Zäsuren: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2018 Heft 01 [1 ed.] 9783666310676, 9783525317198, 9783647317199, 3518731923, 9783525310670


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Zäsuren: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2018 Heft 01 [1 ed.]
 9783666310676, 9783525317198, 9783647317199, 3518731923, 9783525310670

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INDES Vandenhoeck & Ruprecht

Heft 1 | 2018 | ISSN 2191-995X

ZEIT SCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT

Zäsuren

Interview mit Peter Graf Kielmansegg  »Den Zeitstrom der Geschichte gliedern« Gerd Koenen  Über Revolutionen  Franz Walter  Krisendramen im 50-Jahre-Takt  Katharina Trittel  Der NS-Arzt Siegfried Ruff

EssEn ist gEronnEnEs WissEn, das rEsultat staatlichEr rEguliErung und WirtschaftlichEn handElns

Uwe Spiekermann Künstliche Kost Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute Umwelt und Gesellschaft, Band 17 2018. 948 Seiten mit 144 Abb. und 7 Tab., gebunden € 60,00 D ISBN 978-3-525-31719-8 eBook: € 49,99 D | ISBN 978-3-647-31719-9 Dieses Buch bietet ein Panorama der Veränderungen der Ernährung seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Fürsorglich den Konsumenten umgarnend, rangen Wissenschaft, Wirtschaft und Staat um die Konturen des Neuen. Kriege und Krisen bildeten Beschleunigungsphasen des Wandels, während Friedenszeiten die Neuerungen in Massenmärkten verbreiteten. »Künstliche Kost« untersucht, wie sich das Reden über Ernährung verändert hat, wie diffizilere Produktionsweisen Werbung nötig machten, wie Zusatzstoffe Bedeutung gewannen und Gebote und Verbote den Essalltag prägten. Wer um all dies weiß, wird reflektierter essen, und anders mit dem umgehen, was er sich einverleibt.

EDITORIAL ΞΞ Michael Lühmann / Matthias Micus

Leben wir in einer Wendezeit, sind wir Zeugen einer gesellschaftlichen Umbruchsituation, einer Zäsur? Die Rasanz sozial-kultureller Wandlungsprozesse und die offenkundig grassierenden Verunsicherungen sowie fundamentalen Krisenerscheinungen – von der Finanz-, Schulden-, Euro- und Klima-Krise bis hin zu den Migrationsbewegungen – scheinen eine solche Diagnose nahezulegen. Denn wenn von Zäsuren gesprochen wird, impliziert dies zumeist eben das: die markante Beschleunigung gebündelter Wandlungsprozesse, deren Auswirkungen die Lebenswirklichkeiten ubiquitär erfassen – und die, da die rapide Entwertung des Gewohnten einem verbreiteten Bedürfnis nach Orientierungssicherheit zuwiderläuft, von den Zeitgenossen vielfach als Krise wahrgenommen werden. Zugleich markieren Zäsuren aber auch rückschauend gedachte Höhe- und Wendepunkte, die nicht nur Erinnerung strukturieren, sondern auch Erinnerungsgemeinschaften formieren können – die Generation der 68er, ob Konstrukt oder nicht, ist wohl der prominenteste Ertrag solcher Bündelung von erlebten Brüchen, kulminierenden Entwicklungen und generationellen Konflikten. Als »abrupte ereignisbestimmte Brüche« (Kielmansegg) verbinden sich Zäsuren für gewöhnlich mit datierbaren Ereignissen: dem Anschlag auf das WTC am 11. September 2001 etwa, dem Zusammenbruch der Großbank

­L ehman Brothers am 15. September 2008 als Auslöser der Banken- und ­Finanzkrise oder dem 23. Juni 2016, als die Mehrheit der britischen Wähler für den ­»Brexit« stimmte. Schließlich ist das Jahr 2018 voll von Jubiläen, die auf historische Ereignisse verweisen, von der Frühen bis in die Neueste Neuzeit, und mit denen sich ebenfalls epochale gesellschaftliche Umbrüche verbinden: vom Dreißigjährigen Krieg 1618–48 über die Revolutionen von 1848 und 1918 bis hin zum Gipfeljahr der Außerparlamentarischen Opposition (APO) 1968. Auch das Gedenkjahr 2018 – und nicht allein die schiere Gegenwart – legt folglich eine Beschäftigung mit dem Thema Zäsuren nahe. Zäsuren stellen die so beliebte wie umstrittene Frage nach der Einmaligkeit von Geschichte, nach transnationaler Weite und nationalem oder regionalem Sonderweg, damit verbunden zugleich aber auch jene gegenläufige nach der Wiederholbarkeit von Geschichte, nach Lehren aus dieser. Wobei

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sich ganz zweifellos aus der Nähe zu einem zum Wendepunkt erklärten Ereignis ebenso wie aus der Permanenz eines tiefgreifenderen Wandels – soziale Entsicherung, aufkommender Klimawandel, eine Welt in Bewegung – einschneidende Daten verflüssigen können. Letztlich bleibt ein Ereignis vor allem dies: ein bloßes Ereignis. Überhaupt werden Historiker mit gutem Recht einwenden, dass die Vorstellung von scharfen Schnitten, die den Geschichtsverlauf in aufeinanderfolgende Perioden einteilen, die in sich homogen seien und mit den vorangegangenen ebenso wie den nachfolgenden Zeitstrecken nichts gemein hätten, illusorisch ist. Es gibt den Augenblick nicht, der alles anders macht. Jedes Danach ist mit dem Davor durch eine Vielzahl von Kontinuitätsüberhängen verbunden – dies gilt bei aller einleuchtenden Schärfe selbst für jene harten Zäsuren wie das Kriegsende 1945 oder die Revolutionen, Um- und Zusammenbrüche in der DDR und in Osteuropa in den Jahren 1989 ff. Identitäten und Mentalitäten, Normen, Zugehörigkeiten und Bedürfnisse sind zählebig und überdauern auch die gelegentlich abrupten Wechsel auf der politischen Ebene von Verfassungen, Institutionen und Parteien. Insofern folgerichtig betont insbesondere die Sozial- und Kulturgeschichte eher die langen Kontinuitätslinien. Die Frage nach der Sattelzeit oder gar Sattelzeiten, nach Moderne und Modernen, Verheißung und Niedergang vermag in diesem Zusammenhang Zäsuren als abrupten Wandel zu relativieren, graduelle kulturelle Wandlungen zu betonen – und doch zugleich Zeiten von langer Dauer, mehrere Dekaden übergreifend, zu konturieren, nach denen (fast) nichts mehr ist wie vorher. Denn auf die Idee, im Umkehrschluss solche Aspekte der Beständigkeit absolut zu setzen und das ewige Weiterleben des einmal Bestehenden zu postulieren, käme auch kein Vertreter der genannten sozial- und kulturgeschichtlichen Forschungsansätze. Gleichermaßen unsinnig wäre die Behauptung, der Strom der Entwicklung flösse in einem unabänderlich konstanten Tempo den Fluss der Geschichte hinab. Es gibt Unstetigkeiten, welche die Fließ­geschwindigkeit beschleunigen oder drosseln. Das Flussbett ist mal breiter, dann wieder enger; das Gefälle variiert; hier und dort führt ein Hindernis zu Verwirbelungen und bremst den Lauf des Wassers. Und auch der Mensch selbst beeinflusst seine eigene Geschichte durch Flussbegradigungen und Flächenversiegelungen, Dämme, Schleusen oder auch Renaturierungsmaßnahmen. Auch kulturell wirksame und eher prozesshafte Transformationsphänomene verdichten sich bisweilen, wie das aktuell mit Blick auf die Digitalisierung und die Globalisierung zu beobachten ist, die im Übrigen den Eindruck

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EDITORIAL

unterstützen, dass unsere Zeit ihren Fuß in historisches Neuland setzt, wobei die Tragweite dieses Schrittes womöglich den Vergleich mit früheren Einschnitten und Umbrüchen nicht zu scheuen braucht. Jenseits immer mitgegebener Kontinuitäten finden Zäsuren also als Kontinuitätsbrüche Eingang in das kollektive Gedächtnis sowohl der Zeitgenossen als auch – und nicht selten: insbesondere – der retrospektiv die Zäsuren betrachtenden Nachgeborenen. Die vorliegende Ausgabe von INDES blickt vor diesem Hintergrund in ihrem Schwerpunkt unter dem Titel »Zäsuren« auf solche Zeiträume, Momente, Ereignisse, in denen sich der mähliche Gang der Geschichte plötzlich beschleunigt, bisweilen abrupt ab- oder unterbricht, untergründige Entwicklungen an die Oberfläche durchbrechen, sich die losen Fäden des Wandels zu manifesten Trends verweben und in der allgemeinen Wahrnehmung der Zeitgenossen neue Zeiten anbrechen, zugleich alte vergehen, nicht selten verbunden mit heftigen Deutungskämpfen. Allein die jüngere deutsche und deutsch-deutsche Geschichte verhandelt nahezu jede der großen Zäsuren in heftigen gesellschaftlichen, publizistischen und wissenschaftlichen Konflikten. Ob die Dolchstoßlegende, welche die Debatte um die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg vergiftete; ­Weizsäckers 1985 gehaltene Rede zum Kriegsende 1945 als »Tag der Befreiung«, die lange bekämpft wurde; die derzeit heftig geführte Debatte um 1968 und dessen Folgen; oder die Frage nach Revolution oder Wende, nach Einheit oder Anschluss 1989/90: Zäsuren sind auch immer Vehikel der teils heftigen, bisweilen konfrontativen Verständigung über das Vergangene. Dass die Verständigung über das Vergangene nicht abgeschlossen ist, dies zeigt nicht zuletzt die vorliegende Ausgabe der INDES. Wir wünschen Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, viel Vergnügen bei der Lektüre.

EDITORIAL

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INHALT

1 Editorial ΞΞMichael Lühmann / Matthias Micus

>> INTERVIEW



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»Den Zeitstrom der Geschichte gliedern« Gespräch mit Peter Graf Kielmansegg über Zäsuren, die digitale Revolution und die Zukunft Europas

>> ANALYSE 16 Sattelzeit(en)



Zäsuren am Anfang (und am Ende?) der Moderne ΞΞDaniel Fulda

23 Über Revolutionen

Anmerkungen zu einem Faszinosum ΞΞGerd Koenen

35 1873 – 1923 – 1973

Krisendramen im 50-Jahre-Takt? ΞΞFranz Walter

56 1918 bis 2018

Zwiespältiges Gedenken an Frieden, Nachkrieg und Revolution ΞΞAlexander Gallus

64 Dachau–Nürnberg–Bonn

Leben und Karriere des »fliegenden ­Medizinmannes« Siegfried Ruff ΞΞKatharina Trittel

75 1945 als langfristige Zäsur der Zeitgeschichte Nationale, europäische und globale ­Perspektiven im Vergleich ΞΞLutz Raphael

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88 1968 – und 50 Jahre später

Eine deutsch-deutsche Bestandsaufnahme ΞΞEckhard Jesse

100 1968 in der DDR

Eine ausgebliebene Revolte und ihre Folgen ΞΞMichael Lühmann

107 Ein neuer Kapitalismus für eine neue Zeit

John Kenneth Galbraith und die Chicago School of Economics ΞΞMaurice Cottier



>> ESSAY 115 Zäsurdenkenszäsur

Der Verlust geschichtsphilosophischer ­Kompasse nach dem Boom ΞΞFernando Esposito

122 Wann, wenn nicht jetzt?

Warum es oft schwer fällt, das Gute zu tun ΞΞHilal Sezgin

PERSPEKTIVEN

>> ANALYSE 131 Glashaus-Gefechte

Der Jargon der Eigentlichkeit und die deutsche Halbbildung ΞΞWilfried von Bredow

Inhalt

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SCHWERPUNKT: ZÄSUREN

INTERVIEW

»DEN ZEITSTROM DER GESCHICHTE GLIEDERN« ΞΞ Gespräch mit Peter Graf Kielmansegg über Zäsuren, die digitale Revolution und die Zukunft Europas Wenn das Schlagwort »Zäsur« fällt: Wovon sprechen wir dann? Der Begriff »Zäsur« entspringt einem Orientierungsbedürfnis. Wir wollen und müssen den Strom der Zeit gliedern, um mit ihm erinnernd umgehen zu können. Wir suchen nach Punkten, an denen ein Ende und ein Anfang sehr markant aufeinandertreffen. Solche Punkte nennen wir Zäsuren. Wir meinen damit einen Einschnitt in das Kontinuum der Zeit, der tief reicht. Man muss sich allerdings klarmachen, dass Zäsuren nichts dem Zeitstrom objektiv Eigenes sind. Zäsuren werden in den Zeitstrom hineininterpretiert. Freilich nicht willkürlich. Historische Zäsuren, die Völker, Staaten, Kulturen betreffen, werden zu solchen ja nur dadurch, dass man sich über sie verständigt. Und dafür braucht es Gründe. Insofern ist es ein großer Unterschied, ob wir von Zäsuren in einem individuellen Leben – in der Deutung dieses Lebens ist derjenige, der es lebt, zunächst einmal mit sich allein – oder von Zäsuren in der Geschichte von Kollektiven, auch in Entwicklungen außerhalb des Humanbereiches, etwa erdgeschichtlichen Einschnitten, reden. Da sind die Notwendigkeiten argumentativer Objektivierung von gliedernden Deutungen des Zeitstroms viel stärker. Die Politikgeschichte betont, so scheint es, stärker die Brüche, die Sozial- und Kulturgeschichte die langen Kontinuitätslinien. Wie lässt sich eine Phase beschleunigten Wandels von einer Zäsur unterscheiden? Politikgeschichte ist zu einem guten Teil Ereignisgeschichte. Ereignisse können sehr abrupt ein Ende herbeiführen oder einen Anfang setzen. Das gilt etwa für Schlachten. In einer Schlacht entschied sich die Eroberung Englands durch die Normannen, eine weitere Schlacht beendete das napoleonische Zeitalter. Wieder eine andere Schlacht setzte dem preußisch-österreichischen Dualismus in Mitteleuropa nach 120 Jahren ein Ende.

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Was für Schlachten zutrifft, gilt auch für den Ausbruch von Revolutionen – die Erstürmung der Bastille ist dafür ein Beispiel. Ein epochales Ereignis ganz anderer Art, aber eben auch ein Ereignis, war die Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus. Dabei hatte diese für die altamerikanischen Kulturen freilich eine viel tiefgreifendere Bedeutung als für Europa, so sehr diese Entdeckung auch die europäische Geschichte in neue Bahnen lenkte. Auch gibt es Ereignisse, die eine Zäsur lediglich symbolisieren. Wir haben im letzten Jahr Luthers Thesenanschlag von 1517 mit großen Erinnerungsfesten gefeiert. Die Reformation war fraglos eine Zäsur der europäischen Geschichte; aber Luthers Ablassthesen waren bloß ein allererster Schritt in diese Zäsur hinein – und konnten erst im Nachhinein so verstanden werden. Gesellschafts- und Kulturgeschichte dagegen hat es vornehmlich nicht mit Ereignissen, sondern mit der Entwicklung von Strukturen und Mentalitäten zu tun. Die ändern sich selten abrupt. Gerade auch die Untersuchung ihres Wandels macht es notwendig, lange Entwicklungslinien ins Auge zu fassen. Der Rückgang etwa der Kinderzahl in den entwickelten Industriegesellschaften, eine der demografischen Schlüsselentwicklungen der neueren Geschichte, war nicht, wie man oft meint, ein plötzliches, von der Antibaby­ pille ausgelöstes Ereignis, sondern lässt sich bis in das späte 19. Jahrhundert zurückverfolgen, hat dann freilich durch die Erfindung eines einfachen empfäng­n isverhütenden Medikamentes einen starken Schub erhalten. Auch die Emanzipation der Frau, die im Rückblick, wenn man die historische Bilanz des 20. Jahrhunderts zieht, vielleicht einmal ganz vorn stehen wird, ist ein Prozess der longue durée. Das heißt auch: Versteht man den Begriff richtig, steht er eben nicht für Statik, Unbeweglichkeit. Freilich gibt es andererseits Beispiele dafür, dass kultureller Wandel sehr schnell abläuft. In den 1960er und 1970er Jahren verloren, historisch gesehen, von einem Tag auf den anderen fast alle die Sexualbeziehungen normierenden Konventionen, insbesondere die Bindung von Sexualität an die Ehe, ihre Geltungskraft. Das war tatsächlich eine Art von Revolution, die man mit dem Ereignis der Erfindung der Pille in Verbindung bringen kann. Insbesondere vor dem Hintergrund einer Langzeit-Kulturgeschichte der europäischen Sexualität sind die sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts ganz sicher eine höchst dramatische Zäsur. Rüdiger Safranski betonte zuletzt im Spiegel den Wunsch nach einer Balance von Bewahrung und Erneuerung als anthropologischer Konstante. Wie reagieren die Gesellschaften auf Zäsuren? Dominieren Krisendeutungen oder doch eher optimistische Erwartungen?

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Zäsuren — Interview

Safranski hat mit seiner Einschätzung des Menschen zweifellos recht. Bewahrung und Veränderung sind für den Menschen gleichermaßen wichtig. Der Mensch braucht für ein gelingendes Leben eine ihm vertraute Lebenswelt. Er muss aber auch offen sein für Veränderungen, um der Welt gewachsen zu bleiben. Wie sich das eine zum anderen verhält, ist auch eine Frage des Lebensalters. Älteren Menschen fällt schwerer als jungen, sich noch auf einen raschen Wandel der Lebenswelt einzustellen, ihn gar zu bejahen. Das bedeutet übrigens, dass unsere Zivilisation eine wachsende Spannung hervorbringt: Gesellschaften altern, zugleich beschleunigt sich der Wandel der Lebenswelt dramatisch. Der Widerstand gegen diesen Wandel wächst also nicht nur wegen der Beschleunigung, sondern auch aus demografischen Gründen. Aber auch unabhängig von dieser besonderen Spannung gilt: Es ist fraglich, wie lange wir der extremen Beschleunigung, mit der unsere Zivilisation sich fortentwickelt, sich verändert, noch gewachsen sein werden. Die Digitalisierung ist das Beispiel des Tages für diese Beschleunigung; so wie sie ein Beispiel dafür ist, dass auch ein Wandel nicht ereignishafter Natur durchaus als Zäsur wahrgenommen werden kann. Ich jedenfalls habe den Aufstieg der digitalen Kommunikation zu einer alles beherrschenden Lebensmacht in einer ziemlich kurzen historischen Zeitspanne als die tiefste lebensweltliche Zäsur in den achtzig Jahren meines Lebens erfahren. Dass Gesellschaften dabei auf Zäsuren in der Regel ambivalent – nicht einheitlich und nicht eindeutig – reagieren, lässt sich gerade auch an diesem Beispiel zeigen. Man gibt sich einerseits der digitalen Kommunikation wie einer Sucht hin; und ist andererseits zugleich schon jetzt, nach nur zwei Jahrzehnten, von tiefer Sorge, tiefer Skepsis gegenüber diesem jüngsten Geschenk eines Fortschritts, den man nicht aufhalten kann, erfüllt. Man muss auch die globale Migration, genauer die Armuts- und Katas­ trophenmigration, die in die Wohlstandsregionen der Welt drängt, als einen Aspekt der Dynamik beschleunigten Wandels, den unsere inzwischen weltweit dominante Zivilisation hervorbringt, sehen. Viele Menschen in den am stärksten von Einwanderung betroffenen Ländern ertragen und vertragen das Tempo und das Ausmaß lebensweltlicher Veränderung, die aus dieser Migration folgen, nicht mehr. Sie haben schon die orientierende Funktion von Zäsuren angesprochen. Welche weiteren gesellschaftlichen Funktionen erfüllt das kollektive Erinnern in historischen Zäsuren? Es geht wohl eher um das kollektive Erinnern nach historischen Zäsuren. Das Wort »Funktion« hat für mich immer einen deutlich oder undeutlich Gespräch mit Peter Graf Kielmansegg

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normierenden Beiklang. Ich würde lieber fragen: Welche Rolle spielen kollektive Erinnerungen nach Zäsuren? Was bewirken sie? Was können sie bewirken? Auf diese Fragen gibt es sicher keine pauschale Antwort. Revolutionen hinterlassen typischerweise mit einer gespaltenen Gesellschaft auch ein gespaltenes Gedächtnis. Das kann auch bei verlorenen Kriegen der Fall sein. Selbst nach 1945 war die Erinnerung an die zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft, die doch in eine Katastrophe geführt hatten, eine gespaltene, uneinheitliche, uneindeutige. Wenn es gut geht, kann kollektive Erinnerung orientierend, sinnstiftend wirken. Da ist dann wichtig, dass es positive Schlagworte, Bilder, Episoden als Kristallisationskerne kollektiver Erinnerung gibt. Für die kollektive Erinnerung an das Geschehen der Wiedervereinigung, das insgesamt ja ebenfalls durchaus ambivalent wahrgenommen worden ist, hat es entscheidende Bedeutung, dass der Mauerfall – ein unerhört symbolträchtiges Ereignis – den eigentlichen bildlichen Erinnerungskern ausmacht. Die »Stunde Null« 1945 gilt als Musterbeispiel für eine Zäsur. Sind Zäsuren per se verbunden mit dramatischen Erfahrungen, mit Krieg, Revolution, Katastrophe? Was das Jahr 1945 bedeutet, muss für jedes am Zweiten Weltkrieg beteiligte Land gesondert herausgefunden werden. Die Formel von der »Stunde Null« ist auf Deutschland gemünzt – und auch da natürlich nicht wörtlich zu nehmen. »Kontinuität ist immer«, hat Golo Mann einmal gesagt. Das gilt auch für 1945. Die Geschichtswissenschaft hat sich gerade für die Kontinuitäten über die Zäsur von 1945 hinweg stark interessiert; und etwa herausgearbeitet, dass die Jahre 1943–48 im Leben der von der Katastrophe erfassten Menschen so etwas wie eine Zeiteinheit bildeten. Zugleich darf man es mit dem »Kontinuität ist immer« aber nicht übertreiben. 1945 war eine tiefe Zäsur, im Großen, Staatlichen ebenso wie auch in der Mehrzahl aller deutschen Biografien. Freilich gilt gerade auch für diese Zäsur und gerade auch für Deutschland, dass man sie nicht auf einen historischen Augenblick verengen darf. Man muss den Neuanfang der folgenden Jahre, für den der Zusammenbruch der NS-Diktatur Raum schuf, mit in den Blick nehmen, wenn man das, was die Jahreszahl 1945 für das historische Bewusstsein bedeutet, erfassen will. Insofern Zäsuren abrupte, ereignisbestimmte Brüche sind, werden sie sicher oft mit dem verbunden, was Sie »dramatische Erfahrungen« nennen. Aber ich habe ja schon davon gesprochen, dass wir auch – das ist eine Frage der Perspektive und der Zeiträume, die wir betrachten – kürzere oder sogar

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Zäsuren — Interview

längere Perioden beschleunigten Wandels als Zäsur deuten können. Die Dramatik ist dann eine, die häufig erst der spätere Betrachter wahrnimmt, nicht der Zeitgenosse. Das trifft auf viele der dynamischen Perioden des sozial- und kulturgeschichtlichen Wandels zu, von denen schon die Rede war. Aber: Die erwähnte digitale Revolution ist gleich wieder ein Gegenbeispiel – sie wird von den Zeitgenossen unmittelbar als abrupter, revolutionärer Umbruch erfahren. Wie verhält es sich mit der Reichweite einer Zäsur: Kann eine Zäsur auch regional begrenzt sein oder muss sie mindestens nationale, vielleicht gar globale Wirkungen zeitigen? Ich würde es für ziemlich willkürlich halten, wollte man den Begriff »­Zäsur« für historische Großereignisse reservieren. Warum sollte der Autor einer Biografie nicht auch nach Zäsuren in dem Leben, das er darstellt, fragen? Natürlich gibt es ein gewissermaßen öffentliches, jedenfalls wissenschaftliches Interesse vor allem daran, den Zeitstrom der Geschichte im Großen zu gliedern. Aber einen guten Grund dafür, den Begriff »Zäsur« an eine bestimmte Ebene des Geschehens zu binden, sehe ich nicht. Zäsuren mit einer globalen Reichweite dürfte es ohnehin nicht viele geben. Man müsste sie wohl in der frühen Menschheitsgeschichte (die freilich noch keine Globalgeschichte war) oder jener späten Phase der Menschheitsgeschichte, in der die europäische Expansion den Globus tatsächlich zur Einheit werden ließ, suchen. Nicht die Reichweite, um ihren Begriff noch einmal aufzunehmen, ist konstitutiv für jene Diskontinuitäten, die wir Zäsuren nennen, sondern die Tiefe und die Abruptheit des Kontinuitätsbruches. In Ihrem Buch »Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland« aus dem Jahr 2000 schreiben Sie: »Es hat in der Geschichte der Bundesrepublik nur eine tiefe Zäsur gegeben: die späten sechziger Jahre.« Würden Sie diese These heute immer noch so stehen lassen? Und worin genau bestand aus Ihrer Sicht der nachhaltige Einschnitt der späten 1960er Jahre? Mein Buch hat die Jahre 1945 bis 1990 zum Gegenstand. Auf diesen Zeitraum bezieht sich meine Aussage; und natürlich auch nur auf den westlichen Teil des geteilten Deutschland, eben die Bundesrepublik. Einer der Gründe dafür, dass noch immer Fremdheit zwischen den beiden Teilen des wiedervereinigten Deutschland besteht, ist ja genau der, dass – beispielsweise – die Jahreszahl 1968, aus westlicher Sicht ein Epochendatum, für das zweite Deutschland gar nichts bedeutet. Für die gesamtdeutsche Geschichte nach 1945, von der wir inzwischen wieder sprechen können, ist – das versteht sich Gespräch mit Peter Graf Kielmansegg

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von selbst – der Zusammenbruch der DDR und die Wiedervereinigung die große Zäsur des Dreivierteljahrhunderts, das seit Kriegsende vergangen ist. Meine These war, dass uns in der Politikgeschichte der Bundesrepublik ein anderes Zeitraster entgegentritt als in der Gesellschafts- und Mentalitätsgeschichte; dass der politischen Katastrophenzäsur 1945/49 ein gesellschaftsund mentalitätsgeschichtlicher Epochenbruch etwa zwanzig Jahre später gefolgt sei; ein Epochenbruch, für dessen Kennzeichnung der damals in die Debatte eingeführte Begriff »Wertewandel« eine Schlüsselbedeutung hat. Es war ein Epochenbruch, in dem in einer sehr kurzen Zeitspanne vielfältige säkulare Modernisierungsprozesse in der ganzen Welt der entwickelten, demokratisch verfassten Industriegesellschaften einen historisch beispiellosen Beschleunigungsschub erhielten. Geburtenrückgang, Emanzipation der Frau, sexuelle Revolution, Bildungsrevolution, Säkularisierung: Das sind einige der Stichworte, die in diesen Zusammenhang gehören. Alle Entwicklungen, auf die diese Stichworte verweisen, haben etwas mit der Wohlstandsexplosion

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Zäsuren — Interview

der späten 1950er und der 1960er Jahre zu tun, zu der es keine Parallele in der deutschen Geschichte gibt. Die Bundesrepublik war dabei auf der einen Seite einfach Teil der westlichen Welt, auf der anderen Seite aber auch ein Land mit einer sehr besonderen Geschichte, die in diese Prozesse hineinwirkte. Dass ein Land, welches keine Wurzeln in einer zustimmungsfähigen Geschichte mehr hat, von einer solchen Dynamik des Wandels anders getroffen wird als glücklichere Länder, ist zumindest eine plausible Vermutung. Um Ihre Frage abschließend klar zu beantworten: Ich sehe auch zwanzig Jahre, nachdem das Buch geschrieben worden ist, keinen Grund, von der These abzurücken, dass der gesellschaftsund mentalitätsgeschichtliche Umbruch der 1960er und 1970er Jahre die tiefste Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik gewesen sei. Sie haben in den vergangenen dreißig Jahren viel zur europäischen Integration geschrieben. Gibt es eine Zäsur im europäischen Integrationsprozess, die den Übergang von einer Wirtschafts- zu einer echten politischen Union nachhaltig versperrt hat? Von einer Zäsur, die den Übergang von einer Wirtschafts- zu einer echten politischen Union versperrt habe, würde ich nicht sprechen. Mir hat noch niemand erklären können, was eine echte politische Union sein solle, wenn nicht ein Bundesstaat. Also lautet die Frage: Warum hat sich die Wirtschaftsunion bis heute nicht zu einem europäischen Bundesstaat fortentwickelt? Die Antwort ist sehr einfach: Es hat sich gezeigt, dass die Völker Europas und auch die Regierungen der Mitgliedstaaten das nicht wollen. Sie wollen die intensive Zusammenarbeit, sie wollen auch ein Stück Supranationalität, aber sie wollen nicht die Aufgabe der eigenen Staatlichkeit. Und sie haben gute Gründe dafür. Das Maß an fortschreitender Zentralisierung, das ein europäischer Bundesstaat unvermeidlich mit sich brächte, wäre für eine Föderation von 28, demnächst 27 Nationalstaaten mit je eigener Sprache, je eigener Geschichte und einer je eigenen ausgeprägten politisch-kulturellen Identität ganz unangemessen. Ein europäischer Bundesstaat wäre, verglichen mit den Gliedstaaten, auch mit einem erheblichen Verlust an demokratischer Substanz verbunden. Am Anfang, als im Schatten der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges die ersten Integrationsschritte getan wurden, war es einfach, sich für die »Vereinigten Staaten von Europa« zu begeistern. Gespräch mit Peter Graf Kielmansegg

