozialen Fragen fliehen. Und so war es ja 3  Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt 1986, S. 48.

auch bequemer. Umweltbewusstsein war in den 1980er Jahren auch ein Weg, soziale Hierarchien zu zementieren und sich trotzdem als kritischer, engagierter Mensch zu fühlen. Frank Uekötter  — Die komfortabelste Risikogesellschaft aller Zeiten

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Die ökologische Stimmung wäre jedoch möglicherweise ohne große Folgen geblieben, wenn es in den 1980er Jahren nicht eine bemerkenswerte Generation fähiger Politiker gegeben hätte, die mit Tatkraft und Augenmaß grüne Reformen realisierten. Die Bedeutung dieser Funktionseliten, die als policy broker Problembewusstsein in politische Erfolge verwandelten, gehört zu den stillen Geheimnissen der bundesdeutschen Umweltgeschichte: Der Mythos des Bürgerprotests lässt wenig Raum für praktizierende Machiavellisten. Dabei ist bei Lichte betrachtet unübersehbar, dass die deutsche Umweltpolitik ungemein von klugen Technikern der Macht profitierte, die durch eine erfolgreiche Umweltpolitik zugleich die eigenen Karrieren beflügelten. Joschka Fischer, Jo Leinen, Klaus Matthiesen, Monika Griefahn, Fritz Vahrenholt und Klaus Töpfer sind einige der bekanntesten Personen. Man muss nur einmal die Galerie der deutschen Umweltminister durchgehen, um den Wert des Amtes als Karrieresprungbrett zu erahnen. Das begann schon in den siebziger Jahren: Der erste Landesumweltminister war der spätere bayerische Ministerpräsident Max Streibl, dem seinerzeit ein emsiger persönlicher Referent namens Edmund Stoiber zuarbeitete. Der erste bundesdeutsche Umweltminister Walter Wallmann wurde hessischer Ministerpräsident, Klaus Töpfer Chef des United Nations Environment Programme, Angela Merkel wurde Bundeskanzlerin, Jürgen Trittin Fraktionsvorsitzender und Spitzenkandidat der Grünen, Sigmar Gabriel SPD-Chef und Vizekanzler. Erst mit Norbert Röttgen gab es einen Amtsinhaber, für den im Umweltministerium tatsächlich karrieremäßig Endstation war. Es war freilich nicht nur die Politik, die in den 1980er Jahren ökologisch in Bewegung kam. Seit der Lebensreformbewegung der Jahrhundertwende hatte Natur nicht mehr eine solche Ausstrahlung besessen, und so sah man die Folgen der grünen Euphorie in zahlreichen Bereichen des Lebens: von persönlichen Briefen, die man am liebsten auf »Umweltschutzpapier« schrieb, bis zum täglichen Brot aus Vollkorn. Experimentierfreudige Konsumenten entdeckten den Biolandbau, während sich der Ottonormalverbraucher vor dem nächsten Nahrungsmittelskandal fürchtete. Die Erregung über gepanschten Wein aus Österreich, der mit dem Frostschutzmittel Diethylenglykol gesüßt worden war, füllte 1985 ein ganzes Sommerloch. Anders als bei der Lebensreformbewegung, die viel von einem lustvollen Aufbruch besaß, fällt in jenem Jahrzehnt ein starkes Element der Angst ins Auge: vor skrupellosen Geschäftemachern, vor lethargischen Behörden und ganz allgemein vor »Chemie«. Die grünen 1980er Jahre zahlten sich für die Bundesrepublik auch international aus, als sich am Ende des Kalten Krieges ein kurzer Boom der internationalen Umweltdiplomatie entwickelte. Auf dem Erdgipfel von Rio de

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Janeiro 1992 gehörte die Bundesrepublik zu den umjubelten Vorreitern, und inzwischen lässt sich durchaus so etwas wie ein grüner Nationalstolz erkennen. Und warum auch nicht? Es ist gewiss nicht die übelste Legitimation, die Deutschland in seiner jüngeren Geschichte für patriotische Anwandlungen gefunden hat. Es ist wenig verwunderlich, dass die grüne Euphorie Gegenreaktionen provozierte. Die offenkundige Lust an der Apokalypse, die diffusen Existenzängste der Wohlstandsbürger, die moralisch-politische Aufladung von Alltagsthemen von der Mülltrennung bis zur Plastiktüte – an intellektuellem Futter für Kabarettisten und Renegaten hat es der Umweltbewegung fürwahr nicht gefehlt. Die bundesdeutsche Gesellschaft der 1980er Jahre wirkt im Rückblick wie eine Risikogesellschaft de luxe: Wenn man von den Steueroasen absieht, dann gab es in jener Dekade nicht viele Länder auf der Welt, in denen sich die Bewohner so wenig bedroht fühlen mussten wie in der Bundesrepublik. Immerhin haben bislang keine Partei und kein Verband von Gewicht versucht, aus dieser Einsicht politisches Kapital zu schlagen. Für weltanschauliche Glaubensfragen arbeitete man sich lieber an 1968 ab als an den 1980er Jahren. So entstand in diesem Jahrzehnt ein ökologischer Grundkonsens, der inzwischen ein gutes Vierteljahrhundert stabil geblieben ist. Die Nonchalance, mit der sich derzeit die britische Regierung von allen ökologischen Obligationen zu lösen scheint, wäre in Deutschland jedenfalls undenkbar. Deshalb könnte man geneigt sein, bei allen Überzeichnungen und Verzerrungen doch eine gewisse Milde walten zu lassen. Auch hinter schrillen Tönen war doch stets ein legitimes Anliegen zu erkennen: Es gab eigentlich kein einziges populäres Umweltproblem, bei dem sich die Erregung retrospektiv als bloße Hysterie abkanzeln ließe. Der Wald war ja tatsächlich durch Säureregen bedroht, Chemieunfälle waren real, und auch der atomare Super-GAU blieb bekanntlich keine Fiktion. Wenn man sieht, wie ökologische Themen andernorts zum Rohmaterial für neoliberale Weltanschauungskonflikte wurden, besitzt das grüne Deutschland eine wohltuende Sachlichkeit. Die Kosten der grünen Euphorie machen sich bislang eher unterschwellig bemerkbar. So steckt die Diskussion über die Gentechnik immer noch in den Stereotypen der 1980er Jahre fest, als sie das Etikett »Risikotechnologie« verpasst bekam. Öffentliche Debatten über forstwirtschaftliche Themen kranken noch immer am Klischee des durch Säureregen dahinsiechenden 4  Zu den Anachronismen im bundesdeutschen Umweltdiskurs ausführlich Frank Uekötter, Am Ende der Gewissheiten. Die ökologische Frage im 21. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2011.

Waldes. Die soziale Blindheit unseres ökologischen Bewusstseins entpuppt sich mehr und mehr als Achillesferse der deutschen Umweltbewegungen im 21. Jahrhundert. Die jüngst aufkeimende Strompreisdebatte, die die deutsche Umweltszene kalt erwischt hat, ist da ein eindrückliches Memento.4 Frank Uekötter  — Die komfortabelste Risikogesellschaft aller Zeiten

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Man kann all dies freilich kaum erörtern, ohne mit Blick auf die vergangenen Jahre ein merkwürdiges Déjà-vu-Gefühl zu hegen. Wiederholt sich diese Geschichte vielleicht gerade? Die Proteste der jüngsten Vergangenheit, von Stuttgart 21 bis zu den Querelen über Windkraftanlagen und Stromtrassen, haben zweifellos einen Hauch von Eskapismus. Das Erregungspotenzial eines unterirdischen Bahnhofs dürfte jedenfalls in den Ländern, die seit Jahren unter den Folgen einer oktroyierten Austeritätspolitik ächzen, nicht leicht zu vermitteln sein. Nur gibt es heute nicht mehr jene einfachen Lösungen, die in den 1980er Jahren für ökologische Herausforderungen noch verfügbar waren. Eine Perspektive, wie sich aus solchen Protesten eine konstruktive Weiterentwicklung des politischen Gemeinwesens à la »grüne Achtziger« ergeben könnte, ist noch nicht einmal in Umrissen erkennbar. Bislang scheint den Machern der Energiewende nicht mehr einzufallen als eine diffuse Hoffnung, dass sich die Gemüter irgendwie beruhigen mögen. Für die 1980er Jahre hat es sich unter dem Strich wohl gelohnt, dass so viele Bürger ihre Suche nach Sicherheit von Wirtschaft und Gesellschaft ins Ökologische verlagerten. Aber so viel Glück kann man halt nicht immer haben.

PD Dr. Frank Uekötter war Mitbegründer des Rachel Carson Centers für Umwelt und Gesellschaft in München und lehrt seit September 2013 geisteswissenschaftliche Umweltforschung an der University of Birmingham. Sein Buch »Am Ende der Gewissheiten. Die ökologische Frage im 21. Jahrhundert« erschien 2011 im Campus-Verlag.

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IDENTITÄT UND ORIENTIERUNG GESCHICHTSDEBATTEN IN DEN 1980ER JAHREN ΞΞ Etta Grotrian

In der Bundesrepublik der 1980er Jahre gingen eine wachsende Verunsicherung im Hinblick auf die Zukunft und ein gebrochener Fortschrittsoptimismus Hand in Hand mit einem stark wachsenden Interesse an Geschichte, für das es eine Reihe von Gründen gab und das verschiedene Ausprägungen hatte. Die Bewertungen dessen, was Geschichte an Orientierungsmöglichkeiten oder Sinnstiftung bieten könne, waren unterschiedlich und geben Aufschluss über die jeweils dahinterstehenden Bedürfnisse. Allerdings hatten die Geschichtswissenschaften und die Historikerinnen und Historiker daran in der Masse gar keinen so großen Anteil. Dennoch hat diese Entwicklung auch ihre Tätigkeit und den Blick auf ihr Fach langfristig geprägt. Die Popularität von Geschichtsthemen schlug sich auf dem Buchmarkt nieder und große Sonderausstellungen zu historischen Themen fanden seit Ende der 1970er Jahre ein Publikum. Auch Politiker interessierten sich mehr und mehr für die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Geschichte. Schon 1973 etwa hatte Bundespräsident Gustav Heinemann den Schülerwettbewerb zur deutschen Geschichte initiiert, um der Bedeutung von demokratischen Traditionen und Freiheitsbewegungen mehr Raum im Geschichtsbild der Bun1  Vgl. Sven Tetzlaff, Der Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten. Ein Projekt im Spannungsfeld von Politik, Öffentlichkeit und Schule, in: Wolfgang Hardtwig u. Alexander Schug (Hg.), History Sells! Angewandte Geschichte als Wissenschaft und Markt, Stuttgart 2009, S. 265–273. 2  Vgl. Detlef Siegfried, Die Rückkehr des Subjekts. Gesellschaftlicher Wandel und neue Geschichtsbewegung um 1980, in: Olaf Hartung u. Katja Köhr (Hg.), Geschichte und Geschichtsvermittlung. Festschrift für Karl Heinrich Pohl, Bielefeld 2008, S. 125–146, hier S. 127 ff.

desrepublik zu geben.1 Dieser Wettbewerb sollte zu einer projektorientierten Geschichtsforschung in Schulen anregen und wurde auch nach Heinemanns Amtszeit bis heute weitergeführt. In den späten 1970er Jahren gaben die ausgeschriebenen Themen des Geschichtswettbewerbs mehrfach eine alltagsgeschichtliche Perspektive vor und reagierten damit auch auf einen gesellschaftlichen und historiographischen Trend.2 In den 1980ern war das Leitthema mehrerer Ausschreibungen die Alltagsgeschichte des Nationalsozialismus. Die Beteiligung von Schülergruppen nahm damit sprunghaft zu, die dazugehörigen Handreichungen für das »forschende Lernen« schlugen Methoden vor, wie man im näheren und persönlichen Umfeld Geschichtsforschung betreiben kann: auf dem Dachboden, in Archiven oder in Interviews mit Zeitzeugen. Mittlerweile waren in der Bundesrepublik Generationen herangewachsen, für die das nationalsozialistische Deutschland keine biografische Erfahrung

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mehr war. Diese zeitliche Distanz führte auch zu einer größeren Unbefangenheit in der Auseinandersetzung.3 Mit der Ausstrahlung des US-amerikanischen Spielfilm-Mehrteilers »Holocaust« im Januar 1979 konnte eine große Zahl bundesdeutscher Fernsehzuschauer sich mit der Perspektive der Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung auseinandersetzen – erzählt als Geschichte der fiktiven Familie Weiß, verkörpert durch amerikanische Schauspieler. Begleitet wurde die westdeutsche Ausstrahlung von Diskussionssendungen und Material der Bundeszentrale für politische Bildung. Der Film brachte hohe Einschaltquoten und hatte vermutlich einen größeren Einfluss auf Werturteile und Geschichtsdeutungen innerhalb der Bevölkerung als Abhandlungen von Historikern.4 Auch das Selbstverständnis der Bundesrepublik im Hinblick auf ihre Geschichte und Gegenwart befand sich im Wandel. Die deutsche Teilung als eine direkte Folge des Zweiten Weltkriegs hatte für die jüngeren Generationen eine andere Bedeutung als noch für die Generationen davor. In der BRD sollte seit ihrer Gründung die deutsche Frage offengehalten werden. Häufig war damit eine politische Gratwanderung verbunden: Für die Erleichterung der Lebensbedingungen in Bezug auf die deutsche Teilung und die Verbesserung der deutsch-deutschen Beziehungen musste der Preis einer zunehmenden Anerkennung der Deutschen Demokratischen Republik als gleichberechtigtem Verhandlungspartner gezahlt werden. Gleichzeitig konnte man politisch den Anspruch nicht aufgeben, dass die deutsche Vereinigung eine Prämisse des staatlichen Handelns der Bundesrepublik war. Mit der Verschärfung der Frontstellung der Großmächte in Ost und West im Kalten Krieg, wie sie die 1980er Jahre mit Aufrüstung und nuklearer Abschreckung prägte, wurde dieser Anspruch aber immer unrealistischer. Man richtete sich in der deutschen Teilung ein und strebte eine Normalisierung der Beziehungen an. Der »Abschied vom Provisorium«, wie es der Historiker Andreas Wirsching in seiner Darstellung der 1980er Jahre nannte, bezeichnete nicht etwa die Perspektive auf die deutsche Vereinigung, die am Ende des Jahrzehnts vollzogen

3  Vgl. Etienne François, L’Allemagne Fédérale se penche sur son passé, in: Vingtième Siècle H. 7/1985, S. 151–163. 4  Vgl. Christoph Classen (Hg.), Zeitgeschichte-online, Thema: Die Fernsehserie »Holocaust« – Rückblicke auf eine »betroffene Nation«, März 2004, online einsehbar unter http://www. zeitgeschichte-online.de/themen/ die-fernsehserie-holocaust [eingesehen am 15. 12. 2013].

wurde.5 Diese stand in den 1980er Jahren deutschlandpolitisch nicht unbedingt auf der Agenda. Gemeint war damit vielmehr, dass der westdeutsche Teilstaat Normalität wurde. Die Suche nach einer auch historisch begründbaren Identität macht die 1980er Jahre zu einem Jahrzehnt, in dem – auch durch Krisenempfinden und Fortschrittsskepsis – Identität in jeder Beziehung zum Schlüsselbegriff wurde.6 Als Bundeskanzler Helmut Kohl in seiner Regierungserklärung vom Oktober 1982 die Gründung einer Sammlung zur Geschichte der Bundesrepublik ankündigte (das spätere Haus der Geschichte) und wenig später noch ein

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5  Vgl. Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982–1990 (Geschichte der Bundesrepublik, Bd. 6), München 2006, S. 11. 6  Vgl. Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006, S. 391.

Museum in Berlin versprach, das die restliche deutsche Geschichte erzählen sollte (das spätere Deutsche Historische Museum), war auch das Ausdruck dieser Normalisierungsbemühung. Die Nation brauchte ihr nationalhistorisches Museum – in Ost-Berlin gab es ein solches längst. Als Vorgeschichte hatte 1981 die große historische Ausstellung »Preußen – Versuch einer Bilanz« nur einen der Höhepunkte in dem Wettstreit zwischen Ost und West um die Inanspruchnahme der preußischen Geschichte für die eigene Tradition markiert. Allerdings fanden sich zahlreiche Kritiker, die eine Regierungsinitiative für eine Museumsgründung für unangemessen hielten. Von verschiedenen Seiten wurde die Befürchtung geäußert, dass die deutsche Geschichte im Museum in Größe und Vollkommenheit präsentiert werden und damit einer kritischen Haltung zur eigenen nationalen Tradition durch eine staatliche Initiative begegnet werden solle.7 Zu dieser Kritik kam ein anderer – weniger bekannter – Aspekt, der aber für die Wirkungen, die die 1980er Jahre auf die Entwicklung populärer Geschichtsdarstellung hatten, nicht unwichtig ist: Die Darstellung von Geschichte in einem Museum und die Bewertung von Exponaten als Geschichtsquellen hatte eine so lange Tradition nicht und war durchaus umstritten. Auch zahlreiche Historiker beteiligten sich am Streit um die Museumsgründungsinitiative der Bundesregierung und an Überlegungen, wie Quellen, die gemeinhin der Historiker interpretiert, im Museum zum Sprechen gebracht werden können. Anders als Kunstwerke erbauen historische Quellen nicht unbedingt durch reine Betrachtung, sie bedürfen zu ihrer Interpretation der Quellenkritik – unabhängig von der Tatsache, dass auch Kunstwerke in einer kontextualisierenden Präsentation z. B. als Geschichtsquelle dargeboten werden können. Die Diskussion über die angemessene Darstellung von Geschichte im Museum hatte bereits in den 1970ern begonnen und den mitdebattierenden Historikern ein Feld erschlossen, über ihr Fach und dessen öffentliche Vermittlung nachzudenken: Als zwei sehr gegensätzliche Pole galten die neu 7  Die gesamte Debatte ist dokumentiert in ­Christoph Stölzl (Hg.), Deutsches Historisches Museum. Ideen – Kontroversen – Perspektiven, Frankfurt a. M./Berlin 1988. 8  Vgl. Ellen Spickernagel u. Brigitte Walbe (Hg.), Das Museum. Lernort contra Musentempel, Gießen 1976.

konzipierte Ausstellung des Historischen Museums Frankfurt und das Römisch-Germanische Museum in Köln. Ersterem wurde vorgeworfen, eine politisch indoktrinierende textlastige Geschichtserzählung durch Abbildungen und Quellen lediglich zu illustrieren, letzteres – so Kritiker – zeige die Exponate dagegen in einer an die Ästhetik von Warenpräsentation erinnernden Schau und historisiere sie damit nicht hinreichend.8 Anlässlich der großen historischen Sonderausstellungen seit den späten 1970er Jahren über Staufer, Wittelsbacher oder Preußen setzten diese Diskussionen immer wieder ein. Etta Grotrian  — Identität und Orientierung

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In dem Bemühen, Nationalgeschichte in einem großen staatlich finanzierten Museum darzustellen, kehrte diese Debatte unter veränderten Vorzeichen wieder: Auf welche Weise kann ausgerechnet die deutsche Geschichte inklusive aller ihrer Tiefpunkte adäquat im Museum gezeigt werden? Auch diese Frage nach der angemessenen Darstellung von Geschichte im gewissermaßen neu entdeckten – alten – Medium prägte die 1980er Jahre und bot ein Betätigungsfeld für Historiker ebenso wie für andere Geschichtsinteressierte. Die Ideen zur Museumsgründung in Berlin aber riefen vor allem Kritiker auf den Plan, die die Museumsinitiative aus anderen Gründen für gefährlich hielten. Zu diesen Kritikern gehörte z. B. der Historiker Hans Mommsen, der den Museumsplanern und ihrer nationalhistorischen Zentrierung einen implizit gesamtdeutschen Anspruch vorwarf. Andere sahen in der Planung den Ausdruck einer größeren geschichtspolitischen Tendenz, die jüngste Geschichte insoweit umzudeuten, dass ein ungebrochenes Verhältnis zur Geschichte die eigene Identität als Nation stärken, die Verbrechen in der deutschen Geschichte marginalisieren und die noch junge kritische Auseinandersetzung mit diesen zurückdrängen sollte. Bürgerinitiativen, Parteien und Kulturpolitiker, aber auch Historiker, Geschichtsdidaktiker und Museumspädagogen beteiligten sich an dieser Diskussion, die 1986, als das vorläufige Konzept für das Museum von einer Sachverständigenkommission aus Historikern und Museumsfachleuten vorgelegt wurde, einen ihrer Höhepunkte erreichte. Vor diesem Hintergrund löste Jürgen Habermas 1986 eine Debatte aus, die als »Historikerstreit« in Erinnerung geblieben ist. Folglich handelte es sich um eine Debatte, die ein Nicht-Historiker ausgelöst hatte. Habermas tat dies auch ganz bewusst als Nicht-Historiker, denn es ging ihm um den Einfluss, den einzelne Historiker seiner Meinung nach auf die populäre Geschichtsdarstellung und ihre Indienstnahme für eine nationalgeschichtliche Identitätsstiftung nahmen. Einigen von ihnen warf er eine revisionistische Umdeutung u. a. der nationalsozialistischen Verbrechen vor und trug verschiedene Einzelbeispiele aus Äußerungen der Historiker Ernst Nolte, Michael Stürmer und Andreas Hillgruber zusammen. Und im Kontext dieser Tendenzen hielt er auch die Museumsgründungen der Bundesregierung für bedenklich. Habermas sah in dieser Entwicklung die Abkehr von einem Konsens, auf den er selbst größten Wert legte: Ein so vertretenes revisionistisches Geschichtsbild diene der Festigung konventioneller Identität. Damit meinte Habermas eine auf einhellig geteilten Traditionen gegründete und im Nationalbewusstsein fußende Identität, die einer kritischen und mehrdeutigen Aneignung von Geschichte im Wege stehe. Er setzte dem ein Konzept von

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postkonventioneller Identität entgegen: einen »Verfassungspatriotismus«, der in seinem Bekenntnis zu Verfassungswerten den nationalen Stolz überwinde und zu dem gerade die nationalsozialistische Vergangenheit eine nicht auszulöschende Chance biete. Für Habermas war dies die einzige Identität, die eine nach Kriegsende hergestellte Bindung Deutschlands an die Kultur des Westens garantiere.9 Wissenschaftlich war die Bedeutung des Historikerstreits eher marginal, neue Erkenntnisse zur nationalsozialistischen Geschichte und zur Geschichte des Holocaust wurden keine publiziert, in den Fachzeitschriften fand er wenig Niederschlag. Die Auseinandersetzung wurde vielmehr in den Feuilletons geführt, wo sich verschiedene Vertreter der bundesdeutschen Geschichtswissenschaften zu verschiedenen der angeschnittenen Themen und Behauptungen zu Wort meldeten. Dass in der Folge auch die Forschung zur Geschichte des nationalsozialistischen Judenmords einen Aufschwung erfuhr, ist eine der positiven Nebenwirkungen, die Ulrich Herbert dem Historikerstreit retrospektiv attestierte.10 Die Suche nach Identität und Orientierung, die das Jahrzehnt prägte, richtete ihren Blick aber nicht nur auf Geschichte in nationaler Größenordnung. Eine Vielzahl von Initiativen, die der Spiegel 1983 als »neue Geschichtsbewegung« bezeichnete, schaute ganz bewusst auf kleinräumige Zusammenhänge und auf andere Akteure als z. B. nationalgeschichtliche Helden. Die »Geschichte von unten«, der sich zahlreiche »Geschichtswerkstätten« in Städten, Stadtteilen und Regionen verpflichtet fühlten, die sich seit Ende der 1970er 9  Die umfangreichste Dokumentation der erschienen Artikel findet sich in: »Historikerstreit«. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München/Zürich 1987. 10 

Vgl. Ulrich Herbert, Der Historikerstreit. Politische, wissenschaftliche, biographische Aspekte, in: Ralph Jessen u. a. (Hg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945, München 2003, S. 94–113, hier S. 102–104 u. S. 109. 11  Vgl. Ulrich Beller, Bürgerprotest am Beispiel Wyhl und die Volkshochschule Wyhler Wald, in: Heiko Haumann (Hg.), Vom Hotzenwald bis Whyl. Demokratische Traditionen in Baden, Köln 1977, S. 269–290.

und vor allem in den 1980er Jahren gründeten, sollte auch ein Gegengewicht zur akademischen Geschichtswissenschaft schaffen und deren Deutungsmonopol in Frage stellen. Ihre Suche nach Identifikation und Handlungsperspektiven für die Gegenwart nahm den »kleinen Mann« in den Blick – eine Perspektive auf neue Helden, die auch für die neuen sozialen Bewegungen z. B. in ihrem Protest gegen den Bau von Kernkraftwerken oder die Stationierung von US-amerikanischen Waffen eine große Rolle spielte. Auch auf der Suche nach alternativen Lebensformen und Zukunftsmöglichkeiten entstand ein neues Interesse an Geschichte und an einer neu entdeckten »Heimat«. Die Volkshochschule Wyhler Wald, Mitte der 1970er Jahre gegründet, ist ein Beispiel für die Suche nach historischen Vorbildern für den regionalen Widerstand – hier gegen den geplanten Bau eines Kernkraftwerks. Im gemeinsamen Protest von Aktivisten aus der Stadt mit der Bevölkerung vor Ort entstand eine Bildungsinitiative »von unten«, um regionale Traditionen und Zukunftsperspektiven zu verbinden.11 In den 1980er Jahren wurde in zahlreichen Initiativen von akademisch ausgebildeten Historikern und Etta Grotrian  — Identität und Orientierung

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historisch interessierten Laien »Geschichtspraxis« als Suche nach Handlungsperspektiven weiter ausgebaut. Sie traten mit Ausstellungen, Stadtrundfahrten, Geschichtsspielen und »Geschichtsfesten« als alternative Tagungsmöglichkeit an die Öffentlichkeit. Der Museumsboom dieser Zeit verdankte sich insofern auch nicht nur den Gründungsinitiativen von Bundes- oder Landespolitikern. Bürgerinitiativen, die sich alternativen Geschichtsperspektiven widmeten, setzten sich für die Bewahrung von Hinterlassenschaften ein, die durch den Umbau der Industriegesellschaft zu verschwinden drohten. Ruinen frühindustrieller Produktionsstätten sollten erhalten werden und helfen, die Entwicklungsbedingungen der Industrialisierung zu verstehen. Branchen, die sich mit großen Veränderungen konfrontiert sahen, wie die Werftindustrie oder das Druckgewerbe, fügten für viele der direkt Betroffenen ihrem Verständnis von Geschichte einen neuen Aspekt hinzu: der Untergang eines Arbeitsplatzes, der Bedeutungsverlust von Gelerntem und Erfahrungswissen, das Ende von Arbeits- und Lebensweisen, die Menschen oder Generationen geprägt hatten, ging mit einem ganz persönlich erfahrenen Verlust von Traditionen einher. Initiativen aus den in dieser Branche Tätigen, Geschichtsexperten und -laien widmeten sich ihrer zumindest musealen Bewahrung (z. B. der Verein »Museum der Arbeit« in Hamburg). Hier gingen »neue« und »alte« soziale Bewegungen Bündnisse ein, die allerdings nicht immer konfliktfrei blieben. Welche Auswirkungen aber hatten diese Entwicklungen auf die Geschichtswissenschaften an den Universitäten und wie konnten diese möglicherweise von den Erfahrungen profitieren? In vielen Geschichtswerkstätten nahmen Historikerinnen und Historiker mit Erfahrung im Universitätsbetrieb eine wichtige Rolle ein oder ergriffen sogar die Initiative. In Konstanz z. B. war die Gründung des »Arbeitskreis Regionalgeschichte Konstanz« (seit 1988 »Arbeitskreis Regionalgeschichte Bodensee«) als Ergänzung zu einem zunächst an der Universität geförderten Sozialgeschichtsprojekt in der Region gedacht, um die Öffentlichkeit und insbesondere Lehrer in die Entwicklung einer alternativen Perspektive auf regionale Geschichte einzubeziehen, von der man sich eine emanzipatorische Wirkung versprach. Auch Studenten oder wissenschaftliche Mitarbeiterinnen wirkten zahlreich in den Initiativen für eine »Geschichte von unten«. Aber die Gründung von Geschichtsinitiativen ging oft auch von dem Vorwurf aus, dass die akademische Geschichte auf das gesteigerte Bedürfnis nach Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte zu wenig reagiere, dass ihre Texte für das breite Publikum nicht verständlich seien und ihre Geschichtsdeutung sich an dieses gar nicht richte.

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Auch eine reformunwillige akademische Struktur, mit ihren Hierarchien und Anerkennungsritualen, die zudem für die große Zahl der Studenten inzwischen viel zu wenig berufliche Perspektiven im Universitätsbetrieb und kaum Alternativen dazu lieferte, bot Anlass zur Kritik. Geschichtsinitiativen waren insofern auch eine Möglichkeit zur Selbstqualifizierung und Suche nach Alternativen zur Universitätskarriere.12 Die praktischen Erfahrungen mit neuen Formen der Geschichtsvermittlung und die Förderung durch Kulturverantwortliche vieler Städte halfen, neue Tätigkeitsbereiche zu erschließen. Und für viele boten die Initiativen auch den Einstieg in eine spätere wissenschaftliche Karriere – innerhalb und außerhalb der Universität. Das bundesweite Netzwerk der Initiativen, der 1983 gegründete Bundesverband »Geschichtswerkstatt e. V.«, hatte insofern von Anfang an mit einer heterogenen Interessenlage zu kämpfen. Während die einen den direkten Austausch mit der Bevölkerung und eine niedrigschwellige Geschichtspraxis als Ziele formulierten, dabei jeglicher »Professionalisierung« skeptisch gegenüberstanden, die den ursprünglichen Anspruch gefährden könne, nahmen die anderen die bundesweite Vernetzung zum Ausgangspunkt für die Gründung einer fachwissenschaftlich anerkannten Zeitschrift (WerkstattGeschichte) und beteiligten sich an der akademischen Auseinandersetzung über geschichtstheoretische Fragestellungen. Methodische Innovationen der Geschichtswissenschaften fanden dagegen in einem internationalen wissenschaftlichen Kontext statt und wurden von den bundesdeutschen Geschichtswissenschaften in den 1980er Jahren zumeist erst verspätet diskutiert und aufgenommen. Der Blick auf den Alltag und die methodischen Herausforderungen der Alltagsgeschichte fand zunehmend den Weg in die Fachzeitschriften, auch wurde einer erzählenden Geschichtsschreibung – neben der Analyse von Strukturen und der von Gesellschaftstheorien 12 

Vgl. Thomas Lindenberger, »Alltagsgeschichte« oder: Als um die zünftigen Grenzen der Geschichtswissenschaft noch gestritten wurde, in: Ralph Jessen u. a. (Hg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945, München 2003, S. 74–91, hier S. 87. 13  Vgl. Wolfgang Hardtwig, Alltagsgeschichte heute. Eine kritische Bilanz, in: Winfried Schulze (Hg.), Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie. Eine Diskussion, Göttingen 1994, S. 19–32.

geleiteten Forschung – ihr Recht auf Wissenschaftlichkeit wieder stärker eingeräumt. Mit der Methode der Oral History wurden Zeitzeugeninterviews und ihr Quellenwert kritisch reflektiert und für die Geschichtsforschung fruchtbar gemacht. Insgesamt konnten Mikroanalysen, die kleinere Zusammenhänge in den Blick nehmen, ihren methodischen Stellenwert neben der Überblicksund Makroperspektive auf große gesellschaftliche Formationen behaupten. Der 35. Historikertag 1984 in Berlin widmete sich schließlich in einer kontroversen und polemischen Diskussion diesen methodischen Herausforderungen. Auf sie wird 1992 anlässlich des Historikertags in Hannover rückblickend weitaus versöhnlicher Bezug genommen – die umstrittenen Innovationen wurden Schritt für Schritt als notwendiger und selbstverständlicher Erweiterungsprozess sozialhistorischer Perspektiven bewertet.13 Etta Grotrian  — Identität und Orientierung

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Die Mittel der akademischen Geschichtswissenschaften aber, auf das gesteigerte Geschichtsinteresse der 1980er Jahre zu reagieren, waren begrenzt. Ihr Publikum war immer hauptsächlich ein fachliches gewesen. Und bis heute tut sich das universitäre Fach schwer damit, die Anforderungen, die eine Geschichtsvermittlung an ein breites Publikum mit sich bringt, in das Fach zu integrieren oder sie dort zu reflektieren. Einerseits können Historikerinnen und Historiker das Bedürfnis nach Orientierung und Verortung beim Blick in die Geschichte nicht ignorieren, andererseits ist es von enormer Wichtigkeit, dass Historiker hier eine kritische Perspektive wahren und einfordern.14 Viele Initiativen zu Museumsgründungen, sowohl solche »von oben« als auch »von unten«, erforderten schließlich fachliche Expertise, die man sich zunächst aneignen musste. Insofern hat die Popularisierung von Geschichtsdeutung und das gesteigerte Interesse an einer solchen sicher auch zu einer Veränderung der Qualifikationen und Tätigkeiten von Historikerinnen und Historikern geführt. Der »Beruf des Historikers« als eines von der Universität bezahlten Forschers, der das Selbstverständnis der Profession bis heute prägt, hat sich seither verändert, die Zahl der außerhalb der Universität Beschäftigten nimmt seit den 1980er Jahren zu.15 Und schließlich: Geschichte hat seit den 1980er Jahren ganz verschiedene

14  Vgl. Wolfgang Hardtwig, Verlust der Geschichte. Oder wie unterhaltsam ist die Vergangenheit?, Berlin 2010, S. 48 f.

Wege in den Kulturbetrieb gefunden. Konnten sich bei der Diskussion um die Gründung eines Deutschen Historischen Museums viele Historiker und Kulturschaffende noch nicht vorstellen, dass auch Geschichtsdarstellung mehrdimensional, offen und dialogisch erfolgen kann, so sind hier inzwischen die Erfahrungen gewachsen und die Beispiele vielfältiger geworden.

Etta Grotrian, geb. 1971, ist Historikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Multimedia des Jüdischen Museums Berlin. Sie arbeitet an einer Dissertation zu Geschichtswerkstätten in den 1980er Jahren der Bundesrepublik.

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15  Vgl. Lutz Raphael, Der Beruf des Historikers seit 1945, in: Christoph Cornelißen (Hg.), Geschichtswissenschaften. Eine Einführung, Frankfurt a. M. 2000, S. 39–52, hier S. 41.

CASHMERE STATT CORD VON DER JUGENDLICHEN RADIKALDEMOKRATIE ZUM JUVENILEN NEULIBERALISMUS ΞΞ Franz Walter Die Sozialdemokraten hatten und haben ihre Jusos. CDU wie CSU vertrauten und vertrauen ihrer Jungen Union. Die FDP kooperierte mit den Jungdemokraten. Bis 1982. Seither nutzen die Freien Demokraten die Jungen Liberalen als Kaderschmiede für den Nachwuchs. Allein der parteipolitische Liberalismus also erlebte einen kompletten organisatorischen Austausch im Jugendbereich. Nur hier mündete der Wechsel des Koalitionspartners in zermürbende Auseinandersetzungen zwischen den Generationen. Zugleich aber reichte die Auseinandersetzung über den Konflikt zwischen Alt und Jung hinaus. Die Jugend im Liberalismus selbst zerfiel in zwei politische Lager. Besonders bei den Jüngeren im gymnasialen Alter hatte sich zum Ausgang der sozial-liberalen Koalition eine neue Kohorte mit veränderten Einstellungen innerhalb des gehobenen mittelschichtig-mittelständischen Deutschlands herauskristallisiert. Insofern vollzog sich in der FDP, früher als überall sonst in der politischen Arena, eine weitreichende kulturelle Transformation unter den jungen Bundesbürgern. Die Form der Jugendlichkeit, die seit »1968« mit rebellischen Attitüden, linker Gesinnung und oppositioneller Aggressivität identifiziert wurde, verlor – anfangs kaum beachtet – an Resonanz bei denen, die seit 1968 auf die Welt gekommen waren und die Jugend der 1980/90er Jahre bildeten.

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Dort konfigurierten sich andere, in vielerlei Hinsicht geradezu gegensätzliche Mentalitäten, Bedürfnisse und Präferenzen. Da sich solche kulturellen Verschiebungen in akademisch gebildeten Bürgertumsfamilien, durch die hier verbreitete Artikulationsfreudigkeit in Wort und Schrift und die Selbstzuschreibung als Leitsektor und Nukleus der Gesellschaft, am deutlichsten herausschälten und konturierten, bot der politische Liberalismus Anfang der 1980er Jahre eine Art Glacis für den gesellschaftlichen Zukunftstrend. Zeitgenössisch hatte man die Kontroverse im Jugendsektor der Freien Demokraten in der Regel vorwiegend auf klassische Links-Rechts-Streitigkeiten zurückgeführt, auf die oft beobachtete Ausgrenzung einer aufmüpfigen Parteijugend durch das autoritäre Parteiestablishment, das sich bei solchen Aktionen eben gerne karriereorientierter Jungopportunisten von Rechts bediente.1 Bei den Zeitgenossen des damaligen radikaldemokratischen Spektrums ist eine solche Interpretation bis heute geläufig. Aber damit ignorieren sie weiterhin, was sie schon damals nicht wahrhaben wollten: Dass ihre Version der »Fortschrittlichkeit« in jenen Jahren des Übergangs von Helmut Schmidt zu Helmut Kohl politisch und kulturell an Boden verlor, dass im Laufe der 1980er Jahre etwas anderes sich aufbaute, was den Wortführern der »Progressivität«, wie sie die 1960er Jahre hervorgebrachte hatte, kaum verständlich war. Insofern drückte sich im Jugendkonflikt der Freien Demokraten ein gutes Stück der noch eher subkutanen sozialen und geistigen Veränderungen in den frühen 1980er Jahren aus. Und man kann hier wieder einmal gut beobachten, dass die Anfänge des Wandels gesellschaftsgeschichtlich bereits einige Jahre früher ansetzten, dass aber die durchaus wirksame und folgenreiche Zäsur – die politische Anerkennung und finanzielle Protektion der Jungen Liberalen (JuLis) auf der einen, der Drift in die Bedeutungslosigkeit im Falle der Jungdemokraten (Judos) auf der anderen Seite – mit den Periodisierungspunkten der Politikgeschichte korrespondierte. Die koalitionspolitische Wende im Oktober 1982 fixierte final, was zuvor im jungen Liberalismus noch unentschieden im Fluss war. LEBENDIGSTE JUGEND DER REPUBLIK In der Tat ist bemerkenswert, wie sehr und früh sich im Nachwuchs des politischen Liberalismus neue Entwicklungszüge in Politik und Gesellschaft abzeichneten. Das mochte in den frühen 1960er Jahren auch damit zu erklären gewesen sein, dass die Jungdemokraten im Vergleich zur Jungen Union und den Jungsozialisten erheblich unabhängiger von der »Mutterpartei« agieren durften.2 Schließlich kannte der bürgerliche Liberalismus keine eisernen Organisationsverpflichtungen, die bei den unter Bismarck noch

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1  So etwa Günter ­Verheugen, Der Ausverkauf. Macht und Verfall der FDP, Reinbek bei Hamburg 1984, S. 81. 2  Hierzu auch Wolfgang R. Krabbe, Parteijugend in Deutschland, Wiesbaden 2002, S. 62 ff.; ders., Kritische Anhänger – Unbequeme Störer. Studien zur Politisierung deutscher Jugendlicher im 20. Jahrhundert, Berlin 2010, S. 164 ff.

obrigkeitsstaatlich drangsalierten katholischen und sozialistischen Formatio3  Paul Ackermann, Die Jugendorganisationen der politischen Parteien, in: Gerhard Lehmbruch u. a. (Hg.), Demokratisches System und politische Praxis der Bundesrepublik, München 1971, S. 298–515, hier S. 311. 4  O.V., Großer Bruch, in: Der Spiegel, 25. 08. 1969. 5  Zum LSD etwa Thilo von Uslar, Die FDP wird den Ärger mit den Studenten nicht los, in: Frankfurter Rundschau, 10. 03. 1966; Fritz Mörschbach, Kontroverse innerhalb des LSD, in: Frankfurter Rundschau, 15. 03. 1968; Anton-Andreas Guha, Liberale Studenten denken marxistisch, in: Frankfurter Rundschau, 08. 07. 1968. 6  Vgl. Rudolf Bischof, »Schlagt der FDP den Deutschlandplan um die Ohren«, in: Frankfurter Rundschau, 20. 06. 1963; Rolf Zundel, Die zornigen jungen Männer der FDP, in: Die Zeit, 21. 06. 1963. 7  Rudolf Bischof, »Schlagt der FDP den Deutschlandplan um die Ohren«, in: Frankfurter Rundschau, 20. 06. 1963. 8  Siehe Georg Wrobel, Die Liberalen und die Gewerkschaften, in: Frankfurter Rundschau, 04. 05. 1964. 9  Günter Gaus, Jungdemokraten träumen von Volkspartei, in: Süddeutsche Zeitung, 16. 12. 1961; Karl Ludwig Kelber, Jungdemokraten für Kontakte mit dem Osten, in: Süddeutsche Zeitung, 04. 05. 1964. 10 

Günter Zander, Sturmlauf gegen das »muffige Bürgerblockdenken«, in: Frankfurter Rundschau, 23. 02. 1965. 11 

Ulrich Planitz, Sie sind kein Vortrupp, in: Christ und Welt, 12. 03. 1965.

nen Usus waren. Man musste kein Mitglied der FDP sein, um bei den Jungdemokraten mitwirken zu können. Und mindestens ein Drittel der Mitglieder, wahrscheinlich mehr, war in den Jahrzehnten der Judo-Existenz nicht der FDP beigetreten. Gleichwohl galten die Jungdemokraten als Rekrutierungs-

stätte für spätere freidemokratische Führungspositionen.3 Mitte der 1950er Jahre etwa stand der spätere Bundesminister und langjährige Fraktionschef der FDP im Deutschen Bundestag, Wolfgang Mischnick, an der Spitze der Jugendverbandes, der zu dieser Zeit mehrheitlich nationalliberale Ziele verfolgte und der Partei wenig Ärger bereitete. Allein der Liberale Studentenbund ( LSD), der »Bund mit den Rauschgift-Initialen«4, zog von Beginn an eher linksliberal disponierte Jungakademiker an, begeisterte sich 1959 für die Godesberger Wende der Sozialdemokratie, verteidigte – was viele Altliberale durchaus empörte – den Lebensweg von Willy Brandt nach 1933; und man pflegte Kontakte zu Repräsentanten der LDPD in der DDR.5 Einiges davon schwappte von der Studentenvereinigung zu den Jungdemokraten über, die seit 1963 als eine geschlossene Richtung in der FDP auftraten, dabei unverkennbar in Opposition zum »Steinzeitliberalismus« der »Industrie- und Handelskammer«-Freidemokraten.6 Die Jungdemokraten rügten den geringen Elan und die konzeptionelle Phantasielosigkeit in der Wiedervereinigungspolitik. Sie kritisierten die Hallstein-Doktrin, plädierten für vermehrte Handelsbeziehungen und kulturellen Austausch mit den Staaten des »Ostblocks«.7 Gesellschaftspolitisch forderten sie mehr Engagement auf dem Gebiet der Sozialpolitik, mahnten ein neues, engeres Verhältnis zu den Industriegewerkschaften an.8 Das Projekt einer großen liberalen Volkspartei wärmte ihre Herzen.9 Wenig Hehl machten sie daraus, dass sie den bisherigen Parteichef Erich Mende loswerden wollten. Denn er war ihnen die Inkarnation der Ideologie von der »bürgerlichen Geschlossenheit« zwischen FDP und CDU/CSU. Sie hingegen strebten mit Nachdruck in Richtung einer

Allianz mit den Sozialdemokraten, auf die erste sozial-liberale Koalition in der Geschichte der Bundesrepublik zu. Während der Jahre 1963 bis 1967 waren die Jungdemokraten Lieblinge der linksliberalen Presse, welche dem FDPNachwuchs bescheinigte, »die zur Zeit aktivste und lebendigste Jugendorganisation der Bundesrepublik«10 zu sein. Die Berechtigung dieses Urteils war schwer zu bestreiten. Allein der Bundesvorstand der FDP gab sich muffelig und weigerte sich 1964/65 über zwölf Monate lang, mit der Verbandsleitung der Jungdemokraten auch nur ein einziges Gespräch zu führen.11 Trotzdem wurden die Jungdemokraten in den vier Jahren, die dann folgten, zum Ferment der Mutation der FDP von einem national-liberalen Franz Walter  —  Cashmere statt Cord

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Honoratiorenclub zu einer gemäßigten sozial-liberalen Partei, welche die Rochade von der Christlichen Union zur Sozialdemokratie im Herbst 1969 wagte. Zu den Vorsitzenden im Bund und im stärksten Landesverband der Jungdemokraten, in NRW, gehörten seinerzeit Gerhart R. Baum und Günter Verheugen. Unter ihrer Ägide avancierte die Parteijugend, wie Manfred Bissinger 1968 im Stern schrieb, zum »Machtfaktor innerhalb der Partei«12, da »die Garde der Rollkragenträger«13 bald nahezu 150 der 400 Delegierten auf FDP-Parteitagen stellte. DIE RÜPEL WERDEN DOGMATISCH Doch das frühere Wohlwollen der linksliberalen Medien nahm allmählich ab. In der Süddeutschen Zeitung beschwerte sich der Reporter-Star des Blatts, Hans Ulrich Kempski, über die »Rüpelhaftigkeit«, mit der die »rücksichtslosen« Jungdemokraten ihre Kämpfe gegen die alte Mende-FDP austrugen.14 Damals war man höhnische Zwischenrufe, ironischen Applaus und kollektiv verächtliches Gelächter auf Parteitagen von Honoratioren noch nicht recht gewohnt. Unziemlich war ein solches Verhalten gewiss nicht. Nur: Die Enthemmung des Stils, der Rhetorik, der politischen Zielprojektionen setzte sich in der Tat 1969 rasant fort. In dieser Zeit verflüchtigte sich die vorangegangene sozial-liberale Kreativität; in den Verband hinein flossen stattdessen Versatzstücke aus dem Vokabular des jetzt in der Republik vagabundierenden Neo-Marxismus. Hier enthüllte sich die Ambivalenz der Autonomie. In der organisatorischen Selbstständigkeit hatten Chancen für die Jungdemokraten gelegen, Möglichkeitsräume für unorthodoxe Ideen und eigensinnige Aktivitäten. Dadurch konnten die Jungdemokraten zum Ausgang der Adenauer-Ära weiter und origineller vordenken als alle anderen politischen Kräfte im Zentrum des bundesdeutschen Parlamentarismus. Zugleich aber fehlte es den Jungdemokraten an – ein wenig altmodisch formuliert – politischen Lehrmeistern und erzieherischen Autoritäten mit gediegener Parteierfahrung. Über die neue akademische Jugendbewegung von Links drangen in die offenen Struktu-

12  Manfred Bissinger, Abschied vom Exil, in: Der Stern, H. 5/1968. 13  Oskar Fehrenbach, Die Freien Demokraten küren einen neuen Star, in: Stuttgarter Zeitung, 31. 01. 1968.

ren der Jungdemokraten über Jahre ungebremst und ungestört alle Moden, Exaltiertheiten und Irrungen des neosozialistischen Radikalismus ein.15 Die Jungdemokraten waren bald nicht mehr Avantgarde, auch wenn sie sich das weiterhin gern einbildeten. Sie präsentierten sich in den folgenden 15 Jahren als ein purer Abklatsch der jeweils angesagten linken Konjunkturen. Man erlebte hier ein weiteres Beispiel der geringen Resistenz des Liberalismus in Deutschland, gleichviel ob auf seiner linken oder rechten Seite, gegenüber durchaus antiliberalen Strömungen eines auch das gebildete Bürgertum verführerisch lockenden Zeitgeistes.

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14  Hans Ulrich Kempski, »Dieser Mann hat Ellbogen aus Eisen«, in: Süddeutsche Zeitung, 01. 02. 1968; auch Maria Stein, Kaltes Wasser nach durchzechten Nächten, in: Christ und Welt, 02. 02. 1968. 15  Rolf Zundel, Lustgewinn aus Widerspruch, in: Die Zeit, 28. 05. 1971; o.V., Hose runter, in: Der Spiegel, 31. 05. 1971.

Den Aufschlag machten die Liberalen Studenten in West-Berlin, die sich 1969 von der FDP, welcher sie jetzt »tendenziell faschistische Anlagen« attestierten, trennten. Auf den Landeslisten der Partei, hieß es in der Erklärung, die den Trennungsbeschluss begründete, »sprießen die reaktionären Scheißkerle« hoch. Man glaubte nicht mehr an einen Wandel des Liberalismus, daher beteiligte man sich »in Zukunft an der Konstitution einer sozialistischen Massenbewegung«.16 In Bremerhaven schrieb ein führender Jungdemokrat im späten Sommer 1969 die Parole an die Wand des Parteibüros: »Liberalismus führt zu Faschismus, Liberalismus muß weg!«17 Im November 1969 luden die Jungdemokraten in Hamburg zu einer Vorstandssitzung des »ersten sozialistischen Kampfverbandes auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland« ein.18 Gemeint waren damit in der Tat die Zöglinge aus gehoben bürgerlichen Familien, die sich in der Hansestadt als Losung für die politische Arbeit ihrer Organisation wählten: »Die Erde wird rot – Proletarier rüstet euch zum 16 

Hektographierte Erklärung des Liberalen Studentenbundes zum Parteitag der FDP 1969 in Nürnberg, in: Zeitungsausschnittsammlung AsD II, DW 2–2b3b3, 1969.

17  So jedenfalls stand es in der Lokalzeitung, siehe o.V., FDP schloß vier Mitglieder aus, in: Bremer Nachrichten, 10. 09. 1969. Jürgen Reents, später leitender Funktionär beim KB, bei den Grünen und in der PDS, gehörte ebenfalls dieser renitenten Bremerhavener Judo-Gruppe an, während er sich, wie es im selben Artikel hieß, zum Rätesystem und zum Anarchismus bekannte. 18  Vgl. o.V., Hausstreit in Hamburgs FDP schwelt, in: Frankfurter Rundschau, 12. 11. 1969.

Kampf«. Dabei hatte die Bundestagung der Jungdemokraten – eine Assoziation vorwiegend von Studenten der Rechtswissenschaften – in diesem Jahr keineswegs im proletarischen Ambiente stattgefunden, sondern im gutbürgerlichen Kölner Flora-Saal. Gleichwohl, auch hier feierten Proletariermythologien der linken Weimarer Arbeiterbewegung fröhliche Urstände. Überall klebten Wandzeitung mit Mao-Sprüchen und Rosa-Luxemburg-Zitaten. Einige Delegierte begannen ihre Redebeiträge mit der Anrede »Genossen«.19 Der FDP-Parteichef Walter Scheel durfte erst sprechen, als eine Delegiertenmehr-

heit ihm dies großzügig per Abstimmung einräumte. Aber er wie auch der Chef der Jungdemokraten und frühere Anführer des LSD (der Jahre 1962/63), Wolfgang Lüder20, sahen sich dem antikapitalistischen Argwohn der besonders radikalen Bremer Jungdemokraten ausgesetzt, die in dem Moment, als der FDP-Vorsitzende neben dem Vorsitzenden der Jugendorganisation Platz nahm, ein Plakat mit der Aufschrift »Scheel und Lüder – Kapitalistenbrüder?« aufhängten. Die Jungdemokraten spielten 1969 die Stücke der APO aus den Vorjahren nach, die in der Jugendorganisation einer liberal-bürgerlichen Partei noch ein gutes Stück abwegiger, soziologisch und weltanschaulich deplat-

19  Vgl. Friedrich Kassebeer, »Scheel und Lüder – Kapitalistenbrüder?«, in: Süddeutsche Zeitung, 17. 05. 1969. 20  Jürgen Kunze, Die Jung­ demokraten zwischen Liberalismus und Sozialismus, in: Jürgen Dittberner u. Rolf Ebbighausen (Hg.), Parteiensystem in der Legitimationskrise, Opladen 1973, S. 307–326, hier S. 310.

zierter, auch unernster und natürlich unorigineller wirkten als zuvor im SDS. Und doch wurde das alles Programm bei den Jungdemokraten für die 1970er Jahre. In Ihrem »Leverkusener Manifest« von 1971 schrieben sie fest, dass »Liberalismus und Sozialismus« »in entscheidenden Positionen ihrer Zielsetzung übereinstimmten.« Den bestehenden Parlamentarismus bewerteten sie als Medium der Verschleierung der existenten undemokratischen Machtverhältnisse, die sich durch die »Manipulation der Bevölkerungsmehrheit« auszeichneten und zu einer Untertanengesellschaft geführte hätten. Der Franz Walter  —  Cashmere statt Cord

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Umschlag in eine »offene Diktatur des Kapitals in der Form des Faschismus« wäre jederzeit zu befürchten.21 In diesen Jahren, 1970 bis 1971, verfügten die Jungdemokraten gleichwohl über erheblichen innerparteilichen Einfluss, insbesondere auf Parteitagen. Auf dem Freiburger Bundesparteitag 1971 – der die verblüffend weit ausstrahlenden »Freiburger Thesen« verabschiedete – sollen sie ein Drittel der Delegierten gestellt haben. Die jungen Leute traten als geschlossene Phalanx auf, marschierten in großer Zahl mit umsichtig abgestimmten Diskussionsbeiträgen ans Mikrofon.22 Die rhetorisch oft eher unbeholfenen Alt-Mittelständler rechtsliberaler Provenienz bekamen es regelrecht mit der »Angst«23 zu tun, wenn die Radikaldemokraten der jungen Generation unter der damaligen Führung des Stern-Redakteurs Heiner Bremer ihrer bissigen Eloquenz freien Lauf ließen. Auch blitzte die frühere Originalität und Antizipationskraft Anfang der 1970er Jahre zuweilen durchaus auf.24 Ein öffentlichkeitswirksamer Coup gelang den Judos etwa im Juni 1972 mit der Wahl der 26-jährigen Ingrid Matthäus zur neuen Verbandschefin. Sie war die erste Frau, die es an die Spitze einer parteipolitischen Jugendorganisation schaffte. Die männlichen Journalisten waren begeistert. Sie schwärmten über die »Attraktivität« von Matthäus, von ihrem schicken »Stirnpony« und ihren »dunklen Augen«.25 In den Wochen nach ihrer Wahl sah man die neue Jungdemokraten-Vorsitzende in schöner Regelmäßigkeit auf den Bildschirmen der TV-Geräte.26 Doch solche bürgerliche Telegenität nahmen die Judos ihrer Frontfrau bald übel und wählten sie nach nur sieben Monaten eiligst wieder ab.27 Gleichwohl: Der Anteil weiblicher Delegierter lag bei den Jungdemokra-

21  Siehe Manifest für eine liberale Politik (Leverkusener Manifest) Deutsche Jungdemokraten, Bonn 1980 (6. Auflage), S. 22. 22  Vgl. Klaus Rudolf Dreher, Rettet Flach die FDP über das Hochseil?, in: Süddeutsche Zeitung, 27. 10. 1971. 23  So der damalige FDP-Chef in Bayern, Dietrich Bahner. Vgl. o.V., Was ihr wollt, in: Der Spiegel, 29. 06. 1970. 24  Rolf Zundel, Lustgewinn aus Widerspruch, in: Die Zeit, 28. 05. 1971. 25  So die Eloge bei Olaf Ihlau, Krimis und harte Politik, in: Süddeutsche Zeitung, 26. 06. 1972. 26  Gerhard Ziegler, Die Jungdemokraten sind keine Hilfe für die Mutterpartei, in: Frankfurter Rundschau, 29. 01. 1973.

ten bemerkenswert hoch. Die männlichen Korrespondenten der bundesdeutschen Gazetten freuten sich über die vielen Frauen »mit wallenden Haaren und wogenden Busen«, die für ein »libido-freundliches Sexualleben« fochten.28 Aufsehen erregten die Judos überdies, als sie »Liebesstuben für Gymnasien«, die Freigabe von Haschisch und die Auflösung der Kleinfamilie forderten.29 Ein etwas lustvoll verspielter Provokationsliberalismus war ihnen folglich weiterhin eigen. Außergewöhnlich ernst hingegen war es ihnen mit

27  O.V., Friedrich Neunhöffer aus Stuttgart neuer Judo-Vorsitzender, in: Stuttgarter Zeitung, 29. 01. 1973. 28  Peter Christian Müller, Jungdemokraten wollen für FDP unentbehrlich werden, in: Handelsblatt, 25. 05. 1971.

dem im Grunde klassisch liberalen Kulturkampf gegen die institutionalisierten Religionen. Insbesondere in den Jahren 1972–1974 agierten sie als laizistischer Vortrupp für eine »konsequente Trennung von Staat und Kirche«.30 In den Jahren darauf aber minderte sich ihr politisches Gewicht deutlich. Mit ihrem Verbalradikalismus verprellten sie selbst ihre ursprünglichen Mentoren auf dem linksliberalen Parteiflügel der FDP. Karl-Hermann Flach, den klugen Vordenker und umsichtigen Strategen eines Sozial-Liberalismus, verhöhnten sie als Büttel des Establishments.31 Auch Werner Maihofer, den

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29  Siehe o.V., Wilder Haufen, in: Der Spiegel, 09. 11. 1970. 30  Rolf Zundel, Traurige Jusos, in: Die Zeit, 02. 07. 1973. 31  Gunter Hofmann, Die junge FDP will nicht »Junge FDP« sein, in: Stuttgarter Zeitung, 29. 01. 1973.