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Inzwischen, nach der Erweiterung von sechs auf 28 (27) Mitgliedstaaten, haben wir in fünfzig, sechzig Jahren Integrationsgeschichte die Erfahrung gemacht, dass unbedachter Integrationsenthusiasmus das europäische Projekt nicht weiterbringt, sondern gefährdet. Heute geht es darum, diejenigen Aufgaben zu identifizieren, für die wir ein handlungsfähiges, einiges Europa wirklich brauchen. Und dann müssen wir gemeinsam das tun, was mit Blick auf diese Aufgaben notwendig ist. Bislang ist das europäische Projekt vor allem ein nach innen gewandtes Projekt. Eine gesamteuropäische Rechtsordnung wurde aufgebaut und immer weiter ausgebaut. Das muss nicht ewig so weitergehen. Die europäische Gemeinschaft muss sich neu definieren, auf eine präzise Weise aufgabenorientiert. Und ihre Aufgaben liegen nicht mehr primär im Innern. Wir brauchen ein handlungsfähiges, einiges Europa vor allem um der Selbstbehauptung Europas in einer Welt weniger großer Mächte mit ausgeprägten Eigeninteressen und begrenztem Respekt vor schwächeren Gliedern der Staatengemeinschaft willen. Die Entschlossenheit und brutale Energie, mit denen China imperiale Weltmachtansprüche verfolgt und Russland seine geostrategischen Interessen durchzusetzen versucht, sind besorgniserregend. Die Unzuverlässigkeit der USA als Partner Europas ist es nicht weniger. Das ist die Welt, in der Europa sich behaupten muss. Glauben Sie, dass der 23. Juni 2016, an dem die Briten für den EU-Austritt stimmten, in fünfzig Jahren als eine echte historische Zäsur betrachtet werden wird, die den Anfang vom Ende der Europäischen Union eingeleitet hat, wie viele Rechtspopulisten gerade behaupten? Ob der »Brexit« einmal als echte historische Zäsur in der Geschichte des europäischen Projektes wahrgenommen werden wird, können wir noch nicht wissen. Welche Folgen er haben wird, ist immer noch offen. Der Anfang vom Ende der Europäischen Union wird er, da bin ich mir ziemlich sicher, nicht sein. Die Interessen einer Mehrzahl von europäischen Staaten sind inzwischen zu fest mit der Union verknüpft. Aber um zur Selbstverständlichkeit für die Völker Europas zu werden, muss die Europäische Union sich wahrnehmbar an den unzweifelhaft gemeineuropäischen Aufgaben bewähren. Zuweilen wird der Begriff der historischen Zäsur auch kritisch betrachtet. ­Worauf zielt die Kritik und welche Alternativen werden diskutiert? Ich habe für reine Begriffsdebatten nie viel Sinn gehabt. In der Sache kann es nur darum gehen, ob die Vorstellung von einer historischen Zäsur grundsätzlich zu viel von jener Kontinuität, die immer ist, ausblendet und deshalb

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Zäsuren — Interview

problematisch ist. Ich denke – und da kann ich an meine erste Antwort anknüpfen –, dass wir ohne Begriffe, die den Zeitstrom der Geschichte gliedern, nicht auskommen; und dass es sehr tiefe, in den Zeitstrom hineinwirkende Abbrüche und Anfänge auch tatsächlich gibt. Wir müssen, wenn wir gliedern, nur im Kopf behalten, dass immer auch nach den Kontinuitäten zu fragen ist. Welche gesellschaftlichen Umbrüche der jüngeren Geschichte werden in ihrer ­Bedeutung am meisten überschätzt, welche am meisten verkannt? Diese Frage lässt sich nicht anders als spekulativ und nur aus der Distanz beantworten. Und die fehlt uns natürlich gerade bei Ereignissen der jüngeren Geschichte. Vielleicht sollte man lieber nach Deutungsunsicherheiten als nach Unter- oder Überschätzung historischer Umbrüche fragen. 9/11 wurde schon am Tage danach zum Epochenereignis erklärt. Bis heute wissen wir nicht so genau, ob und in welchem Sinn das zutrifft. Natürlich kann auch Geschichte selbst in ihrem Fortgang Umbrüche in ein anderes Licht rücken. Die Oktoberrevolution von 1917 ist hierfür ein gutes Beispiel: Solange die Sowjetunion bestand und ein machtvoller Kommunismus diese Revolution als ein heilsgeschichtliches Datum verstand, mit dem sich der Lauf der Weltgeschichte ein für alle Mal geändert habe, musste die nicht-kommunistische Welt – und die Welt der demokratischen Verfassungsstaaten im Besonderen – sich dieser Deutung, auch wenn sie diese natürlich nicht übernahm, doch jedenfalls stellen. Sie musste annehmen, dass mit der Oktoberrevolution ein Fundamentalkonflikt, ein Weltbürgerkrieg, wie man oft gesagt hat, eröffnet sei, dessen Ausgang nicht absehbar war – ein Konflikt zwischen zwei antagonistischen Modellen gesellschaftlicher Ordnung, die einander Legitimität nicht zugestehen konnten. Als dann Atomwaffen ins Spiel kamen, gewann dieser Konflikt gar apokalyptische Züge. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, dem Auseinanderfallen ihres Imperiums und im Licht der Entwicklung Russlands nach diesem Zusammenbruch bietet sich eine neue Perspektive an. Siebzig Jahre Sowjetunion können als eine Episode gesehen werden, eine dramatische, folgenreiche, für die WeltProf. Dr. Peter Graf ­Kielmansegg, geb. 1937, Studium der Rechtswissenschaft und der Geschichte; Professuren für Politikwissenschaft an den Universitäten Darmstadt, Köln und Mannheim 1971–2003; Gastprofessuren an der Georgetown University Washington, D.C. und dem Johns Hopkins Center Bologna; Präsident der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 2003–09.

geschichte hoch bedeutsame Episode, aber eben doch als ein Ausschnitt aus einem größeren Zusammenhang. Als dieser größere Zusammenhang kann das Kontinuum imperialer Politik der Großmacht Russland wahrgenommen werden, die in wechselnden ideologischen Einkleidungen, mit wechselnden Stoßrichtungen und in wechselnden Erscheinungsformen über lange historische Zeiträume hinweg Vorherrschaftsansprüche erhebt, die für ihre Umwelt bedrohlich sind. Mithin: Gerade auch die Diskussion über Zäsuren kann zu einem Geschichtsbild der Vieldeutigkeiten beitragen. Gespräch mit Peter Graf Kielmansegg

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ANALYSE

SATTELZEIT(EN) ZÄSUREN AM ANFANG ( UND AM ENDE?) DER MODERNE ΞΞ Daniel Fulda

Obwohl sich der Begriff »Sattelzeit« keineswegs von selbst erklärt, ist er bemerkenswert beliebt. Schließlich wurden in der Sattelzeit – gemeint ist: im Jahrhundert »um 1800« – laut Reinhart Koselleck die Fundamente der modernen Welt gelegt. Und nicht allein die Historiker­kollegen des 2006 verstorbenen Koselleck sprechen ganz geläufig von der Sattelzeit, sondern auch Geisteswissenschaftler anderer Fächer.1 Seit der Erfindung des Begriffs im Zuge der Arbeit an Kosellecks großem Lexikon »Geschichtliche Grundbegriffe« hat sich die Vorstellung einer makroepocha­len Zäsur um 1800 weithin etabliert und ist nahezu ohne Widerspruch geblieben. Anlass zu Zweifeln gibt der Sattelzeitbegriff freilich durchaus. Das gilt nicht allein für die ebenso unklare Referenz wie begrenzte Auslegbarkeit der Sattelmetapher, sondern auch für die empirische Untermauerung der mit ihr verbundenen These.2 Letzteres sei weiter unten zumindest punktuell dargelegt. Ebenso zu diskutieren sind die neuerdings vorgetragenen Anknüpfungen an Koselleck, die seiner Zäsurdiagnose für die Zeit um 1800 eine weitere für die Zeit »um 2000« hinzufügen. Wie überzeugend sind also die Zäsurdiagnosen Kosellecks auf der einen und die jener Autoren, die in unserer Gegenwart das Ende jener Moderne erkennen, deren Formationsphase er beschrieben hat, auf der anderen Seite? ALS »ALLES ANDERS WURDE«3: DIE SATTELZEIT In der Sattelzeit berühren sich Alteuropa und Moderne und scheiden sich zugleich voneinander – so Kosellecks These, die den Beginn der »Neuzeit« von der Zeit um 1500 auf jene um 1800 verschob. Die Zentralbegriffe des politisch-sozialen Diskurses verloren damals ihre traditionellen Bedeutungen

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1  Vgl. Stefan Jordan, Die Sattelzeit. Transformation des Denkens oder revolutionärer Paradigmenwechsel?, in: Achim Landwehr (Hg.), Frühe Neue Zeiten. Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution, Bielefeld 2012, S. 373–388, hier S. 373 mit Nachweisen. 2  Ausführlicher dazu vgl. Daniel Fulda, Sattelzeit. Karriere und Problematik eines kulturwissenschaftlichen Zentral­ begriffs, in: Elisabeth Décultot u. Daniel Fulda (Hg.), Sattelzeit. Historiographiegeschichtliche Revisionen, Berlin 2016, S. 1–16. 3  Reinhart Koselleck u. Christoph Dipper, Begriffsgeschichte, Sozialgeschichte, begriffene Geschichte. Reinhart Koselleck im Gespräch mit Christoph Dipper, in: Neue Politische Literatur, Jg. 43 (1998), H. 2, S. 187–205, hier S. 195.

und gewannen neue – die sich als modern ausweisen, indem sie unserem Verständnis im Grundsatz entsprechen. Freiheit, Recht, Revolu­tion, Volk oder Wirtschaft sind einige solcher in den »Geschichtlichen Grundbegriffen« untersuchten Begriffe. Analoges gilt, wie man ergänzen kann, für die dort nicht einschlägigen Begriffe Literatur und Kunst. Kosellecks besondere Aufmerksamkeit galt dem Begriff der Geschichte und dem des fundamentalen Wandels des Geschichtsbewusstseins in der Sattelzeit. Seitdem denke sich der Westen die Welt und den Menschen als in dauernder Umbildung befindlich, und zwar in einer sinnhaften Umbildung, die einerseits fortwährend Neues hervorbringe, das andererseits aber prozesshaft mit allem Vor­a ngegangenen verbunden sei.4 Als Postulat der Geschichtstheorie ist dieser Gedanke natürlich nicht erst von Koselleck formuliert worden; hier sind vielmehr die großen Autoren des Historismus wie Herder, Droysen, Dilthey u. a. zu nennen. Koselleck hat den Kerngedanken des Historismus jedoch in einer Weise reformuliert, die diesem wieder wissenschaftliche Überzeugungskraft gegeben hat. Schließlich hatte er, so jedenfalls sein Anspruch, ein Geschichtsverständnis, das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur noch wenige Anhänger versammelte, in einen mit linguistischen Methoden abgestützten empirischen Befund transformiert. Dass Geschichte generell ein dynamisches Entwicklungskontinuum sei, wies er als ihrerseits geschichtliche, im 18. Jahrhundert entstandene Vorstellung aus. Demnach wird Geschichte seit der Sattelzeit nicht mehr nur als Reservoir vieler einzelner Geschich­ten begriffen, sondern als Kontinuum mit Vorwärtsdrang und dadurch als eigenständige Macht, die alles Menschliche bedingt und prägt. Die Historie wiederum vermittelt nicht mehr anhand dieser oder jener Begebenheit eine moralische oder politische Lehre, die überzeitliche Geltung hat – so das herkömmliche historia magistra vitae-Konzept. Ein sol4  Diese Leitthese grundiert zahlreiche Texte Reinhart Kosellecks; zuerst vorgetragen hat er sie in seinem Aufsatz: Vergangene Zukunft in der frühen Neuzeit [Erstveröffentlichung 1968], in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschicht­licher Zeiten, Frankfurt a. M. 1992, S. 17–37, am breitesten belegt in seinem Artikel: Geschichte, Historie, in: Otto Brunner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbe­griffe. Historisches Lexikon zur poli­tisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1972–97, S. 593–718, bes. S. 650 f.

ches exemplarisches Lernen aus dem Geschichten-Schatz der Vergangenheit ist nach moderner Auffassung unmöglich, weil die Geschichte substanzielle Veränderungen mit sich bringt, ja aus ihnen besteht, sodass sich Vergangenes niemals so wiederholt, dass die Betrachtung einer historischen Situation umstandslos in eine Erklärung der Gegenwart münden kann. Aus der Geschichte zu lernen, so Koselleck, heiße unter modernen Vorzeichen vielmehr, ihren Verlauf zu verstehen. Der Mensch könne ihre Entwicklungsrichtung erkennen und seine Handlungen darauf berechnen, um aktiv in sie einzugreifen und seine Zukunft selbst zu gestalten. Das begriffliche Äquivalent dieser neuen Auffassung fand Koselleck im Kollektivsingular »die Geschichte«, der um 1750 erstmals auftrete und sich Daniel Fulda — Sattelzeit(en)

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um 1775 durchsetze.5 Zuvor hatte es im Deutschen keinen zusammenfassenden Begriff für die Gesamtheit des Vergangenheitsgeschehens oder sogar für alles historische Geschehen in den drei Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gegeben. Die Gesamtheit der vielen einzelnen Geschichten ließ sich lediglich im Plural ansprechen, also als Geschichten.6 Die Entstehung des neuen Kollektivsingulars die Geschichte bildet in Kosellecks begriffsgeschichtlichem Ansatz das Paradebeispiel für die Entsprechung von Begriffs- und Bewusstseinswandel in der Sattelzeit: Mit Geschichte im Singular war vor 1750 kein allumfassender historischer Prozess gemeint, sondern ein partikularer Ereigniszusammenhang, der als exemplarische Veranschaulichung zeitunabhängiger Regeln verstanden wurde; was seit der Sattelzeit die Geschichte heißt, war davor als »Mehrzahl additiver Einzelgeschichten«7 gedacht worden. Nach 1750 beobachtet Koselleck hingegen eine gedankliche Integration der vielen einzelnen Geschichten zur einen Geschichte von autonomer Dynamik, die mit der Ausbildung und Durchsetzung des Kollektivsingulars die Geschichte Hand in Hand gehe. Am Ende der Sattelzeit hat der Historiker und Geschichtstheoretiker Johann Gustav Droysen den neuen Sprachgebrauch prägnant resümiert: »Über den Geschichten ist die Geschichte.«8 WIE ZUVERLÄSSIG IST KOSELLECKS SATTELZEIT-THESE?

5  Vgl. Koselleck, Geschichte, Historie, S. 648 f.

Der Nutzen des Sattelzeit-Modells liegt darin, dass es ein klares, da binär strukturiertes Kategoriengerüst für die Analyse nicht allein von Geschichtsauffassungen bereitstellt. Nutzen bringt es darüber hinaus als idealtypische – zu betonen ist: als idealtypische – Beschreibung des Übergangs von der alteuropäischen zur modernen Auffassung von Welt und Geschichte. Schaden verursacht es hingegen dann, wenn es in seiner empirischen Aussagekraft überschätzt wird und wenn Quellenbefunde nur dann akzeptiert werden, wenn sie das Modell bestätigen bzw. durch Interpretation passend gemacht werden können. Denn schaut man genauer hin, sind selbst zentrale Zitate in Kosellecks Beiträgen zum Geschichtsbegriff nicht immer geeignet, den postulierten Umbruch ab 1750 zu belegen. Die Herausbildung des Kollektivsingulars Geschichte illustriert Koselleck mit einem Zitat aus der »Allgemeinen Geschichtswissenschaft« von Johann Martin Chladenius, einem durch ihn wieder bekannt gewordenen Theologen: »›Eine Reihe von Begebenheiten wird eine Geschichte genannt‹, definierte Chladenius 1752. Aber ›das Wort Reihe bedeutet allhier … nicht bloß eine Vielheit oder Menge; sondern zeigt auch die Verbindung derselben untereinander, und ihren Zusammenhang an‹.«9

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Zäsuren — Analyse

6  Vgl. Koselleck, Historia Magistra Vitae, in: Ders., V ­ ergangene Zukunft, S. 46 f. 7 

Ebd., S. 46.

8  Johann Gustav Droysen, Historik. Rekonstruktion der ersten vollständ. Fassung der Vorlesungen (1857), Grundriß der Historik in der ersten handschriftl. (1857/58) und in der letzten gedr. Fassung (1882). Textausg. von Peter Leyh, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, S. 395–411, hier S. 409. 9  Koselleck, Geschichte, Historie, S. 649. Das (in der Schreibweise normalisierte) Zitat stammt aus Johann Martin Chladenius, Allgemeine Geschichtswissenschaft. Mit e. Einl. v. Christoph Friederich u. e. Nachw. von Reinhart Koselleck. Neudr. der Ausg. Leipzig 1752, Wien 1985, S. 7.

Das Stichwort »Zusammenhang« scheint hier die Integrationsleistung des neuen singularischen Geschichtsbegriffs zu belegen. Doch ist die Geschichte, von der Chladenius spricht, gar nicht die ganze Geschichte, sondern eine partikulare unter lauter partikularen Geschichten. »Was eine Geschichte sey?«, lautet die Überschrift des Paragrafen. Bei Chladenius geht es um den Zusammenhang, der jede Geschichte zuallererst konstituiert: um die »Zusammenfügung der Geschehnisse« (pragmaton syntasis), die Aristoteles zum »wichtigsten Teil« der Tragödie (und übertragen: jeder sinntragenden Geschehensdarstellung) erklärte.10 Dieses Kohärenzprinzip gilt bei Chladenius für alle Geschichten, doch wird es von ihm nicht auf das Gesamt des historischen Geschehens übertragen, das damit als Einheit gesehen würde. Das Gesamt der vielen einzelnen Geschichten bleibt für ihn etwas Plurales. Grammatisch ist dieser Befund eindeutig,11 und Chladenius’ Argumentation lässt nicht erkennen, dass ihm eventuell nur das neue Wort für den bereits gedachten Zusammenhang der einen totalen Geschichte gefehlt hätte. Die Stelle, die Koselleck als weiteren Beleg für das neue Geschichtsver­ ständnis bei Chladenius anführt, muss ebenfalls als massiv, ja verfälschend überinterpretiert bezeichnet werden. Aus Chladenius’ Feststellung: »Die 10  Aristoteles, Poetik. ­Griechisch/Deutsch. Übers. u. hg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1986, S. 21. 11  Da der Plural »Geschichte können« (Chladenius: Allgemeine Geschichtswissenschaft, S. 9) im Substantiv keine morphologische Markierung hat, kann sich allerdings, wenn man von den heutigen Flexionsformen herkommt, das Missverständnis einstellen, es handelte sich um einen Singular.

Geschichte an und vor sich hat kein Ende«12, schließt er, dass die (modern aufgefasste) Geschichte »bei Chladenius einen grundsätzlich unbegrenzten Horizont [gewinnt]«13. Doch bezieht sich Kosellecks Zeuge nicht auf die Geschichte insgesamt, sondern auf einzelne zu erzählende Geschichten – der Singular steht in jenem Chladenius-Zitat, weil von einer beliebigen partikularen Geschichte die Rede ist. Chladenius’ Gedanke ist der, dass jede Abgrenzung einzelner Geschichten künstlich sei, weil das Geschehen in der Welt weitergehe. Dieser Gedanke lässt sich prinzipiell wohl auf die Geschichte übertragen, wird von Chladenius aber nicht in dieser Weise transponiert. Zweifel verdient auch eine Stelle, mit der Koselleck die Ablösung des his-

12  Chladenius, Allgemeine Geschichtswissenschaft, S. 147. 13 

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Koselleck, Geschichte, Historie, S. 652.

Koselleck, Historia Magistra Vitae, S. 54; zitiert wird hier: Johannes von Müller, Vierundzwanzig Bücher allgemeiner Geschichten besonders der Europäischen Menschheit, Bd. 3, Tübingen 1810, S. 531.

toria magistra vitae-Topos belegt. »Man findet in der Geschichte nicht sowohl, was in einzelnen Fällen zu tun sei (die Umstände ändern alles unendlich)[,] als das Generalresultat der Zeiten und Nationen«14, heißt es bei Johannes von Müller. Der zitierte Satz schließt indes mit einem von Koselleck übergangenen Doppelpunkt, nach dem es wie folgt weitergeht: »Erfülle trefflich die vom Schicksal dir angewiesene Stelle; hierin scheine dir nichts zu hoch, daß du es nicht erreichen könntest, nichts so gering, daß du es vernachläßigen dürftest. Dadurch werden Könige groß, dadurch erwirbt der Mann von Geist ewige Lorbeeren; dadurch erhebt der Hausvater seine Familie über Daniel Fulda — Sattelzeit(en)

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Armuth und Niedrigkeit.«15 Das »Generalresultat der Zeiten und Nationen« sind demnach weiterhin Lehren der Moral und der Klugheit. Was der Historiker und sein Publikum in der Geschichte erkennen können, sind bei Müller nicht eine immanente Dynamik des geschichtlichen Prozesses und dessen Richtung. Vielmehr schreibt er im selben Absatz: »So unvollständig das Geheimniß und die Natur der größten Revolutionen und ihrer Verkettung in diesem Geschichtbuch dargestellt worden, so sichtbar leuchtet höhere Leitung hervor. Unbekannt ist ihr Plan, unerforschlich ihr Gang.«16 Der Sinn der Geschichte ist hier nicht säkularisiert, sondern leitet sich von der »Weltregierung« des »Unsichtbare[n]« ab;17 er geht im weltlichen Geschehen nicht auf und ist deshalb für den Menschen auch nicht einsehbar. Konsequenterweise besteht die im Studium der Geschichte zu erwerbende Kompetenz nicht im Erkennen historischer Dynamiken sowie im angemessenen, womöglich aktivistischen Reagieren darauf – etwa dadurch, dass man im Dienst des Fortschritts die jeweiligen historischen Tendenzen voranzutreiben sucht. Müller bezieht sich nicht auf die bestehende Ordnung der Gesellschaft als Gegenstand historisch informierter Beurteilung, sondern als eine zu akzeptierende Voraussetzung historischen Lernens: Die Lehren der Historie sind für jeden Stand andere und sollen das persönliche Verhalten unter den Vorgaben des jeweiligen Standes leiten. Was folgt daraus, dass manche von Kosellecks wichtigsten Zeugen für die sattelzeitliche Modernisierung des Geschichtsdenkens bei näherem Hinsehen einen eher vormodernen Geschichtsbegriff vertraten? Handelt es sich bloß um Lesefehler im Detail oder ist die Sattelzeit-These insgesamt infrage zu stellen? Im gegebenen Rahmen lassen sich derlei Fragen nicht beantworten. Auf jeden Fall empfiehlt sich, den sattelzeitlichen Wandel nicht als eine vollständige Abkehr von den hergebrachten Weisen des Geschichtsverständnisses – von der Erbauung an exemplarischen Geschichten im Sinne des historia magistra vitae bis zu Transzendenzbezügen im Geschichtsdiskurs – zu begreifen. Zu rechnen ist vielmehr mit Gemengelagen von alt und neu und sehr langfristigen Übergängen. Unter einer Zäsur stellt man sich jedenfalls einen schärferen Einschnitt vor. LEBEN WIR IN EINER ERNEUTEN SATTELZEIT? Der Begriff »Sattelzeit« wird fast ausschließlich auf den beschriebenen Zeitraum verwendet. Das typologische Potenzial des Begriffs und seine Übertragbarkeit auf andere Phasen tiefgreifenden Wandels sind bislang wenig ausgelotet. Ein Grund dafür könnte darin bestehen, dass man der Art und Weise des sattelzeitlichen Wandels – also dem, was ihn von anderen, zum Beispiel

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Zäsuren — Analyse

15 

Müller, S. 531.

16 

Ebd.

17  Ebd., S. 532.

abrupteren Phasen grundlegender Veränderung unterscheiden könnte: etwa ein gestreckter Verlauf oder die von Koselleck vor­ausgesetzte hohe Bedeutung der philosophischen Reflexion – viel weniger Aufmerksamkeit geschenkt hat als seinem spezifischen semantischen Ausdruck und Gehalt um 1800. Implizit wird die Sattelzeit-These trotzdem auch auf andere Zeiträume bezogen, besonders auf das späte 20. und beginnende 21. Jahrhundert. So namhafte Geisteswissenschaftler und Intellektuelle wie Hans Ulrich Gumbrecht, François Hartog und Aleida Assmann sehen den »Chronotopos« (Gumbrecht), den »régime d’historicité« (Hartog) oder das »Zeitregime« (Assmann) der Moderne in der Gegenwart an sein Ende kommen. Sie folgen Koselleck in seiner Beschreibung der Sattelzeit um 1800 und ergänzen, oder besser: korrigieren sie durch die These, dass die damals neu fundierte Weltauffassung und Gesellschaftsvorstellung nicht mehr die unsere sei. Großangelegte Untersuchungen zur Untermauerung dieser These gibt es bislang freilich nicht; noch handelt es sich um eine in Essays geführte Diskussion. Danach leben wir nicht mehr in der »historischen Zeit«; vielmehr habe die Geschichte ihre Dynamik verloren. Das Vergangene vergehe nicht mehr, es 18  Hans Ulrich Gumbrecht, Zentrifugale Pragmatik und ambivalente Ontologie: Dimensionen von Latenz, in: Ders. u. Florian Klinger (Hg.), Latenz. Blinde Passagiere in den Geisteswissenschaften, Göttingen 2011, S. 9–19, hier S. 18.

scheine in der Gegenwart vielmehr kopräsent, während die Zukunft keine Verheißung eines besseren Neuen mehr enthalte. »Geschichte zu machen«, das trauten wir uns nicht mehr zu, weil wir weder etwas wirklich hinter uns zu lassen vermöchten noch die Zukunft als einen »offenen Horizont von Möglichkeiten erleb[en], sondern als eine Reihe von Bedrohungen, die auf uns zukommen.«18 Statt der historischen Zeit herrsche laut Gumbrecht daher die »breite

19  Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, Unsere breite Gegenwart. A. d. Engl. von Frank Born, Berlin 2010; François Hartog, Régimes d’historicité. Présentisme et expériences du temps, Paris 2003. Aleida Assmann, Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München 2013, referiert Gumbrechts These ausführlich und ganz überwiegend zustimmend (vgl. S. 250–256), gelangt jedoch zu einem vorsichtigeren Urteil (vgl. S. 280): »Das moderne Zeitregime ist nicht gänzlich außer Kraft gesetzt, aber im Zuge der Pluralisierung von Zugängen zur Vergangenheit in bestimmte Schranken verwiesen.« 20  Gumbrecht, Zentrifugale Pragmatik, S. 18.

Gegen­wart«; Hartog spricht von einem »présentisme«, der an den eifrig bewahrten Überresten der Vergangenheit weniger eine historische Entwicklung zwischen den Zeiten wahrnehme, als eigene emotionale Erlebnisse suche.19 Beide verweisen auf die heutige Geschichtskultur, Letzterer vor allem auf die vom Geist der Denkmalpflege dominierte Gestaltung des öffentlichen Raums, Ersterer auf den Faktor neue Medien: »nie war, vor allem dank elektronischer Technologien, mehr an Vergangenheit für uns direkter und unproblematischer vorhanden«20. Was also ist von der These zu halten, dass die Denkweisen, die in der Sattelzeit um 1800 geprägt worden seien, derzeit verblassen – sodass wir quasi in eine neue Sattelzeit eintreten? Die genannten Beobachtungen treffen wohl zu, und das gilt auch für Gumbrechts ergänzenden Hinweis, gegenüber den frühen 1970er Jahren hätten sich unsere Zukunftserwartungen erheblich eingetrübt, mit weitreichenden Folgen für das politische Klima. Zu der gesellschaftlichen Stimmung zumal der jüngsten Zeit und den gegenwärtigen Daniel Fulda — Sattelzeit(en)

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Klagen über Stagnation bzw. »rasenden Stillstand« (Virilio, Rosa), wachsende Unübersichtlichkeit und Unsicherheit sowie allerlei drohende Gefahren passt seine These geradezu unheimlich gut. Daraus ergibt sich aber keineswegs zwingend, dass sich das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart entscheidend geändert hat. Gumbrecht u. a. sind zu diesem Eindruck offensichtlich auch deshalb gelangt, weil sie das Geschichtsdenken der Moderne zu einsinnig mit seinem historistischen Idealtypus und dessen Entwicklungsemphase und Zukunftsvertrauen identifizieren. Die Neigung, Geschichte zu erleben, um sich selbst bzw. den eigenen Ich-Idealen zu begegnen – auch so darf man die »breite Gegenwart« verstehen, die Gumbrecht postuliert –, diese Neigung finden wir ebenso in großen Teilen der Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts.21 In unserer Gegenwart wiederum spielt Fortschrittsemphase im politischen Diskurs weiterhin eine große Rolle, und der Bundeskanzler, der 1989/90 den »Mantel der Geschichte« zu ergreifen beanspruchte, verstand sich zweifellos als ein Akteur der »historischen Zeit«. Die Indizienlage stellt sich demnach nicht eindeutig dar, und dies kann im Grunde – von der Struktur der Geschichtserkenntnis her – gar nicht anders sein. Denn Zäsuren lassen sich in ihrer Tragweite erst im Rückblick ermessen. Deutungen der eigenen Gegenwart als Anbruch von qualitativ Neuem sind und waren zu allen Zeiten (der Moderne) beliebt bei sensiblen Geistern. Erst im Nachhinein lässt sich jedoch beurteilen, ob Zeichen des Wandels dabei frühzeitig erkannt oder ob sie überinterpretiert wurden. Vom »Ende der Geschichte« oder Posthistoire ist jedenfalls schon seit der frühen Nachkriegszeit die Rede, und die Diagnose vom »Untergang des Abendlandes« war bereits vor hundert Jahren populär. Womöglich wird man darin einmal Belege für eine ausgedehnte (neue) Sattelzeit erkennen, in der das Koselleck’sche Geschichtsverständnis verabschiedet worden ist. Ob es so kommt, können wir noch nicht wissen. Vielleicht befinden wir uns, ganz im Gegenteil, auch weiterhin in jener Sattelzeit, die im 18. Jahrhundert begann. Ihr Sattel würde sich dann als noch viel weiter gestreckt herausstellen, als Koselleck ihn sich dachte. Diese seit zweieinhalb Jahrhunderten anhaltende Sattelzeit könnte man dann aber vollends nicht mehr »Zäsur« nennen.

Prof. Dr. Daniel Fulda  ist Germanist an der Universität Halle–Wittenberg und leitet das dortige Interdisziplinäre Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung.

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Zäsuren — Analyse

21  Vgl. Daniel Fulda, ­Zeitreisen. Verbreiterungen der Gegenwart im populären Geschichtsroman, in: Silke Horstkotte u. Leonhard Herrmann (Hg.), Poetiken der Gegenwart. Deutschsprachige Romane nach 2000, Berlin 2013, S. 189–211.

ÜBER REVOLUTIONEN ANMERKUNGEN ZU EINEM FASZINOSUM ΞΞ Gerd Koenen Das Jahr 1968 markiert einen historischen Punkt, an dem ein hypertroph geblähter Begriff der »Revolution« noch einmal eine Art letztes, beschwörendes Revival erlebt hat. Via Havanna und Peking – mehr als via Moskau, wo bereits der 50. Jahrestag des Roten Oktober im toten, pompösen, militärischen Ritual alter, müde klatschender Männer erstarrt war – diffundierte der Begriff der Revolution damals noch einmal in die Literatur und die Rhetoriken einer globalen, sowohl westlichen wie südlichen und auch östlichen Neuen Linken. Man konnte sich damals einen historischen Augenblick lang als eine internationale, revolutionär gleichgestimmte Jugendbewegung imaginieren, die Teil und Verbündete eines Aufstands der »Verdammten dieser Erde« gegen die Herren der Welt war – nur um im selben Moment schon zu erleben, wie diese Totalität unvermittelt in Ubiquität umschlug. Fast über Nacht wanderte der inflationierte Begriff einer Revolution in die von diesen jugendlichen Rebellionen und Lebensreformen frisch befeuerten Kultur- und Bewusstseinsindustrien der westlichen Welt hinüber, und von dort gleich weiter in die kapitalistischen Werbe- und Warenwelten. Es dauerte nicht mehr lange, bis jede technische Innovation, jeder Musik-, Kleidungs- oder Kunststil, jede Veränderung des Alltagslebens eine Revolution war, von denen eine die nächste jagte – und das bis heute und immer hektischer. Der Begriff der »Revolution« war schon 1989 so omnipräsent und unbestimmt geworden, dass man sich beinahe gescheut hätte, den einschneidendsten politischen Umbruch unseres Zeitalters – den Kollaps des sowjetischen Lagers – trotz aller ihn begleitenden und vorantreibenden Massenproteste noch einmal mit diesem emphatischen Ausdruck zu belegen. So haben gerade diese zivilen und friedlichen, singenden oder samtenen Revolutionen, um die es sich nach allen Kriterien, die man anlegen kann, ja durchaus gehandelt hat, das Pathos nur sehr partiell noch in Anspruch nehmen können, das ungleich gewaltsameren Ereignissen vorbehalten blieb – wie eben der bolschewistischen Oktoberrevolution. Auf andere Weise gilt das auch für jene demokratischen »Farbenrevolutionen« – um den verächtlichen Begriff Wladimir Putins zu zitieren –, die vom Nahen Osten bis in die Ukraine und zeitweise auch in Moskau Scharen gebildeter junger Städter gegen die alten, korrupten autokratischen Regimes auf

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die Straße getrieben haben. Überall sind sie mehr oder weniger gewaltsam erstickt, von ultranationalistischen oder fundamentalistischen Seitenströmungen oder Gegenbewegungen überspielt oder von oligarchischen Interessen­ gruppen ausgenutzt worden – bis die gerechte moralische und soziale Empörung und die authentische demokratische Auflehnung, die am Anfang gestanden haben, fast schon in Vergessenheit geraten sind. Geblieben ist das Gespenst dieser Farbenrevolutionen, das die Potentaten aller Länder heute in ganz ähnlicher Weise verfolgt wie das Gespenst einer roten, demokratischen und sozialen Revolution 1848/49 die alten Regimes Europas. UMWÄLZUNG UND RESTAURATION Was ist und was war nun aber eigentlich eine Revolution in einem politisch und gesellschaftsgeschichtlich bedeutungsvollen Sinn? Auf welche Zeiten und Ereignisse bezogen hat man sogar von einem »Zeitalter der Revolutionen« gesprochen? Wo ist in diesem Bild der Platz der russischen Revolutionen von 1905 und 1917? »Mehr als in jeder anderen Epoche war Politik im 19. Jahrhundert revolutionäre Politik«, schreibt Jürgen Osterhammel in seiner Geschichte dieses langen Jahrhunderts »Die Verwandlung der Welt«1 – ein Titel, der natürlich selbst eine globale Revolution, eine Umwälzung im allerweitesten, weltrevolutionären Sinne anzeigt, deren Pathos, wenn schon, in diesem zivilisationsgeschichtlichen Resultat liegt. Das ist nun allerdings genau jene Erweiterung des Revolutionsbegriffs, die zuerst Karl Marx in seinem »Kommunistischen Manifest« vorgenommen hat, als er die Entwicklung der modernen Produktivkräfte und bürgerlichen Produktionsverhältnisse, vor allem auch in ihrer weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Ausdehnung, die größte Revolution genannt hat, welche die Menschheit bis dahin gesehen habe. Eine von den arbeitenden Klassen und Menschen getragene sozialistische Revolution würde an diese bürgerlich-­ kapitalistische Revolution anschließen müssen, um aus der von primitiver Ausbeutung und Gewalt geprägten »Vorgeschichte« in die eigentliche, d. h. zu einer höheren Zivilisation fähigen Geschichte der Menschheit einzutreten. Damit ging Marx einen wesentlichen Schritt über liberale Historiker seiner Zeit, wie etwa Barthold Niebuhr in Deutschland oder François Guizot in Frankreich, hinaus, die mit Blick auf die Trias der englischen, der amerikanischen und der französischen Revolutionen von 1688 bis 1789 bereits von einem »Zeitalter der Revolution« gesprochen hatten. Marx erweiterte den historischen Horizont über die Erhebungen von 1830 und 1848 hinaus auf die ungleich größeren, radikaleren sozialen und politischen Umwälzungen,

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Zäsuren — Analyse

1  Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, Abschnitt X: Revolutionen, S. 736–817 (Zitat: S. 736).

deren Motor die Industrialisierung und Globalisierung selbst sein würden. Der Blick des heutigen Historikers auf dieses »Zeitalter der Revolution« muss wiederum mindestens bis 1919/20 reichen, als im Zuge »der nahezu weltweiten Krise am Ende des Ersten Weltkriegs einige der ältesten und machtvollsten Staatsorganisationen von der historischen Bildfläche« verschwanden.2 Jürgen Osterhammel hat drei sukzessive Wellen identifiziert, die dieses »Zeitalter der Revolution« ausgemacht haben: eine erste Welle der Unruhe rings um einen »revolutionären Atlantik«, in dem zwischen 1765 und 1830 Amerika, England und Frankreich um die Vorherrschaft kämpften; eine zweite Welle zwischen 1847 und 1865, die bereits eine globale Dimensionen hatte und die zentraleuropäischen Revolutionen von 1848/49 mit dem chinesischen Bürgerkrieg (der Taiping-Revolution), der indischen »Großen Meuterei« (Great Mutiny) von 1857 und dem Bürgerkrieg in Amerika 1861–65 verknüpfte; und schließlich eine dritte Welle »eurasischer Revolutionen«, die von Japan mit seiner Meiji-Restauration in den 1870er Jahren ausging und 1905 Russland, 1907 den Iran, 1908 die Türkei, 1911 China und 1917 dann wieder Russland erreichte. Was in dieser betont nüchtern-zivilisationsgeschichtlichen Perspektive allerdings tendenziell verschwindet, ist das Auratische, das Faszinosum, das von Anfang an schon im Begriff der Revolution lag – gerade in seiner Doppeldeutigkeit, die in einer reinen Fortschritts-, Emanzipations- oder Modernisierungsperspektive nicht aufgeht. Bekanntlich tauchte der Neologismus revolutio, ein den Römern unbekannter Begriff, zuerst in Nikolaus Kopernikus’ epochemachender Schrift »De Revolutionibus Orbium Coelestium« von 1543 auf, welche die ewig sich wiederholende »Rückkehr« der Planeten zu ihrem Ausgangspunkt beim Umlauf um die Sonne beschrieb, ein System von »Kreisbewegungen der Himmelskörper«. Von einer »kopernikanischen Wende«, einem Umsturz aller hergebrachten Weltvorstellungen konnte dabei zunächst keine Rede sein. Fast im Gegenteil: Es handelte sich um einen Versuch, die Welt von Neuem in ein ewiges, in sich ruhendes Modell zu fassen. Und wie Kopernikus waren auch die nachfolgenden großen Astronomen dieser frühen europäischen Neuzeit – von Galilei über Tycho Brahe und Kepler bis Newton – immer zugleich oder sogar zuallererst Astrologen, Mythologen und Theologen auf der Suche nach der »Weltharmonik« (Kepler) oder nach dem »Sensorium Gottes« (Newton). Eher unmerklich, fast wider Willen, brachte das wachsende Wissen um die physische Welt eine Verschiebung aller menschlichen Zeit-, Welt- und Geschichtsvorstellungen mit sich. Mit der Erkenntnis der stetigen, unab2  Ebd.

geschlossenen, keinem Heils- und Schöpfungsplan Gottes gehorchenden Gerd Koenen  —  Über Revolutionen

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Evolution der natürlichen Welt und damit auch der Geschichtlichkeit des Menschengeschlechts selbst konnte erst der viel weitergehende Gedanke aufkommen, dass es einen in eigener Verantwortung zu wählenden Weg mit Gabelungen und Alternativen geben könne und somit etwas wie einen durch vernünftiges Handeln gestaltbaren Fortschritt. In diesem Sinne bedeutete erst die »Entdeckung der Zukunft« eine wirkliche, kopernikanische Wende des Zeitbegriffs und der Weltvorstellungen3 – eine Wende, die sofort einen metaphysischen Schwindel hervorrief, einen horror vacui gegenüber der Offenheit der Situation. Das zeigte sich am deutlichsten eben am Gebrauch des Begriffs »Revolution« bei seinem Hinüberwandern aus der Astronomie in die politisch-soziale Welt. Wo er inmitten der Religions- und Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts – noch eher sporadisch – auftauchte, dort tat er dies zunächst in unmittelbarer Analogie zum Lauf der Sterne und als Teil eines universellen Schicksalszusammenhangs. Dabei scheinen es vor allem konservative, »gegenrevolutionäre« Autoren gewesen zu sein, die den Begriff in polemischer Absicht in den politischen Sprachgebrauch einführten. So war in einem Poem aus der Zeit des englischen Bürgerkriegs von »einem seltsamen Schwindel oder Delirium des Hirns« die Rede, von dem die Menschen seit den Umstürzen der himmlischen Weltordnung ergriffen worden seien, einer Verwirrung der Geister, die sie in politische Revolutionen getrieben habe, worin das Unterste nach Oben gekehrt würde.4 Ebenso gut konnte der politische Begriff der Revolution eine konservative Bedeutung annehmen. Schließlich war revolutio aus revolvere gebildet und bedeutete wörtlich das Zurückdrehen einer Entwicklung oder die Rückkehr in einen ursprünglichen Zustand. Die offizielle Rede von einer Glorious Revolution in England meinte deshalb gerade nicht, einem modernen Verständnis folgend, den eigentlich revolutionären Akt: die Hinrichtung Karls I. 1649 und die zeitweise Übernahme der Macht durch das Parlament bzw. Oliver Cromwell. Genau umgekehrt bezeichnete sie die schrittweise erfolgende Restauration einer parlamentarisch neu legitimierten, durch die Bill of Rights neu konstituierten monarchischen Gewalt im Jahr 1688/89. In diesem Sinne sagte Thomas Hobbes als Anwalt einer starken, monarchischen Ordnung über die englische Revolutionsperiode: »I have seen in this revolution a circular motion.«5 Alles hatte sich einmal im Kreis gedreht und so geendet, wie es enden musste – dem antiken Muster des »Kreislaufs der Staatsformen« folgend,

3  Vgl. etwa Lucian Hölscher, Die Entdeckung der Z ­ ukunft, Frankfurt a. M. 1999. 4  Siehe Robert Heath, Clara­ stella (1650), hier zit. nach Melvin J. Lasky, Utopie und Revolution. Über die Ursprünge einer Metapher oder Eine Geschichte des politischen Temperaments, Reinbek 1989, S. 262.

von der Aristokratie über die Monarchie und Oligarchie zur Demokratie, zur Ochlokratie und Tyrannis, aus der dann am Ende wieder eine neue aristokratische Ordnung hervorgehen würde.

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Zäsuren — Analyse

5  Thomas Hobbes, Behemoth or the Long Parliament, London 1889, S. 214.

Auch die Französische Revolution lebte anfangs noch ganz aus diesem, wenn man so will, restaurativen Impuls. So rühmte gerade der radikalste unter den sogenannten Gründervätern der USA , der englische Autodidakt und Freigeist Thomas Paine, in seiner Grundsatzschrift »Rights of Man« von 1791 die Amerikanische wie die Französische Revolution als Neugründungen aus dem Geist einer echten »Gegenrevolution« – gegen den Verfall und die Korruption ihres jeweiligen Ancien Regime: »Was man früher Revolutionen genannt hat, war wenig mehr als ein Wechsel von Personen […]. Was wir jetzt in der Welt sehen […], ist die Wiederherstellung der natürlichen Ordnung der Dinge, ein System von Prinzipien, die ebenso universell sind wie die Wahrheit.«6 Die »Menschenrechte« waren also nichts Neues, sondern die Wiederherstellung eines uralten, vor allen Rechtssetzungen existierenden, unveräußerlichen Naturrechts aller Menschen. Allein das Alte und Ewige, das »Natürliche« oder Göttliche konnte als Legitimation des Neuen, Unerhörten, nie Dagewesenen dienen. Aus sich selbst, aus dem bloßen, freien Entschluss ihrer Bürger heraus vermochten eine Revolution und die von ihr begründete, neue staatliche Ordnung sich nicht zu legitimieren – und je radikaler diese Neugründung war, umso weniger. DIE REVOLUTION MACHT DIE REVOLUTIONÄRE Daher hat sich Hannah Arendt zufolge die Bedeutung der Amerikanischen und der Französischen Revolution erst in dem Moment gezeigt, als sie das ursprüngliche Vorhaben einer Restauration oder Reformation aus ihren eigenen, inneren Dynamiken heraus überschritten und ihre Führer zum ersten Mal ein Bewusstsein davon entwickelten, dass »es das absolut Neue auch im Politischen geben könne«; das »ungeheure Pathos des neu angebrochenen Zeitalters« sei »bei den Männern der Französischen wie der Amerikanischen Revolution … überhaupt erst zum Vorschein (gekommen), als sie selbst sehr gegen ihren Willen an einen Punkt gelangt waren, von dem es kein Zurück mehr gab«.7 Noch Anfang 1791 hatten weder Robespierre noch Saint-Just, um nur diese beiden Zentralfiguren der späteren Schreckensherrschaft zu nennen, sich in der Frage der Staatsform – Republik oder (konstitutionelle) Monarchie – fest6  Thomas Paine, Rights of Man, Part 2, Introduction, London 1792, S. 2 (eigene Übersetzung).

legen wollen und leidenschaftlich die Abschaffung der Todesstrafe gefordert. Erst die von der missglückten Flucht des Königs im Sommer 1791 ausgelöste Folge von Ereignissen, die mit der Verurteilung und Hinrichtung Lud-

7  Hannah Arendt, Über die Revolution, München 1965, S. 50 u. S. 56 f.

wigs XVI. im Januar 1793 als eines Rebellen gegen den eigenen Staat endete, und zwar vor der bedrohlichen Kulisse einer Invasion feindlicher Armeen und Gerd Koenen  —  Über Revolutionen

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Zäsuren — Analyse

Gerd Koenen  —  Über Revolutionen

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einer englischen Seeblockade, begleitet von wachsenden sozialen und politischen Spannungen im hungernden Paris wie zwischen Zentralmacht und Provinzen – erst all diese Entwicklungen und Umstände trieben die zentristischen, ordnungsfanatischen Jakobiner schließlich dazu, sich unzweideutig und prinzipiell für die Republik, die Volkssouveränität, die Mobilisierung der Massen und damit für den Terror gegen die »Feinde des Volkes« und für eine (vage) »soziale Revolution« zu erklären, die für einen kurzen Moment bereits prä-totalitäre Züge trug. Bevor die Revolutionäre die Revolution machten, machte die Revolution somit die Revolutionäre. Das könnte man für den Großteil der russischen Revolutionäre von 1917 auch sagen. Für sie alle bedeutete die von niemandem ursprünglich geplante, geschweige organisierte, sondern fast wie ein sozialer Naturprozess in Gang gekommene Revolution eine Reihe umstürzender, transformativer Erfahrungen. Dazu gehörte das Physische, Energische, buchstäblich Elektri­ sierende des Auftritts der Massen selbst auf der historischen Bühne – einer Bühne, die das imperiale Zentrum der Autokratie mit ihren Emblemen und Insignien, Palästen, Kasernen und Zwangsinstituten auf denkbar effektvolle Weise lieferte. Zu Recht erschien der Sturz einer 300-jährigen Autokratie binnen drei Tagen als unerhörte Beschleunigung und Verflüssigung der Geschichte selbst. Naturmetaphern drängten sich auf: von Sturmgewittern und Flutwellen, Erdbeben oder Vulkanausbrüchen – Phänomene, die von Alters her als Zeichen galten, als Walten der Nemesis oder Schicksalsgöttin, welche die Hybris der Herrschenden strafte und das Recht wiederherstellte. So hieß der Symbolist Alexander Blok 1918 die Revolution weniger als ein lichtes Hoffnungszeichen des Künftigen denn »als verdiente Vergeltung für die sozialen Sünden der Vergangenheit« willkommen, als reinigende Sintflut: »Sie ist der Natur verwandt. Wehe jenen, die von einer Revolution erwarten, dass sie nur ihre eigenen Träume erfüllt […]. Eine Revolution bringt wie der Orkan, wie der Wirbelsturm stets etwas Neues und Unerwartetes. Viele werden grausam getäuscht, oft reißt der Sog die Würdigeren in die Tiefe, während die Unwürdigen häufig wohlbehalten trockenes Land erreichen; das sind jedoch Kleinigkeiten, die weder die Hauptrichtung der Sturzfluten noch ihr mächtiges, betäubendes Tosen ändern können.«8 Diese Textpassage verrät etwas vom Gefühl der Überwältigung, dem nicht nur passiv teilnehmende Beobachter wie Blok unterlagen, sondern auch diejenigen, welche die revolutionären Prozesse scheinbar aktiv steuerten und vorantrieben. Was da fast über Nacht und verblüffend leicht durch die Initialaktionen oft nicht einmal sehr großer, ad hoc zusammengelaufener

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Zäsuren — Analyse

8  Alexander Blok, Intelligenz und Revolution, in: Ausgewählte Werke, hg. von Fritz Mierau, Berlin 1978, S. 167–180 (Zitat: S. 171).

Menschenmassen (diffus empörter Bürger, Töpfe schlagender Frauen, streikender Arbeiter oder meuternder Soldaten) weggeschwemmt wurde, war eben nicht nur ein »altes Regime«, sondern eine ganze, überkommene Lebensordnung, die ihre sozialen Funktionen zwar schon weitgehend verloren, gleichwohl aber den Tonus des sozialen Lebens noch entscheidend geprägt hatte. Deshalb nahmen die großen Revolutionen zunächst stets die Form einer »Involution« an: einer Rückbildung oder eines akuten Versagens der inneren Organe des gesellschaftlichen Stoffwechsels. Das Klima der allgemeinen Verunsicherung führte zu einer Abwärtsspirale aller sozialökonomischen Produktions- und Austauschverhältnisse, zu einem Zusammenbruch der Kreditbeziehungen im finanziellen wie im übertragenen Sinne des Wortes und damit zu einem Rückfall in die Natural- und Tauschwirtschaft – wie archetypisch in Russland im Jahr 1917. Dabei sind die beiden russischen, oder richtiger: russländischen Revolutionen von 1905 und vom Februar/März 1917 im Grunde die beiden einzigen, die ihrem arche- oder idealtypischen Begriff annähernd entsprechen – mehr als die Französische Revolution von 1789 selbst. Jedenfalls waren sie die beiden größten, authentischsten Massenaktionen, die es jemals zuvor und jemals seither gegeben hat. Sie trugen, wie Rosa Luxemburg 1905 sagte, nicht nur »den ausgeprägtest proletarischen Charakter«9 von allen bisherigen politischen und sozialen Auflehnungen dieser Art; sondern zugleich kulminierte in ihnen auch eine sozial breit gelagerte zivilgesellschaftliche Aufbruchsund Aufstiegsbewegung. Dabei waren sie von einer Explosion kultureller und künstlerischer Potenziale begleitet, die Russland fast über Nacht sowohl zu einem Land der Revolution als auch der Klassik und der Avantgarde par excellence machten. Aber seltsam oder nicht: gerade diese beiden, ihrem modernen, emphatischen Begriff am ehesten entsprechenden russländischen Revolutionen sind so ziemlich die vergessensten von allen – so als hätten sie von Anfang an im Zeichen ihres unabwendbaren Sturzes in den Glutofen des Roten Oktober 9  Rosa Luxemburg, Die Revolution in Russland; Artikelserie in der Neuen Zeit, hier zit. nach Klaus Mayer: Die russische Revolution 1905 im deutschen Urteil, in: Uwe Liszkowski (Hg.), Russland und Deutschland, Stuttgart 1974, S. 269 f. 10 

Engels an Marx, 27. Februar 1851, in: MEW 27, S. 190.

der Bolschewiki und des damit eröffneten Bürgerkriegs gestanden, in dem sie dann fast spurlos verschwunden sind. BÜRGERKRIEG IM ZEICHEN DES WELTKRIEGES: DIE OKTOBERREVOLUTION 1917 Im Jahr 1851 schrieb Engels an Marx, er komme immer mehr dazu, eine Revolution als »ein reines Naturphänomen, das mehr nach physikalischen Gesetzen geleitet«10 werde, zu sehen. Ebendeshalb verharrten die beiden in Gerd Koenen  —  Über Revolutionen

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der Position einer splendid isolation gegenüber all den »Eseln und Schafsköpfen«, die glaubten, sie könnten aus freien Stücken »Revolution machen«. Von dieser Position aus versöhnten sie sich letztlich dann doch mit der Entstehung einer deutschen Sozialdemokratie, die nach einem Wort Kautskys eine »revolutionäre, aber keine revolutionsmachende Partei« war – und deren so sarkastisch gescholtener »revolutionärer Attentismus« an sich vollkommen plausibel war: Wenn die Geschichte selbst zu höheren Formen der Vergesellschaftung, zum Sozialismus, hindrängte, dann konnten sie, die unaufhaltsam aufsteigenden sozialdemokratischen Parteien in Deutschland und Westeuropa, auch in Erwartung einer reaktionären Sklavenhalter-Rebellion Gewehr bei Fuß stehen und öffentlich sagen: »Schießen Sie gefälligst zuerst, meine Herren Bourgeois!«11 Stattdessen kam der Weltkrieg, der alle Erwartungen und Notwendigkeiten einer revolutionären Umwälzung in eine ganz neue Dimension katapultierte, zwischen den entwickeltsten Mächten des Zeitalters. Niemand hatte das so präzise erfasst wie Lenin, der vom ersten Tag des Krieges an dessen Verwandlung in einen Bürgerkrieg verfocht, einen russischen und einen internationalen. Das war ein Bellizismus und Machiavellismus größten Stils. 1916, während an den Fronten des Weltkriegs die verheerendsten Schlachten tobten, schwor Lenin seine wenigen verbliebenen Anhänger auf ein weltrevolutionäres Bürgerkriegstheater ein, das alle hergebrachten Horizonte des europäischen Sozialismus überschritt und in dem, so könnte man sagen, auch die ganze künftige Entwicklung der Kommunistischen Internationale und ihrer Mitgliedsparteien vorgezeichnet war. »Wer eine ›reine‹ soziale Revolution erwartet«, schrieb Lenin, »der wird sie niemals erleben«. Neben den oder statt Kämpfe von Fabrikarbeitern seien vielmehr im und nach dem Weltkrieg Aufstände unterdrückter Nationen und Nationalitäten, Angriffe halbproletarischer bäuerlicher Massen gegen Grundeigentümer und Kirche, Soldatenmeutereien gegen sämtliche angestammten Gewalten sowie Rebellionen kleinbürgerlicher Schichten mit all ihren »reaktionären Phantastereien«, wie sie in Russland von den antisemitischen Pogromisten der »Schwarzhunderter«, im Westen von den entstehenden, vorerst noch namenlosen »faschistischen« Bewegungen vertreten wurden, zu erwarten.12 Die Bolschewiki, hieß das, mussten diejenigen sein, die bereit wären, den Tiger der »dunklen«, anarchischen, sozialen und nationalen, vielleicht sogar reaktionären Leidenschaften der Massen zu reiten, vor denen die fortschrittliche Intelligenzija Russlands bei all ihrer Anbetung des narod, des einfachen Volks, in Wahrheit immer Angst hatte. Sie mussten diesem Tiger sogar die

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11  Engels, Der Sozialismus in Deutschland, in: MEW 22, S. 251 – Engels zitierte damit einen legendären Satz eines französischen Gardeoffiziers aus der Schlacht bei Fontenay, 1745. 12  Lenin, Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung, in: Lenin, Werke 22, S. 363 f.

Sporen geben, um die alte Welt vollends in Trümmer zu legen und inmitten dieses Tumults im eigenen Namen und ihrer (nicht näher bezeichneten) geschichtlichen Mission folgend nach der Macht zu greifen. So trug der Machtstreich der Bolschewiki im Oktober/November, den sie fast am toten Punkt der eigentlichen, revolutionären Massenbewegung von 1917 lancierten, in all seiner hyperrevolutionären Rhetorik auch Züge einer »Konterrevolution« – als welche viele der unterlegenen russischen Marxisten diese Usurpation auch sofort brandmarkten. Zugleich war das auch schon ein Akt der offensiven Eröffnung eines Bürgerkriegs im Zeichen des andauernden Weltkriegs, der durch den von Lenin gegen alle Widerstände in der eigenen Partei durchgedrückten Separatfrieden von Brest-Litowsk noch einmal in eine letzte, wahnwitzige Vernichtungsrunde trieb. Von allen Tigern, die Lenin in diesem historischen Vabanqueakt geritten hat, war das von 1915 datierende Zusammenspiel mit den Weltmachtambitionen des deutschen Imperialismus vielleicht das verheerendste, sowohl »reaktionärste« wie »revolutionärste« Element.13 REVOLUTIONEN PASSIEREN Mit Blick auf das weitere 20. Jahrhundert löst sich das Thema der Revolutionen in eine Vielzahl zweifelnder Rückfragen auf. Lebt das Auratische und ­Pathetische, das sie umgibt, nicht vor allem vom Sturz und Verschwinden autokratischer alter Regimes? Schon die Bolschewiki mussten sich ja mit ihrem nie stattgefundenen, später theatralisch re-inszenierten und bildhaft immer neu erfundenen »Sturm auf den Winterpalast« einen Popanz zurechtschnitzen, um sich den Anschein einer historischen Legitimation zu sichern. Kann man ihre handstreichartige, nächtliche Machteroberung im Oktober und anschließende militärische Rundumverteidigung in einem verheerenden Bür13  Zu diesem Spiel mit den Plänen des deutschen Imperialismus zur »Revolutionierung Russlands« vgl. Gerd Koenen, Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten, München 2005, S. 76–134 u. S. 158–204 sowie neuerdings Ders., Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus, München 2017, S. 666–677, S. 717–727, S. 739–743 u. S. 785–799. 14  Mao Tse-tung, Das ­chinesische Volk ist aufgestanden!, in: Ausgewählte Werke, Bd. V, Peking 1978, S. 13.

gerkrieg aber überhaupt sinnvoll mit dem Begriff der Revolution fassen? Die gleiche Frage könnte man freilich auch an den Einmarsch der Roten Arbeiterund Bauernarmeen Maos in Peking im Oktober 1949 richten. Wenn, dann bestand diese Revolution in einer radikalen Machtübernahme und -umwälzung, die jenseits aller sozialen Befreiungsrhetoriken vor allem darauf zielte, einen staatlichen Macht- und Gegenpol zu den kapitalistischen Weltmarktdynamiken und imperialen Weltrevolutionen des Zeitalters zu schaffen, um »China wiederaufzurichten«14, wie Mao 1949 sagte. Das ist nun allerdings etwas ganz anderes als die optimistische Annahme der europäischen Sozialdemokraten und Marxisten vor 1914, wonach die Schübe der Globalisierung, Industrialisierung, Technisierung, Urbanisierung, Organisierung usw. die primären Umwälzungen oder Revolutionen Gerd Koenen  —  Über Revolutionen

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seien, die eine entwickelte Demokratie, eine vielseitige Emanzipation und einen künftigen Sozialismus in ihrem Schoße tragen müssten. Die beiden Weltkriege waren stattdessen »Weltrevolutionen« ganz anderer, unerhörter Art, und die Umgestaltung der Weltkarte in einer Serie von Kriegen, Bürgerkriegen und Mächtediktaten 1919/20 war eine weitere, anschließende Weltrevolution, so wie die Weltwirtschaftskrise und die faschistischen Expansionen der 1930er Jahre, der Zweite Weltkrieg und die Nachkriegsordnung von Jalta und Potsdam es ebenfalls waren; und noch einmal dann die endemischen Kriege und Bürgerkriege, in denen im Zuge der Dekolonisierungen der 1950er bis 1970er Jahre noch einmal Dutzende neuer Staaten entstanden sind. In diesem Umfeld haben gerade die kommunistischen Machteroberungen des 20. Jahrhunderts dem Doppelcharakter von Revolution und Restauration, der auch alle früheren Revolutionen schon gezeichnet hat, in besonderer Weise entsprochen; und in alten Reichsgesellschaften wie in Russland oder in China umso mehr. Wer sagt denn auch, dass die Massen, die per Definition das Subjekt revolutionärer Umbrüche sind, nicht von ebenso viel progressiven wie regressiven Motiven inspiriert sind, wie sie im historischen Begriff einer Revolution auch immer enthalten waren? Wenn man das deterministische Element aus Engels’ oben zitierter Formel von Revolutionen als einer Art Naturphänomen einmal beiseitelässt, kann man mit dieser nüchternen Formel vielleicht ganz gut zurechtkommen: Ausbrüche revolutionären Charakters passieren einfach, meistens eher unvermutet; niemand hat sie zunächst gemacht oder gesteuert, und die Ängste der sich allenthalben wieder etablierenden neo-autoritären Regimes vor den »Farbenrevolutionen« sagen noch immer etwas über die Bedeutung solcher demokratischen Ausbrüche, von denen, oft vermittelt oder verspätet, letztlich doch immer etwas bleibt – und wäre es auch nur im mind-set ihrer Beteiligten. Dass sie, so hochherzig sie auch immer gestartet sind, so bestürzend wehrlos gegen Usurpatoren aus den eigenen Reihen sind, dass sie Furien einer Anomie, einer Anarchie, eines Terrors in sich bergen, die schlimmer sein können als alles, wogegen sie sich ursprünglich gerichtet haben, ist allerdings ebenfalls ein gesichertes Erfahrungswissen, und nun auch schon aus der Welt des 21. Jahrhunderts, in der wir leben.