Ideologen des »historischen Bündnisses« von Arbeiterbewegung und liberalem Bürgertum, lachten und pfiffen sie auf ihrer Bundestagung 1974 aus, ganz so wie sie es sechs Jahre zuvor mit – dem politisch allerdings gänzlich konträr gelegenen – Erich Mende getan hatten.32 1978 rief der niedersächsische Judo-Chef zur Wahl der »Grünen Liste Umweltschutz« auf.33 Ein Jahr später entdeckten auch prominente Jungdemokraten in Baden-Württemberg ihre Zuneigung zur neuen grünen Partei. Und Ende 1979 orakelte der Bundesvorsitzende der FDP-Jugend, Christoph Strässer, von einer neuen Partei 32  Hartmut Palmer, Judos: Parität nicht unterlaufen, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 11. 02. 1974; Michael H. Spreng, Judos bieten keine Alternative zu den Jusos, in: Die Welt, 11. 02. 1974. 33  Siehe o.V., Jungdemokraten werben für »Grüne Listen«, in: Stuttgarter Zeitung, 26. 05. 1978. 34  Siehe o.V., Schwenken die Judos aus?, in: Die Welt, 15. 10. 1979; o.V., Jungdemokraten gehen auf Distanz zur FDP-Spitze, in: ppp, 19. 12. 1979. 35  Vorwort von: Jungdemokraten, Bundestagswahlen: Strategie 1980. 90 Forderungen, o. O. o.J (Bonn 1979); Ulrich Lüke, Die Judos sehen in der FDP das geringste Übel, in: Die Welt, 20. 12. 1979. 36  Vgl. Peter Meier-Bergfeld, Der »Flohzirkus« der FDP, in: Rheinischer Merkur/ Christ und Welt, 11. 04. 1980. 37  Interview mit Günter Verheugen in: WDR 2, Mittagsmagazin, 13. 07. 1982; von zwei Millionen DM schrieb hingegen Hans Peter Schütz, »Canaler« wollen Judos trockenlegen, in: Stuttgarter Nachrichten, 14. 07. 1982. 38  Vgl. etwa Werner Klumpp: Die Judos von der FDP abkoppeln, in: Die Welt, 24. 11. 1980.

aus Radikaldemokraten, Grünen, Bunten, Spontis und linken Sozialisten, die eine neue Heimat für die Jungdemokraten werden könnte.34 In einem Strategiepapier für die Bundestagswahl 1980 mochte Strässer aber kein Votum für die Grünen abgeben, da ihnen »eine antikapitalistische Perspektive« fehle. Merkwürdigerweise ging demgegenüber die FDP als kleineres Übel durch, wenngleich sie, wie Strässer – heute Bundestagsabgeordneter der SPD – darstellte, »eindeutig eine Agentur der Kräfte« sei, »denen wir in dieser Gesellschaft die Macht abnehmen wollen.«35 Trotz all dieser Kapriolen und permanenter Spannungen mit der Mutterpartei blieben die Judos, die nach eigenen Angaben rund 25.000 Mitglieder zählten, bis 1982 der offizielle Parteinachwuchs der FDP. Durch Satzung der FDP waren in allen Gliederungen, vom Ortsverband bis zum Bundesverband,

Jungdemokraten-Vertreter in den Vorständen und Bundesfachausschüssen beteiligt.36 Aufgrund dieses Status bekamen sie, glaubte man dem damaligen Generalsekretär der FDP, Günter Verheugen, rund fünf Millionen DM an öffentlichen Mitteln.37 Auch der Bundesvorstand der FDP unterstützte sie mit 50.000 DM, die parteinahe Friedrich-Naumann-Stiftung steuerte schließlich noch jährlich 200.000 DM zur Förderung der Jungdemokraten bei. Prominente Freidemokraten, die als dezidierte Gegner der Jungdemokraten auftraten, wie 1980 der saarländische FDP-Chef und Wirtschaftsminister Werner Klumpp, hatten einen schweren Stand in der Partei. Vor dem Bundesparteitag der FDP im Dezember 1980 in München hatte Klumpp die Jungdemokraten in mehreren Interviews scharf angegriffen, weil diese den sexuellen Missbrauch von Kindern straffrei stellen wollten.38 Auf dem Parteitag wurde Klumpp für seine Attacken gegen den Jugendverband abgestraft. Bei der Wahl zum Bundesvorstand fielen auf ihn, der anders als die Jungdemokraten kaum Beifall fand, lediglich 159 Ja-Stimmen; 179 Delegierten hatten gegen ihn votiert.39 Das Gros schloss sich offenkundig der Ansicht an, wie sie Günter Verheugen Anfang 1981 im Morgenmagazin des WDR aus-

39  Ulrich Lüke, »Diese Marxisten untergraben alles«, in: Die Welt, 08. 12. 1980.

führte: »Wie soll ich denn zum Beispiel mit einer angepassten, lammfrommen Parteijugend mit der jungen Generation ins Gespräch kommen, die im Franz Walter  —  Cashmere statt Cord

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Augenblick in vielen deutschen Städten demonstriert, Häuser besetzt oder überhaupt schon ausgestiegen ist aus der Gesellschaft?«40 BÄRTE UND BIERCHEN GERATEN AUS DER MODE Wer den Charakter und die Entwicklung der bundesdeutschen Jungend so – als steten Unruheherd gesellschaftlicher Fundamentalopposition – sah, musste die Jungdemokraten wohl als einen unverzichtbaren Ansprechpartner oder gar Mediator des etablierten Liberalismus im Umgang der »kritischen jungen Generation« betrachten. Ein Vorgänger von Verheugen, KarlHermann Flach, war acht Jahre zuvor schon weiter, als er sich mit derben Worten über den mangelnden Weitblick der Jungdemokraten mokierte: »Die sehen ihre Marktlücke nicht: Junge Leute, die von den ewigen Phrasen und all der Systemkritik die Schnauze voll haben.«41 Auch Hans Ulrich Kempski, der wohl aufmerksamste und kundigste Chronist von Parteitagen – aller bundesdeutschen Parteien im Übrigen – während der 1950er bis 1980er Jahre, hatte auf dem eben erwähnten Münchener Bundesparteitag der FDP registriert, dass »den rebellischen Jungdemokraten« trotz der für sie günstigen Abstimmungsergebnisse »der Wind ins Gesicht bläst«. Denn ihnen war eine neue Konkurrenz erwachsen, die sich »mehr in Harmonie mit einem neuen

40  Interview mit Günter Verheugen, in: WDR 2, Morgenmagazin, 07. 03. 1981.

Zeitgeist« bewegte.42 Das zielte auf die Jungen Liberalen, die sich seit einiger Zeit im mittelständischen Milieu zusammenschlossen.43 Der politische Gegensatz zwischen JuLis und Judos drückte sich für jedermann leicht erkennbar in

41  Zit. nach o.V., ­ tarke Gedanken, in: Der S ­Spiegel, 05. 02. 1973.

markanten habituellen Unterschiedlichkeiten aus: Eine neue Gruppe von »Aktenköfferchen-Liberalen«44, mit Cashmerepullovern und Popperhaarschnitten forderte die Alt-Jungdemokraten mit ihren Vollbärten, Lederjacken, Cordhosen, Filzhüten und bunt beklebten Citroën-Enten heraus. Gewiss, das klingt überaus klischeehaft. Aber die Fotos von Konferenzen der beiden Jugendkulturen jener Jahre illustrieren, dass Klischees und Realität auch in diesem Fall in einem erstaunlichen Nahverhältnis zueinander standen. Schon Ende 1974 hatte eine kleine Gruppe um den Journalisten Friedemann Weckbach-Mara versucht, eine Gegenorganisation zu den Jungdemokraten, die sich »AG junge Liberale« nannte, auf die Beine zu stellen.45 Aber das misslang. Größere publizistische Aufmerksamkeit erregte eine ebenfalls als »Arbeitsgemeinschaft junger Liberaler« firmierende Gruppe 1978 in WestBerlin, da hier bald auch mehrere frühere DDR-Häftlinge, darunter Nico Hübner, mit von der Partie waren und die Gruppe insgesamt einen scharf natio-

42  Hans Ulrich Kempski, Es knistert in der Bayernhalle, in: Süddeutsche Zeitung, 08. 12. 1980. 43  Hierzu aus Sicht von Beteiligten Detmar Doering u. Lieselotte Stockhausen-Doering, Kräfte des Wandels, Liberale Jugendorganisationen von der sozialliberalen Koalition bis heute, Sankt Augustin 1980, S. 153 ff. 44  O.V., Julis – gibt’s die?, in: Avanti, H. 8–9/1979. 45  Vgl. dpa-Inf. 08/10. 01. 1975; o.V. Konkurrenzgruppe zu den Jungdemokraten gegründet, in: Die Welt, 08. 01. 1975.

nalliberalen Ton anschlug.46 In diesen späten 1970er Jahren entstanden in mehreren Teilen der Bundesrepublik Gesprächskreise Junger Liberaler, die Anfang November 1980 in Bonn die Konstituierung einer Bundesorganisation

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46  O.V., Berliner »Junge Liberale« attackieren Jungdemokraten, in: Die Welt, 19. 06. 1978.

wagten.47 Programmatische Impulse lieferte dafür hauptsächlich Hartmut Knüppel, Anfang der 1980er Jahre politischer Mentor von Guido Westerwelle und zum Ende des Jahrhunderts wirtschaftsberatender Partner des jungen Christian Lindner bei dessen erstem, schwer missglückten unternehmerischen Ausflug in die Welt des neuen Marktes.48 Protektion aus den Reihen der FDP erhielten die Jungen Liberalen, die Ende 1980 rund 700 Mitglieder auswiesen49, von dezidierten Parteirechten wie Otto Graf Lambsdorff, Werner Klumpp, Hermann Oxford, auch von Jürgen W. Möllemann und Martin Bangemann, die beide Jahre zuvor selbst noch bei den Jungdemokraten mitgemacht, zuletzt aber politisch die Richtungen gewechselt hatten.50 So standen die JuLis von Beginn an in dem Ruf, Marionetten der Wirtschaftsliberalen zu sein, die auf einen Koalitionswechsel drängten und dafür neue Truppen in der Jugend jenseits der Judos sammelten. Als die Wende von Schmidt zu Kohl 47  O.V., Tamtam im Flohzirkus, in: Der Spiegel, 02. 06. 1980. 48  Majid Sattar, »… und das bin ich!« Guido ­Westerwelle. Eine politische Biographie, München 2009, S. 34 f.; Thomas Gutschker, Avatar, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05. 05. 2012. 49  Ulrich Lüke, Zum Kampf gegen die Judos ziehen die Julis im Oktober ihren Knüppel, in: Die Welt, 22. 10. 1980.

in der Tat vollzogen wurde, beschlossen die Jungdemokraten unverzüglich die Abtrennung von der FDP, die sich, so das barsche Verdikt in SchleswigHolstein, »zur reaktionärsten bundesdeutschen politischen Kraft und damit zu unserem Hauptgegner entwickelt«51 hatte. Damit waren den Julis alle Hindernisse auf dem Weg zur alleinigen Parteijugend fortgeräumt; wenige Tage nach dem Abgang der Jungdemokraten erkannte der FDP-Bundesvorstand die Jungen Liberalen als neuen Nachwuchsverband der Freien Demokraten an.52 Aber den Makel des Geburtsetiketts wurden sie im Folgenden nicht recht los. Noch standen in den Jahren 1982/83 die Mehrheiten der politisch interessierten und aktiven Jugendlichen offenkundig auf der linken Seite. Und deren Urteile über die Jungen Liberalen fielen nicht sehr freundlich aus: Man er-

50  Peter Meier-­Bergfeld, Der »Flohzirkus« der FDP, in: Rheinischer Merkur/Christ und Welt, 11. 04. 1980. 51  Zit. nach o.V., Jung­ demokraten nehmen Abschied von der FDP, in: Kieler Nachrichten, 15. 11. 1982.

blickte dort im Wesentlichen Opportunisten, Karrieristen, Schnösel mit ihren italienischen Schuhen, Designerbrillen und ihrer Vorliebe für Cocktails statt des bei den Linken seinerzeit üblichen »Bierchens«. Doch im Habitus steckte auch ein Stück Weltanschauung. Das war bei den 68ern und jungen Linken nicht anders, die ja ebenfalls durch lange Haare, schmuddelige Kleidung und ihre Passion für harte Rockmusik eine politische und gesellschaftskritische Botschaft zum Ausdruck bringen wollten. Auch die JuLis sahen Kleidung und

52  Hans Peter Schütz, »Julis« jetzt von der FDP voll anerkannt, in: Stuttgarter Nachrichten, 30. 11. 1982. 53  Matthias Rothe u. Hartmut Schröder, Thematische Einstimmung: Stil oder der Kampf um Wahrheit, in: dies. (Hg.), Stil, Stilbruch, Tabu. Stilerfahrung nach der Rhetorik, Berlin 2008, S. 9–15, hier S. 9 f.

Lebensstil nicht als Angelegenheit sekundärer oder rein privater Accessoires an. »Jeder Stil bzw. jede Stilisierung verdankt sich im Kern einem zu Meidenden. Umgekehrt formuliert: Stil ist immer ein Einsatz, eine Strategie […] im Kampf um (eine) Wahrheit und dies – in unterschiedlichem Maße explizit – mit einem Bezug auf das, was diese Wahrheit gefährden könnte (eben das zu Meidende).«53 Die Frisuren, bei Edelcoiffeuren gepflegt, das exquisite Schuhwerk, die seidenen Krawatten, die geschäftigen Köfferchen, das jungprofessionelle Vokabular, Jahre später auch die ersten Handys bildeten eine Franz Walter  —  Cashmere statt Cord

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Art neuer Ideologie, stellten Distinktion zu den Älteren, Distanz zu den »vorgestrigen« Überzeugungen her, sollten ein neues Lebensgefühl einer neuen Generation symbolisch bekräftigen: Statt bewusst gepflegter Hässlichkeit nun die besondere Affirmation des Schönen, auch Teuren. An die Stelle des »No Future« und »Null Bock« trat jetzt das pralle »Ja« zur »Zukunft«, zum »technischen Fortschritt«, zur »Leistung« innerhalb der voll und ganz belobigten »Wettbewerbs- und Marktgesellschaften«. AVANTGARDE ODER NACHHUT? Damit waren die Jungen Liberalen in den Jahren 1982/83 innerhalb der bundesdeutschen Jugend fraglos eine Minderheit. Auf den Schulhöfen der Gymnasien standen sie als kleine Gruppen in ihrem exklusiven Outfit ziemlich separiert und abseits vom Rest. Noch wirkten sie wie Außenseiter, die aber – darin den Jungdemokraten der Jahre 1963 bis 1965 gleich – fest daran glaubten, als Avantgarde voranzugehen. Guido Westerwelle wurde ihr kongenialer Repräsentant und Anführer. Politisch hatte Westerwelle in seinen jungen Jahren stets aus der Minderheit operieren müssen. Als er 16 Jahre alt war, identifizierten sich die meisten gleichaltrigen Jugendlichen mit den Protesten gegen die Atomkraft; als Westerwelle zwanzig Jahre alt wurde, marschierte seine Kohorte in Sternmärschen und Großdemonstrationen gegen die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen. Nun entwickeln Minderheitenmenschen, wenn sie politisch getrieben sind, häufig ein missionarisches Bewusstsein. Sie sehen oft, was der Mainstream nicht zu erkennen pflegt. Aber sie verabsolutieren dann auch, was sie als das Neue und Eigentliche entdeckt zu haben meinen. Westerwelle hielt sich für den Anführer einer neuen, seiner Generation.54 Das war und wurde er jedoch nicht. Im Gegenteil, gerade diejenigen, die, wie er, Anfang der 1960er Jahre auf die Welt kamen, bildeten achtzehn Jahre später den stabilsten Kern des Grünen-Elektorats. Aber die Kohorte danach, die Geburtsjahrgänge der 1970er Jahre, brachte dann in der Tat Eigenschaften und Ansichten hervor, die Westerwelle früh und unzweifelhaft hellsichtig vorwegnehmend beschrieben hatte. Die »Generation Golf« war nicht lediglich das literarische Konstrukt eines Feuilletonjournalisten, sie ließ sich auch in der sozialwissenschaftlichen Empirie auf der Ebene eigener Wertepräferenzen nachweisen.55 Und in dieser Generation erhielt die FDP bei ihrem großen Wahlerfolg 2009 den größten Zuspruch, erreichte dort bessere Werte als die Sozialdemokraten und die Grünen. Bei den Männern dieses Segments übertrafen die Freien Demokraten (mit zwanzig Prozent) die Grünen (mit elf Prozent) gar fast um das Doppelte. 56 1982 hatte sich ein solcher Mentalitätswechsel für die meisten Beobachter noch keineswegs abgezeichnet. Insofern surften die Jungliberalen auch nicht

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Die 1980er Jahre  — Analyse

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54  Siehe hierzu Axel Hacke, Sehr jung, sehr flott und etwas oberflächlich, in: Süddeutsche Zeitung, 08. 06. 1985. 55  Vgl. Markus Klein, Gibt es die Generation Golf? Eine empirische Inspektion, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, H. 1/2003, S. 99–115. 56  Viola Neu, Bundestagswahl in Deutschland am 27. September 2009, Wahlanalyse Berlin, Dezember 2009, Onlinepublikation hg. von der Konrad-Adenauer-Stiftung, online einsehbar unter http://www.kas. de/wf/doc/kas_18443-544-1-30. pdf?100809103242 [eingesehen am 27. 01. 2014].

auf den Wellen des manifesten Zeitgeists, wie ihnen seither immer wieder vorgeworfen wurde. Sie waren, als sie sich als formell anerkannte Jugendorganisation der freidemokratischen Regierungspartei – nun an der Seite von CDU/CSU – am 15. Oktober 1982 zum Bundeskongress versammelten, dem Trend in der Tat ein Stück voraus. Im Zentrum ihrer Debatten stand unter anderem die »Politik- und Parteienverdrossenheit«, die in der Gesellschaft, nach einem Jahrzehnt heftiger Politisierung, gerade erst anwuchs. Die JuLis führten das zurück auf ein neues Demokratieverständnis und Partizipationsbedürfnis gerade in den jungen Teilen der Bevölkerung. Allein über Delegation und Repräsentation könnten moderne Demokratien nicht mehr funktionieren. Folglich waren die JuLis – eben früher als andere politische Organisationen dieser Art – für »unmittelbare Bürgerbeteiligung« und »neue Formen der direkten Demokratie«, konkret gemünzt auf den unmittelbaren Bereich des eigenen Spektrums: für die Urwahl des FDP-Parteivorsitzenden.57 Der ganze dreitätige Bundeskongress lief unter dem Motto »Eigeninitiative eine Chance«. Die Bundeskonferenzen 1984 und 1986 stellte man im Übrigen jeweils bewusst unter dieselbe Devise »Mut zur Zukunft«. Eigeninitiative, Zukunft, Leistung, Weltoffenheit58 – irgendwann konnte man diese Losungen in ihrem inflationären Dauergebrauch des »Neoliberalismus« wohl nicht mehr hören, damals jedoch klang es für Post-68er-Teile des Jung-Bürgertums frisch, noch nicht so abgedroschen wie das über die Jahre zuvor überstrapazierte Vokabular aus dem Depot empörter Gesellschaftskritik. Allerdings besaßen die JuLis – die Mitte der 1980er Jahre rund 4300 Mitglieder zählten59 – ein besonderes Faible für knappe und griffige Slogans. 57  Guido ­Westerwelle, Der Eigeninitiative eine Chance, in: Neue Bonner Depesche 1982, Nr. 11, S. 11. 58  Vgl. Giovanni di Lorenzo, »Wir sind die Yuppies mit dem sozialen Gewissen«, in: Süddeutsche Zeitung, 28. 11. 1987. 59  Andrea Jocham, Die Freien Demokraten dürfen nicht nur Steuersenkungspartei sein, in: Handelsblatt, 23. 12. 1985. 60  O.V., Inhaltliche Verarmung, in: Der Spiegel, 28. 11. 1988.

Auch darin waren sie Teil einer neuen Generation in einem neuen Medienzeitalter, in dem das ausdifferenzierte Programmelaborat kaum mehr zählte, dafür indes die schrillen Soundbits reüssierten. Doch waren die JuLis in ihrer Lust auf verspielte Provokationen durchaus in die Fußstapfen der Jungdemokraten getreten, denen ihre Mitglieder und Anführer auch in der Wahl des bevorzugten Studienfachs – Jura – ähnelten. Als erste Jugendorganisation der Bundesrepublik wollten die JuLis 1988 den Ort ihrer Bundeskonferenz ins Ausland – nach Luxemburg – legen60, um ihr modernes Europäertum vorzuzeigen. Und im Kirchenkampf übertrafen sie die Jungdemokraten gar noch an Furor, da sie dafür eintraten, das Weihnachtsfest abzuschaffen und die ruhestörenden Kirchenglocken einzuschmelzen, um daraus nützliche Büroklammern herzustellen.61 So präjudizierte bereits die Sattelzeit der Jungliberalen die Entwicklung

61  Vgl. Helmut Breuer, »Kirchenglocken« einschmelzen, in: Die Welt, 31. 12. 1991.

der Freien Demokraten seit den späten 1990er Jahren. Es ging darum, mit Gags, Slogans, Events das kostbare Gut öffentlicher Aufmerksamkeit für sich Franz Walter  —  Cashmere statt Cord

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zu gewinnen. Komplexität, Differenzierungen, gar Ambivalenzen und Heterogenitäten störten dabei. Alles musste sich auf eine, auf die zentrale Botschaft reduzieren und konzentrieren. Dafür sorgte mit beträchtlicher Energie der Mann, der zwischen 1983 und 1988 an der Spitze der Jungen Liberalen gestanden hatte, seit 1994 die Freien Demokraten als Generalsekretär managte und schließlich die Partei seit 2001 als Vorsitzender anführte: Guido Westerwelle. Er war als Jugendlicher im Konflikt groß geworden, gegen Jungdemokraten, Linke, K-Gruppen-Aktivisten, Grün-Alternative. Solche Auseinandersetzungen prägen tief, vor allem: Man nimmt spezifische Züge des Gegners an, ohne sich dessen vollständig bewusst zu werden. Westerwelle adaptierte die monoargumentative Sichtweise und Rhetorik vieler Linker. Ebenso wie bei dogmatischen Marxisten hing auch für ihn alles von der Wirtschaft ab. In der Frage der Steuerpolitik trat er und traten seine jungliberalen Epigonen bis in das Jahr 2009 so ideologisch auf wie zuvor, während der 1970er und frühen 1980er Jahre, ihre weit links angesiedelten Kontrahenten mit der Insistenz auf die Sozialisierung der Produktionsmittel. Für letztere bedeutete die Vergesellschaftung Quell der Erlösung von Ausbeutung und Entfremdung, für erstere wurde der niedrige Steuersatz zum Schlüssel schlechthin für Freiheit, Fortschritt und Wohlstand. Enttäuschungen sind bei solch absolutistischen Zukunftsversprechen vorprogrammiert. Als das Heilserlebnis durch Steuersenkungen in der schwarz-gelben Bundesregierung nach 2009 ausblieb, wandten sich 2013 die Jahrgänge, welche die Jungliberalen nach 1982 ins Visier genommen und die im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts tatsächlich überproportional stark die Freien Demokraten gewählt hatten, ebenso überdurchschnittlich massiv wieder von der FDP ab. Der Aufstieg war rasant, die Ernüchterung und der tiefe Fall innerhalb von vier Jahren nicht minder. Die Jungdemokraten hatten in den Jahren 1963 bis etwa 1967 ein feines Gespür für sich verändernde Unterströmungen in der Gesellschaft bewiesen. In manchem waren sie zweifelsohne ihrer Zeit voraus. Aber der Avantgardismus verführte zur Vereinseitigung, auch zur Selbstgefälligkeit. Den Jungliberalen erging es, zwanzig Jahre später, nicht anders. Auch sie nahmen Einiges vorweg, was sich gesellschaftlich erst Jahre später wirkungsvoll Bahn brechen sollte. Dann aber wurde, hier wie dort, der Avantgardismus von ehedem fahl, trivial, am Ende anachronistisch. In der Folge scheiterten Jungdemokraten und Jungliberale gleichermaßen, da sie nicht bemerkten, dass die Zukunft längst andere Vordenker und Bündnispartner gefunden hatte.

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Prof. Dr. Franz Walter, geb. 1956, ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen.

THEORETISCH VIRTUOS, POLITISCH ENGAGIERT GAYATRI SPIVAK UND DER FEMINISMUS DER 1980ER JAHRE ΞΞ Miriam Nandi

Es gibt wahrscheinlich nicht einmal in dem kleinsten Proseminar einen Konsens darüber, was Feminismus eigentlich ist. Eine eigentümliche Einigkeit herrscht jedoch über die historische Periodisierung des Feminismus. Dieser kam, so die gängige Lehrmeinung, in drei Wellen: Die Erkämpfung des Frauenwahlrechts um die Jahrhundertwende bildete die erste Welle; die zweite folgte in den späten sechziger und siebziger Jahren, in den consciousness-raising groups, den autonomen Frauenreferaten der Universitäten und nicht zu vergessen in Schlüsselwerken wie etwa Kate Millets »Sexual Politics«.1 Die dritte Welle, die in den 1990er Jahren einsetzte und wohl bis heute andauert, wird mit Pluralisierung und Auffächerung, mit einem Interesse für den Performanz-Charakter von Geschlecht, für Travestie und Spiel, das immer jedoch auch, wie das Beispiel der Aktivistinnen von Pussy-Riot zeigt, schnell zum bitteren Ernst werden kann. Im reaktionären Klima der 1980er Jahre allerdings, in denen eine Margaret Thatcher so bewusst patriarchal regierte wie kaum ein Mann vor ihr, scheint es keinen Feminismus gegeben zu haben, oder zumindest keinen von einer sozialer Bewegung getragenen wie in den vorangegangenen Jahrzehnten. Die 1980er waren das Jahrzehnt der Einzelkämpferinnen. Feminismus individualisierte sich in der Figur der »Karrierefrau«, die ihre eigenen Ziele ruchlos verfolgt und der Verschwesterung nur lästig ist. Den Hippierock hat sie gegen den Business-Anzug eingetauscht, die wallende Mähne gegen die Betonfrisur, statt de Beauvoir liest sie die Financial Times. Dieses Bild ist jedoch eine Engführung auf die euro-amerikanische Welt. In Indien beispielsweise waren die 1980er Jahre das Jahrzehnt der Frauenbewegung, die sich u. a. gegen Mitgift, für eine bessere Stellung 1  Kate Millet, Sexual Politics, London 1969.

von Witwen und gegen die Verheiratung von Teenagern einsetzte.2 Ebenfalls in den 1980er Jahren – 1984, um genau zu sein – gründeten Urvashi Butalia und Ritu Menon mit einem minimalen Budget den Verlag Kali for

2  Wunderbar dokumentiert in Radha Kumar, The History of Doing, New Delhi 1993.

Women, bei dem bis heute Gender-Forschung und Frauenliteratur von Weltrang erscheint. Und im Jahre 1989 erlangte die Frauenorganisation

INDES, 2014–1, S. 47–52, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X

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der Bhopal-Opfer (Mahila Udyog Sangathan) endlich einen Teilerfolg vor dem Supreme Court. Geschichten wie diese muss es unzählige geben, Geschichten von Unterdrückung und Auflehnung, des Sich-Fügens und des wütenden Widerstands, die jedoch in den wohlhabenden post-industriellen Gesellschaften aus einer Vielzahl von Gründen einfach nicht erzählt werden, genau wie bis vor wenigen Jahrzehnten auch die Geschichte von Frauen nicht einmal als Konzept vorstellbar war. Dass es Parallelen geben könnte zwischen diesen zwei Formen von Ausgrenzung, dass sich Debatten um kulturelle Identität, Kolonialismus, globale Ungleichheit, und Migration mit den Debatten des Feminismus verschränken lassen, kam ausgerechnet in den neoliberal abgeklärten 1980er Jahren auf die akademische Tagesordnung. Die Literaturwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty Spivak, 1942 in Kalkutta geboren und in den frühen 1960er Jahren mit Promotionsstipendium in die USA migriert, dürfte als die erfolgreichste Protagonistin dieser Debatte gelten – wenngleich sie, das sei hier betont, nicht die einzige ist.3 Ihr Erfolg – für viele ist sie inzwischen eine »der wichtigsten Intellektuellen unserer Zeit« (Robert Young) – verdankt sich nicht zuletzt ihrer theoretischen Versiertheit. Spivak befasst sich auf höchstem Niveau mit Hegel, Kant und Freud, mit Luce Irigary, Julia Kristeva und Hélène Cixous und kann außerdem mit kontroversen Marx-Lektüren aufwarten. Thematisch gibt es bei ihr jedoch ein immer wiederkehrendes Motiv: die entrechtete Frau des globalen Südens, die, so muss Spivak in den 1980er Jahren noch gebetsmühlenartig wiederholen, in keiner westlichen Theorietradition auch nur ansatzweise mitgedacht wird – auch nicht, und das ist für Spivak besonders beklagenswert – in der theoretischen Avantgarde des Feminismus. Spivak indes ist es wichtig, Schnittstellen zwischen Klasse, Ethnizität und Geschlechterdifferenz zu beleuchten und den entrechteten Status vieler Frauen in der Dritten Welt überhaupt auch nur theoretisch benennen zu können. Entsprechend fokussieren ihre Texte häufig auf die komplexen Unterdrückungsmechanismen, denen Frauen im Süden ausgesetzt sind. In ihrem wohl meist diskutierten Essay »Can the Subaltern Speak?« (1988) zeigte sie anhand des Verbots der Witwenverbrennung »Sati« in Indien durch die englische Kolonialverwaltung, dass die betroffenen Frauen weder von den indigenen Eliten noch von den Engländern in angemessener Weise repräsentiert wurden. Denn beide Seiten maßten sich an, für und damit auch an Stelle der betroffenen Frauen sprechen zu können. Die Kolonialverwaltung stellte sie als passive Opfer dar, die man vor ihrer eigenen Kultur schützen müsse, der brahmanische Ideologie zufolge wählten die Witwen bewusst den Tod. In diesem Diskurs verschwindet jedoch die Stimme derjenigen,

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3  Chandra Tapalde Mohanty, Uma Narayan und Nawal el Sadaawi (um nur einige wenige zu nennen) dürften sich um einen transnationalen Feminismus ebenso verdient gemacht haben wie Spivak.

um die es eigentlich geht: die der indischen Witwen. Die Frage, die Spivak im Titel ihres Essays stellt, ist daher rhetorisch. Nein, die Subalterne (Frau) kann nicht »sprechen«. Spivak hat mit dieser These nicht nur Feministinnen heftig provoziert. Doch vieles an der Provokation gründet auf einem Missverständnis. Spivak meint nicht, dass die betroffenen Frauen etwa zu passiv seien, um sich selbst zur Wehr zu setzen; vielmehr argumentiert sie, dass »sprechen« bedeute, einen Sprechakt vollständig zu vollziehen. Dazu gehöre auch, den Frauen Gehör zu schenken, was jedoch nicht der Fall sei. Daher sei es politisch notwendig, Räume zu schaffen, in denen diese Frauen die Möglichkeit zur Artikulation haben. Diese Räume zu schaffen, sei, so Spivak, die Aufgabe von Eliten. Spivaks Pointe ist, dass sich die Struktur, die sie im kolonialen Szenario beobachtet, in den politischen Diskursen der 1980er Jahre fortsetzt. Und wahrscheinlich haben ihre Analysen kaum an Aktualität eingebüßt: Man braucht nur das abgedroschene Beispiel des Kopftuchs zu bemühen, dann wird schnell klar, dass etwa die einfache Behauptung, eine Frau habe sich dafür – oder dagegen – entschieden, einen Tschador zu tragen, erhebliche ideologische Implikationen hat. Die Frage, wie frei solche Entscheidungen getroffen werden können, wenn die Stimme der betroffenen Frau im Getöse der Debatten, Ideologien und Normen untergeht, ist es, die Spivak interessiert. Mit ihrer Skepsis gegenüber dem autonomen, aus sich selbst heraus handelnden und damit protestfähigen Subjekt geht Spivak mit dem Poststrukturalismus der 1980er Jahre konform, der ebenfalls davon ausgeht, dass es weder Autonomie noch einen phänomenologischen Freiheitsbegriff geben kann. Dennoch führt Spivaks Skeptizismus nicht zu ästhetisierender Apathie oder gar Entpolitisierung. Im Gegenteil. Ihre Theorie gleicht eher einem Hyper-Aktivismus und könnte damit kaum weiter entfernt sein vom entpolitisierten Zeitgeist der Reagan-Thatcher Ära. Spivak sucht in jedem Text und in gewisser Weise auch in jedem kulturellen Phänomen, das sie beleuchtet, stets nach dem, was fehlt, was vielleicht einmal da war, aber jetzt nur noch als Spur, als »Echo« (so der Titel einer ihrer schönsten Essays4) vorhanden ist. Damit ist für Spivak Jacques Derrida der wichtigste theoretische Kronzeuge und sie bezeichnet seine Dekonstruktion, die in den USA der 1980er Jahre deutlich enthusiastischer rezipiert wurde als auf der anderen Seite des Atlantiks, immer wieder als eine der wichtigsten Quellen für ihr eigenes Denken. ­Derrida ist für Spivak nicht nur deshalb interessant, weil er, wie oft vergessen 4  Gayatri Spivak, »Echo« in: The Spivak Reader, hg. v. Donna Landry u. Gerald MacLean, New York 1996, S. 175–202.

wird, als Migrant und sephardischer Jude selbst in gewisser Weise Außenseiter im Nachkriegsfrankreich blieb, sondern vor allem, weil er westliche Theorietraditionen kräftig gegen den Strich bürstet. So entlarvt Derrida den Miriam Nandi  — Theoretisch virtuos, politisch engagiert

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Universalismus westlicher Theorietraditionen als unwahr. Die Philosophie der Aufklärung, so argumentiert Spivak in Anlehnung an Derrida, spricht keinesfalls für alle Menschen, sondern lediglich für eine sehr kleine Elite von weißen gebildeten Männern: »Where I was brought up – when I first read Derrida I didn’t know who he was, I was very interested to see that he was actually dismantling the philosophical tradition from inside rather than outside, because of course we were brought up in an education system in India where the name of the hero of that philosophical system was the universal human being, and we were taught that if we could begin to approach an internalisation of that human being, then we would be human. When I saw in France someone was actually trying to dismantle the tradition which had told us what would make us human, that seemed interesting, too.«5 Dementsprechend bleibt Spivak den dekonstruktivistischen Einsichten verpflichtet, dass es unumgänglich ist, von den Strukturen zu »borgen«, die man kritisiert. Sprich: Es ist unmöglich, als Feministin – und hier sieht man (sic!), dass Spivak ein wenig pessimistischer ist als andere Feministinnen der 1980er Jahre – nicht auch auf androzentrische Denktraditionen zurückzufallen; ebenso wie es für postkoloniale Theoretikerinnen schier unausweichlich ist, nicht auch in irgendeiner Form auf eurozentrische Denkfiguren wie etwa die der »freien Wahl«, ein Konzept, das ohne die Idee der liberalen Tradition der europäischen Aufklärung nur schwer denkbar ist, zurückzufallen. Für Spivak gibt es immer nur den Versuch, das Provisorium, die Möglichkeit, ja, die Unausweichlichkeit des Scheiterns. Trotz dieser offenkundigen Nähe zu Derrida und ihrer Ausbildung bei Paul de Man unterscheidet sich Spivaks Werk doch sehr vom amerikanischen Dekonstruktivismus der Yale Schule, für die Dekonstruktion in erster Linie Leseverfahren ist und auch ausschließlich auf Höhenkammliteratur angewandt wird. Nicht ganz zu Unrecht hat Edward Said die Yale Schule und für die ästhetisierende Apathie der Literaturwissenschaft der frühen 1980er Jahre verantwortlich gemacht und damit als Kapitulation vor der ReaganThatcher-Ära gedeutet.6 Anders als die Yale Critics verwendet Spivak Derridas Dekonstruktion, um Debatten über die langfristigen Auswirkungen des Kolonialismus in der Dritten Welt zu vertiefen und die Anwendbarkeit westlicher feministischer Theorien im postkolonialen Kontext in Frage zu stellen. Sie sieht Dekonstruktion als kritisches Korrektiv zu feministischen bzw. mar-

5  Gayatri Spivak, The Postcolonial Critic (edited by Sara Harasym), New York 1990, S. 7.

xistischen Theorien an, als Warnsignal, das uns helfen kann, unsere Denkkategorien immer wieder zu überprüfen und, wenn nötig, auch über Bord zu werfen. Dem Einwand, dass doch gerade diese Selbstreflexion gemäß Derrida

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6  Edward Said, The World, the Text, the Critic, Cambridge (Mass.) 1983.

eine Unmöglichkeit sei, begegnet sie mit einer ebenso ungewöhnlichen wie überzeugenden Analogie: »[…] when we actually brush our teeth, or clean ourselves everyday, or take exercise, we don’t think of it as fighting a loosing battle against mortality, but, in fact, all of these efforts are doomed to failure because we are going to die.«7 Sprich: In letzter Konsequenz kann De­kon­ struk­tion nur scheitern, dennoch wäre es absurd, auf eine De­kon­struk­tion westlicher Philosophien zu verzichten. Alles andere hieße etwa den poststrukturalistischen Feminismus quasi in einer schicken Louis-Vuitton-Tasche nach Indien oder Ghana zu exportieren. Es ist das große Verdienst von Spivak, dass sie dem Feminismus einen »internationalen Rahmen«, so der Titel eines ihrer wichtigsten Essays der 1980er Jahre, gibt.8 Entsprechend hat Spivak auch einen starken Affekt gegen die »Selbstbezogenheit« des europäischen Feminismus jener Dekade, was sich in besonderem Maße in ihrer Auseinandersetzung mit Julia Kristeva zeigt.9 Kristeva schreibe, so Spivak, zwar über das nicht-westliche Andere – über die Chinesinnen10 –, sie tue dies jedoch in erster Linie, um westliche, patriarchale Denkmuster in Frage zu stellen. Ob es in China tatsächlich ein Matriarchat gab, wie Kristeva behauptet, spiele dabei eine untergeordnete Rolle. Ebenso zeige Kristeva nur wenig Interesse an den Frauen im heutigen China. Für Spivak ist jedoch die Gegenwart der Frau im Süden von ganz entscheidender Bedeutung. Noch lange bevor in Europa über Sweatshops und präkarisierte osteuropäische Pflegekräfte diskutiert wurde, zeigt Spivak, dass »unsere« Emanzipation nicht selten auf Kosten von Frauen der sogenannten »Dritten Welt« geschieht: Andere Frauen hüten unsere Kinder, besorgen unseren Hausputz, pflegen unsere Alten. Die (in den meisten Fällen) »weiße« career woman der 1980er Jahre, die in Filmen wie »Working Girl« (dt. »Die Waffen der Frauen«) gefeiert wird, ist auf die mexikanische Putzfrau und die phillippinische Nanny angewiesen. Ein weiterer Aspekt, der Spivak vom Feminismus europäisch-nordamerikanischer Prägung der 1980er Jahre trennt ist, dass sie – hier folgt sie eher Millet oder, noch wahrscheinlicher, Marx – Theorie und Praxis eng mitein7 

Ebd., S. 105.

8  Gayatri Spivak, French Feminism in an International Frame, in: Yale French Studies, Nr. 62/1981, S. 154–84.

ander verzahnt. Spivak ist die Vertreterin einer hierzulande selten gewordenen Spezies der sowohl theoretisch virtuosen als auch politisch engagierten Kämpferin für die Sache der Frauen. Sie arbeitet in der vorlesungsfreien Zeit in der Lehrer_innenausbildung in Bangladesch und Indien. Sie wird in den USA wie auch in Europa von women of color als Vordenkerin und Vor-

9 

Ebd.

10  Julia Kristeva, Des Chinoises, Paris 1974.

kämpferin für die Sache von Migrantinnen und Frauen des globalen Südens angesehen, als sister in struggle, die auf Probleme, Ängste und Hoffnungen von Frauen aufmerksam macht. Spivak brachte damit in den 1980er Jahren Miriam Nandi  — Theoretisch virtuos, politisch engagiert

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Themen aufs Tapet, die in Deutschland erst mit dreißigjähriger Rezeptionsverspätung zum akademischen Thema werden. Es gehört zur Widersprüchlichkeit der Gayatri Spivak, dass sie trotz ihres Status als feministisches Idol einen fast schon aristokratischen Gestus pflegt. Ihre Texte sind anspruchsvoll bis kryptisch, zudem schreibt sie assoziativ gelockert und verzichtet weitgehend auf den verständlichen Einleitungssatz oder die hilfreiche Zusammenfassung. Häufig schwingt ein »die Eingeweihten werden mich verstehen« mit, das so manche_n Leser_in auf die Palme bringt. Auch in ihrem persönlichen Habitus ist Spivak voll und ganz Ivy-LeagueProfessorin, mit allen Privilegien, die dazugehören, und jener perfekt dosierten Selbstironie, die sie nur noch unnahbarer erscheinen lässt. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie einen Raum für sich einnimmt, verblüfft auch diejenigen, die den Umgang mit einflussreichen Frauen gewöhnt sind, und ihre bissige Angriffslust trifft nicht nur Immanuel Kant, sondern nicht selten auch ihre wissenschaftliche Hilfskräfte, die, und das ist wohl mehr als ein Gerücht, es nicht lange bei ihr aushalten. Indes, dies schmälert Spivaks Errungenschaften nicht. Letztlich ist es eine der Lektionen des Feminismus der 1980er Jahre, dass die Idee, Frauen seien kooperativer, sensibler und irgendwie netter als Männer, hochgradig fiktional ist. Zudem hätte Spivak ohne ihren aristokratischen Panzer wohl auch nie den Hauch einer Chance gehabt, den akademischen Diskurs jenes Jahrzehnts so nachhaltig zu prägen, wie sie es getan hat. Spivak hat aufgerüttelt, Debatten angestoßen und provoziert wie kaum eine andere Intellektuelle ihrer Generation. Sie hat die Vertreter des anti-feministischen Backlash und die rassistischen Ewiggestrigen ordentlich, nun ja, eingenordet. Ohne ­Spivak gäbe es möglicherweise keine transnationale Genderforschung – und wenn es sie gäbe, so wäre sie deutlich randständiger als sie ohnehin schon ist.

Dr. Miriam Nandi, geb. 1974, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Englischen Seminar der Universität Freiburg, und Autorin zweier Monografien sowie zahlreicher Artikel über postkoloniale Theorie und indisch-englische Literatur.

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INTENSIVIEREN, UMORDNEN, EXPLIZIEREN VERANTWORTUNG IM PHILOSOPHISCHEN DISKURS ΞΞ Frieder Vogelmann

Verantwortung wurde in den 1980er Jahren zu einem Schlüsselbegriff, weil sie neue Fragen sowohl aufzuwerfen als auch zu beantworten versprach – das eindrücklichste Beispiel dafür ist sicherlich die damals beginnende politische Diskussion über Umweltschutz und Nachhaltigkeit. Aber nicht allein in politischen, auch in den philosophischen Diskussionen gewann Verantwortung in den 1980er Jahren an Prominenz. An drei Brennpunkten, so möchte ich im Folgenden vorführen, erfolgte in den philosophischen Reflexionen eine moralische Intensivierung der Verantwortung, eine Umordnung der Willensfreiheitsdebatte durch Verantwortung und eine Explikation unserer begrifflichen Fähigkeiten durch Verantwortung.1 Diese inhaltliche These wirft allerdings zwei methodologische Fragen auf, die ich nur andeutungsweise entfalten und allenfalls thesenhaft beantworten kann: Wie lässt sich die Philosophiegeschichte der neuesten Vergangenheit schreiben? Und wie lässt sich diese notorisch unscharfe Entität na1  Die folgenden Ausführungen beruhen auf meiner im Herbst erscheinenden Dissertation: vgl. Frieder Vogelmann, Im Bann der Verantwortung, Frankfurt a. M./ New York (i.E.), Kapitel 5.

mens »Verantwortung« fassen? Was die erste Frage betrifft, so werde ich die hier versammelten Bruchstücke aus der Geschichte von Verantwortung in Form einer Genealogie rekonstruieren, d. h. als Erzählung ihrer Wandlungen in den philosophischen Reflexionen. Die damit vorausgesetzte Einheit von

INDES, 2014–1, S. 53–60, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X

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Verantwortung steckt, so die These zur zweiten Frage, in dem mit Verantwortung verknüpften Selbstverhältnis, also in der praktisch-reflexiven Beziehung der Verantwortungsträger_innen zu sich selbst.2 Für alle drei Brennpunkte, die Verantwortung jeweils unterschiedlich reflektieren – als moralisches Problem (I), als metaphysischen Begriff (II) und als Gewissheit ( III) –, werde ich daher sowohl nach der Vorgeschichte zu den in den 1980er Jahren erfolgenden Veränderungen als auch nach der Rolle des verantwortlichen Selbstverhältnisses dabei fragen. I. INTENSIVIEREN Die Intensivierung der moralischen Verantwortung erfolgte in den 1980ern über eine Verallgemeinerung des verantwortlichen Selbstverhältnisses, deren bestes Beispiel Hans Jonas’ »philosophische[r] Bestseller«3 »Das Prinzip Verantwortung« ist. Überzeugt davon, dass »[a]lle bisherige Ethik«4 Verantwortung nicht oder nur im Nahbereich des Handelns als Zurechnung bedacht hat, setzt Jonas ihr seinen als »Sorge« konzipierten Verantwortungsbegriff entgegen, »gemäß dem ich mich […] verantwortlich fühle nicht primär für mein Verhalten und seine Folgen, sondern für die Sache, die auf mein Handeln Anspruch erhebt«5. Jonas erläutert ihn an den Gemeinsamkeiten elterlicher und politischer Verantwortung, wobei er den Säugling für das selbstevidente

2  Dass dieses verantwortliche Selbstverhältnis im aktiven Umgang mit dem Faktum des eigenen Unterwerfens – sowohl dem Faktum des Unterworfen-Seins als auch dem des Unterwerfens anderer wie sich selbst – besteht, ist die Behauptung in Frieder Vogelmann, Verantwortung als Subjektivierung. Zur Genealogie einer Selbstverständlichkeit, in: Andreas Gelhard u. a. (Hg.), Techniken der Subjektivierung, München 2013, S. 149–161. 3  Christoph Hubig, Technikund Wissenschaftsethik. Ein Leitfaden, Berlin 1993, S. 13. 4  Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1983, S. 15.

Beispiel hält, an dem der nicht zu überhörende Anspruch auf Verantwortung deutlich wird.6 Grundlegend ist eine Überkreuzung von Asymmetrien: Während die Zuschreibung von Verantwortung als Anspruch von einem ohnmächtigen Subjekt an ein mächtiges ergeht, wird diese Zuschreibung angenommen, weil der Anspruch ein Verantwortungsgefühl wachruft, das sich

5  Ebd., S. 174. 6  Was nicht bedeutet, dass er tatsächlich erfüllt wird, wie Kindstötungen demonstrieren. Vgl. ebd., S. 234–241.

aus früheren Erfahrungen des Umsorgt-Werdens speist. Denn »die Ur-Verantwortung der elterlichen Fürsorge hat jeder zuerst an sich selbst erfahren«7. Wie wichtig diese affektive Begründung von Verantwortung ist, zeigt sich an Jonas’ wiederholtem Insistieren, dass diese erste Erfahrung, wie Andere Verantwortung für einen selbst übernehmen, »genetisch der Ursprung aller Disposition für sie [die Verantwortung; F. V.], gewiß ihre elementare Schule«

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ist. Weil der Mensch selbst erfahren hat, was es heißt, ohnmächtig und abhängig von anderen zu sein, entwickelt er ein Verantwortungsgefühl, das auf den Appell eines Anderen, Ohnmächtigen, antwortet. Diese extrem verknappte Darstellung fokussiert auf drei Besonderheiten von Jonas’ Verantwortungsbegriff, die in der philosophischen Diskussion seines Buches in den 1980er Jahren immer wieder eine Rolle spielen: die prospektive Verantwortung, ihre Voraussetzung einer doppelten Asymmetrie und ihre affektive Begründung.9 Sie vernachlässigt dagegen einen vierten Punkt,

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7  Ebd., S. 185. 8  Ebd., S. 189, vgl. auch S. 242. 9  Exemplarisch Karl Otto Apel, Verantwortung heute – nur noch Prinzip der Bewahrung und Selbstbeschränkung oder immer noch der Befreiung und Verwirklichung von Humanität?, in: Thomas Meyer u. Susanne Miller (Hg.), Zukunftsethik und Industriegesellschaft, München 1986, S. 15–40; Andreas Roser, »Das Prinzip Verantwortung« und seine Probleme. Kritische Anmerkungen zum Entwurf einer Zukunftsethik (Hans Jonas), in: Prima Philosophia, H. 1/1990, S. 25–53.

der ebenfalls viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat: die zweite, objektive Begründung, in der Jonas dem Sein der Natur ein eigenes Sollen zuspricht.10 Denn einerseits ist für Jonas’ Verantwortungsbegriff das »Wofür« der Ver10  Vgl. besonders Otto Peter Obermeier, Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation (Buchbesprechung), in: Philosophisches Jahrbuch, Jg. 88 (1981) H. 2, S. 426–442. 11  »Die Sache wird meine, weil die Macht meine ist und einen ursächlichen Bezug zu eben dieser Sache hat. Das Abhängige in seinem Eigenrecht wird zum Gebietenden, das Mächtige in seiner Ursächlichkeit zum Verpflichteten. Für das so ihr Anvertraute wird die Macht objektiv verantwortlich und durch die Parteinahme des Verantwortlichkeitsgefühls affektiv engagiert […].«, in: Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 175. 12  So auch Karen Joisten, Die Verantwortung der Eltern und des Staatsmannes in Hans Jonas’ »Zukunftsethik«. Oder: Der Philosoph auf dem Weg zwischen Sinn und Faktum zu einer Verantwortung des Menschen, in: Synthesis Philosophica, Jg. 35/36 (2003) H. 1/2, S. 173–186, hier S. 176 f. 13  Vgl. Richard McKeon, The Development and the Significance of the Concept of Responsibility, in: Revue Internationale de Philosophie, Jg. 39 (1957) H. 1, S. 3–32, hier S. 6–8 u. S. 19–23. 14  John Stuart Mill, An Examination of Sir William Hamilton’s Philosophy and of the Principal Philosophical Questions Discussed in his Writings, Toronto 1979, S. 454. 15  Vgl. Benjamin Constant, Über die Verantwortlichkeit der Minister, übers. von D. G. von Ekendahl, Neustadt a. d. Orla 1831, S. 3. 16  Vgl. ebd., S. 6.

antwortung die begründende Instanz,11 so dass die affektive Begründungsstrategie für Jonas’ Verantwortungsbegriff bedeutsamer ist als seine objektive,12 zumal nur erstere die verbindliche Kraft der Verantwortung erklären kann. Andererseits wird sich gerade an diesen drei Elementen zeigen, dass Jonas’ Verantwortungsdenken einer kontinuierlichen Intensivierung und Moralisierung von Verantwortung zuzuordnen ist, die erst ab Ende des 19. Jahrhunderts überhaupt zum moralischen Problem wird. Zuvor wurde Verantwortung lediglich als metaphysischer Begriff in der heftigen Debatte um die Willensfreiheit gebraucht,13 um die jeweiligen Gegner zu entkräften. Gemäß John Stuart Mills einflussreicher Definition: »Verantwortung bedeutet Strafbarkeit (responsibility means punishability)«14 wurden dabei die Träger_innen von Verantwortung als Angeklagte vorgestellt, denen ihnen überlegene Richter_innen Verantwortung und damit Strafe auferlegten. Wie kam es also zu jener Moralisierung, die Jonas’ fortsetzt? Ihr Anfang ist in den politischen Reflexionen von Verantwortung nach den Revolutionen in den USA und in Frankreich zu suchen, denn dort etabliert sich ein Bild von Verantwortung, das nicht die Verantwortung eines unterworfenen, sondern eines machtvollen Subjekts ins Zentrum rückt. Exemplarisch gelingt dies Benjamin Constants wirkmächtigem Begriff der Ministerverantwortung, den er am Beispiel der Affäre rund um den britischen Abgeordneten John Wilkes auf legale Handlungen der Minister beschränkt.15 In Wilkes’ Zeitschrift The North Briton war am 23. April 1763 eine scharfe Kritik an der Rede von König George III. erschienen, woraufhin Wilkes und alle anderen am Erscheinen der Zeitschrift Beteiligten verhaftet wurden. Nach einer Woche im Tower of London wurde jedoch der vom obersten Staatssekretär Lord Halifax ausgestellte Haftbefehl für illegal befunden und Wilkes und die anderen entlassen. In der Affäre Wilkes stelle sich die Frage der ministeriellen Verantwortung nicht, argumentiert Constant, weil Lord Halifax gegen das Gesetz verstoßen habe und es zur Aufarbeitung nur der gewöhnlichen Justiz bedürfe. Die Verantwortung der Minister vor dem Parlament sei dagegen erforderlich, wenn sie ihre legale Macht »schlecht gebrauchen« – Constants Beispiel ist der Ausnahmezustand, in dem die Habeas Corpus Rechte ausgesetzt und (fast) alle ministeriellen Handlungen legal sind.16 Indem er Verantwortung legalen Handlungen vorbehält und von der Strafbarkeit illegaler Handlungen strikt trennt, kann Constant mit Verantwortung Frieder Vogelmann  — Intensivieren, umordnen, explizieren

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das legale Handeln von Politiker_innen beschränken; ihre Funktion ist es, eine parlamentarische Kontrolle über die Macht zurückzubehalten, die die Bürger_innen der Regierung übertragen haben.17 Daraus folgt eine zweite bemerkenswerte Veränderung im Verantwortungsbegriffs: Weil Verantwortung die missbräuchliche Ausübung legaler Macht betreffe, sei sie nicht juristisch kodifizierbar18 und müsse stattdessen zur dauerhaften Machtbeziehung werden, die die Minister_innen zur Rechtfertigung vor dem Parlament zwinge. Gerade auf die permanente Möglichkeit des Parlaments, von den Minister_ innen eine öffentliche Verteidigung ihrer Handlungen verlangen zu können, kommt es Constant an, denn die politische Verantwortung gewinne ihre Macht aus der Abhängigkeit, die sie dauerhaft etabliere. Sie soll »vor allem zwei Zwecke erreichen: den schuldigen Ministern die Gewalt zu entreißen; und den, in der Nation durch die Wachsamkeit ihrer Vertreter, durch die Öffentlichkeit der Verhandlungen und durch die Ausübung der Preßfreiheit, auf die Zergliederung aller ministerieller Handlungen angewendet, einen Prüfungsgeist [esprit d’examen], ein zur Gewohnheit gewordenes Interesse an der Erhaltung der Staatsverfassung, eine fortdauernde Theilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten, mit einem Worte, ein lebendiges Gefühl des politischen Lebens zu unterhalten«19. Constant klärt nicht, was es für die Minister_innen bedeutet, diesem dauerhaften »Prüfungsgeist« ausgesetzt zu sein, ihre Handlungen also von vornherein unter Berücksichtigung einer später eingeforderten Rechtfertigung reflektieren zu müssen. Diesen Schritt macht Max Weber in »Politik als Beruf« (1918), wenn er das mit der politischen Macht verknüpfte Selbstverhältnis der Politiker_innen als Verantwortung bezeichnet. Abermals hat das Bewusstsein, »daß man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat«20, eine begrenzende Funktion: Es schränkt die Machtausübung ein und soll so die zur Politik Berufenen (und die von ihnen Regierten) vor »den diabolischen Mächten, die in jeder Gewaltsamkeit lauern«21, schützen. Was an dieser gedrängten Genealogie von Verantwortung als moralischem Problem sichtbar wird, ist ihre Herkunft aus einem politischen Begriff, der

17  Wie provokant dieser Vorschlag war, zeigt Lothar Gall, Benjamin Constant. Seine politische Ideenwelt und der deutsche Vormärz, Wiesbaden 1963, S. 256. 18  »Man sieht […], wie trügerisch jede Bemühung seyn wird, ein genaues und vollständiges Gesetz über die Verantwortlichkeit, wie die Criminalgesetze seyn müssen, abzufassen.« In: Constant, Über die Verantwortlichkeit der Minister, S. 25.

Mächtige daran hindern soll, ihre Macht zu missbrauchen. Von Constant eingeführt als institutionelles Verhältnis zwischen Parlament und Minister, wird Verantwortung von Weber subjektiviert und zum Selbstverhältnis aller Politiker_innen verallgemeinert. Diese Intensivierung qua Verallgemeinerung ist es, die Jonas fortsetzt: Auch für ihn ist Verantwortung ein mäßigendes Selbstverhältnis mächtiger Subjekte gegenüber ihnen Unterlegenen – allerdings nochmals intensiviert, insofern nun alle mit Handlungsmacht ausgestatteten Subjekte Verantwortung übernehmen sollen.

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19  Ebd., S. 51, Übersetzung modifiziert. 20  Max Weber, Politik als Beruf, in: Johannes Winckelmann, Gesammelte politische Schriften, Tübingen 1988, S. 505–560, hier S. 552. 21  Ebd., S. 557.

II. UMORDNEN Wie bereits kurz angedeutet, ist der zweite Brennpunkt philosophischer Reflexionen von Verantwortung der Streit um die Willensfreiheit, der in den 1980er Jahren radikal umgeordnet – oder, je nach Blickwinkel, durcheinander gebracht – wurde: »To be sure, there had been some activity in the 1960s that would have struck some observers as ominous. Still, it was not until the 1980s that those initial warning signs gave way to real trouble. The meanings of terms twisted. Hybrid positions appeared. By the late 1980s a landslide had begun […].«22 Was sich verändert habe, so Vargas in seiner kurzen Geschichte der Debatte, sei die steigende Dominanz moralischer Verantwortung in den 1980er Jahren, während dieser Begriff bis dahin wenn auch nicht keine, so doch nur eine geringe Rolle gespielt habe.23 Mindestens teilweise sei das auf Harry Frankfurts Demonstration zurückzuführen, dass moralische Verantwortung vorhanden sein könne, selbst wenn der fragliche Akteur keine Möglichkeit habe, anders zu handeln. In den sogenannten Frankfurt-Beispielen wird ein Akteur – »Jones« – ohne sein Wissen so manipuliert, dass ein Mechanismus ihn zwingt, X statt Y zu tun – jedoch nur, wenn er nicht von sich aus X tut. Doch Jones tut X und der Mechanismus wird niemals aktiv. Also ist Jones für sein Tun von X verantwortlich, obgleich er nicht hätte anders handeln können (dann wäre der Mechanismus angesprungen), da er es aus eigenem Entschluss tat.24 Damit verschob sich das Zentrum der Debatte: Die Frage war nicht mehr, ob Willensfreiheit, unausgesprochen als eine Voraussetzung moralischer 22  Manuel Vargas, The Revisionist Turn: A Brief History of Recent Work on Free Will, in: Jess Aguilar, Andrei A. Buckareff und Keith Frankish (Hg.), New Waves in Philosophy of Action, Basingstoke 2011, S. 143–170, hier S. 143 f.

Verantwortung verstanden, in einer determinierten Welt möglich, sondern welche Art von Willensfreiheit für moralische Verantwortung notwendig sei. Moralische Verantwortung rückte also in den 1980er Jahren ins Zentrum der Willensfreiheitsdebatte und reorganisierte sie gründlich. Dabei spielt das verantwortliche Selbstverhältnis eine entscheidende Rolle, denn es ist das Verständnis von Willensfreiheit als authentisches Selbstverhältnis, das den Frankfurt-Beispielen ihre Durchschlagskraft verleiht. Wurde

23  Vgl. ebd., S. 150 u. S. 152. 24  Harry G. Frankfurt, The Importance of What We Care About. Philosophical Essays, Cambridge 1988, S. 4–8. Einen nuancierten Überblick über die verzweigte Literatur zu den Frankfurt-Beispielen bietet Achim Lohmar, Moralische Verantwortlichkeit ohne Willensfreiheit, Frankfurt a. M. 2005.