Gerd Koenen, geb. 1944, ist Historiker und ­Publizist mit Schwerpunkt auf der Geschichte der alten und neuen Linken, der deutsch-russischen Beziehungen und des Weltkommunismus. Sein ­aktuelles Buch: »Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus« (C.H. Beck, 2017).

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Zäsuren — Analyse

1873 – 1923 – 1973 KRISENDRAMEN IM 50-JAHRE-TAKT? ΞΞ Franz Walter Mittlerweile winken die meisten Sozialwissenschaftler, Ökonomen und Historiker süffisant ab, wenn in einer Debatte von historischen Zyklen die Rede ist. Anfangs reagierten die diversen Wissenschaftsdisziplinen und publizistischen Kommentatoren noch elektrisiert, als 1926 der russische Ökonom N ­ ikolai Dmitrijewitsch Kondratjew seine Entdeckung von den langen, rund ein halbes Jahrhundert währenden Wellen in der wirtschaftlichen Entwicklung der industriell-kapitalistischen Welt publik machte.1 Dass sich die Geschichte der von Menschen organisierten Produktion und Handelsbeziehungen ähnlich wie seit ewigen Zeiten die Natur nach einem festen Rhythmus vollziehe, dass auch hier die Sonne am Morgen den Tag eröffne, um die Mittagszeit im Zenit stehe und mit der Abenddämmerung das Ende des Tages einläute, klang für viele nachgerade beruhigend, dabei durch und durch plausibel, da es den Alltagserfahrungen entsprechend erklärte, was sonst so fern, unüberschaubar, bedrohlich geheimnisvoll geblieben wäre. Der gesellschaftliche Gang ließ sich mit den Schrittfolgen der Natur parallelisieren.2 Hier wie dort lösten 1 

Siehe Nikolai D. Kondratjew, Die langen Wellen der Konjunktur, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 56 (1926), S. 573–609. 2  Vgl. Ludolf Herbst, Komplexität und Chaos. Grundzüge einer Theorie der Geschichte, München 2004, S. 137. 3  Vgl. Arndt Hoffmann, Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie. Mit zwei Studien zu Theorie und Praxis der Sozialgeschichte, Frankfurt a. M. 2005, S. 190. 4  Siehe Manfred Neumann, Zukunftsperspektiven im Wandel, Tübingen 1990, S. 20 f. 5  Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München 1963.

sich offenkundig Frühlingsgefühle und Herbstmelancholien, Aufbrüche und Erschöpfungen, öffentliches Engagement und privater Rückzug in verlässlicher Regelmäßigkeit ab. Die Ökonomie determinierte die konjunkturellen Zyklen, die dann gleichwohl in die anderen Bereiche von Staat, Politik und Kultur hineinragten.3 Doch rückte innerwissenschaftlich bald die Skepsis an die Stelle der Sympathien für solche Erklärungsmodelle – gewissermaßen ganz im Sinne des Zyklus, dessen Existenz nun angezweifelt wurde.4 Die universitären Ökonomen stellten die Methodik ihres russischen Kollegen in Zweifel, monierten die mangelnde empirische Validität seiner Aussagen. Fortan galten Zyklenparadigmen als pure geschichtstheologische Spekulationen, bei denen man unmittelbar an den unglückseligen Oswald Spengler dachte, für den sich Kulturen bekanntlich stets im schematischen Ablauf von Wachstum, Blüte und Zerfall ereigneten, weshalb er nach dem Ersten Weltkrieg den »Untergang des Abendlandes« in seinem während der 1920er Jahre im deutschen Bürgertum ungeheuer einflussreichen Bestseller prognostizierte.5 Besonders die Protagonisten des Fortschrittsdenkens wollten seit den 1950er Jahren nichts mehr von einem fortwährenden Wechsel im Auf und Ab von Innovation und

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Stagnation, Emanzipation und Restauration, magischen Anfängen und entzauberten Schlussakten wissen, da sie einer jetzt fortlaufenden, stets höheren wissenschaftsbasierten Rationalität und Modernisierung im progressiven Entwicklungsprozess vertrauten. Doch hinterrücks gerieten zyklische Einteilungen und Interpretationsmuster immer wieder in die analytischen Erklärungen von Autoren des Gesellschaftsverlaufs – nicht zuletzt eben deshalb, weil diese Strukturierungsmodelle auch den Lesern ihrer Studien eingängig waren, da solcherlei Periodisierungen in Phasen von Blüte und Zerfall mit dem Leben, wie man es kannte, koinzidierten. Und immerhin hatte ein nicht unbedeutender Soziologe, Walter L. Bühl von der Universität München, der auf methodische und theoretische Präzision viel Wert legte, 1990 festgehalten, dass »erstaunlich« sei, »mit welcher Regelmäßigkeit trotzdem (jedenfalls in der Dritten und Vierten kondratieffschen Welle in Mittel- und Westeuropa) selbst die großen philosophischen Strömungen und der künstlerische Stilwandel diesem Zyklus folgen«.6 Insofern traut sich der Autor dieses Stücks beim Thema »Zäsuren«, wenngleich nur zögerlich, darüber zu schreiben, was ihm schon häufiger en passant – und natürlich ganz unempirisch – in den Sinn gekommen ist, dass nämlich im modernen Deutschland (und nicht nur hier) die großen unglücklichen, krisenverschnürenden und politisch extrem folgenreichen Jahre im Fluss der Zeitkontinuität im Abstand von exakt einem halben Jahrhundert auftauchten: 1873, 1923 und 1973. In diesen Jahren kulminierten vorangegangene Großtrends, brachen explo­ sionsartig ab, schufen Raum für etwas Neues – und das in einer jähen Intensität und Vielfalt, die den jeweiligen Zeitgenossen als brutaler Schock und radikale Erschütterung bisheriger Gewissheiten erschienen. 1873, 1923 und 1973 kamen nicht schlicht diese oder jene gesellschaftlichen, politischen oder ökonomischen Probleme auf; es änderte sich nicht lediglich dies oder das. In diesen drei Jahren standen plötzlich elementare Verfügbarkeiten über Besitz, Status, Normen, Lebenspläne brüsk zur Disposition. Über 1973 hat der Verfasser schon einiges publiziert: als den Beginn des Niedergangs der Sozialdemokratie, als Schlusspunkt des Nachkriegsbooms, als Jahr des signifikanten Zerfalls der klassischen industriegesellschaftlichen Landschaften und Arbeitergruppen, der prioritären Durchsetzung des tertiären Sektors an der Spitze der volkswirtschaftlichen Bedeutungsskala. Der Blick richtete sich dabei auf die vier autofreien Sonntage, die Erschütterung über die plötzliche Energiekrise, insgesamt auf die Tristesse und Verunsicherung der Republik im Herbst jenes Jahres, als die Deutschen keinen

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Zäsuren — Analyse

6  Walter L. Bühl, Sozialer Wandel im Ungleichgewicht. Zyklen, Fluktuationen, Katas­ trophen, Stuttgart 1990, S. 73.

Flutlichtspielen ihrer Bundesligavereine mehr im Stadion zuschauen konnten, als plötzlich Familien mit Hamsterkäufen begannen. Seit dem Herbst 1973 kollidierte die kollektive Erfahrung des vorangegangenen Vierteljahrhunderts mit den neuen ökonomischen und sozialen Entwicklungsschüben, die sich nunmehr vollzogen. Das Wachstum verschwand zwar auch in den folgenden Jahren nicht aus den modernen kapitalistischen Wirtschaften; aber es schwächte sich deutlich ab, verlief erratischer, verlor an Stabilität und Tempo. Die Massenarbeitslosigkeit, die man schon weithin durch das Regierungsmanagement antizyklischer Eingriffe für überwunden gehalten hatte, kehrte zurück und gewann, stärker als zuvor in der deutschen Industriegeschichte, an Dauer. Selbst in Phasen des Aufschwungs reduzierten sich die Arbeitslosenzahlen kaum noch. Im Gegenteil: Die neue Arbeitslosigkeit absorbierte beträchtliche Mittel aus den Sozialetats. Zwischen 1973 und 1983 verachtfachte sich die Summe der Zahlungen an Erwerbslose in Deutschland. Die Verschuldung des Staates stieg in dieser Dekade sprunghaft an; der Spielraum für Sozialpolitik als präventive Gesellschaftspolitik engte sich im gleichen Maße ein. Das untergrub die Grundlagen und Voraussetzungen des bisherigen sozialdemokratisch-­reformistischen Politikmodells.7 Überhaupt: »Die Geschichte des 20. Jahrhunderts war seit 1973 die Geschichte einer Welt«, so fasste es der britische Historiker Eric Hobsbawm zusammen, »die ihre Orientierung verloren hat«.8 Über 1973 soll es jedenfalls im Folgenden nicht ein weiteres Mal gehen, sondern um Geschehnisse und Prozesse exakt fünfzig bzw. hundert Jahre davor. 1873 erlebten die Deutschen nach dem euphorischen Taumel während der Reichsbildung ihren ersten großen Bankenkrach; binnen weniger Wochen war es vorbei mit dem überbordenden Zukunftsoptimismus der unmittelbaren Gründerzeit. Und 1923 geriet das Land in den Hexensabbat einer 7  Vgl. etwa das Kapitel »Die Zäsur. Das Jahr 1973«, in: Franz Walter, Vorwärts oder Abwärts? Zur Transformation der Sozial­ demokratie, Berlin 2010, S. 7–17. 8  Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Wien, S. 503.

gespenstischen Hyperinflation. So etwa hat man diese Jahre in ihren fünfzigjährigen Abständen in Erinnerung: als turbulente und aufgeregte Krisenjahre von epochaler Reichweite, da die Wirtschaft wankte, Erwartungen getrogen hatten, das Vertrauen in Institutionen des Staates und die Kompetenzen der Eliten in die Brüche ging. Das ist in der Regel zumindest die erste Assoziation zu sämtlichen großen Krisenjahren der Geschichte: Absturz, soziale Not, Pessimismus, Angst,

9  Vgl. Rudolf Vierhaus, Zum Problem historischer Krisen, in: Karl Georg Faber u. Christian Meier (Hg.), Historische Prozesse, München 1978, S. 313–329, hier S. 323 f.

Depression, Orientierungslosigkeit, Umwertung aller Werte, gesellschaftliche Desintegration, Legitimationsverluste, politische Radikalisierung.9 In je unterschiedlichem Maß war das alles auch in unseren drei Jahren – 1873, 1923 und 1973 – zu finden. Während aber der individuelle menschliche Franz Walter — 1873 – 1923 – 1973

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Zyklus mit dem Tod endet und die Prognose des (abendländischen) Untergangs, der Apokalypse, auch im geistigen Diskurs der hier beschauten Jahre kräftig zirkulierte, trat die deutsche Gesellschaft nicht von der Krise hinein in das letale Stadium. Im Krisendrama fanden nicht nur die kassandrischen Rufer oder nihilistischen Fatalisten ihre Rolle. Das Stück bot stets auch Entfaltungsmöglichkeiten für andere Stimmen und Figuren. Alles in allem: Analogien zwischen kollektiven Verhaltensweisen und Reaktionen während der drei Krisenjahre sind erkennbar; die Unterschiede in Perzeption und Aktion der jeweiligen Zeitgenossen sind aber mindestens ebenso auffällig und politisch gewiss relevanter. Und mit den Kontradieff’schen Zyklen korrespondierten die Krisenjahre allesamt nicht. Es bleibt der Fünfzig-Jahre-Abstand. Schauen wir an den Beispielen von 1873 und 1923 etwas genauer hin. GRÜNDERRAUSCH UND DEPRESSIONSKATER Als das preußisch-bürgerliche Deutschland in der Silvesternacht 1872 dem neuen Jahr entgegenprostete, hing der Himmel voller Geigen. Man lebte, wie es in dem superlativistischen Jargon jener frühen 1870er Jahre vielfach hieß, in den herrlichsten Zeiten.10 Die Einigung der Deutschen war unter dem großen Bismarck endlich erreicht; die entscheidenden Rivalen um die militärisch-politische Vorherrschaft in Mitteleuropa waren auf den Schlachtfeldern besiegt; und die Wirtschaft brummte. Alles war in Bewegung, unaufhörlich in steigende Höhen unterwegs, als Ausdruck temporeicher Modernität, stetigen Fortschritts, offenkundig unbegrenzten ökonomischen Wachstums. Überschwänglicher, von Zweifeln nicht gebremster Optimismus hatte das Bürgertum erfasst. Erst waren es wenige, dann mit jeder rasanten Kurssteigerung an den Börsen wurden es mehr, die nun fieberhaft, wie Beobachter beschrieben, erstmalig in Aktien investierten, jetzt eiligst dabei sein wollten, als im Gründer-Boom das wirklich große Geld bei geringsten Anstrengungen binnen Tagen, ja Stunden verdient werden konnte. Alles stand im Zeichen der Liberalisierung. Aktiengesellschaften konnten seit 1870 ohne staatliches Plazet gegründet werden; fast 1.000 neue Aktiengesellschaften konstituierten sich in den drei Gründerjahren. Etliche neue Banken öffneten ihre Geschäftsräume. Scheinfirmen und Spekulationsobjekte waren darunter zahlreich. Der Immobilienmarkt schien eine wahre Goldgrube zu sein. Dann kam der »Schwarze Freitag«, der 9. Mai 1873. Der Rausch verflog, der Kater setzte jäh ein – und blieb für viele Jahre. Der Börsencrash ging von Wien aus, aber schon im Jahr 1873 hatten sich die Finanzmärkte so weit

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Zäsuren — Analyse

10  Vgl. Wolfgang Zank, Vom Taumel in die Krise, in: Die Zeit, 07.05.1993.

globalisiert, die Spekulationsblasen derart transnational ausgedehnt, dass sich Abstürze auf den Aktienmärkten nicht auf die österreichische Kapitale beschränkten. Es dauerte nur ein wenig länger als in den Zeiten des Internets, als etwa im Jahr 2008. Doch im Sommer 1873 brachen auch in Paris, dann in London, im September schließlich in New York Banken zusammen. Im Oktober meldete die Quistorpsche Vereinsbank in Berlin ihre Zahlungsunfähigkeit.11 Rund 700 der zuvor gerade erst gegründeten 940 Aktiengesellschaften verschwanden mit einem Mal durch Insolvenz wieder von der Bildfläche.12 Wer hier in Aktien investiert hatte – und dazu gehörten im Ausgang der Hausse besonders unerfahrene Kleinanleger, die nicht rechtzeitig erkannten, dass die Zeit zum Absprung gekommen war –, verlor in nicht ganz seltenen Fällen das Gros seiner Ersparnisse, aus denen er doch ganz wie die in der Öffentlichkeit prunkvoll auftrumpfenden Finanzjongleure großen Stils mit praller Zuversicht eigentlich ein opulentes Vermögen hatte machen wollen. Der Crash war im Herbst 1873, nachdem in den Wochen zuvor die Kurse bereits geschwächelt hatten, in Deutschland angekommen, hier potenziert noch durch die dramatischen Zusammenbrüche in der Schwerindustrie.13 Als Chiffre dafür hat sich seither die Bezeichnung »Gründerkrach« eingebürgert – wobei man das Ereignis in der Literatur zunächst als Ausgangspunkt einer langen Depression, die den Zeitraum 1873 bis 1895 erfasste, charakterisierte. Doch ist man sich mittlerweile in der Forschung einig, dass von einer veritablen ökonomischen Depression nicht die Rede sein könne, da die empirischen Wirtschaftsdaten deutlich machten, dass sich dieser Zeit­abschnitt ebenfalls durch industrielles Wachstum ausgezeichnet habe – wenngleich 11 

Vgl. Hubert ­Kiesewetter, ­Industrielle Revolution in Deutschland. Regionen als Wachstumsmotoren, Stuttgart 2004, S. 87 f.

im Verhältnis zur überhitzten Konjunktur zuvor nun in abgekühlter, geminderter Dynamik. Nur: Die Zeitgenossen nahmen ihre Gegenwart damals ganz anders wahr, als die Wirtschaftshistoriker die Vergangenheit heute bilanzieren. Im Zeitkontext der 1870er Jahre drängte sich nicht das Bild von einer zwar nun-

12  Vgl. Werner Plumpe, ­Lehren aus dem Gründerkrach, in: Spiegel Geschichte, Bd. 4 (2009), S. 86–90. 13  Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1849–1914, München 1995, S. 104. 14  Vgl. hierzu und insge­samt Hans Rosenberg, Grosse ­Depression und Bismarckzeit, Berlin 1967.

mehr moderaten, aber doch unbestreitbaren Mehrung der wirtschaftlichen Produktivität auf, sondern die Imagination des Abgrunds.14 Ob gesellschaftliche Beunruhigungen sich zu einer tief sitzenden Krisenmentalität auswachsen können, liegt stets an den vorab errichteten Maßstäben der Zeitgenossen selbst. Immer ist es die Spannung aus von Erfahrungen genährten und nicht zuletzt durch Eilten in Aussicht gestellten hoffnungsträchtigen Erwartungen für die Zukunft und einer plötzlich ganz anders gearteten, fundamental enttäuschenden Realität, die Menschen erschreckt, frustriert, verdüstert, bitter und zornig macht. Franz Walter — 1873 – 1923 – 1973

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Das bürgerliche Deutschland hatte zwischen 1867 und 1873, nachdem schon die vorangegangenen Jahre ökonomisch höchst ertragreich ausgefallen waren, an einem historisch einzigartigen Boom mit geradezu märchenhaften Gewinnen teilgehabt. Der politische, ökonomische und weltanschauliche Liberalismus bildete in diesen Lebenskreisen folglich ein plausibles und in der Zeit höchst attraktives Deutungskonzept. Der Liberalismus warb für individuelle Eigeninitiative, Selbsthilfe, freie Märkte, uneingeschränkten Welthandel, Staatsabsenz in Wirtschaftsangelegenheiten und versprach als kollektives Entgelt dafür Freiheit, Selbständigkeit, Wohlstand, kulturelle Blüte und aufgeklärte Modernität im gesellschaftlichen Zusammenhang als Fundament für eine starke, geachtete Nation. Die glänzenden Produktionsergebnisse und üppigen Renditen in der Gründerzeit schienen das kühne liberale Projekt in materieller Hinsicht vollauf zu bestätigen. Aber dann stürzten die Aktienkurse ins Bodenlose. Die vom Liberalismus erfolgreich geweckten Erwartungen erwiesen sich, so schien es, als einziger Trug. Besonders diejenigen, die ohne intime Börsenkenntnisse im Finale des Aktienrausches in den Tanz um das Goldene Kalb hastig mit eingefallen waren, standen vor einem Trümmerhaufen. Wer unternehmerisch tätig war, sah auch in den nächsten Jahren noch die Preise seiner Produkte stagnieren oder gar fallen.15 Der sinistere Pessimismus der folgenden Jahre war nicht einfach als psychotisch oder paranoid abzutun. Dafür war der ökonomische Crash in Deutschland ein historisch zu neuartiges Ereignis. Nicht der gelassene Blick auf den »nächsten Zyklus« in einer besseren, mittleren Zukunft war das Normale, sondern chronische Furcht vor einem neuerlichen 1873, einem nochmaligen unbegreiflichen, offenkundig unkontrollierbaren Einsturz von Produktion und Finanzsystem.16 Ebendieses Gefühl, einer bedrohlich aus dem Nichts hervorwallenden Naturgewalt ohnmächtig ausgeliefert zu sein, war zunächst bestimmend für die lange Zeitspanne des bangen Unbehagens in der deutschen Gesellschaft während der zwei Jahrzehnte nach der Gründerkrise. DIE PRANGER WERDEN ERRICHTET Der Literaturwissenschaftler Peter Sprengel hat in seiner voluminösen »Geschichte der deutschsprachigen Literatur« für die ersten beiden Jahrzehnte des Kaiserreichs als sprachlich favorisiertes Kollektivsymbol von Autoren aus den verschiedenen Genres der Publizistik das Bild der »Flut« identifiziert.17 Die ungestüme Bautätigkeit, allen voran in Berlin, die massenhaften Wanderungsbewegungen von Ost nach West und natürlich der wirtschaftliche

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15  Vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte 1849–1914, S. 553. 16  Vgl. Hans Rosenberg, Machteliten und Wirtschaftskonjunkturen. Studien zur neueren deutschen Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte, Göttingen 1978, S. 187. 17  Siehe Peter Sprengel, ­Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870–1900, München 1998, S. 44 ff.

Kollaps 1873: All das schien den Menschen, jedenfalls den schreibenden, vortragenden und inszenierenden Interpreten zeitgenössischer Vorgänge, wie eine unberechenbare Flut über das Land zu kommen. Natürlich war es auch kein Zufall, dass sich im Herbst 1873 die Kirchen wieder stärker füllten. Viele genierten sich in diesen Monaten wegen der eigenen fieberhaften Gier, die auch sie auf dem Höhepunkt des Gründertaumels gepackt (und zu guter Letzt in die Irre geführt) hatte. Jetzt setzten die Bußpredigten und Episteln ein, die Klagen und Bigotterien über den Verfall von Sitte, Moral und Anstand. Vor allem aber begann die Hatz auf die Verantwortlichen des Übels, auf die Drahtzieher und Konspirateure, die hinter der Malaise stehen sollten – gleichsam diejenigen, die den Sturm entfacht hatten, der zur Flut führte, gegen die nun Dämme errichtet werden mussten.18 Vor den Dämmen wurden indes zunächst die Pranger errichtet. Die kollektive Anklage richtete sich gegen die Fahnenträger und Avantgardisten der Modernisierungsflut: die Liberalen im Allgemeinen, die Juden ganz besonders. In der Tat waren die Liberalen in den Jahrzehnten zuvor die – wenn auch gemäßigten – Wortführer von Fortschrittlichkeit, Privatinitiative, autonomer Bürgerlichkeit, freien Märkten gewesen. Nach dem Börsencrash von 1873 geriet der Liberalismus für Jahrzehnte in die Defensive. Die aufgeklärte Moderne, welche er als Zielmodell seines Tuns und Denkens ausgab, hatte mit 1873 ihre Strahlkraft eingebüßt. Nun verbanden viele in den bürgerlichen Lebenswelten die Moderne stattdessen mit Verderbnis, Verlusten, mit der Zersetzung von erprobten, Haltung und gute Ordnung stiftenden Werten. Niemand repräsentierte die Moderne, das Tempo von Fortschritt und Emanzipation so sehr wie ein großer Teil der urbanen Juden in Deutschland.19 Erst 1869 war die rechtliche Gleichstellung der Juden im Norddeutschen Bund zum Abschluss gekommen, nur kurz danach breitete sich als Folge der Gründerkrise ein neuer, aggressiver, bis dahin ungekannter organisatorischer, ideologisch aufgeladener Antisemitismus in der Mitte der deutschen Gesellschaft aus. Fielen die Aktienkurse, dann schoss die Zahl antisemitischer Aktivitäten in die Höhe – so lautete fortan eine Art Faust­regel zur Er18  Vgl. Fritz Stern, Gold und Eisen. Bismarck und sein Bankier Bleichröder, ­Frankfurt a. M. 1978, S. 607. 19  Vgl. Werner Jochmann, ­ esellschaftskrise und JudenG feindschaft in Deutschland 1870– 1945, Hamburg 1988, S. 14 ff.

klärung der Judenfeindschaft. Bemerkenswert war, dass es bei dem neuen Antisemitismus im Nachgang zur Gründerkrise nicht um das Ressentiment gegen eine fremdartige Gettogruppe, gewissermaßen gegen eine abgeschottete Eigenkultur oder Parallelgesellschaft mit abgrenzenden Bräuchen und Ritualen ging. Die Juden als Sündenböcke für Beschädigungen, welche die Modernisierung mit sich gebracht hatte, waren überwiegend assimiliert, bildeten quasi den Nukleus und Franz Walter — 1873 – 1923 – 1973

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Primus der Bürgerlichkeit.20 Noch Ende des 18. Jahrhunderts lebten 75 Prozent der deutschen Juden in randständiger sozialer Existenz; ein Jahrhundert später gehörten sechzig Prozent zum mittleren bzw. oberen Bürgertum.21 In Berlin waren es achtzig Prozent; über die Hälfte waren selbstständig und insgesamt brachten sie, deren Anteil an der Bevölkerung in der Reichshauptstadt bei fünf Prozent lag, fast ein Drittel des gesamten Steueraufkommens der Hauptstadt ein.22 Binnen weniger Generationen hatten sich die Juden in Deutschland mehrheitlich entpauperisiert, hatten die Chancen der Aufklärung, Modernisierung, Liberalisierung und Rechtsgleichheit beherzter als jede andere Sozialgruppe genutzt.23 Ebendas machte sie zum Hassobjekt all derer, die dergleichen nicht geschafft hatten, zurückgeblieben waren oder als weiterhin Privilegierte die neuen Konkurrenten – die Parvenüs, wie man sie schmähte – nicht in den eigenen exklusiven Verkehrskreis hineinlassen wollten.24 Interessant ist allemal, dass eifrige Assimilationsbestrebungen und berufliche Tüchtigkeit von Zugehörigen zunächst marginalisierter, fremd wirkender Gruppen keineswegs zu einer reibungslosen und freudigen Integration durch die Mehrheitsgesellschaft führen müssen, sondern im Gegenteil besonders ausgeprägte Missgunst und fanatisierte Schließungs­kampagnen hervorrufen können. JANUSKOPF DER POSTLIBERALEN ZIVILGESELLSCHAFT Reaktionen solcher Art findet man keineswegs nur oder vor allem bei sozial Abgehängten, den oft genannten deklassierten Verlierern gesellschaftlicher und ökonomischer Modernisierung. Der Antisemitismus, der sich mit der Gründerkrise wieder neu konstituierte, konnte nur deshalb von langer Dauer bleiben und jederzeit in entsprechenden Konstellationen revitalisiert, gar (eliminatorisch) radikalisiert werden, weil Pfarrer, Lehrer, Professoren, Studenten ihn mit der Autorität des Bildungsstatus im Organisations­kosmos einer neuen Zivilgesellschaft multiplizieren und verfestigen konnten.25 Antisemitische und rassenhygienische Schriften zierten die Bücherregale im akademischen Deutschland; in den studentischen Corps stand der Antisemitismus im Rang einer verbindlichen Norm. Und da die Bildungsbürger in großer Zahl die Führungspositionen in den neuen Vereinen und Verbänden, welche die liberale bürgerliche Gesellschaft nun hervorbrachte, besetzt hatten, da die Studenten nach der universitären Ausbildung erziehend, lehrend, schreibend beruflich tätig wurden, breitete sich darüber diese Norm systematisch über die zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit der artikulationsmächtigen Bildungsbürgerlichkeit in die verschiedensten gesellschaftlichen Sektoren aus.26

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20  Vgl. Fritz Stern, Das Scheitern illiberaler Politik. Studien zur politischen Kultur Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M, 1974, S. 293. 21  Vgl. Thomas Gräfe, ­ ntisemitismus in Deutschland A 1815–1918. Rezensionen – Forschungsüberblick – Bibliographie, Norderstedt 2007, S. 140. 22  Vgl. Heinz Reif, Adel, Aristokratie, Elite. Sozialgeschichte von Oben, Berlin 2016, S. 251. 23  Vgl. Götz Aly, Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800–1933, Frankfurt a, M. 2011, S. 94 ff. 24  Vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte. 1800–1866: Bürgerwelt u. starker Staat, München 1983, S. 254 f. 25  Vgl. Shulamit Volkov, Die Juden in Deutschland 1780–1918, Berlin 2000, S. 48 ff. 26  Vgl. Volker Ullrich, Die nervöse Großmacht. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs 1871–1918, Frankfurt a. M. 2007, S. 391.

Schon hier kehrte sich der Januskopf der oft allein in verklärtes Licht getauchten Zivilgesellschaft heraus. Die neuen freiwilligen Assoziationen brachten Einzelne für gemeinsame Vorhaben zusammen, förderten mithin bürgergesellschaftliches Engagement und Selbstinitiative. Aber ein kommunitär-solidarisches, republikanisches Gemeinwesen brauchte sich daraus nicht zu formieren. Im Gegenteil: Die zivilgesellschaftliche Mobilisierungsund Organisationsenergie vervielfältigte Dynamik, Disziplin und Durchsetzungsfähigkeit von Antisemitismus und Antiliberalismus erheblich. Der Konservatismus hätte dies gewiss nicht zugegeben, aber die von den Krisen der Modernen weitergetriebenen Fortschrittsschübe bewirkten auch eine Modernisierung der politischen Techniken im restaurativen Lager, das dadurch an plebiszitärer Schlagkraft erheblich zulegte. Motoren der neuen radikal-nationalistischen Zivilgesellschaft etwa wurden die Alldeutschen Vereinigungen, die Flotten- und Ostmarkvereine etc. Sie alle erhöhten die Politisierung und bewirkten eine antiliberale Demokratisierung der deutschen Gesellschaft. Die Wahlbeteiligung stieg mächtig an. Interessenverbände bildeten sich mit Massenmitgliedschaften, wellenartig ausgelöst von der Gründerkrise 1873.27 Die vielleicht agitatorisch-propagandistisch modernste Organisation dieser neuen Art war der agrarische »Bund der Landwirte«, in welchem die aristokratische, großgrundbesitzende Führungsschicht überraschend schnell die neue massengesellschaftlich-demokratische Lektion mitvollzogen und umgesetzt hatte: dass zur Durchsetzung der eigenen privilegierten Anliegen nunmehr plebiszitär in Bewegung zu setzende Fußtruppen aus den niederen sozialen Statuspositionen benötigt, erfasst und gesammelt werden mussten. Die antiliberale Zivilgesellschaft also band und vereinigte durchaus unterschiedliche Individuen und Sozialgruppen, befähigte diese zur gemeinschaftlichen Aktivität diesseits des staatlichen Appells. Denn sie verfügte über Integrationsideologien, die mittels negativer Abgrenzung funktionierten: gegen Juden und Sozialisten, in geringeren Teilen auch gegen die katholische Minderheit im Land. Diese Zivilgesellschaft knüpfte integrative Netzwerke – indes durch aggressive Desintegration und politisch-kulturelle Spaltung der Nation insgesamt. 27  Vgl. Hans-Peter Ullmann, Organisierte Interessen im Kaiserreich, in: Helmut Rumpler (Hg.), Innere Staatsbildung und gesellschaftliche Modernisierung in Österreich und Deutschland 1867/71 bis 1914, Wien 1991, S. 91–106, hier S. 92.

Die ausgegrenzten Lebenswelten zimmerten sich daher ihrerseits eigene zivilgesellschaftliche Enklaven, besonders die neue Arbeiterbewegung. Hier hatten sich in den 1860er Jahren zwei sozialistische Parteien herauskristallisiert, die sich spinnefeind waren. Auch für sie bedeutete das Krisenjahr 1873 eine Zäsur: Denn im wirtschaftlichen Einbruch rückten die Anhängerschaften durch gleiche Problemlagen allmählich zusammen, bis sie sich 1875 in Franz Walter — 1873 – 1923 – 1973

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der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands, wie die Sozialdemokratie damals parteipolitisch noch firmierte, vereinten. Auch in ihrem Umfeld entfaltete sich ein eigenes Milieu aus Sänger-, Sport, Wander- und Bildungsvereinen, ebenfalls mit einer Integrationsideologie, die von weltanschaulicher und klassenbezogener Distinktion gegenüber den bürgerlich-aristokratischen Pendants lebte und den Glauben an eine exklusive Mission ihrer selbst, des Proletariats, pflegte, was wiederum den rechten Teil der Zivilgesellschaft nach der Jahrhundertwende zur Bildung des »Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie« mit über 200.000 Mitgliedern in 700 Ortsgruppen stimulierte.28 Liberal war auch die sozialdemokratisch-zivilgesellschaftliche Teilkultur nicht. Aber ihren Ideologen und Organisatoren gelang, die antisemitischen Krisendeutungen, die anfangs durchaus auch in Arbeiterkreisen vagabundierten, zu korrigieren und mit Karl Marx, wie einfach oder verkürzt er auch rezipiert worden sein mochte, ökonomische Crashs, Deflationen und Stagnationen in Wirtschaftsprozessen aus den Bewegungsgesetzen des Kapitalismus statt als verschwörerische Ausgeburt einer fremden Ethnie oder Religion zu erklären. Folgerichtig hatte die Krise von 1873 bei den Theoretikern, Anführern und Schriftstellern der Sozialdemokratie keineswegs düster-depressive Stimmungen hervorgerufen, sondern im Gegenteil die heitere Zuversicht, in Bälde dem Zusammenbruch des bourgeoisen Ausbeutersystems und dem dann folgenden Sieg einer überlegenen, da planvoll gestalteten sozialistischen Produktionsweise beizuwohnen. Dass man vernünftigerweise künftig nicht einfach auf die Selbstheilungskräfte der Märkte vertrauen und ökonomische Krisenvorgänge nicht passiv hinnehmen dürfe, setzte sich als Überzeugung nach 1873 weit in der deutschen Gesellschaft durch, reichte bis zu den Nationalliberalen und galt nicht zuletzt für die Bismarck’sche Reichsregierung. Störungen des wirtschaftlichen Wachstums transferierten sich, wie zu beobachten war, im zivilgesellschaftlich teilhabenden Volk in Minderungen des Staatsvertrauens. Also reagierte der Reichskanzler fortan mit entschlossenem Griff, wenn die unsichtbare Hand der freien Märkte unerwünschte Ergebnisse zeitigte. Ende der 1870er Jahre ersetzten Schutzzollregeln das freihändlerische Credo. Die Unternehmer besonders der Schwerindustrie taten sich in Kartellen und Syndikaten zusammen. In beiden Fällen ging es darum, den Wettbewerb zu beschränken, die Erzeugnisse in Industrie und Landwirtschaft nicht den Schwankungen der Märkte und den Konkurrenten jenseits der Landes­g renze auszusetzen. Um sich überdies vor Revolten oder gar Revolutionen der vom Sozialismus imprägnierten industriegesellschaftlichen Unterschichten zu schützen,

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28  Vgl. Uta Jungcurt, ­Alldeutscher Extremismus in der Weimarer Republik. Denken und Handeln einer einflussreichen bürgerlichen Minderheit, Berlin 2016, S. 25.

etablierten die Regenten zusätzlich zu Repressionsgesetzen gegen die politische Repräsentanz der proletarischen Linken eine Sozialgesetzgebung, deren Idee und Modus bis in die Gegenwart Bestand haben. Noch bewegte sich solch kollektiver und von effizienten Bürokratien gestützter Solidarprotektionismus in bescheidenen Anfängen; aber die Voraussetzungen für Korporatismus und Interventionsstaatlichkeit, die in Deutschland seither modellhaft blieben, waren geschaffen.29 BABYLON DEUTSCHLAND Fünfzig Jahre darauf, im Jahr 1923, ähnelte die Stimmungslage in der deutschen Bevölkerung in einiger Hinsicht der Trübsal und Zukunftsverzagtheit im Jahr 1873. Aber vieles war doch anders. Das neue Jahr wurde diesmal durchaus nicht mit Frohsinn und praller Zuversicht begrüßt. »Vom neuen Jahr«, schrieb Anfang Januar 1923 vielmehr bissig der Schriftsteller Otto Flake, »kann man von vorn herein annehmen, daß es ebenso ekelhaft sein wird wie das vergangene.«30 Das vergangene Jahr hatte dem Land einen Winter­ beginn »mit unerlebt frühzeitiger Kälte und gänzlicher Desorganisation der Brennstoffverteilung« beschert, zudem »eine von Tag zu Tag nicht nur, nein von Stunde zu Stunde fortschreitende Teuerung im Tempo sprunghafter und unaufhaltsamer Höherentwicklung« und eine »ungeheuer verschärfte Spannung der innenpolitischen Gegensätze bei gleichzeitiger Aufdeckung neuer nationalistischer Mordkomplotte«.31 So hielt das an: Panik, Verzweiflung, schiere Not und Aufruhr grassierten jetzt deutlich forcierter als im Jahr der Gründerkrise. 1923 saßen den Deutschen alle Folgen des Krieges noch schmerzhaft in den Knochen; die militärische Niederlage wollte die Mehrheit im Volk nicht wahrhaben, schon gar nicht akzeptieren. Im Inneren der neuen Republik wüteten weiterhin kleine 29  Vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte 1849–1914, S. 566 f. 30  Otto Flake, Neujahrspredigt, in: Die Weltbühne, Jg. 19. (1923), H. 1, S. 1–3, hier S. 1. 31  Erich Mühsam, Tagebücher, Bd. 12, 1922–1923 (Eintrag 24.10.1922), URL: http://www. muehsam-tagebuch.de/tb/diaries. php [eingesehen am 12.03.2018]. 32  Stefan Zweig, Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt a. M. 2010, S. 359.

bis mittelschwere Bürgerkriege und Aufstände von ganz rechts bis weit links. Die Franzosen hatten das Ruhrgebiet – das Herz des industriellen Stolzes der Nation – besetzt; und die Flut der gigantischen, absurd erscheinenden Hyperinflation brach nun alle Dämme eines kalkulierbaren Geldsystems mit einer historisch beispiellos brachialen Wucht. »Nichts hat das Land«, so Stefan Zweig und mit ihm in vergleichbaren Wendungen etliche andere zeitgenössische Chronisten, die später auf den verheerenden Verlauf der deutschen Geschichte zurückblickten und nach Ursachen für das Desaster in den 1930er Jahren suchten, »so erbittert, so haßwütig, so hitlerrreif gemacht wie die Inflation.«32 Derart ist es auch im kollektiven Gedächtnis der deutschen Gesellschaft über Jahrzehnte haften geblieben. Nicht festgesetzt hat sich dort allerdings, Franz Walter — 1873 – 1923 – 1973

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was Jahrzehnte später Wirtschaftshistoriker mehrheitlich als Befund präsentierten: dass der Inflationsprozess bis in das Jahr 1922 hinein die durch Krieg wie Niederlage heftig angeschlagene deutsche Gesellschaft und Wirtschaft zwischenzeitlich reanimiert und befriedet hatte. Die Inflation zog im Frühjahr 1919 als »kraftvolle Lokomotive«33 in einen singulären ökonomischen Boom, der die sozialen Konflikte, die sich in der Revolutionszeit in erbitterte politische Gefechte übersetzt hatten, einigermaßen eindämmte.34 Während die Produktion in dieser Zeit in der Weltwirtschaft um 15 Prozent zurückging, wuchs sie in Deutschland um zwanzig Prozent an. Deutschland blieb durch seine inflationsbetriebene Sonderkonjunktur die Massenarbeitslosigkeit, die in den anderen westlichen Industrienationen zeitgleich drückte, erspart.35 In diesen vier Jahren einte die organisierten Gruppen des Öffentlichen Dienstes, der Arbeiterschaft, der Großindustrie und der Landwirtschaft ein gemeinsames Interesse an einem halbwegs gezügelten Inflationsprozess. Für die Landwirtschaft und die Besitzer von Produktionsmitteln galt das auch noch in der Zeit des extreminflationären Tsunamis, der 1923 durch das Land fegte. Für die meisten anderen Gruppen, für das Gros der Deutschen, spielte sich 1923 ein schreckliches, gespenstisches Drama ab. Jetzt schienen sie wirklich in den tiefsten Abgrund zu blicken, allen Boden unter den Füßen zu verlieren, ohne sicheren Halt und realistische Perspektive auf so etwas wie Normalität. Etliche der Sentenzen von 1873 tauchten wieder als Schlüsselbegriffe in der Publizistik auf, aber noch mehr und noch eindringlicher, man mag sagen: in inflationärer Häufung. Von einer fieberhaften Zeit war erneut allenthalben die Rede; die Metapher der Flut war zur Illustration eines permanenten Menetekels zurückgekehrt. Alles schien ständig im Fluss, ununterbrochen, aber ziellos vorantreibend.36 In der reißenden Strömung ging unter, wer nicht schnell genug an das Ufer gelangte, von dem jedoch kaum einer wusste, wo es denn eigentlich lag. Und mitten in diesem üblen Treiben erblickte man die kess auftrumpfenden Schieber, Spekulanten, Hochstapler, Schwindler und Parvenüs, die mit ihrem neureichen Übermut zynisch die Zurückgebliebenen verspotteten. Dies wurde der neue verhasste Sozialtypus in der Gesellschaft der Inflationsverlierer: der »Raffke«, der vorher selbst nichts hatte, nie viel war

33  Hans-Ulrich Wehler, Deutsche ­Gesellschaftsgeschichte 1914–1949, München 2003, S. 244. 34  Vgl. Gerald D. Feldman, Die Inflation und die politische Kultur der Weimarer Republik, in: Manfred Hettling u. Paul Nolte (Hg.), Nation und Gesellschaft in Deutschland. Historische Essays, München 1996, S. 269–281. 35  Vgl. Heinrich August Winkler, Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924, Berlin 1984, S. 373 ff. 36  Vgl. Hermann W. von der Dunk, Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 1, München 2000, S. 323 ff.

und konnte, jetzt aber, wo die Welt verrücktspielte und alles auf dem Kopf stand, mit schmutzigen Geschäften schnellen Reichtum auftürmte.37 Dieses Bild, schon 1873 oft verwendet, war nun 1923 allgegenwärtig, hielt sich und verband sich mit dem überlieferten Stereotyp, sodass Raffkes und Juden als Figuren weithin verschmolzen.

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37  Vgl. hierzu und insgesamt für das Folgende zu 1923 das großartige Buch von Helmuth Kiesel, Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918–1933, München 2017, S. 330 ff.

TAGEBUCH DER INFLATION Im Vergleich zu 1873 war die gesellschaftliche Atmosphäre in Deutschland gespannter, nervöser, gereizter. 1923 kamen mehrere große Probleme aus dem politischen System zeitgleich mit dem ökonomischen Kollaps auf, trafen auf eine Gesellschaft, die sich vielfach gedemütigt fühlte und ihrer gestrigen Orientierung heute nicht mehr sicher war, was sie zuweilen durch besonders dogmatischen Trotz zu überdecken versuchte. Die Mehrdimensionalität und Überlappung von Krisenlagen birgt stets explosiven Stoff. 1923 schienen – ob für Ansässige in der Provinz oder die Bewohner von Großstädten, für Menschen mit oder ohne exquisite Bildungszertifikate, für Bürger mit hohen wie niedrigen Ersparnissen – Ordnung, Sinn und Zusammenhang der Gesellschaft vollkommen aus den Fugen geraten zu sein. Wann immer man auf Tagebücher oder Briefe aus dieser Zeit stößt, liest man Einträge, in denen erst ratlos, dann entsetzt, am Ende fast ein bisschen fatalistisch, zuweilen allerdings auch sarkastisch der groteske Geld- und Preisexzess geschildert wurde.38 Nehmen wir etwa das Tagebuch der Autorin und Kunstsammlerin Thea Sternheim, die in zweiter Ehe mit dem Dramatiker Carl Sternheim verheiratet war.39 Am 30. April 1922 konstatierte sie noch einigermaßen nüchtern, dass sich die Preise seit Jahresbeginn verdoppelt und verdreifacht hätten, dass das Pfund Butter 1.500 Mark, das Brötchen dreißig Mark koste. Mit dem Herbst 1922 wandelt sich der Ton der Niederschrift. Am 19. November 1922 klagte sie bitter: »Die Preise steigen nicht täglich, sondern stündlich.« Bedrückt notierte sie jetzt auch die Auswirkungen der Hyperinflation auf das Leben ihrer Mitbürger. Im selben Tagebucheintrag vom November berichtete 38  Als Beispiel hierfür: Auszüge aus dem Tagebuch des Konrektors und Kantors August Heinrich von der Ohe aus den Jahren 1922/23, URL: https://kollektives-gedaechtnis. de/id-1918-bis-1933/articles/ auszuege-aus-einem-tagebuch-aus-den-jahren-1922–1923. html; Tagebuch des Landwirts, Metzgers und Schankwirts Viktor Walther aus Heubisch, URL: http://www.familientagebuch. de/viktor/kap034.html [beide eingesehen am 12.03.2018]. 39  Hierzu Thea Sternheim, Tagebücher, Bd. I: 1903–1925, hg. und ausgewählt v. Thomas Ehrsam u. Regula Wyss, ­Göttingen 2011, S. 599–654.

sie von »Teuerungskrawallen im Stadtinneren, Demonstrationen der Arbeitslosen«, bei denen ihr die »grüngelben Gesichter der Proletarier« aufgefallen waren, »die in zerfetzter Kleidung« kraftlos durch die Straßen gingen. Wenige Tage später sah sie die Läden geleert, halbwüchsige Proletarier »rudelweise zusammenstehend«. Ende Februar 1923 hielt sie fest, dass für die Butter jetzt 8.000 Mark, für ein Brötchen 150 Mark zu bezahlen seien. Etwas von den »eleganten Straßen« entfernt, begegneten ihr Menschen »mit schrecklich bekümmerten Gesichtern. Die Misere nimmt gespenstische Dimensionen an: Das ist Verhungern bei lebendigem Leib.« Im April empörte sich Thea ­Sternheim dann über die »Unsittlichkeit« der Warenpreise, da nun für ein einziges Ei 350 Mark auf die Ladentheke gelegt werden müssten. Im Juni reiste sie an den Bodensee. Als sie dort ankam, händigte man ihr für einen Dollar 30.000 Mark aus, nach wenigen Tagen im Hotel schon 100.000 Mark. Kurz darauf musste sie 180.000 Mark nehmen, um einen Dollar zu erhalten. Der Franz Walter — 1873 – 1923 – 1973

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Preis für ein Pfund Butter war mittlerweile bei 55.000 Mark angekommen, für ein Pfund Kaffee gar bei 100.000 Mark. Es musste daher wohl so kommen: »Diebstähle auf jedem Gebiet sind an der Tagesordnung.« Allmählich ging die Bitterkeit in Resignation, müden Überdruss über. Was half es denn, sich aufzuregen? »Die ersten Fünfmillionenscheine sind heraus«, protokollierte Sternheim am 5. August in ihrem Tagebuch. »Niemand ist sie zu wechseln imstande. Überhaupt ist alles zufällig.« Sieben Tage später brauchte sie nicht den Aberwitz der Preisentwicklung zu dokumentieren; denn bei der »üblichen Jagd nach Lebensmitteln« war wenig Beute zu machen: »Keine Butter, kein Ei« sei noch zu ergattern gewesen. Unter dem 7. September 1923 heißt es knapp: »Die Mark fällt stündlich, in den Abendstunden wird ein Dollar schon mit 35.000.000 gezahlt. Auf den Straßen defilieren die Bettler.« Über den 30. September erfahren wir, dass der Preis für ein Ei bei 8.000.000, für ein Pfund Butter bei 80.000.000 Mark angekommen sei. Eine kleine Sozialreportage verfasste die Autorin am 9. Oktober 1923: »Dresden ist ein stille Stadt geworden, in der der Fremde fehlt und der Einheimische jeden Einkauf auf ein Minimum beschränkt. Man ist vorneherein (und auch wir) außerstande Käufe über die Notdurft zu tätigen. Die Geschäfte stehn leer, ja sogar die Straßen leeren sich zusehends: wir sind da, wo ein Gang nach der Abnützung der Sohlen und das Lüften eines Zimmers nach dem Kohlenverbrauch berechnet wird. Für einen Dollar wird eine Milliarde Papiermark gezahlt.« Die Beschreibung des Alltags bekommt zum Schluss, in der zweiten Oktoberhälfte, schärfere sozialkritische Züge. Thea Sternheim erwähnte jetzt »Teuerungsrevolten« in allen Teilen des Deutschen Reichs. »Welch ein Wahnsinn unserer Gesellschaftsordnung«, machte sie ihrem Zorn schreibend Luft. Am 17. Oktober 1923 freute sie sich über die Aufführung des Dramas »Die Hose« von ihrem Ehemann am Neuen Theater in Dresden, erschrak jedoch über das abschließende »Pfeifen, Geschrei: ›Haut die Juden tot. Pfui pfui!‹«. Am 8. November musste sie schockiert registrieren, dass der Vorfall im Theater kein Einzelfall war, sich auf den Straßen ausgebreitet und einen politischen Träger gefunden hatte: »Pogrome in Berlin. Die nach Opfer suchende Volkswut stürzt sich auf die Juden, Plünderungen, Gewalttätigkeit und Bayern zu wachsenden Faszismus einmütig gewillt.« Sieben Tage später begann, was man kurz darauf das »Wunder der Rentenmark« nannte und was erleichtert als das Ende des hyperinflationären Spuks begrüßt wurde.

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BILDUNGSBÜRGERLICHER VERDRUSS Wer nicht sogleich die Juden zu Verantwortlichen für diesen Spuk machen wollte, wusste meist nicht recht, wie der Irrsinn des Jahres 1923 zu begreifen war. »Wir haben alle das Gefühl«, schrieb etwa der Ordinarius für Pathologische Anatomie und starke Mann der Medizinischen Fakultät an der Freiburger Universität, Ludwig Aschoff, Ende Juli 1923 an seine Kinder, »daß wir irgendwie betrogen werden. Aber wo sitzen die Betrüger? Es ist einfach scheußlich.«40 Anfang November gestand der rechtsliberale Professor abermals seine Ratlosigkeit ein: »Dabei weiß man nicht, ob Stinnes und die Großindustrie uns betrügt oder die Franzosen. Kein Mensch glaubt mehr dem anderen.«41 Dass man niemandem mehr über den Weg trauen könne, dass alle Ordnung, die einst tragenden und verbindlichen Kodizes für ein gesittetes und moralisch einwandfreies Leben den Deutschen abhandengekommen seien, bildete ein stetes Lamento gerade in den bildungsbürgerlichen Schichten des Jahres 1923. Ihre Zugehörigen hatten sich doch als große Lehrmeister humanistischer Tugenden verstanden, sich und ihre Familien zu Leistung und Sparsamkeit, Wahrheitssuche und Charakterbildung, Vernunft, Maß und Mitte angehalten. Davon waren sie fest überzeugt. Und nun tobten sich vor ihren Augen die Exzesse des Gegenteils aus, die wilden Eskapaden und Verwegenheiten derer, die auf Moral und Gesittung pfiffen, denen innere Werte und deutsche Treue völlig schnuppe waren, die – während viele Gebildete nun darbten – als bedenkenlose Hasardeure die Schwarzmärkte nutzten, um sich ihre Lager und Wohnungen mit luxuriösen Gegenständen vollzustellen, überdies Champagner in obszönen Mengen tranken und Hummer schlemmten, als andere elendig Hunger litten. »Die Tugenden des deutschen Bürgertums wurden damals hinweggeschwemmt«42, erinnerte sich später der Heidelberger Philosoph Karl Löwith. »Selbst der vierjährige Krieg hat weniger auflösend auf die Moral und das ge40  Ludwig Aschoff, Ein Gelehrtenleben in Briefen an die Familie, Freiburg i. Br. 1966, S. 308. 41  Ebd., S. 323. 42  Karl Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933, Stuttgart 2007, S. 62 43  Ebd. 44  Zweig, S. 357.

samte Leben gewirkt als dieser rasende Wirbel«43 im Jahr der Hyper­inflation. Immer wieder hörte man damals, was sich Abend für Abend in der Umgebung des Kurfürstendamms in schummrigen Bars bei angeblich abartiger Jazz­musik abspielen sollte: Orgien, die »selbst das Rom des Sueton«44 nicht kannte, Nackttänzerinnen, Transvestitenbälle, hemmungsloser Sex in Gruppen bis in den frühen Morgen hinein, befeuert durch Kokain, Morphium, Heroin – die Hauptstadt: ein einziger Sündenpfuhl, das neue Babylon, Stätte von Perversion und Dekadenz. Das erzählte man sich zwischen Memmingen und Husum bebend vor Abscheu oder lüsternem Neid, wer wüsste dies schon zu sagen, auf den Zusammentreffen der Pastoren, Gymnasiallehrer, Hochschulprofessoren und Verwaltungsjuristen. Franz Walter — 1873 – 1923 – 1973

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In der Tat hatte es eine Vielzahl von traditionellen Bildungsbürgern 1923 besonders hart getroffen, objektiv in materieller Hinsicht und subjektiv in ihrer Selbstdeutung als leitkulturelle Träger der Nation.45 Während sich die Besitzer von Ländereien und Produktionsstätten 1923 probat entschulden konnten, zerrannen die Ersparnisse der verbeamteten Akademiker in Windeseile. In den schlimmsten Wochen der Inflation, als in diesen städtischen Schichten ebenfalls der Hunger um sich griff, gingen sogar häufig all die oft ererbten wertvollen Accessoires, Kunstgemälde, Musikinstrumente, Teppiche, Porzellanteile und Vasen verloren, weil man sie auf dem Land in Bauernhäusern gegen Fleisch, Eier, Mehl, Milch und Gemüse eintauschte. Geld für das Studium der Kinder war plötzlich in den vornehmen Familien bildungsbürgerlicher Quartiere nicht mehr da; die Töchter und Söhne hatten sich, was als ungeheure Schmach empfunden wurde, als Werkstudenten zu verdingen, um die Aufwendungen für die Universität, Lehrbücher, Kost und Logis selbst aufzubringen.46 Und in nicht ganz wenigen Professoren- oder Juristenvillen zogen nun Untermieter mit ein, da sonst der Lebensunterhalt und die Führung eines großen Hauses nicht mehr zu bewältigen waren. Ian Kershaw gibt in seinem Buch »Höllensturz« die traurige Geschichte »eines älteren gebildeten Berliners« wieder, »dem seine Ersparnisse von 100.000 Mark zu anderen Zeiten einen recht angenehmen Ruhestand verschafft hätten, die jedoch nach dem Wertverlust der Mark gerade noch ausreichten, um ein S-Bahn-Ticket zu kaufen. Der Mann unternahm eine Rundfahrt um seine Stadt, kehrte in seine Wohnung zurück, schloss sich ein und starb dort den Hungertod.«47 Für die Gebildeten war 1923 eine echte Zäsur, eine veritable Erschütterung ihrer Lebensform und elitären Selbsteinschätzung der eigenen Rolle in der Gesellschaft. Das industrielle Wirtschaftsbürgertum entfernte sich von ihnen weit in Reichtum und Relevanz; die Differenz zu den Einkommensverhältnissen von Angestellten, Facharbeitern und gewerblichen Kleinbürgern hatte sich merklich geschmälert; im fragilen Selbstbewusstsein der Gebildeten fiel diese Distinktionsminderung besonders schlimm aus. Da die Bildungsbürger die Autoren schriftlicher Überlieferungen sind, die Verfasser historischer Bücher, belletristischer Zeitstudien, späterer Autobiografien, von in Archiven auffindbaren Tagebüchern, Briefen, Akten, Predigten, Pamphleten, sind sie es gewesen, die das, was man gewiss etwas unscharf »kollektives Gedächtnis« nennt oder auch als »Erinnerungsgemeinschaft«

45  Vgl. hierzu Wehler, Gesellschaftsgeschichte 1914–1945. 46  Vgl. Kiesel, S. 360.

bezeichnet, geformt haben. Für sie war das Jahr 1923 ein einziger Niedergang, ein ungeheurer Absturz, eine diabolische Auflösung einer zuvor sorgfältig gezimmerten Wertewelt, die Zerstörung jeglicher bürgerlichen Kultur.

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Zäsuren — Analyse

47  Ian Kershaw, Höllensturz. Europa 1914 bis 1949, München 2016, S. 146.

Sie, die Gebildeten, die sich doch immer den Interessen des Ganzen, der Volksgemeinschaft und Nation, geopfert hatten, waren enteignet und düpiert. Die Habe- und Taugenichtse von ehedem hingegen, die anstelle der großen und ewigen Prinzipien jetzt die Geschmeidigkeit, Wendigkeit, Bedenken­ losigkeit und Skrupellosigkeit des Augenblicks exerzierten, trumpften als Helden und Sieger in der tobenden Unordnung des Jahres 1923 auf 48 – das war der altbildungsbürgerliche Topos dieser Zeit und blieb es noch über mehrere Jahrzehnte. Die früheren Habenichtse und nunmehrigen Inflationsgewinner gehörten nicht zu den Meistern des geschriebenen Wortes, hinterließen somit keine schriftlichen Zeugnisse über ihre Sicht der Dinge in jener Zeit. Aber sie dürften ihre lukrative Betriebsamkeit von 1923 wohl in einem etwas anderen Licht betrachtet haben. Im Grunde hatten sie blitzschnell Märkte in ihrer ursprünglichen Form erkannt und zupackend genutzt. Sie sahen, was die Menschen an Waren brauchten, aber für das wertlose Papiergeld nicht mehr erhielten. Also besorgten sie bei den einen, was die anderen benötigten – und umgekehrt, ohne das Medium Geld zwischenzuschalten. Andere nutzten das Kreditsystem, um mit billigem Geld wertbeständige Objekte zu erwerben und sie später für solide Zahlungsmittel höchst gewinnbringend zu veräußern. Der Wirtschaftsjournalist Felix Pinner hat im März 1923 unter dem Pseudonym »Frank Faßland« eine scharfsinnige Porträtstudie dieses Typus für die Weltbühne verfasst. Er sprach darin von einem »Typus der ›Dreißigjährigen‹«, die während der Inflation in einem frühen Lebensalter, in dem sich die Menschen zuvor erst ganz allmählich selbstständig zu machen begannen, nun »schon ein großes Geschäftsreich zusammengekauft oder zusammengegründet hatten«. Demgegenüber vermochten diejenigen, die das mittlere Alter bereits überschritten hatten, mit den neuen Verhältnissen und Wirtschaftslogiken nicht mehr reaktionsschnell und angemessen geschickt umzugehen. Sie waren nicht fähig, sich geistig umzustellen, das neue Regelwerk des Geldverkehrs und Handels zu akzeptieren und mit kühner Courage zu nutzen. Denn »sie konnten ihre Wurzeln nicht mehr verpflanzen, sahen überall nur die Gesetzwidrigkeiten, die Verstöße gegen die alten Gesetze, denen sie ihre entscheidende Entwicklung verdankten, nicht das W ­ irksamwerden neuer Gesetze.« 48  Auch Michael Schäfer, Bürgertum in der Krise. Städtische Mittelklassen in Edinburgh und Leipzig 1890–1933, Göttingen 2003, S. 382 ff.