Willensfreiheit zuvor überwiegend als Fähigkeit, unter gleichen Umständen anders handeln zu können, und damit als Selbstbestimmung verstanden, tritt mit Frankfurt die Selbstbestimmung in den Vordergrund: Der Akteur muss über seine handlungswirksamen Wünsche bestimmen können, um als moralisch verantwortlich zu gelten. Nicht länger entscheidend ist dagegen, wie er kausal mit der Welt verbunden bzw. nicht verbunden ist. Damit kommt Verantwortung dieselbe Funktion zu, die sie im 19. Jahrhundert innehatte: verschiedene Freiheitsverständnisse zu stützen oder zu Frieder Vogelmann  — Intensivieren, umordnen, explizieren

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untergraben. Dazu diente Verantwortung schon den heute weitgehend vergessenen Diskutanten wie Hugo Sommer, Alois Riehl, Rudolf Eucken, Constantin Gutberlet, Philipp Kneib, Paul Rée oder Theodor Lipps;25 sie entwickelte sich allerdings immer mehr zu dem Preis, den es in der Diskussion zu erringen galt. Beides exemplifizierten Gutberlet und Lipps: Während Gutberlet die Existenz von Willensfreiheit als Selbstbestimmung beweisen wollte, weil von ihr »die sittliche Verantwortlichkeit des menschlichen Handelns und somit das gesammte [sic!] sittliche Leben der Menschheit ab[hängt]«26, und dazu in einem gefährlichen Zirkelschluss die Erfahrung von Verantwortung heranzog, stand für Lipps fest, dass Willensfreiheit als Selbstbestimmung eine Illusion ist. Da die Fähigkeit, unter gleich Umständen anders zu handeln, allenfalls zufällige Handlungen, aber keine Verantwortung garantieren könne (als unverursachte Handlungen können sie auch nicht vom Wollen der Handelnden verursacht sein), fasste er Willensfreiheit als Authentizität, d. h. als Selbstbestimmung: »Freiheit ist […] nichts als der Ausdruck dafür, daß mein Thun durch meine Persönlichkeit verursacht ist […].«27 Verantwortung wird also sowohl in der Anfangsphase der Willensfreiheitsdebatte wie in den 1980er Jahren dazu benutzt, verschiedenen Freiheitsbegriffen Gewicht zu verleihen bzw. ihre Untauglichkeit zu beweisen, sie wird jedoch nicht weiter analysiert. Ihr begrifflicher Gehalt wird aus der moralischen Problematisierung von Verantwortung lediglich übernommen, ohne selbst neu durchdacht zu werden. Pointiert zeigt das eine Bemerkung von Harry Frankfurt über seine eigenen Aufsätze: »A number of essays deal rather closely […] with questions that pertain to the nature and conditions of moral responsibility. This emphasis may be a bit misleading. […] [M]y philosophical attention has for the most part been guided less by an interest in questions about morality than by a concern with issues belonging properly to metaphysics or to the philosophy of mind […].«28 So sehr Verantwortung also in den 1980er Jahren in den Vordergrund tritt und die Willensfreiheitsdebatte gänzlich umordnet, so wenig wird sie darin begrifflich weiterentwickelt. Dabei kommt dem verantwortlichen Selbstverhältnis eine Schlüsselrolle zu, weil es Willensfreiheit als authentisches Selbstverhältnis zu verstehen gestattet. III. EXPLIZIEREN Der dritte Brennpunkt philosophischer Reflexionen von Verantwortung ist unzusammenhängender als die vorigen, weil er den Verantwortungsbegriff nicht selbst zum Problem macht (wie die moralische Intensivierung von Verantwortung) oder wenigstens als zu erringenden Preis versteht (wie

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25  Die Geschichte dieser frühen Debatte ist kaum erforscht; die wichtigsten Darstellungen sind zwei Dissertationen: Leopold Müffelmann, Das Problem der Willensfreiheit in der neuesten deutschen Philosophie, Leipzig 1902 und Franz Georg Kaltwasser, Der Begriff der Willensfreiheit. Eine Auseinandersetzung mit Freiheitsbegriffen seit Kant (Dissertation, Ludwig-Maximilians-Universität 1953). Vgl. dazu Vogelmann, Im Bann der Verantwortung, Kapitel 5.1.2. 26  Constantin Gutberlet, Die Willensfreiheit und ihre Gegner, Fulda 1893, S. 2. 27  Theodor Lipps, Die ethischen Grundfragen. Zehn Vorträge, Hamburg/ Leipzig 1899, S. 245. 28  Frankfurt, The Importance of What We Care About, S. vii.

die Willensfreiheitsdebatte). Stattdessen wird Verantwortung von ihnen als Gewissheit verwendet, um andere philosophische Probleme zu explizieren. H. L. A Harts gescheiterter Versuch, Verantwortung für die Erklärung des Handlungsbegriffs zu nutzen, demonstriert allerdings, wie voraussetzungsreich dieser Gebrauch von Verantwortung ist. Sein 1949 gemachter Vorschlag, Handlungssätze als anfechtbare Zuschreibungen zu verstehen, läuft daraus hinaus, Sätze wie »ich tat es« oder »ihr tatet es« primär als Äußerungen zu verstehen, »mit denen wir Verantwortung [liability] gestehen oder einräumen, Anschuldigungen machen oder Verantwortung [responsibility] zuschreiben«29. Jemanden als einen Handelnden anzusprechen, sei daher nur im Rückgriff auf die damit gemachten Verantwortungszuschreibungen zu erläutern. Angesichts der Einwände gegen diesen Vorschlag – insbesondere, dass er Handlungen moralisiere, Verantwortung fälschlicherweise auf Handlungen statt auf ihre Folgen anwende und ernsthafte Schwierigkeiten mit dem 29  H. L. A. Hart, The Ascription of Responsibility and Rights, in: Proceedings of the Aristotelian Society, Jg. 49 (1949), S. 171–194, hier S. 187, eigene Übersetzung. 30  Vgl. ders., Punishment and Responsibility. Essays in the Philosophy of Law, Oxford 1970, S. v. Dort verweist er auf die Einwände von Peter Thomas Geach, Ascriptivism, in: The Philosophical Review, Jg. 69 (1960) H. 2, S. 221–225 sowie George Pitcher, Hart on Action and Responsibility, in: The Philosophical Review, Jg. 69 (1960) H. 2, S. 226–235. 31  Robert B. Brandom, in: Noûs, Jg. 17 (1983) H. 4, S. 637–650. 32  Ders., Expressive Vernunft, Frankfurt a. M. 2000. 33  Ders., Asserting, S. 640, eigene Übersetzung. 34  Vgl. ebd., S. 637–640; vgl. dazu auch ders., Expressive Vernunft, Kapitel 2.4. 35  Vgl. Kurt Baier, Responsibility and Action, in: Myles Brand (Hg.), The Nature of Human Action, Glenview, IL 1970, S. 100–116.

prädikativen Gebrauch von Handeln habe – zog Hart den Vorschlag jedoch zurück.30 Verantwortung war als Begriff nicht hinreichend ausgearbeitet und wurde noch zu unterschiedlich verstanden, um als unproblematische Gewissheit zum Grundbegriff zu werden. In den 1980er Jahren ist das anders, wie sich an Robert B. Brandoms frühem Artikel »Asserting«31 zeigt, der bereits viele theoretische Grundzüge seines 1994 veröffentlichten opus magnum32 vorwegnimmt. Wie in »Expressive Vernunft« analysiert Brandom hier Behauptungspraktiken als Tätigkeit, bei der die Behauptende sich auf den behaupteten Satz festlegt und andere dazu autorisiert, den Satz unter Verweis auf sie erneut zu behaupten. Insofern entsteht der Sprechakt des Behauptens in einer »besonderen, sozial instituierten, autonomen Struktur aus Verantwortung und Autorität«33. Das Behaupten ist also grundlegend für die Erklärung des propositionalen Inhalts dessen, was man behauptet – das ist Brandoms pragmatistischer Zug. Verknüpft wird das Behaupten mit dem Behaupteten über Inferenzen, die die Behauptungstätigkeit strukturieren und den propositionalen Inhalt konstituieren – das ist Brandoms inferentialistischer Zug, den er bereits hier über Gottlob Freges Frühschriften motiviert.34 Behauptungen haben also propositionalen Gehalt, weil das Vorbringen einer Behauptung eine inferentielle Struktur besitzt; allen voran autorisiert die Behauptende andere, ihre eigene Behauptung zu wiederholen, und übernimmt die Verantwortung, auf Verlangen Gründe für ihre Behauptung zu liefern. Diese »Leistungsverantwortung [task-responsibility]« – ein Begriff von Kurt Baier35 – wird durch Sanktionen wirksam: Wer Behauptungen vorbringt, ohne sie auf Nachfrage begründen zu können, dem wird die Fähigkeit abgesprochen, andere zur Wiederholung seiner Frieder Vogelmann  — Intensivieren, umordnen, explizieren

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Behauptung autorisieren zu können; wem dies wiederholt passiert, dem wird prima facie keine solche Fähigkeit mehr zugeschrieben. Seine als Behauptungen gemeinten Äußerungen verlieren damit den Status von Behauptungen, obgleich sie nach wie vor derselben Tätigkeit entspringen. Hier zeigt sich der sozial-phänomenalistische Zug Brandoms: Nur innerhalb einer Gemeinschaft, die die Tätigkeit des Behauptens als diese Tätigkeit behandelt, kann jemand eine Behauptung aufstellen. Erschließt »Inferenz« den Inhalt von Begriffen, expliziert »Verantwortung« ihre Normativität. Brandom schenkt seinem Grundbegriff allerdings so wenig Aufmerksamkeit, dass er nicht einmal dessen moralisch-juristische Wurzeln bei Baier reflektiert, der Verantwortung ausdrücklich auf gerichtsförmige Situationen bezieht und von solchen öffentlichen Tribunalen Abschreckung und Umerziehung erwartet, wenngleich er resigniert einräumt, dass die dazu notwendige moralische Erziehung kaum noch vorhanden sei. Denn »mit dem Niedergang christlicher Moralerziehung [würden] große Teile unserer Gesellschaft heutzutage keine geeignete moralische Erziehung mehr bekommen«36. Dass Brandom auf einen derartigen Moralbegriff zurückgreifen kann, um ihn zum Grundbegriff einer Explikation des Begrifflichen (und damit auch des Normativen) zu machen, zeigt deutlich, wie unproblematisch Verantwortung und ihr (moralisiertes) Selbstverhältnis in den 35 Jahren seit Harts Vorschlag bereits geworden waren. In den 1980er Jahren stand Verantwortung daher als Gewissheit bereit, um andere philosophische Probleme zu lösen – und konnte sich als derartige Selbstverständlichkeit leicht auch jenseits des philosophischen Diskurses verbreiten.

Dr. Frieder Vogelmann, geb. 1981, studierte Philosophie, Mathematik und Kognitionswissenschaft an der Universität Freiburg und wurde an der Universität Frankfurt am Main promoviert. Seit Herbst 2012 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Interkulturelle und Internationale Studien an der Universität Bremen.

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36  Ebd., S. 102, ­ eigene Übersetzung.

DEMOKRATISIERUNG UND NEOLIBERALISIERUNG DIE 1980ER JAHRE IN LATEINAMERIKA ΞΞ Norbert Ahrens

Wer die Dekade der 1980er Jahre in Lateinamerika aus heutiger Sicht betrachtet, kann der Versuchung kaum widerstehen, sie nur und vor allem von ihrem Ende her zu beurteilen. Der Niedergang der Sowjetunion und damit des gesamten »sozialistischen Lagers«, der im November 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer eingeleitet wurde, hat für den lateinamerikanischen Subkontinent politisch zweifellos erhebliche Vorteile mit sich gebracht. Allein die Tatsache, dass nicht mehr jede sich progressiv gebende, d. h. an sozialer Gerechtigkeit orientierte Organisation oder Partei seit dem Ende des Kalten Krieges automatisch als »Fünfte Kolonne Moskaus« angesehen werden konnte, hat zu einer neuen innenpolitischen Dynamik in vielen Ländern Lateinamerikas und sogar zu einer Reihe linker Regierungen geführt, die nicht mehr so einfach – mit freundlicher Duldung oder Unterstützung Washingtons – weggeputscht werden konnten. Zu Beginn der 1980er Jahre sah das politische Panorama südlich des Rio Grande allerdings noch ganz anders und unter demokratischen Gesichtspunkten sogar ziemlich düster aus. Es lohnt sich daher, einen genaueren Blick auf die Anfangsjahre jener Dekade zu werfen, um zu ermessen, welchen qualitativen Sprung die meisten Länder Lateinamerikas in diesen zehn Jahren gemacht haben. »Demokratisierung« heißt zwar noch nicht, dass sich repressive Militärdiktaturen innerhalb weniger Jahre in makellose, stabile Demokratien umgewandelt hätten. Aber es heißt sehr wohl, dass die große Mehrheit der jeweiligen Bevölkerung der autoritären und Menschen verachtenden Regierungspolitik überdrüssig geworden war. Zu diesen innenpolitischen Motiven gesellten sich externe Gründe, die vor allem mit der zwischen 1975 und 1985 enorm gestiegenen Auslandsverschuldung der meisten lateinamerikanischen Länder zu tun hatten. Im Falle Argentiniens kam der verlorene Falk­land-Krieg gegen Großbritannien noch hinzu. AUTORITÄRE REGIERUNGEN UND MILITÄRDIKTATUREN Chile, Argentinien und Uruguay wurden 1980 von Militärdiktaturen beherrscht, die sich blutig an die Macht geputscht hatten und mit brutaler

INDES, 2014–1, S. 61–69, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X

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Repression ihre Herrschaft zu festigen suchten. Allein die argentinischen Militärs unter General Videla (und danach General Galtieri), die »nur« 6 Jahre (1976 bis 1982) an der Macht waren, hinterließen u. a. etwa 30.000 spurlos Verschwundene. Viele von ihnen wurden, wie wir heute aus Zeugenaussagen in den wenigen stattgefundenen Prozessen wissen, auf grausamste Weise umgebracht, z. B. bei lebendigem Leibe aus großer Höhe aus Flugzeugen oder Hubschraubern ins Meer geworfen. Genau wie in den Nachbarländern Chile und Uruguay diente den argentinischen Militärs die Ideologie der »Nationalen Sicherheit« als Rechtfertigung für ihre Verbrechen. Alle Regimegegner – insbesondere Gewerkschafter, Studenten, Intellektuelle und Angehörige linker Parteien – wurden als »Subversive« eingestuft und zur Gefahr für die Nationale Sicherheit erklärt. Damit wurden sie zum Freiwild für die verschiedenen zivilen und militärischen Geheimdienste, die mitunter um die höhere Anzahl zur Strecke gebrachter »Subversiver« wetteiferten. Diese Ideologie der Nationalen Sicherheit bildete die Grundlage für eine enge Zusammenarbeit der Geheimdienste Argentiniens, Chiles und Uruguays. Zu ihnen gesellte sich als Vierter im Bunde der Geheimdienst Paraguays, wo General Alfredo Stroessner seit 1954 mit eiserner Faust regierte. Man gab dem gemeinsamen Unternehmen den Decknamen Operación Condor, womit der größte Aasfresser unter den Vögeln, ohnehin Wappentier mehrerer Andenstädte und -regionen, abermals zu zweifelhaften Ehren kam. Bolivien und zeitweilig auch Brasilien schlossen sich der Operación Condor an. Brasilien, das mit Abstand größte Land Lateinamerikas, befand sich 1980 nach eigenen Angaben bereits »auf der Rückkehr zur Demokratie«, wurde aber bis 1982 noch von einem General (Figuereido) regiert und konnte seinen langen Rückweg erst 1985 durch eine neue Verfassung beenden. Bolivien, Weltrekordhalter hinsichtlich der Zahl der Militärputsche, wurde 1980 von einer Militärjunta unter General Luis Arce Gomez regiert, nachdem sich in den zehn Jahren zuvor die Generäle Hugo Banzer und Garcia Meza unter den Militärdiktatoren des Kontinents einen Namen gemacht hatten. Erst 1982 fanden, nach mehr als einem Jahrzehnt, wieder (einigermaßen integre) Präsidentschaftswahlen statt. In einer Reihe anderer lateinamerikanischer Staaten regierten zu Beginn der 1980er Jahre zwar gewählte Präsidenten, aber aufgrund innerer Konflikte, die in zunehmendem Maße mit Waffengewalt ausgetragen wurden, ging die eigentliche Macht immer mehr an die Militärs. Dies galt besonders für Peru, das sich u. a. mit der wohl brutalsten Guerillabewegung in Lateinamerika auseinanderzusetzen hatte, dem »Leuchtenden Pfad« (Sendero Luminoso). Aber auch El Salvador, wo nach der Ermordung des Erzbischofs der

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Hauptstadt, Oscar Arnulfo Romero, im März 1980 ein Bürgerkrieg zwischen Regierungstruppen und der FMLN (Frente Farabundo Martí para la Liberacion Nacional) begann, der bis 1992 andauern und mindestens 80.000 Menschenleben kosten sollte, gehört in diese Reihe. In Guatemala, dem Land mit dem höchsten Indio-Anteil in Lateinamerika, gab es seit den späten sechziger Jahren vier Guerillagruppen, darunter das Ejercito Guerrillero de los Pobres ( EGP, übersetzt: Guerilla-Armee der Armen), die die Regierungstruppen bekämpften und staatliche Einrichtungen angriffen. Sie alle bevorzugten die klassische Guerillataktik der überraschenden Angriffe und des schnellen Rückzuges. Da sie sich fast ausschließlich aus Indios rekrutierten, rächten sich die Regierungstruppen (ebenfalls mehrheitlich Indigene) durch willkürliche Massaker an der indianischen Landbevölkerung, wobei mehrfach ganze Dörfer niedergebrannt und die Bewohner, Männer, Frauen und Kinder, ermordet wurden. Rigoberta Menchú, eine Maya-Frau aus Chimel im Departement Quiché, avancierte in dieser Zeit zur mutigen Sprecherin ihres Volkes, indem sie an die Weltöffentlichkeit ging, um auf die Verbrechen an ihren Landsleuten aufmerksam zu machen. Sie erhielt dafür 1992, im Alter von nur 33 Jahren, den Friedensnobelpreis. Auch Venezuela muss in dieser Zeit, wenngleich in etwas geringerem Maße, zu den verdeckten Militärdiktaturen gerechnet werden. Präsident Perez ließ mehrere Aufstände blutig niederschlagen, darunter den eines gewissen Oberst Hugo Chavez. Sechs Jahre später jedoch, nachdem er die Bewegung »La Quinta Republica« (Die Fünfte Republik) gegründet hatte, gelang Chavez ein deutlicher Sieg bei den Präsidentschaftswahlen, den er noch zweimal mit jeweils höherem Stimmenanteil bestätigen konnte. Zu Beginn der 1980er Jahre gab es eigentlich nur zwei Staaten in Lateinamerika, die halbwegs mit den klassischen westlichen Demokratien wie England, Frankreich, den USA oder der Schweiz vergleichbar waren: Costa Rica – und Ecuador. Costa Rica erlebte zumindest im 20. Jahrhundert einen wesentlich ruhigeren Geschichtsverlauf als seine Nachbarländer, konnte es sich sogar leisten, 1949 durch eine Verfassungsänderung die Armee abzuschaffen und nur eine kleine Polizeitruppe zu behalten. Und Ecuador war es nach mehreren Militärdiktaturen schon 1978 gelungen, zu einer demokratischen Verfassung zurückzukehren. Es war also das erste lateinamerikanische Land, das sich noch am Vorabend der 1980er Jahre aus eigener Kraft der Militärdiktaturen hatte entledigen können. Cuba und Nicaragua bilden zwei Ausnahmen, die gleichwohl sehr viel mit dem zu tun haben, was sich in Lateinamerika an Vorstellungen von Demokratie entwickeln sollte. Sowohl die Sandinisten in Nicaragua (1979) als auch Norbert Ahrens  — Demokratisierung und Neoliberalisierung

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zwanzig Jahre früher Fidel Castro in Cuba waren durch bewaffneten Kampf an die Macht gekommen, hatten aber – nicht zuletzt aufgrund der massiven Gegnerschaft der USA – keine stabilen wirtschaftlichen Bedingungen für ihre Bevölkerung schaffen können. Besonders Cuba gilt trotzdem für die Masse der ärmeren Lateinamerikaner – insbesondere, wenn sie ihre eigene Situation mit jener der Cubaner vergleichen – als leuchtendes Vorbild. In keinem anderen Land Lateinamerikas sind Gesundheits- und Erziehungswesen so effektiv wie in Cuba – für die gesamte Bevölkerung. Cuba hat die niedrigste Analphabetenquote des Kontinents und der Zugang zum Gesundheitswesen ist nach wie vor kein Privileg für nur einen kleinen Teil der Bevölkerung. Auf diese Weise hat Castro-Cuba alle Politiker, Intellektuelle und den politisch denkenden Teil der Lateinamerikaner ständig daran erinnert, dass zu den demokratischen Grundrechten nicht nur die individuellen Freiheitsrechte, an denen es in der Tat in Cuba mangelte (und noch heute mangelt – trotz einiger vorsichtiger Reformen), sondern auch die sozialen Rechte wie Gesundheit, Bildung, Arbeit u. a. gehören. Ohne diesen Einfluss sähen die gegenwärtigen Verfassungen von Ecuador, Venezuela oder Bolivien (wo sogar das »gute Leben«, buen vivir, für jeden Bolivianer Verfassungsrang hat) sicher anders aus. Das große Mexico ist wiederum das einzige Land des amerikanischen Kontinents, welches den Cuba-Boykott der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) – mehr oder weniger erzwungen durch die USA – nicht unterschrieben und als einziges Mitgliedsland der OAS eine ständige Linienflugverbindung mit Havanna aufrechterhalten hat. Vor der UNO, der OAS und auf allen internationalen Konferenzen ist Mexico immer als Verteidiger der autonomen Rechte seiner lateinamerikanischen Nachbarn aufgetreten. Im Innern dagegen war das größte spanischsprachige Land der Erde über viele Jahrzehnte hinweg und bis in die 1980er Jahre hinein ein verkrustetes, autoritäres und korruptes Einparteien-Regime. Die seit über sechzig Jahren regierende »Partei der Institutionalisierten Revolution« ( PRI) hatte sich auf den Lorbeeren der Verfassung von 1917 (als Ergebnis der mexikanischen Revolution), ausgeruht und schreckte gelegentlich auch nicht davor zurück, besonders unliebsame Oppositionelle, unbequeme Journalisten oder Intellektuelle zu liquidieren. Erst gegen Ende der 1980er Jahre erhob sich ein breiter werdender Widerstand (angeführt von der Tageszeitung La Jornada), der schließlich 1997 zur Abwahl des PRI-Kandidaten und zum Ende der PRI-Alleinherrschaft führte. Das widersprüchlichste Land des amerikanischen Kontinents war und ist Kolumbien. Seit seiner Unabhängigkeit (1819) hat es nur zwei kurze Phasen von Militärdiktaturen erlebt, hat also gewissermaßen die längste demokratische

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Tradition aller Länder Lateinamerikas vorzuweisen. Und trotzdem haben politische Konflikte und mehrere über Jahre dauernde Bürgerkriege in keinem anderen Land so viele Menschenleben gefordert wie hier. In den 1980er Jahren gab es zeitweilig bis zu fünf Guerillagruppen, die größte darunter die von der Sowjetunion unterstützte FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia). Als die M-19-Guerilla, die sich größtenteils aus Studenten rekrutierte, Anfang November 1985 den Justizpalast in Bogotá besetzte, stürmte das Militär das Gebäude, wobei es mehr als einhundert Tote gab, darunter 16 der 20 Obersten Richter des Landes. In Kolumbien gab es aber auch den katholischen Priester und Soziologieprofessor an der Universität von Medellin, Camilo Torres, der bereits in den sechziger Jahren den Satz propagierte: »Der bewaffnete Aufstand ist in Kolumbien ein Gebot der christlichen Nächstenliebe!« Der erzkonservative höhere Klerus war schockiert. Dabei hatte Torres doch nichts anderes getan als die mittelalterliche Lehre des Thomas von Aquin zu modernisieren: Tyrannenmord und bewaffneter Aufstand gegen die mächtige Oligarchie (die nicht zu einer auch nur geringfügigen Landreform zu bewegen war) als ultima ratio. Und das in einem Land, in dem die Gewalt immer wieder, auch bei kleineren Konflikten, das erste und einzige Mittel der Wahl war. Torres hatte damit aber auch im »katholischen Kontinent« die moralische Rechtfertigung für alle Guerilla-­ Bewegungen in Lateinamerika gegeben. Kolumbien ist zudem das einzige Land Lateinamerikas, für das die 1980er Jahre einen deutlichen Rückschritt brachten. Es ist in dieser Zeit nicht nur zum weltweit größten Kokain-Lieferanten und Drogenumschlagplatz geworden, was das ohnehin vorhandene Gewaltpotenzial noch erheblich steigerte, sondern das Jahrzehnt sah auch die Entstehung und Ausbreitung der Paramilitärs. Ursprünglich als »Selbstverteidigungsgruppen« – gegen die Guerilla – der Landoligarchie gegründet und von den Großgrundbesitzern ausgerüstet und finanziert, verselbstständigten sie sich im Laufe der Jahre und wurden erst heimlich, dann offen vom Staat unterstützt. Noch heute hat besonders die kolumbianische Landbevölkerung – nach der nur halbherzigen Demobilisierung durch Präsident Alvaro Uribe – unter ihnen zu leiden, da sie als bandas criminales, kriminelle Banden, ganze Landstriche terrorisieren. Viele politisch Verfolgte aus Lateinamerika mussten seit den siebziger Jahren ins Exil gehen, wo sie demokratische Gepflogenheiten und Umgangsformen kennen- und schätzen gelernt haben. In den Ministerien und Staatskanzleien von Santiago, Lima und Buenos Aires sitzen heute nicht wenige dieser einstigen Exilanten, die z. T. in ihren Exilländern studieren konnten. Norbert Ahrens  — Demokratisierung und Neoliberalisierung

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SCHULDENKRISE, NEOLIBERALISMUS UND DIE FOLGEN Im August 1982 verkündete der mexikanische Wirtschaftsminister Silva Herzog der erstaunten Weltöffentlichkeit, dass sein Land kurz vor dem Staatsbankrott stehe und sofort seinen Schuldendienst (Zinsen und vereinbarte Tilgungsraten) an die internationalen Kreditinstitute einstellen werde. Wenn man sich vor Augen führt, dass gut 25 Jahre später der Zusammenbruch einer einzigen Privatbank zu einer internationalen Finanzkrise führen sollte, wird man in etwa ermessen können, welche Turbulenzen der Bankrott der Volkswirtschaft eines ganzen Landes mit rund einhundert Millionen Einwohnern auf den weltweiten Finanzmärkten verursacht hätte. In Washington und London, in Paris und Bonn, Zürich und Tokio schrillten die Alarmglocken. Die Finanzminister der westlichen Industrieländer kratzten buchstäblich ihre letzten Milliarden zusammen, um Mexico vor der vollständigen Zahlungsunfähigkeit zu retten. Es gelang in letzter Minute. Als einige Zeit später Peru und Argentinien ebenfalls ihren Schuldendienst einzustellen drohten, war man bereits besser vorbereitet. Wie aber hatte es zu dieser enormen Schuldenkrise Lateinamerikas überhaupt kommen können? Nach der Erdölkrise des Jahres 1973 waren die Rohölpreise enorm angestiegen, so dass die erdölexportierenden Ländern (darunter auch Venezuela) sehr bald enorme Geldreserven (»Petro-Dollar«) anhäuften, die sie bei internationalen Banken investierten. Diese vergaben die Gelder als Kredite vor allem an lateinamerikanische Länder, die sie einerseits in ihre Industrialisierung steckten, wie etwa Argentinien, Mexico und Brasilien, andererseits aber zur Aus- und Aufrüstung ihrer Armeen – gegen die inneren Feinde – verschleuderten. Die Kreditinstitute, nicht selten von ihren Regierungen unterstützt, schwatzten die Kredite den autoritären Regierungen Lateinamerikas zu sehr günstigen Konditionen oftmals regelrecht auf. Sie wurden zunächst mit einer zeitlich befristeten (Niedrig-)Zinsbindung vergeben. Als diese verstrichen war, die Zinsen erheblich anstiegen und die Laufzeit der Kredite nicht verlängert wurde, nahm die Krise ihren Lauf. Von 1975 bis 1982 stiegen die Gesamtforderungen der kommerziellen Banken an die lateinamerikanischen Länder jährlich um über zwanzig Prozent. Beliefen sich diese 1975 noch auf insgesamt 75 Milliarden US-Dollar, so wuchsen sie bis 1983 auf 315 Milliarden US-Dollar an. Das entsprach etwa der Hälfte des Bruttoinlandsproduktes ( BIP) des ganzen Subkontinents. Ohne Zweifel hat die lateinamerikanische Schuldenkrise zum Sturz einiger autoritärer Regierungen beigetragen. Die argentinische Militärdiktatur kapitulierte im Juni 1982 nicht nur vor den britischen Truppen auf den Falkland-Inseln, sondern auch vor dem gewaltigen Schuldenberg, den sie angehäuft hatte.

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Im Nachbarland Chile hingegen bot sich ein gänzlich anderes Bild. General Pinochet hatte sich geradezu zum Musterknaben der Weltbank und der internationalen Kreditinstitute entwickelt. Er zahlte pünktlich seine Schulden, erfüllte alle geforderten Auflagen und folgte als Erster dem Rat aus den USA , in seinem Land eine neoliberale Wirtschaftspolitik zu installieren. Dazu lud er Professor Milton Friedman von der Universität Chicago, den Hauptvertreter der neoliberalen Schule, nach Chile ein, der 1976 den von der Schwedischen Reichsbank gestifteten Pseudo-Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhalten hatte. Friedman fand in Chile beinahe Laborbedingungen vor. Denn im Gegensatz zur Reagan-Administration in den USA und zur Thatcher-Regierung in Großbritannien, die fast zeitgleich auf den neoliberalen Kurs eingeschwenkt waren, hatte es Pinochet weder mit einer starken Opposition noch mit renitenten Gewerkschaften zu tun. Die Chicago Boys (einige der engsten Berater Pinochets hatten bei Friedman studiert) bestimmten fortan den Kurs der chilenischen Wirtschaft – mit zwei unterschiedlichen Ergebnissen. Die makroökonomischen Daten ( BIP, Exporte und Wirtschaftswachstum insgesamt) Chiles erlebten besonders seit 1985 einen wahren Höhenflug, der fast bis zum Ende des Jahrhunderts anhalten sollte. Nach innen jedoch sorgten die beiden neoliberalen Hauptforderungen – Drosselung der Staatsausgaben und freier Warenverkehr bei starker Herabsetzung oder gar Abschaffung der Zölle – für eine drastische Verschlechterung der sozialen Lage. Die Durchschnittslöhne sanken, die Einkommensungleichheit wurde verschärft, die Zahl der Arbeitslosen stieg, ebenso der Anteil der unter der Armutsgrenze lebenden Chilenen. Die chilenische Textilindustrie beispielsweise, die sich zu etwa 85 % in der Stadt Tomé (30 km nördlich von Concepción) konzentrierte, wurde durch die Einfuhr der Billigprodukte aus den asiatischen »Tigerstaaten« Südkorea, Taiwan und Singapur besonders hart getroffen. Während im März 1981 noch rund 15.000 Textilarbeiter beschäftigt waren, hatten im Mai 1981 nur noch knapp 900 einen Arbeitsplatz. Rund 8000 Familien (da in etlichen Familien mehrere Personen in den Textilfabriken beschäftigt waren) blieben über Nacht ohne Einkommen. Und hätten nicht, von ausländischen Hilfsorganisationen unterstützt und von chilenischen Frauenverbänden, (verbotenen) Gewerkschaften sowie Kirchengemeinden organisiert, die sogenannten Volksküchen (ollas populares) sofort ihre Arbeit aufgenommen, wäre es hier unweigerlich zu einer regionalen Hungersnot gekommen. Zu einem Zeitpunkt, als eigentlich eine aktive Sozialpolitik des Staates erforderlich gewesen wäre, hatte dieser seine Sozialausgaben gerade zusammengestrichen (im Gesundheitswesen um 33, im Erziehungswesen sogar um 37 Prozent). Norbert Ahrens  — Demokratisierung und Neoliberalisierung

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Wer dieses Elend, und sei es nur als ausländischer Reporter, einige Tage lang miterlebt hat, wird zukünftig schwer von den Vorzügen des Neoliberalismus zu überzeugen sein. Aber nicht nur Teile der Industrie waren betroffen. Die kleinen und mittleren Weinbauern Chiles etwa wurden unvermittelt von Billigweinen des Erzrivalen Argentinien in die Knie gezwungen. Sie mussten ihre Weingüter z. T. an spanische und französische Marktführer verkaufen (Miguel Torres, Rothschild, Grand Manier u. a.), die ihre internationalen Marktstrategien gleich mitbrachten. Seit Mitte der 1980er Jahre gibt es in jeder deutschen Supermarktkette mindestens eine chilenische Rotweinmarke zu kaufen. Sogar die chilenischen Maisproduzenten waren betroffen. Der aus den USA importierte Futtermais (für Rinder-, Schweine- und Hühnerfarmen) war

plötzlich billiger zu haben als der chilenische. 1982/83 kam es in mehreren Städten Chiles zu öffentlichen Protesten gegen die rigide Wirtschaftspolitik. Vor allem Frauen gingen auf die Straße und schlugen mit Löffeln und Gabeln auf die leeren Kochtöpfe (cacerolazo). Die Hardliner unter den Chicago Boys wurden nach und nach durch moderatere Vertreter des Neoliberalismus ersetzt. Spätestens ab 1985, als der Harvard-Absolvent Hernan Büchi zum chilenischen Finanzminister ernannt wurde, sprach man vom »pragmatischen Neoliberalismus«. Das Beispiel Chile wird dabei zuweilen bis heute gleichermaßen von Gegnern wie Befürwortern herangezogen, wenn es die Nachteile oder Vorzüge des Neoliberalismus – der sich inzwischen auch in andere lateinamerikanische Länder ausgebreitet hat – zu beweisen gilt. Der erste demokratisch gewählte Präsident Chiles nach Salvador Allende, der Christdemokrat Patricio Aylwin, behielt den abgemilderten neoliberalen Kurs übrigens bei und setzte damit das unter Pinochet begonnene Wirtschaftswachstum (vor allem dank steigender Exporterlöse) fort. Der alternde Diktator hatte sich 1988, offenbar in der festen Überzeugung, noch genügend Rückhalt bei einer Mehrheit der Chilenen zu haben, einem Plebiszit über die Verlängerung seiner Amtszeit gestellt. Aber 55 Prozent der Chilenen stimmten mit Nein. Insofern waren es schließlich die breiten Massen, die an den »Nationalen Protesttagen« 1983 und 1984 auf die Straße gingen (bis zu eine Million Menschen in Santiago) und 1988 im Plebiszit für den Sturz Pinochets sorgen sollten. Ende 1989 trat der gewählte Nachfolger sein Amt an. So war am Ende der Dekade auch die letzte Militärdiktatur beendet worden, nachdem General Stroessner in Paraguay bereits im März 1989 vom eigenen Militär ins brasilianische Exil geschickt worden war. Zweifellos kennt die jüngere lateinamerikanische Geschichte einige charismatische Oppositionsanführer; besonders herzuheben wären sicherlich

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Luiz Ignacio Lula da Silva in Brasilien, Vorsitzender der mächtigen Metallarbeitergewerkschaft, der 2003 zum Staatspräsidenten gewählt wurde, Rigoberta Menchú in Guatemala, die jedoch mit ihrer eigenen Präsidentschaftskandidatur kläglich scheiterte, und der chilenische Sozialist Ricardo Lagos, der seit 1983 zum mutigen Sprecher der Opposition wurde, indem er Pinochet vor allem in den Medien mehr und mehr kritisierte. Er wurde dafür im Jahr 2000 mit der Präsidentschaft belohnt und zum ersten sozialistischen Präsidenten Chiles nach Salvador Allende. Gleichwohl: Ganz im Gegensatz zur lateinamerikanischen Tradition des caudillismo haben in den meisten Ländern nicht einzelne charismatische Führungspersönlichkeiten für den Umschwung gesorgt, sondern die breiten Massen selbst, die ihre Angst in den langen Jahren der Unterdrückung allmählich verloren hatten und immer mehr zu aktiven Protesten übergegangen waren.

Norbert Ahrens, geb. 1939 in Berlin, Studium (Geschichte, Soziologie, Politische Wissenschaft) in Münster und Berlin, arbeitete ab 1974 als freier Journalist, später als HörfunkRedakteur beim SFB mit dem Arbeitsschwerpunkt Lateinamerika. 1990/91 war er ARD-Hörfunk-Korrespondent in Mexiko, seit 1992 bei der Deutschen Welle u. a. Leiter der spanischsprachigen Hörfunkprogramme. Er veröffentlichte neben zahlreichen Hörfunk- und Fernsehbeiträgen sowie Artikeln in Fachzeitschriften zuletzt den Roman »Podewins Verfolgung«, Kulturmaschinen-Verlag, Berlin 2013.

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BURNING BOOKS IN BAGGY PANTS DAS BRITISCHE JAHR 1989, RUSHDIES »SATANISCHE VERSE« UND DER EUROPÄISCHE ISLAM 1 ΞΞ Nicole Falkenhayner

Erinnert man sich heute an die Affäre um Salman Rushdies Roman »Die Satanischen Verse«, die sich 1989 entspann, ruft unser soziales Gedächtnis gleichzeitig Ereignisse wie den 11. September 2001, den Mord an dem niederländischen Filmemacher Theo Van Gogh oder die islamistischen Anschläge in Madrid und London auf. So erscheint es auf den ersten Blick nur folgerichtig, dass vor allem in der Öffentlichkeit Großbritanniens die »Rushdie-Affäre« als nunmehr historisches Ereignis in den letzten Jahren einen Bedeutungszuwachs erhalten hat. Sie stellt das Eröffnungsmoment eines gesellschaftlichen Diskurses dar, in dem kulturelle Grenzen innerhalb der offenen Gesellschaften Westeuropas neu gezogen wurden. Vor allem für Großbritannien bedeutet der Diskurs um Islamismus einen Paradigmenwechsel in der öffentlichen Selbstwahrnehmung, im Zuge dessen man einen Teil der eigenen multikulturellen Jugend, zusammen mit dem multikulturellen Selbstverständnis, verloren hat. Doch beginnen wir mit einer Rekonstruktion der Rushdie-Affäre 1989: Im Jahr 1988 kündigt der Penguin Verlag die anstehende Veröffentlichung des neuen Romans von Salman Rushdie groß an. Rushdie ist zu diesem Zeitpunkt bereits eine international bekannte Persönlichkeit und vor allem in der britischen und indischen Gesellschaft als kritische Stimme bekannt. Das advance marketing der Veröffentlichung der »Satanischen Verse« trägt dazu bei, dass das Buch bereits zwei Wochen nach Veröffentlichung im Herbst 1988 in Indien verboten wird, und zwar auf Grundlage der dortigen Blasphemiegesetze: Der Roman sei eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit, er beleidige den Islam. Rushdie ist außer sich und antwortet mit scharfen Angriffen gegen die religiösen und staatlichen Würdenträger des indischen Staates. Gänzlich unbegründet ist die Befürchtung der indischen Regierung indes nicht: Bei mehreren Massendemonstrationen von aufgebrachten Rushdie-Gegnern in Pakistan, Kashmir und Mumbai kommt es trotz des Verbotes zu Hunderten von Toten. Zur gleichen Zeit beginnen transregionale Netzwerke zwischen südasiatischen Muslimen und britischen Moscheegemeinden mit dem

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INDES, 2014–1, S. 70–74, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X

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1  Die Verfasserin dankt Bettina Korintenberg für Ihre Unterstützung bei der sprachlichen Überarbeitung des Textes.

Austausch von Übersetzungen der strittigen Passagen des Buches in Urdu. In Großbritannien entwickelt sich eine Protestbewegung gegen das Buch innerhalb des muslimischen Teils der südasiatischen Minderheit und, was zentral ist: Es ist die erste nationale Protestbewegung muslimischer Gruppen. Viele Verbände gründen sich ad hoc und nur zum Zweck des Protestes gegen das Buch. Schnell aber werden die Gruppen zu Sammelplätzen eines grundlegenden Diskriminierungsgefühls von muslimischen Briten. Was Beobachter damals erstaunt, ist vor allem die große Anzahl junger Muslime, die zusammen mit den Altvorderen demonstrieren. Was, so schreibt ein Journalist des Guardian verwirrt, bringt einen coolen Jungen in Lederjacke und Sonnenbrille dazu, Blasphemiegesetze zu fordern? Am 14. Januar 1989 schließlich erscheint die muslimische Protestbewegung mit einer großen symbolischen Geste unübersehbar auf der Bildfläche der britischen Öffentlichkeit: Vor dem Rathaus der nordenglischen Stadt Bradford verbrennt eine Gruppe muslimischer Demonstranten ein Exemplar der »Satanischen Verse«. Die nationale Presse ist eingeladen worden. Das Medienereignis funktioniert und produziert ein symbolisches Bild: das brennende Buch. Mit diesem Bild sind nun die Schleusen für eine rhetorische Konfliktdebatte geöffnet, aus der die kulturalistische Frontstellung zwischen »dem Islam« und »der europäischen Kultur« wie ein Kastenteufel aufspringt. Der britische Bildungsminister geht in einem offenen Brief in der Times so weit, britische Muslime mit den Nazis zu vergleichen. Dort hätte man schließlich auch Bücher verbrannt, und wie schon Heinrich Heine gesagt hätte, wo Bücher brennen, brennen bald auch Menschen.2 Die rhetorische Kontraktion von brennenden Büchern und brennenden Menschen wird zwanzig Jahre später mit Relevanz aufgeladen werden: Als sich die britische Öffentlichkeit im Jahr 2009 der Rushdie-Affäre in Büchern, Filmen und Dokumentationen erinnert, interpretiert sie diese als Anfang einer Radikalisierungsentwicklung, die – quasikausal – in die terroristischen Anschläge von 2005 in London mündete. Bei genauerer Betrachtung der Verhältnisse muss jedoch klar werden, dass die einzige Kausalität in diesem Fall die der symbolischen Kontraktion ist: Das brennende Buch und die Explosion der terroristischen Bombe haben vor allem eine bild-sprachliche Affinität, die sich hervorragend eignet, um die Geschichte der islamischen Radikalisierung in Großbritannien zu erzählen. Aber ich greife vor. Wir müssen noch einen kurzen Moment im Jahr 1989 2  Kenneth Baker, A plea from Education Secretary Kenneth Baker to the book-burners. Argument before arson, in: The Times, 30. 01. 1989.

verweilen. Denn nachdem bereits in Indien Proteste stattgefunden haben und die britische Öffentlichkeit den Islam im eigenen Land entdeckt und gleichzeitig zurückweist, wird die Rushdie-Affäre von einer britisch-indischen Problematik zu einem internationalen außenpolitischen Problem: Der iranische Nicole Falkenhayner  —  Burning Books in Baggy Pants

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Ayatollah Khomeini verurteilt Salman Rushdie zum Tode. Er ruft »alle Muslime« auf, den »Abtrünnigen« zu töten. Damit nimmt Khomeini eine Weltreligion in die Sippenhaft seiner totalitären, rückwärtsgewandten Auffassungen, in die Sippenhaft des Systems Iran. Die Arabische Liga weist die fatwa weit von sich, aber es ist bereits zu spät: Die Öffentlichkeiten der westlichen Staaten haben Khomeinis Köder geschluckt. Nur zu gerne springen vor allem Mitterand und Kohl auf die Plattform auf, die Khomeinis Provokation ihnen bietet. Sie erklären sich zu Verteidigern der Menschenrechte und ziehen – zur Irritation des Vereinigten Königreichs, das zunächst versucht, Khomeini zumindest politisch zu ignorieren – ihre Gesandten aus Iran ab. Zum Schaden der Muslime in Europa funktioniert in den westlichen Öffentlichkeiten auch Khomeinis Anspruch, für den »Islam an sich« zu sprechen: Journalisten wie Scholl-Latour bis zu Feministinnen wie Faye Weldon erklären ausführlich, warum Islam und Demokratie nicht zusammenpassen, dass der Islam immer noch im Mittelalter feststecke, damit rückwärtsgewandt, dunkel sei. Schlimm für die britischen Muslime: Selbsternannte Fürsprecher erscheinen auf der Bildfläche, die sich mit ihrer Zustimmung zu Khomeini öffentlich zitieren lassen. Damit ist auch hier eine weitere Kontraktion der Verhältnisse rhetorisch vollzogen worden, die auf das image britischer Muslime negativ zurückspiegelt. Mitten in diesem symbol- und gesellschaftspolitischen Aufruhr gehen Jungs in Aston-Villa-T-Shirts weiter gegen Blasphemie demonstrieren. Aktivisten der marxistischen AYM, der Asian Youth Movement, entdecken plötzlich den Islam für sich – und einige von Ihnen stehen wenige Jahre später bewaffnet im zerbrechenden Jugoslawien, um Glaubensbrüder zu sühnen. Wenn sie auch in den letzten Jahren als homegrown bombers kanonisiert wurden – in das Bild der 1980er scheinen die jungen Islamisten nicht zu passen. Im Mainstream der britischen Jugendkultur passiert gerade in den Jahren 1988 und 1989 etwas ganz anderes: Es ist der große Aufschwung der RaveKultur. Eine ganze Generation verliert sich in einer Mischung aus elektropsychedelischen Klängen, die Ältere aus Ibiza eingeschleppt haben und britische Musiker weiterentwickeln. Unter massivem Ecstasy-Einfluss gibt man sich einem zweiten Summer of Love hin. Rave ist aber eigentlich kein HippieRevival. Die Rave-Kultur, ähnlich wie die sich aus ihr entwickelnde Techno-Kultur, ist post-politisch, gewollt naiv und berauscht. Die Botschaften der Pop-Musik dieser Zeit beschreiben den Effekt der signature drug wohl mehr als ein politisches Ziel: »I wanna go higher«3, »I wanna be adored«4 – die Alltagsrealität, wie es der britische Rapper Rick Birch von den Stereo MCs formuliert, ist ein dunkles Loch.

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3  Stereo MCs, »elevate my mind« 1989 (Song). 4th & Broadway, Rick Birch, Nick Hallam. 4  Stone Roses, »I wanna be adored« 1989 (Song). Silvertone, Ian Brown, John Squire, Alan Wren, Gary Mounfield.

Es ist diese jugendkulturelle Atmosphäre, in der man auch mit Pilotenbrille und baggys gegen Blasphemie demonstriert. Der Kurzschluss, der oft zwischen der Rushdie-Affäre und dem Islamismus der 2000er Jahre gezogen wird, übersieht die Koinzidenz von fanatic sons und acid heads, und damit die hybride Gesamtatmosphäre, die Ende der 1980er Jahre in der britischen Jugendkultur herrschte. Die Schriftsteller Zadie Smith und Hanif Kureishi aber haben diese Koinzidenz und das merkwürdige Einbrechen des politisierten Islams in eine ent-politisierte Jugendgeneration in ihren Romanen »White Teeth« (2000) und »The Black Album« (1996) genau beschrieben – und ihre jeweilige Interpretation mitgeliefert. Kureishis Figur Shahid, der in The Black Album mit der tube zwischen einer Affäre mit seiner Professorin, mit der er auf raves geht und cross-dressing–Versuche anstellt, und seiner fundamentalistischen Gruppe um den älteren Pakistaner Riaz pendelt, erscheint typisch jugendlich, typisch postmodern und typisch europäisch. Shahid probiert Identitäten aus wie neue Kleider – einmal die Unterwäsche der Freundin, einmal den salwar kaamez. Kureishi lässt keinen Zweifel daran, dass auch Shahids »Fundamentalismus« letztlich hedonistisch motiviert ist: Im Zentrum steht die experience, gerade als er mit den anderen frisch-islamisierten »Das Buch« im Hof des Londoner East End Colleges verbrennt: »He wanted to co-operate now, giving himself over to bitter nihilism, destruction and hatred. He would love the madness coursing through him, as if he were at a teenage rave in Kent.«5 Islamisierter Hass ebenso wie musik- und drogeninduzierte Liebe bewegen sich auf demselben Plateau: Es geht um den Kick. Die kulturalisierten Rahmungen erscheinen als letztlich austauschbare Oberflächen. Weniger schematisch entwickelt Zadie Smith ihre Figur Millat als Spiegel des neuen Jugend-Islamismus. Die 1980er Jahren sind in Großbritannien von Kämpfen verschiedener Ethnien um Anerkennung geprägt, bei denen südasiatische Einwanderer aus Indien, Pakistan und Bangladesh am unteren Ende der Hackordnung stehen: Anders als die afrikanisch-karibische Minderheit haben sie kein klassen- und rassenkämpferisches Narrativ, wie es sich die blacks durch eigene Poeten geschaffen hatten, welche die Brixton Riots von 1981 als die inshoreckshan besangen. Dann kommt die RushdieAffäre, und plötzlich ist man national sichtbar. Die Chance, mit dem Protest gegen Rushdie ein statement abzugeben, beflügelt Smiths fiktionalen Charakter: »Millat recognized the anger, thought it recognized him, and grabbed it 5  Hanif Kureishi, The Black Album, London 1996, S. 220. 6  Zadie Smith, White Teeth, London 2000, S. 234.

with both hands.«6 Wenn als Ethnie der Aufschrei nicht gelingen will, dann als Religionsgemeinschaft. Millat aber springt nicht leichtfüßig zwischen den Identitätsoptionen hin und her wie Shahid. Smith konstruiert im Text aus den Versuchen ihres Protagonisten, zum strenggläubigen Muslim zu werden, Nicole Falkenhayner  —  Burning Books in Baggy Pants

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einen inneren Kampf zwischen seiner zutiefst der globalisierten Popkultur gehörenden Seele und seinem Wunsch, sich zu »reinigen«, die richtige Art des Verneigens zu lernen, und listenweise halal und haram Gebote im Kopf zu behalten. Millats Imaginäres funktioniert wie ein Hollywoodfilm und so kommt ihm ständig der Vorspann von »GoodFellas« mit den Worten »all my life, I wanted to be a gangster« in den Sinn. Der Versuch, diesen innerlich in den Satz »all my life, I wanted to be a Muslim« zu verwandeln, scheitert – ist aber für den Leser lustig und traurig zugleich. Lustig, weil Smiths Witz unschlagbar ist. Traurig, weil wir uns der irrwitzigen Überhöhung einer Figur – des islamisierten Jugendlichen – in Politik und Gesellschaft bewusst sind, die hier so nonchalant auftaucht. Was Smiths Figur zeigt, ist, dass in Zeiten der spätkapitalistischen Globalisierung der Wunsch nach einer Rückkehr vor die immer schon hybride Identität eine unerreichbare Fantasie ist. In der stereotypisierten öffentlichen Debatte um den Islam erscheint eine derart amüsante und gleichzeitig nicht islamophobe Haltung, wie Smiths Text sie anbietet, kaum noch vorstellbar – aber vielleicht hätten wir sie gerade deshalb wieder nötig. Der iranisch-amerikanische Autor Reza Aslan, der sich im Sommer 2013 für sein Buch über Jesus7 einer aufschlussreichen Kontroverse um religiöse Besitzverhältnisse ausgesetzt sah – Darf ein Muslim über Jesus schreiben? – hat für ein früheres Projekt zur europäischen muslimischen Jugend in den 2000ern recherchiert und in Großbritannien, aber auch in Berlin mit vielen »Neuislamisierten« gesprochen. Sein Fazit, wie er es mir in einem Interview mitteilte, war, dass sich eigentlich auch die neue europäische »Speerspitze« eines globalisierten Islamismus zum größten Teil aus Millats und Shahids zusammensetzt. Es handelte sich in seinen Worten um einen »pop-jihad«, aus dem man sich, wie aus vielen spätmodernen Jugendkulturen, mit dem Alter wieder herausentwickelt – wenn wir das als Gesellschaft zulassen. Dazu muss unsere gesellschaftliche Wahrnehmung weniger hysterisch werden, gerade auch in Deutschland, wo die Debatte um unseren Islam auch drei Jahre nach Sarrazin nicht weniger schematisch und festgefahren erscheint.

Dr. Nicole Falkenhayner ist Kulturwissenschaftlerin und hat am Konstanzer Exzellenzcluster »Kulturelle Grundlagen von Integration« über die Repräsentationsgeschichte britischer Muslime seit der Rushdie-Affäre promoviert. Die Monografie »Making the British Muslim« wird im April 2014 veröffentlicht. Seit Oktober 2012 forscht Falkenhayner als Post-Doc im Freiburger Graduiertenkolleg »faktuales und fiktionales Erzählen« zum kulturellen Status von Überwachungskamerabildern.

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7  Vgl. Reza Aslan, Zealot: The life and times of Jesus of Nazareth, New York 2013.

CYBERPUNK DIE AVANTGARDE DER SCIENCE-FICTION ΞΞ Jöran Klatt Sie waren eine nur lose verkoppelte Gruppe von Autoren, nannten sich aber entschieden ein Movement. Sie wollten die Grundfesten ihres Genres, der Science-Fiction, erschüttern. Und in der Tat: Die Wirkung, die der sogenannte Cyberpunk auf die literarische Fantasterei über die Möglichkeiten von Zukunft, Technik, vor allem aber auch Wissenschaft hatte, war beträchtlich. Was Cyberpunk eigentlich ist, das lässt sich schwerlich in einem Satz erklären. Zunächst: Im Cyberpunk geht es weniger um die Dinge, die man häufig mit Science-Fiction verbindet: Raumschiffe, Reisen zu fremden Planeten und Außerirdische. Stattdessen geht es um Technologie und deren Rolle in der nahen Zukunft; es geht um die Vernetzung der Welt und darum, welche Folgen die gerade sehr real beginnenden Entwicklungen haben. Der Begriff setzt sich aus zwei Wörtern zusammen: Cyber entspringt dabei cybernetics, dem Studium von Systemen, Maschinen und Tieren. Die Kybernetik versucht, komplexe Systeme, Regelhaftigkeiten und Mechanismen zu begreifen, zu erschaffen und diese dann eventuell zu beeinflussen oder gar zu steuern (kybernétes = griech. »Steuermann«). Sie ist, wenn man so will, eine dieser Wissenschaften des Verstehens, des Fortschritts, und steht damit für die Erwartung an die immer weiter voranschreitende Beherrschung von Chaos und Natur schlechthin. Doch naiver Fortschrittsoptimismus, positive Kontroll- und Ordnungsphantasien waren so gar nicht das Ding dieser Autorengruppe, die eben nicht nur Technofantasten, sondern auch punks waren. Punk, das bezieht sich auf die 1970er-Rock-Terminologie, die für das Junge, das Neue, das Aggressive, Verfremdete und für eine Anti-Establishment-Stimmung steht.1 Cyberpunk, das war und ist ein Genre innerhalb eines anderen. Zum Science-Fiction gehörend, arbeiteten sich die Autoren um Bruce Sterling, John Shirley, Rudy Rucker, Patricia Cadigan und vor allem William Gibson, dessen Werk »Neuromancer« von 1984 bis heute als Meilenstein der Science-FictionLiteratur – und eben als zentrales Werk des Cyberpunk – gefeiert wird, an den vermeintlichen Konventionen ihres Metiers ab. Dieses habe bis dahin zu sehr den Kopf in den Wolken gehabt, zu viel Zeit auf fremden Planeten verbracht und zu viel von fantastischen extrater1 

Vgl. Edward James, Sciencefiction in the 20th century, Oxford/New York 1994, S. 193.

ristischen Wesen geträumt. Diese Kritik selbst war nicht neu, das wussten auch die Cyberpunks selbst. Vor ihnen gab es bereits die sogenannten New

INDES, 2014–1, S. 75–83, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X

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Wave-Autoren. Autoren wie James Ballard, Brian Aldiss, Norman Spinrad und Samual R. Delany hatten bereits in der Generation vor Gibson kritisiert, dass die Science-Fiction wieder auf die Erde zurückkehren und sich mehr mit dem inner space, also den in der nahen Zukunft liegenden Problemen und Chancen für die Menschheit auf der Erde, beschäftigen sollte.2 Ballards’ Worte scheinen heutzutage geradewegs den Charakter eines SchriftstellerManifests anzunehmen: »Science fiction should turn its back on space, on interstellar travel, extraterrestrial life forms, galactic wars and the overlap of these ideas that spreads across the margins of nine-tenth of magazine s-f. Great writer though he was, I’m convinced that H.G. Wells has had a disastrous influence on the subsequent course of science fiction … Similarly, I think, science fiction must jettison its present narrative forms and plots … The biggest developments of the immediate future will take place not on the Moon or Mars, but on Earth, and it is inner space, not outer, that needs to be explored. The only truly alien planet is Earth.«3 Die Cyberpunk-Autoren sahen sich in dieser Tradition. Was dahintersteckte, war nicht weniger als der Versuch, als literarisches Genre (das von den Verkaufszahlen her dabei war, seinen Status als populärste fantastische Literatur an Horror und Fantasy zu verlieren) wieder ernst genommen zu werden. Immerhin stünde man in der Tradition großer Gesellschaftskritiker, auch der literarischen Utopisten. Dabei ist das Verhältnis zwischen Utopie und Science-Fiction seit jeher ein schwieriges. Die einen sehen in der Utopie die Geburtsstunde der Science-Fiction und bis heute eine tiefe Sinnverwandtschaft,4 während die anderen der Utopie einen hochliterarischen Charakter zuschreiben und sie als »Urtyp« im Sinne Max Webers von der Science-Fic-

2  Vgl. Heinrich Keim, New Wave. Die Avantgarde der modernen anglo-amerikanischen Science Fiction?, Meitingen 1983. 3  J. G. Ballard, »Which Way to Inner Space?«, in: New Worlds, Nr. 192/1962, S. 119. 4  Vgl. Darko Survin, Poetik der Science Fiction. Zur Theorie und Geschichte einer literarischen Gattung, Frankfurt a. M. 1979.

tion trennen.5 Schließlich, so das Argument, unterscheide sich die ScienceFiction von der Utopie dadurch, dass ihr eben jener gesellschaftskritische und transzendierende Charakter, den die Utopie hingegen liefere, fehle und sie sich stattdessen auf das fortschrittsgläubige Erschaffen »konvergenztechnologischer Zukunftsvisionen« beschränke.6 Doch auch wenn Science-Fiction oft »Paraliteratur«, also Breitenliteratur, sei, populär, aber eben nicht hochkulturell, so liege gerade darin ihr Reiz, verrate sie doch viel über die Träume, Hoffnungen, Ängste und Vorlieben der Massen.7

5  Vgl. Richard Saage, Utopisches Denken im historischen Prozess. Materialien zur Utopieforschung, Politica et Ars, Bd. 9, Berlin 2006, S. 229. 6  Vgl. ebd. S. 227. 7  Vgl. Suvin, Poetik der Science Fiction, S. 11.

Nichtsdestotrotz: Sich abzugrenzen von einem mitunter zur Groschenheft-Science-Fiction gewordenen Mainstream, das war wichtig für die Cyberpunk-Autoren. Daher nannten sie sich auch Bewegung, obwohl man durchaus zweifeln kann, ob der lose Verbund von Schriftstellern tatsächlich mehr war als eben das, eine lockere Autorengruppe.8 Jedenfalls wollten sie mehr

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8  Vgl. Darko Survin u. Horst Pukallus, Ein Gespräch mit Darko Suvin, in: Wolfgang Heschke (Hg.), Das Science-Fiction Jahr. Ausgabe 1990, Band #5, München 1990, S. 268 f.

sein – am liebsten Avantgarde. Zweifellos waren sie miteinander verbunden über ihre Zugehörigkeit zu derselben Generation. Am Ende des Kalten Krieges sind die Autoren um Gibson (*1948), Sterling (*1954), Cadigan (*1953), Shirley (*1953), Rucker (*1946) u. a. fasziniert von der Beschleunigung ihrer Lebenswelt und der Technologie, die mehr und mehr in die Alltagswelten der Menschen vordringt. Der Philosoph Jean François Lyotard hatte 1979 das Ende der großen Erzählungen deklariert und damit ein Idiom für eine neue Distanz zu Ideologien geschaffen.9 Eine spezifische Grundstimmung einte Gibson und seine Weggefährten: Die politischen Kämpfe der Moderne, der Widerstreit zweier großer Erzählungen, war ein Kampf der vorigen Generation, die nicht mehr mitbekam, was die wahren Trends von morgen sein würden. Die Science-Fiction jener überkommenen Generation habe noch auf beiden Seiten des Vorhangs als Ideologieträger gedient.10 In dem Film »Invasion of the Body Snatchers« von Don Siegel aus dem Jahr 1956 etwa ersetzen außerirdische Eindringlinge die Körper der Einwohner einer amerikanischen Kleinstadt Stück für Stück durch emotions- und charakterlose Doppelgänger. Nicht von ungefähr entstand dieses Schreckensszenario der Gleichmacherei während der McCarthy-Ära. Deutlich subtiler setzte dagegen ab 1966 das Sci-Fi-Franchise Star Trek auf eine Art tugendhafte Fortsetzung des Manifest Destiny – also des Glaubens, das amerikanische Volk sei ein zu Fortschritt und Expansion auserwähltes – im Weltraum. Der Weg der erwachsen werdenden Menschheit würde nun nicht mehr nur – wie im 19. Jahrhundert – westwärts über den zu erschließenden amerikanischen Kontinent verlaufen, sondern in einer pluralistischen Gesellschaft aus Menschen und Außerirdi9  Jean-François Lyotard, The postmodern condition, in: Keith Jenkins (Hg.), The postmodern history reader, London/New York 1997, S. 36–38 (Auszug aus Originaltitel: La condition postmoderne, 1979). 10  Bernd Stöver, Der Kalte Krieg. 1947–1991. Geschichte eines radikalen Zeitalters, Bonn 2007, S. 257. 11  Vgl. Ericka Hoagland u. Reema Sarwal, Introduction: Imperialism, the Third World, and Postcolonial Science Fiction, in: dies. (Hg.), Science fiction, Imperialism and the Third World. Essays on Postcolonial Literature and Film, Jefferson (NC) 2010, S. 5–19, hier S. 7.

schen in den Sternen fortgesetzt werden. In Star Trek erobert die Menschheit folglich in einer interstellaren Föderation, die die Nationalstaatlichkeit hinter sich gelassen hat, den Weltraum auf friedliche unilaterale Art und Weise. Die Serie geht hiermit durchaus kritisch und reflexiv um, aber es gibt auch Parallelen zu den Rechtfertigungsstrategien des »guten Kolonialismus« im 19. Jahrhundert.11 So etwas wie Star Trek war vielen Cyberpunks, vor allem Gibson, zu naiv, zu positiv, zu unrealistisch, eben zu fortschrittsoptimistisch. Fortschrittsoptimismus ist generell ein Merkmal dieser Zukunftserwartungen aus der Epoche der Moderne – nicht nur in der Science-Fiction, auch in der Realität: Walt Disney produzierte etwa 1957 im Auftrag der US-Regierung den Aufklärungsfilm »Our Friend the Atom« (Regie: Hamilton Luske), der die Vorteile des beherrschten Atoms und dessen Anwendungsmöglichkeiten für Energie, Alltag und Medizin beschwört. Manch anderes Zukunftsszenario wiederum mahnte vor den schadhaften Auswirkungen des Fortschritts. Atomkriege und Roboter, die sich, wie Jöran Klatt — Cyberpunk

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Frankensteins Monster, losgelassen und außer Kontrolle ihrer Herren gegen die Menschheit richten: Solche Anti-Utopien, auch Dystopien genannt, wurden zur Gegenerzählung zum Fortschrittsoptimismus. Alvin Toffler schrieb über den Einschlag von Beschleunigung sowie technologischem Wandel und die daraus resultierende Überforderung für das Individuum – und nannte dies 1970 den »Future Shock«12. Ein Gefühl des Unbehagens vor der Zukunft, das sich wie eine Krankheit anfühle, so Toffler, breite sich aus. In den 1980ern mahnte John Naisbitt zwar nicht als erster, aber zum ersten Mal breitenwirksam, die Welt, in der man lebe, sei nur eine Zeit des Übergangs in das Informationszeitalter, in dem sich alles Gewohnte in noch nie da gewesener Radikalität ändern werde.13 In genau diesen Bereich zwischen Hoffnungen und Ängsten zielten letztendlich die Cyberpunks: Anders als die Utopisten und Kassandras interessierten sie sich nicht für eine säkulare Eschatologie, auf die Utopie und Science-Fiction zuweilen abhoben, sondern für die Wurzeln und Effekte, die die Zukunft bereits in der Gegenwart hatte. Man wollte realistischer sein und wurde deswegen düsterer. Cyberpunk wäre allerdings kein punk, wenn die Autoren hierfür nicht die Provokation genutzt hätten. Sie beschrieben bewusst eine unbehagliche Zukunft, vor der sich die Menschen mehr und mehr zu fürchten begannen und deren Tendenzen sich bereits sehr stark in der realen Gegenwart abzeichneten. Punk war eben auch ein Stilmittel, mit dem man Avantgarde sein wollte. Die britische Band Sex Pistols hatte dessen Siegeszug bereits musikalisch angetreten, und was die Ästhetik betraf, so war die Designerin Viviennne Westwood gerade dabei, den Salon punkfähig zu machen. Anders als die Revolution, die den Hippies vorschwebte, gab es hier keinen melancholischen Unterton, keine Bewusstseinserweiterung via Drogen (diese hatten jetzt hedonistische Funktion und keinen transzendenten Zweck mehr). Aus den zahlreichen Möglichkeiten des Jetzt erschufen die Punks eine Mode der Zukunft, die beides zugleich war, abschreckend und anziehend, abgrenzend und integrierend und obendrein ohne Meisterzählung. Man diente keinem höheren Zweck, strebte nach keinem Telos der Moderne, statt Begeisterung wählte man das anarchokritische Auftreten gegenüber der Welt. Man wollte irgendwie auch frecher sein als die davor – wer auch immer das war. So wehrte sich der Cyberpunk geschickt gegen Vereinnahmung und Ideologisierung, was für viele seiner Fans bis heute gerade seinen Reiz ausmacht. Es gab kein nostalgisches Wehklagen über mögliche Gefahren, aber auch keine Apologie der Zukunft. Stattdessen versuchte man sich der Vereinnahmung durch die anderen zu entziehen. Die Cyberpunk-Autoren mögen der gleichen

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12  Alvin Toffler, Future Shock, New York 1970. 13  Vgl. John Naisbitt, Megatrends. Ten New Directions Transforming Our Lives, New York 1982. Naisbitt bezieht sich u. a. auf Daniel Bell, der bereits zuvor einen bevorstehenden Wandel der Industrie- zur Informationsgesellschaft angekündigt hatte. Vgl. Daniel Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1975.