Dagegen wuchsen zahlreiche Neu-Erfolgreiche »aus der Generation, die bei Kriegsbeginn in den Zwanzigern stand und heute die Dreißig erreicht hat. Sie hatten, als die neue Zeit anbrach, noch nicht gelernt, sie brauchten also auch nichts zu vergessen. Ihre Begabung konnte sofort in die neuen Gefäße Franz Walter — 1873 – 1923 – 1973

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einströmen, sie hatten nicht nötig, erst einen alten falsch gewordenen ­Instinkt abzulegen, sie konnten sich sofort den neuen und richtigen Instinkt ›anschaffen‹. Worin bestand dieser neue Instinkt? Er bestand darin, gerade die umgekehrten Regeln zu befolgen wie in der soliden Bauzeit vor dem Kriege, wo man sich weder mit Projekten noch mit Schulden überlasten durfte, wenn man reüssieren wollte, denn mit solcher Ueberfracht konnte man selbst den Erfolg guter geschäftlicher Gedanken gefährden. Jetzt aber wurde es richtig, so viel Sachmassen wie möglich aufzuraffen, so viel Schulden wie möglich zu häufen, denn daran konnte man unvergleichlich mehr verdienen als an der regelrechten, zuverlässigen Ausführung guter geschäftlicher Gedanken. Der Leichtsinn wurde zum stärksten geschäftlichen Aufbauprinzip und die Hauptkunst Derjenigen, die in dieser Zeit fortkommen wollten, mußte darin bestehen, diesem Leichtsinn Konsequenz und System zu geben.«49 Während das klassische (Bildungs-)Bürgertum mithin elegisch und attentistisch der eigenen Depossedierung zuschaute, traten die geschichts- und traditionslosen Habenichtse zielstrebig in Aktion, organisierten, verknüpften, handelten. In der Tat: In dieser Situation zählten Bauernschläue und Alltagspfiffigkeit mehr als die Beherrschung lateinischer Grammatik oder die fehlerfreie Rezitation von Schillers »Das Lied von der Glocke«. Für die Parvenüs erschien das Jahr 1923 nicht trübe, sondern golden. Sie empfanden keine Depression, sondern fühlten sich äußerst beschwingt. Ihre Losung lautete, wie schon bei ihresgleichen Anfang 1873: »Freie Bahn den Tüchtigen!«. Auch diese Metapher wurde mentalitätsbildend in Deutschland. Sie wirkte durchaus dynamisierend auf kapitalistische Wachstumsprozesse, da sie zu entkrusten half, Veraltetes hinter sich ließ, Begabungsreserven mobilisierte. Die Krise 1923 zerstörte (fraglos besonders viel) wie alle Krisen; aber sie eröffnete dadurch auch neue Möglichkeiten, erzeugte eine besondere Spannung. »Ich selbst glaube kaum«, so Stefan Zweig im Rückblick, »je intensiver gelebt und gearbeitet zu haben als in jenen Jahren.«50 Und auch Karl Löwith erinnerte seine Studienjahre in der Inflationszeit so: »Alles, woran meine Generation auch heute noch geistig zehrt, wurde damals hervorgebracht, nicht obwohl, sondern weil alles im Zeichen der Auflösung stand und auf eine kritische Erneuerung aus war.«51 Am Beispiel der Weimarer Kultur hat man oft bereits gesagt, dass die ökonomischen Dilemmata und die politischen wie sozialen Zerrissenheiten sich durch nahezu wütende Kreativitätslust und Provokationsenergie extrem vitalisierend auf Literatur, Theater, Philosophie, Baukunst, Film und Tanz auswirkten, was von den einen rauschhaft goutiert, von vielen anderen indes empört gegeißelt und rigoros bekämpft wurde.

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Zäsuren — Analyse

49  Frank Faßland, ­ irtschaftsführer, in: Die W Weltbühne, Jg. 19 (1923), H. 12, S. 327–333, hier S. 327 f. 50  Zweig, S. 337. 51  Löwith, S. 183.

AKTIVIERTE BÜRGERGESELLSCHAFT GEGEN DIE REPUBLIK Solche Kämpfe der Ansichten und Weltanschauungen wirkten dann, wie ein Antidepressivum, der Lethargie und dem Fatalismus entgegen, beförderten den »Betätigungsdrang der nachwirkenden Inflationszeit«52. Die Auseinandersetzungen, welche die Hyperinflation angeheizt hatte, erhöhten die Erregung, den Eifer, auch die Aggressivität und Leidenschaft. Oft hat man gerade die Jüngeren in dieser Zeit der Weimarer Republik zu einer »verlorenen Generation« kategorisch zusammenfassen wollen. Nur war Verlorenheit nicht unbedingt das dominante Lebensgefühl einer in großer Zahl damals militant aktivistischen Jugend.53 Später erinnerten sie diese Zeit als ungewöhnlich erregend, als Auszug aus der Konventionalität. »Eine ganz neue Jugend glaubte nicht mehr den Eltern, den Politikern, den Lehrern; jede Verordnung, jede Proklamation des Staates wurde mit misstrauischem Blick gelesen. Mit einem Ruck emanzipierte sich die Nachkriegsgeneration brutal von allem bisher Gültigen und wandte jedweder Tradition den Rücken zu, entschlossen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.«54 Auch Romane über die bürgerliche Jugend damals zeichneten eine zwar »bedrückende und gefährliche, aber doch nicht vernichtende, sondern eher herausfordernde und erfahrungsreiche Zeit«55, die in diesem Milieu zu einem »nationalistischen Gemeinschaftspathos« und in »ein sehr euphorisches, idealistisches Sendungsbewusstsein«56 mit allerlei Führern, Predigern und Kündern unterschiedlichster Provenienz führte. Wieder, wie in den Jahren 1873 ff., war die Krise somit ein Ferment zivilgesellschaftlicher Zusammenschlüsse und Aktivitäten. Die junge Generation von Weimar tat sich bündisch zusammen, um Atomisierung und Ohnmacht aufzuheben, dabei soldatisch, im apodiktischen Antagonismus zu Gleichaltrigen anderer Lager und Gesinnung, die ebenso uniformiert und unversöhnlich martialisch replizierten. Auch die sogenannte kleinbürgerliche Mitte, die sich als Hauptverliererin der Inflation fühlte, erhöhte die 52  Erik Reger, Kleine Schriften, Bd. I, Berlin 1993, S. 288. 53  Vgl. Franz Walter, Tusk, der Jugendführer, in: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, Jg. 2 (2013), H. 4, S. 117–127.

Orga­n isationsfreudigkeit in noch weiter verzweigten Interessen- und Welt­ an­schauungsverbänden. Das alles sprach nicht für eine kollektive Depression, sondern für die Freisetzung von enormen, aus Zorn genährten extrovertierten Willenskräften, die über Jahre in dauermobilisierte und politisch eingefärbte Kampf­ assoziationen flossen und in die Usurpationsenergien des Nationalsozia-

54  Zweig, S. 341. 55  Kiesel, S. 358. 56  Von der Dunk, S. 328.

lismus mündeten. Ohne die entfesselte Zivilgesellschaft von rechts (mit der sie noch stärker aktivierenden Komplementärflanke von links) wären die plebiszitäre Wucht und die Durchsetzungspotenz des Nationalsozialismus schwer vorstellbar gewesen. Franz Walter — 1873 – 1923 – 1973

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Vorangegangen war im Gefolge der Hyperinflation eine sukzessive Selbstliquidierung der liberalen Lebenskreise und Parteien und des elitären Honoratiorentums. Insbesondere der Nachwuchs im Bürgertum hatte bald nur noch Verachtung übrig für einen maßvollen, an Toleranz, Ausgewogenheit, individuelle Vernunft, Gewaltenteilung und besonnene Rechtsstaatlichkeit appellierenden Liberalismus. Was sich nach 1873 als Krise des Liberalismus bereits angekündigt hatte, schien nach 1923 in einer historisch finalen Bedeutungslosigkeit und Randständigkeit dieser Strömung bis zum Ende der Weimarer Republik seinen Abschluss gefunden zu haben. Die Demokratisierung und die Politisierung der deutschen Gesellschaft in ihren turbulenten Krisen trugen erheblich zur Entliberalisierung des öffentlichen Raums bei. Dort nahmen mit Republikgründung und Revolution, dann forciert mit den Jahren 1924 ff. die zivilgesellschaftlichen Selbstinitiativen und Vereine in massiven Schüben zu. Das erfasste auch die Provinz, auch die ländlich-agrarischen Bevölkerungsteile. Wo es in Orten »vor dem Krieg zwei Vereine gegeben hatte, waren es 1919 drei und Anfang der dreißiger Jahre vier«57 – der Ausdruck einer Egalisierung zivilgesellschaftlicher Organisationsbeteiligung und durch ihre Auffächerung nach sozialmoralischen Lagern sowie politischen Richtungen zugleich Ferment für eine polarisierende Tribalisierung der Gesellschaft. Die Republik von Weimar mochte durch den häufig genannten Mangel an Demokraten sich selbst dem Suizid hingegeben haben. Doch an Aktivisten, an Teilhabe, an Leidenschaften, an politischer Kritik, an Demonstrations­ bereitschaft, an Zielen, an Freiwilligen – all das, was gerne als tragende Elemente zivilgesellschaftlicher Mitwirkung partizipatorisch bewegter Bürger gepriesen wird – fehlte es in der deutschen Gesellschaft jener Zeit keineswegs. Dass ausgeprägte Zivilgesellschaftlichkeit, also der von Bürgern selbst organisierte Raum zwischen Individuen und Staat, per se zu einer Stabilisierung und Vertiefung von Demokratie und toleranter Pluralität führe, wie es in Festreden zum »bürgergesellschaftlichen Engagement« regelmäßig erzählt wird, ist eine fahrlässige Vermutung. Zur Zivilgesellschaft gehören auch – und in Krisenzeiten oft dominierend – pathologische Ängste, ethnischer Abgrenzungseifer, der rhetorische Pranger, unerbittlich geführte Kämpfe zwischen verschiedenen Interessen, Kulturen und Weltanschauungen, Hass, Zynismus, Ressentiments, gruppenzentrierte Selbstbezogenheit. Eine in konfrontative Ideologien segmentierte, überdies mit Wutenergien aufgepeitschte Zivilgesellschaft, die schwachen, ihrer selbst nicht sicheren Institutionen und Regierungen gegenübersteht, stützt nicht zwingend

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Zäsuren — Analyse

57  Peter Fritzsche, Wie aus Deutschen Nazis wurden, Zürich 1999, S. 143.

58  Vgl. Sheri Berman, Civil Society and the Collapse of the Weimar Republic, in: World Politics, Jg. 49 (1997), H. 3, S. 401–429, hier S. 419. Diesen kritischen Blick auf die Zivilgesellschaft richtet die Verfasserin auch auf die amerikanische Gegenwartskultur: vgl. Dies., Civil Society and Political Institutionalization, in: American Behavioral Scientist, Jg. 40 (1997), H. 5, S. 562–574.

parlamentarische Demokratien, sondern unterhöhlt und gefährdet sie eher.58 Das ist keine fixe Regel über Funktion und Wirkung von Zivilgesellschaften schlechthin, aber doch eine Beobachtung historisch konstellativer Voraussetzungen ihrer krisenbedingten Deformationsmöglichkeiten. Einen starren Zyklus, der sich im Abstand von jeweils fünfzig Jahren zu neuen Höhe- oder Tiefpunkten bewegt, muss man angesichts der Besonderheiten und Kontingenzen von Kriegen, Demografien, Wanderungsbewegungen dahinter indes nicht vermuten. Aber ganz schnoddrig und salopp: In fünf Jahren werden wir es genauer wissen.

Prof. Dr. Franz Walter, geb. 1956, war Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen.

Franz Walter — 1873 – 1923 – 1973

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1918 BIS 2018 ZWIESPÄLTIGES GEDENKEN AN FRIEDEN, NACHKRIEG UND REVOLUTION ΞΞ Alexander Gallus

Es gehört zu den bekannten Merksätzen, dass sich Geschichte nicht wiederhole – zumindest nicht eins zu eins. Und doch dient sie regelmäßig als Maßstab, der an die Gegenwart angelegt wird. Je nach dem Grad der Übereinstimmung mag das historische Szenario dann als Menetekel oder als Beruhigungsformel dienen. »Bonn ist nicht Weimar«, so der Titel eines Buches des Schweizer Publizisten Fritz René Allemann aus dem Jahr 1956, ist ein berühmtes Beispiel für beide Interpretationslinien – abhängig davon, ob als Ist- oder als Soll-Zustand vorgebracht. In der frühen Bundesrepublik diente die Weimarer Republik vor allem als mahnende Erinnerung an eine instabile, defekte, schließlich gescheiterte Demokratie, der man nicht nacheifern dürfe. Die Weimarer Demokratie wurde ganz überwiegend von 1933 rückwärts entschlüsselt und erschien so als ein zum Misslingen verdammtes Mängelwesen. Über mehrere Jahrzehnte hinweg war die bundesdeutsche politische Kultur von einem regelrechten »Weimar-Komplex« geprägt, der sich allerdings zusehends verflüchtigte, je mehr sich die zweite deutsche Demokratie von ihrem Provisoriumscharakter verabschiedete.1 Weimar als Argument in zeitgenössischen Debatten verlor an Relevanz. Weder die Beunruhigungsformel des Ähnlich-Seins noch das »Stereotyp der Selbstberuhigung«2 des Anders-Seins, das der bundesrepublikanischen Normalität die Weimarer Pathologie als Spiegel entgegenhielt, spielte in der reifer gewordenen Bundesrepublik eine große Rolle. Einiges deutete darauf hin, dass Weimar in das Reich der Geschichte zurückgesunken war und als geschichtspolitisches Vehikel nur noch selten Verwendung fand. NEW GEDENKYEAR 2018 – ABER WIE HAPPY? Dieser Trend zur Historisierung und Normalisierung wird indes verstärkt seit einem knappen Jahrzehnt wieder von zeitdiagnostischen Beschwörungsformeln überwölbt. Nach dem Anbruch der internationalen Wirtschaftsund Finanzkrise lautete die Titelgeschichte des Spiegel vom 27. April 2009: »Wiederholt sich die Geschichte doch? Weltkrisen 1929/2009«. Auch die

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1  Siehe Sebastian Ullrich, Der Weimar-Komplex. Das Scheitern der ersten deutschen Demokratie und die politische Kultur der frühen Bundesrepublik 1945–1959, Göttingen 2009; siehe auch Christoph Gusy (Hg.), Weimars lange Schatten – »Weimar« als Argument nach 1945, Baden-Baden 2003. 2  Christian Semler, Weimar – ein Stereotyp der Selbstberuhigung, in: die tageszeitung, 12.08.1994.

»Flüchtlingskrise« einige Jahre später motivierte zum Rückblick: nicht so sehr auf Weimar, sondern allgemein auf die Phase um das Ende des Ersten Weltkriegs. Damals waren Imperien zerbrochen und neue Nationalstaaten entstanden, hatten sich Migrationswellen in Gang gesetzt, revolutionäre und gegenrevolutionäre Bestrebungen einander abgelöst, Gewalt und Bürgerkrieg einen »Nachkrieg« unruhig gestaltet, der keinen wirklichen Frieden finden sollte.3 Es wäre indes zu kurz argumentiert, die Zwischenkriegszeit von vornherein als eine Periode zu kennzeichnen, die zwangsläufig in einem noch gewaltigeren Krieg und im totalitären Abgrund, ja im »Höllensturz«4 hätte enden müssen. Insbesondere das »Traumland der Waffenstillstandsperiode«, von dem der große Religionssoziologe Ernst Troeltsch in geradezu poetischer Weise sprach, war eben nicht nur die wieder aufzuräumende Trümmerlandschaft einer zerstörten Vergangenheit, sondern eröffnete den Blick nach vorne. Sogar ließe sich behaupten, damals habe ein Überschuss an Zukunft geherrscht, mit einer Vielzahl von Hoffnungen und Visionen auf eine bessere, mindestens aber eine neue Welt.5 Dazu zählte auch ein kräftiger, von Euphorie getragener Wunsch nach Erprobung der Demokratie, und eine Hochzeit von Moderne versprühenden künstlerischen Avantgarden setzte ein. 1918, am Ausgang des Ersten Weltkriegs, herrschte nicht nur Zusammenund Abbruchs-, sondern auch Aufbruchsstimmung. Die Zukunft sollte im Angesicht dieser zurückliegenden »Urkatastrophe« besser, sicherer und vor allem friedlich werden. Wie gründlich dies misslang, wissen wir alle. Umso wichtiger ist es, sich an das Ende des Jahres 1918 als Ausgangslage zurückzuversetzen. Sie deutete keineswegs in Richtung einer noch größeren Katas3  Siehe Robert Gerwarth, Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs, München 2017; Richard Bessel, Germany after the First World War, Oxford 1993.

trophe, sondern präsentierte sich ambivalent. In welche Richtung die weitere Entwicklung fortschreiten sollte, war alles andere als gewiss. Licht und Schatten lagen gelegentlich nah beieinander, etwa wenn mit dem Recht auf Selbstbestimmung Forderungen nach ethnischer »Reinheit« einhergingen. Wer so auf den Herbst 1918 zurückblickt, erkennt eine Zeit der Unsicher-

4  Ian Kershaw, Höllensturz. Europa 1914 bis 1949, München 2016. 5  Diese Sichtweise bringt besonders gut zum Ausdruck: Daniel Schönpflug, Kometenjahre. 1918: Die Welt im Aufbruch, Frankfurt a. M. 2017.

heit und Krisenhaftigkeit voller Herausforderungen, aber auch Gestaltungschancen. Vom Verlust alter Sicherheiten, von einer in Bewegung geratenen Geschichte, die 1989/90 eben nicht an ihr Ende geraten ist, wie es einst Francis Fukuyama postulierte, sehen einige Zeitdiagnostiker auch unsere Gegenwart im Jahr 2018 geprägt. Jüngst veröffentlichten eine Reihe von Historikern und Intellektuellen auf Initiative des letzten DDR-Außenministers Markus Meckel sogar einen Aufruf unter dem Titel »1918–2018: Ein Manifest«. Dieses Mani-

6  So Marc Reichwein u. a., Happy New Gedenkyear!, in: Die Welt, 30.12.2017.

fest ist ein deutliches Signal dafür, das »Happy New Gedenkyear«6 2018 nicht allein im Rhythmus der handelsüblichen Jubiläumsdynamik abzuhandeln, Alexander Gallus  —  1918 bis 2018

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sondern es in zeitkritischer Absicht zu deuten und mit gegenwärtigen Pro­ blemkonstellationen in Beziehung zu setzen. Das gleich in sechs Sprachen gegossene Manifest, das mittlerweile namhafte Unterzeichner aus mehr als zwanzig Ländern gefunden hat, wurde am 11. November 2017 veröffentlicht, mithin genau 99 Jahre nach Abschluss des Waffenstillstands, als das massenhafte Morden des Ersten Weltkriegs an ein Ende gelangt war. »Es sollte der Krieg sein, der alle Kriege beendet«, lautet der Eröffnungssatz des Manifests.7 In der Tat schien man nun, wie es weiter heißt, einer neuen Epoche entgegenzuschreiten, einer von »Frieden, Demokratie und Menschenrechten, von nationaler Selbstbestimmung und internationaler Verständigung« gekennzeichneten Ära. Die Einführung des

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Zäsuren — Analyse

7  Im Folgenden: 1918–2018: Ein Manifest, URL: http://1918–2018.org/ein-manifest/ [eingesehen am 14.01.2018]. Als Initiatoren sind angegeben: Markus Meckel, Politiker, Berlin; Etienne François, Historiker, Berlin; Bettina Greiner, Historikerin, Berlin; Oliver Janz, Historiker, Berlin; Sven-Felix Kellerhoff, Publizist, Berlin; Martin Lengemann, Fotograf, Berlin; Gorch Pieken, Historiker, Dresden; Stefan Troebst, Historiker, Leipzig.

Frauenwahlrechts findet ebenso wie die Arbeit des Völkerbunds, des Vorläufers der UNO, Erwähnung. »Doch alle Seiten, Sieger und Besiegte, neue und alte Nationalstaaten«, so lautet die anschließende Mahnung, »verspielten diese Chance zu einer dauerhaften Friedensordnung.« Die Friedensphase nach dem Zweiten Weltkrieg, die mittlerweile auch über dreißig Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus hinweg anhält und an Demokratie, europäische Integration und eine transatlantische Brücke gekoppelt ist, sei in Gefahr geraten. »Etliche der gegenwärtigen Spannungen und Krisen erinnern an jene Schwierigkeiten, die durch die nach 1918 geschlossenen Friedensverträge gelöst werden sollten. Was 8  Ebd.

damals ungelöst geblieben ist, erfährt heute erschreckende Aktualität.« Daran schließt sich die Frage an: »Lag der schweizerische Historiker und Diplo­mat Paul Widmer doch richtig, als er 1993 formulierte, Europa habe zwar die Folgen des Zweiten Weltkriegs leidlich bewältigt, laboriere aber weiter an denen des Ersten?« Staaten im Osten Europas, die vor hundert Jahren ihre Unabhängigkeit erlangten (wie im Falle der kurzzeitig selbstständigen Ukraine), sähen sich erneut den imperialen Ansprüchen Russlands ausgesetzt. Die Türkei laboriere ebenfalls am Verlust alter Größe, wie sie das Osmanische Reich einst ausgestrahlt habe. Schließlich erweise sich die Staatenordnung, wie sie um 1918 herum im Nahen und Mittleren Osten geschaffen wurde, als höchst virulenter Krisenherd. Die beunruhigende Schlussfolgerung: »Heute lebt die Menschheit erneut in einer multipolaren, instabilen und krisenhaften Welt – ähnlich wie nach 1918.« Das Manifest warnt vor einem antiparlamentarischen, antieuropäischen, nationalistischen Populismus, der in den zurückliegenden Jahren an Kraft gewonnen habe und umso dringlicher erscheinen lasse, dem »Gedenken an das Ende des Ersten Weltkrieges« eine »europäische Perspektive« zu geben. »Die einhundertste Wiederkehr des Kriegsendes und des Bemühens nach 1918, eine umfassende Friedensordnung herzustellen«, so schließt der Aufruf, sei »der geeignete Zeitpunkt, über Grenzen hinweg ein deutliches Zeichen zu setzen für Menschenrechte und Meinungsfreiheit, für Rechtsstaatlichkeit und Einhaltung des Völkerrechts.«8 Alexander Gallus  —  1918 bis 2018

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DIE DEUTSCHE REVOLUTION 1918/19 – EIN NOVEMBERKOMPLEX Die Wahl des Veröffentlichungszeitpunkts an einem 11. November erinnert an einen regelrechten Weltmoment, den Zeitgenossen in aller Herren Länder im Jahr 1918 als solchen wahrnahmen.9 In globaler Perspektive überstrahlt er jenen Tag, der in Deutschland zumeist ganz in den Mittelpunkt rückt, nämlich den 9. November 1918. Und doch gehören beide so geschichts- wie symbolträchtigen Tage eng zusammen; zumal dann, wenn man bedenkt, dass Menschenrechte, Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit gewährende Demokratien nicht gegeneinander in den Krieg ziehen, diese Staatsform – zumindest im Binnenverhältnis der demokratischen Verfassungsstaaten – gleichsam als Friedensgarant fungiert. Schon angesichts dieser Grundtatsache hat der 9. November 1918, ja womöglich die gesamte »Novemberrevolution«, das Zeug dazu, im nationalen Gedächtnis der Deutschen einen ebenso prominenten wie ehrenvollen Platz einzunehmen. Das könnte man in der Rückschau jedenfalls annehmen. Doch das zeitgenössische Sensorium für die Verbindung zwischen demokratischer Neuordnung und Friedensversprechen war bestenfalls schwach ausgeprägt; stattdessen wurde die neue Demokratie in unheilvoller Form mit nationaler Niederlage und Niedergeschlagenheit zusammengedacht. Dies ist einer der Gründe, weshalb sich um jenen 9. November und die gesamte deutsche Revolution von 1918/19 nur in so unzureichender Weise ein Konsens stiftender und diesen bestärkender nationaler Mythos entfalten sollte. Im Jahr eins nach der Revolution schrieb der liberale Journalist Theodor Wolff im Berliner Tageblatt: »Aber man sollte sich auch klar darüber werden, dass doch eigentlich erst die Revolution, so getrübt ihre Sonne auch aufging, dem deutschen Volke die Rechte und die schweren Pflichten mündiger Nationen gesichert hat. Das sollte man zugeben, auch wenn man ihr den festlichen Erinnerungskranz versagt.«10 Unter dem unmittelbaren Eindruck der Ereignisse vom 9. November, mit Massen auf den Straßen Berlins und der Ausrufung der Republik, hatte Wolff am 10. November 1918 von der »größten aller Revolutionen« gesprochen und diese mit einem »Sturmwind« und dem Bastillesturm der Französischen Revolution von 1789 verglichen.11 Ein späterer erinnerungspolitischer Schwenk, im Verlaufe anderer Revolutionen nicht unüblich, trat im Übrigen nicht ein. Es blieb bei der Euphorie des Anfangs, rasch gefolgt von Phasen der Ermüdung, Enttäuschung und Entrüstung. Der revolutionäre Gründungsakt sorgte während der gesamten Weimarer Republik für Dissens, statt Einheit zu stiften. Das zeigte sich frühzeitig an der von intellektuellen Eliten geformten politischen Deutungskultur, deren

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Zäsuren — Analyse

9  Dazu insbesondere das Kapitel »Ein Tag, eine Stunde« bei Schönpflug, S. 49–86. 10  Theodor Wolff, Die deutsche Revolution, in: Berliner Tageblatt vom 10. November 1919, in: Ders., Tagebücher 1914–1919. Der Erste Weltkrieg und die Entstehung der Weimarer Republik in den Tagebüchern, Leitartikeln und Briefen des Chefredakteurs am »Berliner Tageblatt« und Mitbegründers der »Deutschen Demokratischen Partei«. Erster Teil, eingel. und hg. von Bernd Sösemann, Boppard a.Rh. 1984, S. 855. 11  Ders., Der Erfolg der Revolution, in: Berliner Tageblatt vom 10. November 1918, in: ebd., S. 814.

»vernunftrepublikanische« Ausprägungen zu selten feste Wurzeln schlagen sollten.12 Im linksintellektuellen Milieu, wie es durch die Zeitschrift Weltbühne zum Ausdruck kam, herrschte von Anfang an Missmut über die Revolution. Sie erschien als ein ebenso unbefriedigender wie unvollständiger Umbruch, der im Wesentlichen einen Wandel der politischen Fassade bewirkt habe, die Fundamente der alten autokratischen Ordnung – seien es die alten Eliten in Justiz, Militär oder Verwaltung, seien es die Sozial- und Wirtschaftsstrukturen – hingegen weitgehend unangetastet gelassen habe. Vor diesem Hintergrund galt es, die »wirkliche« Revolution in Gang zu setzen und eine »wahre« Demokratie erst noch zu schaffen, die der »formal« erscheinenden Institutionen- und Verfassungsordnung Leben einhauchen sollte.13 12  Zu diesem in konzeptioneller Hinsicht noch unzureichend erforschten Phänomen siehe Andreas Wirsching u. Jürgen Eder (Hg.), Vernunft­ republikanismus in der Weimarer Republik. Politik, Literatur, Wissenschaft, Stuttgart 2008.