Alterskohorte wie die 68er angehören, sie schrieben aber die Bücher für die Generation danach. Bruce Sterling, der neben Gibson als zweiter Erfinder des Cyberpunk gilt, benannte ihr Gefühl prägnant: »Punk-Mode war immer ein Schutzpanzer. Die Stacheln, das Leder, die Rasierklingen, die Reißverschlüsse zieht man an, seit Flower-Power an sich selbst erstickt ist. Es ist das Kevlar für den weichen Marshmallow-Kern des jugendlichen Idealismus. Zynismus nach den harten Schlägen des Lebens, echter Weltschmerz, no future – das sieht anders aus.«14 So ironisch es klingt: Punk wurde zur passenden Mode der Zeit und dringt seither in den Mainstream ein. Der Punk basiert dabei auf keiner Vorlage, in der er beschrieben wäre, wie er zu sein hat, kennt keine Schrift, der man folgen muss, um der perfekte Jünger zu sein. Jeder erfindet ihn selbst und integriert ihn soweit er möchte in sein Ich. Als hybride Kunstform entdeckten ihn so (nicht nur) die Cyberpunks. Weder reine Technologie noch der pure Mensch, sondern die Verbindung von beidem lässt eine eigene Mode entstehen. Punks sind, wie Cyborgs, Mischwesen aus Künstlichem und Mensch, irgendwo zwischen bewusst Designtem und Verwahrlosung. Kevin Kelly, der Herausgeber des Magazins WIRED, stellte für die Welt am Ende des 20. Jahrhunderts fest: »Die Sphäre des Geborenen – alles, was Natur ist – und die Sphäre des Gemachten – alles, was vom Menschen konstruiert ist – werden eins.«15 Bittere Ironie für die Kunst der Punks, die mitunter auf Provokation abzielt: Ihre Kunst passt ganz gut in diese Zeit. Die nur scheinbar konstant überzeitlichen Gegenpole Mensch und Maschine, Natur und Technik, Realität und Fiktion, sie werden im Cyberpunk immer wieder vermischt. Gibson prägte in »Neuromancer« nicht zuletzt auch die Begriffe der Matrix und des Cyberspace. Andy und Lana Wachowskis äußerst populäre Verfilmung dieses Themas, der Film MATRIX aus dem Jahr 1999, zeichnet aus dieser Idee eine fiktive Versklavungsmaschine der Menschheit, die, darin gefangen, nicht einmal bemerkt, dass die Realität, in der sie zu leben glaubt, nur eine Simulation ist. Doch die Matrix ist auch eine Metapher 14  Bruce Sterling, Jeder andere Film ist die blaue Kapsel, in: Karen Haber (Hg.), Das Geheimnis der Matrix, München 2003, S. 12–22, hier S. 20. 15  Kevin Kelly, Das Ende der Kontrolle, New York 1994, S. 7 f.

für eine sehr real gewordene Lebenswelt, in der die flimmernden Kisten die Arbeits- und Privatwelt prägen, Normen und Erwartungen strukturieren und bestimmen, was ein Mensch ist, welches Geschlecht er hat und welche Vorlieben. Die Cyberpunker griffen damit die Philosophie ihrer Zeit, vor allem die Jean Baudrillards, auf. Jener ging davon aus, dass die alte Unterscheidung zwischen »echt« und »unecht« im beginnenden Zeitalter der Simulation an Bedeutung verlieren würde.16

16  Vgl. Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, Berlin 2009.

»It is not a direct critique of the digital era, but a mixture of fascination and repulsion, of addiction and rejection, which is precisely Baudrillard’s Jöran Klatt — Cyberpunk

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reaction to the systems of simulacra and simulation – they can be banal and even harmful, but they follow an aesthetic of their own and have an aura despite their reproducibility by virtue of being surface – paradoxically, it is exactly the fact that there is no substance or deeper meaning embedded in them that they absorb one’s attention.«17 Gibsons Hauptfigur Case ist ein Anti-Held, verstoßen und ausgemustert. Ihm wurde die Möglichkeit genommen, sich in den Cyberspace, jenen virtuellen Ort, wo er sein Geld verdient, einzuklinken. Sein Implantat, eine MenschMaschine-Schnittstelle, versagt ihm durch eine Neurotoxin-Vergiftung den Dienst. Er lässt sich auf zwielichtige Gestalten ein, die ihm die nötige Therapie zu bezahlen versprechen und es beginnt eine Odyssee, die dem Leser die Welt von »Neuromancer« präsentiert: einen urbanen Digitalismus, der zum Albtraum für jene wird, die sich darin nicht zurechtfinden. Großkonzerne haben Nationalstaaten abgelöst, künstliche Intelligenzen handeln eigenmächtig und engagieren dubiose Handlanger. »Neuromancer« beginnt dabei – nicht zufällig – in Tokio. Tokio und generell Japan waren für die Cyberpunks das technologische Mekka. Die Japaner, glaubte man (nicht nur in CyberpunkKreisen), würden der große zukünftige globale Player im postindustriellen Kapitalismus sein.18 In den 1980er Jahren, vor dem Ausbremsen des japanischen Wirtschaftswachstums, kursierten diese Angst und gleichzeitige Faszination gegenüber dem japanischen Aufstieg vor allem auf dem wachsenden Markt der Technologie. Gibson schreibt in »Neuromancer«: »Die Japaner hatten schon mehr Neurochirurgie vergessen, als die Chinesen je beherrscht hatten.«19 Der Leser wird in eine Welt geworfen, die vertraut und bedrohlich zugleich erscheint. Das Werk kombiniert das fremde Zeichensystem Japans mit einem dezentral angeordneten Stadtbild. Diese urbane Wildnis aus einer giftig neonfarben leuchtenden Ästhetik ist jedoch mehr als Fiktion, nämlich die Stadt, die man bereits 1984 real entstehen zu sehen glaubte. Im Time Magazine sagte Gibson etwa, dass Tokio (er meinte das reale, nicht das seines Buches) einfach Cyberpunk sei.20 »Neuromancer« beginnt in Chiba, einer an Tokio angrenzenden Präfektur, welche uns mit folgenden Worten geschildert wird: »Night City glich einem kranken Experiment in Sozialdarwinismus, ersonnen von einem gelangweilten Forscher, der den Daumen ständig auf der FF-Taste hatte. Wenn man zu lahmarschig wurde, ging man spurlos unter, aber wenn man sich zu sehr ins Zeug legte, durchbrach man die empfindliche Oberflächenspannung des Schwarzmarkts und wurde ebenfalls abserviert.«21 Gibson stellt in seinen Zukunftsromanen nicht die radikale Andersartigkeit zur Gegenwart in den Vordergrund, sondern das Selbstverständlich-Sein dessen, was der Leser als »das Andere« empfindet.

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17  Martin Holz, Traversing Virtual Spaces. Body, Memory and Trauma in Cyberpunk, Heidelberg 2006, S. 26. 18  Besonders Naisbitt bezog sich in großen Teilen seines Buches auf Japan. 19  William Gibson, Die Neuromancer-Trilogie, München 2009, S. 11. 20  Vgl. William Gibson, The Future Perfect, in: Time Magazine, 20. 04. 2001, online einsehbar unter http://content. time.com/time/magazine/article/0,9171,1956774,00.html [eingesehen am 15. 01. 2014]. 21  Gibson, NeuromancerTrilogie, S. 15.

»[…] ich denke, das Präfix ›cyber‹ wie in Cyberspace und Cyberpunk, wird vielleicht das gleiche Schicksal ereilen wie einst das Präfix ›elektro‹. 1910 war alles, was elektrisch war, unglaublich sexy. […] Es war die Mode der Zeit. Aber in einer Welt, in der alles digital ist, in der alles auf die eine oder andere Weise mit dem Internet verbunden ist, verliert das Präfix ›cyber‹ seine Bedeutung. Ich glaube es wird irgendwann ziemlich altmodisch klingen.«22 So wird für den Leser die Welt der Zukunft zu einem existenziellen Irrgarten, in dem nicht Politiker, die Menschheit oder auch nur egoistische Großkapitalisten, sondern kybernetische Systeme außerhalb menschlicher Kontrolle herrschen. Für die Protagonisten ist diese Welt zumeist selbstverständlich. An anderer Stelle schreibt Gibson, dass seine Hauptfigur Case die Einsicht bekommt, »dass der technische Fortschritt Freiräume brauchte, dass Night City nicht wegen seiner Bewohner existierte, sondern als bewusst ungeregelte Spielwiese der Technologie.«23 Das kybernetische System, einst als Diener der Menschheit geschaffen, ist nach den eigenen Regeln der Logik mutiert. Die Menschen können es nicht mehr beherrschen, auch seiner Logik nicht mehr folgen, da es in Sekundenbruchteilen von Algorithmen gesteuerte Entscheidungen trifft. Sie können nur noch versuchen, in diesem System zu bestehen und damit zu leben. Knapp dreißig Jahre nach der Veröffentlichung von »Neuromancer« lässt sich Frank Schirrmachers Buch »Ego« wohl auch als Beleg dafür lesen, dass aus der Science-Fiction von einst längst Realität geworden ist.24 22  Gert Scobel im Interview mit William Gibson, Juni 2008, online einsehbar unter http:// www.3sat.de/scobel/122719/index. html [eingesehen am 12. 02. 2014]. 23  Gibson, NeuromancerTrilogie, S. 20. 24 

Vgl. Frank Schirrmacher, Ego – Spiel des Lebens, München 2013.

25  Vgl. Vivian Sobchack, Cities on the Edge of Time: The Urban Science-Fiction Film, in: Annette Kuhn (Hg.), Alien Zone II. The spaces of science-fiction cinema, London 1999, S. 123–143, hier S. 135. 26  Ebd., S. 136. 27  Ebd., S. 124.

Ein ästhetischer Bezugspunk vieler Cyberpunk-Autoren war der 1982 erschienene Film »Blade Runner« von Ridley Scott, der auf einer Kurzgeschichte von Phillip K. Dick basiert. Wie später der Cyberpunk orientiert sich Scott ästhetisch am Film Noir der 1940er und 1950er Jahre, der die stilistische Düsternis und als Protagonisten oft die Anti-Helden bevorzugte. Schauplatz des Films ist ein futuristisches Los Angeles, eine postmoderne Zukunftsstadt ohne Zentrum.25 Das Los Angeles des Jahres 2019, wie in Blade Runner gezeichnet, sei eine »überfüllte« und »polyglotte Megalopolis« »[…] filled with a multinational and marginal populace, additive architecture, sensuous ›clutter‹, and highly atmospheric pollution. This is a city experienced less as base and degraded than as dense, complex and heterogenous: it stimulates and exhausts the eyes, for there is always – literally – more to see. […] Despite the skyscrapers, the visual experience of this Los Angeles has little to do with vertically and lofty aspiration.«26 So wird die Stadt im Cyberpunk zum Gegenmodell des »[…] classical urbanism, which looks at the city as an ›object‹ distinct from the subjects.«27 Doch was heißt es, eine Stadt als »Objekt« zu betrachten – bzw. genau dies nicht mehr tun zu können? Jöran Klatt — Cyberpunk

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New York, obwohl ebenfalls Schauplatz von so manchem Film Noir, kann als Beispiel dieses klassischen Stadtbildes betrachtet werden. Es ist ein Meisterwerk der Ordnung, geplant nach einem geometrischen System, erdacht vom Menschen für den Menschen. In seiner Mitte integriert es ein quadratisches Arboretum, ein beherrschtes oder gar simuliertes Stück Natur: den Central Park. Im harten Übergang zwischen außen und innen wird so der Gegensatz zwischen Natur und Stadt als Sieg des Menschen über die Wildnis symbolisiert. Die Natur wird letztendlich zur Oase für den Menschen, damit in seine Dienerschaft gestellt. In der Cyberpunk-Literatur hingegen ist die Stadterfahrung für den Leser eine Konfrontation mit dieser Gewohnheit. Die Stadtwelten sind nur noch aus der subjektiven Mikroperspektive, aber nicht mehr aus der Vogelperspektive zu betrachten. An die Stelle gewohnter Ordnungssysteme, etwa geometrisch strukturierte Kartographien, die vom einzelnen Menschen überschaubar und klar einzusortieren sind, tritt das individuelle Erleben. Der Raum wird zu einem third space zwischen Wildnis und Stadt, Privatheit und Öffentlichkeit, Realem und Virtuellem.28 Dieser Bruch mit der herkömmlichen Ordnung, die daraus resultierende Verunsicherung, bahnte sich für so manchen auch in der Realität an. Der Beschleunigungskritiker Paul Virilio schrieb daher nicht ohne Nostalgie: »Die Vorstellung von der zeitgenössischen Stadt wird also nicht mehr durch die Zeremonie des Öffnens der Stadttore, durch Rituale wie Prozessionen und Paraden, die Fluchten von Straßen und Boulevards bestimmt, die Stadtarchitektur muss sich von nun an mit der Öffnung eines ›technologischen Zeit-Raums‹ abfinden.«29 Das Virtuelle dringe mehr in den Alltag und schaffe so eine eigene Realität. Gibson bekannte sich dezidiert zu diesen Gedankenmodellen der Postmoderne. Auf die Frage, was Cyberpunk sei, antwortete er süffisant, es handele sich dabei um »postmodern Science-Fiction, it’s a lot more postmodern than the old Science-Fiction was.«30 Cyberpunk, das will entschieden Kunst für die Zeit nach der Moderne und nach der Aufklärung sein, Kunst für die Spätfolgen der Säkularisierung und für die post-industrielle Welt – nicht weniger eben als Avantgarde. Vor allem die kritische Distanz zu einer Ideologie und der anarchischprovokative Umgang mit vermeintlichen Konventionen werden hier gepflegt. Sie treten an die Stelle des modernen erzieherischen und didaktischen Anspruchs, wie ihn die Utopie der Moderne und die klassische Science-Fiction mitunter verfolgte. Stattdessen wird der Modus der Subversion eingenommen und, wie Hartmut Hirsch für Utopien in der Postmoderne beschreibt, »[…] die sozialen, politischen, kulturellen und ökologischen Herausforderungen

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28  Vgl. Homi K. ­Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000. 29  Paul Virilio, Die Auflösung des Stadtbildes, in: Jörg Dünne u. Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2006, S. 261–273, hier S. 263. 30  Cyberpunk Documentary, online einsehbar unter http://www.youtube.com/ watch?v=LQaOB44Iy5E [eingesehen am 05. 03. 2014].

der Gegenwart und der Geschichte [werden] aus dem Blickwinkel wertfreier ironischer Beliebigkeit und ontologischer Unsicherheit betrachtet […].«31 Was in vielen Cyberpunk-Werken fehlt, ist ein Held, der die Werte der Gegenwart und ihrer Utopie vertritt.32 Es gibt keine Gesellschaft, die die verbesserten oder verbliebenen Werte der Gegenwart in der Zukunft lebt und darstellt, das Buch damit zur Utopie werden lässt. Und genauso wenig gibt es jemanden, der sich wirklich gegen die Anti-Welt entschieden aus der Sicht besserer Werte zu wehren versucht. An die Stelle großer Zukunftsentwürfe treten die Institutionen und Räume einer Alltagswelt, in denen agiert wird und die die symbolischen Ordnungen und Ideale der Gesellschaft prägen und festlegen. Der Cyberpunk provoziert, indem er das Bündnis mit der Technologie als Identitätsherausforderung zeichnet: Als punk versucht er die scheinbar natürlichen Grenzen und Ordnungskategorien des sozialen Lebens, Natur, Kunst, Ordnung und Chaos herauszufordern. Punk ist auch Dekonstruktion mit einem ironisch breiten Grinsen in Richtung derjenigen, die sich davon stören lassen. Indes: Was dabei im Cyberpunk für so manchen noch verstörend erscheint, schien in der Realität gut zu funktionieren. Ein Werbespot der Firma Apple aus dem Jahr 1984 spielte auf die Dystopie von George Orwell an und bewarb den damals neuen Macintosh mit den Worten: »And you’ll see why 1984 won’t be like ›1984‹.« Der Ex-Hippie Steve Jobs war es letztendlich, der mit jenen Produkten, denen er später namentlich stets das den Individualismus ausrufende »I …« voransetzte, einen der vielen Siegeszüge von Lifestyle-Technologien antrat. Der Übergang zwischen Mensch und Maschine, zwischen Geborenem und Gemachtem, wird seither zu einem Ganzen, Technologie wird ein Teil des eigenen Körpers, der Körper wird wiederum erweitert oder neudeutsch enhanced. Wahlweise sind diese Erweiterungen zu haben in modisch sterilem Weiß, ökologischem Camouflage oder individuell bunt. Mit Smartphones und anderer Technologie, die sich scheinbar mehr und mehr dem Menschen 31  Hartmut Hirsch, Utopie und Postmoderne: Foucaults Konzept der Heterotopie und Andrew Crumeys ›Music in a Foreign Language‹, in: Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik, Jg. 45 (1997), H. 4, S. 300–312, hier S. 302. 32  Vgl, ebd. S. 309.

anschmiegt, wird der Übergang zwischen Mensch und Maschine ein sanfter. Im Cyberpunk wirkte er eben noch als provozierende Punk-Ästhetik oder als schmerzlich traumatisierende Infektion – doch nur aus Sicht des ausklingenden analogen Zeitalters. Heute können wir uns alle in den Cyberspace einklinken, pflegen unser digital-optimiertes Avatar-Ich, unser Profil. Der Ort der Utopie ist dabei eine App, ein Browserfenster oder eine Webseite. Cyber wird tatsächlich immer selbstverständlicher. William Gibson ahnte so etwas schon 1984. Jöran Klatt, geb. 1986, ist Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung und hat Geschichte und Germanistik studiert. In seiner Masterarbeit beschäftigt er sich mit dem Zukunftsbild der 1980er Jahre anhand der zeitgenössischen Science-Fiction.

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»ICH LERNE SCHNELL« NEOLIBERALE YUPPIES IM AMERIKANISCHEN KINO DER 1980ER JAHRE ΞΞ Matthias Dell

»Eine geläufige Verfallsgeschichte besagt: Alles Übel entspringt den Achtzigern. Sie sind das Scharnier zwischen New Hollywood, dem last hurrah der amerikanischen Filmkunst, und der High-Concept-Wüste der Gegenwart: eine Zeit des Übergangs, in der das amerikanische Kino sich im Einklang mit Präsident Reagans neoliberaler Agenda neu ordnete«, eröffnete das Kuratorenkollektiv »The Canine Condition« im letzten Jahr seinen Begleittext zu einer umfassenden Retrospektive im Wiener Filmmuseum, die teils auch in Zürich und Berlin zu sehen war. Sie trug den Titel »The Real Eighties« und nahm Hollywood-Filme in den Blick, die neben ökonomisch kalkulierbaren Blockbustern und Sequels entstanden, neben Steven Spielberg und George Lucas, zwischen Schwarzenegger und Stallone. Filme, die formal unentschiedener und deswegen anspruchsvoller waren als die sich abzeichnende, deutschen E- und U-Gefühlen entgegenkommende Unterscheidung in ein gutes Independent- und ein bäähes Mainstream-Kino. Vielleicht ist es für eine der vielen möglichen Geschichten über das USKino der 1980er Jahre am interessantesten, entlang von Formen und Motiven, Politiken und Akteuren einigen Filmen zu folgen. Ausgangspunkt für diese Bewegung soll eine Entdeckung sein, die im Rahmen der oben genannten Reihe zu machen war: »… All the Marbles« von 1981, der letzte Film von Robert Aldrich (»Whatever happened to Baby Jane?«, »The Dirty Dozen«). Für die deutsche Auswertung wurde der Film mit irreführenden Titeln versehen, von denen der für die Videokassette (»Harry lässt die Puppen tanzen«) noch dämlicher war als der für den Kinostart (»Kesse Bienen auf der Matte«). Oder umgekehrt. Molly und Iris, zwei Catcherinnen, tingeln mit ihrem Manager, gespielt von Peter Falk, in einem verbeulten Auto durch die Provinz, um in lausigen Hallen für wenig Geld anzutreten. Die Zeiten sind schlecht, die Stimmung ist mitunter gereizt; gegeneinander kämpfende Teams teilen sich nach dem Auftritt denselben Büroraum als Umkleide, und an einer Station berichtet ein Veranstalter stolz vom neuesten Scheiß: Schlammcatchen. Das Schöne an »… All the Marbles« ist, dass Aldrich den sensationistischen Sport, dem

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INDES, 2014–1, S. 84–88, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X

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die deutschen Titel nachgeifern, sonst ernst nimmt wie das Milieu. Molly und Iris haben einen gewissen Stolz (das einzige Team, das sich nicht mit Verkaufstricks pimpt), der fast ins Klassenbewusstsein reicht (»Wir brauchen eine Gewerkschaft«). Und der Film findet berührende Szenen: Zwei Körperarbeiterinnen, die vor Ernüchterung nicht schlafen können (»Alles, was wir tun, ist, uns im Kreis zu drehen«) und deshalb rauchend von ihren Träumen reden; der Job in einer Kunstgalerie ist hier nicht Ennui von sich langweilenden Oberschichtskindern, sondern Sehnsuchtsort. »… All the Marbles« handelt von einer gesellschaftlichen Krisensituation, der Einübung in ein Weniger, dem die mit Hoffnung auf ein besseres Morgen verbundene Aufsteigerkarriere von Manager Harry, einem Migrantensohn, entgegenläuft. Der hört am liebsten Opernarien und erzählt von seinem Vater, der Englisch gelernt hat mit der New York Times; und es spricht für den Feinsinn des Films, dass er mit der Erwähnung vergessener kommunistischer Autoren wie Clifford Odets Gags macht. Die Industrielandschaften, vor denen sich das Roadmovie »… All the Marbles« abspielt, sind in Martin Scorseses »The Color of Money« von 1986 weiter in den Hintergrund gerückt. Auch hier wird »Amerika« durchquert, und in den amerikanischen Städten herrscht Winter, meteorologisch wie ökonomisch: In einen der Billardsalons, in dem das Trio aus Lehrer-Vater (Paul Newman), Schüler-Sohn (Tom Cruise) und Mutter-Freundin (Maria Elizabeth Mastrantonio) auf der Suche nach Gegnern vorbeikommt, ist ein Gebrauchtmöbelgeschäft eingezogen, was Eddie (Newman) in seiner Erinnerung an die alte Zeit als Verfall deutet (»The Color of Money« ist eine Fortschreibung von Robert Rossens »The Hustler« von 1961, in dem Paul Newmans junger Eddie unter anderen ökonomischen Bedingungen eine Art Bildungsroman erlebt). Die städtischen Transformationen, die »The Color of Money« streift, kann man dokumentarisch beobachtet in den Filmen Tony Bubas finden, der den industriellen Niedergang der amerikanischen Stahlindustrie durch Outsourcing ins Globale seit den 1970er Jahren am Beispiel seiner Heimatstadt Braddock, einem Vorort von Pittsburgh in Pennsylvania, festgehalten hat. Mit »Lightning over Braddock: A Rustbowl Fantasy« war der hierzulande kaum bekannte Buba 1989 auf der Berlinale zu Gast. Interessant ist »The Color of Money« im hier skizzierten Zusammenhang vor allem als Tom-Cruise-Film, der einen bestimmenden Charakter des Achtziger-Jahre-Kinos herauspräpariert (was Scorsese so virtuos tut wie wenige Tom-Cruise-Filme dieser Zeit). Das Tingeln durchs Land – und deshalb ist der Abstand zu den Schornsteinschloten im Hintergrund bedeutsam – wirkt wie ein Programm, um sich vom gesellschaftlich-urbanen Niedergang absetzen Matthias Dell  —  »Ich lerne schnell«

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zu wollen; das Trio in »… All the Marbles« ist dagegen vielmehr Teil der Szenerie. Der Verfall des Umfelds ist bei Scorsese nicht ein Problem der Figuren, sondern deren Antrieb, ihm zu entkommen. Vincent Lauria (Cruise) wird von Lehrer-Vater und Freundin-Mutter zugleich »erzogen«, um erwachsen, und das heißt hier: erfolgreich zu werden (Anfangs arbeitet Vincent in einem riesigen Geschäft mit dem demonstrativen Namen »Child World«). »Gewonnenes Geld ist zweimal so süß wie verdientes«, erklärt Eddie seinem Schüler die Welt mit einem Credo, das, bei Scorsese künstlerisch verbrämt, zu diesem Zeitpunkt ohne Weiteres anschlussfähig ist an die Arbeitsmotivation im Finanzsektor. Ein Jahr nach »The Color of Money« wird Oliver Stones Film »Wall Street« in die Kinos kommen, der fasziniert von seiner Gordon-Gekko-Figur auf eine aus heutiger Sicht rührend sozialdemokratische Weise versucht, die realwirtschaftlichen Entkoppelungen des Aktienhandels mit altem Sinn zu bannen – also in eine klassische Erzählung zu retten, in der der verführte Sohn (Charlie Sheen) am Ende den falschen Vater (Michael Douglas’ Gekko) verrät, um zu den Werten jenes guten, alten Amerika zurückzufinden, das ökonomisch gerade umgebaut wird. Ganz ähnlich operiert Roger Donaldsons Film »Cocktail« 1988, der im Vergleich zu »The Color of Money« der schlechtere, aber auch ehrlichere TomCruise-Film ist, insofern die éducation économique durch den unverstellten Erfolgswillen noch einmal beschleunigt wird. Brian Flanagan (Cruise) kommt vom Militärdienst nach New York, was, nebenbei, dessen neoliberale Ungeduld auf Reichtum in Verkehrung des berühmten Kennedy-Satzes patriotisiert: Flanagan hat seinem Land gedient, weshalb das Land seinen Karriereplänen nun zu Diensten sein muss. Im Bus liest er, wie zur Vorbereitung, ein Buch, dessen Titel die Beliebigkeit des Weges zum Erfolg beschreibt: »How to turn your idea into a Million Dollars«. Flanagan hat ein Ziel, der Weg dahin ist egal: »Ich lerne schnell«. Er dreht eine Runde in der Welt der suits, also an der Wall Street, wo ein Mann ohne College-Abschluss keine Anstellung findet. Das anti-akademische Ressentiment des Films wird bestärkt in den Vorlesungen, in denen Cruise tagsüber versucht, das Diplom zu erwerben, derweil seine eigentliche Karriere aber nachts in exaltiertem bar tending beginnt. Wieder gibt es einen Ersatzvater, an dem die Cruise-Figur reift und die er irgendwann überbieten muss, genau genommen sogar zwei, die für verschiedene ökonomische Modelle stehen: Onkel Pat, der sich in seiner Eckkneipe in der Behäbigkeit schwarzer Zahlen genügt und Sinn im Familienleben findet, und Bryan Brown (Douglas Coughlin), der aus dem Job eine Show gemacht hat, um die Gewinne in kürzester Zeit exponenziell zu steigern. Flanagan bewährt sich, ganz Soldat,

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als Mann der Tat, weshalb er letztlich die Vorlesungen am City College verschlafen kann und den ihn rügenden Dozenten nicht ernst nehmen muss: Wäre der am freien Markt erfolgreich, müsste er nicht theoretisieren. (Flanagans »idea« im Abschlussprojekt ist übrigens die Filialisierung der »New Yorker Bar«, in der jeden Abend zur Begeisterung des Publikums Cruise in eckig-affigen Bewegungen Show macht). Seine dramaturgische Unwucht holt sich »Cocktail« an einem langen Epilog, der den zwangsläufigen Höhepunkt von Flanagans New Yorker Karriere (irgendwann sagt er in einer Art Bar-Arena heitere Cocktail-Namen-Lyrik auf) fast mutwillig stören muss: eine Entzweiung-Wiederversöhnung mit Vorbild Brown, das eine ebenso absurde Entzweiung-Wiederversöhnung mit der von Elisabeth Shue gespielten Liebe – mit dem schließlich sprechenden Namen, aus zwei »o« mach eins – Jordan Mooney bewirkt. Jordan wird in Flanagans Exil auf Jamaika dank Browns Wettbefehl ersetzt durch eine »reiche« Frau, was wie die gesamte Sexualpolitik in dem Film eine merkwürdige Volte ist, den Perfomancedruck einer tendenziell endlosen Gewinnmaximierung aber relativ konsequent ins Privatleben überführt: Flanagan muss, nach Browns Politik, jede Frau rumkriegen können, und zwar nur reiche. Diesen Gefallen tut ihm Jordan am glücklichen Ende, weil sie sich als aus einer wohlständigen Familie stammend entpuppt. In Wahrheit lässt sich der Wille zu und das Anrecht auf privaten Reichtum der Cruise-Figur aber nicht mehr in die Eckkneipe von Onkel Pat zurückversetzen (auch wenn der Film das versucht). Die Form zerbirst an den Fliehkräften der neoliberalen Agenda, die der Geschichte die Werte diktiert – in einem gängigen Heldenmodell führte, wie in »Wall Street«, von dem Erfolg nur die »Läuterung« zurück ins alte Amerika. Der neoliberale Yuppie, zu dem Tom Cruise in seinen Filmen in den 1980er Jahren geworden ist, kann sich mit der Ökonomie und der Welt der Väter, gegen die er gereizt und gestresst zu Felde zieht, unter seinen Bedingungen nicht versöhnen. So bedeuten gerade die dramaturgisch-erzählerischen Schwächen den gesellschaftlichen Paradigmenwechsel, der sich in Hollywood zuerst nicht routiniert verarbeiten lässt. Möglich scheint lediglich eine Ausflucht in die Arglosigkeit von Michael J. Fox, der in »The Secret of my Success« von 1987 auf ähnliche Weise »Cocktail« als Komödie durchspielt, die Standards sind die gleichen: die Vorstellungsrunden in der Welt der suits, die Ablehnung, der »Onkel«-Ersatzvater, der ihm schließlich eine »bürgerliche« Anstellung in der Poststelle seiner WallStreet-Bude gibt (aus der Fox’ Charakter dann in ständigem Stress und dank des Herrschaftswissens aus dem Maschinenraum der Kommunikation einen Zweitjob als selbst erfundener Vorstand entwirft, der am Ende legitimiert wird Matthias Dell  —  »Ich lerne schnell«

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durch Erfolg – eine ziemlich präzise kapitalistische Arbeitsbeschaffungsmaßnahme). Auch hier macht die Form mitunter Konzessionen (etwa wenn der kindliche Michael J. Fox als virilsexualisierter Lover Sexualarbeit verrichten soll), wird aber spürbar getrieben von der Faszination für ein neues Rollenmodell: Neoliberale Yuppies suchen künstlerischen Ausdruck. Eine hübsche Pointe der, natürlich, versöhnlichen Rahmung von »The Secret of my Success« ist der Umstand, dass der Fox-Charakter aus Kansas nach New York kommt. Aus jenem mythischen All-American-Normstaat also, in den schon Dorothy in »The Wizard of Oz« (1939) zurück wollte und der für Thomas Frank in dem anregenden Essay »What’s the matter with Kansas?«1 Modell von Überlegungen für einen entscheidenden turn der politischen Ideologie in Amerika am Beginn der Reagan-Ära war: dass die working class nicht mehr anhand ihrer ökonomisch-politischen Situation über politische Repräsentation entschied, sondern in Folge einer aufgesetzt-moralischen Diskussion wählte. Müsste man sich Peter Falks leutseligen Aufsteigersohn Harry am Ende der 1980er Jahre als in »white trash« regredierten Konservativen vorstellen?

Matthias Dell, geb. 1976, ist Filmredakteur beim Freitag in Berlin. 2012 erschien von ihm »›Herrlich inkorrekt‹. Die Thiel-Boerne-Tatorte« bei Bertz+Fischer.

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1  Thomas Frank, Was ist mit Kansas los? Wie die Konservativen das Herz von Amerika erobern, Berlin 2005 (deutsche Ausgabe).

MINIATUR

ÜBER MORRISSEY DIE ENTZIFFERUNG DER ZEICHEN IN PRÄDIGITALEN ZEITEN ΞΞ Ulrike Sterblich

GEHEIMNISSE AUS DEM RADIO Wenn ich von der Schule nach Hause kam, machte ich meistens zuerst das Radio an. Das war ein allgemein übliches Verfahren. Jacke ausziehen, Radio an. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Schulfreunde im selben Moment dasselbe hörten ich wie ich, war hoch, denn zu meiner Schulzeit gab es nicht so viele Radiostationen wie heute. Es gab auch deutlich weniger Fernsehsender. Meine Schulzeit begann in den späten Siebzigern und zog sich dann über die gesamten achtziger Jahre hin. »Die Achtziger« und »Schulzeit« sind in meinem Leben damit quasi identisch. Ebenso wie »Achtziger« und »Pubertät«. Dekaden sind nur eine gesellschaftliche Übereinkunft, ein kulturelles Ordnungssystem für Zeit. Im jüdischen Kalender sind die achtziger Jahre vierziger Jahre, allerdings die 5740er, und im islamischen Kalender fallen sie mit einer Jahrhundertwende zusammen: Ende 1979 begann dort das Jahr 1400. Pubertät und Schulzeit hingegen sind sehr reale Faktoren im Leben eines Menschen. Real, verwirrend, furchtbar und großartig. Deshalb musste ich auch diese Dekade als real verwirrend, real furchtbar und real großartig erleben. Was keineswegs ausschließt, dass die Dekade, die wir als die 1980er Jahre beziffern, auch unabhängig von mir und meinem subjektiven Teenagererleben objektiv verwirrend, furchtbar und großartig gewesen sein könnte. Es gibt Hinweise, die dafür sprechen. Die Frisuren zum Beispiel. Aber auch Deutschland sah in den Achtzigern noch ganz anders aus als heute, in vielerlei Hinsicht, unter anderem als Staatsgebiet. Es gab, wir erinnern uns, insgesamt drei Deutschlands: die Bundesrepublik, die DDR und West-Berlin. Auch das war verwirrend, was einem spätestens dann klar wird, wenn man mal versucht, es einer nach 1990 geborenen Person zu erklären. Prägend für meine persönlichen Achtziger war zusätzlich zu Schulzeit und Pubertät auch

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der deutsche Sonderfall West-Berlin, wo sich ebendiese Schulzeit und Pubertät abspielten. Als Ort war West-Berlin ein Katalysator für die Schrecken, die Verworrenheit und die Großartigkeit der Achtziger. So weit zur näheren Verortung des Radiohörens nach der Schule. Im Englischunterricht lasen wir »The Pigman«, einen kurzen Jugendroman des amerikanischen Schriftstellers Paul Zindel. Das Buch hatte etwas Verstörendes und auch etwas Geheimnisvolles, was sicherlich in der Absicht des Autors lag, für uns aber dadurch verstärkt wurde, dass es in englischer Sprache geschrieben war und in den USA spielte, und zwar in eher desolaten Verhältnissen. Die Geschichte beeindruckte mich. Im Gegensatz zum Deutschunterricht wurde im Englischunterricht ohnehin die eindrucksvollere, weil altersrelevantere und zeitgenössischere Literatur gelesen (Deutsch: »Emilia Galotti«, »Wilhelm Tell«, »Mutter Courage und ihre Kinder«/Englisch: »The Catcher in the Rye«, »The Loneliness of the Long Distance Runner«, »The Pigman«). Etwa zur selben Zeit hörte ich nachmittags im Radio erstmals diesen einen englischen Song, von dem ebenfalls etwas Beeindruckendes ausging. Er klang außergewöhnlich, der Gesang war sehr speziell, und im Refrain hörte ich das Wort »Pigman«. Als er einige Tage später wieder lief, hörte ich genauer hin und hoffte auf eine Ansage zum Titel oder zum Urheber. Es wurde mir nicht erfüllt. Naheliegend, dass der Pigman-Song in meinem Gehirn mit Paul Zindels düsterer Geschichte vertäut wurde. Pigmaaan (unverständlich), Pigmaaan nanana. Ob sich der Text wirklich auf die Erzählung bezog, wusste ich nicht. Es blieb, vorerst, ein Geheimnis. Das Geheimnisvolle, und damit auch das Verheißungsvolle an den Inhalten von Popkultur war fester Bestandteil des Aufwachsens in den achtziger Jahren. Die Popkultur hatte die Räume erobert, aber das Entziffern ihrer Zeichen war schwierig und aufwändig. Für musikalische Textfetzen, aber auch für Namen und Begriffe, die wild gepflastert auf mit Letraset gebastelten DIN-A3Plakaten an Bauzäunen und Stromkästen überall im Stadtbild auftauchten, musste man jemanden finden, der es erklären könnte, und oft gab es diese Person nicht. Das Leben war voller ungelöster und ungetwitterter Alltagsrätsel, die dauerhaft die Fantasie beschäftigten und ein diffuses Versprechen verströmten, das Versprechen eines aufregenden Lebens, das es irgendwo dort draußen offenbar gab. Vieles ist dabei einfach unauffindbar geblieben. Manche Musikstücke habe ich erst zwanzig Jahre später mit den heutigen digitalen Hilfsmitteln ausfindig gemacht. Suche ich heute nach einem Song, alt oder neu, finde ich nicht nur sofort Titel, Sänger und Urheber heraus, sondern auch noch Rezensionen, Interviews, Bilder, Videos und Vorschläge dazu, was Hörern, denen dieses Produkt gefällt, sonst noch gefallen könnte.

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Und natürlich den Song selbst zum sofortigen Wiederhören. Es ist das Paradies und die Hölle. BIGMOUTH Der in den achtziger Jahren mit seiner damaligen Band »The Smiths« berühmt gewordene Sänger und große Songtexter Morrissey beschreibt in seiner kürzlich erschienenen Autobiografie mit extremer Ausführlichkeit die Fernsehprogramme seiner Kindheit und Jugend sowie die Musik, die ihn geprägt hat. Morrissey wächst in Manchester auf, wo »die Vögel den Gesang verweigern.« Die frühe Industriemetropole im Norden Englands erlebt nach dem Zweiten Weltkrieg einen wirtschaftlichen Niedergang, eine Depression, die sich unmittelbar auf den jungen Morrissey überträgt. Hilfe kommt zunächst aus dem Fernsehapparat: »Television is the only place where we banish ourselves from the community of the living, and where the superficial provides more virtue than the actual. We watch in order to find ecstasy, for at last we can survive in someone else.«1 Wenig später kommt die populäre Musik hinzu. Mit noch mehr Durchschlagskraft als das Fernsehen. Während Fernsehen vornehmlich eine Möglichkeit zur Flucht bietet, ist Musik Rettung. Wo das Fernsehen erheitert und unterhält, ist sie eine dauerhafte Kraftquelle. »My face had by now taken on the demeanor of continual deep regret, which only music could soothe. The new poets were not by the Lakes, but suspending disbelief in recording studios where words and sound mix the literal with the perceptual and the conceptual.«2 Ein paar Jahre später wird Morrissey selbst zu einem, der Worte zu Klängen hinzufügt, in denen die Jugend Trost, Zuflucht, Verständnis und Entgrenzung findet. Und nicht nur das. Morrisseys Texte sind ein Paradebeispiel für ein Segment der Popmusik der achtziger Jahre, in dem literarische und andere kulturelle Verweise eine große Rolle spielen. Und das keinesfalls nur für die ohnehin akademisch gebildeten Teile der Gesellschaft. Deshalb war es auch schlüssig, dass sich mein Pigman-Song eines Tages schließlich und endlich als ein Song von den Smiths identifizieren ließ. Es war eines der tanzbarsten Stücke der Smiths, weshalb es dann auch bei Feten (so sagten wir zu privaten Tanzveranstaltungen, die man heute vielleicht als Partys bezeichnen würde) gespielt wurde. Bei einer solchen Feier im kleineren Rahmen fragte ich den amtierenden Plattenaufleger nach dem gerade gelaufenen 1 

Morrissey, Autobiography, London, 2013, S. 18. 2  Ebd., S. 63.

Song, und er gab mir das Smith-Album »The Queen Is Dead« in die Hand (auf dem von Morrissey gestalteten Plattencover ist ein Standfoto von Alain Delon aus dem 1964er Film Noir »L’insoumis« zu sehen – so viel wieder zu Ulrike Sterblich  —  Über Morrissey

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kulturellen Querverweisen). Allein, ich fand keinen Pigman in der Auflistung der Songtitel. Ich sah mir die abgedruckten Texte auf der Innenhülle an und stellte fest, dass mein Pigman ein Verständnisfehler und eine Misinterpretation war. Anstelle von Pigman hieß es in Wirklichkeit Bigmouth, »Bigmouth Strikes Again« war der Titel, und der Text hatte mit Paul Zindel nichts zu tun, sondern handelte von einem Typen, der eine große Klappe riskiert. Er beginnt mit der Zeile »Sweetness, I was only joking when I said I’d like to smash every tooth in your head«. Ich hatte ihn für mich zum Soundtrack eines amerikanischen Jugendromans umgedeutet, was zwar konkret falsch, rückblickend und im Gesamtkontext aber vollkommen stimmig war. Schließlich sang Morrissey auch über Oscar Wilde und borgte sich Textzeilen von Shakespeare und Alan Sillitoe. VIDEO KILLED THE RADIO STAR Musik und Fernsehen, die zwei ungemein einflussreichen Träger von Popkultur, wie Morrissey sie in seinen Erinnerungen beschwört, gehen in den achtziger Jahren eine neue Verbindung ein, als die Kunstform des Musikvideos über die Bildschirme ins Wohnzimmer kommt. Der Musiksender MTV geht 1981 mit dem Konzept auf Sendung, rund um die Uhr Musikvideos auszustrahlen. Die ersten Bilder, die auf MTV gezeigt werden, sind jedoch kein Musikvideo, sondern eine Montage der Apollo-11-Mondlandung von 1969, bei der die amerikanische Flagge durch eine Flagge mit MTV-Logo ersetzt ist, in den klassischen achtziger Jahre Farben Neonpink und Neongrün. Die Symbolik ist wenig subtil. Ein neues Zeitalter wird markiert, und MTV behauptet darin fern jeder Bescheidenheit seine Pionierstellung. Das Musikstück, der Popsong, das Genre, in dem die Lyrik in den Alltag zurückgekehrt ist, wird jetzt inszeniert und bebildert. Was wir da zu sehen bekamen, war neu und hat uns sofort elektrisiert. Zum einen konnte man die Protagonisten der Popmusik in den Videos nun endlich einmal sehen. Was natürlich auch desillusionierend ausfallen konnte. Eine Freundin von mir hatte lange eine sehr präzise Vorstellung vom Sänger ihrer Lieblingsband »The Human League« gehabt und musste nun feststellen, dass es mit dem Realbild absolut nicht übereinstimmte. Sie brauchte eine ganze Weile, um sich damit abzufinden. Zum anderen waren Musikvideos das Medium par excellence für die Inszenierung unterschiedlicher Styles. Wo sonst hätte man sich abgucken können, wie man sich als Popstar in London kleidet? Wie man in New York zu Funky Music tanzt? London und New York waren in den Achtzigern weit, viel weiter weg, denn Flüge waren teuer. Die Welt war ein Sehnsuchtsort, und nichts zeigte die Welt so, wie die Videoclips es taten. Videoclips schickten uns in

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Drei- bis Fünfminutenhäppchen um die Welt, dazu gab es Tanz, coole Klamotten und neuartige visuelle Effekte. Die Protagonisten waren jung, und über allem lag die Musik mit ihren Texten voll wichtiger Messages über das Leben. Mehr Großartigkeit war kaum vorstellbar, in der Jugend, in den achtziger Jahren, auf einer Insel kurz hinter dem eisernen Vorhang. Echtes Musikfernsehen war in Deutschland bis gegen Ende der Achtziger allerdings noch fern wie der Mond. Eine kleine Auswahl von Videos wurde ab 1982 einmal pro Woche in der ZDF Sendung »Ronny’s Pop Show« gezeigt, 1983 kam »Formel Eins« im ARD Fernsehen dazu, wobei Formel Eins immerhin nicht von einem Affen moderiert wurde. Natürlich waren diese Sendungen weitgehend an den Charts ausgerichtet und taugten kaum zur Entdeckung von Neuem oder Abseitigem. Auch Morrissey und die Smiths habe ich dort nie gesehen, sonst hätte sich das Pigman-Rätsel wohl schon früher gelöst. Die Auflösung dieser Rätsel war natürlich beglückend und konnte einen auch weiterbringen und zu neuen Entdeckungen führen. Voraussetzung für dieses Glück war aber die Möglichkeit der Existenz solcher Rätsel, die auch eine Weile anhalten und sich dadurch intensivieren konnten. Manchmal drängt sich mir heute noch ein plötzlich von irgendeiner Assoziation oder Erinnerung hervorgerufenes ungelöstes Rätsel der Achtziger auf. Was war das eigentlich für ein Film damals, oder von wem war bloß dieser Song und was macht die Sängerin heute? Es lässt sich alles leicht herausfinden. »ABC«-Sänger Martin Fry tingelt bei 80s-Retro-Festivals, und der ehemals göttliche und heute übergewichtige Dr. Robert von den »Blow Monkeys« hat allein in seinem Wohnzimmer seinen größten Hit »Digging Your Scene« auf der Gitarre gespielt und ins Netz gestellt. Man kann sich dieses Video ansehen und unmittelbar danach noch einmal das Originalvideo zu »Digging Your Scene« von 1986. Es ist eine schöne und anrührende Lektion in Vergänglichkeit von Ruhm und Jugend. »You were good in your time, and we thank you so«, singt Morrissey.

Ulrike Sterblich hat Politikwissenschaft in Berlin und Amsterdam studiert und arbeitet als Autorin, ­Moderatorin und Übersetzerin. 2012 erschien bei Rowohlt ihr letztes Buch »Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt. Eine Kindheit in Berlin (West)«. In der Reihe »Wurfsendungen« auf Deutschlandradio Kultur läuft seit Januar 2014 ihre Kurzhörspielreihe »Der Alltag nach der Invasion der Zombies.«

Ulrike Sterblich  —  Über Morrissey

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INSPEKTION

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BEDINGT EINGESTIMMT DDR-POPMUSIKKULTUR ZWISCHEN AUTONOMIE UND ANPASSUNG ΞΞ Jasper A. Friedrich / Fernando Ramos Arenas

»Die Musik war eigentlich mein Weg zur Freiheit.« Olaf »Toaster« Tost, die anderen

DAS GROSSE FINALE Die letzte Dekade deutscher demokratischer Unterhaltungsmusikgeschichte erscheint gleichermaßen als eine Geschichte der Agonie wie des Aufbruchs. Kulturpolitische Entscheidungen unter der Führung des Dachdeckers und Schalmei-Liebhabers Erich Honecker sowie die daraus resultierenden Restriktionen neben der Flucht bedeutender Künstler bedingten ein Ausdünnen der kreativen Kulturszene – Verluste, die sich bekanntermaßen nicht nur auf die Musik beschränkten, sondern an der gesamten Kunstszene der DDR zehrten. Mit Sanktionen einerseits und der Ausweitung der massenmedialen Unterhaltungsangebote andererseits wurde dennoch versucht, den Einfluss der Partei auf breitere Bevölkerungsgruppen – hauptsächlich Jugendliche – zu sichern. Doch maßgeblich für die DDR-Musikszene war das von den Präsent-20Anzüge tragenden Apparatschiks nicht zu verhindernde Vordringen alternativer Musikrichtungen wie New Wave, Punk oder der vielfältigen Formen kommerzieller Popmusik. Westliche Ästhetik fand schon immer Eingang in den Alltag kultureller Praxis der DDR-Bürger. Spätestens das deutsch-deutsche Kulturabkommen 1986 legalisierte diesen inoffiziell bereits stattfindenden Transfer kultureller Produkte und Diskurse. Damit ging einher, was sich bereits nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 andeutete: eine Spaltung auch des künstlerischen Lagers in »Angepasste« und »Verweigerer«. Dies überstieg die rein ästhetische Wahrnehmung von Musik, ja Kunst im Allgemeinen. Und so waren die angepassten »Staatsrocker«, die noch 1987 bei »Rock für den Frieden« ihre Verbundenheit mit der staatlichen Kulturpolitik unter Beweis stellten, für viele zu diesem Zeitpunkt bereits obsolet.

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Eine komplette »Durchherrschung« der kulturellen Bereiche, das zeigen zahlreiche Untersuchungen, war auch unter den Bedingungen der SED Diktatur nicht möglich. Materielle Bedingungen und vor allem kulturpolitische Richtlinien legten jedoch fest, was zum staatlich sanktionierten, sozialistischen Musikverständnis gehörte, und bestimmten sowohl Produktion, Zirkulation als auch Rezeption aller Musikströmungen. Diese Festlegung diente nicht nur dazu, Erlaubtes von Unerlaubtem zu unterscheiden, sie erzeugte auch den Interpretationsrahmen, in dem Musik nicht nur Musik war, sondern an politischem Gewicht gewann. Der Allgemeinplatz der Kultursoziologie, »(Musik)Stil ist Identität«, besaß in der DDR überdurchschnittliche Relevanz. Oberflächlich betrachtet stellt sich die Frage nach der prägenden Rolle von Musikstilen für die Herausbildung von Identität ostdeutscher Jugendlicher angesichts der staatstragenden Ostrock-Kapellen gar nicht: Wie sollte denn ein an Siouxie oder Robert Smith von The Cure erinnerndes Haartoupé, wie es einst die Silly-Sängerin Tamara Danz  in alternativer Attitüde auftrug, etwas anderes als nur modische Verwirrung  ihrer Epigonen stiften? Worin liegen das symbolische Kapital und die spalterische Kraft zerrissener Tanktops »authentischer« Punks? MUSIK ZWISCHEN STIL UND BEWEGUNG Zwei Pole sind in Betracht zu ziehen, will man die Musikszene und deren Wirkmacht auf die kulturelle Praxis in der DDR beschreiben: Musik als Stil und Musik als Bewegung. Stil ist, nach Meyer Schapiro, »above all, a system of forms with a quality and a meaningful expression through which the personality of the artist and the broad outlook of a group are visible«1. Wird Musik als Stil verstanden, ergeben sich also ästhetisch-formale Abgrenzungen, die mit Bourdieus »Geschmack« zu fassen sind. Die Orientierung an audiovisuellen Musikstilen und »Geschmack« ist jedoch nicht nur ein Distinktionsmerkmal, sondern sie beschreibt auch, wie sich verschiedene Gruppierungen Musik und Kunst in ihrer kulturellen Alltagspraxis aneignen. Und so werden unterschiedliche Musikstile »geschmacklich« als weitgehend differenzierte gesamtästhetische Konzepte wahrgenommen – jeweils assoziiert mit spezifischen musikalischen Strukturen sowie einer bestimmten modischen, grafischen und gesamtkünstlerischen Ausdrucksform – unterscheidbar damit u. a. nach dem visuellen Erscheinungsbild der Bands oder nach genretypischer Musik. Stehen diese Konzepte im Widerspruch zu herrschenden ästhetischen Standards, bergen sie Potenziale für ein widerständiges

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1  Meyer Schapiro, »Style«, in: Donald Preziosi (Hg.), The Art of Art History. A ­Critical Anthology, Oxford/New York 1998, S. 143–49, hier S. 143.

und autonomes symbolisches Kapital – passen sich diese Konzepte hingegen an vorherrschende Strukturen an, wirken sie durch die Assimilierung stabilisierend und modifizierend auf Bestehendes. Darüber hinaus ist nicht nur der wahrnehmbare ästhetische Stil ein prägendes Merkmal, sondern das mit der Musik verbundene Kapital an Ideen, Werten und künstlerischen Zielen, die Bands und Künstler teilen. Dieses Kapital kann den Musikrichtungen unter bestimmten Bedingungen den Charakter von Bewegungen und damit einen kulturell und gesellschaftspolitisch prägenden Mehrwert verleihen. Dies wiederum ermöglicht erst, dass das damit verbundene ideelle oder ideologische Potenzial Eingang in die alltägliche kulturelle Praxis findet. Grundsätzlich gilt: Je radikaler ein Stil (in seiner Ablehnung musikästhetischer Konventionen) ist, desto schneller entwickelt er sich zu einer »Musik-Bewegung«. Der wesentliche Unterschied zwischen Stil und Bewegung verweist auf die Tatsache, dass beispielsweise eine zur Schau gestellte kritische Einstellung mit Texten aus der Feder hofierter Staatsdichter, wie sie Gisela Steineckert für City ersann, lediglich schmückendes Beiwerk zur allgemeinen ästhetischen Inszenierung war, mitnichten aber Ausdruck eines kritischen Sendungsbewusstseins. Dennoch verfügt jeder Stil über das Potenzial, sich zu einer Bewegung zu entwickeln: »Styles are recognizable and perceptibly manifest entry points into social and cultural movements.«2 Dagegen entfalteten Texte der Untergrundszene, wie z. B. der Leipziger Punkbands Wutanfall oder L’Attentat, die seit 1981 zu den Protagonisten alternativen Musikschaffens gehörten, von Beginn an politisches und ästhetisches Identifikationspotenzial. Erinnert sei an die von Ray Schneider verfassten Zeilen zu Leipzig in Trümmern und an viele andere seiner Texte. Nicht überraschend ist, dass solcherlei Bands keine Einladung zum Kessel Buntes, den Berliner Pfingsttreffen oder anderen vom Staat installierten Bühnen erhielten. Vielmehr mussten sie sich der Unterwanderung durch die Stasi und körperlichen wie psychischen Repressionen durch die Staatsorgane erwehren. Dennoch gelang es zum Beispiel auch den Skeptikern und anderen Bands, in den 1980er Jahren ihre Platten auf westdeutschen Labels zu veröffentlichen. Vorreiter hier waren Zwitschermaschine und Schleim-Keim, die unter abenteuerlichen Umständen das erste Punkalbum DDR von unten 1983 in Westdeutschland veröffentlichen konnten. Doch

auch dies war nicht ohne die Beobachtung durch staatsbedienstete Spitzel 2  Theodore Gracyk, Kids’re Forming Bands: Making Meaning in Post-Punk, in: Punk & PostPunk, Jg. 1 (2012) H. 1, S. 79.

zu realisieren. In diesem Fall sicherte sich die Ikone der ostdeutschen Independentliteratur- und Musikszene, Sascha Anderson, seinen Eintrag als IM im Geschichtsbuch. Jasper A. Friedrich / Fernando Ramos Arenas  —  Bedingt eingestimmt

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SZENE ZWISCHEN AUTONOMIE UND ANPASSUNG Die Wirkungsmacht der Musik im kulturellen Alltag in der DDR konnte sich nur zwischen den Polen »Anpassung« und »Autonomie« entfalten. Damit wird hier die Musik weniger als Kunstform denn als Möglichkeit zur Anhäufung von symbolischem Kapital durch Protagonisten, Rezipienten und Verwertern betrachtet. Im Mittelpunkt der unterschiedlichen Musikszenen stand das, was man – wiederum in Anlehnung an Bourdieu – das spezifisch symbolische (musikalische) Kapital nennen könnte. Dieses sicherte den inneren Zusammenhalt und die Abgrenzung zu anderen Gruppen. Diese Kapitalform nimmt in unterschiedlichen Subkulturen verschiedene Werte als Referenz an (Authentizität im Fall von Punk oder Hip Hop, Virtuosität im Jazz, Metal oder bestimmten Formen von Progrock); stets diente sie allerdings dazu, eine klare Distanz zu jenen Musikformen zu markieren, die sich im Mainstream bewegten und denen Staatsnähe zugesprochen wurde. Jede der diversen Subkulturen befand sich also jenseits des Mainstreams und brachte eigene Kriterien für die Evaluation und den Konsum ihrer Werke hervor.3 In diesen Szenen wurde somit hauptsächlich für Gleichgesinnte produziert: Der Produzent war gleichzeitig Kunde und Konkurrent.4 Punks waren beispielsweise im Allgemeinen Autodidakten und rekrutierten den Stamm ihrer Musiker aus ihren eigenen Reihen, produzierten selbst Kassetten, ja, Musiker selbst gaben – wie das Beispiel des Leipziger Untergrundmusikmagazins Messitsch zeigt – Samisdat heraus. Die Radikalisierung der Autonomie innerhalb dieser Felder führte oft zu einer Weigerung, aktiver Teilnehmer im größeren sozialen Raum zu sein. In der Literaturszene z. B. war »ein Ausweis von Qualität, nirgends gedruckt zu werden, da die Zensur in ihren Augen nur Schwachsinn und Lügen passieren ließ. Die unveröffentlichten – und selbst die ungeschriebenen Bücher – besaßen deshalb einen hohen geistigen Wert«5. Gleiches galt für die Musikszene. Die DDR war sicher das Land mit den meisten unveröffentlichten Schallplatten. Zwischen dem Feld eingeschränkter und offiziell unterstützter Produktion verlief allerdings keine klare Trennungslinie. Das symbolische Kapital, das in den jeweiligen Sub-Feldern als Differenzierungsmechanismus galt, ist in diesem Zusammenhang einem »politischen« Kapital, das in der DDR Auftritts- und Aufnahmemöglichkeiten, Präsenz und Lob in den Medien usw. sicherte, entgegenzusetzen. Es sind verschiedene Stile/Szenen festzustellen, die sich in einem Zwischenbereich befanden bzw. deren Positionen sich im Laufe der Zeit veränderten – unter Aufgabe eines hohen Maßes an Autonomie hin zu einer Anpassung. Nicht anders ist zu erklären, dass Bands, die ursprünglich in der »authentischen« Independent- oder Punkszene verwurzelt waren, wie z. B. die Skeptiker, Förderungsverträge mit der FDJ eingingen.6

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3  Bourdieu spricht hier von »Feldern der eingeschränkten Kulturproduktion«, vgl. Pierre Bourdieu, The Market of Symbolic Goods, in: Ders., The Field of Cultural Production. Essays on Art and Literature, Columbia 1984, S. 112–143. 4  Vgl. ebd. 5  Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971–1989, Berlin 1998, S. 231. 6  Vgl. Paul Kaiser u. Claudia Petzold, Boheme und Diktatur in der DDR. Gruppen, Konflikte, Quartiere, 1970–1989, Berlin 1997, S. 11.