Während die Kritik von links im Namen einer besseren Demokratie und vollständigeren Revolution erfolgte, lehnten Vertreter einer intellektuellen Rechten als Antidemokraten die Novemberrevolution vollständig ab, ohne aber grundsätzlich gegen einen radikalen Umbruch zu argumentieren. Auch sie wollten eine Revolution – nur sollte sie eine konservative sein. Sie sprachen von einem »deutschen Sozialismus«, der gleich antikapitalistisch wie

13  Vgl. Riccardo Bavaj, Von links gegen Weimar. Linkes antiparlamentarisches Denken in der Weimarer Republik, Bonn 2005; Alexander Gallus, Heimat »Weltbühne«. Eine Intellektuellengeschichte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2012. 14  Unter den jüngeren Darstellungen zur rechtsintellektuellen »konservativen Revolution« siehe insbesondere Claudia Kemper, Das »Gewissen« 1919–1925. Kommunikation und Vernetzung der Jungkonservativen, München 2011. 15  Dazu und insbesondere zur Ausstrahlungs- und Gestaltungskraft westlich-demokratischer Ideen in ihrer ganzen Dynamik und teils widersprüchlichen Vielfalt vgl. Adam Tooze, Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916–1931, München 2015; Tim B. Müller u. Adam Tooze (Hg.), Normalität und Fragilität. Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2015; Jan-Werner Müller, Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert, Berlin 2013.

antimarxistisch zu sein hatte.14 Darin manifestierte sich gleichsam eine doppelte Verschiebung der Revolution: einmal in die Zukunft als Vollendung, einmal nach rechts als Zerstörung der tatsächlich vollzogenen Revolution des langen November 1918. Nimmt man zu diesem lediglich grob skizzierten, sich breit auffächernden Intellektuellenmilieu die Vorstellungen und Bestrebungen der extremen politischen Flügel hinzu, so zeigt sich rasch: Nach der Revolution war in Deutschland vor der Revolution. Und dieses Spiel wurde als unnachgiebiger Wettbewerb ausgetragen, der auf Sieg und vollständige Niederringung des Gegners zielte. Vor diesem Hintergrund erscheint der Erste Weltkrieg nicht allein als Urkatastrophe, sondern vor allem auch als ein Akt kreativer Zerstörung, der zumal im politischen Feld widerstreitende Tendenzen der Moderne, wie sie sich seit der langen Jahrhundertwende herausgebildet hatte, deutlicher als zuvor in Stellung gegeneinander brachte. Diese Sintflut schwemmte völkisch-autoritäre ebenso wie kommunistisch-autoritäre Ideen und Bewegungen hervor, aber auch den verheißungsvollen, allerdings sehr unterschiedlich ausbuchstabierten, alles andere als festgefügten Gedanken der Demokratie.15 Alle drei hegten einen revolutionären Anspruch. Dies machte es einer Revolution wie der Novemberrevolution – so erfolgreich sie als politischer Systemwechsel von der Monarchie hin zur Demokratie prinzipiell war – so schwer, einen revolutionären Alleinvertretungsanspruch aufrechtzuerhalten. Alexander Gallus  —  1918 bis 2018

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Gänzlich überschrieben werden sollte die Revolution von 1918/19 durch die »nationale Revolution« von 1933, die sich als Antithese zu einem »vaterlandslosen«, »landesverräterischen« Akt der »Novemberverbrecher« stilisierte.16 Vorbereitet hatte diese Sichtweise frühzeitig ab dem Kriegsende die These vom »Dolchstoß«, den politisch subversive Kräfte (rasch war die Rede von ganzen Gruppen: »den Juden«, »den Marxisten«) dem im Feld – angeblich – unbesiegten Heer in den Rücken gestoßen hätten. Die Dolchstoßlegende vergiftete von Beginn der Weimarer Demokratie an das politische Klima und hilft so, den Weg von 1918 nach 1933 zu erklären.17 Ein weiteres Thema, das gerade in den jüngeren Studien zur Revolution von 1918/19 einige Beachtung gefunden hat und eine Kontinuitätslinie von der Begründung der Weimarer Republik zu jener des »Dritten Reiches« nahelegt, ist das der Gewalt. »Am Anfang war Gewalt« nennt Mark Jones seine thesenstarke Geschichte der Novemberrevolution. Darin zeichnet er ein Gewaltpanorama, das nicht zuletzt von der neuen mehrheitssozialdemokratisch dominerten Regierung zu verantworten gewesen und zudem von öffentlich-­ medialer Unterstützung flankiert worden sei. Angesichts der Geburt der Weimarer Republik aus der publizistisch orchestrierten (Regierungs-)Gewalt heraus spricht Jones von einem »Inkubationsraum für das Dritte Reich«18 – fast so, als wollte er eine Variante der Sonderwegsthese neu beleben. In dieser Interpretation rückt vor allem die blutige Etappe der Revolution ab der Jahreswende 1918/19 in den Mittelpunkt der Betrachtung und wird gleichsam zur formativen, den weiteren Gang der Geschichte besonders prägenden Phase einer Revolution, die auf eine militärische Gewalt setzte, die kurzfristig eine Regierung zu schützen schien, langfristig aber nichts anderes als die Abschaffung der verhassten Republik beabsichtigte. In ebenso fataler wie paradoxer Weise setzte die Regierung Ebert-Scheidemann demnach auf die Unterstützung durch ihre Todfeinde statt auf die eigenen Anhänger, deren Radikalität sie vielmehr im Übermaß fürchtete. Dieses Argument streicht Joachim Käppner in seiner aktuellen Revolutionsgeschichte heraus und ergänzt als »das große Übel der Revolution von 1918/19« die ausgebliebene respektive nicht umgesetzte Militärreform mit der Schaffung republikanischer Streitkräfte. Stattdessen sei »die einmalige und auch letzte Gelegenheit vor 1945, dem deutschen Militarismus den Garaus zu machen«19, verpasst worden. Deshalb sei der so besonnen und hoffnungsfroh einsetzende »Aufstand für die Freiheit« frühzeitig verspielt worden. Auch Wolfgang Niess hadert in seiner vor Kurzem erschienenen Gesamtwürdigung mit der ausgebliebenen Militärreform wie mit einer Revolution, die nicht tief und ausgiebig genug gegraben habe, um neue Fundamente wirklich breitflächig und fest

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Zäsuren — Analyse

16  Zu Interpretationen der Novemberrevolution durch den Nationalsozialismus siehe Wolfgang Niess, Die Revolution von 1918/19 in der deutschen Geschichtsschreibung. Deutungen von der Weimarer Republik bis ins 21. Jahrhundert, Berlin 2013, S. 125–149. 17  Vgl. Alexander Gallus, Die Mär vom unbesiegten Heer. Nur der schändliche Stich in den Rücken kann deutsche Soldaten niederstrecken: Die Dolchstoßlegende schiebt die Schuld an der Niederlage im Ersten Weltkrieg der Heimat zu und beflügelt den Aufstieg der Nationalsozialisten, in: ZEIT Geschichte, H. 3/2017, S. 52–56. 18  Mark Jones, Am Anfang war Gewalt. Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik, Berlin 2017, S. 342. 19  Joachim Käppner, 1918 – Aufstand für die Freiheit. Die Revolution der Besonnenen, München 2017, S. 319.

zu verankern und sturmfest zu machen. Gleichwohl streicht er stärker den politischen Systemwechsel und manch sozialpolitische Reform während der ersten beiden Umbruchsmonate heraus, um in der Revolution von 1918/19 den »wahren Beginn unserer Demokratie«20 zu erkennen. Aber auch in diesem Falle lesen wir keine Gelingens- oder gar Heldengeschichte. Der optimistische Ausblick, wie er im Buchtitel zum Ausdruck kommt, stimmt nicht mit der insgesamt kritischen Grundhaltung gegenüber versäumten Gelegenheiten der Revolution von 1918/19 überein. Beide, Käppner wie Niess, schreiten mit uns gemeinsam quasi nochmals die Schützengräben der historischen Deutungskämpfe aus den 1970er und frühen 1980er Jahren 20  Wolfgang Niess, Die Revolution von 1918/19. Der wahre Beginn unserer Demokratie, Berlin 2017. 21  So meine Diagnose kurz nach dem Neunzig-Jahres-Jubiläum: Alexander Gallus (Hg.), Die vergessene Revolution von 1918/19, Göttingen 2010. 22  Mögliche Perspektiven zeigen auf: Klaus Weinhauer u. a. (Hg.), Germany 1916–23. A Revolution in Context, Bielefeld 2015.

ab, wenn vom ungenügend genutzten »Demokratisierungspotenzial« der Räte die Rede ist oder Möglichkeiten eines »dritten Weges« angedeutet werden. In solchen Momenten steht man wie vor einem einst schockgefrosteten, nun angesichts der Jubiläumswärme des 100. Geburtstags wieder aufgetauten Forschungsstand. Originäre Forschungen zu dieser nunmehr immerhin nicht länger »vergessenen Revolution«21 kommen erst wieder in Gang, neue Sehepunkte gilt es zu fixieren, während weiterhin Reflexe der alten Schlachten aufflackern. Die Politik- und Arbeiterbewegungsgeschichte dominiert nach wie vor die (Gesamt-)Darstellungen; Sichtweisen der Kultur-, Medienoder Intellektuellengeschichte, der Alltags- und Mentalitätsgeschichte melden Nachholbedarf an und werden die komplexe Lage des Novembers der Revolution weiter entschlüsseln helfen.22 Nicht anzunehmen ist indes, dass die Revolution von 1918/19 jemals eine eindeutige Traditionsstiftung ermöglichen wird. Die Novemberrevolution fällt gleichsam in einen Spalt: Sie dient in der deutschen Demokratiegeschichte weder unumwunden zur Abschreckung noch als Lernbeispiel. Bei dieser Re-

Alexander Gallus, geb. 1972; Prof.; Studium in Berlin und Oxford; seit 2013 Inhaber des Lehrstuhls Politische T ­ heorie und Ideengeschichte an der TU Chemnitz; 2006–2013 Junior­ professor für Zeitgeschichte – ­Geschichte des politischen Denkens an der Universität Rostock; Veröffentlichungen u. a.: Heimat »Weltbühne«. Eine Intellektuellengeschichte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2012; (Hrsg.) Meinhof, Mahler, Ensslin. Die Akten der Studienstiftung des deutschen Volkes, Sonderausgabe, Göttingen 2017; (Hrsg.) Die vergessene Revolution von 1918/19, Göttingen 2010.

volution handelt es sich um einen schwer entschlüsselbaren Novemberkomplex. Eine Meistererzählung lässt sich daran ebenso schwer knüpfen wie ein geschichtskulturelles Leitparadigma. Dies gibt an sich wenig Anlass zur Sorge, sondern kann ein idealer Ausgangspunkt für neue Forschungen und neue Debatten um ein altes, für einige Zeit verschwunden geglaubtes Thema sein. Statt allerdings mit der nachträglichen Weisheit heutiger Historiker die besseren Alternativen ungeschehener Geschichte den Zeitgenossen von damals vorzuhalten, sollten deren Sichtweisen entscheidend sein, um die einstigen Möglichkeitsräume zu entdecken. Es waren die Erfahrungen und Erwartungen von Träumern und Gestaltern, Pragmatikern und Fanatikern, Revoluzzern und manchmal eben auch nur Lampenputzern. Mit ihnen den offenen Blick auf die Revolutionszeit zu wagen, dürfte über den Gedenkjahr-Rhythmus hinaus ein lohnendes Unterfangen sein. Alexander Gallus  —  1918 bis 2018

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DACHAU–NÜRNBERG–BONN LEBEN UND KARRIERE DES »FLIEGENDEN ­MEDIZINMANNES« SIEGFRIED RUFF ΞΞ Katharina Trittel Brüche und Kontinuitäten – dieses Begriffspaar, am besten noch mit einem suggestiven Fragezeichen versehen, ist jedem Lektor ein Graus. Zu plakativ, zu konstruiert wirkt der vermeintliche Gegensatz. Indes: Oft verbirgt sich hinter der Etikettierung ein hochinteressantes Phänomen – so auch im Falle der Funktionseliten vor und nach 1945 –, lassen sich in der Regel doch Brüche und Kontinuitätslinien gleichermaßen entdecken. Natürlich hat insbesondere die Zäsur zweifellos ihren Reiz, gibt sie doch Orientierung und ist prägnanter als eine oftmals verdeckte Kontinuitätslinie, die erst geduldig herauspräpariert werden muss. An Zäsuren bleibt der Blick unweigerlich haften, sie sind, wenn man so will, Cliffhanger der Geschichte, die Fragen nach dem Kommenden aufwerfen. Darüber dürfen jedoch die Kontinuitäten nicht übersehen werden, vor allem, wo die Akteure selbst diese zu verschleiern suchen, indem sie vermeintliche Zäsuren in den Vordergrund stellen. Dieser Mechanismus ist eine Aufforderung an den Historiker, umso genauer zu eruieren, was Brüche, Zäsuren und Kontinuitäten im Einzelfall bedeuten. Deswegen widmet sich dieser Beitrag am Beispiel des Flugmediziners und Professors Siegfried Ruff dem Phänomen der Elitenkontinuität, mitsamt durchaus vorhandenen Zäsuren, doch ohne nennenswerte biografische Brüche. Siegfried Ruff wurde 1907 geboren, er studierte Medizin und leitete dann bis 1945 in Berlin an der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt ( DVL) eine flugmedizinische Abteilung. Er war Reserveoffizier der Luftwaffe, trat erst im Mai 1937 in die NSDAP ein, blieb aber insgesamt in seinem politischen Engagement unauffällig. Denn was sein Leben bestimmte, war nicht die Politik, sondern das Fliegen. Er selbst war Pilot und Fluglehrer; von seinem Institut aus, welches am Versuchsprogramm »Zur Rettung aus großen Höhen« beteiligt war, wurden 1942 die flugmedizinischen Menschenversuche im KZ Dachau in Auftrag gegeben. Ein solches Leben, das im Kaiserreich begann und erst in den 1980er Jahren der etablierten Bundesrepublik endete, enthält zwangsläufig gravierende Zäsuren. Seit Anfang des Jahrhunderts hatte sich ein naturwissenschaftlich geprägtes Wissenschaftsverständnis durchgesetzt, dessen Methode das Experiment

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war, mit dem die Empirie Einzug in die Medizin hielt. Die Moderne führte darüber hinaus zu einer für die Zeitgenossen fast unheimlichen Beschleunigung durch Erfindungen wie das Telefon, das Automobil – und das Flugzeug. Für die Flugmediziner galt es, gerade im Interesse der militärischen Nutzung, dafür zu sorgen, dass die Piloten in ihrer Ausrüstung und physischen Konstitution mit der Entwicklung der Technik mithalten konnten. Ihr wissenschaftliches Wirken war nun insbesondere darauf ausgerichtet, den Menschen leistungsfähiger zu machen und in einer Symbiose von Mensch und Maschine die Grenzen des bisher Machbaren zu verschieben, im Äußersten: die Naturgesetze außer Kraft zu setzen. Dafür griffen sie auf den Versuch am Menschen zurück. Mit dem Nationalsozialismus vollzog sich zusätzlich ein weiterer Paradigmenwechsel, der Leistung und einen »gesunden Volkskörper« in sozialdarwinistischer Manier ins Zentrum einer Kollektivethik stellte, die der Gemeinschaft huldigte und den Einzelnen zu opfern bereit war. Für das Ethos der Flugmediziner hatte das immense Konsequenzen. In letzter Konsequenz fanden sich einige von ihnen 1947 vor dem amerikanischen Militärgericht in Nürnberg wieder. Nicht nur für die Flugmediziner der Wehrmacht – und für Siegfried Ruff persönlich – war der Nürnberger Ärzteprozess zweifellos ein tiefer Einschnitt. Auch eines seiner wesentlichen Resultate, der »Nürnberger Codex«, schrieb Medizingeschichte. So weit die Zäsur. Und die Kontinuität? Sie lag maßgeblich in dem von diesen Ärzten sorgsam mitgestrickten Mythos einer »sauberen Wehrmacht«, der nicht erst nach 1945 vor den Gerichten und aus den Gefängnissen heraus, sondern im Falle der Flugmediziner bereits während der gemeinsamen Versuche mit der SS in der Unterdruckkammer in Dachau konstruiert wurde. Auch wenn der Prozess, der für Ruff mit einem Freispruch endete, sicher eine Belastung gewesen ist, bedeutete er doch keine Lebenszäsur – ja noch nicht einmal einen Karriereknick. DIE DACHAUER MENSCHENVERSUCHE »Auf der Nürnberger Anklagebank«, so Wolfgang Eckart, »saß […] auch die in großen Teilen willfährige deutsche Medizin unter der NS-Diktatur, eine Medizin, deren Hauptvertreter es verstanden hatten, ihre allgemeinpolitischen und standespolitischen Interessen mit denen der NS-Ideologie auf einen Nenner zu bringen, die sich – wenn nicht insgesamt, so doch in großen Teilen – bereitwillig in den Dienst der NS-Diktatur gestellt und sich deren irrationalen rassenhygienischen, leistungsideologischen und vernichtungsorientierten Katharina Trittel — Dachau–Nürnberg–Bonn

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Zielen eher angebiedert und angegliedert als unterworfen hatte.«1 Den 23 beschuldigten Ärzten wurden Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Last gelegt. Sie wurden angeklagt, Haupttäter, Mittäter, Anstifter oder Vorschubleistende bei medizinischen Experimenten gewesen zu sein, die überwiegend an KZ-Häftlingen durchgeführt worden waren. In den Medizinern glaubte man diejenige Gruppe gefunden zu haben, deren Schuld schnell und überzeugend aufzuzeigen war, denn die Beweise waren reichhaltig und aufsehenerregend. Weil die Alliierten bestrebt waren, auch die Machenschaften des medizinischen Machtapparates offenzulegen, war gerade die Prominenz auf der Anklagebank stark vertreten: Von den Medizinern war die Hälfte habilitiert. Unter ihnen war Siegfried Ruff, dessen vorgetragene Rechtfertigungsstrategie sich solcher Bausteine bediente, die exemplarisch für die bruchlose Selbstdeutung einer Elite sind, die nicht nur das nationalsozialistische System stabilisiert hatte, sondern die auch einen Beitrag zum Mythos der »sauberen Wehrmacht« leistete. Siegfried Ruff war aber insofern eine Ausnahme, als er sich nicht nur wegen Mitwisserschaft und Anstiftung gegen Indizienbeweise verteidigen musste. Ihm legte man außerdem zur Last, er habe flugmedizinische Versuche an Häftlingen 1942 in Dachau angeordnet und dafür Ressourcen und Personal bereitgestellt. Im Jahr 1941 hatte eine neue Periode flugmedizinischer Forschung begonnen, als erstmals britische Flugzeuge deutsche aus überlegener Höhe angriffen. »Damit war die über 12000 Meter Meereshöhe beginnende Stratosphäre zum Kampfgebiet des zweiten Weltkriegs geworden und eine neuerliche Ausweitung der Operationszone auf bis zu 21 Kilometern stand bevor.«2 Die Frage, unter welchen Bedingungen ein Rettungssturz überlebt werden könnte, erforderte weitere Forschungen, die vor allem der ehrgeizige Ruff, der sich über Beschleunigungsprobleme habilitiert hatte, in seinem Institut betrieb. Jedoch: »Den Versuchspersonen, die sich mit großer Einsatzbereitschaft für die Versuche zur Verfügung stellten, […] konnten weitere Versuche nicht mehr zugemutet werden, zumal heute noch nicht zu übersehen ist, ob diese hohen Beschleunigungen mit Sehstörungen und Bewusstlosigkeit nicht bei häufiger Wiederholung zu Dauerschäden im Bereich irgendwelcher

1  Wolfgang U. Eckart, Fall 1: Der Nürnberger Ärzteprozess, in: Rainer A. Blasius u. Gerd R. Ueberschär (Hg.), Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943–1952, Frankfurt a. M. 1999, S. 73–86, hier S. 74. 2  Karl-Heinz Roth, Tödliche Höhen. Die Unterdruckkammer-Experimente im Konzentrationslager Dachau und ihre Bedeutung für die luftfahrtmedizinische Forschung des »Dritten Reiches«, in: Angelika Ebbinghaus u. Klaus Dörner (Hg.), Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozess und seine Folgen, Berlin 2001, S. 110–152, hier S. 115.

Organe führen können.«3 In dieser Situation kam die Offerte der SS, namentlich von dem Himmler unterstellten Sigmund Rascher, für die Versuche auf Häftlinge im KZ Dachau zurückgreifen zu können, äußerst gelegen, sodass diese sogleich vom Sanitätsinspekteur der Luftwaffe, Erich Hippke, angeordnet wurden – einem Angehörigen der Wehrmacht, nicht der SS, obgleich die Strategie der in Nürnberg

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Zäsuren — Analyse

3  Militärarchiv Freiburg, RL 39/227. Deutsche Luftfahrtforschung Bericht Nr. 902: »Über Beschleunigungsuntersuchungen am Menschen«, S. Ruff, 12.01.1938.

angeklagten Luftwaffenmediziner darauf basierte, die SS als treibende Kraft darzustellen. Eine Heuchelei, die Erfolg hatte, und auf welcher der Mythos der »sauberen Wehrmacht« in diesem Bereich aufbaute. Bei den brutalen Dachauer Versuchen kam es nachweislich zu etlichen Todesfällen. In »Extremversuchen«, zu denen »rassenschänderische Berufsverbrecher-Juden«4 verwendet worden seien, wurde auch der Frage nachgegangen, wie Luftembolien entstehen, die bis dahin angenommene Todesursache bei abgestürzten Fliegern. Deswegen seien Probanden nach den Versuchen, »jedoch vor Wiedereintreten des Bewusstseins unter Wasser zum vollständigen Exitus gebracht [worden]. Die auch hier unter Wasser durchgeführte Eröffnung des Schädels« habe massenhafte Luftembolien gezeigt. »Damit ist bewiesen, dass die bis jetzt als absolut tödlich angesehenen Luftembolien keineswegs tödlich sind, sondern reversibel sind.« 4  Vgl. hier und im Folgenden, Bundesarchiv Berlin, NS 19/1580, Geheimbericht von Rascher vom 11. Mai 1942.

Zwar behauptete Ruff, der von ihm nach Dachau gesandte Hans-Wolfgang Romberg habe niemals tödlichen Versuchen beigewohnt, doch ist vom Gegenteil auszugehen. Die Versuchspersonen »mussten sterben, weil Romberg und Katharina Trittel — Dachau–Nürnberg–Bonn

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Rascher nicht nur akute Rettungsfragen klären, sondern in Absprache mit ihrem Supervisor Siegfried Ruff auch für die höhenphysiologische Forschung neue Erkenntnisse gewinnen wollten«5. Und die Ergebnisse waren, anders als oft behauptet wird, überraschend. Sie wiesen nach, dass der menschliche Organismus weitaus belastungs­f ähiger war, als man bis dahin vermutet hatte. Sie bestätigten damit den Weg, den Ruff eingeschlagen hatte und der bei der Etablierung des Schleudersitzes für Piloten enden würde. So wurde »die Entscheidung Ruffs, nach Dachau zu gehen, […] zum wesentlichen Bestandteil einer außergewöhnlichen Erfolgsgeschichte – zumindest aus der Perspektive der Luftfahrtmediziner. Der Paradigmenwechsel zur barbarisierten Wissenschaft war mit Hervorbringung einer Innovation der medizinisch-militärischen Luftfahrtforschung verbunden, die sich nach Kriegsende weltweit durchsetzte. Im Fall eines Misserfolges des Ruffschen Rettungsmodells wäre es leichter gewesen, das eine vom anderen zu trennen und die moralisch-ethischen Vorbehalte in der fachinternen Öffentlichkeit zur Diskussion zu stellen.«6 So aber profitierte man gemeinsam vom eingeschlagenen Weg und konnte ihn über die im Ärzteprozess vorgetragenen Entlastungsstrategien auch noch halbwegs guten Gewissens beschreiten. »ES IST IM CHARAKTER DES ZEUGEN, DASS ER ETWAS ­ EITSCHWEIFIG IST« – RUFFS STRATEGIE DES VERTUSCHENS W UND DER RECHTFERTIGUNG Vor Gericht hielt die Elite zusammen: Jene, die nicht auf der Anklagebank saßen, taten ihr Möglichstes, indem sie in Leumundszeugnissen den untadeligen Charakter der Beschuldigten priesen, die dem Nationalsozialismus ohnehin skeptisch gegenübergestanden hätten. »Dr. Ruff schien mir der nationalsozialistischen Ideologie niemals so weit verfallen, dass er kritiklos alle Anordnungen, Reden und Taten der damaligen Regierung gut geheißen hätte. Er hat weder das brutale Vorgehen gegen die Juden gebilligt, noch Unmenschlichkeiten in der Kriegsführung, soweit sie uns zur Kenntnis kamen.«7 Auch vermeintliche Kritik an hochrangigen Nationalsozialisten fügte sich hier gut ein: »[…] und gar die heimtückische Erklärung von Dr. Goebbels, feindliche Besatzungen, die sich durch Fallschirmabsprung aus Luftnot zu retten suchten, vor der Wut der Bevölkerung nicht länger schützen zu können, womit praktisch zum Mord aufgefordert wurde, betrachtete er als eine mit der Soldatenehre unvereinbare Schändlichkeit.« Ein Verweis, der die ethischen Grundsätze des Militärs adressierte.

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Zäsuren — Analyse

5  Roth, S. 126. 6  Ebd., S. 136. 7  Vgl. hier und im Folgenden, Universitätsarchiv Göttingen, Klaus Dörner u. a., Der Nürnberger Ärzteprozeß 1946/47: Wortprotokolle, Anklage- und Verteidigungsmaterial, Quellen zum Umfeld (zitiert als Microfiches Nürnberger Ärzteprozess), Direktes Verhör Siegfried Ruff, 2/6594.

Ruffs professorales Selbstverständnis manifestierte sich auch sprachlich. Aufgrund seiner elitären Position nahm er sich das Recht heraus, endlos zu monologisieren und damit die Geduld des Gerichtes auf eine harte Probe zu stellen. Sein Verteidiger äußerte zwar beschwichtigend, dass es im Charakter seines Mandanten liege, »etwas weitschweifig« zu sein, doch de facto wollte Ruff lediglich nicht auf die Frage antworten und redete stundenlang, bis die Ausgangsfrage längst aus dem Blickfeld verschwunden und der jeweilige Sachverhalt erfolgreich verschleiert worden war. So gelang ihm, sich als »Forscher und als Gelehrter« zu präsentieren, der stets eine »vorbildliche Gewissenhaftigkeit gezeigt habe«8. Für ihn als Flieger war es selbstverständlich, alle Versuche und »halsbrecherische[n] Unternehmungen im Flugzeug«9 selbst auszuführen. Aus diesem Selbstverständnis heraus hatte er vermeintlich nichts zu verbergen: »Ich habe in dieser Zeit auf dem Gebiet der Höhenversuche experimentell gearbeitet und also auch Höhenversuche in der Unterdruckkammer gemacht wie früher in meinem Institut und wie bei den Versuchen, die hier zu Anklage stehen.« In seiner Logik: Warum auch nicht? Der Selbstversuch war das Kernargument der Verteidigung und der Schlüssel zum flugmedizinischen Selbstverständnis zugleich. Ruff habe in seinen Selbstversuchen »die Grenze des Erträglichen erreicht und Schmerzen und Gesundheitsstörungen bewusst in Kauf genommen«. Allerdings habe er, so versicherten seine Kollegen rasch, keinen krankhaften Ehrgeiz gehabt, »der ihn hätte verleiten können, einer Auszeichnung oder der Karriere wegen, gegen sein Gewissen zu handeln«. Dieses Muster hatten die Angeklagten vor Gericht bereits etabliert: Weil die Versuche ihrem Gewissen nicht widersprachen, gab es auch keine Einsicht und kein Schuldbewusstsein. Ruff sei ein kameradschaftlicher Typ gewesen, mit besonderer experimenteller Findigkeit und vor allem: Opferbereitschaft. Unter den Selbstversuchen habe seine Gesundheit erheblich gelitten, »was sich noch im vergangenen Jahr in wochenlang anhaltenden abendlichen Ödemen an den Beinen zeigte«. So verkehrte sich die mit den Versuchen verbundene Gefährdung je nach Argumentationsbedarf jeweils in ihr Gegenteil: Einerseits durfte die Heroik des 8  Microfiche Nürnberger Ärzteprozess, Direktes Verhör Siegfried Ruff, 2/6613. 9  Hier und im Folgenden: Microfiche Nürnberger Ärzteprozess Direktes Verhör Siegfried Ruff, 2/6600. Strughold zu Ruff.

eigenen Versuchs nicht zu gering ausfallen, weshalb Ruff den irreversiblen Erschöpfungszustand an Herz und Kreislauf durch Sturzflüge betonte, der allerdings nicht besonders gefährlich sei; außerdem musste das Opfer hervortreten: Man habe keinerlei Vorteile erlangt, sondern sogar seine Lebensversicherung selber zahlen müssen. Andererseits hatte glaubhaft klargestellt zu werden, dass man das Risiko in Dachau für kalkulierbar, die Versuche für ungefährlich hielt. Katharina Trittel — Dachau–Nürnberg–Bonn

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Zwischen seinen Selbstversuchen und denen in Dachau konnte Ruff dann auch keinen Unterschied erkennen: »Die Versuche, die mit meiner Genehmigung und mit meiner Billigung von meinem Mitarbeiter Romberg in Dachau durchgeführt worden sind, hielten sich absolut im Rahmen der experimentellen Untersuchungen, die wir in unserem eigenen Institut an uns selbst ebenfalls durchgeführt haben.«10 Die Versuche an sich selbst seien gar »subjektiv unangenehmer und objektiv gefährlicher« gewesen als die Dachauversuche.11 Zudem sei Krieg gewesen, man habe durch die Experimente das Sterben Tausender verhindern wollen12 – auch deswegen hielt man sie für vereinbar mit dem hippokratischen Eid. Am Ende des Ärzteprozesses stand die zentrale Erkenntnis, dass in den Versuchen »von den Ärzten fundamentale Gesetze ärztlicher Ethik und Deontologie vergewaltigt und mit Füßen getreten worden [sind]. Das Gerichtsverfahren hat unzweifelhaft bewiesen, dass die Versuche unter Missachtung elementarster Regeln der Menschlichkeit ausgeführt wurden, sie waren durch bedenkenlose Grausamkeit gekennzeichnet, dabei wurden den Opfern außergewöhnliche Schmerzen zugefügt; in der Konsequenz verursachten sie in sehr vielen Fällen den Tod.«13 Der Prozess endete mit der Verurteilung von 16 Angeklagten (darunter sieben Universitätsprofessoren): sieben Angeklagte (unter ihnen drei Professoren) wurden zum Tode verurteilt, fünf (darunter drei Professoren) zu lebenslanger Haft, zwei Ärzte zu je zwanzig Jahren, ein Professor zu zehn Jahren, sieben Ärzte wurden freigesprochen, unter ihnen Siegfried Ruff und sein Mitarbeiter Romberg. Indes: Nicht nur den Zeitgenossen fiel auf, dass »gerade jene freigesprochen

10  Microfiche Nürnberger Ärzteprozess, Direktes Verhör Siegfried Ruff, 2/6602.

worden [waren], die die amerikanische Luftfahrtmedizin am dringendsten gebrauchen kann«14. Darüber hinaus gründete der Freispruch Ruffs auch in dessen Verteidigungsstrategie: »Entscheidend aber war, dass Siegfried Ruff, der intellektuelle Kopf der Verteidigung, diese Schutzbehauptungen in eine aggressive Gesamtkonzeption einbettete. Seit seiner ersten Eidesstattlichen Erklärung betonte er immer wieder, im Kriegszustand seien derartige Versuchsanordnungen in allen ›Kulturstaaten‹ üblich, und rechtfertigte den Gang nach Dachau ausdrücklich mit dem durch den technischen Durchbruch zum Höhenflug entstandenen Zugzwang für die luftfahrtmedizinische Forschung. Dieser technokratische Pragmatismus verunsicherte die amerikanischen Richter, denn gerade er galt nicht nur in den einschlägigen amerikanischen Geheimdienstanalysen als nicht typisch nationalsozialistisch und dem pragmatischen Realismus des nordamerikanischen Lebensstils wesensverwandt.«15 In der Feststellung, dass die Aussagen der Luftwaffenmediziner vor Gericht in gewisser Weise – nämlich ihrem eigenen Selbstverständnis

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Zäsuren — Analyse

11  Microfiche Nürnberger Ärzteprozess, Eröffnungsreden, Eröffnungsrede Ruff 23/02237. 12  Angelika Ebbinghaus, Strategien der Verteidigung, in: Dies. u. Dörner, S. 405–439, hier S. 434. 13  Jozef Bogusz, Versuche am Menschen, in: Hannes Friedrich u. Wolfgang Matzow (Hg.), Dienstbare Medizin. Ärzte betrachten ihr Fach im Nationalsozialismus, Göttingen 1992, S. 87–100, hier S. 89. 14 

Roth, S. 148.