Solche Entscheidungen sicherten Zugang zu Ressourcen des Mainstreams und damit zur Popularitätssteigerung. Ausgehend vom Pol des Mainstream-Pop hingegen lösten sich z. B. Silly und andere Bands zum Ende der DDR hin durch verschiedene politische Aktionen, wie das Verlesen von Resolutionen auf Konzerten, aus der Umklammerung der Kulturfunktionäre und bewegten sich mehr in Richtung unangepasster Positionen. BANDS ZWISCHEN SUBKULTUREN UND LABELS Bands, Szenen, Stilrichtungen usw. schufen Identität nicht nur durch eigene Qualitäten, sondern hauptsächlich über die Betonung von Unterschieden zu anderen. So ist die Idee des »Andersseins« eines der positiven Auszeichnungsmerkmale, das Musikrichtungen einerseits abgrenzt und andererseits Musikstile unterschiedlicher ästhetischer Natur vereint. Die Labels, mit denen sich viele der ostdeutschen Bands und Künstler beschrieben, wurden als Differenzierungsmechanismen gegenüber anderen Subszenen verstanden und nicht in erster Linie als musikästhetische Kategorien. Schwerlich ist ein kompletter Überblick über die musikalischen Szenen der DDR möglich – deshalb soll hier exemplarisch ein Blick auf einige Szenen der

Popmusikund deren gesamtgesellschaftliche Wirkung geworfen werden. In den alternativen Szenen der Unterhaltungsmusik verfügten vor allem Blues und Punk über eine besondere Bindungskraft respektive ein anderes symbolisches Kapital als der eher als angepasst geltende Rock- und Pop. In der Bluesszene, die durch die zahlreichen ideologischen und ästhetischen Vorbilder aus der internationalen Hippiebewegung ohnehin ein hohes Identifikationspotenzial für Non-Konformisten barg, waren seit Ende der 1970er Jahre zwei Entwicklungslinien zu beobachten: Zum einen erspielten sich immer mehr professionelle Bluesbands die Möglichkeit, bei Amiga wie auch beim Rundfunk ihre Produktionen unterzubringen, Platten zu veröffentlichen und im Radio präsent zu sein. Zum anderen kristallisierte sich eine enge Beziehung zur protestantischen Kirche und ihren reformerischen Gemeinden heraus. Entwickelten sich die Gotteshäuser immer mehr zu Sammlungsorten von Gegenöffentlichkeiten und emanzipierten Bürgern, so war es nur folgerichtig, dass die auch mengenmäßig breit aufgestellte Bluesszene hier nicht nur Spielstätten, sondern auch ein geistiges Zuhause fand. Diese Offenheit der Kirche war in den 1980er Jahren nicht nur auf eine Szene beschränkt – viele Punkbands wie Wutanfall, L’Attentat oder Die Zucht in Leipzig durften in den heiligen Räumen ein neues Publikum erschrecken und sich sogar dauerhaft in kirchlichen (Probe- und Veranstaltungs-)Räumen ausbreiten. Jasper A. Friedrich / Fernando Ramos Arenas  —  Bedingt eingestimmt

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Will man von einer eigenen DDR-Subkultur sprechen, so fallen den Zeitzeugen als erstes jene Protagonisten ein, die im Szenejargon anerkennend als »Kunden« bezeichnet wurden. Ihr Ausweis für die Zugehörigkeit waren lange Haare, Blue Jeans, am besten westlicher Herkunft, wahlweise »Tramper« – Kletterschuhe aus Wildleder – oder »Jesuslatschen« – zweiriemige Sandalen bestimmter Machart – sowie ein Arbeitshemd der Fleischer, das »Fleischerhemd«. Wer es sich leisten konnte, trug noch eine alte abgewetzte Lederjacke (»Thälmannjacke«) oder lange Leder- und Filzmäntel. Absolutes Statussymbol in der Szene war jedoch der Besitz eines amerikanischen Shell-Parka, der als die Paradeuniform des DDR-Blues schlechthin zu gelten hat. Dazu gehörten Nickelbrillen für die Herren und Hebammentaschen für die Damen, um den »Kunden«-Status perfekt zu machen. Auch vor dem Hintergrund der »Gammler«- und »Rowdy«-Verfolgung in der DDR war dieses Outfit eine potenzielle Provokation gegenüber der Staatsmacht. Trampte man dergestalt gekleidet durchs Land, konnte man sich einer Kontrolle durch inoffizielle und offizielle Staatsbedienstete sicher sein. Das ästhetische Moment und dessen Signalcharakter für die Obrigkeit hatten hier, genau wie in der Punkbewegung, einen entscheidenden Anteil daran, dass sich die Fans und Protagonisten eines Musikstils zwangsweise in Vertreter einer Bewegung transformiert sahen. Das Ansehen der ostdeutschen Bands der Bluesszene wie Engerling, Monokel, Jürgen Kerth oder Hansi Biebl-Band stieg mit ihrer Fähigkeit zum perfekten Nachspiel der jeweiligen internationalen Hymnen. Interessant für die Wahrnehmung symbolischen Kapitals und Bewegungspotenzials sind aber jene Künstler und Gruppierungen, wie Freygang und andere, die mit eigenem Repertoire und authentischem Auftreten dem Widerstand gegen das langweilige System und dem damit verbundenen Alltag stellvertretend eine musikalische Stimme und Gesicht verliehen. Hierzu zählten auch zahlreiche Liedermacher, wie Gerhard Schöne, Bettina Wegner oder Gerhard Gundermann, die auch und gerade im Umfeld der kirchlichen Protestbewegungen Auftrittsmöglichkeiten und Wirkungsfelder für ihre kritischen Positionen fanden. Am stärksten autonom und damit automatisch kritisch mit dem bestehenden System staatsgelenkter Kulturbespielung waren der um 1980 entstandene Punk und eine im Schlepptau befindliche Independent-Szene. Bands wie Zwitschermaschine, Rosa Extra (nach einer bekannten Damenbinden-Marke benannt) in Berlin, später als Hard Pop auf Amiga, Wutanfall, L’Attentat und Die Zucht in Leipzig oder Schleim-Keim in Erfurt unterbreiteten ein Angebot jenseits des hippiesken Peace-Feelings mit offen zur Schau getragener Aggressivität und ästhetischer sowie politischer Abweichung. Die Punks der

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ersten Stunde in der DDR waren selten übersättigte Abiturienten wie mitunter jene aus der BRD, die gelegentlich über die Berliner Stadtgrenze kamen, um Fraternisierungsversuche mit Ost-Punks zu starten – letztendlich aber von diesen ordentlich abgezogen wurden. Es waren auch nicht die Punks der späteren DDR-Generation, die aus der langweiligen Welt des sozialistischen Bildungsbürgertums flüchteten, sondern Arbeiter und »Asoziale« im Umfeld der Hausbesetzerszene, die sich der maroden Innenstadthäuser annahmen, um an neuen Lebensentwürfen zu bauen. Aus dem Umfeld der proletarischen Agglomerationen der Vorstädte heraus entstanden Lebensstile, die nicht nur der Staatsmacht suspekt waren. Bevor der Punk als rein audiovisuelles Versatzstück den Weg in die Amiga-Studios oder die Produktionen der späten 1980er-DDR-Popbands fand, war er ein Phänomen, welches einiges an politischem und widerständigem Engagement der Musiker wie auch Mitstreiter erforderte. Im Sog der wachsenden Popularität dieser Musik und des Lebensstils des DDR-Punks, dem ja ein direkter Abgleich mit den westlichen Originalen weitgehend verwehrt blieb, entstand eine illustre Szene von politisierendem Punk (Wutanfall, L’Attentat, Der Demokratische Konsum, Zwitschermaschine,Schleimkeim) und Funpunk (Feeling B, Skeptiker) bis Post-Punk/Darkwave (Die Art, Die Vision, Freunde der italienischen Oper), aber auch Dadapop (AG Geige), Independent Rock/New Wave (die anderen, Sandow, Herbst in Peking, Mad Affaire, Hard Pop) und vielen anderen: Ausprägungen, die ein unterschiedlich ambitioniertes Publikum versammelten. Dabei wurden die Kontakte und Gemeinsamkeiten zu der etablierten DDRRockszene in der Mitte der 1980er Jahre immer enger. Mit der Erosion des staatlichen Kulturmonopols auf Grund der gesamtpolitischen Entwicklungen war es auch den musikalischen »Randgruppen« möglich, ins Bewusstsein breiter Massen vorzustoßen – und als Bands und Musiker am großen Kuchen der Popularität teilzuhaben. FDJ-Clubs, das Radio, der Film und sogar das Fernsehen leisteten dieser Konvergenz mit einer verhaltenen Öffnung Vorschub. Punk und Independent-Musik wurden in diesem Prozess zunehmend ästhetisiert und in der Hauptsache mehr als Musikstil denn als Bewegung und Ausdruck einer Lebensweise bestimmter Schichten und Jugendgruppen in den kulturellen Alltag integriert. Auch in der DDR wurde, wie in den westlichen Ländern Jahre zuvor, der Bewegungscharakter des Punks »entwertet« – in der DDR weniger durch Kommerzialisierung als vielmehr durch staatliche Assimilation. Und so sollten sich Musikschaffende ganz unterschiedlicher Herkunft immer öfter begegnen. Der Zuwachs am politischen Kapital, der mit diesem Assimilationsprozess erkauft wurde, führte zu einem Verlust am symbolischen widerständigen Kapital, das den Kern vieler dieser Jasper A. Friedrich / Fernando Ramos Arenas  —  Bedingt eingestimmt

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Szenen ausgemacht hatte. So wurde das Mastermind der Indierock-Gruppe die anderen, Olaf »Toaster« Tost, von Fans wie auch Musikkollegen wegen seiner eher zufällig bestehenden Kontakte zu Rockgrößen wie Dirk Zöllner oder André Herzberg (Pankow) kritisiert.7 Verständlich und beispielhaft war diese Begegnung konträrer Positionen aber aus der Logik ostdeutscher Musiksozialisation. Warum sollten Punks, die als Kind gern softigen, aber engagierten Rock à la Pankow gehört haben, diese nun verdammen oder einen Bogen um ihre ehemaligen Helden machen? Ebenso auf Unverständnis stießen bei den noch ideologisch im Kulturkampf verharrenden Hardcorepunks die immer häufiger werdenden Veröffentlichungen von Indiebands bei Amiga – wobei die Quartettsingle Kleeblatt Nr. 23 Die anderen Bands von 1988 ein beispielhaftes Dokument ist. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass durch diese Veröffentlichung den Independent-Bands der DDR gleichermaßen ein Label von Amiga aufgeklebt wurde: »Die anderen Bands«. Wie Olaf Tost bestätigt, stand wohl deren Bandname Pate, aber sie selbst waren an der LP unbeteiligt. Sogar bereits seit März 1986 besaßen die »anderen Bands«, aber auch Metal- und HiphopKapellen, einen offiziellen Medienkanal über die von Lutz Schramm bei DT 64 moderierte Radiosendung Parocktikum. 1989 veröffentlichte Amiga eine LP gleichen Namens. An diesen Prozessen lässt sich nachvollziehen, wie das Phänomen Punk und Post-Punk über Anpassung der Bands einerseits und die Agonie des kulturstaatlichen Programms andererseits den Weg in den Mainstream gefunden hat. Im Oktober 1988 wurden Die Skeptiker und Sandow sogar Preisträger der IX. Werkstattwoche Jugendtanzmusik und daraufhin von der Szene als ›FDJ-Punks‹ gebrandmarkt. Dennoch ist auf der anderen Seite der Stadt namens ›Punk und Independent‹ ein urwüchsiger und widerständiger Punk als Bewegung erhalten geblieben. Viele Vertreter dieser Bewegung mussten bis zum Ende der DDR unter Verfolgung und Repression leiden. Das geringste Autonomiebestreben kann den großen Bands des DDRRocks attestiert werden. Somit war es schon über das hohe Ausmaß der Massendurchdringung möglich, dass sich diese spezielle DDR-Musik in der kulturellen Landschaft und Alltagspraxis verankern konnte. In hervorragender Weise bedienten in den 1980er Jahren sogar ehemals als alternativ etablierte Kapellen den Wunsch des Apparates wie auch der Menschen im Land, unpolitische und aufs formale beschränkte Musik zur Unterhaltung zu liefern. Die Spirale der Akkumulation von symbolischem Kapital – dieses in Popularität und Zugang zu Ressourcen umzuwandeln, um wiederum den Vorrat an symbolischem Kapital aufzufrischen und zu erhöhen – konnte in der DDR

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7  Interview mit Olaf Tost am 07. 12. 2013 in Berlin.

nur über spezielle Anpassungsstrategien an den Massengeschmack und die kulturpolitischen Zwänge der Politikerkaste realisiert werden. Die Puhdys, Nationalpreisträger II. Klasse von 1982, verkörperten wie keine andere Band das distanzlose Anbiedern Musikschaffender an die DDR-Partei- und Staatsführung. Hier erschien die Musik nicht Ausdruck eines authentischen Lebensstils zu sein, sondern Ergebnis künstlerischen und ökonomischen Kalküls, welches nicht zuletzt auf dem vagen Wohlwollen der Mächtigen aufbaute. Ihr unpolitischer und für die Staatsordnung ungefährlicher Duktus ermöglichte es ihnen, offiziell auch für den englischsprachigen Markt zu produzieren. 1981 erschien Far from Home – deutschsprachige Lizenzen ihrer Langspieler für Hansa-Ariola folgten. Die Erfolge von Karat in der BRD sind ebenfalls bekannt: Über sieben (goldene) Brücken wurde in den Westen gegangen und nicht über verschlungene Wege geheimer westdeutscher Kuriere, die ihre Reisepässe und mehr mit dem Schmuggeln von Tonbändern aufs Spiel setzten. Dennoch, von diesen Ausnahmen abgesehen, war der DDR-Staatsrock kein Exportschlager. Zu autistisch erschien im internationalen Vergleich das Verharren in artifiziellen Gefilden des Progrocks einer breiten Phalanx ostdeutscher Bands wie Stern Meissen, Lift, Elektra u. a. Nicht zuletzt die unbedarften und sozialistisch-codierten Texte, welche in den Massenmedien gespielt werden durften, verhinderten eine ernsthafte Fangemeine jenseits von historisch interessierten Liebhabern außerhalb Ostdeutschlands. Eine Adaption audiovisueller Ästhetik der in Westdeutschland populär gewordenen und in der DDR ebenso rege rezipierten Neuen Deutschen Welle durch einige Bands wie die Puhdys gelang nur als lächerlicher Seitensprung. Der der Rock- und Pop-Musik immanente Gestus des Unangepassten wurde allerdings bei vielen der vom Staat sanktionierten Künstler weiterhin gepflegt. Seine Umsetzung verlief in allegorischer oder lyrischer Form, was ihr ›Gefährdungspotenzial‹ stark minderte. Ein kritischer Duktus sollte sich erst im Laufe der 1980er Jahre verstärken, besonders als die populären Rockbands befürchteten, vom mehr und mehr kritischen Publikum als zu staatsnah wahrgenommen zu werden. Die Suche nach einer engeren Beziehung zu den Fans wurde dadurch für viele Bands immer wichtiger, als sie merkten, dass das Partei-Monopol im kulturellen Bereich immer heftiger wankte.8 Anders war es beim Freejazz oder der Klassik, aus deren Reihen viele Ak8  Vgl. Wolfgang MühlBenninghaus, Unterhaltung als Eigensinn. Eine ostdeutsche Mediengeschichte, Frankfurt a. M. 2012, S. 323.

teure internationale Anerkennung errangen. Hier aber war das Unpolitische Programm – gekennzeichnet durch eine Flucht entweder in die Virtuosität der Jazzer, wie bei Günter ›Baby‹ Sommer, oder in die Strahlkraft großer Meisterschaft, wie beim Leipziger Gewandhausorchester unter Leitung von Kurt Masur. Jasper A. Friedrich / Fernando Ramos Arenas  —  Bedingt eingestimmt

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RESÜMEE Das prägendste Kennzeichen der kulturellen Entwicklung, die man mit dem Wirken von Musik in Verbindung bringen kann, ist vielleicht jenes der politischen Protestbewegung, die viele ästhetische und stilistische Gesichter hatte und zu der Blues, Jazz, Punk und die Liedermacher im Umfeld der Kirche gehörten. Mit der Erosion der DDR , der großen Ausreisewelle 1984, Perestroika und dem eigenen sozialistischen Weg der DDR ins Nirvana der Weltgeschichte ab 1986, lockerte sich der Apparat und die verschiedenen Musikstile konnten ihr Bewegungspotenzial auch in tatsächliche Masse und Wirkungsmacht umwandeln. Die Kulturhäuser der FDJ öffneten ihre Pforten genauso wie das Plattenstudio und, etwas verhaltener, das offizielle Radio und Fernsehen. So häuften sich im Verlauf der 1980er Jahre auch die Festivals, mit denen versucht wurde, die Entwicklungen in den jungen, alternativen Szenen zu ›steuern‹: Oft übernahm dabei die FDJ die Organisation von großen Konzerten, zu denen westliche Künstler wie Bruce Springsteen, Billy Bragg, Depeche Mode, Joe Cocker oder Udo Lindenberg eingeladen wurden. Der sichtbare Verfall der DDR , ihre politische Loslösung vom Zentralgestirn Sowjetunion, die Folgen des nun offiziellen Deutsch-Deutschen Kulturabkommens sowie die offenbare Ohnmacht der greisen Führung und ihrer Apparaturen kennzeichnen die 1980er Jahre als einzigartige Aufbruchszeit, in der das Land für die Kulturszene nur als »Kulisse eines unzeitgemäßen und schäbigen Theaterspiels«9 fungierte. Klar ist inzwischen eines: Weder Silly, City, Karat noch die Puhdys spielten den Soundtrack zur Wende. Die ›kritischen‹ Texte dieser Kapellen waren nicht mehr als publikumswirksame Attitüde und für niemanden schmerzhaft. Aber auch nicht Feeling B, die anderen oder Die Art, die sich gleichfalls ihre lebensweltlichen Nischen und Nester gebaut hatten und auf Spaß als soziale Verweigerung oder inszenierte Düsterheit setzten. Als die Wende kam, wurde der Soundtrack von den Menschen gespielt, die die Lieder im Ohr hatten und selbst nach den Sternen griffen, anstatt nur davon zu singen oder Resolutionen zu verlesen, als es keinen Mut mehr erforderte.

Prof. Dr. Jasper A. Friedrich, geb. 1965, ist Pro­ fessor für Journalismus und Unternehmens­ kommunikation an der HMKW (Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft) Berlin und war bis 1989 teilnehmender Beobachter der DDR-Musikszene bei verschiedenen Bands wie »Die Zucht«, »Die Art«, »Mad Affaire« u. a.

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9  Paul Kaiser u. Claudia Petzold, Boheme und Diktatur in der DDR. Gruppen, Konflikte, Quartiere, 1970–1989, Berlin 1997, S. 57.

Dr. Fernando Ramos Arenas, geb. 1981, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medienund Kommunikationswissenschaft der Universität Leipzig und habilitiert im Forschungsschwerpunkt Medienwissenschaft und Medienkultur.

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UNGUNST DES AUGENBLICKS DAS »MPI ZUR ERFORSCHUNG DER LEBENS­ BEDINGUNGEN DER WISSENSCHAFTLICHTECHNISCHEN WELT« IN STARNBERG ΞΞ Ariane Leendertz

Nichts Geringeres als die Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt sollten zwischen 1970 und 1980 in Starnberg untersucht werden. Eigens für Carl Friedrich von Weizsäcker hatte die Max-Planck-Gesellschaft hier ein Institut geschaffen, in dem dieser sich nicht allein mit Quantenphysik und Philosophie, sondern auch mit Schicksalsfragen der Menschheit befassen wollte: mit dem prekären Gleichgewicht der Abschreckung im Kalten Krieg, in dem die nukleare Apokalypse nur einen Wimpernschlag entfernt schien; mit den ökologischen und sozialen Folgen von Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum und einer zunehmenden globalen Verflechtung, insbesondere in den Entwicklungsländern; mit der ambivalenten Rolle der Wissenschaft als Motor technologischen Fortschritts, der zugleich potenziell tödliche oder ethisch nicht hinnehmbare Gefahren barg. Viele der Themen gewannen in den 1980er Jahren an Gewicht in öffentlicher Wahrnehmung und politischer Debatte und blieben über die weiteren Jahrzehnte aktuell, wie beispielsweise die früh erkannten Effekte der Globalisierung. Umwelt, Ökologie, Frieden, Wettrüsten, Atomkrieg, Dritte Welt, Welthunger – all dies sind Starnberger Themen, die weithin mit den 1980er Jahren assoziiert werden. Allerdings war das Institut zu diesem Zeitpunkt bereits Geschichte. Auf den ersten Blick erscheint seine Schließung deshalb paradox, denn nach von Weizsäckers Vorstellung sollte das Institut eben gerade Themen von unmittelbarer gesellschaftlicher und politischer Relevanz aufgreifen, zugleich das Bewusstsein der Öffentlichkeit schärfen und als Mahner an die Politiker appellieren. Doch schon 1980 verlor es mit seinem Gründungsdirektor – von Weizsäcker wurde in diesem Jahr emeritiert – seinen programmatischen Namen und sollte nurmehr als Max-Planck-Institut für Sozialwissenschaften weiterarbeiten. Die Leitung lag nun in den Händen von Jürgen Habermas, den von Weizsäcker 1971 als zweiten Direktor nach Bayern gelotst hatte. Die Arbeiten von Weizsäckers und seiner Mitarbeiter wurden größtenteils eingestellt; das neue Forschungsprogramm orientierte sich an den wissenschaftlichen Interessen von Habermas. Umsetzen ließ sich

INDES, 2014–1, S. 105–116, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X

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der Neustart jedoch nicht. 1981 trat Habermas zurück. Die Max-Planck-Gesellschaft schloss das Institut, wollte sich indes nicht aus den Sozialwissenschaften zurückziehen und gründete 1984 ein neues Institut. Die alten Themen hatten dort entweder keinen Platz mehr oder wurden in ein vollkommen neues Gewand gehüllt, mit einer ganz anderen Forschungsperspektive. Mit dem alten hatte das neue, in Köln angesiedelte Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, geleitet von Renate Mayntz und Fritz Scharpf, wenig gemein. Mehr noch: Es verkörperte eine bewusste Abgrenzung gegenüber dem Starnberger Experiment. Als solches hatte die MPG das Weizsäcker-Institut bei seiner Gründung betrachtet. Warum die Arbeiten von Weizsäckers nach 1980 weder in Starnberg noch in Köln weiterverfolgt werden sollten, lässt sich offensichtlich mit den unterschiedlichen Forschungsinteressen der beteiligten Wissenschaftler erklären. Das MPG-Leitbild des sogenannten Harnack-Prinzips, nach dem die Interessen der Direktoren für das Forschungsdesign eines Instituts maßgeblich sind, behielt in Starnberg wie in Köln seine Gültigkeit. Auch deshalb waren diese beiden sozialwissenschaftlichen Max-Planck-Institute und ihre Forschungsprogramme derart unterschiedlich konzipiert. Doch warum rückte die Max-Planck-Gesellschaft von von Weizsäckers Themen ab? Warum entschied sich die MPG 1984 für eine Direktorin, die ein gänzlich anderes Forschungsprogramm verkörperte, als 1968 einmal projektiert gewesen war? Welche Art von Sozialwissenschaften war die MPG bereit zu fördern? DIE »SCHLIESSUNG« DES WEIZSÄCKER-BEREICHES Verfolgen wir das Schicksal der Weizsäcker’schen Themen zunächst in den Entscheidungsprozessen der Max-Planck-Gesellschaft. Von 1977 an befasste sich eine Kommission aus MPG-internen und externen Wissenschaftlern mit der zukünftigen Struktur des Instituts nach von Weizsäckers Emeritierung. Das Institut hatte zu dieser Zeit zwei Arbeitsbereiche mit jeweils vier Themenkomplexen, die von unterschiedlichen Wissenschaftlergruppen bearbeitet wurden. Unter Habermas’ Ägide waren dies Krisenpotenziale spätkapitalistischer Gesellschaften, Krisenbehandlung durch den Staat, Protest- und Rückzugspotenziale von Jugendlichen sowie Ontogenese von Moralbewusstsein. Zur Disposition standen ab 1977 die Arbeitsgruppen und Themen des Weizsäcker-Bereiches, die einst bei der Gründung den Kern gebildet hatten: Kriegsverhütung und Strategie, Ökonomie (Umwelt, Wachstum, Entwicklungsländer), Wissenschaftsforschung und Quantentheorie. Vor allem erstere waren auch die Themen, mit denen das Institut in Medien und Öffentlichkeit assoziiert wurde, wo es stets als das »Weizsäcker-Institut« galt, das sich mit

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1  Die bekanntesten Veröffentlichungen dieser Gruppen waren Carl Friedrich von Weizsäcker (Hg.), Kriegsfolgen und Kriegsverhütung, München 1971 und die Arbeit zur damals noch nicht so genannten Globalisierung von Folker Fröbel u. a., Die neue internationale Arbeitsteilung. Strukturelle Arbeitslosigkeit in den Industrieländern und die Industrialisierung der Entwicklungsländer, Reinbek bei Hamburg, 1977.

Friedens- und der kurzzeitig populären Zukunftsforschung beschäftigte. Von der Kommission nach seinen Vorstellungen befragt, wünschte sich von Weizsäcker nach seinem Ausscheiden eine Fortsetzung der Studien zur Kriegsverhütung/Strategie sowie zur Ökonomie.1 Für diese Bereiche solle man nach einem Nachfolger suchen; die Wissenschaftsforschung und Quantentheorie hingegen empfahl er aufzugeben (die Quantentheorie fiel dann für alle Beteiligten rasch weg).2 Habermas sah es fast genau umgekehrt, zeigte wenig Interesse an einer Fortsetzung der Strategie- und ökonomischen Forschung, verwies dafür auf Berührungspunkte mit der Wissenschaftsforschung,3 vor allem aber auf zwei mögliche Ergänzungen für die Forschungen seines Arbeits-

2  C.F. von Weizsäcker, Erwägungen über die Zukunft des Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt, o.D., MPG-Archiv, II. Abt., Rep. 1A, Geisteswissenschaftliche Sektion: Kommission MaxPlanck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt 2.

bereiches: entweder in der Sozialisationsforschung oder einer vergleichenden Analyse der Entwicklung von Gesellschaftssystemen.4 Neun auswärtige Gutachter schienen dann zu bestätigen, was zuvor auch schon der wissenschaftliche Beirat des Instituts bemängelt hatte: ein zu breites Forschungsprogramm, gleichwohl mit immens wichtigen Themen, aber mit zu geringen Schnittmengen zwischen den beiden Arbeitsbereichen, von der Wissenschaftsforschung einmal abgesehen. Eine Auflösung des Weizsäcker-Bereiches zeichnete sich da schon ab. Wenn keine enge Verflechtung

3  Die Mitarbeiter dieser Gruppe wurden durch ihre Theorie der »Finalisierung der Wissenschaft« bekannt. Gernot Böhme u. a., Die gesellschaftliche Orientierung des wissenschaftlichen Fortschritts, Frankfurt a. M. 1978. 4  J. Habermas, Überlegungen zur Ergänzung des Arbeitsbereichs II, o. D., MPG-Archiv, III. Abt., NL von Weizsäcker, ZA 182/81. 5  Hierzu und zum Folgenden mit genauen Quellenangaben Ariane Leendertz, Die pragmatische Wende. Die Max-Planck-Gesellschaft und die Sozialwissenschaften, Göttingen 2010, S. 26–33. 6  Vielleicht handelt es sich hierbei ebenfalls um ein »Fertilitätsprinzip« der MPG, wie es Horst Kant und Jürgen Renn genannt haben. Danach begünstigen personelle Netzwerke die Gründung von neuen Instituten aus bestehenden. Siehe Horst Kant u. Jürgen Renn, Eine

bestand, dann machte das einen Umbau leichter: Der Habermas-Bereich war autark, würde also beim Wegfall keinen Schaden nehmen, vielmehr würde ihm die Wahl neuer Themen und Köpfe neue Möglichkeiten bieten. In der Max-Planck-Gesellschaft wurde Jürgen Habermas als der Kern des Instituts wahrgenommen und die Zukunftsüberlegungen kreisten um die Frage nach sinnvollen Erweiterungsmöglichkeiten. Noch dazu herrschten in der Kommission Zweifel an der Qualität von Forschungen und Mitarbeitern in Teilen des Weizsäcker-Bereiches, namentlich in der Ökonomie- und der Strategieforschung.5 Das bestätigte ebenfalls ein im Frühjahr 1978 eigens hinzugezogener prominenter Gutachter, Ralf Dahrendorf. Die Fortsetzung der Strategieforschung hielt dieser für problematisch, den ökonomischen Arbeiten fehlte es in seinen Augen an international respektablem Niveau. Weiterhin gutachteten Renate Mayntz und Paul Baltes, die sich für unterschiedliche Erweiterungen des Habermas-Bereiches aussprachen. Zufall oder nicht: Mayntz und Baltes sollten bald darauf selbst zu Max-Planck-Direktoren berufen werden (Baltes 1980 an das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Mayntz 1984 als Kölner Gründungsdirektorin). Ralf Dahrendorf wurde nur wenige Monate nach seiner gutachterlichen Stellungnahme als Nachfolger von Weizsäckers gehandelt.6 Einig waren sich Habermas und Dahrendorf, die Arbeiten zur Ökonomie zu beenden und mithin diese Mitarbeiter nicht zu übernehmen. Eine Angliederung der Mitarbeiter der Ariane Leendertz  —  Ungunst des Augenblicks

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Strategie- und der Wissenschaftsforschung an die neuen Arbeitsbereiche hielt Habermas für möglich. Die endgültige Entscheidung lag jedoch bei der Kommission, die eine Empfehlung für die nächsthöhere Entscheidungsinstanz, die Geisteswissenschaftliche Sektion der MPG, zu formulieren hatte. Die Forschungen des Arbeitsbereiches von Weizsäckers sollten nicht fortgesetzt, dessen Themen mithin aufgegeben, der Arbeitsbereich aufgelöst und das Institut nach den Wünschen von Habermas und Dahrendorf zum Max-Planck-Institut für Sozialwissenschaften umgebaut werden. Am knappen Abstimmungsergebnis der Sektion lässt sich ablesen, dass dieser die Entscheidung nicht leicht fiel.7

utopische Episode – Carl Friedrich von Weizsäcker in den Netzwerken der MPG, in: Klaus Hentschel u. Dieter Hoffmann (Hg.), Carl Friedrich von Weizsäcker – Physik, Philosophie, Friedensforschung, Stuttgart (i. E.). In ähnlicher Weise könnte eine Gutachter- und Kommissionstätigkeit für die MPG die Berufung zu Institutsdirektoren begünstigen. Mit Franz Weinert wurde 1980 sogar ein Mitglied der Starnberger MPG-Kommission nach Starnberg berufen.

Mit nur drei Stimmen Mehrheit votierte die Sektion für das Ende der Weizsäcker-Arbeiten (mit Ausnahme der Wissenschaftsforschung, für die sich Habermas immer wieder beim MPG-Präsidenten Reimar Lüst eingesetzt hatte). Als dann die betroffenen Mitarbeiter mit Hilfe der Medien und politischer Mitglieder des MPG-Senats gegen die Auflösung mobilisierten, begann die MPG-Spitze um Präsident Lüst, unmissverständlich von einer »Schließung«

des Weizsäcker-Bereiches zu sprechen – dieses Wort hatte man angesichts der öffentlich-medialen Aufmerksamkeit, unter der das Institut seit seiner Gründung stand, bis dahin vermieden. Als dann Dahrendorf nach einem Jahr des Planens und Verhandelns im Mai 1979 den Ruf der MPG ablehnte und in London blieb, stießen wenige Senatsmitglieder und Mitarbeiter eine erneute Debatte über die Auflösung an, fanden im Senat aber letztlich kein Gehör. Es blieb bei dem Plan, den Habermas-Bereich zu ergänzen, dann eben ohne Dahrendorf. FÄLLT DIE PERSON, SO DAS PROGRAMM In die Entscheidung, die Weizsäcker’schen Arbeiten zu beenden, flossen somit ganz unterschiedliche Überlegungen ein: Das Harnack-Prinzip versprach die Ausrichtung eines Instituts an den Vorstellungen seines Direktors oder seiner Direktoren; das Verständnis von Kollegialität unter den in Kommission und Sektion versammelten Direktoren unterschiedlicher Institute verbot, Strukturentscheidungen gegen den Willen des verbleibenden Leiters zu treffen. Fanden sich für existierende Forschungsbereiche keine überzeugenden Leitungskandidaten – und so war es in den Augen der Kommission –, standen diese zur Disposition. Dies war umso wertvoller, als die finanziellen Spielräume der MPG von Mitte der 1970er Jahre an wesentlich enger wurden. Neugründungen oder Erweiterungen konnten nicht mehr, wie zuvor, aus den jährlichen Etatzuwächsen bezahlt werden. Stattdessen waren durch Institutsschließungen oder Umstrukturierungen die notwendigen Finanzmittel und

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7  Ergebnisprotokoll der Sitzung der Geisteswissenschaftlichen Sektion des Wissenschaftlichen Rates der MPG am 31. Okt. 1978, MPG-Archiv, Niederschriften der Geisteswissenschaftlichen Sektion.

Wissenschaftlerstellen intern freizusetzen. Wurden Arbeitsbereiche weitergeführt, mussten ihre Mitarbeiter übernommen werden. Das war im Institut ein heikles Thema, denn Habermas hatte von von Weizsäcker 1975 nachdrücklich eine andere Personalpolitik gefordert, da ihm die fachliche Kompetenz einiger Mitarbeiter fragwürdig erschien, die Arbeiten sehr heterogen waren und das Diskussionsniveau in seinen Augen unter mangelnder akademischer Disziplin litt.8 Im Bereich der Ökonomie hatte das Institut selbst eine Schwäche gesehen und auf Weizsäckers Betreiben die Berufung eines Ökonomen als drittem Direktor beantragt; dem war die MPG jedoch nicht gefolgt. Als vier Weizsäcker-Mitarbeiter sich schließlich 1981 im neuen Institut einklagen wollten, trat Habermas entnervt und frustriert nach noch weiteren Rückschlägen zurück. Letztlich konnten sich die Forschungen zu den ökonomischen Themen in der MPG wissenschaftlich nicht legitimieren. Ein ähnliches Problem hatten die Studien zur Kriegsverhütung im Umfeld der Friedensforschung, die MPG-Präsident Lüst öffentlich als »Mittelmaß« kritisierte.9 Das öffentlich geäußerte Bedauern von Weizsäckers über das Ende seiner Themen blieb in der MPG nicht ohne Echo. Immer wieder wurde betont, dass es doch wünschenswert sei, diese nicht aufzugeben. Doch außer Dahrendorf, der zumindest die Strategieforschung in seine Studien zur internationalen Politik hätte integrieren können, standen nie ernsthafte Kandidaten für von Weizsäckers Nachfolge zur Debatte (ohne Quantentheorie). Von Weizsäcker blieb die integrierende Persönlichkeit, die als unersetzbar galt – Programm und Person waren eins: Fiel die Person, fiel das Programm. Betrachten wir den gesellschaftlich-politischen Kontext, in dem die MPG ihre Entscheidungen traf, so hatte sich Ende der 1970er Jahre doch vieles grundlegend verändert. Das Weizsäcker’sche Programm atmete noch den Geist einer anderen Zeit, die Horst Kant und Jürgen Renn als »utopische Episode« der MPG charakterisiert haben, geprägt von zwei exzeptionellen Neugründungen: des Instituts für Bildungsforschung in der Max-Planck-Gesellschaft (1960–1963) und des Starnberger Instituts (1967–1969).10 8  Habermas an von Weizsäcker, 16. 09. 1975, MPG-Archiv, NL von Weizsäcker, ZA 54/239. 9  »Auf die Qualität kommt es an.« Warum das Starnberger Institut nicht weitergeführt wird. Ein Gespräch mit Reimar Lüst, in: Die Zeit, 09. 05. 1980. 10  Kant u. Renn, Eine utopische Episode (i. E.).

RÜCKZUG AUS DER UTOPIE In beiden Gründungen manifestierte sich die Bereitschaft der MPG, wissenschaftliche Forschung auf aktuelle gesellschaftspolitische Fragen auszurichten, die Forschungsergebnisse in die Öffentlichkeit zu tragen und sich damit zugleich in beratender Rolle an die Politik zu wenden, um Anstöße für gesellschaftliche Veränderungen zu geben. Im Mittelpunkt dieses Unterfangens standen mit dem Reformpädagogen Hellmut Becker und Carl Friedrich von Weizsäcker zwei miteinander befreundete Charismatiker, auf deren Person Ariane Leendertz  —  Ungunst des Augenblicks

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die neuen Institute passgerecht zugeschnitten waren. Beide Gründungen, zu denen sich die Studienkollegen mit Hilfe ihrer mächtigen Netzwerke gegenseitig verhalfen,11 waren von der Überzeugung getragen, die Politik – sei es die Bildungs- und Forschungspolitik, die Verteidigungs- oder Umweltpolitik – durch direkten Zugang zu den neuesten Ergebnissen der Forschung und durch informierte Beratung beeinflussen zu können. Gleichzeitig sollte die Öffentlichkeit über die wichtigsten Entwicklungen in der wissenschaftlichen Forschung informiert sein, um jenes kritische Bewusstsein auszubilden, das eine wirkliche Partizipation am politischen Geschehen erst ermöglichte. Die Wissenschaft hatte für die Gesellschaft zu arbeiten, musste sich aber zugleich auch kritisch selbst reflektieren. Diese reflexive Komponente institutionalisierte von Weizsäcker damals in der Wissenschaftsforschung. Die Geburt aus der Idee der Politikberatung, getragen von der Idee einer Verwissenschaftlichung der Politik, lässt sich für das Starnberger Institut detailliert zurückverfolgen.12 Seine Beratungsambitionen musste von Weizsäcker allerdings nach Kritik aus MPG-Zirkeln rasch zurückschrauben. Hier war das Unbehagen trotz namhafter Unterstützer wie Werner Heisenberg und Adolf Butenandt doch zu groß, erstens eine viel auf ihre Unabhängigkeit haltende Institution der Grundlagenforschung in allzu große Nähe zum aktiven Beratungsgeschäft zu rücken, vor allem aber zweitens möglicherweise links gerichteten Dilettanten mit Hilfe des Gütesiegels MPG tatsächlich politischen Einfluss zu verschaffen.13 Es gab somit institutionelle Widerstände gegen das Institut, teils entlang der politischen Konfliktlinien, die in den 1970er Jahren das gesellschaftliche Klima in der Bundesrepublik prägten. Gegen die politisch meist links stehenden, reformorientierten Kreise sammelte sich eine konservative Gegenbewegung. Beide Seiten pflegten ihre Feindbilder und sparten nicht an militanter, ins Persönliche gehender Polemik. Mittendrin in diesen Kämpfen stand das Starnberger Institut mit von Weizsäcker, der in bürgerlich-liberaler Grandeur zumeist über den politischen Gräben schwebte, und mit dem zwischen allen linken und rechten Stühlen sitzenden Habermas, der sich nach anfänglichen Bedenken doch rasch Respekt in der MPG verschaffen konnte. Die tat ja seit 1977 ihr Möglichstes, um ihn zu halten. Man kann nun einerseits hypothetisieren, dass die konservativen Tendenzen in der Politik, die Helmut Kohl 1982/83 an die Macht trugen, mit mächti-

11  Vgl. ebd.; Jan-Martin Wiarda, Der Strippenzieher, in: Die Zeit, 16. 05. 2013. 12  Ariane Leendertz, Ein gescheitertes Experiment. CarlFriedrich von Weizsäcker, Jürgen Habermas und die Max-PlanckGesellschaft, in: Hentschel u. Hoffmann (Hg.), Carl-Friedrich von Weizsäcker (i. E.); Wilfried Rudloff, Verwissenschaftlichung der Politik? Wissenschaftliche Politikberatung in den sechziger Jahren, in: Peter Collin u. Thomas Horstmann (Hg.), Das Wissen des Staates. Geschichte, Theorie und Praxis, Baden-Baden 2004, S. 216–257, hier S. 233 f.

gem Gegenwind gegen bestimmte Themen und Disziplinen wie jene der Friedensforschung, gegen Sozialwissenschaftler, die sich als »kritisch« verstanden, oder gegen eine marxistisch grundierte Theoriebildung einhergingen. Andererseits jedoch gewann die Anti-AKW-Bewegung seit Mitte der 1970er Jahre immer mehr an Bedeutung; der Störfall von Harrisburg offenbarte die

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13  Siehe hierzu die eigens zu Protokoll gegebenen Einwände von Carl Wurster und Karl Winnacker, aufgeschlüsselt in Leendertz, Ein gescheitertes Experiment (i. E.).

Risiken einer nicht beherrschbaren Technologie. Die Friedensbewegung erhielt neuen Aufwind in den Protesten gegen den NATO-Doppelbeschluss, die zweite Ölpreiskrise bekräftigte die Abhängigkeit von nicht erneuerbaren Ressourcen und die Grünen wurden zu einer ernstzunehmenden politischen Kraft, die 1983 in den Bundestag einzog. Gesellschaftliche Entwicklungen bestätigten also die öffentliche Relevanz der Starnberger Themen. Doch aus diesem politisierten und politisierbaren Terrain wollte die MPG sich bewusst zurückziehen. Dabei mag erstens die Legitimation der Wissenschaftsorganisation gegenüber ihren Geldgebern aus Bund und Ländern eine Rolle gespielt haben. In ihrer politischen Lobbyarbeit setzte die MPG ungefähr seit Mitte der 1970er Jahre einen stärkeren Akzent auf die Grundlagenforschung,14 was sich auch gegen eine sich in der Politik verbreitende Forderung richtete, die Forschung habe ihren unmittelbaren wirtschaftlichen Nutzen nachzuweisen, wollte sie weiterhin in den Genuss großzügiger Fördermittel kommen.15 Die politische Relevanz von Forschungsthemen zu betonen, bedeutete letztlich eine Einengung der Themenwahl (je nach politischem Wind). Sie bildete ein Einfallstor für politische Begehrlichkeiten und Einflussnahme und ließ sich mit der neuen Offensive für die Grundlagenforschung schlecht vereinen. Betonte die MPG die Grundlagenforschung, war es leichter, nach »rein« wissenschaftlichen Kriterien zu diskutieren. Und das half, die Autonomie der wissenschaftlichen Selbstverwaltung der MPG zu sichern. Zweitens kann man diesen Rückzug gleichwohl auch als Ergebnis durchaus schmerzvoller Erfahrungen und Lernprozesse interpretieren, welche die MPG in den zehn Jahren mit dem Starnberger Institut durchlief. Da war nämlich eben auch die mediale Aufmerksamkeit, die das Institut sogar 14 

Siehe u. a. die Ansprache des Präsidenten Professsor Dr. Reimar Lüst in der Festversammlung der Max-PlanckGesellschaft in Hamburg am 20. 06. 1975, in: Jahrbuch der Max-Planck-Gesellschaft 1975, München 1975, S. 9–18.

15  Vgl. Helmuth Trischler, Problemfall – Hoffnungsträger – Innovationsmotor. Die politische Wahrnehmung der Vertragsforschung in Deutschland, in: Peter Weingart u. Niels C. Teubert (Hg.), Das Wissenschaftsministerium. Ein halbes Jahrhundert Forschungs- und Bildungspolitik in Deutschland, Weilerswist 2006, S. 236–267, S. 251.

schon vor seiner Gründung auf sich gezogen hatte, befördert natürlich durch die öffentlichkeitswirksame Programmatik von Weizsäckers. Die Presseabteilung der MPG, erst 1971 eingerichtet, musste überhaupt erst lernen, mit dem immer wieder aufflammenden Medienhype, mit Anfragen und Angriffen umzugehen. Umso komplizierter wurde es, als die mögliche Berufung Dahrendorfs 1978 an den Spiegel durchgestochen worden war, noch bevor die Kommission davon erfuhr. Seitdem erschienen fast wöchentlich Artikel, die den Entscheidungsprozess der MPG sezierten, über politische Motive der Beteiligten spekulierten, Gerüchte lancierten und vor allem an Bewertungen nicht sparten. Die MPG stand im Licht einer medialen Öffentlichkeit, in der alle ihre Beschlüsse über die Zukunft des Instituts zu politischen Entscheidungen stilisiert wurden – eine herbe Erfahrung für eine Organisation, zu deren Selbstbild die Berufung auf strengste Wissenschaftlichkeit gehörte. Ariane Leendertz  —  Ungunst des Augenblicks

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Das Ende der Reformeuphorie in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik, das sich bereits Anfang der 1970er Jahre abzeichnete, dürfte auch der MPG ihren kurzzeitigen »utopischen« Schwung genommen haben. Ihre zwei

Reforminstitute in Berlin und Starnberg wurden Ende der 1970er Jahre zeitgleich umgebaut. Wie von Weizsäcker ging auch Hellmut Becker 1981 in Pension, ebenso wurde im Berliner Institut unter anderem mit der Berufung des empirisch arbeitenden Psychologen Paul Baltes 1980 ein Neuanfang initiiert, wie er in Starnberg eigentlich auch mit Habermas hätte gelingen sollen. In beiden Fällen kündigte sich eine »pragmatische Wende« der MPG an, die diese mit der Kölner Neugründung vollendete. Zwei Aspekte stechen hierbei besonders heraus: eine dezidierte Betonung »empirischer« Forschung und eine grundlegende Neujustierung des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik. AUF DEM WEG ZUR KÖLNER HARTEN EMPIRIE Der Wunsch nach mehr »empirischer« Forschung – wobei nicht genau spezifiziert wurde, was darunter konkret zu verstehen sei – wurde bereits in den Verhandlungen über die Zukunft des Starnberger Instituts artikuliert. Erst die Gegenbegriffe, denen die »Empirie« gegenübergestellt wurde, lassen die Beweggründe erkennen, die sich mit diesem Wunsch verknüpften. Denn dieser richtete sich gegen zweierlei: gegen »Spekulation« und gegen ein Übermaß an »Theorie«. Für die MPG-Kommission war ein Mangel an empirischer Forschung 1978 einer der Hauptkritikpunkte am Habermas-DahrendorfModell. Dieser Mangel widerspreche der internationalen Entwicklung, man könne kein »Institut für sozialwissenschaftliche Spekulation« fördern, denn die Universitäten würden es mit Befremden aufnehmen, wenn die MPG ein sozialwissenschaftliches Institut mit zwei hervorragenden Denkern gründen würde, ohne, wie in ihren naturwissenschaftlichen Instituten auch, auf die »Forschung im engeren Sinne« entsprechendes Gewicht zu legen.16 Das Leitbild wissenschaftlicher Forschung im eigentlichen Sinne bildeten damit die experimentellen, laborgestützten Methoden der Naturwissenschaften. Die Kritik richtete sich gegen ein geisteswissenschaftliches Verständnis von Sozialwissenschaft. Dass geisteswissenschaftliche Forschung keineswegs empiriefrei operierte, sondern ein gänzlich anderes Verständnis empirischen Arbeitens pflegte, ist damals nicht angesprochen worden. Sozialwissenschaft »im engeren Sinne«, so dürfen wir vermuten, versprach aufgrund objektiver empirischer Methoden »valide« Daten und Ergebnisse und damit ein gleiches Maß an Genauigkeit und »Wahrheit« wie die vermeintlich »wertfreien«, »exakten« Naturwissenschaften. Eine vornehmlich theoretisch ausgerichtete, geisteswissenschaftlich grundierte Sozialwissenschaft dagegen drohte sich

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16  Ergebnisprotokoll der 5. Sitzung der Kommission »MaxPlanck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt« am 28. 06. 1978, S. 3, MPG-Archiv, II. Abt., Rep. 1A, Geisteswissenschaftliche Sektion: Kommission Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt 2.

in »Spekulationen« zu ergehen, wie schon bei der Gründung des Starnberger Instituts moniert worden war. Dieses Selbstverständnis war keinesfalls allein in der MPG verbreitet, sondern dasselbe Muster findet sich in zeitgenössischen Klagen namhafter Soziologen über ein verbreitetes »Empirie-Defizit«. Es sei noch nicht gelungen, die Soziologie als eine empirische Wissenschaft zur systematischen Dauerbeobachtung gesellschaftlicher Prozesse angemessen zu institutionalisieren, so der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie M. Rainer Lepsius 1974.17 Die Soziologie stelle sich als eine weitgehend »spekulative Wissenschaft« dar, die nur sehr begrenzt fähig sei, ihre Konzepte und Erkenntnisse so auf gesellschaftliche Realität zu beziehen, dass diese empirischen Untersuchungen zugänglich würden und hierdurch Grundlagen für gesellschaftliches Handeln geliefert werden könnten, sekundierte der spätere DGS-Vorsitzende Burkhart Lutz.18 Gesellschaftliches oder politisches Handeln brauchte somit eine harte empirische Grundlage, keine theoretische. Mehr noch: Die bisherigen Theorien und Konzepte erlaubten möglicherweise gar keinen adäquaten Zugang zur Realität und somit auch keine effektive Gesellschaftspolitik. Harte empirische Forschung, das war dann auch die unterschwellige Parole, die die Überlegungen über die Gründung des Kölner Instituts in den Jahren 1983/84 prägte. Gleichzeitig verkörperte das neue Institut ein anderes Verständnis des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik als jene utopisch-idealistische Vorstellung, die noch in den 1960er Jahren die Gründung der Institute in Berlin und Starnberg angetrieben hatte. Die Verwissenschaftlichung der Politik hatte sich in der politischen Praxis als ein ungemein schwieriges und für viele der Beteiligten zugleich frustrierendes Unterfangen dargestellt. Außerdem hatte die Autorität wissenschaftlicher Experten in der Öffentlichkeit gelitten, etwa weil sich Prognosen als falsch erwiesen hatten und nurmehr alle am politischen Prozess Beteiligten ihre eigenen Experten mobilisierten, um ihre politischen Pläne zu legitimieren. Wissenschaftliches Wissen erschien damit als manipulierbar, wissenschaftlichen Aufklärungsund Wahrheitsversprechen war mit Skepsis zu begegnen. 17  M. Rainer Lepsius, Ansprache zur Eröffnung des 17. Soziologentages, in: Zwischenbilanz der Soziologie. Verhandlungen des 17. Deutschen Soziologentages, hg. v. ders., Stuttgart 1976, S. 1–13. 18  Burkhart Lutz, Zur Lage der soziologischen Forschung, in: Zwischenbilanz der Soziologie, S. 418–425, hier S. 419.

Renate Mayntz hatte zwischen 1966 und 1975 zur westdeutschen Beratungselite aus der Policy-Forschung gehört, in der sich seit Beginn der 1970er Jahre rasch Ernüchterung und Skepsis gegenüber den Möglichkeiten verbreiteten, die Politik zugänglich für wissenschaftlich fundierte Empfehlungen zu machen und diese darüber hinaus erfolgreich umzusetzen. Die Untersuchung von »Vollzugsdefiziten« politischer Reformprogramme führte Mayntz gegen Ende der 1970er Jahre zu der Erkenntnis, dass die Ursachen hierfür nicht allein im Implementationsprozess zu suchen waren. Vielmehr Ariane Leendertz  —  Ungunst des Augenblicks

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schien das Wissen über die Beschaffenheit der zu regelnden Problemfelder bei genauerem Hinsehen ausgesprochen dürftig, wenn etwa Sozialwissenschaft (und Politik) von simplen Kausalbeziehungen ausgingen, wo sie es in Wirklichkeit mit komplexen, dynamischen Prozessen zu tun hatten, für die sich damit auch keine einfachen Handlungsrezepte formulieren ließen.19 Wie viele andere Soziologen war auch Mayntz zu Beginn der 1980er Jahre von grundlegenden Zweifeln an den bisherigen Theorien und Prämissen der Profession geplagt.20 Neben einer theoretisch-methodischen Runderneuerung, wie sie bald im cultural turn vollzogen wurde, galt eine Intensivierung der empirischen Forschung als eine Lösung des Problems, dass das bisher verfügbare sozialwissenschaftliche Wissen nicht ausreichte, soziale Phänomene angemessen zu erklären, ja überhaupt erst zu verstehen. Wie Burkhart Lutz 1984 auf dem Soziologentag unterstrich: Eine steuernde oder präventive Beherrschung systemischer Gleichgewichtsstörungen sei nicht möglich, solange die Politik nicht auf eine hochentwickelte Kompetenz für die Analyse komplexer gesellschaftlicher Zusammenhänge, Strukturen und Prozesse zurückgreifen könne.21 Das Kölner Programm von Renate Mayntz und auch von Fritz Scharpf war damit eigentlich gut umrissen. Die Option, statt dem MPI für Gesellschaftsforschung ein kulturwissenschaftliches Institut einzurichten, verwarf die MPG. Das theoretische Fundament eines solchen Institutes schien ihr unsicher, es würde Jahre dauern, überhaupt erst die konzeptionellen Grundlagen für empirische Forschungen zu erarbeiten – genau das hatte von Weizsäcker ja auch in Starnberg gemacht, und am Ende war es in den Augen der MPG weitgehend bei theoretischen Arbeiten geblieben. Die Risiken, die mit einem in Deutschland damals noch kaum bestellten Forschungsterrain verbunden waren – wie etwa eine lange Vorlaufphase für konkrete Untersuchungen –, wollte die MPG 1983/84 nicht eingehen, zumal Kulturanthropologie und Ethnologie sich schwer mit der gewünschten harten Empirie vereinbaren ließen. Wie die zuständige Kommission selbst vermerkte: Sie wollte ein »empirisches« Institut, dessen Forschungen zugleich bereits auf stabilen theoretischen und methodologischen Grundlagen aufbauen konnten, somit schon rasch konkrete Ergebnisse versprachen.22

19  U. a. Renate Mayntz, Soziologisches Wissen und politisches Handeln, in: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie, Jg. 6 (1980) H. 3, S. 309–320. 20  Etwa dies., Über den begrenzten Nutzen methodologischer Regeln in der Sozialforschung, in: Wolfgang Bonß u. Heinz Hartmann (Hg.), Entzauberte Wissenschaft. Zur Relativität und Geltung soziologischer Forschung, Göttingen 1985, S. 65–76. 21  Burkhart Lutz, Zur gesellschaftlichen Entwicklung der Soziologie. Überlegungen zu zukünftigen Chancen und Problemlagen, in: Soziologie und gesellschaftliche Entwicklung. Verhandlungen des 22. Deutschen Soziologentages in Dortmund 1984, hg. v. ders., Frankfurt a. M. 1985, S. 17–26, hier S. 20.

SUCHE NACH SICHERHEIT Auf Seiten der MPG wurde also schon seit Ende der 1970er Jahre der Wunsch artikuliert, die empirische Sozialwissenschaft zu stärken; und dies bestimmte auch die Arbeit der Kommission, die die Kölner Gründung auf den Weg brachte. Der empirische Akzent diente sicher auch der Rechtfertigung der Sozialwissenschaften innerhalb des Gesamtgefüges der MPG: Diese mussten in

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22  Zwischenbericht und erste Empfehlungen der Kommission »Förderung der Sozialwissenschaften«, o. D., S. 13–14, MPG-Archiv, II. Abt., Rep 1A, Geisteswissenschaftliche Sektion: Kommission Sozialwissenschaften 2.

einer mehrheitlich natur- und lebenswissenschaftlich orientierten Forschungsorganisation bestimmten Vorstellungen von Wissenschaftlichkeit entsprechen. Dass Mayntz eine naturwissenschaftliche Ausbildung genossen hatte, bevor sie sich den Sozialwissenschaften verschrieb, dürfte die Skepsis einiger Naturwissenschaftler, die an der Neugründung beteiligt waren, besänftigt haben. Mit der Förderung der empirischen Sozialwissenschaft lag die MPG weitgehend auf der Linie der DGS und auch des Wissenschaftsrates.23 Auf ihre utopische Episode, in der sie offen für aufsehenerregende Experimente gewesen war, folgte in der Geisteswissenschaftlichen Sektion in den 1980er Jahren die Suche nach Sicherheit. Empirisch sollten die Forschungen des von Mayntz entworfenen Instituts an der Mesoebene gesellschaftlicher Teilsysteme, an organisatorischen Netzwerken und an Institutionenkomplexen ansetzen, namentlich im Forschungs- und Wissenschaftssystem, im Gesundheitswesen und in der Telekommunikation. Mayntz interessierte sich für das Spannungsverhältnis zwischen eigendynamischen Prozessen und politischen Steuerungsversuchen, für die daran beteiligten Akteure und Entscheidungsprozesse, die Struktur von Regelungsfeldern und bürokratische Prozesse. Ziel war, neue Erkenntnisse über die hoch entwickelte, komplexe Gegenwartsgesellschaft zu gewinnen und damit einen Beitrag zu einer empirisch fundierten Gesellschaftstheorie zu leisten. Pragmatisch wollten Mayntz und Scharpf, der 1986 auf ihren Wunsch als zweiter Direktor nach Köln kam, dabei einen Methoden- und Theoriepluralismus pflegen, um die empirische Arbeit zu grundieren. Einem subtilen Seitenhieb Scharpfs können wir entnehmen, dass naturwissenschaftliche Empiriestandards, die den Sozialwissenschaften abgefordert wurden, gleichfalls auf ihre Lücken zu befragen waren: Denn diese bemühten etwa, kaum anders als die Sozialwissenschaften, ebenso »historische Erklärungen«, sobald sich ein Phänomen wie beispielsweise das Waldsterben »nicht 23  Empfehlungen und Stellungnahmen des Wissenschaftsrates 1981, Köln 1981.

im Labor isolieren« lasse.24 Abschließend wären nun noch die nicht auf den ersten Blick offensichtlichen Kontinuitäten zwischen Starnberg und Köln zu betrachten. Ähnlich wie

24  Fritz Scharpf, Das MaxPlanck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln, in: Thomas Ellwein u. a. (Hg.), Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft Band 2/1988, Baden-Baden 1988, S. 331–345, hier S. 335 f.

von Weizsäcker war Mayntz davon überzeugt, dass die Sozialwissenschaf-

25  Deutlich etwa in Renate Mayntz u. Fritz Scharpf, PolicyMaking in the German Federal Bureaucracy, Amsterdam 1975.

war. Ihre und Scharpfs Forschungen knüpften unter anderem an ihre pla-

ten Gesellschaft und Politik vor möglichen Katastrophen zu warnen und auf potenziell gefährliche Entwicklungen hinzuweisen hatten.25 Deshalb sei empirische Grundlagenforschung unabdingbar, um zu verstehen, wie die Gesellschaft funktionierte und in welchem Maße politische Steuerung möglich nungstheoretischen Arbeiten der 1970er Jahre an – ein Thema, das in Starnberg aus einer neomarxistischen Perspektive angegangen und mit dezidierter Ariane Leendertz  —  Ungunst des Augenblicks

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Systemkritik verbunden worden war.26 Wie in Starnberg bildeten Forschung und Wissenschaft einen wichtigen Gegenstand der Untersuchung. Hatte sich die Wissenschaftsforschung in Starnberg aber durch einen wissenschaftssoziologischen und wissenschaftsgeschichtlichen Ansatz ausgezeichnet, kombinierten die Kölner Forscher eine differenzierungs- und systemtheoretische Sichtweise mit organisationssoziologischen und steuerungstheoretischen Fragestellungen.27 Während Mayntz die aktive Beratung in der Grundlagenforschung hinter sich ließ, blieb Fritz Scharpf einer der wichtigsten Berater sozialdemokratischer Führungspolitiker. Anders als Habermas und von Weizsäcker lassen sich beide jedoch vor allem als Experten charakterisieren,

26  Vgl. Volker Ronge u. Günther Schmieg, Politische Planung in Theorie und Praxis, München 1971; Claus Offe, Strukturprobleme des kapitalistischen Systems. Aufsätze zur Politischen Soziologie, Frankfurt a. M. 1972.

nicht als öffentliche Intellektuelle – nach dem für die MPG zumeist unerfreulichen Medienhype um Starnberg war dieser nur recht, wenn das Kölner Institut unauffälliger agierte. Das lange Ende des Starnberger Instituts hatte die Presse noch einmal genüsslich ausgeschlachtet.28 Seine Schließung war letzten Endes alles andere als paradox. Das Institut entstand aus einer ganz besonderen wissenschaftspolitischen, gesellschaftlichen und personellen

27  Beispielsweise Hans Willy Hohn u. Uwe Schimank, Konflikte und Gleichgewichte im Forschungssystem. Akteurkonstellationen und Entwicklungspfade in der staatlich finanzierten außeruniversitären Forschung, Frankfurt a. M. 1990.

Konstellation. Es spiegelte die Utopien und Möglichkeiten der ausgehenden 1960er und beginnenden 1970er Jahre wider. In die Max-Planck-Gesellschaft der 1980er Jahre aber passte es nicht mehr hinein.

Dr. Ariane Leendertz, geb. 1976, ist Historikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Ende dieses Jahres erscheint der gemeinsam mit Wencke Meteling herausgegebene Sammelband »Die neue Wirklichkeit: Bezeichnungsrevolutionen, Bedeutungsverschiebungen und Politik seit den 1970er Jahren« im Campus-Verlag.

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28  Hierzu nur exemplarisch o.V., »Davor hatte ich Angst«, in: Der Spiegel, 04. 05. 1981.

PORTRAIT

EIN GLÄUBIGER IM DIESSEITS DER KOMMUNIST, DISSIDENT UND PREDIGER RUDOLF BAHRO ΞΞ Matthias Eckoldt

I DER FREITOD Nachdem die 1980er Jahre mit einem historischen Paukenschlag zu Ende gehen und die Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland fällt, kehren viele Dissidenten, die von der DDR-Führung in die Bundesrepublik entsorgt wurden, zurück. So auch Rudolf Bahro, der Anfang der Neunziger nach Berlin kommt, wo er schon zu DDR-Zeiten gelebt hat. Er hält gut besuchte Vorlesungen im AudiMax der Humboldt-Universität. Hat eine Schar von Jüngern und Verehrerinnen um sich. Eine Liebesbeziehung zu Marina Lehnert beginnt, einer Mitarbeiterin des eigens für ihn eingerichteten Instituts für Sozialökologie. Bahros damalige Frau Beatrice Ingermann will, dass er zurückkommt nach Niederstadtfeld in der Eifel, wo sie mit ihm eine Kommune aufgebaut hat. Und sie will, dass er zurückkommt zu ihr. Am dritten September 1993 reist sie nach Berlin. Bahro offenbart ihr, dass er eine andere Frau liebt und mit ihr leben möchte. Beatrice droht mit Selbstmord. Noch in der Nacht fährt Bahro – wie geplant – mit seiner Geliebten nach Dessau zu einer Veranstaltung, auf der er sprechen soll. Während Rudolf Bahro seinen Vortrag hält, geht seine Ehefrau ihren letzten Weg. Ihr Ziel ist die Aussichtsplattform der Siegessäule. Als Bahro und Marina Lehnert am nächsten Tag nach Berlin zurückkehren, hat sich Beatrice Ingermann zu Tode gestürzt. »Es war, als würde ein fürchterlich greller Blitz ins Leben fahren. Alles war verändert!«1, erinnert sich Marina Lehnert. »Die Suche nach Liebe ist meine psychologische Schwachstelle«2, resümiert 1  Matthias Eckoldt, Leben und Sterben eines ­Utopisten – Der Gesellschaftsreformer Rudolf Bahro (Radiofeature), RBB/MDR/SWR 2004. 2 

Ebd.

Rudolf Bahro in seinem letzten Spiegel-Interview im Juni 1995. II DER GLAUBE Am 18. November 1935 wird Bahro in Bad Flinsberg in Niederschlesien geboren. Sein Vater arbeitet als Gutsinspektor und wird noch im letzten Kriegsjahr

INDES, 2014–1, S. 117–124, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X

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zum Volkssturm eingezogen. Als die russische Armee immer weiter gen Westen voran rückt, wird die Mutter mit den drei Kindern evakuiert. In den Wirren der Transporte verliert der Neunjährige seine Mutter und die Geschwister. Sie sterben an Hungertyphus, Bahro findet nach langer Irrfahrt seinen Vater wieder und lebt bis 1954 bei ihm, der neuen Frau und deren Sohn im Oderbruch. Dann geht er zum Studium nach Ost-Berlin. Nach allem, was er bislang durchmachen musste, ist der überdurchschnittlich intelligente Jugendliche bereit für eine Heilslehre und wird zum Gläubigen. Er glaubt an den Kommunismus und an die SED. Gleich mit Achtzehn tritt er in die Partei ein. Er will es genau wissen und immatrikuliert sich für ein Philosophiestudium an der Berliner Humboldt-Universität. Die Werke von Marx, Engels, Lenin und Mao Tse-tung stehen ganz oben auf den Lektürelisten. Er hört Vorlesungen über historischen Materialismus bei Kurt Hager, dem späteren DDR-Chefideologen, bekommt eine Grundausbildung in Logik, Ökonomie, antiker und moderner bürgerlicher Philosophie. In Bahros Studienzeit fällt ein für die kommunistische Weltbewegung wichtiges Datum. 1956 rechnet Chruschtschow auf dem XX. Parteitag mit Stalin und seinen Verbrechen ab. Bahros Glaube erfährt eine erste, tiefe Erschütterung. Harald Wessel, später linientreuer Journalist des Parteiorgans Neues Deutschland, hat Bahro sogar weinend auf den Stufen des Philosophischen Institutes angetroffen. In seinem Nachruf schreibt er 1997: »Mit Chruschtschows Enthüllungen über Stalins Verbrechen waren für Rudolf Bahro Welten zusammengebrochen.«3 Auch sein Biograf, Guntolf Herzberg, meint, dass Bahro mit Stalin den Übervater verloren hat. »Und wenn man dann hört, dass der Übervater ein Verbrecher war, dann muss man noch mal weinen.«4 Nach dem Studium macht Rudolf Bahro Karriere als Parteifunktionär. Der Gläubige wird Missionar, der predigt, wo immer die SED ihn hinbeordert. Erst geht er ins Oderland und überzeugt die Bauern von den Vorteilen der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften. Dann gibt er in Greifswald die Parteizeitung der Universität heraus und wechselt wenig später zum Zentralvorstand der Gewerkschaft nach Berlin. Als stellvertretender Chefredakteur der Halbmonatszeitschrift Forum wird er schließlich in seine erste und letzte verantwortungsvolle Stellung berufen. Bahro ist am richtigen Platz. Im Forum haben die jungen Gläubigen des DDR-Sozialismus das Sagen. Hier wird ernst gemacht mit der sozialistischen

Revolution, die in den höheren Parteiebenen im Wesentlichen als abgeschlossen gilt. Einerseits werden kritische Texte wie »Der geteilte Himmel« von Christa Wolf und »Spur der Steine« von Erik Neutsch abgedruckt, die zu dieser Zeit kein DDR-Verlag veröffentlicht. Andererseits greift man den Lyriker

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Günter Kunert in einem polemischen Essay an, weil er den Sozialismus aufgegeben habe. Autor dieser Schrift ist Rudolf Bahro. Auf dem berüchtigten 11. Plenum beschließt die SED Ende 1965 eine Umkehr in der Kulturpolitik. Walter Ulbricht gibt kritische Künstler und Intellektuelle namentlich zum Abschuss frei. Das Auftrittsverbot des Liedermachers Wolf Biermann stammt aus jenen Tagen. Diese Parteikonferenz der SED wird als Kahlschlag-Plenum in die Geschichte der DDR eingehen. In dieser Zeit druckt Bahro das Theaterstück »Kipper Paul Bauch« von Volker Braun, das sich gegen Sattheit und Selbstzufriedenheit beim Aufbau der neuen Gesellschaftsordnung wendet. Die Konsequenzen sind absehbar: Bahro wird geschasst. In der Abschluss-Beurteilung schreibt sein Chefredakteur: »Bahro ist aufrichtig in jeder Weise, sagt seine Meinung offen und ohne Rücksichten auf Prestige oder Vorteil.«5 So handelt ein Gläubiger. Jesus nimmt alles Leid der Welt auf sich, weil er vom Glauben beseelt ist. Jede Pein stärkt seinen Glauben noch. Bahro, der sich in späteren Jahren intensiv mit der Figur Jesu auseinandersetzen wird, nimmt seine Abstrafung gelassen hin und geht seinen Leidensweg. Er muss sich in der Produktion bewähren. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter für soziologische Fragen im Volkseigenen Betrieb Gummi und Asbest. So kommt er zum ersten Mal mit der sozialistischen Realität in Berührung: »Dort erst habe ich gesehen, dass das Schwindel ist mit der Herrschaft der Arbeiterklasse im Arbeiter-und-Bauernstaat.«6 III DIE ZWEIFEL Bahro ist alarmiert, weil die Realität nicht seinen Glaubensidealen entspricht. Das Problem seiner Diesseits-Gläubigkeit: das Hier und Jetzt muss mit dem Paradies zusammengehen. Hoffnungsvoll blickt er nach Prag, wo Alexander Dubcek ˇ am vierten Januar 1968 Chef der Kommunistischen Partei in der Tschechoslowakei wird. Er übergibt die Betriebe der Selbstverwaltung der Arbeiter und stellt Pressefreiheit her. Zum ersten Mal in der Geschichte der Kommunistischen Weltbewegung wird eine sozialistische Regierung vom ihrem Volk akzeptiert. Einen Frühling lang wird die Utopie vom Sozialismus mit menschlichem Antlitz Wirklichkeit. Rudolf Bahro ist begeistert. Doch am 21. August 1968 rollen russische Panzer in Prag ein und machen dem politischen Experiment ein jähes Ende: »Das war die Stunde des Hasses gewe5  Ebd. 6  Ebd. 7 

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sen«, erinnert sich Rudolf Bahro, »und ich hab eigentlich die ganzen Jahre bis 1977 damit zu tun gehabt, den Hass zu transformieren.«7 Noch in der Nacht schreibt Bahro eine Austrittserklärung aus der SED. Am nächsten Morgen wirft er sie in den Papierkorb. Das entspricht nicht seinem Matthias Eckoldt  —  Ein Gläubiger im Diesseits

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Format. Er will sich in großem Stil dafür rächen, dass die SED im Schulterschluss mit der Kommunistischen Partei der Sowjetunion den Glauben verraten hat. Den Glauben daran, dass es möglich sei, hier auf Erden eine gerechte, auf Emanzipation und nicht auf Unterdrückung ausgerichtete Gesellschaft einzurichten. Drei Jahre lang studiert Bahro erneut die Schriften von Marx und jede verfügbare Literatur über die Entwicklung des Sozialismus im Ostblock. Anfang der Siebziger lässt er sich offiziell für seine Dissertation freistellen. Doch darauf verwendet Bahro nur wenig Zeit und schreibt stattdessen an der Abrechnung mit der sozialistischen Utopie und Realität. Das Manuskript ist 1976 fertig. Freunde schmuggeln es in den Westen, wo es die gewerkschaftsnahe Europäische Verlagsanstalt annimmt und zur Veröffentlichung vorbereitet. Der einzige Änderungswunsch des Verlages bezieht sich auf den Titel. Bahro überschrieb sein Werk »Zur Kritik des realexistierenden Sozialismus«. Die sperrige Ankündigung wird in die Unterzeile gerückt. Das Buch geht mit einem griffigeren Titel in Druck: »Die Alternative«: »Mit der ›Alternative‹ wollte ich denen was liefern, das die ebenso traf, wie mich die Panzer getroffen haben in Prag«8, sagt Bahro. IV DIE ALTERNATIVE Die DDR-Führung reagiert sofort, Bahro wird am 23. August 1977 verhaftet – »wegen Verdachts nachrichtendienstlicher Tätigkeit«, heißt es bei ADN. Bahro wird über Nacht berühmt. Der Spiegel druckt ein Interview mit ihm und Passagen aus der »Alternative«. ARD und ZDF berichten an exponierter Stelle über die Hintergründe seiner Verhaftung. Die Rundfunkanstalten senden ein Selbstinterview, das Bahro vor seiner Verhaftung aufgenommen hatte. Der Verlag startet mit einer Auflage von 10.000. Die ist bereits vor der Auslieferung vergriffen. Rasch wird nachgedruckt. Im ersten Jahr gehen mehr als hunderttausend Exemplare über den Ladentisch. Zum Erfolg des Buches trägt wesentlich bei, dass Bahro den realexistierenden Sozialismus tatsächlich aus intimer Kenntnis der SED, des Apparates und der Produktion beschreiben kann. Darüber hinaus beherrscht Bahro die theoretischen Werke so souverän, dass er virtuos und ohne fachsprachliche Behäbigkeit mit ihnen jonglieren kann. So entsteht ein Buch, das den DDR-Staatsapparat im Ganzen in Frage stellt. Bahros Rache für die Panzer in Prag ist gelungen. Gerade weil die »Alternative« von allen Hass-Tiraden frei ist und unerbittlich die Lage des kommunistischen Projekts analysiert. So wurde aus dem Gläubigen ein Ketzer. Bahros Argumentation in der Alternative läuft folgendermaßen: Im realexistierenden Sozialismus ist das Privateigentum an Produktionsmitteln zwar

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überwunden. An die Stelle des Unternehmers aber tritt nicht der Arbeiter, sondern der Staat. Aus Privateigentum wird nicht Volkseigentum, sondern Staatseigentum. Problem dieser Eigentumsform ist nun, dass der Staat als Alleineigentümer nicht, wie Marx es entwickelte, nach und nach abstirbt, sondern immer weiter wächst und gewaltige bürokratische Strukturen anlegen muss, um alle Lebens- und Arbeitsbereiche verwalten zu können. Die Arbeiterklasse wird so nicht befreit, sondern komplett entmachtet. Über sie herrscht nicht mehr, wie noch zu Marxens Zeiten, der Unternehmer, sondern das Politbüro der Partei. Diese Herrschaft, die streng hierarchisch organisiert ist, erzeugt auf der jeweils untergeordneten Ebene Subalternität. Das Projekt der Befreiung der Massen ist in sein Gegenteil umgeschlagen. Im zweiten Teil seines Buches entwickelt Bahro nun seine Alternative zu diesem realsozialistischen Dilemma und formuliert drei Hauptforderungen: Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Die Aufhebung der alten, noch kapitalistischen Arbeitsteilung. Und, daraus folgend, die Vernichtung der Staatsmaschine. Bahro stellt sich eine Art große Kommune gleichgesinnter Individuen vor. Eine Gesellschaft der Nähe. Die Avantgarde der Bahro’schen Alternative soll der von ihm sogenannte Bund der Kommunisten sein. Ein Zirkel von im Bahro’schen Sinne geläuterten Menschen, die das Gesellschaftsideal vorleben. So sehr Bahros Analyse der realsozialistischen Verhältnisse in der westlichen Linken zu Beginn der 1980er Jahre begrüßt wird, mit seinen Visionen zum Aufbau einer neuen Gesellschaft können die wenigsten etwas anfangen. Auch nicht Oskar Negt, der Bahro an der Universität Hannover 1980 promovierte und 1983 habilitierte: »Diese Seite von Klostermoral, die Gemeinschaft der Bestgesinnten – der Bund der Kommunisten – das sind die Erleuchteten. Und das hat mich immer gestört, weil diese quasi religiöse Dimension mir persönlich sehr fremd war und ist.«9 Bahro bekommt acht Jahre Haft wegen »Sammlung und Weitergabe von Nachrichten an Einrichtungen, die gegen die DDR gerichtet sind.« Nachdem »Tagesschau« und »heute-Journal« Bahros Haftstrafe als Spitzenmeldung gesendet haben, bricht in der Bundesrepublik bricht ein Sturm der Entrüstung los, quer zu allen politischen Interessen und Gruppierungen. Regierungssprecher Bölling protestiert im Namen der Bundesregierung. Johannes Rau, damals Wissenschaftsminister in Nordrhein-Westfalen, bezeichnet die Strafe als Akt einer Willkürjustiz. Für Bahros Freilassung gründet sich ein Komitee. An der Technischen Universität Berlin findet wenige Tage nach der Urteilsverkündung eine Protestveranstaltung statt. Protagonisten: Rudi Dutschke, 9 

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Oskar Negt, Freimut Duve und Wolf Biermann. Matthias Eckoldt  —  Ein Gläubiger im Diesseits

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Von den acht Jahren muß Bahro lediglich anderthalb absitzen. Kurz nachdem er aus dem Gefängnis heraus signalisiert, dass er bereit sei, in die Bundesrepublik auszureisen, kommt er im Zuge einer Amnestie frei. V DER KAPITALISMUS Das Abenteuer »Westen« beginnt. Bahro hält Vorträge an verschiedenen Universitäten. Er reist viel und macht sich ein Bild vom blühenden Kapitalismus, der doch aller kommunistischen Ideologie nach ein faulender hätte sein sollen. Noch im Herbst 1979 lernt er Paris, Oslo, Stockholm und Helsinki kennen. Anfang 1980 dann London, wo er den Isaac-Deutscher-Memorial-Preis bekommt. Auch die Carl-von-Ossietzky-Medaille, die ihm während seiner Haft verliehen wurde, kann er nun in Empfang nehmen. Bahro will politisch tätig werden. Anfang 1980 spricht er auf dem Gründungsparteitag der Grünen. In der ökologisch orientierten Bewegung scheinen am ehesten seine Vorstellungen von der Befreiung des Menschen aufzugehen. 1983 wird Bahro in den Bundesvorstand gewählt. Seine Positionen werden jedoch zunehmend radikaler. Er spricht von der Notwendigkeit eines grundlegenden Umbaus der Gesellschaft. Und zwar nicht nur in ökologischen Belangen, sondern auch im sozialen und wirtschaftlichen Bereich. Seine Forderung nach dem Rückzug Deutschlands vom kapitalistischen Weltmarkt entfremdete ihn zunehmend von der grünen Bewegung. Namentlich von Joschka Fischer, der den Kampf um die Hoheit zwischen »Fundis« und »Realos« zu seinen Gunsten und damit zugunsten der Regierungsbeteiligung entscheiden konnte. Konsequenterweise erklärt Bahro 1985 seinen Parteiaustritt: »Die GRÜNEN sind – kritisch – mit dem Industriesystem und seiner politischen Verwaltung identifiziert. Sie wollen nirgends raus. Sie helfen die Risse im Konsens kitten. Es sah einmal so aus, als hinge von uns etwas Rettendes ab. Es wird nichts anderes übrigbleiben als eine normale Partei neben den anderen. Ich kann damit nicht weiter.«10 Bahro geht es nicht um den Ausbau von Vogelschutzgebieten und die Erhaltung von Feuchtbiotopen. Er will den radikalen Ausstieg aus der Industriegesellschaft, die in eine Logik der Selbstausrottung hineingeraten sei. Angetrieben von der Eigendynamik des Marktes rase die Menschheit auf die Apokalypse zu. Bahro sieht im parteigrünen Projekt keine Substanz für eine Rettung, sondern bestenfalls ein Symptom für die Krise. VI DIE RETTUNG Bahro wird wieder der Einzelgänger, der er schon in der DDR war. Er öffnet sich neuen Erfahrungsbereichen. Der Körper kommt ins Spiel. Yoga.

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Bioenergetik. Wichtiger als der Kommunismus wird die Spiritualität für ihn. Bahro pilgerte bereits 1983 zu Bhagwan Shree Rajneesh (Osho) nach Oregon. Dem indischen Meister und Guru, der in der westlichen Welt eine große Anhängerschar hat. Bahro meditiert mit den Sannyasins, den Jüngern Bhagwans. Die Reise nach Innen beginnt. Er findet gefallen an dem Kommuneleben in spirituellem Klima. Hier scheint ihm ein Gegenentwurf zur ressourcenvernichtenden Megamaschine auf. Oskar Negt verfolgt diese Phase in Bahros Leben mit wachsender Skepsis: »Bahro hat in den 80er Jahren einen persönlich Bruch erlebt, einen Knacks, einen Persönlichkeitsverlust, so habe ich das gesehen. Er wechselte die Gesinnungsgemeinschaft.«11 Bahro wird jedoch kein Sannyasin. Dafür ist er ein viel zu souveräner Geist. Er studiert die Bewegung von Bhagwan, wie er einst den Kommunismus studiert hat: von Innen. Bhagwans Praxis wird von nun an immer wieder auftauchen in Bahros Denken, das von der Gefahr der Selbstausrottung angetrieben ist. Als Palliativ verordnet er dem Abendland Spiritualität. So kennt sein 1987 aufgelegtes Buch »Logik der Rettung« Kapitel wie: »Rettung ist möglich. Aufklärung nach Innen. Der Schlüssel. Empfänglich werden. Rettungspolitik. Was heißt Spiritualität?«12 Bahros Ausgangsthese lautet, dass hinter jeder historischen Dynamik eine Psychodynamik steckt. So lenkt er die Aufmerksamkeit darauf, zu verstehen, inwiefern die Logik der von der Industrialisierung losgetretenen Selbstausrottung der Menschen von Innen her rührt. Dementsprechend liegt für Bahro die Rettung nicht mehr primär in der Gesellschaftsveränderung, sondern in der Selbstveränderung. Bahro macht ernst und gründet selbst eine Kommune. Eine ökospirituelle Gemeinschaft. In der »Logik der Rettung« spricht er sogar eine öffentliche Einladung aus: »Ich möchte also, dass sich jene melden, die prüfen wollen, ob wir nicht für mehr als intellektuellen Austausch zusammenkommen sollten, zum Beispiel hier in Worms, wo ich zu diesem Zweck ein altes Haus gekauft habe.«13 Bahro wird immer mehr zum Sektenprediger. Jedoch, es fehlt ihm die nötige Anhängerschar. Das Buch verkauft sich schlecht. Seine kleine Kommune in Worms löst sich ganz auf, als er weggeht. Die Liebe zu Beatrice Ingermann zieht Bahro endgültig fort aus Worms. Die einstige Entwicklungshelferin führt in Niederstadtfeld eine von ihr so benannte »Lernwerkstatt«, die den Menschen in Europa begreiflich ma11 

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chen soll, dass Hunger und Armut zwar in der Dritten Welt ausgelitten, jedoch in der ersten Welt verursacht werden. Maßgeblich vom Wirtschaftssys-

12  Rudolf Bahro, Logik der Rettung, Berlin 1990. 13 

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tem, aber auch von jeder einzelnen Seele in der westlichen Welt. Hier findet Bahro ein gewogenes Auditorium, bis ihn die Weltgeschichte aus seinen ­Kommune-Träumen reißt. Matthias Eckoldt  —  Ein Gläubiger im Diesseits

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VII DER AUFBRUCH Nach dem Mauerfall setzt Bahro wieder auf die DDR. Er hofft, dass hier ein Nullpunkt erreicht ist, an dem seine Ideen für die Rettung der Menschheit Gehör finden. Die Nagelprobe wird der außerordentliche Parteitag der SED im Herbst 1989. Zwanzig Jahre zuvor ist Bahro ausgeschlossen worden, nun will er vor den Delegierten reden. Er hat beste Kontakte, denn sein Anwalt wird bereits als neuer Chef der Partei gehandelt. Gysi setzt es durch, dass Bahro auf die Rednerliste kommt. Die Delegierten reagieren allerdings mit Unverständnis auf Bahros Beschwörungsformeln von der Rettung der Menschheit. Die Genossen haben in jenen Tagen ganz andere Sorgen und machen sich darüber Gedanken, wie sie sich selbst retten können. Die erneute Ablehnung seiner Reformideen betrübt Bahro nicht. Er beginnt an der Humboldt-Universität Berlin am Institut für Sozialökologie zu lehren. Bahro ist unermüdlich. Er unterbreitet dem sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf seine Idee einer »kommunitären Subsistenzwirtschaft«. Das marode Ostdeutschland soll, so Bahro in einem Memorandum, gar nicht erst den Weg in die westliche Industriegesellschaft gehen, sondern sich in Kommune-Strukturen selbst versorgen und spirituellen Praktiken widmen. Dass auch dieses Projekt ein Traum bleibt, liegt an der Fehleinschätzung der akuten Bedürfnisse der ehemaligen DDR-Bürger. Die wollen sich nicht mehr beschränken, sondern endlich konsumieren und haben auf lange Zeit genug von sozialen Experimenten. VIII DER TOD Dann der Schock! Die Bild-Zeitung schreibt am 6. September 1993: »Sonnabend 9 Uhr 45. Beatrice Bahro (38), verheiratet mit dem berühmten DDRDissidenten Rudolf Bahro, steigt die 285 Stufen bis zur Aussichtsplattform der Siegessäule hinauf. Sie klettert über das Schutzgitter – und lässt sich fallen. Zwei Sekunden später ist sie tot.«14 Rudolf Bahro war tief erschüttert. Machte sich Schuldvorwürfe. Er war davon überzeugt, dass seine kurz darauf ausbrechende Krebserkrankung kausal mit diesem Suizid zusammenhing. Drei Jahre lang kämpfte Bahro gegen den Krebs. Er starb am 5. Dezember 1997. Kurz vor seinem Tod resümiert er: »Wir haben versucht, ins Rad der Geschichte einzugreifen, es ist uns entglitten.«15 Matthias Eckoldt, geb. 1963, studierte Philosophie. Er veröffentlichte Romane, Kurzerzählungen sowie Sachbücher. Zuletzt erschien von ihm das Buch »Kann das Gehirn das Gehirn verstehen?« Zugleich verfasste Eckoldt über fünfhundert Radiomanuskripte und wurde mit dem idwPreis für Wissenschaftsjournalismus ausgezeichnet. Er lehrt derzeit als Schreibdozent an der Freien Universität Berlin.

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14  Matthias Eckoldt, Leben und Sterben eines Utopisten – Der Gesellschaftsreformer Rudolf Bahro (Radiofeature), RBB/MDR/SWR 2004. 15 

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PERSPEKTIVEN

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ANALYSE

»AUFARBEITUNG« ALS PARADIGMA VOM AUFARBEITUNGSJAHR 2013 ZUM ERINNERUNGSJAHR 2014 (TEIL 1) ΞΞ Martin Sabrow

Der neunte November ist ein besonderer Tag in der deutschen Geschichte. An keinem anderen überlagern sich die unterschiedlichen Facetten und Lesarten des 20. Jahrhunderts wie an diesem Datum, das an die republikanische Revolution von 1918 ebenso erinnert wie an die republikfeindliche Gegenrevolution von 1923, an den Schrecken des reichsweiten Judenpogroms von 1938 sowie an das Glück der einstürzenden Berliner Mauer 1989. An ihm wird augenfällig, wie Vergangenheit in Geschichte verwandelt wird und wie die Bauformen des historischen Erzählens sich ihrer Zeit anpassten. In der Weimarer Zeit bekämpften sich die drei Deutungslager, die den neunten November wahlweise als Tag der Schmach, als Geburtstag der Republik oder als Menetekel des Verrats deuteten; in der deutsch-deutschen Erinnerungskonkurrenz des Kalten Krieges wurde der neunte November zum Kampfplatz gegenläufiger Deutungen, die von Erfolg und Scheitern der Revolution handelten. Am 9. November 2013 waren diese Lesarten aus der öffentlichen Erinnerung geschwunden, als habe es sie nie gegeben; stattdessen stand das Gedenken an die weitere Eskalation der Judenverfolgung im nationalsozialistischen Deutschland im Zentrum, die in der alten Bundesrepublik über Jahrzehnte hinweg noch gerne mit dem verniedlichenden Terminus »Reichskristallnacht« belegt worden war. Bundespräsident Gauck weihte an diesem 9. November im brandenburgischen Eberswalde einen Gedenkort für die zerstörte Synagoge ein und weilte mit Inge Deutschkron in einer ehemaligen Blindenwerkstatt, dessen Besitzer für seine mutige Rettung von Berliner Juden vor der Deportation als »Gerechter unter den Völkern« geehrt wird. Zahlreiche Geschäfte auf dem Kurfürstendamm erinnerten mit aufgeklebten Folien an die Zerstörung jüdischer Geschäfte in Berlin durch die Horden

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INDES, 2014–1, S. 126–132, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X

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der SA; der Regierende Bürgermeister Wowereit reihte sich in den Schweigemarsch ein, der jährlich zum Gedenken an die Pogromnacht in Berlin stattfindet, und die Hauptstadtpresse berichtete ausführlich über die Hingabe, mit der Berliner Bürger, unter ihnen auch der bekannte Fernsehmoderator Günther Jauch zusammen mit dem Sänger Max Raabe, an diesem Tag Stolpersteine reinigten. Ein ganz rascher Blick auf frühere Würdigungen desselben Jahrestags zeigt, wie zügig sich unser Umgang mit der Vergangenheit verschiebt. Am vergangenen 9. November stand die Perspektive der geschundenen Diktaturopfer so selbstverständlich im Zentrum, dass der Jahrestag der Maueröffnung ganz in den Hintergrund trat und kaum jemand an den Umstand erinnerte, dass sich an diesem Tag auch die Novemberrevolution von 1918 und damit die Begründung der ersten deutschen Republik zum immerhin 95. Mal jährte. Und schauen wir nur wenige Dekaden zurück, etwa in die siebziger Jahre, landen wir in einer Zeit, in der etwa die Hessischen Rahmenrichtlinien von 1972 das Fach Geschichte mit Sozial- und Erdkunde zu einem Lernzielbereich Gesellschaftslehre zusammenfassten und die Klagen vieler Historiker zu hören waren, die vor dem Aussterben der Geschichte warnten. Was hat sich in unserem Sprechen über die säkulare Herrschaft des Unrechts in den vergangenen vierzig Jahren verändert? Geschichtskultur ist in ständigem Wandel. Bekannt ist der Übergang von der »gewissen Stille« der Nachkriegszeit zur entschlossenen Thematisierung des nationalsozialistischen Menschheitsverbrechens und zur prononcierten Auseinandersetzung mit historischer Diktaturlast. Viele Indizien sprechen dafür, dass sich seit dem Ende der 1980er Jahre und mit dem Untergang der kommunistischen Herrschaft in Europa ein abermals gewandelter Geschichtsdiskurs herausgebildet hat. Er hebt sich von früheren Mustern der Vergangenheitsverständigung so prägnant ab, dass er als Paradigma der Vergangenheitsaufarbeitung von den älteren Narrativen der Vergangenheitsentlastung und der Vergangenheitsbewältigung unterschieden werden kann. Aufarbeitung tendiert in ihrer Gegenwartsorientierung regelmäßig dazu, die für Historiker so entscheidende Grenze zwischen Deskription und Präskription, zwischen Geschichtswissenschaft und Geschichtspolitik ebenso einzureißen wie die zwischen Geschichtspolitik und Vergangenheitspolitik oder die zwischen Recht und Politik, weil ihr wichtigster Bezugspunkt nicht die reine Anschauung, sondern deren praktische Anwendung ist. Aus dieser moralisch legitimierten Engführung von Erkenntnis und Interesse ergibt sich in der Folge eine eigentümliche Nähe der Vergangenheitsaufarbeitung zur Politik und zum politischen Personal, wie sie für andere Zeiten und Gesellschaften undenkbar wäre: Man muss nur die flüssige Selbstverständlichkeit, mit der Martin Sabrow  —  »Aufarbeitung« als Paradigma

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Bundestagspräsidenten wie Norbert Lammert oder vor ihm Wolfgang Thierse über Aufarbeitungsthemen sprechen, mit der ungelenken Grobschlächtigkeit vergleichen, mit der ein Vorgänger namens Philipp Jenninger sich 1988 um dasselbe Amt redete, der CDU-Politiker Karl Carstens die RAF-Aufarbeitung Heinrich Bölls anprangerte oder Außenminister Gerhard Schröder 1964 eine USA-Vortragsreise Fritz Fischers in Sachen deutscher Kriegsschuld zu ver-

hindern versucht hatte, um zu wissen, wie sehr sich der Schulterschluss der heutigen Vergangenheitsaufarbeitung von der Kampfstellung der früheren Vergangenheitsbewältigung unterscheidet. Mit dem Aufarbeitungsdiskurs nach dem Ende des SED-Staates verbindet sich das entschiedene Bekenntnis für die Erinnerung und gegen das Vergessen, und dies regelmäßig unter Berufung auf das frühere fatale Schweigen über die NS-Vergangenheit. Die Legitimation des Plädoyers für das Wachhalten der Erinnerung – und damit der eigentliche Sinn der Aufarbeitung – steckt in ihrer heilenden Aufgabe, auf der schon 1990 niemand stärker als Joachim Gauck insistierte: »Vor der Gesundheit kommt der Heilungsprozeß. In dieser Zeit geschieht viel Arbeit, werden medizinisches Wissen und die physischen und psychischen Kräfte des Patienten einen Bund eingehen, und am Ende dieses Prozesses kann dann alles gut werden. So wollen wir in unsere neue Demokratie eintreten: wach, informiert und angetrieben vom Willen zu mehr Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit.«1 Heilung durch Wahrheit, Versöhnung durch Ehrlichkeit – mit diesen Formeln schloss der Aufarbeitungsdiskurs unmittelbar an die Arbeit besonders der südafrikanischen Truth-And-Reconciliation-Kommissionen an und offenbarte zugleich einen konstitutiven Zielkonflikt, der ihn bis heute begleitet und vorantreibt. Das akteursbezogene Versprechen auf Aussöhnung durch Ehrlichkeit steht im Widerspruch zum Anspruch, die Lehren aus der Geschichte für die Zukunft zu bewahren, also sie von einer Generation auf die nächste zu übertragen. Aufarbeitung als geschichtskulturelles Paradigma gründet heute mehr denn je auf einer prinzipiellen Unabschließbarkeit, die ihrer gleichermaßen fundamentalen Vergebungsbereitschaft zuwiderläuft. 1990 war sich Peter-Michael Diestel noch sicher, dass die hässlichen StasiAkten bald entsorgt werden könnten: »Ich halte einen Zeitpunkt von einem halben bis dreiviertel Jahr geeignet, um Ansprüche aus diesen Akten geltend zu machen und sie dann zu vernichten.«2 Gut zwanzig Jahre später hat der Deutsche Bundestag die von ihm geforderte Entscheidung über die Zukunft der vorerst bis 2019 gesicherten Stasi-Unterlagenbehörde (BStU) ohne öffentlichen Protest auf die nächste Legislaturperiode vertagt, und die herrschende Meinung geht mit Behördenchef Roland Jahn dahin überein, dass

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Perspektiven — Analyse

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1  Joachim Gauck, Erst erinnern, dann vergeben. Was wird aus der Stasi-Vergangenheit?, in: Die Zeit, 13. 04.1990. 2  »Berufsverbot ist Schwachsinn!« – Interview mit Peter-Michael Diestel, in: Der Morgen, 31. 07. 1990.

die Behörde so lange bestehen muss, wie ein gesellschaftliches Bedürfnis für sie vorhanden sei. Die BStU kann sich diesem Widerspruch zwischen einem nie ziehbaren Schlussstrich und der eigentlich als Ziel definierten Vergebung notdürftig entwinden, indem sie das Versöhnungsversprechen inhaltlich oder zeitlich relativiert. Anfang 2010 im Spiegel gefragt, was sie unter Versöhnung verstehe, wies Marianne Birthler die Verantwortung für ihr mögliches Ausbleiben unter Verweis auf die Täter von sich: »Das Ziel der Aufarbeitung ist zunächst, dass die Opfer mit ihrem Schicksal klarkommen und die Täter zu ihrer Verantwortung stehen. Versöhnung ist etwas Zusätzliches, sie kann sich in der Auseinandersetzung zwischen Opfern und Tätern ereignen. Sie braucht die Wahrheit und oft auch Zeit, und sie lebt von der Einsicht der Täter.« Den entgegengesetzten Vorstoß des brandenburgischen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck, der nun nach zwanzig Jahren Aufarbeitung einen »Prozess der Versöhnung« forderte, wies Marianne Birthler als gänzlich unangemessen zurück: »Platzeck hat eine Koalition mit der Partei, deren Vorläufer als SED verantwortlich für Unterdrückung und Unfreiheit war, als Versöhnungsprojekt ausgerufen. Und das geht nicht. Versöhnung ist keine politische Kategorie, sondern etwas Persönliches. Sie lässt sich weder planen noch anordnen.«3 Dieses Beispiel steht für viele weitere. Es zeigt, dass sich der Aporie einer Aufarbeitung, die die Vergangenheit zugleich loszulassen und festzuhalten entschlossen ist, nur unter Verweis auf die ihr sich in den Weg stellenden Widerstände entkommen lässt. So verwies in der zitierten Kontroverse Marianne Birthler auf die nie eindeutig aufgeklärten Stasi-Kontakte von Platzecks Vorgänger Manfred Stolpe, um sich entschieden gegen eine vorzeitige Versöhnung auszusprechen.4 Dieselbe Begründungsfunktion für eine immer erst in der Zukunft mögliche Erfüllung von Aufarbeitung durch den Erfolg der Versöhnung übernehmen wahlweise die Wissenslücken deutscher Schüler über die SED-Diktatur oder die geringe Akzeptanz von Lernorten wie der 3  Stefan Berg u. Peter ­ ensierski, Kartell des SchweiW gens. Marianne Birthler, 61, Bundesbeauftragte für Stasi-Unterlagen, über die Versäumnisse von Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck bei der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, in: Der Spiegel, 04. 01. 2010. 4  »Wer in Brandenburg redlich mit der Vergangenheit umgehen will, wird auf Dauer am Thema Stolpe nicht vorbeikommen.« Ebd.

Gedenkstätte Hohenschönhausen unter ostdeutschen Lehrern oder der ostalgische Kult um DDR-Produkte oder die Wahlerfolge einer Partei Die LINKE , die Glückwunschschreiben an Fidel Castro versendet oder den IM-Verdacht gegen ihren Frontmann Gregor Gysi abwehrt. Gewiss hätte allein die Diskussion um die MfS-Hinterlassenschaft nach dem Untergang des SED-Regimes nicht hingereicht, um eine epochale Zäsur des deutschen Vergangenheitsdiskurses zu begründen. Seine historisch-kulturelle Durchschlagskraft gewann das Aufarbeitungs-Paradigma, weil es sich so passgenau in übergreifende kulturelle Verschiebungen einfügte. Noch vor dem Fall der Mauer hatte für die Auseinandersetzung mit NS-Herrschaft und Martin Sabrow  —  »Aufarbeitung« als Paradigma

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Holocaust die Rede von der Vergangenheitsbewältigung ihren guten Klang verloren. In den fünfziger Jahren hatte sie noch ein mutiges Bekenntnis dargestellt und war von dem Göttinger Historiker Hermann Heimpel, zeitweilig als Nachfolger des ersten deutschen Bundespräsidenten im Gespräch, in durchaus selbstkritischer Absicht propagiert worden: Die Vergangenheit dürfe nicht vergessen, sie müsse vielmehr bewältigt werden.5 Die aus der Wiederaufbaumentalität entsprungene Vorstellung, dass man mit dem Schrecken des »Dritten Reiches« auf dem Wege der juristischen, politischen und mentalen Bewältigung abschließend fertig werden könne, kommt uns heute unangemessen und nachgerade anstößig vor. Mit dem deutschen TV-Erfolg der amerikanischen Holocaust-Serie 1979 und mit der Rede Bundespräsident von Weizsäckers zum vierzigsten Jahrestag des 8. Mai 1945 als Jahrestag von Kapitulation und Befreiung zugleich verlor eine Sicht auf das »Dritte Reich« an Plausibilität, die zwar seit dem Ende der fünfziger Jahre und den NS-Prozessen von Ulm, Jerusalem und Frankfurt am Main die Dimension des Genozids zu fassen gelernt hatte, aber über den strukturgeschichtlichen Erklärungsansätzen das Empfinden für die Schicksale der Opfer verloren hatte – oder besser: ihr keinen wissenschaftlichen Erklärungsnutzen beimaß. »Bitterkeit und Sarkasmus, zum Prinzip erhoben, [können] keine Helfer sein, um das Phänomen des Nationalsozialismus historisch zu entschlüsseln«, hielt Martin Broszat 1957 der Dokumentensammlung von Léon Poliakov und Joseph Wulf über »Das Dritte Reich und die Juden« entgegen6 und verteidigte die Entgegensetzung von Objektivität und Emotionalität noch drei Jahrzehnte später in in einem berühmt gewordenen Briefwechsel mit Saul Friedländer7, der seine dem Aufarbeitungsparadigma verpflichtete Gegenposition im Rückblick so beschrieb: »Wie oft habe ich später gehört, Juden könnten als Opfer keine objektive Geschichte des Holocaust schreiben! Das hat in der Tat meinen Ehrgeiz geweckt. Ich habe versucht, das Gegenteil zu beweisen.«8 Wenn es einen Moment gibt, an dem das Credo der Bewältigung in aller Öffentlichkeit vom Glauben an die Aufarbeitung abgelöst wurde, war es vielleicht der gespenstische Vorgang im Deutschen Bundestag am 9. November 1988, als Bundestagspräsident Philipp Jenninger in seiner Ansprache zum 50. Jahrestag des Judenpogroms von 1938 noch die empfundene Normalität des Nationalsozialismus zu ergründen suchte, während neben ihm die als Jüdin

5  Peter Dudek, Vergangenheitsbewältigung. Zur Problematik eines umstrittenen Begriffs, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage 1–2/1992, S. 44 ff. 6  Martin Broszat, Probleme zeitgeschichtlicher Dokumentation, in: Neue Politische Literatur, Jg. 2 (1957), Sp. 298–304, hier Sp. 300. Vgl. Nicolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003, S. 342. 7  Saul Friedländer, »Historisierung des Nationalsozialismus«. Ein Briefwechsel mit Martin Broszat, in: ders., Nachdenken über den Holocaust, München 2007, S. 78–124.

verfolgte Schauspielerin Ida Ehre, die eben noch ergreifend Paul Celans Todesfuge vorgetragen hatte, in plötzlicher Bewegung die Hände vor den Kopf schlug. Spätestens von diesem Moment an war die Empathie der Erinnerung in das Geschichtsbewusstsein erst der westdeutschen und dann der vereinigten Bundesrepublik zurückgekehrt, die den wichtigsten Unterschied zwischen

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8  »Das tut mir weh, gewiss.« Ein Gespräch mit dem Historiker Saul Friedländer über die Erinnerung an den Holocaust, Islamophobie und Papst Pius XII., in: Die Zeit, 13. 01. 2011.

der Bewältigungs- und der Aufarbeitungsepoche markiert und bis heute für eine innerfachliche Polarisierung in der Zeitgeschichte sorgt.9 Hinter diesem geschichtskulturellen Phasenwechsel steht ein säkularer Trend, nämlich der radikale Wechsel von einer heroisch verfassten Stolzkultur zu einer opferorientierten Schamkultur, der sich parallel zum Aufstieg der Menschenrechte als normativer Leitkategorie des Westens seit 1945 vollzogen und mit dem generationellen Auslaufen der NS-Zeitgenossenschaft weiter beschleunigt hatte. Hinter ihm steht darüber hinaus der partielle Platztausch von Zukunft und Vergangenheit als tragenden Identitätsressourcen der Gegenwartsgesellschaft. Dieser Richtungswechsel hat den Aufstieg der Erinnerung zur Pathosformel unserer Zeit möglich gemacht und ebenso die Konjunktur des Zeitzeugen, aber auch den Aufschwung historischer Ausstellungen und die historisierende Alt-Erneuerung deutscher Innenstädte, von denen nicht zuletzt ein immer weiter ausgreifender Geschichtstourismus profitiert. Diese Bewegung geht freilich weit über die Auseinandersetzung mit Diktatur und Gewalt hinaus. In ihr schlägt sich eine kulturelle Sehnsucht nieder, die den beschleunigungsbedingten Geborgenheitsverlust durch die Ausbildung von Erinnerungsorten kompensieren will, die den zeitlichen Wandel in der räumlichen Konstanz aufheben. Das vor dem Abriss bewahrte Altstadthaus, der erhalten gebliebene Grenzstreifen, die aufwendig restaurierte Gedenkstätte – sie geben uns die Gewissheit, dass der Zahn der Zeit nicht alles zernagt, sondern Inseln einer kulturellen Selbstvergewisserung unberührt lässt, an denen wir in unmittelbaren Dialog mit der Vergangenheit treten. Um das zu ermöglichen, muss die Vergangenheit allerdings von bestimmter Beschaffenheit sein, die sie uns jenseits ihres abstoßenden oder schmerzenden Diktaturcharakters anziehend macht. Diese Beschaffenheit hat zuerst Walter Benjamin in seiner Betrachtung über das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit analytisch zu fassen versucht: Es ist die Aura der 9  »Erinnern und Erinnerungen […] zielen nicht automatisch auf historische Aufklärung, und auch die Addition von Erinnerungen bedeuten nicht zwangsläufig historisches Begreifen«, pointierte Volkhard Knigge seine Kritik am »Gedenkwesen« der »Generation Aufarbeitung«: »Erinnerung als Identität und Gemeinschaft stiftendes Erzählen von Vergangenheit jenseits methodisch reflektierten, begrifflich durchdachten Durcharbeitens.« Volkhard Knigge, Zur Zukunft der Erinnerung, in: APuZ, H. 25– 26/2010, S. 10–16, hier S. 12.

historischen Authentizität, die die zeitliche Spanne zwischen Jetzt und Früher aufhebt und die Vergangenheit unmittelbar erfahrbar macht. Die Sehnsucht nach dem Authentischen bedient ein weit über die Geschichtskultur hinausweisendes Bedürfnis der Gegenwart, die dem Originalen eine besondere Aura, eine besondere Strahlkraft, ein besonderes Fluidum beilegt. Die Suche nach dem eindringlichen Vergangenheitszeugnis, in dem das Relikt sich als säkularisierte Reliquie präsentiert, lässt uns die »authentischen Orte« aufsuchen. Hier zeigt sich der Unterschied zwischen Gedenkstätte und Museum. Der Anspruch und das Bedürfnis nach Authentizität rangieren wie selbstverständlich höher als die Forderung nach Funktionalität oder ästhetischer Gefälligkeit, wenn bei der Neuverputzung von Altbauten die Spuren der Kämpfe um Martin Sabrow  —  »Aufarbeitung« als Paradigma

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Berlin und andere Städte am Ende des Zweiten Weltkriegs oder im Reichstagsgebäude des Deutschen Bundestags die kyrillischen Graffiti eingedrungener Soldaten bewahrt werden. Zusammengefasst: Im Paradigma der Aufarbeitung kommen beide großen Zugkräfte unseres heutigen Umgangs mit der Vergangenheit zur Deckung: zum einen der Wunsch nach Vergangenheitsüberwindung durch moralische, wissenschaftliche und politische Befreiung, und zum anderen die Sehnsucht nach einer Vergangenheitsvergewisserung, die in der erfahrenen Nähe zum Gestern einen wesentlichen Teil der identitätsstiftenden Geborgenheit erlebt. Eben dies macht das Paradigma der Aufarbeitung über den Fall der DDR hinaus zu einem epochalen Zug unserer Zeit und ihrer Beziehung zur Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts.

Prof. Martin Sabrow, geboren 1954 in Kiel, ist Professor für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung. Seine Forschungsschwerpunkte sind die politische Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, Diktaturforschung, Historiographie- und Erinnerungsgeschichte. Aktuelle Veröffentlichungen: »Die Zeit der Zeitgeschichte«, Göttingen 2012 und »1989 und die Rolle der Gewalt« (Hg.), Göttingen 2012.

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KONTROVERSE

THEODOR ESCHENBURG UND DIE DEUTSCHE VERGANGENHEIT DIE ENTEIGNUNG WILHELM FISCHBEINS – UND WAS THEODOR ESCHENBURG DAMIT ZU TUN HAT ΞΞ Hans-Joachim Lang

Den millionenfachen Morden der Nationalsozia-

auf diese »historisch belegte Tatsache«: Man könne

listen an Juden ging deren Ausplünderung vor-

sie »nicht in Zweifel ziehen«.2

aus. Durch seine Flucht nach England am 15. Ja-

Kann man sehr wohl. Ich möchte dies zur Auf-

nuar 1939 konnte sich der Kölner Unternehmer

klärung beitragen, ohne dass ich mich in irgend-

Wilhelm Fischbein weiterer Verfolgung entziehen,

einer Pflicht sehe, Eschenburg zu »rehabilitieren«.

nicht jedoch der Enteignung der in Köln ansässi-

Ich kannte Eschenburg als Student 1971/72. Mir

gen Firma Wilhelm Runge & Co., deren Gründer

hat seine Haltung imponiert, mit der er zehn Jahre

und Alleininhaber er war, und seines Anteils an der

zuvor – damals Rektor der Universität Tübingen –

Lozalit AG in Höhr/Westerwald, die er de facto als

beschloss, dem marxistischen Philosophen Ernst

Tochtergesellschaft seiner Firma aufgebaut hatte.

Bloch nach dessen Flucht aus der DDR zu einer

Die »Arisierung« dieser Unternehmen ist un-

Gastprofessur zu verhelfen. Und ebenso, als es da-

strittig. Sie wurde, erstmals durch Rainer Eisfeld,

rum ging, den in Berlin in Ungnade gefallenen lin-

mit dem nach dem Zweiten Weltkrieg weithin be-

ken Politikwissenschaftler Ekkehart Krippendorff

kannten Politikwissenschaftler Theodor Eschen-

in Tübingen zu habilitieren. Letzteres habe ich als

burg in Verbindung gebracht.1 Hannah Bethke be-

Student erlebt, weil es öffentlich diskutiert wurde.

zeichnete den Aktenfund, aus dem Eisfeld seine

Und im Fall Bloch blieb mir geradezu leitbildhaft in

Schlüsse zog, als den »zentrale[n] Ausgangspunkt

Erinnerung, wie Eschenburg sich bei dem baden-

und Auslöser« einer Kontroverse, die kürzlich die

württembergischen Kultusminister Gerhard Storz

Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft

für den Emigranten stark machte: »Natürlich liegt

( DVPW ) zur Abschaffung ihres zehn Jahre zuvor

der Mann uns beiden in der Richtung nicht. Aber

erstmals verliehenen Theodor-Eschenburg-Preises

soweit ich es beurteilen kann, ist er einer der origi-

motivierte. Bethke schloss sich Eisfelds Folgerun-

nellsten und phantasiereichsten Köpfe der Gegen-

gen an und nannte es in ihrem jüngsten Beitrag

wart. Ich sehe nicht ein, warum unsere konserva-

einen »historischen Tatbestand«, dass »Theodor

tive Universität nicht einmal etwas aufgemöbelt

Eschenburg 1938 an der ›Arisierung‹ der Berliner

werden sollte.«3 Ich verschweige auch nicht, dass

Firma Wilhelm Runge & Co beteiligt« gewesen war

mir Eschenburgs Bewertungen von Hans Globke

und damit eine »Mitverantwortung für die Enteig-

oder Ernst von Weizsäcker missfallen. Aber im

nung des damaligen jüdischen Firmeninhabers

Gegensatz zu anderen Beteiligten an der Eschen-

Wilhelm Fischbein« habe. Geradezu beschwörend

burg-Debatte muss ich weder eine Lichtgestalt ver-

verwies sie im selben Aufsatz noch ein zweites Mal

teidigen noch einen Dämon verurteilen.

INDES, 2014–1, S. 133–144, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X

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Ich mische mich aus einem ganz anderen Grund

bei der AEG und im IG Farben-Konzern mit Pro-

ein. Wenn ich parteiisch werde, dann gegen die

duktion und Vertrieb von Kunstharzstoffen befasst,

Verbrechen deutscher Nationalsozialisten. Mich

zuletzt als Abteilungsleiter im Werk in Troisdorf.9

interessiert primär das Unrecht, das der Kölner

Mit einer hohen Abfindung geht er nach Köln und

Unternehmer Wilhelm Fischbein erleben musste.

gründet dort10 zusammen mit dem 21-jährigen Kol-

Es empört mich, dass sein Schicksal bis zum Ok-

legen Wilhelm Runge die offene Handelsgesell-

tober 2013 nirgendwo in vollem Umfang erörtert

schaft Wilhelm Runge & Co.11 Nach Vorwürfen

wurde, obwohl es als Hebel für die Abschaf-

von Nationalsozialisten, es handle sich um eine

fung des Theodor-Eschenburg-Preises benutzt

getarnte jüdische Firma, scheidet Wilhelm Runge

wurde.4 Misstrauisch machte mich, als in den ers-

nach fünf Monaten als Gesellschafter aus, Kapital

ten Aufsätzen und Medienveröffentlichungen von

hatte er ohnehin keines eingebracht. Runge bleibt

»Arisierung« die Rede war und eine Mitschuld

aber bis 1939 leitender Angestellter, der Firmen-

Eschenburgs angeprangert wurde, ohne den Fall

namen lautet fortan »Wilhelm Runge & Co. Inha-

nachvollziehbar auszubreiten und einzuordnen.

ber: Wilhelm Fischbein«, kurz »Runge & Co«.12

Somit lag die Folgerung nahe, und einige Autoren

Wilhelm Fischbein ist Jude. Er versucht, sich

verbreiteten sie explizit, Eschenburg als einen nach

gegen die Absicht der Nazis zu stemmen, Juden

dem Krieg zum Demokraten gewendeten vormali-

aus der Wirtschaft, wie überhaupt aus dem öffent-

gen Nationalsozialisten einzuordnen.5 Neuerdings

lichen Leben, auszuschließen. Vor anderen erkennt

charakterisiert Eisfeld den Tübinger Politikwissen-

er die ungeheuren Marktchancen für Kunststoffe

schaftler als »staatskonservativen Kollaborateur«6.

und hat eine Vision, wie er auf diesem Sektor als

Das ist eine diskussionswürdige Grundlage, be-

selbstständiger Wirtschaftsunternehmer seinen

darf aber einer Konkretion, die auch berücksichtigt,

Wissens- und Erfahrungsvorsprung nutzen könnte.

wie er sich im Alltag gegenüber Juden und poli-

Von seinem letzten Arbeitgeber übernimmt er das

tisch bedrängten Freunden verhielt7, welche Hand-

Alleinverkaufsrecht für eine komplette Kollektion

lungsspielräume er hatte und ob er sie nutzte. Dies

von 25 Artikeln aus Pollopas, die er bereits 1934

eingedenk seiner eingestandenen Angst, durch

auf der Frühjahrsmesse in Leipzig präsentiert.13

auffällige Gegnerschaft zum Nationalsozialismus

Die Geschäfte nehmen einen stürmischen Auf-

Anlass für eine Verhaftung zu geben, und einge-

schwung. Nach einem Jahr verlagert Fischbein

denk seiner von ihm selbst zugegebenen Defor-

innerhalb Kölns den Standort seiner Firma, ver-

mierung infolge des »Versteckspielen[s] in einem

größert sie und hat bald fünfzig Arbeiter und Ange-

totalitären Staat«. Denn: »Unmerklich, ohne sich

stellte. Er lässt Maschinen und Formen bauen, mit

dessen bewußt zu werden, entwickelte man Über-

denen Subunternehmer im Westerwald ausgestat-

lebenstaktiken, und plötzlich stellte man erschreckt

tet werden, meist ehemalige Metallwarenhersteller.

fest, daß man in lauter verschiedenen Sprachen

Sie gehen damit in Serie und produzieren Massen-

sprach.«8

ware für Großkaufhäuser wie Tietz und Karstadt: *

neuartige Plastikerzeugnisse für den Haushaltsge-

Blenden wir zurück auf 1934. Für den 30-jähri-

brauch, Tassen und Teller, Zitronenpressen, Salz-

gen Wilhelm Fischbein bedeutet dieses Jahr einen

streuer, Bestecke, Becher, Dosen. Der Vertrieb wird

Wendepunkt. Der gebürtige Bremer war acht Jahre

von der Kölner Zentrale gesteuert.

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Die Produktpalette umfasst nach kurzer Zeit

leichtem Gewicht entwickelt, die als vielseitiges

bereits 300 verschiedene Artikel, für die sich zu-

Verpackungsmaterial (Tablettenröhrchen, Zigar-

nehmend Warenhauskonzerne auch aus dem west-

renboxen, Verpackung von Luxusartikeln usw.)

lichen Ausland interessieren. Vertriebsbüros öff-

geeignet sind. Bratring nennt den neuen Kunst-

nen in 14 europäischen und noch einmal so vielen

stoff Neocell und sucht Partner, die mit ihm die Pa-

außereuropäischen Hauptstädten sowie in New

tente zur Produktreife bringen und sie vermarkten.

York. Speziell in den USA gelingt es der Firma Fuß

Er wird aber nirgendwo fündig, sogar die IG Far-

zu fassen, dank der Vermittlung des ehemaligen

ben, das seinerzeit größte Chemieunternehmen der

Botschafters Friedrich Baron von Prittwitz zu Gaff-

Welt, winkt ab. Fischbein indes erkennt das Poten-

ron14, einem Freund des Kölner Unternehmers15. Es

zial und will das unternehmerische Risiko wagen.18

verwundert also nicht, dass das planwirtschaftlich

Zu diesem Zweck kauft der junge Kölner Unter-

vorgehende Reichswirtschaftsministerium gemein-

nehmer im Dezember 1935 zum Kurs von 150

same Schnittstellen entdeckt: Die Massenartikel

Prozent von der Familie Tengelmann, Essen, das

aus Pollopas, bald auch aus Bakelit und Runcolit,

komplette Aktienpaket der Lozalit AG mit einem

ersetzen knappe Rohstoffe, das Auslandsinteresse

Nennwert von 50.000 RM, erwirbt damit die neu-

verspricht höchst erwünschte Deviseneinnahmen.

wertige Fabrikhalle einer stillgelegten Keramik-

Ende 1937 wird die Firma Runge & Co in den

firma in Höhr und beauftragt Bratring, in einem

Vierjahresplan übernommen, obwohl der Ge-

Großlabor in Dresden-Cotta sein Verfahren für

schäftsinhaber Jude ist. Ein seltener Fall, der im

die Massenfertigung umzusetzen19. Neue Räume

Ministerium bis Mitte 1938 ohne Einschränkung

werden in Höhr angebaut, Maschinen angeschafft,

protegiert wird. »Oberregierungsrat Dr. Römer hat

65 Arbeiter und 12 Angestellte eingestellt, in den

dem Antragsteller geholfen, die Leitung des Be-

Aufsichtsrat der AG werden Friedrich Baron von

triebes weiterzuführen«, wird Fischbeins Londo-

Prittwitz zu Gaffron, Amtsgerichtsrat Kurt von Eck

ner Anwalt im Rückerstattungsverfahren im Na-

(Bad Godesberg) und M. Hahn (Berlin), Präsident

men seines Mandanten darlegen.16 Die Aufnahme

des Mitteleuropäischen Wirtschaftstages, beru-

in den Vierjahresplan bringt für exportorientierte

fen, Prof. Ludwig König (Köln) wird mit dem De-

Unternehmen einen, wirtschaftlich gesehen, gro-

sign der vorgesehenen Produkte beauftragt. Dieses

ßen Vorteil: Sie können, die Genehmigung durch

neue Projekt bedarf hoher Investitionen, die vor-

die Behörden vorausgesetzt, sogenannte Sperr-

erst durch Gewinne der Firma Runge & Co. und

markkredite erhalten. Die Wirkung dieser Art von

durch sechsstellige Überbrückungskredite deut-

Exportsubvention wird freilich gegen schwere fi-

scher Banken finanziert werden. Derweil die Lo-

nanzielle Verluste von Emigranten erkauft.17

zalit AG in Höhr die erste verkaufsfertige Ware

Noch in der anfänglichen Expansionsphase sei-

ausliefert, prüft die größte deutsche Wirtschafts-

nes Unternehmens lernt Fischbein durch seine Be-

prüfungsgesellschaft, die Revisions- und Treu-

ziehungen zur IG Farben den Chemiker Dr. Kurt

hand AG, die Geschäftsbücher und sieht, trotz

Bratring kennen, der 1924 von den IG Farben ins

weiteren erheblichen Kapitalbedarfs, Anlass für

Ausland gewechselt war. Er hat dort, auf Grundlage

optimistische Prognosen. Als Investor kommt die

von Acetylcellulose und Aceton, naht- und geruch-

britische Bankengruppe Sassoon 20 in Frage, mit

lose, durchsichtige, wasserfeste Plastikbehälter von

der Kurt Bratring bereits 1936 eine internationale

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Patentverwertungsgesellschaft gegründet hat, die

51 Prozent und gibt davon 1,1 Prozent zur treuhän-

International Container Ltd. London ( ICL), an der

derischen Verwaltung an das Berliner Bankhaus

beide Partner je zur Hälfte beteiligt sind. Die Ge-

Sponholz ab. Mit diesem Kniff wird pro forma die

schäftsbeziehungen mit dieser Gesellschaft werden

Majorität des deutschen jüdischen Unternehmers

zum Dreh- und Angelpunkt des künftigen Aus-

vermieden, gleichwohl bleibt die Lozalit AG mehr-

landsengagements der Lozalit.

heitlich eine deutsche Firma. Runge & Co finan-

Baron von Prittwitz, in der europäischen Fi-

ziert den eigenen Anteil an der Kapitalerhöhung

nanzwelt kein Unbekannter, begleitet Wilhelm

mit einem Forderungsverzicht Fischbeins gegen-

Fischbein nach London, macht ihn mit Sir Victor

über Lozalit von 135.000 RM und dem Sassoon-

Sassoon bekannt und nimmt an den ersten Ver-

Kredit von 350.000 RM für die Bratring-Auszah-

handlungen über die Modalitäten eines von ihm

lung.23

gewährten Sperrmark-Kredits in Höhe von zwei Millionen RM teil,

136

*

den das Reichswirtschafts-

Zur Kontrolle der zahlreichen Verabredungen

ministerium unter gewissen Voraussetzungen ge-

mit Sassoon sind in der Planwirtschaft des Drit-

21

nehmigen will. Das Ergebnis der langwierigen

ten Reichs mehrere Behörden, Dienststellen und

Prozedur, die noch mehrere Instanzen auf deut-

Wirtschaftsorganisationen einbezogen. Die Über-

scher Seite durchlaufen muss: Die Lozalit wird an

wachung des Exports überträgt die Reichsstelle

Stelle von Bratring Partner der ICL (und Bratrings

für Devisenbewirtschaftung der bereits erwähnten

Patent-Anwalt Carl Langbehn zum Treuhänder

Deutschen Revisions- und Treuhand AG. Insbeson-

ernannt), Sassoon aber nur noch mit einem An-

dere geht es darum, dass die Lozalit AG »für ihre

teil von 49 Prozent statt zuvor 50 Prozent. Zudem

Neocell-Waren im Ausland angemessene Preise

wird die Sassoon-Gruppe Partner von Lozalit, in-

berechnet, keine längeren als die handelsüblichen

dem sie einen Anteil von 49 Prozent der Aktien

Ziele gewährt und daß die im Ausland erzielten Er-

kauft, nachdem dort das Grundkapital von 50.000

löse restlos nach Deutschland verbracht werden.«

auf 1.000.000 Million RM erhöht wurde. Für die

Zu diesem Zweck soll auch die Prüfungsstelle der

Aktien, die Sassoon zum Nominalwert von 204

Fachgruppe Schnitz und Formerstoffe verarbei-

Prozent übernehmen muss, wird die erste Sperr-

tende Industrie in der Wirtschaftsgruppe Holz-

mark-Million ausgegeben. Von der zweiten Million

verarbeitende Industrie verständigt werden »mit

fließen 350.000 RM als Kredit an die Firma Runge

der Bitte, die Einhaltung dieser Auflagen ebenfalls

& Co., die damit an Bratring dessen ICL-Beteili-

nach Möglichkeit zu überwachen«.24

gung auszahlt und von Sassoon ein Prozent von

Diese Aufgabe obliegt offenbar Theodor Eschen-

deren ICL-Beteiligung für die Lozalit kauft. Von

burg. »Die Firma Wilhelm Runge & Co. mit ihren

den verbleibenden 650.000 RM gehen 150.000

Waren aus Kunstharz-Pressmischungen und die

RM als Zwangsabgabe an die Deutsche Golddis-

Firma Lozalith AG mit ihren Neocellwaren gehö-

kontbank und 500.000 RM an das Amt für Wert-

ren in meinen Zuständigkeitsbereich«, schreibt

und Rohstoffe, das diesen Betrag als »Reichsdar-

Eschenburg in seiner Funktion als Beauftragter

lehen«22 an die Lozalit vergibt. Runge & Co erwirbt

der Vorprüfstelle Schnitz- und Formerstoffe ver-

ihrerseits für 490.000 RM neue Lozalit-Aktien zum

arbeitender Industrie an das Reichswirtschaftsmi-

Nominalwert, erhält damit einen Lozalit-Anteil von

nisterium. »Mir war die große Zukunftsbedeutung

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von Neocell – als Ersatzstoff für den Vierjahresplan

mit einem Juden zusammenarbeite.31 Zulieferer

einerseits, für den Export andererseits – bekannt;

und manche potenzielle Großabnehmer, darunter

ich habe daher sowohl die Produktions- als auch

Wehrmacht und Hitlerjugend, wollen nicht mehr

die Absatzentwicklung aufmerksam verfolgt.«25

mit »nichtarischen« Unternehmern kooperieren.

Entscheidungsbefugnisse hat er nicht. Prüfungs-

Die antijüdische Politik wird schärfer, auch exis-

stellen der Reichsgruppe Industrie sind im Rah-

tenziell bedrohlicher.

men der dirigistischen NS-Außenhandelspolitik

Rechtsanwalt Carl Langbehn, der die Inter-

industriell-gewerbliche Berater der staatlichen Be-

essen von Bratring und neuerdings auch der Firma

hörden und Dienststellen. In wichtigen wirtschaft-

Runge & Co. vertritt 32, kann am 15. Dezember 1937

lichen Bereichen sind den Prüfungsstellen noch

im Reichswirtschaftsministerium im Sinne seiner

Vorprüfstellen vorgeschaltet.

Mandanten verhindern, in den Geschäftsführun-

Um den zeitaufwendigen bürokratischen Kampf

gen sowohl der Firma Runge als auch der Lozalit

bestehen zu können, verlegt Fischbein 1937 seinen

»eine Vertrauensperson des Amtes … zu beteili-

Wohnsitz nach Berlin, wo er zudem eine Filiale

gen.«33 Dem Wirtschaftsministerium führt er vor

mit Ausstellungsräumen eröffnet.

Der Umsatz

Augen, dass »die Herren aus London« die Sperr-

von Runge & Co, insbesondere im Export, steigt

markkredite nicht nur wegen der hohen Qualität

26

rapide. Die Firma Runge & Co verzeichnet 1937

der Bratring-Patente vergeben hätten, »sondern

neun Prozent des Exports aller Firmen, die der

weil sie Herrn Fischbein zutrauten, dass er die

Fachgruppe Schnitz- und Formerstoffe verarbei-

Patente fabrikationsreif mache und den Vertrieb

tender Industrie angeschlossen sind, im Jahre 1938

im In- und Auslande gut organisieren würde«.34

bereits 25 Prozent. »Noch bis Mitte 1938 war die

Langbehn ist Fischbeins Verbindungsmann zu den

Firma im Aufstieg«, wird Wilhelm Fischbein 1961

Behörden geworden und setzt sich insbesondere

in London unter Eid erklären.28 Noch findet sich

in Passangelegenheiten immer wieder für den jü-

das Wirtschaftsministerium – im Interesse des Pro-

dischen Unternehmer ein, als es für ihn schwerer

fits – mit einem Juden als Firmenchef halbwegs ab:

wird, die fürs Auslandsgeschäft erforderlichen Rei-

»Fischbein ist Nichtarier. Es ist jedoch nicht durch-

sen anzutreten.

27

führbar ihn aus dem ganzen Geschäft herauszu-

»Als Geschäftsleiter war ich einer der wenigen

drängen, da er durch seine Firma den Ausbau der

Juden, die einen Reise-Pass besaßen und ich be-

Erfindung erst ermöglicht hat, offenbar grosse Er-

suchte London, Paris, Bruxelles, Amsterdam, New

fahrungen im Exportgeschäft besitzt und durch

York und Chicago, um Aufträge zu verhandeln«,

persönliche Beziehungen zu Sassoon die Finanzie-

wird Fischbein 1970 berichten.35 Wegen techni-

rungen ermöglichte.«29 »Mitte 1938«, wird Fisch-

scher Probleme verzögert sich die Produktreife der

bein im Rückerstattungsverfahren berichten, »wur-

Neocell-Produkte, neue Kredite werden erforder-

den von der Wirtschaftsabteilung des Gaues Köln

lich. Das Wirtschaftsministerium erhöht daraufhin

gegen die Leitung durch mich schwere Bedenken

den Druck auf Fischbein und will ihn zwingen, sei-

erhoben. Es setzte eine persönliche Hetze gegen

nen Betrieb zu »arisieren«, bleibt aber noch abwar-

mich ein.«30 Seinen leitenden Mitarbeiter Wilhelm

tend, weil die Sassoon-Gruppe auf Fischbein nicht

Runge besucht mehrmals die Gestapo in dessen

verzichten möchte.36 Als man bei Sassoon erfährt,

Düsseldorfer Wohnung und verwarnt ihn, weil er

dass ihrem Partner die Arisierung nahegelegt wird,

Hans-Joachim Lang  — Theodor Eschenburg und die deutsche Vergangenheit

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reagiert man mit Befremden und kündigt Wider-

Nach Fischbeins Rückkehr aus London wird

stand dagegen an, sollte man ihnen einen »unbe-

ihm der Pass abgenommen.40 Die Lage beginnt

kannten Sozius« an Fischbeins Stelle setzen. Drin-

für ihn gefährlich zu werden. Ende September er-

gend fordert man ihn auf, mit Langbehn zu einer

hält er eine vertrauliche Warnung von der örtli-

Besprechung nach London zu kommen.37

chen Polizeidienststelle.41 Aus Furcht vor Verhaf-

Wilhelm Fischbein will sich nach einer Besprechung mit Carl Langbehn den »Arisierungs«-Plä-

seine Berliner Wohnung zurück, betritt auch nicht

nen beugen, aber nicht bedingungslos. Er kann ab-

mehr sein Büro, sondern verbringt die nächsten

sehen, dass für ihn in Deutschland keine Zukunft

Wochen bis Weihnachten in Berlin ausschließlich

mehr liegt. Einigen seiner Mitarbeiter in Köln hat

im Hotel Kaiserhof, einem Nobelhotel gegenüber

er bereits zur Emigration verholfen , für sich selbst

der Reichskanzlei. Wilhelm Runge hat dort ein Ap-

sieht er ebenfalls nur noch diesen einzigen Ausweg.

partement auf seinen Namen bestellt, in dem beide

Statt am 7. Oktober 1938 zu einer Besprechung ins

wohnen.42 Im Reichswirtschaftsministerium fin-

Reichswirtschaftsministerium zu kommen, reist er

det am 1. November 1938 eine Besprechung statt,

38

138

tung kehrt der junge Unternehmer nicht mehr in

nach London und beauftragt Langbehn, im Minis-

an der unter anderem auch Theodor Eschenburg

terium einen Brief zu übergeben. Darin schreibt er,

teilnimmt. Dieser empfiehlt, die Lozalit weitestge-

dass die Verbindlichkeiten bei Lozalit mittlerweile

hend zu fördern. Um zu verhindern, dass Fisch-

zwischen einer und eineinhalb Millionen RM be-

bein mit Hilfe ausländischer Geldgeber im Aus-

tragen. Er werde einer »Arisierung« nur zustim-

land ein neues Unternehmen aufziehe, solle aber

men, falls der Erlös für den Verkauf seiner Kölner

dessen Pass eingezogen werden. Dies zumal, weil

Firma und seiner Lozalit-Aktien für 1,5 Millionen

er gehört habe, dass Fischbein bei seinem jüngs-

RM zugunsten der Lozalit AG verwendet werden.

ten England-Aufenthalt ein Angestelltenposten an-

Mit einem solchen hohen persönlichen finanziel-

geboten worden sei. Laut Gesprächsprotokoll will

len Verlust will er zur Sicherung der AG beitragen,

sich Eschenburg noch Vorschläge für eine »Ari-

hofft aber auch, dass ihm daraus »eine Existenz im

sierung« überlegen. Johannes Eckell, Referatslei-

Ausland erwächst«, möglicherweise »im Rahmen

ter der Abteilung Chemie im Wirtschaftsministe-

von Beratungsabkommen«. Zudem schlägt er vor,

rium, genehmigt am 2. November 1938 die von

für einen weiteren Kredit von einer Million RM

Lozalit dringend benötigten Kredite, weil der Be-

wieder Sperrmark zu beantragen und die Rück-

trieb »unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunk-

zahlung in Form von Maschinenlieferungen für

ten förderungswürdig« sei, jedoch nur unter der

Sassoon zur Produktion von Neocell-Produkten

Voraussetzung der »Arisierung«. Wörtlich: »Über

im Ausland abzuwickeln. In der Besprechung im

die Art und Weise des Fischbein zuzubilligenden

Reichswirtschaftsministerium, an der Langbehn

Transfers und seiner zukünftigen Betätigung im

teilnimmt, wird die »Arisierung« avisiert, bis da-

Rahmen des Neocell-Exports bzw. der ausländi-

hin aber die Genehmigung weiterer Sperrmarkkre-

schen Fabrikationsgesellschaften, wären die Ein-

dite abgelehnt. Außerdem will man Fischbein nicht

zelheiten späterhin festzulegen.«43

länger Auslandsreisen gestatten. »Das Polizeipräsi-

Langbehn plädiert mehrfach nachdrücklich

dium und das zuständige Finanzamt werden ent-

dafür, Fischbein den Pass wieder auszuhändigen.

sprechend zu benachrichtigen sein.«39

Er bekräftigt seinen Appell am 4. November 1938

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in einer weiteren Besprechung im Wirtschaftsmi-

Zudem gelte nach wie vor die vertragliche Bestim-

nisterium, bei der auch Eschenburg wieder zuge-

mung, »dass Fischbein trotz seiner jüdischen Her-

gen ist, und droht, widrigenfalls seine ICL-Treu-

kunft die Leitung innehat«, somit sei »ein Inha-

handschaft niederzulegen. Im Anschluss daran,

berwechsel ohne Einwilligung der Sassoon-Group

nun ohne Anwesenheit Langbehns, schließt sich

nicht möglich«. Seine Position entwickelt Eschen-

Eschenburg dessen Argumentation an und wird

burg aus einer Abwägung der Interessen der Be-

im Protokoll wie folgt zitiert: »Dr. Eschenburg läßt

teiligten. So liege es angesichts der absehbaren

seinen Standpunkt, daß dem Juden Fischbein wei-

großen Zukunft der Neocell-Produkte, wie dies

tere Auslandsreisen für die Lozalit A.G. unmöglich

auch deren Ausstellung bei der Leipziger Messe

gemacht werden müßten, fallen. Er ist der Ansicht,

im Herbst 1938 dokumentiere, »im dringenden

daß unter allen Umständen eine Regelung ange-

Interesse des Reiches«, den Betrieb aufrecht zu

strebt werden müsse, bei der die Exportmöglich-

erhalten. Sassoon habe Interesse, seine hohen In-

keiten nicht beeinträchtigt würden.« Wie bedroh-

vestitionen nicht abschreiben zu müssen, verlange

lich die Lage für Fischbein wird, lässt sich daraus

bei einer »Arisierung« anstelle Fischbeins ein »leis-

ersehen, dass in der Runde zwei Vertreter des Mi-

tungsfähiges, exportaktives Unternehmen« und

nisteriums gegen eine Passverlängerung plädieren,

werde allen wirtschaftlichen Druck nutzen, um

weil in diesem Fall nicht wirtschaftliche, sondern

Fischbein zu schützen, der Sassoons Hauptschuld-

ausschließlich politische Gründe ausschlaggebend

ner sei. Insofern sei es im Interesse aller, gemein-

sein dürften.

sam mit Fischbein eine Lösung zu finden.

44

Unter diesem Eindruck erneuert

und intensiviert Langbehn seine Argumentation

Am 8. November 1938 berichten die deutschen

am 6. November in einem Brief ans Wirtschafts-

Zeitungen mit großer Aufmachung vom Attentat

ministerium. Er habe Fischbein überzeugen kön-

auf einen deutschen Diplomaten in Paris und dass

nen, schreibt er, dass dieser »mit Rücksicht auf die

das Judentum die Folgen zu tragen habe. Auch

veränderten Verhältnisse« als Jude in seiner Posi-

das Wirtschaftsministerium hat einen »Judenrefe-

tion nicht mehr bleiben könne. »Demgemäss hat

renten«, Hans Humbert. Als zeitgleich in einigen

Herr Fischbein sich damit einverstanden erklärt,

Fachreferaten ein Umlauf herumgereicht wird, um

sowohl seine Beteiligung an der Lozalit A.G., wie

die Meinungen in Fischbeins Passangelegenheit

die Firma Wilhelm Runge & Co. auf einen ari-

zu erkunden, belässt es Humbert nicht bei einer

schen Erwerber zu übertragen und aus Deutsch-

Paraphe an der vorgesehenen Stelle, sondern fügt

land auszuwandern.« Er halte seinen Vorschlag

mit Datum vom 8. November 1938 handschriftlich

für den einzigen Weg, Schaden für die deutsche

hinzu, dass er einen »Pass nicht vertretbar« halte,

Wirtschaft abzuwenden. Zwei Tage nach Langbehn,

weil »1) Fischbein Junggeselle ist, also keine star-

auf den er sich ausdrücklich bezieht, schreibt auch

ken persönlichen Bindungen an Deutschland hat,

Eschenburg ans Wirtschaftsministerium, um sei-

2) die Reise in den nächsten Tagen angetreten wer-

nen Meinungswandel argumentativ abzusichern.

den soll, als Antwort auf den Pariser Mord scharfe

Quintessenz des Briefs: »Ich habe weder gegen die

judenfeindliche Massnahmen erwartet werden und

Ausstellung eines neuen Reisepasses für Fischbein

ein Jude, der in diesen Tagen ins Ausland gelangt,

noch dagegen, ihm die Auswanderungsgenehmi-

sich deshalb die Rückkehr ins Reich doppelt über-

gung zu gegebener Zeit zu erteilen, Bedenken.«45

legen wird«.46

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139

Auf die reichsweite Pogromnacht vom 9./10. No-

seiner Auswanderung im Kunstharzgeschäft, nicht

vember folgt am 12. November 1938 die »Verord-

dagegen auf dem Neocell-Gebiet betätigen werde.«

nung zur Ausschaltung der Juden aus dem Wirt-

Er lege aber Wert darauf, »demnächst ohne Schul-

schaftsleben«, die mit Wirkung vom 1. Januar 1939

den auswandern zu können«.50 Am 23. Dezember

allen Juden jegliche selbstständige gewerbliche

erhält Langbehn die telefonische Nachricht aus

Tätigkeit untersagt. Damit ist jeglicher Verhand-

dem Wirtschaftsministerium, dass für den »Ari-

lungsspielraum vollends unterbunden. Mit der an-

sierungsplan« grundsätzlich keine Bedenken vor-

schließenden »Verordnung über den Einsatz des

liegen und die Einzelheiten noch schriftlich fest-

jüdischen Vermögens« vom 3. Dezember 1938, die

gelegt werden.51

zwei Tage später in Kraft tritt, können jüdische

Nach Weihnachten verlässt Fischbein Berlin mit

Unternehmer gezwungen werden, ihre Betriebe

unbekanntem Ziel. Von Köln aus verlässt in die-

innerhalb einer Frist zu verkaufen und es können

sen Tagen die Familie seines Bruders, der als lei-

Treuhänder eingesetzt werden, die anstelle des

tender Angestellte bei Runge & Co. beschäftigt ist,

eigentlichen Eigentümers alle für erforderlich ge-

Deutschland in Richtung Niederlande.52 Am 2. Ja-

haltenen Verfügungen zu treffen.

nuar 1939 schreibt er, da er Langbehn in Urlaub

Hektische Aktivitäten kennzeichnen die letzten Wochen im Dezember. Einerseits arbeitet Lang-

den 29. 12. 38, fand zwischen den Sassoon-Herren

behn einen »Arisierungsplan« aus, den er am

und mir in Basel, Badische Seite eine Besprechung

15. Dezember ans Reichswirtschaftsministerium

statt, bei der die augenblickliche Situation einge-

einreicht. Wesentlicher Punkt: Runge & Co. soll

hend erörtert wurde.« Die »Herren« seien »nervös«,

mit Lozalit fusioniert werden. Fischbein seiner-

und es würde wesentlich zu deren Beruhigung bei-

seits sucht nach Möglichkeiten, die Produktion

tragen, »wenn Berechnungen angestellt würden

zu verbilligen und verhandelt mit der Freiburger

über die Rentabilität nach der Fusion und gleich-

Firma Rhodiaseta, um auf Acetyl-Cellulose-Abfall

zeitig eine Bilanz beigefügt würde nach der Über-

umstellen zu können. Dem Wirtschaftsministe-

nahme der Firma Wilhelm Runge & Co. durch die

rium teilt er telefonisch am 19. Dezember mit, dass

Lozalit A.G.«53 Er bittet Kleine, dieses Anliegen an

man nach Versuchen im Berliner Labor und nach

das Wirtschaftsministerium weiterzugeben, ruft

Rücksprache in Freiburg nun in Höhr einen Groß-

dort am nächsten Tag selber noch an und erfährt,

versuch beginnen könne. In einem zweiten Brief

dass Langbehn bis zum 15. Januar in Urlaub sei.54

noch am selben Tag drängt er das Wirtschaftsmi-

An genau diesem 15. Januar 1939 verlässt

47

nisterium: »Wir müssen also die Verträge noch

Fischbein ohne Pass Deutschland. Er habe sich

vor Weihnachten oder spätestens zwischen Weih-

seinen Fluchtweg über Basel in die Schweiz »vor-

nachten und Neujahr abschließen.« An diesem

her kurz überlegt«, wird er nach dem Krieg mit-

19. Dezember wollte Fischbein, hätte er einen Pass

teilen, ebenso, dass ihn seine Berliner Sekretä-

gehabt, Deutschland verlassen, angeblich hatte er

rin Edith Hirschfeld bis an die Grenze begleitet

auf diesen Tag ein Schiffsticket gebucht.49 Lang-

habe.55 Auch sie ist, zu einem späteren Zeitpunkt,

48

140

weiß, an dessen Sozius Kleine: »Am Donnerstag,

behn sagt am 21. Dezember bei einer Referenten-

nach Großbritannien emigriert. Kurz vor seiner

besprechung im Wirtschaftsministerium, es sei

Flucht haben sie sich in Köln und wahrscheinlich

anzunehmen, »daß der Jude Fischbein sich nach

auch in Höhr aufgehalten. Unmittelbar nach dem

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Krieg wird Heinrich Hildebrandt, Laborleiter bei

Verhandlungen mit Sassoon stellte ich zu meinem

Lozalit, behaupten: »Erwähnenswert ist, dass Herr

Erstaunen auch die Anwesenheit des Herrn Fisch-

Dr. Bratring mit Herrn Fischbein eng befreundet

bein fest.« Dieser habe ihm die Frage, wie er ohne

ist und diesem als Nichtarier in der höchsten Not

Pass ins Ausland gekommen war, nicht beantwor-

noch zur Flucht über die Schweiz nach Amerika

tet, sondern erklärt, dass seine Anwesenheit in

verholfen hat.«56 Amerika ist ein Irrtum, aber we-

Deutschland nicht mehr notwendig sei.60

gen der bevorstehenden Aktivitäten Fischbeins nicht ganz falsch.

Im Rückerstattungsverfahren wird sich Hilde Keissner, eine Fischbein-loyale leitende Ange-

Am 19. Januar 1939 schickt Hans Humbert, Mi-

stellte der Firma Runge & Co., an ihren Besuch in

nisterialrat im »Judenreferat«, eine Zustellungs-

der ersten Hälfte des Jahres 1939 in London erin-

urkunde an Wilhelm Fischbein an dessen Berli-

nern: »Er hatte zusammen mit der Firma Pilking-

ner Adresse, wo er ihn noch wähnt, und fordert

ton die Fa. Runcolit gegründet. Diese Firma sollte

ihn mit Berufung auf die Verordnung vom 3. De-

das selbe Programm wie die Fa. Runge in Köln

zember 1938 auf, bis zum 1. Februar 1939 die

übernehmen.«61 Den Sassoon-Beauftragten Tre-

Firma Runge & Co. sowie seine Anteile an Lozalit

vor trifft Langbehn zu weiteren Verhandlungen

zu verkaufen.57 Für seine Akten notiert Humbert,

am 10. März 1939 in Paris. »Herr Fischbein war

Hermann Reinbothe vom Wirtschaftsministerium

ebenfalls in Paris, ohne an den Verhandlungen

halte »Herrn Rechtsanwalt Langbehn zum Treu-

selbst teilzunehmen.« Als Langbehn während die-

händer für besonders geeignet, da dieser bereits

ses Aufenthalts auch Fischbein trifft, berichtet die-

seit langem mit der Angelegenheit befaßt ist«. Und

ser nebenbei, dass er beratend beim Aufbau eines

was die Zuständigkeit angeht, teilt er Fischbein

Neocell-Werkes in den Vereinigten Staaten mit-

mit: »Herr Rechtsanwalt Dr. Langbehn steht unter

wirke.62 Am 24. April 1939 unterschreibt Fischbein

meiner Aufsicht.«58

eine Verzichtserklärung »unter dem ausdrückli-

Noch im Februar 1939 ist Fischbein »mit Hilfe

chen Vorbehalt, dass damit sämtliche Schulden,

einer Reihe von Freunden in London in die Firma

die gegen mich persönlich, aus der Firma Runge &

Runcolite […] als geschäftsführender Direktor ein-

Co. und der Lozalit A.G. geltend gemacht wurden

getreten«, eine Firma, die seinen Angaben zufolge

und geltend gemacht werden können, und sämt-

eigens für ihn gegründet wurde.59 Überrascht mel-

liche rückständigen Steuern, soweit sie mich per-

det Langbehn von seinem London-Besuch im sel-

sönlich betreffen, hinfällig werden.«63 Mehrfach ist

ben Monat ans Reichswirtschaftsministerium: »Ich

dokumentiert, dass er diese Unterschrift nicht zu-

habe mit Victor Sassoon, Mitinhaber des Bank-

letzt deswegen leistet, weil er dadurch seinen Eltern

hauses Sassoon in London, und seinem Pariser

die Ausreise aus Deutschland ermöglichen möchte.

Bevollmächtigten, Herrn Trevor, Verhandlungen

Kurze Zeit später treffen sie in London ein.64

über den Abschluss eines Kreditvertrages auf der

Die Lozalit soll mit dem Ziel fortgeführt werden,

Grundlage des dortigen Bescheides vom 19. 12. 38

die britischen Geschäftspartner nicht zu verlie-

geführt. Diese Verhandlungen waren teilweise

ren, um bei der Neocell-Verwertung im gesamten

recht unangenehm, weil die englischen Partner

Ausland beteiligt zu bleiben. Noch einmal inves-

wenig Verständnis für die finanzielle Situation

tiert Sassoon in einen Sperrmarkkredit von zwei

der deutschen Unternehmen hatten. […] Bei den

Millionen RM, von denen eine Million RM auf

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ein Sonderkonto der Berliner Bank Sponholz ge-

Fortsetzung der Kontroverse »Theodor

parkt werden. Mit diesem Geld soll Lozalit Ma-

Eschenburg und die deutsche Vergangen-

schinen für die Produktion von Neocell in die Ver-

heit« aus I­ NDES 4_2013.

einigten Staaten liefern, wo die Firma ein großes Werk baut. S ­ assoon ist im Gegenzug mit dem Ver-

Prof. Dr. Hans-Joachim Lang, geb. 1951, ist Redakteur beim Schwäbischen Tagblatt in Tübingen und Honorarprofessor für Empirische Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen. Er verfasste mehrere Bücher und Aufsätze über den Holocaust.

kauf der Fischbein-Aktien sowie den deutschen ICL-Anteilen an eine deutsche Firma einverstan-

den.65 Die andere Million wird unter Gläubigern der Lozalit aufgeteilt. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs bricht das Auslandsgeschäft jedoch völlig ein66 Runge & Co. muss wegen Lieferschwierig-

Anmerkungen

keiten von Aceton die Produktion ihrer Kunstharz-

1  Rainer Eisfeld, Theodor Eschenburg: Übrigens vergaß er noch zu erwähnen …, Eine Studie zum Kontinuitätsproblem in der Politikwissenschaft, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg. 59 (2011) H. 1, S. 27–44.

produkte einstellen67. Mitte August 1940 wird die hoch verschuldete Kölner Firma mit Ausnahme der Lozalit-Aktien, in das Eigentum der Firma Lozalit »überschrieben«. Von der Übernahme sind die Lozalit-Aktien im Nennwert von 500.000 RM aus dem Runge-Eigentum ausgenommen. Langbehn, der im November 1939 aus seiner Verpflichtung entbunden werden wollte, bleibt Treuhänder der Aktien mit der Verpflichtung, dem künftigen Käufer auch die Rückzahlung von Krediten über 748.032,25 RM nebst Zinsen aufzuerlegen. Im Jahre 1944 verkauft Lozalit-Vorstand Bankier Paul Hamel die deutschen Lozalit-Aktien selbst nach damaligen Gebräuchen widerrechtlich an drei Gläubiger, ohne den Treuhänder zu informieren.68 Nach dem Krieg verzichtet Wilhelm Fischbein zugunsten von Sassoon auf seine Anteile an der Lozalit, die

3  Theodor Eschenburg, Letzten Endes meine ich doch. Erinnerungen 1933–199, Berlin 2000, S. 225. 4  Hans-Joachim Lang, Vorschnelles Urteil zu Theodor Eschenburg, in: Schwäbisches Tagblatt, 19. 01. 2013. 5  Anne Rohstock, Kein Vollzeitrepublikaner – die Findung des Demokraten Theodor Eschenburg (1904–1999), in: Bastian Hein u. a. (Hg.), Gesichter der Demokratie. Porträts zur deutschen Zeitgeschichte, München 2012, S. 204. 6  Rainer Eisfeld, Staatskonservative Kollaboration. Theodor Eschenburgs Agieren in einem Mikrokosmos des »Dritten Reichs«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 2/2014, S. 107–120. 7  Im Frühsommer 1933, als andere sich von Juden abwandten, wurde Eschenburg einer von zwei Geschäftsführern einer bis zu Berthold Cohns Emigration währenden Berliner Sozietät mit dem Namen: »Verbandsbüro Dr. Eschenburg & Dr. Cohn, Geschäftsführung wirtschaftlicher Verbände«. Unter anderem auch dazu Hans-Joachim Lang, Ein Freund geblieben, Die Zeit, 05. 09. 2013. Als Eschenburg am 30. 06. 1934 heiratete, war Cohn einer der beiden Trauzeugen, wie aus dem Tagebuch von Eschenburgs Bruder Harald hervorgeht. – Privatarchiv Renate Eschenburg, Berlin.

1948 in Konkurs geht69. Als Entschädigung für die

8  Eschenburg, Letzten Endes, S. 38.

Enteignung von Runge & Co. wird Fischbein, nach

9  Bestätigung vom ehemaligen Leiter der Dynamit AG in Trosdorf, Otto K. Gescher, 19. 03. 1970. – Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abt. Rheinland (LAV NRW R), Rep. 115, Nr. 3097.

zehnjähriger Verfahrensdauer, von der Entschädigungskammer des Kölner Landgerichts ein Betrag von 125.000 DM zugesprochen. Theodor Eschenburg wird in den überlieferten Akten nach 1938 nicht mehr genannt. An der »Arisierung« der Firma Runge & Co. hat er ebenso wenig Anteil wie am Fortgang und Ende der Lozalit AG.

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2  Hannah Bethke, Hellhörig bleiben gegenüber dem Verschweigen der NS-Vergangenheit, in: INDES, Jg. 3 (2013) H. 4, S. 137.

10  Also nicht in Berlin, wie Hannah Bethke in INDES H. 4/2013 schreibt. 11  Die Firma, die am 15. Februar 1934 ihre Tätigkeit aufnimmt, wird am 03. 07. 1934 ins Handelsregister eingetragen. Siehe Ferdinand Brück, Gutachtliche Äußerung in der Rückerstattungssache von Herrn Wilhelm James Fischbein, Mai 1970, S. 2 f., LAV NRW R. 12  William J. Fischbein, Erklärung unter Eid, 13. 06. 1961, LAV NRW R., a. a. O. 13  Ebd.

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14  Baron von Prittwitz war der einzige deutsche Botschafter, der 1933 wegen der Machtübernahme der Nationalsozialisten den diplomatischen Dienst quittierte. Er arbeitete fortan als Berater in der Wirtschaft. 15  Fischbeins Londoner Anwalt Erich Goldstein am 11. 01. 1966 an die Wiedergutmachungskammer des Landgerichts Köln, LAV NRW R, a. a. O. 16  Ebd. 17  Wollten Juden emigrieren, durften sie keine Reichsmark frei transferieren, sondern sie mussten sie auf Sperrmarkkonten einzahlen, die gegen enorme Abschläge (Anfang 1935 etwa 70 %) in Devisen umgetauscht werden. »Ende 1938 war der Kurs so niedrig, dass es für mich nicht lohnte, eine solche Transaktion selbst durchzuführen«, wird Fischbein nach dem Krieg erklären, warum er ohne Mittel in Großbritannien ankam. 18  Aktenvermerk von Dr. Römer, Reichswirtschaftsministerium, vom 26. 10. 1937, Bundesarchiv Berlin (BArchB), R 3101, Bd. 18313. 19  Die Einzelheiten zur Firmenentwicklung sind, wo nicht anders erwähnt, in den Dokumenten des Rückerstattungsverfahrens genannt, LAV NRW R, a. a. O. 20  Sie führte ein Bankenkonsortium an, an dem auch die Trévor & Cie (Paris) und Lüscher & Cie. (Basel) als Kreditgeber für die Firma Runge & Co. beteiligt waren. 21  Wilhelm Fischbein, Entwicklungsgeschichte der Firma Wilh. Runge, 03. 02. 1970, LAV NRW R. Die Reise nach London fand am 20. 01. 1938 statt. Fischbein an Römer vom Reichswirtschaftsministerium, 20. 01. 1938, BArchB, R 3101, Bd. 18383, Bl. 595. 22  So die Formulierung in dem Antrag der Reichsstelle für Devisenbewirtschaftung an den Oberfinanzpräsidenten in Köln, 14. Januar 1938, – BArchB, a. a. O., Bl. 531. 23  Aktenvermerk von Assessor Famer in Römers Referat V,3 im Reichswirtschaftsministerium, 15. 12. 1937, BArchB, a. a. O., Bl. 526–528. 24  Reichsstelle für Devisenbewirtschaftung an den Oberfinanz­ präsidenten Köln (Devisenstelle), 14. 01. 1938, BArchB, a. a. O., Bl. 551–556. 25  Eschenburg an das Reichswirtschaftsministerium, durch Boten, 08. 11. 1938, BArchB, a. a. O., Bl. 705–709. 26  Wilhelm Fischbein, Erklärung unter Eid, 13. 06. 1961, LAV NRW R, a. a. O. 27  Bankier Paul Hamel am 11. 01. 1940 an das Reichswirtschafts­ ministerium, BArchB, R 3101, 18384, Bl. 291. 28  LAV NRW R, a. a. O. 29  Aktenvermerk von Römer, Reichswirtschaftsministerium, 26. 10. 1937, BArchB, R 3101, 18383, Bl. 497. 30  Wilhelm Fischbein, Erklärung unter Eid. 31  Wilhelm Runge, Eidesstattliche Erklärung vom 26. 06. 1961, LAV NRW R, a. a. O. 32  Langbehn an Reinbothe, 13. 03. 1939: »Ich vertrat […] zunächst Herrn Dr. Bratring und habe dann mit dessen Einverständnis, weil sein Vermögen auf dem Spiel stand, auch die Interessen der Firma Runge & Co wahrgenommen.«, BArchB, R 3101, 18384, Bl. 1401/64–69.

33  Aktenvermerk von Assessor Faber, Reichswirtschaftsministerium, 15. 12. 1937, BArchB, a. a. O. 34  Langbehn an Reinbothe, 13. 09. 1938, BArchB, a. a. O., Bl. 677. 35  Wilhelm Fischbein, Entwicklungsgeschichte, LAV NRW R, a. a. O. 36  Langbehn an Reinbothe, 13. 09. 1938, BArchB, a. a. O., 37  Trevor & Cie (ein Partner der Sassoon Company) am 06. 09. 1938 an Wilhelm Fischbein nach Berlin, BArchB, a. a. O., Bl. 678. 38  Lore Liffman war Designerin bei Runge & Co., Herbert Liffman Werbeleiter. Er schreibt: »Die Arbeit in dieser Firma mit vielen jüdischen Kollegen war ein Vergnügen, das uns die immer schwieriger werdende Notlage der Juden sehr erleichterte. Die Firma wurde später nach England verkauft, und es gelang den Chefs, vielen der jüdischen Angestellten die Einwanderungs- und Arbeitserlaubnis für England zu verschaffen.« Volker Elis Pilgrim, Doris u. Herbert Liffman (Hg.), Fremde Freiheit. Jüdische Emigration nach Australien. Briefe 1938–1940. Hamburg 1992, S. 121. 39  Aktenvermerk von Bories, Reichswirtschaftsministerium, Referat IV, Fin.3, 12. 10. 1938, BArchB, a. a. O., Bl. 688. 40  Aussage Wilhelm Fischbein, 10. 09. 1965, LAV NRW R, a. a. O. 41  Ebd. 42  Aussage Wilhelm Runge vom 16. 06. 1965, LAV NRW R, a. a. O. 43  Eckell an von Bories, 02. 11. 1938, BarchB, a. a. O., Bl. 691. 44  Aktenvermerk, 09. 11. 1938, BArchB, a. a. O., Bl. 700. 45  Eschenburg an das Reichswirtschaftsministerium, a. a. O. 46  Umlauf in der Hauptabteilung IV des Reichswirtschaftsministeriums, 07. 11. 1938, BArchB, a. a. O., Bl. 703. 47  Fischbein an Reinbothe, 19. 12. 1938, BArchB, a. a. O., Bl. 725. 48  Fischbein an Reinbothe, 19. 12. 1938, BArchB, a. a. O., Bl. 726. 49  Aktenvermerk von Borries, 19. 01. 1938: Er habe dies am 08.12. von Herrn Tschacher von der Reichsstelle für Wirtschaftsausbau fernmündlich erfahren, BArchB, a. a. O., Bl. 736. 50  Aktenvermerk von Borries, 19. 12. 1938, BArchB, R 3101, 18384, Bl. 1401/2–3. 51  Ebd. 52  Kurt Fischbein, Mein Exil in Argentinien, in: Wolfgang Benz (Hg.), Das Exil der kleinen Leute. Alltagserfahrung deutscher Juden in der Emigration, München 1991, S. 264. 53  Fischbein an Kleine, 02. 01. 1939, BArchB, a. a. O., Bl. 1401/5. 54  Aktenvermerk Reinbothe, 04. 01. 1939, BArchB, a. a. O., Bl. 1401/6. 55  Aussage 10. 09. 1965, Bl. 186. 56  Heinrich Hildebrandt an den Landrat in Montabaur, 14. 06. 1945, Landeshauptarchiv Koblenz (LHA K), 540,001, Nr. 385. 57  Aktenvermerk Humbert, 19. 01. 1939, BArchB, a. a. O., Bl. 1401/12–13. 58  Abschrift im selben Aktenvermerk. 59  Aussage von Wilhelm Fischbein vom 10. 09. 1965, LAV NRW R, a. a. O. 60  Bericht von Carl Langbehn am 07. 02. 1939 an das Reichswirtschaftsministerium, BArchB, a. a. O., Bl. 1401/39–41.

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61  Edith Keissner, Zeugenaussage im Rückerstattungsverfahren, 29. 04. 1965, LAV NRW R, a. a. O. 62  Langbehn an Reinbothe, 13. 03. 1939, BArchB, a. a. O., Bl. 64–69. 63  Langbehn an Reinbothe, 17. 05. 1939, BArchB., a. a. O., Bl. 132–149. 64  Bspw. in der von Wirtschaftsprüfer Oskar Bornheim für Wilhelm Fischbein an die Restitutionskammer des Landgerichts Niederlahnstein am 19. 04. 1949 eingereichten Klageschrift, LHA K, 540,001, Nr. 386. 65  Bericht von Langbehn an Reinbothe, 13. 03. 1939, BArchB, a. a. O., Bl. 1401/64–69 sowie vom 17. 05. 1939, a. a. O., Bl. 132–149. Eine Million Reichsmark trug dazu die jüdische Berliner Bankiers­ witwe Fanny Steinthal bei, die das Geld im Vertrauen einzahlte, aber die Devisen nicht erhielt. Denn die Lozalit sollte die Sperrmark erst dann erhalten, wenn sie Neocell-Maschinen lieferte. Steinthal klagte

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vor Gericht, nach ihrem Tod 1941 führten ihre Erben den Prozess gegen Langbein, Lozalit und Sassoon weiter und gewannen in der zweiten Instanz. Zur Revision vor dem Reichsgericht kam es nicht mehr, LAV NRW R, a. a. O. 66  Bericht von Langbehn an Reinbothe, 07. 09. 1939, BArchB, a. a. O., Bl. 180–182. 67  Bericht von Langbehn an Reinbothe, 07. 11. 1939, BArchB, a. a. O., Bl. 206–215. 68  Wirtschaftsprüfer Albert Fuchs, Protokoll vom 28. 05. 1948, LHAK, 540.001, Nr. 818. Langbehn wird zu dieser Zeit von seinem Sozius Kleine vertreten. Er selbst ist seit September 1943 als Verschwörer im Gefängnis und wird am 12. 10. 1944 in Plötzensee wegen Hochverrats hingerichtet. Hingerichtet (dazu Allen Welsh Dulles, Verschwörung in Deutschland, Kassel 1947, S. 185–210). 69  Rheinzeitung, 11. 10. 1948.

Perspektiven — Kontroverse

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PORTRAIT

HELMUTH VON MOLTKE UND RUDOLF STEINER ODER: VON DER NOTWENDIGKEIT DES KRIEGES ΞΞ Wolfgang Martynkewicz

Am 27. August 1914 kam es zwischen dem Generalstabschef Helmuth von Moltke und dem Anthroposophen Rudolf Steiner zu einem Geheimtreffen in der Nähe von Koblenz, unweit des Großen Hauptquartiers, das um diese Zeit im Königlichen Schloss untergebracht war. Der Führer des deutschen Heeres und der Geistesforscher Steiner – das war eine bemerkenswerte Konstellation, vor allem zu diesem Zeitpunkt: Die Schlacht bei Tannenberg war gerade angelaufen, an der Westfront wähnten sich die deutschen Truppen noch im Aufwind, in den nächsten Tagen hoffte man Paris einzunehmen. Die Kampfhandlungen waren – so dachte man auf deutscher Seite – in eine entscheidende Phase eingetreten, der Sieg schien zum Greifen nah. Doch wenige Tage nach diesem delikaten Treffen verdüsterte sich die Lage: Die Einkreisung von Paris misslang, die deutschen Truppen wurden in verlustreiche Kämpfe verwickelt, die noch mehr als vier weitere Jahre andauern sollten. Die Situation an der auseinandergezogenen Westfront war unübersichtlich: Als am 8. September 1914 die Nachricht eintraf, dass englische Truppen und Teile der französischen Armee den rechten Flügel der deutschen Heeresfront durchbrachen, leitete Moltke eigenmächtig – ohne den Kaiser davon in Kenntnis zu setzen – den Rückzug ein. Die Marneschlacht ging verloren, der lange geplante und immer wieder durchgespielte monströse Aufmarsch im Westen, mit anfangs sieben Armeen, war mit einem Mal grandios gescheitert. War der Rückzugsbefehl richtig? Standen die deutschen Truppen nicht kurz vor einem Sieg? Als nach dem Krieg das Geheimtreffen zwischen Moltke und Steiner bekannt wurde, machten wilde Spekulationen und Verschwörungstheorien die Runde: Stand Moltke unter Einfluss? Hatte Steiner ihn mit magischen Mitteln und okkulten Techniken manipuliert? War Moltke ein

INDES, 2014–1, S. 145–155, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X

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Geisterseher, der sich unbemerkt an die Spitze des deutschen Heeres gesetzt hatte, um die Truppen in den Untergang zu führen? Erich Ludendorff, lange Jahre ein enger Mitarbeiter Moltkes im Generalstab, gehörte zu denen, die nach Kriegsende, als es um die Frage der Schuld und die Aufarbeitung der Niederlage ging, gezielt Gerüchte über Moltke verbreiteten: Er sprach von »Seelenmißbrauch«, vom »okkulten Bann« und schon früh erkennbaren pazifistischen Neigungen1 seines Chefs. Ludendorff nahm offenbar an, dass Steiner ein Gegner des Krieges gewesen sei, der mit pazifistischen und internationalistischen Ideen den Generalstabschef indoktriniert habe. Kritik und Verdächtigungen kamen damals von vielen Seiten, vor allem aus dem Führungszirkel des Militärs. In zahlreichen Veröffentlichungen schob man Moltke den schwarzen Peter zu. Er sei seinen Aufgaben nicht gewachsen gewesen, habe in der Marneschlacht versagt und damit die deutsche Niederlage eingeleitet. Moltkes Frau Eliza sah sich aufgrund der Vorwürfe gezwungen, der Öffentlichkeit Dokumente und Briefe bekannt zu machen, um die Ehre ihres 1916 verstorbenen Mannes wiederherzustellen, dem nichts so am Herzen gelegen habe, wie »die Neugeburt des echten wahren Deutschtums«2. Das Buch sollte 1919 erscheinen und den Titel tragen: »Die ›Schuld‹ am Kriege. Betrachtungen und Erinnerungen des Generalstabschefs H. v. Moltke über die Vorgänge vom Juli 1914 bis November 1914«. Rudolf Steiner hatte dazu, »in Übereinstimmung mit Frau Eliza v. Moltke«, ein Vorwort geschrieben und den Band in der Schriftenreihe der Anthroposophischen Gesellschaft drucken lassen. Doch aus bis heute nicht ganz geklärten Gründen wurde das bereits gedruckte Werk zurückgezogen und nicht veröffentlicht. Der Band, mit den von der Witwe ausgewählten Texten, die die Lauterkeit und Aufrichtigkeit ihres Gatten beweisen sollten, erschien erst 1922 unter dem verklausulierten Titel: »Generaloberst Helmuth von Moltke: Erinnerungen, Briefe, Dokumente 1877–1916. Ein Bild vom Kriegsausbruch, erster Kriegsführung und Persönlichkeit des ersten militärischen Führers des Krieges«. Eliza von Moltke gab dieses Buch heraus und von ihr stammt auch das Vorwort – Steiner wird darin mit keiner Silbe mehr erwähnt. In der Zwischenzeit hatte sich Moltkes Frau davon überzeugen lassen, dass eine Parteinahme Steiners geradezu kontraproduktiv sein würde. Ohnehin stieß ihr Vorhaben in der Familie und in

1  Erich Ludendorff, Das MarneDrama. Der Fall Moltke-Hentsch, München 1934, S. 2 u. 4; vgl. ders., Meine Kriegserinnerungen 1914–1918, Berlin 1919, S. 56.

der Obersten Heeresleitung auf Widerstand. Man wollte dem »Fall Moltke« keine weitere Publizität verschaffen und wies vor allem Steiners Plädoyer als unerwünschte Einmischung zurück. Rudolf Steiner galt – insbesondere in den Jahren vor und während des Ersten Weltkriegs – als eine schillernde Figur, umweht von Esoterik und

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2  Vorbemerkungen von Eliza von Moltke (1922), in: Helmuth von Moltke 1848–1916. Dokumente zu seinem Leben und Wirken, Bd. 1, hg. v. Thomas Meyer, Basel 1993, S. 379.

Geheimwissenschaft. Ein Mann, der schon rein äußerlich den Eindruck machte, als sei er nicht ganz von dieser Welt und stünde, was er denn auch steif und fest behauptete, in Kontakt mit dem Jenseits, mit dem Reich der Toten. 1912 hatte sich der charismatische und überaus emsige Vortragsredner von den Theosophen und ihrer Anführerin Annie Besant getrennt und seinen eigenen Verein gegründet. Sein großes Thema war die Erforschung der übersinnlichen Welt; in dieser glaubte er Gewissheit und Wahrheit zu finden. Er sah sich als Künder eines neuen Reichs, der die nach Sinn und Orientierung suchenden Menschen führen und ihnen die Augen öffnen wollte, damit sie ihre wirkliche Existenz erkennen würden. Hellseherei und Spiritismus waren um 1900 Mode. Steiner, der sich freilich davon abzusetzen versuchte, profitierte gleichwohl davon. Vor allem in den adeligen Schichten hatte die »Spökenkiekerei«, wie sie im Volksmund hieß, Konjunktur. Auch Moltke war dem erlegen. Olaf Jessen behauptet zwar in seiner Familienbiografie, Moltke habe sich der Theosophie nur aus rein geistigem Interesse genähert und sei im Übrigen ein standhafter Lutheraner gewesen.3 Doch stimmt das? Im Juli 1904 befand sich Moltke, wie jeden Sommer, mit dem Kaiser auf Nordlandfahrt. In der freien Zeit las er Steiners gerade erschienene »Theosophie«. An seine Frau schrieb er: »Gestern kam zufällig das Gespräch auf die theosophische Weltauffassung. Wir saßen unserer fünf oder sechs zusammen, und da ich der einzige war, der von diesen Dingen etwas wußte, mußte ich das Wort führen. Erst lachten einige, dann wurden sie immer ernster, und zuletzt hörten sie mir zu wie dem Pastor in der Kirche. Es ist merkwürdig, wie dieses Thema die Menschen alle interessiert, wenn sie auch so tun, als ob sie hoch darüber erhaben sind.«4 Moltke selbst war keineswegs »hoch darüber erhaben«. Schon in den frühen Briefen an seine Braut wurden übersinnliche Phänomene angesprochen, natürlich mit der Versicherung – die auch Steiner nicht müde wurde abzugeben –, 3  Olaf Jessen, Die ­Moltkes. Biographie einer Familie, München 2011, S. 252. 4  Brief vom 17. Juli 1904, in: Helmuth von ­Moltke, Bd. 1, S. 233. 5  Vgl. Brief vom 1. November 1877, in: Helmuth von Moltke, Bd. 1, S. 47.

kein Spiritist und mystischer Schwärmer5 zu sein. Zweifel sind da wohl angebracht – aber zurück. Wie kam es überhaupt zu dem Geheimtreffen 1914? Über was sprachen der Heerführer und der Guru? Steiner selbst stellte im Oktober 1921 klar: »Unsere Unterhaltung drehte sich um rein menschliche Angelegenheiten. Das deutsche Heer war noch im vollen Siegeszuge. Es war auch keine Veranlassung, über das zu sprechen, was noch nicht da war. Die Marneschlacht entfaltete sich später.«6 Später? Die Offensive der Franzosen begann am 5. September – so viel später war das also nicht! 1933 nahm auch Marie Steiner, die zweite

6  Das Sauerwein-­Interview (1921), in: Helmuth von Moltke, Bd. 1, S. 422.

Frau des Anthroposophen, zu der Sache Stellung; die Geschichte ging gerade wieder durch die Presse – Anlass war der Tod Elisabeth Seidlers, einer Wolfgang Martynkewicz  —  Helmuth von Moltke und Rudolf Steiner

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bekannten Wahrsagerin, die, so wurde kolportiert, bei dem ominösen Gespräch dabei gewesen sei oder sich zumindest in der Nähe aufgehalten habe. Eliza von Moltke, möglicherweise auch ihr Mann, standen mit ihr in Kontakt. Frau Seidler war berühmt, zu ihr kamen viele Kunden aus höheren Kreisen, sie muss über außerordentliche Fähigkeiten verfügt haben. 1909 nahm sogar Sigmund Freud über seinen Schüler Sándor Ferenczi mit ihr Verbindung auf; er wollte, nachdem ihn C.G. Jung mit seinen spiritistischen Kenntnissen beeindruckt hatte, den Geheimnissen der Gedankenübertragung auf den Grund gehen. Das Oberhaupt der Analytiker zeigte sich in einem Brief an Ferenczi von den Künsten Elisabeth Seidlers »erschüttert«, er sprach von einer »großen Sache«, die man zunächst aber für sich behalten solle, und er verpflichtete seinen Famulus zu »absolutem Stillschweigen«7. Auch die Moltkes ließen sich offenbar von den Künsten der Wahrsagerin bezaubern – immerhin prophezeite sie dem Feldherrn den ersehnten »großen Krieg«. Wir werden noch darauf zurückkommen. Betrachten wir aber zuerst Marie Steiners Stellungnahme im »Goetheanum« vom 5. März 1933. Auch sie wollte die Ehre ihres in der Zwischenzeit verstorbenen Mannes retten, dem man vorwarf, der deutschen Sache im Krieg Schaden zugefügt zu haben. Gleich eingangs stellte sie klar: Moltke und ihr Mann, der »Lenker von Völkergeschicken« und die »bedeutendste Kapazität […] für Weltanschauungsfragen«, hätten »Freundschaft und Verehrung« füreinander empfunden und in vielen Begegnungen sei es vornehmlich um »Philosophie und Metaphysik«8 gegangen – Dinge also, die dem Militärwesen ganz fern gelegen hätten. Das Gespräch am 27. August muss aber einen anderen Charakter gehabt haben, denn Marie Steiner schreibt: Moltke verlangte zu dieser Zeit »nach Stärkung seiner Seele und Entspannung der Nerven im freundschaftlichen Gespräch mit einem weisen und gütigen Menschen!«9 Um eine Art Seelenmassage sei es also gegangen. Die Anhänger Steiners stellten später jedoch den therapeutischen Aspekt ganz in den Hintergrund bzw. suchten ihn zu negieren. Sie machten aus Moltke einen Kritiker der wilhelminischen Gesellschaft, der gegen den Krieg und die fatale Machtpolitik des Kaiserreichs gewesen sei und sich für die »Kulturschöpfungen« des deutschen Volkes eingesetzt habe. Vorsichtshalber sprach man nicht – wie Eliza von Moltke – vom »Deutschtum«, sondern vom mitteleuropäischen Geist des Generalstabschefs. Angesichts der knallharten Äußerungen Moltkes zum Krieg gegen Frankreich, den er führen wollte, um mit diesem Land, so wörtlich, »ein Ende zu machen«10, war das eine Verharmlosung sondergleichen. Im August 1914, so die Adepten Steiners, sei die »innere Entfernung« vom Kaiser eklatant geworden. Moltke habe nun sukzessive die Seiten gewechselt

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7  Sigmund Freud u. Sándor Ferenczi, Briefwechsel. Bd. I/1: 1908–1911, hg. v. Eva Brabant u. a., Wien 1993, S. 143 f. 8  Marie Steiner, Helmuth von Moltke und Rudolf Steiner, in: Die »Schuld« am Kriege, S. 8, in: Rudolf Steiner Online Archiv, online einsehbar unter http://anthroposophie.byu.edu [eingesehen am 12. 02. 2014]. 9  Ebd. 10  Moltke zit. n. John C. G. Röhl, Wilhelm II. Der Weg in den Abgrund: 1900–1941, München 2008, S. 1042.

und sich zu dem großen Guru bekannt. Aus dem Geheimtreffen am 27. August 1914, in einem Haus in der Nähe von Koblenz, wurde unter der Hand quasi ein offizieller Empfang »im Hauptquartier«11. Jürgen von Grone versteigt sich sogar zu der grotesken Behauptung, bei dem Gespräch sei es um den Erhalt des »deutschen Volkswesens«12 gegangen. In der heutigen, kritischen Beschäftigung mit Steiner wird wieder der therapeutische Aspekt des Treffens betont. Helmut Zander unterstreicht den konspirativen Charakter der Begegnung: Nicht von ungefähr habe sich Steiner extra eine gestückelte Fahrkarte gekauft und sei in Mannheim umgestiegen. Die Zusammenkunft, so Zander, habe in einem Privathaus in Niederlahn­ stein, auf der Koblenz gegenüberliegenden Rheinseite, stattgefunden. Wahrscheinlich habe es sich um »ein psychologisch ausgerichtetes Gespräch«13 gehandelt. Auch die Steiner-Biografin Miriam Gebhardt schließt sich dem an; allerdings schmückt sie ihre Darstellung mit dem Hinweis auf eine »Meditationsanleitung« aus, die Steiner bei dieser Gelegenheit »dem mecklenburgischen Adeligen« übergeben haben soll.14 War Steiner also der Seelenführer und Therapeut Moltkes? Steiner selbst – wir werden noch darauf zurückkommen – hat sich gern so gesehen und als der große Psychagoge des Heerführers stilisiert. Doch sortieren wir zunächst die Fakten: Eliza von Moltke war eine Schülerin Steiners. Über dessen Lehre und Wirken hatte sie zuerst von ihrer Freundin Marie von Sivers gehört – die bereits erwähnte zweite Frau des Anthroposophen und frühe Mitarbeiterin. Seit Sommer 1904 schickte Steiner sogenannte »Seelenführungsbriefe« an Eliza von Moltke und auch ihren Mann. Die Beziehungen nahmen schnell 11  Johannes Tautz, ­Helmuth von Moltke und Rudolf Steiner, in: Helmuth von Moltke. 1848–1916. Dokumente zu seinem Leben und Wirken, Bd. 2, Briefe von Rudolf Steiner an Helmuth und Eliza von Moltke, hg. v. Thomas Meyer, Basel 1993, S. 21.

einen persönlichen Charakter an: Steiner wurde zum gern gesehenen Gast im Hause Moltke, man tauschte sich aus, diskutierte bis tief in die Nacht über Gott und die Welt. Helmuth von Moltke sprach schon bald in den höchsten Tönen von Steiner und seinen Traktaten: Dieser sei ein Gelehrter, der mit großer Klarheit zu denken und zu schreiben verstehe. Sogar Nietzsche sei ihm jetzt verständlich, teilte er seiner Frau mit, nachdem er Steiners Abhandlung über den Philosophen gelesen hatte.

12  Jürgen von Grone zit. n. Tautz, Moltke und Steiner, S. 21. 13  Helmut Zander, ­Rudolf Steiner. Die Biographie, München 2011, S. 219.

Moltke war ein Mann mit schöngeistigen Interessen: In seinem Atelier in Berlin versuchte er sich als Hobbymaler, daneben spielte er Cello und begeisterte sich für Goethes »Faust«, den er als »steten Begleiter« mit sich führte und mit Inbrunst laut deklamierte. Von Maeterlincks »Pelléas et Mélisande« war er so fasziniert, dass er das Stück am liebsten übersetzt hätte. Lange

14  Miriam Gebhardt, Rudolf Steiner. Ein moderner Prophet, München 2011, S. 233.

träumte er davon, wie sein berühmter Onkel, Helmuth von Moltke d. Ä., der legendäre Sieger von Königgrätz und Sedan, nicht nur ein großer Feldherr, Wolfgang Martynkewicz  —  Helmuth von Moltke und Rudolf Steiner

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sondern ein Mann mit schriftstellerischen Fähigkeiten zu werden. Doch im Gegensatz zum Generalfeldmarschall, den Fritz Mauthner als »Meister der Sprache«15 titulierte, war dem Neffen in diesem Bereich wirkliches Talent wohl nicht beschieden. Unter der Ägide seines Onkels und als Protegé des Kaisers stieg er im Militär auf. Er war als Soldat nicht unglücklich – im Gegenteil: Seiner Frau schrieb er 1881 aus dem Manöver: »Wie das arabische Pferd den heißen Hauch der Wüste, so atme ich in langen, tiefen Zügen den Pulvergeruch ein. Hier ist mein Element, hier mein Leben, Fühlen und Denken. Mit tausend Freuden würde ich einen Feldzug begrüßen und mit wahrer Wollust mich in das Kriegsgetümmel stürzen.«16 Diese Haltung zum Krieg und – in späteren Jahren – die Hoffnung auf den »großen Krieg« standen für Moltke nicht im Gegensatz zu seinen künstlerischen Interessen. Warum sollten sich Krieg und Kunst auch nicht vereinbaren lassen? Einer, der von der anderen Seite kam und sich primär im Ästhetischen zu Hause fühlte, Thomas Mann, machte im September 1914, in bewegter Zeit, auf die engen Beziehungen zwischen Krieg und Kunst aufmerksam: »Sind es nicht völlig gleichnishafte Beziehungen, welche Kunst und Krieg miteinander verbinden? Mir wenigstens schien von jeher, daß es der schlechteste Künstler nicht sei, der sich im Bilde des Soldaten wiedererkenne.«17 Wilhelm II. machte schließlich den jüngeren Moltke – gegen den Willen seiner Berater und führender Militärs – zum Generalstabschef. 1906 wurde er Nachfolger des altgedienten Grafen Schlieffen. Offenbar war Moltke von dieser Entscheidung selbst überrascht und zeigte sich gegenüber Wilhelm II. unsicher, ob er für diese Position der geeignete Mann sei. Der Kaiser wies seine Bedenken zurück und erinnerte an eine Aussage des Onkels, der ihm einst gesagt habe, »es komme bei der Wahl zu dieser Stellung viel weniger darauf an, daß der Betreffende genial sei, als darauf, daß man sich unter allen Umständen auf ihn verlassen könne, der Charakter sei die Hauptsache, dieser ist es, der im Kriege auf die Probe gestellt wird«18. Kein Genie, sondern ein Mann, der das Werk seines Onkels und des Grafen Schlieffen fortsetzen und dem Kaiser ansonsten treu ergeben sein sollte: Das war die Rolle, auf die Moltke nun festgelegt war und die er auch nicht ungern spielte. Hermann von Kuhl, Befehlshaber der 1. Armee, lobte Moltkes »große Arbeitskraft«: Dieser sei »ein vornehmer, edler Mensch. […] Bescheiden waltete er in der Stille seines schweren Amtes.«19 Ein zwielichtiges Lob, denn von einem Militär, noch dazu von einem Generalstabschef, erwartete man gemeinhin andere Tugenden als große Arbeitskraft, Vornehmheit und Bescheidenheit. Der oben zitierte Ludendorff sprach dann auch aus, was viele

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15  Fritz Mauthner, Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande, Bd. IV, Stuttgart 1923, S. 312. 16  Brief vom 13. September 1881, in: Helmuth von Moltke, Bd. 1, S. 94. 17  Thomas Mann, Gedanken im Kriege, in: ders., Große kommentierte Frankfurter Ausgabe: Essays II: 1914–1926, hg. v. Hermann Kurzke, Frankfurt a. M. 2002, S. 29. 18  Helmuth von Moltke, Bd. 1, S. 241. 19  Hermann von Kuhl, Der deutsche Generalstab in Vorbereitung und Durchführung des Weltkriegs, Berlin 1920, S. 140.

dachten: Moltke »hätte ein ganz großer Soldat werden können, wenn er einen harten, unbeugsamen Willen gehabt hätte«20. Noch heute sehen viele Moltke als Zauderer, der vorwärts drängte und zugleich zurückschreckte. Dabei wird darauf verwiesen, dass er sich schon 1912 für einen Präventivkrieg stark machte, gleichzeitig aber mit viel Pathos vom Schrecken des Krieges sprach. Doch muss man das als Zaudern und Zögern sehen? Oder steckte dahinter nicht einfach nur die Einsicht, dass Krieg unweigerlich Zerstörung mit sich bringt und leider auch Opfer kostet, nichtsdestotrotz aber notwendig ist? In den Jahren vor 1914 kalkulierte Moltke durchaus rational: Er befürchtete, dass sich das Zeitfenster schließe und Deutschland einen Zweifrontenkrieg zukünftig nicht erfolgreich führen könne. Daher lautete seine Devise: »Je eher, desto besser.« Wenn die Behauptung Ludendorffs und anderer Militärs stimmt, dass die Wahrsagerin Elisabeth Seidler bereits um 1900 Moltke den »großen Krieg« prophezeit hatte, dann war das, für den nach Schlachtenlärm und Kriegsgetümmel dürstenden Militär, alles andere als eine unglückliche Weissagung – es war sein Lebenstraum, auf den hin er all seine Kräfte orientierte, ein Traum, der spät in Erfüllung ging. Am Beginn des Ersten Weltkriegs war Moltke 66 Jahre alt und nicht mehr bei guter Gesundheit: Ein schwergewichtiger, zur Korpulenz neigender, kahlköpfiger Mann, der seine beste Zeit hinter sich hatte und der sich mit Kuren in Karlsbad – die letzte noch während der Wirren der Julikrise – fit zu halten versuchte. Moltkes gesundheitliche Probleme waren für jedermann offensichtlich. Als der Krieg ausbrach, sei er, schreibt Alfred von Tirpitz in seinen »Erinnerungen«, »ein schwerkranker Mann«21 gewesen. Andere sprachen von großer Nervosität, von Erregungsund Erschöpfungszuständen. Wie es um Moltke stand, wurde schon bei der Mobilmachung deutlich. Auf deutscher Seite spekulierte man noch am 1. August über eine mögliche Neutralität Englands. Hatte man doch die Briten zunächst so verstanden, dass sie sich aus dem Krieg heraushalten und die Passivität Frankreichs verbürgen würden; vorausgesetzt, die Deutschen griffen nicht an und verletzten nicht die Neutralität Belgiens. Die ganze Geschichte beruhte bekanntlich auf einem Missverständnis. Gleichwohl, der Kaiser war von der Möglichkeit, keinen Zweifrontenkrieg führen zu müssen, geradezu elektrisiert. Er forderte Moltke auf, den schon in Bewegung gesetzten Aufmarsch an der Westfront sofort zu stop20  Ludendorff, Marne-Drama, S. 3. 21  Alfred von Tirpitz, Erinnerungen, Leipzig 1919, S. 252.

pen und die Truppen nach Osten umzuleiten. Der Befehl des Kaisers durchkreuzte die langjährigen Vorbereitungen des Generalstabschefs, der in seinen Kriegsplänen absolut festgelegt war. Für ihn kam nur der massierte Aufmarsch der Truppen an der Westgrenze in Frage, inklusive der völkerrechtswidrigen Wolfgang Martynkewicz  —  Helmuth von Moltke und Rudolf Steiner

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Besetzung Belgiens. Über diese Eröffnung des Krieges ließ er nicht mit sich reden – die Aufforderung des Kaisers betrachtete er als Einmischung in seine Angelegenheit, als Schwächung seiner Autorität – dabei offenbar völlig verkennend, dass der Kaiser im Weltkrieg als »Oberster Kriegsherr« fungierte. Nach übereinstimmenden Berichten erlitt Moltke, als der Kaiser ihm jenen Befehl gab, einen hysterischen Anfall. Eliza von Moltke erzählte später, ihr Mann sei in äußerster Erregung zurückgekommen, »blau und rot im Gesicht«22. Zunächst habe er angesichts seiner großen Aufregung nicht sprechen können, »schliesslich habe sich die Spannung in einem Weinkrampf gelöst, wobei er immer wieder die Worte hervorgestossen habe: ›Gegen die Franzosen und Russen will ich Krieg führen, aber nicht gegen einen solchen Kaiser.‹« Wie Moltke gegenüber seinem Adjutanten Hans von Haeften im November 1914 eingestand, »sei er von dem Augenblick an seiner selbst nicht mehr sicher gewesen und habe immer mehr das Vertrauen zu sich selbst und seinem Können verloren«23. Dies bestätigen die Ereignisse in den ersten Kriegstagen: Der von Moltke persönlich geplante »Handstreich gegen Lüttich« am 5. August, der entscheidend war für den weiteren Vorstoß der Armeen, wäre um ein Haar schief gegangen. Nach dem Zusammenstoß mit dem von ihm seit früher Jugend verehrten Kaiser, bei der viele militärische und politische Entscheidungsträger zugegen gewesen waren, blieb Moltkes Zustand labil. Am 9. August suchte Eliza von Moltke um die Genehmigung nach, »ihren Mann ins Feld zu begleiten, da er dringend ihrer Pflege bedürfe«24. Den ihr bekannten Oberstleutnant von Dommes bat sie, dem Kaiser ihren Wunsch zu übermitteln. Wilhelm II. lehnte brüsk ab – eine Frau im Großen Hauptquartier, das sei »ganz unmöglich«. Die Kaiserin, die zugegen war, griff vermittelnd ein und machte den Vorschlag, man könne doch Frau von Moltke »als Vorsteherin eines Lazaretts vom Roten Kreuz nach Koblenz entsenden« und ihr damit die notwendige Legitimität verschaffen. Darauf ging der Kaiser ein. Bereits bei dieser Gelegenheit soll man sich im engeren Kreis über eine Ablösung des Generalstabschefs unterhalten haben. Nach der Entscheidung des Kaisers konnte Eliza von Moltke als Betreuerin ihres Mannes ins Große Hauptquartier nach Koblenz ziehen. Ob sie auch Elisabeth Seidler mitnahm, lässt sich nicht belegen. Ludendorff behauptete das später.25 Wie dem auch sei, Moltke war offenbar mit den Nerven herunter, er musste also, bevor es zur großen Schlacht kam, dringend aufgebaut werden. Für Eliza von Moltke war klar, das konnte nur einer: Rudolf Steiner. Von ihm gingen, wie Moltke im Juli 1914 an seine Frau schrieb, »innere Erfrischung und Stärkung«26 aus. Folglich wurde Steiner mobilisiert, um dem geschwächten Feldherrn wieder auf die Beine zu helfen.

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22  Hans von Haeften, Meine Erlebnisse aus den Mobilmachungstagen 1914, S. 33 (Militärarchiv Freiburg, N 35/1). 23  Ebd., S. 34. 24  Ebd., S. 37. 25  Vgl. Ludendorff, Marne-Drama, S. 49. 26  Helmuth von Moltke, Bd. 1, S. 299.

Liest man die Briefe Moltkes, die er unmittelbar vor und während der Marneschlacht an seine Frau schrieb, dann scheint die Therapie auf den ersten Blick alles andere als erfolgreich verlaufen zu sein: Da artikuliert sich ein Leidender, ein Gequälter, der unter der Last der übernommenen Aufgabe schier zusammenzubrechen droht; ein Mann, der angesichts der »Ströme von Blut«, die geflossen sind, nicht mehr weiter weiß und ein ums andere Mal vor einer »schwarzen Wand« steht. War Moltke also am Ende? Ja und Nein. Zunächst: Er hatte eine persönliche Niederlage erlitten. Am 14. September 1914 wurde er aus gesundheitlichen Gründen seines Postens enthoben, an seine Stelle trat der preußische Kriegsminister Erich von Falkenhayn. Der Wechsel an der Spitze des Generalstabs wurde erst Anfang November offiziell bekannt gegeben. So sollte ein direkter Zusammenhang mit den Ereignissen an der Marne vermieden werden. Moltke war tief enttäuscht, insbesondere vom verehrten Kaiser und seiner Entourage, doch an seinen Überzeugungen zum Krieg und Deutschlands Sendung änderte das nichts. Im November 1914 schrieb er in seinen »Betrachtungen und Erinnerungen«: »Eine geistige Weiterentwicklung der Menschheit ist nur durch Deutschland möglich. Deshalb wird auch Deutschland in diesem Kriege nicht unterliegen, es ist das einzige Volk, das zur Zeit die Führung der Menschheit zu höheren Zielen übernehmen kann.«27 Moltkes Visionen hatten also weiterhin Bestand, er gab sich siegesgewiss und zweifelte auch nicht an der Monarchie. Vor allem aber zweifelte er nicht am Krieg, an dessen kultivierender, befruchtender Kraft. Der Krieg war für Moltke, es wurde bereits gesagt, kein Übel, sondern ein Korrektiv, ohne das die Gesellschaft ansonsten an Dekadenz und Materialismus zugrunde gehen würde. In der oben erwähnten Schrift heißt es: »Dieser Krieg, den wir jetzt führen, war eine Notwendigkeit, die in der Weltentwicklung begründet ist. Unter ihrem Gesetz stehen die Völker wie die einzelnen Menschen.«28 Freilich hatte Moltke, wenn er vom Krieg sprach, das Szenario einer großen Schlacht vor Augen, in der es am Ende Sieger und Besiegte gab. Eine langandauernde Ermattung und Demoralisierung des Gegners war in diesem Konzept nicht vorgesehen. Moltke stand damit in der Tradition seiner Vorgänger; aber schon sein Onkel, Helmuth von Moltke d. Ä., war von dieser Vorstellung abgerückt: Herfried Münkler hat jüngst in seinem Buch über den »Großen Krieg« darauf hingewiesen, dass ausgerechnet der berühmte Generalfeldmarschall am Ende seines Lebens vor den Folgen eines großen Krie27  Ebd., S. 395. 28  Ebd., S. 394.

ges in Europa warnte. Keine der bestimmenden Mächte sei, so Moltke d. Ä. in einer Reichstagsrede vom 14. Mai 1890, in der Lage, in einem oder zwei Feldzügen den Gegner derart vollständig zu besiegen, dass dieser sich nicht Wolfgang Martynkewicz  —  Helmuth von Moltke und Rudolf Steiner

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mehr würde aufrichten können. In Zukunft würde es deshalb keine Sieger und Besiegte mehr geben. So modern dachte der Neffe nicht. Außerdem sah sich Moltke als Opfer – und Opfer gehören zum Krieg. Das war für den Militär nicht nur eine Binsenwahrheit, in seinem agonalen Weltbild war das Opfer zudem positiv besetzt: Moltke dachte nicht nur nationalistisch, sondern auch sozialdarwinistisch; und in diesem Sinn war der Krieg Auslese: Die Besten und Stärksten würden überleben. Auch Steiner betonte die Notwendigkeit des Krieges. Dieser sei nicht von »ein paar Leuten beschlossen« worden, sondern hinge »mit tieferen Ursachen in der Menschheitsentwicklung«29 zusammen. Notwendig seien vor allem auch die Opfer. Vom vergossenen Opferblut erwartete Steiner die Reinigung der Gesellschaft vom Materialismus und eine spirituelle Erhöhung der Menschheit. Am 1. September 1914 hielt er einen Vortrag vor der Anthroposophischen Gesellschaft in Berlin. Er sprach davon, dass das »Menschheitskarma« diesen Krieg wolle, und führte aus: »Aber, meine lieben Freunde, die Gewißheit müssen wir gewonnen haben […], daß der Geist, der durch die Menschheitsentwickelung wallt, uns in diesen Sturmzeiten kräftige und mit Zuversicht erfülle, so daß wir den Glauben in uns tragen können, daß im Weltenkarma das Rechte geschehen werde, daß gekämpft werden muß, daß Blut über Blut fließen muß, damit erreicht werden könne, was der Welten-Schicksalslenker mit der Erdenmenschheit erreichen will. Auch ein Opferblut wird dieses sein, ein heiliges Opferblut! Und diejenigen unserer Lieben, die dieses Opferblut vergießen werden, sie werden in den geistigen Reichen starke Helfer der Menschheit werden nach den schönsten, nach den hehrsten Zielen.«30 Der Hinweis sei erlaubt: Ähnliches wird auch selbsternannten Gotteskriegern prophezeit, denen ein günstiger Platz im Paradies versprochen wird und die mit ihren Taten auf ein höheres Sein spekulieren. Sie streben nach hehren Zielen und wollen »starke Helfer der Menschheit werden« – und dazu müssen sie Blut vergießen! Bei Steiners Glorifizierung des Opfers muss man freilich noch bedenken, dass der »irdische Lebenslauf« für ihn nicht alles war. Sobald der Mensch durch die »Pforte des Todes« gegangen sein würde, fände die Existenz eine Fortsetzung auf einer anderen Bühne. Was im irdischen Dasein Bedeutung habe – Körper und Begierden, Erfolg und Misserfolg, Wünsche und Entbehrungen –, streife der Mensch ab. Nach einer Phase der Läuterung verliere er sukzessive den Kontakt zum Physischen, um schließlich in einem höheren Sein aufzugehen. Es sei ein Prozess der Befreiung, der Selbstfindung, durch den die Seele zu sich komme, zu wahrer Erkenntnis.

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29  Rudolf Steiner, Geschichtliche Notwendigkeit und Freiheit, Schicksalseinwirkungen aus der Welt der Toten (1917), S. 21, in: Rudolf Steiner Online Archiv, online einsehbar unter: http://anthroposophie.byu.edu [eingesehen am 12. 02. 2014]. 30  Rudolf Steiner: Um Menschenschicksale und Völkerschicksale (1. Sept. 1914), S. 18 f., in: Rudolf Steiner Online Archiv, online einsehbar unter http://anthroposophie.byu.edu [eingesehen am 12. 02. 3014].

Diese hier – eingestandenermaßen – ziemlich verkürzt wiedergegebenen Gedanken aus Steiners »Theosophie« verdeutlichen, wie gut die Verheißungen und Botschaften des Anthroposophen in eine Zeit passten, in der Menschen auf den Schlachtfeldern massenhaft den Tod fanden. Die sechste, neu überarbeitete Auflage erschien in bemerkenswerter Koinzidenz zu Beginn des Krieges, »als«, so Steiner, »das schicksaltragende Ereignis über Europa hereinbrach«. Steiners Lehre war dazu angetan, der Absurdität dieses Sterbens einen Sinn zu verleihen und Tröstungen für die Zurückgebliebenen bereitzuhalten: Der Tod sei nicht das Ende – im Gegenteil, er sei die »Pforte« zum wahren Leben und führe – nach einem Interregnum – wieder in ein neues Dasein. Für Steiner war auch Moltke ein Gotteskrieger – ein ganz besonderer. Als er ihn am 27. August traf, sah er, was mit seinem Freund, dem Heerführer, los war: ein Nervenbündel – am Ende seiner Kräfte. Dazu gehörte kein medizinischer Blick, das sahen auch alle anderen, nicht zuletzt sah sich Moltke selbst so; seine »Nerven«, schrieb er ein paar Wochen später, seien in dieser Zeit herunter gewesen und er habe »wohl den Eindruck eines kranken Mannes gemacht«31. Was folgte, war keine Therapie, sondern der Anfang einer Verklärung. Mit Hilfe von Moltkes Frau Eliza stilisierte Steiner den gescheiterten Feldherrn zu einem Menschen, der stellvertretend für alle leide und ein großes Schicksal auf sich nehme. Am 20. Dezember 1914 schrieb der Psychagoge an Moltke: »Ihnen, Excellenz, ist viel Leid geworden. Doch Leid ist wirklich auch der Boden, aus dem die Geistes-Mächte das Heil der Erden-Entwickelung weben müssen.«32 Nach Moltkes Tod, im Juni 1916, trat die Verklärung in eine neue Phase. Steiner machte sich nun zum Medium, das der Witwe regelmäßig Botschaften von ihrem verstorbenen Mann aus dem Jenseits übermittelte. Die letzte Mitteilung datiert vom 17. Juni 1924. Steiner selbst war zu dieser Zeit schon ernstlich erkrankt, wahrscheinlich an Magenkrebs. Er bäumte sich gegen das 31  Helmuth von Moltke, Bd. 1, S. 402. 32  Helmuth von ­Moltke, Bd. 2, S. 56.

Ende seines irdischen Daseins auf, hielt Vorträge im Akkord, veranstaltete Kurse über anthroposophische Landwirtschaft und arbeitete fieberhaft an den Planungen des neuen Goetheanums. Am 30. März 1925 starb der große Guru und Verklärer, der den Tod als »schönstes Erlebnis« feierte. Dr. Wolfgang Martynkewicz, geb. 1955, ist freier Autor und Dozent für Literaturwissenschaft; zahlreiche Veröffentlichungen zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts und zur Geschichte der Psychoanalyse. Letzte Buchveröffentlichungen: Salon Deutschland. Geist und Macht 1900–1945 (Berlin 2009); Das Zeitalter der Erschöpfung. Die Überforderung des Menschen durch die Moderne (Berlin 2013).

Wolfgang Martynkewicz  —  Helmuth von Moltke und Rudolf Steiner

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STUDIE

AYSE MASSOUD, EINE VIERTELGESTALTERIN EIN BLICK IN DIE STUDIE: »WER ORGANISIERT DIE ›ENTBEHRLICHEN‹?« ΞΞ Christoph Hoeft / Sören Messinger / Jonas Rugenstein

Das vom Göttinger Institut für Demokratieforschung durchgeführte Projekt »Wer organisiert die ›Entbehrlichen‹?«1 hat sich in sozial benachteiligte Viertel begeben, um dort über Schlüsselfiguren des Stadtteillebens zu forschen. Diese sogenannten Viertelgestalterinnen und Viertelgestalter waren in einer vorherigen Studie2 als Menschen aufgefallen, die sich auch dort engagierten, wo sonst auf Grund der Häufung vieler sozialer Probleme kaum eine Zivilgesellschaft vorhanden ist. Herausgekommen ist ein Bericht mit acht Portraits von verschiedensten Menschen, die sich in ihrem Stadtteil allen Widrigkeiten zum Trotz engagieren. Die Studie soll dabei helfen, die Motivationen und Engagementstrukturen dieser Menschen zu verstehen, und Möglichkeiten zeigen, wie sie in ihrem Bemühen unterstützt werden können. Im Folgenden präsentieren wir einen stark gekürzten Auszug aus einem Portrait. Zu unserem dritten und letzten Interviewtermin hat uns Ayse Massoud in ihre Wohnung eingeladen. Nachdem wir sie zuvor bereits zweimal in öffentlichen Räumen getroffen hatten, sitzen wir nun also in ihrem Wohnzimmer. Wir waren von mehreren Menschen während unserer Suche nach besonders engagierten Personen in ihrem Viertel auf Asye Massoud aufmerksam gemacht worden und wollen nun von ihr erfahren, warum sie sich in ihrem Stadtteil so stark engagiert. Und Ayse Massoud zum Reden zu bringen, ist nicht schwer. Auch diesmal hat sie bereits einen Gesprächseinstieg gefunden, noch bevor wir die von uns vorbereitete erste Frage stellen konnten. Sie beginnt in rasantem Tempo und einnehmendem Tonfall zu erzählen. Unterbrochen wird sie dabei nur von ihrem Mobiltelefon, denn ihre Rolle als Ansprechpartnerin in ihrem städtischen Mikrokosmos kennt kaum Pausen. Zeitgleich zu unserem Interview mit ihr tagt »ihre« alte Gruppe im nur

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INDES, 2014–1, S. 156–167, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X

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1  Das vom Niedersächsischen Ministerium für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Integration geförderte Projekt erscheint voraussichtlich im Mai dieses Jahres in Form einer umfangreichen Publikation beim transcript-Verlag unter dem Titel »Wer organisiert die ›Entbehrlichen‹? Neue Viertelgestalterinnen und Viertelgestalter in benachteiligten Stadtquartieren«. 2  Johanna Klatt u. Franz Walter, Entbehrliche der Bürgergesellschaft? Sozial Benachteiligte und Engagement, Bielefeld 2011.

wenige hundert Meter entfernten Jugendtreff: das Frauenfrühstück, das sie vor mehreren Jahren gegründet hat. Dort kommen jeden Dienstagvormittag Bewohnerinnen unterschiedlichster Nationen und Kulturen zusammen. Sie besprechen dort die alltäglichen und außergewöhnlichen Probleme, die sich ihnen in ihrem Leben gerade stellen, und versuchen sich gegenseitig bei der Bewältigung zu helfen. Zudem werden Veranstaltungen geplant; aktuell wird diskutiert, welche Expertin für den nächsten Abendtermin des Vereins eingeladen werden soll. Immer wieder trudeln Whats-App-Nachrichten bei Frau Massoud ein, mittels derer die Meinungen oder Einschätzungen der Gruppengründerin zu dieser Diskussion eingeholt werden sollen. Eigentlich, so erzählt uns Frau Massoud im Gespräch, hatte sie die Leitung des Frauencafés bereits vor Monaten abgegeben. Doch offensichtlich können hier beide Seiten nicht voneinander lassen: Die Gruppe nicht von ihrer alten Mentorin und diese nicht von ihrer lenkenden Funktion. Solche Szenen vermitteln einen Eindruck davon, was es bedeutet, eine Schlüsselfigur des informellen Stadtteillebens zu sein: über die Maßen für das eigene Viertel engagiert, als AnsprechpartnerIn für Probleme in der (Teil-) Öffentlichkeit präsent und gleichzeitig mit dem Bewusstsein um die eigene herausgehobene Rolle ausgestattet. Genauso ließen sich die grundlegenden Kriterien für die von uns so getauften ViertelgestalterInnen zusammenfassen. ViertelgestalterInnen sind damit die Ausnahme von der Regel. In einer Umgebung, in Stadtteilen mit einer Vielzahl sozialer und baulicher Probleme, in der die klassische Zivilgesellschaftsforschung kaum Engagement erwarten würde, leisten sie ein hochgradig überdurchschnittliches Maß an Engagement. Erklärungsbedürftig ist ihr großer Einsatz also allemal. An einem Ort, wo das zivilgesellschaftliche Engagement insgesamt relativ gering ist und in hohem Maße von professionellen SozialarbeiterInnen getragen wird, fällt auch die Liste von Ayse Massouds Aktivitäten besonders lang aus: Sie ist vor allem in Bereichen aktiv, die sich im weiteren Sinne mit Bildung, Kindern und Integration beschäftigen. Sie arbeitet in mehreren Projekten eines Stadtteilvereins, wie beispielsweise bei den Viertelmüttern oder dem Tandem-Projekt, einer Art Hausaufgabenhilfe, die sich auch an Eltern von Kindern mit Migrationshintergrund richtet. Neben dieser Bürgerarbeit, für die sie einen bescheidenen Lohn erhält, ist sie ehrenamtlich im Sportverein ihrer Kinder engagiert und übernimmt eine Vielzahl von Aufgaben in der Schule und im Kindergarten, wie beispielsweise das Amt der Elternvertreterin, ist Abgesandte in Fachkonferenzen und ähnlichen Gremien. Sie gründete und leitete lange, wie oben erwähnt, das wöchentliche Frauenfrühstück, das sich insbesondere an Frauen mit Migrationshintergrund richtet, und organisiert Christoph Hoeft / Sören Messinger / Jonas Rugenstein  — Ayse Massoud, eine Viertelgestalterin

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im Projekt »Integration durch Bildung« Deutsch-Nachhilfe. Jederzeit ist sie als tüchtige Helferin ansprechbar, hilft Menschen in ihrem Stadtviertel bei alltäglichen Problemen, wie beispielsweise dem Einkaufen in deutschen Läden. Darüber hinaus ist Ayse Massoud auf diversen öffentlichen Veranstaltungen der Stadt als Teilnehmerin anwesend, sucht den Kontakt zu PolitikerInnen und scheut auch nicht die Diskussion mit ReferentInnen der Stadtverwaltung. Bereits in den ersten beiden Interviews hatte sie viel über ihr Leben erzählt. 1975 geboren wuchs sie als viertes von insgesamt fünf Kindern einer »Gastarbeiterfamilie« auf. Gleich in zweierlei Hinsicht war sie dabei eine Vorreiterin: Als erstes Kind verbrachte sie ihr Leben bisher komplett in Deutschland und besuchte auch als Erste in ihrer Familie die Realschule. Nach dem erfolgreichen Abschluss einer Ausbildung fand sie Arbeit als Bürogehilfin. Bald darauf lernte sie ihren späteren Mann kennen. Nach der Geburt ihres dritten Kindes nahm sie die Arbeit nicht wieder auf. Stattdessen stieg nach der Geburt ihres fünften Kindes der Grad ihres zivilgesellschaftlichen Engagements steil an. Wie genau ist es aber nun dazu gekommen, dass Ayse Massoud zu einer gefragten Person der Zivilgesellschaft geworden ist? Was treibt sie dabei an und schließlich: Wie funktioniert diese Rolle im Wechselspiel mit dem Stadtteil? Aus den ausführlichen biografisch-narrativ angelegten Interviews3 haben wir zentrale Motivationen und Muster des Engagements herausgearbeitet. In der hier präsentierten Kurzfassung stehen drei davon im Fokus. ENGAGEMENT ALS MUTTER Ein entscheidendes übergreifendes Muster im Engagement von Ayse Massoud ist ihr Mutter-Sein. Insbesondere nach dem Ausscheiden aus dem regulären Arbeitsmarkt ist es ihre Rolle als Mutter, in der sie weiterhin Leistung bringen kann, für die sie Anerkennung und Respekt bekommen möchte und die auch den Inhalt und die Form ihrer Aktivität prägt. Dies zeigt sich einerseits in weiten Teilen ihres Tätigkeitsfeldes: Sie richtet sich mit ihrem Wirken explizit an Kinder, sie versucht für alle Kinder des Viertels (ganz speziell aber auch für die eigenen) die Lebensverhältnisse zu verbessern und somit die Chancen auf eine bessere Zukunft für die junge Generation zu maximieren. Dieses Ziel verfolgt sie insbesondere über die unterschiedlichen Bildungsangebote, die sie bereitstellt, sowie durch ihren Einsatz als Elternvertreterin in Schule und Kindergarten. Mutter zu sein ist andererseits nicht nur der gemeinsame Identifikationspunkt mit den anderen Adressatinnen ihres Engagements, nämlich den muslimischen Frauen, sondern es strukturiert letztlich auch die Art und Weise

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3  Vgl. zu dieser Form des narrativen Interviews Gabriele Rosenthal, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen, Frankfurt/New York 1995.

des Verhältnisses zwischen Ayse Massoud und den anderen Engagierten. Immer wieder beschreibt sie ihre Beziehung zu den anderen Frauen in einer Weise, die stark an ein Mutter-Kind Verhältnis erinnert. Sie belehrt die anderen Frauen, sie versucht immer wieder, ihnen Dinge zu erklären, sie von der Wichtigkeit bestimmter Verhaltensweisen zu überzeugen: »Also da waren ein paar neue Muttis da, die halt das nicht kennen, und dann immer diese Ausrede, ich hab aber keine Zeit und so, hab ich gesagt, ihr seid ja nicht verpflichtet, für drei Stunden da zu bleiben, ihr könnt kommen, entweder es sagt euch zu, wovon ich ausgehe, oder es sagt euch nicht zu, dann könnt ihr wieder gehen, ne, aber nicht sagen, ich würd ja kommen, ich würd ja kommen, ne. Aber schade, ich sag mal, tut, ihr tut es ja nicht für euch, ihr tut es für eure Kinder, willst du, dass dein Kind halt schlecht ist?« Immer wieder treibt sie die anderen Frauen an, immer wieder weist sie auf die Wichtigkeit der Nachhilfe und des Deutschlernens hin, übernimmt somit eine Art Mutterrolle für die anderen Mütter: »Wir hatten eine Frau da, die hat sich nie getraut zu reden, weil ihr Deutsch, also ne Türkin, ne, beim dritten Mal, beim zweiten Mal hab ich nichts gesagt, beim dritten Mal hab ich gesagt, Mensch, warum traust du dich nicht, sag ruhig, hab ich gesagt, guck mal, die können alle nicht richtig deutsch, ne. Und seitdem redet sie und sie liest auch gerne.« Dieses Verhaltensmuster zieht sich durch die gesamte Erzählung und geht über den reinen Fokus auf eine Mutterrolle hinaus. Immer wieder ist es Ayse Massoud sehr wichtig, sich als Vorreiterin zu präsentieren, als eine Person, die vorangeht, die Erste und Beste ist und anderen damit Freiräume schafft. Das zeigt sich beispielsweise auch an ihrer Erzählung über die Klassenfahrt in der Grundschule, an der sie teilnehmen durfte und auf die sie mehrmals während der Interviews zu sprechen kam. Auf Drängen ihrer damaligen Klassenlehrerin erlaubte ihr Vater ihr schließlich, mitzufahren, obwohl dies erhebliche Konsequenzen für die gesamte türkische Gemeinschaft im Dorf hatte: »Ich war die erste Türkin, die ja gesagt hat, dann kam der andere Vater, hat gesagt, ja, okay, wenn die Ayse fährt, dann lassen wir unsere Tochter, die durfte dann auch fahren. Dann hieß es aber, wenn was passiert, dann zu meinem Vater, wenn was passiert, dann bist du schuld. Weil du deine Tochter geschickt hast, müssen wir jetzt unsere auch mitschicken, ne?« Christoph Hoeft / Sören Messinger / Jonas Rugenstein  — Ayse Massoud, eine Viertelgestalterin

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An weiteren Stellen betont sie beispielsweise, als Erste Fahrrad fahren gelernt, als Erste den Führerschein gemacht und als Erste eine Ausbildung im Büro abgeschlossen zu haben: »Und danach die Ausbildung. Dann, das war der Renner! Ich. Einzige Türkin. Inner Fabrik. Im Büro.« Dabei orientiert sich Frau Massoud insgesamt auch an ihrer eigenen Mutter, die sie allerdings in vielen Aspekten als Negativfolie für ihre eigene Rolle entwirft: In fast allen Erzählungen über ihre Mutter lobt sie einerseits zwar deren Fürsorglichkeit, kritisiert aber auf der anderen Seite deren Unselbstständigkeit und Abhängigkeit vom Vater, genau wie ihre fehlende Bildung. Sie erkennt, wie schwer und belastend diese Umstände für ihre eigene Mutter waren bzw. sind und versucht daher, ihre Mutterrolle gegenteilig auszugestalten. Auf der anderen Seite sind auch ihre Hilfeleistungen für andere Mütter im Viertel immer darauf ausgerichtet, den Frauen Bildung und Selbstvertrauen beizubringen. ENGAGEMENT ALS KAMPF GEGEN KLISCHEES Insgesamt möchte Ayse Massoud mit ihrem Engagement gegen gängige Klischees angehen, insbesondere mit Blick auf die deutsche Mehrheitsgesellschaft, aber auch innerhalb der eigenen muslimischen Gemeinschaft. Ob auf politischen Veranstaltungen oder im Fußballverein ihrer Söhne: Überall genießt Frau Massoud es, als Person aufzutreten, die sich gängigen Vorstellungen von Muslimen im Allgemeinen und muslimischen Frauen im Besonderen widersetzt. Sie stellt sich als selbstbewusst und laut, teilweise auch als vorlaut dar, sie hat nicht nur eine prononcierte eigene Meinung, sondern ist überdies in der Lage, diese auch öffentlich zu präsentieren und zu verteidigen. Dabei arbeitet sie bewusst mit und gegen Klischees, die ihr als Migrantin in Deutschland entgegengebracht werden. Mit 23 Jahren trifft sie die Entscheidung, ab sofort Kopftuch zu tragen. In den Interviews erhält dieses Kleidungsstück eine symbolische Aufladung in Bezug auf erfahrene Diskriminierung und ihren selbstbewussten Umgang damit. »Ich war ja noch schwach, schüchtern damals, nicht so vorlaut wie jetzt, ich war eher zurückhaltend, ist wirklich so, erst mit dem Kopftuch bin ich so geworden, mit dem Kopftuch hab ich meine richtige Berufung gefunden (lacht). Ist so.« Auf die Entscheidung für das Kopftuch angesprochen, antwortet Ayse Massoud in beiden Interviews sehr ähnlich: »Bloß halt ’98 meine Schwiegereltern sind kurz hintereinander verstorben, […] ich hab immer gesagt, irgendwann willst du Kopftuch tragen und so, Ayse, ja,

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bist ja Moslem, musst ja dann auch mal kenntlich machen, aber hab ich immer gesagt, später, später, bis dann halt die hintereinander so gestorben sind, da hab ich gesagt, Mensch Ayse, irgendwann ist auch zu spät, man weiß ja nie wann, wann’s vorbei ist, hab ich gesagt, Ayse jetzt musst du mal anfangen, ne, dieses Später ist glaub ich jetzt.« Die Entscheidung für das Kopftuch wird also mit dem Tod der Schwiegereltern verbunden, zu denen Frau Massoud allerdings nie ein enges Verhältnis hatte. Dennoch fällt ihr durch deren plötzlichen Tod auch die eigene Vergänglichkeit stärker auf, sie wird sich der Endlichkeit des Lebens bewusst und möchte als deutlich erkennbare Muslimin leben bzw. sterben. Vordergründig wirkt das Kopftuch daher wie ein eindeutiges Bekenntnis zu ihrer muslimischen Identität: Lange Zeit zwischen verschiedenen Identitäten und Ansprüchen hin- und hergerissen, ist das Kopftuch eine endgültige Entscheidung für eine öffentliche Existenz als gläubiger, religiöser Mensch. Eine solche Lesart könnte auch die mit dem Kopftuch verbundene Stärke und die Selbstsicherheit erklären, auf die Frau Massoud immer wieder im Zusammenhang mit diesem Thema zu sprechen kommt. Das Kopftuch übernimmt aber noch mehr Funktionen als bloß die Selbstzuordnung zur muslimischen Gemeinschaft. Auffallend ist beispielsweise, dass Frau Massoud im Zusammenhang mit dem Kopftuch nicht nur das neue eigene Selbstbewusstsein thematisiert, sondern immer wieder auch auf Diskriminierungen zu sprechen kommt, die teilweise exklusiv mit dem Kopftuch verbunden werden. Auf frühere eigene Erlebnisse mit Klischees angesprochen antwortet sie: »Naja, bevor ich Kopftuch getragen habe, dachte ich immer, wir sind alle gleich, sie sind genauso wie ich, ich bin genauso wie sie, bis ich nen Kopftuch getragen hab, da hab ich gemerkt, nee, wir sind doch nicht alle gleich, es gibt doch nen Unterschied.« Diese Aussage steht allerdings in eklatantem Widerspruch zu diversen anderen Erzählungen, in denen Ayse Massoud explizit von Vorurteilen, Klischees und Diskriminierungen berichtet, die eindeutig in der Zeit vor dem Kopftuch geschehen sind. In der Schule und in der Ausbildung ist sie immer wieder mit Personen konfrontiert, die sie aufgrund ihres Migrationshintergrundes angreifen. Dass sie im Nachhinein diese Erlebnisse verdrängt und allesamt in eine spätere Lebensphase verschiebt, beleuchtet eine weitere Facette ihres Kopftuchs. Es wird gewissermaßen zum »Blitzableiter« für erlebte Christoph Hoeft / Sören Messinger / Jonas Rugenstein  — Ayse Massoud, eine Viertelgestalterin

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Diskriminierungen. Die erlittenen Angriffe treffen nicht mehr sie als Person, sondern lediglich ihr Kopftuch, das ihr so auf eine paradoxe Weise Schutz liefert: Denn obwohl sie angibt, immer nur wegen des Kopftuchs benachteiligt zu werden, verhindert dieses gleichzeitig auch, sich persönlich angegriffen zu fühlen. Gleichzeitig ermöglicht das Kopftuch Frau Massoud, in besonderer Weise aufzufallen. Sie berichtet beispielsweise stolz: »Das Beste ist immer, wenn die sagen, du kannst ja Deutsch. Das is immer noch so, da in der Arbeit kommen Kinder, dann sagen sie, boah, sacht die eine, du kannst ja Deutsch. Sag ich, stell dir vor (klatscht in die Hände), wo wohnen wir denn, wohnen wir nicht in Deutschland, ne. Ohhh, also das sind die Kinder nicht gewohnt, also ich weiß nicht, ob die nur Frauen mit Kopftuch kennen, die kein Deutsch kennen äh können.« Das Kopftuch gibt Ayse Massoud die Chance, das gängige Klischee über muslimische Frauen mit Kopftuch in besonders eindrücklicher Weise stetig zu unterlaufen. Obwohl Frau Massoud so zu jeder Zeit versucht, gegen Vorurteile und Klischees vorzugehen, gelingt es ihr doch nicht, sich selbst aus ähnlichen Denkmustern zu lösen. Dies schildert sie sehr offen: »Aber das ist halt, jeder hat so Vorurteile im Kopf, dass man sagt also, wenn du so aussiehst, dann kannst du das, siehste so aus, kannste nicht. Zum Beispiel kommen da manchmal Frauen, voll aufgetakelt, immer der letzte Schrei, was die anhaben, und dann können die kein Deutsch. Das versteh ich heute nicht, da denkste auch immer, das muss doch passen, also so modern. Und dann kommt eine im Mantel mit Kopftuch und dann redet die ein Deutsch, da denkste auch, boah, da hätte man wiederum erwartet, dass sie mit nem kaputten Deutsch kommt, ne. Aber es ist halt, es ist wirklich so, jeder hat so seine Vorurteile in dem Kopf.« Die auch im weiteren Verlauf des Interviews immer wieder auftauchende Formulierung: »jeder hat so seine Vorurteile im Kopf«, signalisiert, dass sie auch bei sich selbst feststellt, bestimmten Klischees zu folgen; gleichzeitig wirken diese Vorurteile dadurch aber auch statisch und unveränderlich. Dies ähnelt dem oben beschriebenen Umgang mit Diskriminierungen: Auch hier erwartet sie nicht, etwas gegen die Vorurteile in den Köpfen generell tun zu können. Hier wie oben besteht für sie die einzige Möglichkeit darin, mit gutem

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Beispiel voranzugehen, andere Leute immer wieder zu überraschen und so durch das eigene Handeln in konkreten Fällen ein Umdenken anzustoßen. ENGAGEMENT ALS ANERKENNUNG Eine der wichtigsten Motivationen für ihr Engagement im Viertel zieht Ayse Massoud aus dem Drang, endlich Anerkennung zu erfahren; und zwar nicht nur von einer allgemeinen Öffentlichkeit im Viertel, sondern auch speziell von zwei unterschiedlichen Gruppen: Den Deutschen auf der einen, den MigrantInnen auf der anderen Seite. So erzählt sie beispielsweise triumphierend von einem Erlebnis mit ihrer Nachbarin, von der sie lange schlichtweg ignoriert wurde: »Oder hier zum Beispiel hab ich auch erzählt, da ist ja ne Nachbarin, ne, die mich ja nie gegrüßt hat, ne deutsche Nachbarin, und seitdem ich aber da drüben [im Bürgertreff] arbeite und sie dann auch so an Veranstaltungen teilnimmt, seitdem grüßt sie mich, vorher war ich so unscheinbar, vielleicht hat sie mich vorher auch nicht gemocht, keine Ahnung, jetzt muss sie mich mögen, ha!« An dieser Stelle zeigen sich mehrere Mechanismen, die für die Erzählung von Frau Massoud charakteristisch sind. Zunächst fällt auf, dass sie die Ethnizität der Nachbarin bzw. deren Zugehörigkeit zu den »Deutschen« des Viertels besonders betont. Ihre Erzählweise legt nahe, dass für sie das Deutsch-Sein der Nachbarin der eigentliche Grund für die Missachtung war, mit der sie gestraft wurde. Dies deckt sich mit der Erzählweise aus der autonom strukturierten Haupterzählung, in der sie in einer auffallenden Häufigkeit von Situationen berichtet, in denen sie als Türkin Opfer von Diskriminierungen wird. Gleichzeitig lässt sie in diesem Zitat, ähnlich wie in anderen Schilderungen von Diskriminierungen, die Möglichkeit offen, etwas missverstanden zu haben: Die eigene Unscheinbarkeit wird als potenzieller Grund für das Übersehen genannt, ebenso wie betont wird, »keine Ahnung« zu haben, welche Gründe verantwortlich für das Handeln der Nachbarin waren. Ähnlich beschreibt sie eine weitere Erfahrung: »Ich komme Richtung nach Hause, boah, hab ich gesagt, ist das ne Hitze, was sagte dann ein älterer Herr, der neben mir steht, der auch hier nebenan wohnt, ein Deutscher, hatte gesagt, warum, aber Ihre Gene müssen doch solche Wärme abkönnen, ne? Ich wusste gar nicht, dass das genetisch bedingt ist, dass ich halt, weil ich jetzt Türkin bin, vierzig Grad Plus abkann, seltsamerweise kann ich’s nicht […] Da hab ich gesagt, Hä? Wie genetisch, ist mir nicht ganz eingefallen, Christoph Hoeft / Sören Messinger / Jonas Rugenstein  — Ayse Massoud, eine Viertelgestalterin

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was er damit meint, erst hinterher, da war ich sauer, aber das war hinterher, da dachte ich, komm, irgendwann kriegst du es zurück, aber bis heute hat er’s noch nicht zurück gekriegt, aber irgendwann kriegt er’s wieder (lacht).« Warum aber hält sie sich so zurück und benennt die Diskriminierungen nicht als solche? Zunächst ließe sich antworten, dass Ayse Massoud die Zuhörerinnen, die beide ebenfalls Deutsche waren, zum Nachdenken bringen will. Sie will keine Urteile vorgeben, sondern setzt darauf, dass das Publikum in den geschilderten Erzählungen selbst darauf kommt, wie sie einzuordnen sind. Gleichzeitig könnte die Erzählweise auch mit einem anderen Phänomen zusammenhängen: Indem Frau Massoud die Diskriminierung nicht explizit als solche benennt, vermeidet sie auch, sich eindeutig als Opfer darstellen zu müssen. Sie bleibt handelndes Subjekt, das lediglich nicht sofort verstanden hat, worum es geht, dann aber zumindest im Nachhinein bereit ist, gegen den Angriff vorzugehen (»irgendwann kriegt er’s wieder«). Dies deckt sich auch mit anderen Selbstbeschreibungen, in denen Ayse Massoud sich stets als stark, vorlaut, frech oder laut darstellt. Verbunden mit dieser Erklärung ist auch der Umstand, dass die geschilderten Situationen durch die Vermeidung einer endgültigen Bewertung an Schärfe verlieren und harmloser wirken, als sie wahrscheinlich empfunden wurden. Das unterstreicht noch das Lachen am Ende des Abschnitts, das von Frau Massoud ebenfalls häufig bei der Schilderung brisanter Situationen genutzt wird, um die Schwere und Härte des Erzählten wieder zu relativieren. Ihr Engagement ist nun ein Weg, sowohl von den Deutschen des Viertels als auch von der migrantischen Community anerkannt und akzeptiert zu werden. Denn so wie sie als offensichtliche Muslimin, Frau eines Asylbewerbers und Mutter von fünf Kindern ständig mit Vorurteilen der Deutschen kämpfen muss, ist auch ihre Stellung in der Community der MigrantInnen (in der Sprache von Frau D. stets als »Ausländer« bezeichnet. Sie selbst fasst sich auch als Teil der »Ausländer«, obwohl sie ihr gesamtes Leben in Deutschland verbracht hat.) zu jeder Zeit prekär. Durch ihre Beziehung zu einem Syrer, einem »Araber«, wird sie von der türkischen Gemeinschaft im Viertel, einschließlich ihrer eigenen Familie, mit besonderer Aufmerksamkeit und Misstrauen beobachtet. Gleichzeitig wird sie aber auch in der arabischen Community nicht vollständig anerkannt. Der enorme Druck, unter dem sie in dieser Beziehung steht, zeigt sich beispielsweise in folgender Erzählung: »Dass mein Mann Syrer ist, das wissen Sie ja, das ist ja auch ein besonderer Status hier, wir sind keine äh, was, nichts Reines, gemischte Ehe, Multikulti, er

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ist Syrer, ich bin Türkin, das kommt auch nicht oft vor, obwohl das mittlerweile wird’s mehr, aber damals bei unserem Zeitpunkt war’n wir wirklich, da ham Leute mit dem Finger gezeigt, (flüstert:) Guck mal das ist ne Türkin, (lauter) oder (flüstert:) guck mal das ist nen Syrer. Also es war nicht normal. Hätte ich nen Deutschen geheiratet, wäre das bestimmt normaler gewesen wie dass ich nen Araber heirate, ne. Ja so.« Aus diesem Grund kann sie sich auch in der Gruppe der anderen MigrantInnen im Stadtviertel nicht darauf verlassen, uneingeschränkten Rückhalt zu genießen. Andererseits zieht sich auch die Außenseiterposition innerhalb der türkischen Community letztlich wie ein roter Faden durch Frau Massouds Biografie: Schon in ihrer Jugend war sie mit der mangelnden Anerkennung anderer TürkInnen konfrontiert. Weil sie als erstes Kind in der eigenen Familie und als eine von insgesamt wenigen »Ausländern« nicht auf die Haupt-, sondern auf die Realschule ging, fand sie sich immer wieder in der Rolle der ausgeschlossenen Einzelgängerin wieder: »Wir waren Streber, mit uns wollten die anderen Türken nix zu tun haben. So mit mir. Ich war immer auf dieser Straßenseite. Also die Hauptschule war auf der einen Straßenseite, die Realschule auf dieser. Und da war ich die einzige Türkin, die da stand. Und das war nicht schön. Ich wollte auch auf der anderen Seite stehen. Aber die waren halt anders. Da haste – obwohl meine Brüder auf der Seite waren. Aber die wollten nix mit mir zu tun haben, ich war halt Streber.« Die konkreten Tätigkeiten im Stadtteilzentrum, als Viertelmutter oder früher im Tandem-Projekt, sind daher ein verlässliches Mittel, sich auch den Respekt und die Anerkennung der migrantischen Gruppen zu sichern. Gleichzeitig liegt genau hier auch der Grund für die teilweise zögerliche Darstellung der eigenen Leistungen: Denn eine zu starke Betonung ihres Engagements würde diese Stellung wieder gefährden, würde eher Neid und Ablehnung als die lang ersehnte Anerkennung bedeuten. FAZIT – DIE BRÜCKENBAUERIN Ayse Massoud ist ein Paradebeispiel für eine Viertelgestalterin, die zwischen allen Welten steht, die sich weder vollständig in einer wie auch immer verstandenen deutschen Kultur zu Hause fühlt noch wirklich haltgebende Beziehungen zu der Kultur ihrer Eltern aufbauen konnte. Aus dieser Zwischenexistenz zieht sie eine starke Motivation, aktiv zu werden und sich einzubringen, um auf diese Weise dennoch die lang ersehnte Anerkennung Christoph Hoeft / Sören Messinger / Jonas Rugenstein  — Ayse Massoud, eine Viertelgestalterin

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zu erfahren, die ihr sonst von fast allen Seiten verwehrt geblieben ist. Sie wird zur Brückenbauerin des Viertels, vermittelt immer wieder zwischen den verschiedenen Gruppen, in denen sie sich auskennt, nutzt ihre sprachlichen Fähigkeiten und ihr Wissen über die spezifischen kulturellen Eigenheiten, um auszugleichen und zu verbinden. Um ihre prekäre Stellung abzusichern, muss sie allerdings immer die Beste, die Bestinformierte und die Erste sein. Hierzu passt auch ihre Neigung, sich in mütterlicher Weise über die anderen Aktiven zu stellen. Sie gleicht damit der historischen Figur des marginal man 4: So wie sie wohnen diese »Randseiter« in zwei Welten, fühlen sich aber in keiner davon wirklich zu Hause, weshalb sie auf beide Kulturen mit einer gewissen kritischen Unabhängigkeit blicken können. Auf diese Weise waren und sind sie häufig der Antrieb für kulturellen und gesellschaftlichen Wandel, weil sie einerseits aufgrund eigener frustrierender Erfahrungen gewillt sind, Kommunikationsprozesse anzustoßen, und andererseits bereits in der eigenen Existenz etwas Neues, eine Synthese beider Welten, vorwegnehmen können. Auch in der Gesamtschau ist das Engagement von Ayse Massoud ambivalent zu beurteilen. Einerseits sind die Auswirkungen durchweg positiv: Mit ihrer starken Leistungsorientierung und der Betonung der Wichtigkeit von Bildung soll den eigenen Kindern im Speziellen, aber auch allen migrantischen Kindern im Allgemeinen ein besseres Leben in Deutschland ermöglicht werden. Sie nutzt ihre herausragende Sprachkompetenz sehr produktiv, lässt andere davon profitieren, versucht ihr Wissen weiterzugeben und möglichst viele von ihren eigenen Erfahrungen lernen zu lassen. Gleichzeitig darf aber andererseits nicht übersehen werden, dass die Zwischenexistenz für Frau Massoud selbst äußerst belastend ist: Sie wünscht sich nichts mehr, als endlich anerkannt zu werden, so wie sie ist, ohne Vorurteile und Einschränkungen. Dass ihr diese Anerkennung versagt wird, motiviert sie zwar zu noch mehr Leistung und noch mehr Engagement, es birgt aber auch die latente Gefahr von Enttäuschungen und Frustration. Die Bürgerarbeit ist ein gutes Beispiel für diese Dialektik: Einerseits zieht sie ihren persönlichen Nutzen aus dieser Form des (bezahlten) Engagements, sie empfindet die Bezahlung als Wertschätzung, es hilft ihr bei der Bewältigung des oft prekären Alltags und bestätigt ihr Selbstbild als aktive Leistungsträgerin. Andererseits handelt es sich bei der Bürgerarbeit selbst wieder um ein Zwischenstadium, es ist weder eine »richtige« Arbeit, noch ist es klassisches ehrenamtliches Engagement. Auf diese Weise entsteht wieder eine potenzielle Bedrohung ihres Status, wieder ist nicht klar, ob sie für ihre Leistung anerkannt und wertgeschätzt wird oder nicht.

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4  Zum Konzept des marginal man vgl. Hans-Joachim Schubert, The Chicago School of Sociology. Theorie, Empirie und Methode, in: Carsten Klingemann (Hg.), Jahrbuch für Soziologiegeschichte. Soziologisches Erbe: Georg Simmel, Max Weber, Soziologie und Religion, Chicagoer Schule der Soziologie, Wiesbaden 2007, S. 119–161, hier S. 236 f.

Mit dieser Bearbeitung von Belastungen, die sich aus dem individuellen Lebensverlauf ergeben, durch ein ausgeprägtes Engagement im Viertel, stellt Frau Massoud einen typischen Fall der von uns untersuchten ViertelgestalterInnen dar. Engagement bietet einen Weg zur Anerkennung, wenn diese nicht über die als normal geltenden Mechanismen einer Gesellschaft erreichbar ist. Ein solcher Fall kann, wie hier beschrieben, auf Grund von kultureller Fremdheit, aber auch auf Grund etwa von Erkrankungen oder Arbeitslosigkeit eintreten. Dabei ist dieser Umgang alles andere als selbstverständlich, ist doch der Rückzug die gängige Reaktion. Somit ist es eine besondere Leistung der Menschen, wenn sie es schaffen, diese Schwierigkeiten so offensiv zu bearbeiten, dass sie eine solch zentrale Rolle in ihrem Viertel spielen, dass sie in unserem Untersuchungsraster auftauchten. Neben den auch an dem Beispiel von Ayse Massoud hier präsentierten biografischen Voraussetzungen, die jedeR ViertelgestalterIn selbst mitbrachte, ist dabei während unserer Studie auch klar geworden, dass sie stark auf ihre Umgebung angewiesen sind. Es waren SozialarbeiterInnen und andere Engagierte, die ihnen geholfen hatten, eben nicht in der Passivität zu verharren, sondern aktiv nach außen zu gehen. Auch in praktischen Fragen, wie etwa hinsichtlich des Zugangs zu kostengünstigen öffentlichen Räumen für die Aktivitäten und der Unterstützung bei der Beantragung von Geldern, waren es gerade jene Stadtteile, in denen Staat und Verbände in Vorleistung gegangen waren, die auch eine höhere Dichte an ViertelgestalterInnen aus dem Viertel selbst aufwiesen.

Sören Messinger, geb. 1986, ist Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Dort beschäftigt er sich hauptsächlich mit Fragen des bürgerschaftlichen und politischen Engagements sowie programmatischen Entwicklungen in deutschen Parteien. Christoph Hoeft, geb. 1984, ist Politikwissenschaftler und Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Dort beschäftigt er sich schwerpunktmäßig mit sozialem und politischem Engagement.

Jonas Rugenstein, geb. 1985, ist Mitarbeiter am Institut für Demokratieforschung. Hier arbeitet er zur Partei Die LINKE und zu sozialen Bewegungen.

Christoph Hoeft / Sören Messinger / Jonas Rugenstein  — Ayse Massoud, eine Viertelgestalterin

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INDES ZEITSCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT Herausgegeben von Prof. Dr. Franz Walter, Institut für Demokratieforschung der Georg-AugustUniversität Göttingen. Redaktion: David Bebnowski, Felix Butzlaff, Lars Geiges, Roland Hiemann, Julia Kiegeland, Dr. Robert Lorenz, Michael Lühmann, Dr. Torben Lütjen, Marika Przybilla. Konzeption dieser Ausgabe: Felix Butzlaff Redaktionsleitung: Katharina Rahlf (verantw. i. S. des niedersächs. Pressegesetzes), Dr. Matthias Micus. Redaktionsanschrift: Redaktion INDES c/o Göttinger Institut für Demokratieforschung Weender Landstraße 14, 37073 Göttingen, [email protected] Online-Auftritt: www.indes-online.de Anfragen und Manuskriptangebote schicken Sie bitte an diese Adresse, möglichst per E-Mail. – Die Rücksendung oder Besprechung unverlangt eingesandter Bücher kann nicht gewährleistet werden. INDES erscheint viermal jährlich. Bestellung durch jede Buchhandlung oder beim Verlag. Jahresbezugspreis € 60,– D / € 61,70 A / SFr 84,90; ermäßigter Preis für Studierende/Auszubildende (gegen Bescheinigung, befristet auf drei Jahre) € 36,90 D / € 38,– A / SFr 52,90; Einzelheftpreis € 16,95 D / € 17,50 A / SFr 23,50. Inst.-Preis € 120,– D / € 123,40 A / SFr 169,80. Jeweils zzgl. Versandkosten. Preisänderungen vorbehalten. Die Bezugsdauer verlängert sich jeweils um ein Jahr, wenn nicht eine Abbestellung bis zum 1.10. erfolgt.

DIE BILDAUSWAHL Auch wenn das Jahrzehnt noch schwer fassbar, widersprüchlich, facettenreich und schwer auf einen Nenner zu bringen scheint: Mit den Porträts von Pierre Littbarski und Joachim Löw sowie der geradezu ikonografischen Aufnahme Martina Navratilovas verbinden wir sofort eines: die 1980er. Dauerwelle, Vokuhila und Föhnfrisur – das in dieser INDES-Ausgabe eingefangene Zeitgefühl lässt sich visuell in jedem privaten Fotoalbum aus den 1980ern finden. Aber eben auch bei den ausgewählten Sportlerinnen und Sportlern, die selbst als (Stil-)Vorbilder dieses Jahrzehnt prägten und verkörperten. Doch nicht nur modisch lässt sich an ihnen der Zeitgeist ablesen, auch gesellschaftlich und politisch bietet der Sport anschlussfähige Motive. Denn gleich zu Beginn der Dekade wird der Sport politisch: Zahlreiche Olympische Komitees boykottieren die Spiele in Moskau, die gebürtige Tschechoslowakin Martina Navratilova beantragt politisches Asyl in den USA und steigt als US-Amerikanerin an die Spitze der Tennisweltrangliste; abgelöst vom »Wunderkind« Steffi Graf, deren Erfolge das Publikum jubeln lassen – trotz Zukunftsangst und Blockkonfrontation.

TITELFOTO imago / Norbert Schmidt BILDER IM INNENTEIL S. 6 imago / Frinke S. 19 imago / Alfred Harder S. 35 imago / Ferdi Hartung S. 53 imago / WEREK S. 94 imago / WEREK S. 125 imago / Sven Simon Foto Dell: © Oliver Schmidt Foto Martynkewicz: © Anny Maurer

Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen. Anzeigenverkauf: Ulrike Vockenberg E-Mail: [email protected] (für Bestellungen und Abonnementverwaltung) oder [email protected] Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. ISBN 978-3-525-80006-5 ISSN 2191-995X © 2014 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Gestaltung, Satz und Lithografie: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: Memminger MedienCentrum, Memmingen Printed in Germany

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RUDOLF STE INER

Schriften – Kritische Ausgabe Hrsg. von Christian Clement. Erscheint in Kooperation mit dem Rudolf Steiner Verlag. 2013 ff. Ca. 8 Bände. Leinen. ISBN 978 3 7728 2630 6. Die kritische Edition ausgewählter Schriften Rudolf Steiners (1861–1925) bietet die Grundlagentexte derAnthroposophie, der wohl bedeutendsten esoterischen Bewegung des 20. Jahrhunderts, zum ersten Mal in textkritischer Ausgabe. Steiners zentrale Schriften zwischen 1884 und 1910 werden in ihrer Textentwicklung durch die verschiedenen Neubearbeitungen hindurch verfolgt, im Rahmen von Steiners intellektueller Biographie kontextualisiert und hinsichtlich ihrer Quellen und Bezüge transparent gemacht. So wird ein neuer Editionsstandard für das geschriebene Werk Steiners gesetzt, welcher der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Anthroposophie eine unverzichtbare textuelle Grundlage schafft und mit Blick auf die Zukunft Bestandteil einer historisch-kritischen Ausgabe sein kann. BAND 5: Schriften über Mystik, Mysterienwesen und Religionsgeschichte.

Hrsg. und kommentiert von Christian Clement. Mit einem Vorwort von Alois Maria Haas. 2013. LXXX , 377 Seiten, 2 Abb. Leinen. € 88,-; bei Gesamtabnahme € 78,-. ISBN 978 3 7728 2635 1. Lieferbar Innerhalb der intellektuellen Entwicklung Steiners nehmen ›Die Mystik‹ und ›Das Christentum‹ eine zentrale Stellung ein. Sie dokumentieren den Übergang des Philosophen Steiner zum Mystiker und Esoteriker und stehen somit im Brennpunkt aktueller Forschungskontroversen, etwa um die Kontinuität von Steiners intellektueller Entwicklung, um die »Christlichkeit« der Anthroposophie oder um die Abhängigkeit Steiners von der anglo-indischen Theosophie. BAND 7: Schriften zur Erkenntnisschulung. Hrsg. und kommentiert von

Christian Clement. Mit einem Vorwort von Gerhard Wehr. Ca. 510 Seiten. Leinen. € 98,-; bei Gesamtabnahme € 88,-. ISBN -2637 5. August 2014 Der Band enthält Steiners zentrale Schriften zur meditativen Arbeit und seiner Theorie der höheren bzw. »übersinnlichen« Erkenntnisformen: Imagination, Inspiration und Intuition. Ein Variantenapparat dokumentiert die facettenreiche Entwicklung dieser Texte, während Einleitung und Stellenkommentar Steiners Darlegungen in den Kontext seines Gesamtwerkes einbetten und ihren historischen Bezug sowohl zur christlichen Exerzitientradition und zur theosophischen Meditationspraxis wie auch zu den zeitgleich entstehenden Strömungen von Tiefenpsychologie und Psychoanalyse aufzeigen.

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Die 1980er Jahre waren in der Bundes­ republik Deutschland eine Phase des be­ schleunigten politischen, sozioökono­ mischen und kulturellen Wandels. Das Parteiensystem veränderte sich, Politik wurde zunehmend medial inszeniert. Vor dem Hintergrund von Staatsverschul­ dung und globalisierten Finanzmärkten prägten Massenarbeitslosigkeit und die Krise der »Arbeitsgesellschaft« während der »Ära Kohl« das Jahrzehnt. Auch auf popkulturellem Feld erlebte die Bun­ desrepublik markante Veränderungen, nicht zuletzt durch den Erfolg der Neuen Deutschen Welle. Meik Woyke (Hg.): Wandel des Politischen Die Bundesrepublik Deutschland während der 1980er Jahre 720 Seiten, Broschur, 30,00 Euro ISBN 978­3­8012­4221­3

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