15 

Ebd., S. 149.

entsprechend – »glaubhaft« gewesen seien, liegt andererseits das eigentlich Erschreckende. »Ihre Bereitschaft, eine wie auch immer geartete Autorität oder ein holistisches Prinzip höher als das Leben von Menschen zu bewerten, lässt im Ansatz erkennen, wie es zu solchen medizinischen Grausamkeiten kommen konnte.«16 KOLLEKTIVE SCHULDABWEHR ALS MODUS DER VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG Dennoch empfanden viele die Urteile als Gerichtsspruch über den gesamten Berufsstand und lehnten sie deswegen als Unterstellung einer Kollektivschuld 16  Ulf Schmidt, Die Angeklagten Fritz Fischer, Hans W. Romberg und Karl Brandt aus der Sicht des medizinischen Sachverständigen Leo Alexander, in: ­Ebbinghaus u. Dörner, S. 374–405, hier S. 403. 17  Katharina Trittel, »Kein Ehrenmann alten Schlages«. Das »Diktat der Menschenverachtung« und der »Dokumentenstreit« in der Göttinger Universitätszeitung (1947/48)«, in: Franz Walter u. Teresa Nentwig (Hg.), Das gekränkte Gänseliesel. 250 Jahre Skandalgeschichten in Göttingen, Göttingen 2016, S. 99–116, hier S. 101. 18  Schreiben von Deuticke an Carl Oelemann vom 19.11.1946, zit. nach Jürgen Peter, Der Nürnberger Ärzteprozess im Spiegel seiner Aufarbeitung anhand der drei Dokumentensammlungen von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke, Münster 1994, S. 36. 19  Schreiben von Paul Hoffmann an Carl Oelemann vom 09.11.1946, zit. nach Peter, S. 37. 20  Alexander Neumann, Die Luftfahrtmedizin von der Weimarer Republik bis zur frühen Bundesrepublik, in: Helmuth Trischler u. a. (Hg.), Ein Jahrhundert im Flug. Luft- und Raumfahrtforschung in Deutschland 1907–2007, Frankfurt a. M. 2007, S. 138–156, hier S. 151.

ab. Diese sahen sie gleichermaßen behauptet in der von den Medizinern Alexander Mitscherlich und seinem Assistenten Fred Mielke herausgegebenen Prozessdokumentation »Das Diktat der Menschenverachtung«, die zum Ausgangspunkt einer erbitterten Kontroverse wurde. Im Kampf um Deutungshoheit waren die Stoßrichtungen eindeutig: »Während die Wortführer des etablierten Ärztestandes die medizinische Wissenschaft an sich als unbelastet und unbelastbar verteidigten, die Standesehre als unantastbar, die in ihren Augen verallgemeinerten Vorwürfe für unaussprechbar und eine Kollektivschuld für unbelegbar hielten, trat Mitscherlich für die Aufarbeitung konkreter Verbrechen, kollektiven Schuldigwerdens, für eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und mit den ethischen Handlungsmaximen des Berufsstandes ein. Nicht die Verbrechen Einzelner, sondern die Erkenntnis, ›dass ein Kollektiv die Menschenverachtung gelehrt und die nationalsozialistische Ideologie nur zu ihrer Legitimation benutzt hatte‹, beschreibt seine Perspektive, die exemplifiziert am Schicksal der Angeklagten den Blick auf eine mögliche zeitgenössische Mithaftung richten wollte«17. Doch setzte sich das Gros der Ärzteschaft gegen Mitscherlichs Ansinnen durch, indem öffentlich proklamiert wurde, es habe sich nur eine kleine Zahl schuldig gemacht, »dass aber die deutsche Ärzteschaft als solche entsprechend ihrer Tradition und ihrer inneren Überzeugung frei von Schuld und nicht mit Vorwürfen zu belasten ist«18. Lediglich eine »kleine nationalsozialistische Clique« habe »sich die Finger verbrannt«.19 Natürlich war es ganz wesentlich dieses Einvernehmen, welches Ruff zu seiner Nachkriegskarriere verhalf. Seine weitere Beschäftigung durch die Amerikaner scheiterte nach seinem Freispruch zwar am öffentlichen Druck20, doch blieb er Professor und konnte mithilfe der alten Netzwerke in Bonn weiter als Leiter der DVL , die dorthin verlegt worden war, arbeiten. Auch wurde er wieder von der DFG gefördert. Bereits 1952 waren in seinem Institut ein Katharina Trittel — Dachau–Nürnberg–Bonn

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Höhenlaboratorium und eine moderne Unterdruckkammer für weitere flugmedizinische Forschungen vorhanden.21 1958 regte sich kurzzeitig Widerstand gegen die Ernennung Ruffs zum außerplanmäßigen Professor. Minister und Universitätskollegen betonten jedoch gelassen, dass man sich aufgrund von Ruffs Freispruch in Nürnberg nicht erneut mit dem vor Gericht erörterten Fragekomplex zu beschäftigen habe, auch weil Ruffs wissenschaftliche Qualifikation eindeutig nachgewiesen sei. Die öffentlich geäußerten Anwürfe verurteilte man in durchaus zeittypischer Manier als »Angriffe aus der Sowjetzonenpresse«22. 1959 wurde ein Strafverfahren der Staatsanwaltschaft München gegen Ruff eingestellt, sodass er nun auch aktenkundig von einem deutschen Gericht freigesprochen worden war. 1960 traf dann ein Schreiben der Lagergemeinschaft Dachau ein, die gegen die Ankündigung einer Vorlesung von Ruff über Flugmedizin protestierte und berichtete, viele ihrer Kameraden hätten die Experimente von Ruff und seinen Mitarbeitern mit dem Leben bezahlen müssen, andere litten bis heute an den Folgen. Ruff sei zwar freigesprochen, aber ein Wissenschaftler »mit der moralischen Belastung«, der sich »im Auftrag Himmlers zu solchen Versuchen hergegeben hat«, dem dürfe nicht gestattet sein, in irgendeiner Hinsicht ärztlich tätig zu sein. »Wir ehemaligen ›Dachauer‹ können und wollen nicht glauben, dass Ärzte mit einer solch belasteten Vergangenheit schon wieder als anerkannte Lehrer der deutschen Jugend öffentlich tätig sein können. […] Soll so die Bereinigung der unseligen deutschen Vergangenheit aussehen?«23 Doch der Ruf der Opfer verhallte letztlich ungehört. Der »Angeklagte« blieb bei seinen Verteidigungsstrategien, seine Fürsprecher reproduzierten die bereits im Nürnberger Ärzteprozess vorgetragenen Argumente und die »Ankläger« wurden diskreditiert. Die Lagergemeinschaft Dachau werde, so teilte der Verfassungsschutz mit, als »eine kommunistisch gesteuerte Organisation«24 eingestuft, ihr Vorsitzender sei ein früherer KPD-Funktionär. Ehemalige KZ-Häftlinge wurden ignorant abgekanzelt, ohne ihre Zeitzeugenschaft auch nur zu thematisieren. Der Rektor der Bonner Universität war jedoch um den Ruf der Hochschule besorgt und übte als Nicht-Mediziner ebenfalls Kritik an Ruff: »Ich kann es nicht ganz verstehen, wie ein Arzt, der den Eid des Hippokrates geschworen hat, an den im Prozess geschilderten Versuchen mitwirken konnte.« Doch viel wichtiger: »Ich fürchte, dass sich während des Eichmann-Prozesses die

21  Alexander Neumann, Schneller, höher, kräftiger. Physiologische Forschungsförderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1920–1970, in: Karin Orth (Hg.), Die Deutsche Forschungsgemeinschaft 1920–1970. Forschungsförderung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik, Stuttgart 2010, S. 241–263, hier S. 260. 22  Universitätsarchiv Bonn, MF-PA 308, Personalakte Siegfried Ruff. Kultusminister von NRW an Bundesminister Hans-Christoph Seebohm am 2.4.1958. 23  Ebd., Schreiben der Lagergemeinschaft Dachau an den Rektor der Uni (Datum unleserlich).

Vorwürfe verstärken werden und ich glaube kaum, dass sich die Öffentlichkeit durch den Nürnberger Freispruch von der Rechtmäßigkeit des Verhaltens des Prof. Ruff überzeugen lässt.«

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24  Hier und im Folgenden: UA Bonn, MF-PA 308, Rektor an Dekan der Med.Fak. am 30.3.1961.

Und so wurde eine Gutachterkommission eingesetzt, die allerdings passenderweise aus Medizinerkollegen bestand, die sich unisono, dem bekannten Schema folgend, für Ruff aussprachen. Auch hier wurden die »Ankläger« als »undurchsichtige Quellen«25 mit subversiver Tendenz bezeichnet (dazu zählte man übrigens auch den Spiegel, der Vorwürfe gegen Ruff publik gemacht hatte26). Zudem habe Ruff nicht verwerflich gehandelt und außerdem: die Zeitumstände. Wenn »man auch nur einigermaßen einen Begriff von der damaligen Situation, einschließlich ihrer suggestiven Komponente« habe, wäre eine Entlastung der naheliegende Schluss. Ruff, Teil der Elite und Spitzenwissenschaftler, wurde porträtiert als Verführter in den Wirren des Nationalsozialismus, angefeindet durch »Nestbeschmutzer« wie Mitscherlich. Das Renommee der Universität bereitete den Ärzten indes weniger Kopfzerbrechen: Die Schreiber der Angriffe seien »nicht diejenige Öffentlichkeit, auf deren Urteil wir Wert legen sollten«. Die wissenschaftliche Öffentlichkeit, und das sei schließlich entscheidend, scheine keinen Anstoß zu nehmen: »Die Fakultät muss also entweder Herrn Ruff fallen lassen, oder sie muss ihn eindeutig so decken, dass die Unruhe aufhört.« Nicht nur die Vokabel »decken« springt ins Auge, die nahelegt, es gäbe 25  UA Bonn, MF-PA 308, Elbel an den Dekan der Med.Fak. am 03.08.1961.

doch ein Unrecht zu verbergen. Auch jenseits sprachlicher Spitzfindigkeiten ist es beachtlich, dass die kritische Öffentlichkeit, und vor allem die Opfer des Nationalsozialismus, nicht zu derjenigen Öffentlichkeit gehören sollen,

26  O.V., Menschenversuche. Ruff unter Druck, in: Der Spiegel, 12.10.1960.

die als relevant erachtet wird – ein eindrücklicher Beleg, dass der Weg in eine demokratische Gesellschaft noch weit war. 1962 erklärte die Fakultät: »Der Vorwurf einer ernsten sittlichen oder standesethischen Verfehlung ist

27  UA Bonn, MF-PA 308. Dekan an den Rektor 1962.

jedoch Herrn Ruff nicht zu machen […], er konnte von der humanitären Bedeutung der Versuche überzeugt sein.«27

28  UA Bonn, MF-PA 308. Ulrich Wickert an den Dekan am 2.12.1965.

Der damals in Bonn studierende Journalist und spätere »Tagesthemen«-­ Sprecher Ulrich Wickert indes wollte das 1965 nicht auf sich beruhen lassen. Kurz und bündig fragte er den Dekan: Vor einem Jahr habe die Universität

29  Ulrich Wickert, Neugier und Übermut. Von Menschen, die ich traf, München 2014, S. 62. 30  Bernd-A. Rusinek, Von der Entdeckung der NS-Vergangenheit zum generellen Faschismusverdacht. Akademische Diskurse in der Bundesrepublik der 60er Jahre, in: Axel Schildt u. Detlef Siegfried (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2003, S. 114–148, hier S. 134.

Bonn den Ausdruck des »damals Üblichen« geprägt, anhand dessen bestimmt worden sei, ob ein Mitglied des Lehrkörpers tragbar sei. »Als Student, als akademischer Bürger und als Mitglied des Bonner Studentenparlaments bitte ich Sie, Spektabilität, mir mitzuteilen, ob die Versuche des Herrn Prof. Ruff in Dachau noch zu dem ›damals Üblichen‹ zählen.«28 Eine Antwort ist nicht überliefert, ein Assistent der Universität, von Wickert als »Mann mit Haltung bezeichnet«29, der die Debatte ein weiteres Mal angestoßen hatte, verlor seinen Lehrauftrag.30 Allerdings gab es auch für Ruff Konsequenzen: Er bat 1966 darum, seine Vorlesungstätigkeit nicht mehr ausüben zu müssen. 1961 und 1965 hatten in der Bundesrepublik geplante Katharina Trittel — Dachau–Nürnberg–Bonn

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Weltkongresse für Luftfahrtmedizin abgesagt werden müssen, weil Anstoß an der Teilnahme Ruffs genommen worden war. EINER VON VIELEN Innerhalb der deutschen Forschergemeinschaft blieb Ruff allerdings ein angesehener Wissenschaftler; eine Würdigung klagte: »Kriegsende und Nachkriegszeit bedeuteten eine erzwungene Unterbrechung des Schaffens Prof. Ruffs, die denen, die jene Zeiten erlebt haben, nicht erklärt zu werden braucht. Die Fortsetzung des Krieges mit justizähnlichen Mitteln durch die Sieger traf auch ihn, endete aber mit einem der äußerst wenigen Freisprüche.«31 Siegfried Ruff war einer von vielen. Die meisten derjenigen, die Schuld auf sich geladen hatten, waren bereits in den 1950er Jahren vollständig in die Mitte der Bevölkerung re-integrierte Bürger. Täter und Nachkriegs­gesellschaft »trafen sich in dem Wunsch und dem Streben nach ›Normalität‹, nach Sicherheit und mit deren zunehmender Realisierung ebenso in bürgerlichen Wertvorstellungen, die Arbeit, Fleiß, Ordnung, Disziplin und Wertschätzung der Familie betonten und die es den Täter so einfach wie möglich machten, ›anständig‹ zu erscheinen. Solange das entpolitisierte Konzept von Bürgerlichkeit mehrheitsfähig und unangetastet blieb und von der Politik gestützt wurde, solange konnte eine Schlussstrichmentalität gelebt werden.«32 Allerdings geriet der vergangenheitspolitische Erinnerungsdiskurs, wie das Beispiel Ruff zeigt, in den 1960er Jahren in Bewegung. Engagierte Juristen setzten sich für die Ahndung ungesühnter Verbrechen ein, Täter gingen in Pension, Skandale störten die trügerische Ruhe. Nur: Die Tatsache, dass die NS-Vergangenheit nun öffentlich präsenter wurde, bewirkte noch keine radikale Veränderung im Umgang mit ihr, hätte eine solche doch zahlreiche weitere bürgerliche Existenzen aufgeschreckt, welche die eigene Vergangenheit schon fast selbst vergessen hatten. Gerade ihre »Halbgötter in Weiß« wollte sich die Öffentlichkeit nicht als Täter enttarnen lassen, und diese selbst sahen keinen Anlass, sich ihrer eigenen Traditionen zu schämen oder Kontinuitäten infrage zu stellen. Und so konnte trotz einer »Rückkehr der Erinnerung« (Norbert Frei) in den 1970er Jahren der Topos der kleinen Gruppe der Schuldigen, die außerhalb der eigenen Tradition und Kontinuität stand, seinen Stammplatz erfolgreich verteidigen – zum Teil bis heute. Katharina Trittel, geboren 1984, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Demokratieforschung und an der Forschungsund Dokumentationsstelle zur Analyse politischer und religiöser Extremismen in Niedersachsen (FoDEx). Sie beschäftigt sich vorwiegend mit den Themen Nationalsozialismus und Elitenkontinuität, ebenso wie mit der Extremen Rechten und Protest.

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31  P. Würfler, Siegfried Ruff 65 Jahre, in: Zeitschrift für Flugwissenschaft, Jg. 20 (1972), H. 1/2, S. 77–78, hier S. 78. 32  Christina Ullrich, »Ich fühl’ mich nicht als Mörder«. Die Integration von NS-Tätern in die Nachkriegsgesellschaft, Darmstadt 2011, S. 162.

1945 ALS LANGFRISTIGE ZÄSUR DER ZEITGESCHICHTE NATIONALE, EUROPÄISCHE UND GLOBALE ­P ERSPEKTIVEN IM VERGLEICH ΞΞ Lutz Raphael

Siebzig Jahre sind seit dem Epochenjahr 1945 vergangen; und kaum ist die Erinnerungswelle an den Beginn des Ersten Weltkriegs verebbt, rückt bereits wieder das Ende des Zweiten Weltkriegs auf die Tagesordnung unseres öffentlichen Erinnerungszyklus.1 Damit tritt zeitlich zusammen, was auch aus Sicht der Zeitgenossen und Historiker eng zusammengehört: die gut dreißig Jahre des europäischen Bürgerkriegs, wie diese Zeit der Weltkriege auch genannt worden ist, vom Ausbruch des 2. Balkankriegs 1912, oft vergessener Auftakt zur Julikrise 1914, bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs im Mai bzw. August 1945. Der Historiker tut gut daran, die Gelegenheit dekadologischer Erinnerung zu nutzen, um selber über die Bedeutung des Jahres 1945 für die Zeitgeschichte nachzudenken. Gern benutzen wir das Wort »Zäsur«, um unsere Periodisierungsvorschläge gegenüber Kollegen, aber auch einer breiteren Öffentlichkeit plausibel zu machen. BEDEUTUNGSEBENEN DES ZÄSURBEGRIFFS Was meinen wir eigentlich, wenn wir von 1945 als einer Zäsur sprechen? Zunächst sind verschiedene Bedeutungsebenen dieses Wortes zu unterscheiden: Zum einen sprechen wir Historiker von einer Zäsur im Sinne eines Einschnitts, wenn deutlich gemacht werden soll, dass ein Ereignis oder ein Bündel von Ereignissen frühere Entwicklungen gestoppt hat, Lebensumstände von Menschen und Gemeinwesen sich merklich sowie nachhaltig verändert haben, neue Machtverhältnisse in Politik, Wirtschaft oder Gesellschaft entstanden sind. So sprechen wir von der Zäsur des Interregnums nach dem Tod Kaiser Friedrichs II., von der Zäsur des Westfälischen Friedens oder der Französischen Revolution. 1  Dieser Text basiert auf einem gleichnamigen Vortrag vor der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und den Monumenta Germaniae Historica in München, gehalten am 4. März 2015.

Immer wird die Reichweite solcher Einschnitte mit guten Gründen und empirischen Belegen angezweifelt. Längst haben Wirtschafts-, Sozial- und Kulturhistoriker ihren generellen Vorbehalt gegen die vermeintlich klaren Zäsuren der Politikgeschichte im Parlament der Historiker erfolgreich durchbringen können.

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Dennoch kommen wir ohne sie nicht aus. Das Konzept ist nützlich, vielleicht unersetzlich, weil es eine erfahrungsgeschichtliche mit einer strukturgeschichtlichen Perspektive verbindet. Zäsuren, die kein Zeitgenosse bemerkt, sind demnach keine. Das Kriegsende 1945 hat weltweit für Furore gesorgt; auch eine Reihe weiterer Großereignisse dieses Jahres haben globale Aufmerksamkeit auf sich gezogen, aber auch weltweite Folgen gezeitigt. Aber zum anderen ist die Frage nach der »Zäsur« 1945 für den Zeithistoriker mit noch etwas Weiterem verbunden. Er schaut auf die nunmehr über siebzig Jahre, die seit den Ereignissen des Jahres 1945 vergangen sind, und fragt, ob die damals ausgelösten, ins Leben gerufenen Entwicklungen, Institutionen und Routinen ihrerseits durch eine weitere Zäsur abgestoppt wurden oder an Bedeutung verloren haben. Beginnt mit dem Jahr 1945 noch immer die Vorgeschichte unserer Gegenwart? Zäsuren der Zeitgeschichte trennen stets auch den Beginn jüngster Vergangenheit von dem Ende älterer Zeitschichten. Damit ist die Frage nach der Zäsur 1945 unweigerlich mit der Betrachtung der Zeitläufe der letzten siebzig Jahre verknüpft; in einer Art professionellem Reflex ruft sie unweigerlich Ereignisse mit möglichem Zäsurcharakter wie 1968, 1973/74, 1989/90 oder 2008 ins Gedächtnis. Angesichts der Kürze dieser Distanz, aber auch der Schnelllebigkeit und Umbrüche der jüngsten Zeitgeschichte hat es der Zeithistoriker schwerer als die Kollegen älterer Epochen, seine »Zäsuren« auszuwählen. Drittens bezeichnet das Wort »Zäsur« einen Einschnitt des Vergangenheitsbildes; es handelt sich um eine »Kerbe« in unserem Gedächtnis. Auch in diesem Sinn ist die Frage nach der Zäsur des Jahres 1945 eine genuin zeitgeschichtliche. Stellt das Ende des Zweiten Weltkriegs für uns, als politische Nation, aber auch in unserem ganz persönlichen, vom Schicksal unserer Angehörigen oder unseres Freundes- und Bekanntenkreises mitgeprägten Geschichtsbild, einen wichtigen Einschnitt dar? Welche Rolle spielt das Kriegsende in unserem Gedächtnis, sei es nun privat oder öffentlich? Zäsuren sind wesentliche Elemente unserer kollektiven Erinnerung. Mit ihrer Hilfe vergegenwärtigen wir uns Ereigniszusammenhänge der Vergangenheit und heben sie als für unsere Gegenwart relevante, wichtige Elemente der Geschichte hervor. Zäsuren sind also gleichzeitig Produkte von Erinnerung und Wissen, Teil unseres kollektiven Gedächtnisses und geschichtswissenschaftlicher Rekonstruktion. Schließlich ist die Rede von der »Zäsur« noch rückgebunden an eine weitere, ganz grundsätzliche Vorannahme mit Blick auf die Vergangenheit. Wir sind gewohnt, von ihr im Singular zu sprechen. Wir sprechen von »der deutschen Geschichte«, »der Vergangenheit Europas« und »der Geschichte des

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20. Jahrhunderts«. Von wissenschaftlicher Seite ist längst Einspruch erhoben worden gegen den naiven Glauben an den einen großen Zusammenhang der vielen Ereignisse, Vorkommnisse und Zustände früherer Zeiten. Radikale Konstruktivisten weisen darauf hin, dass wir es sind, die diese Einheit herstellen; und manche vermuten sogar, dass die Überreste und Spuren der Vergangenheit eine solche gar nicht hergeben, die Vergangenheit also »eigentlich« ein Wirrwarr unverbundener Handlungsstränge sei. Lange Zeit haben gerade wir Berufshistoriker dieser Skepsis das ebenso selbstbewusste wie optimistische Bild eines dynamischen Entwicklungsstrahls, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verknüpft, entgegengesetzt. Heute neigen wir eher einem vorsichtigeren Realismus zu, der davon ausgeht, dass der eine große Zusammenhang nicht so leicht mit den beschränkten Mitteln unserer empirischen Wissenschaft zu rekonstruieren sei, wir auch die Koexistenz unterschiedlicher Dynamiken mit ihren ganz eigenen Zeitlichkeiten, Pfadabhängigkeiten und ihrem zuweilen ebenso langsamen wie unauffälligen Weiterwirken in Rechnung stellen müssen. Für einzelne Ausschnitte der Vergangenheit postulieren wir auch heute beherzt Zusammenhänge, Kausalitäten und Wechselwirkungen, unterscheiden Perioden und benennen Zäsuren. Das Wort Zäsur aber verwenden wir heute gern im Plural; wir tun uns neuerdings schwer, wenn wir uns ungeschützt der Geschichte und einer Epochenzäsur zuwenden sollen, machen sofort Einschränkungen hinsichtlich der Reichweite und »Tiefe« einer Zäsur. Indes: Das Kriegsende und die damit verbundenen Ereignisse gehören wohl zu den eher seltenen Momenten, in denen es zu einer Verdichtung, der Synchronisierung ganz unterschiedlicher Tendenzen gekommen ist. Wir haben es mit einem historischen Ereigniszusammenhang nach Art eines elek­ trischen Kurzschlusses zu tun. Die üblichen Abschottungen zwischen unterschiedlichen Handlungsbereichen fallen weg, es fand ein enormer Austausch zwischen in ein Vorher und Nachher getrennten historischen Welten statt. Das macht das Jahr 1945 zu einer besonderen Zäsur. DIE EREIGNISKETTE DES JAHRES 1945 Alle vier Bedeutungsebenen verweisen darauf, dass »Zäsuren« nicht losgelöst von konkreten sozialräumlichen Bezügen gedacht werden können. Von Zäsuren zu sprechen, macht erst Sinn, wenn klar ist, von welchen Erinnerungskollektiven, über welche historischen Räume bzw. politischen Gemeinschaften wir reden. Für das Jahr 1945 sind hierbei mindestens drei zeitliche und räumliche Kontexte zu unterscheiden: der nationale, der europäische und ein globalgeschichtlicher Bezugsrahmen. Lutz Raphael  —  1945 als langfristige Zäsur der Zeitgeschichte

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Doch welche Ereignisse des Jahres 1945 wirkten nun als Zäsuren? Der 27. Januar 1945 ist ein solches Ereignis mit Zäsurcharakter: Die Befreiung der noch verbliebenen, zurückgelassenen überlebenden Häftlinge in Auschwitz durch die Rote Armee markiert symbolisch das Ende des Judenmords und darüber hinaus das Ende des NS-Terrorregimes im besetzten Europa. Der Erfahrungsgehalt dieses Ereignisses war wie seine kausale Bedeutung für das Ende des Mordens zunächst begrenzt; erst die Erinnerung hat dieses Datum zu einem Schlüsseldatum des Jahres 1945 gemacht. Es verbindet die Geschichte des Holocaust fest mit dem Zäsurcharakter dieses Jahres. Die Frage, ob mit diesem Ereignis symbolisch ein Zivilisationsbruch sichtbar wurde, hat erst allmählich Konturen angenommen und eine internationale Geschichtspolitik hervorgebracht. Die Konferenz der drei alliierten Mächte – die USA , Großbritannien und die Sowjetunion – vom 2. bis 11. bzw. 12. Februar 1945 in Jalta auf der Krim ist ein zweites Schlüsselereignis. Die dort getroffenen Übereinkünfte der künftigen Siegermächte sollten wegweisenden Charakter haben – auch wenn in vielen Punkten keine endgültige, geschweige denn einvernehmliche Regelung gefunden wurde. Die gemeinsamen Ziele der bedingungslosen Kapitulation, der Entnazifizierung und Entmilitarisierung Deutschlands sowie die Bildung von Besatzungszonen fixierten Eckpunkte einer Nachkriegsordnung. Die in Jalta ebenfalls stillschweigend vereinbarte Aufteilung von Interessensphären und Vormarschzonen der verbündeten Mächte hatte gar noch weiterreichende Folgen. Der 7., 8. und 9. Mai 1945, die Daten der Unterzeichnung der deutschen Kapitulation vor den Vertretern der Siegermächte, markieren in Europa das Ende des Krieges, zugleich aber auch den Augenblick der Befreiung von der deutschen Besatzungsherrschaft und der nationalsozialistischen Diktatur. Für die deutsche Erinnerungsgeschichte ist diese Zäsur längst mit dem Jahr 1985 verknüpft, als vierzig Jahre später Bundespräsident Richard von Weizsäcker die Dimension der Befreiung auch im öffentlichen Geschichtsbild verankert hat. Der 8. Mai 1945 ist aber auch der Tag von Sétif, einer Stadt in Algerien, in der die lokalen französischen Siegesfeiern von einem Teil der Teilnehmer zur Demonstration antikolonialer Freiheitsforderungen der Algerier umfunktioniert wurden. Dort ereigneten sich gewaltsame Auseinandersetzungen mit Verletzten und über 100 Toten – vor allem aufseiten der Kolonisten. Die dann einsetzende koloniale Repression mündete in den darauffolgenden Tagen in einem Massaker, dem bis zu 45.000 Einheimische zum Opfer fielen. In der Erinnerungskultur Algeriens markiert dies den endgültigen Bruch mit den

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Reformversprechungen der französischen Kolonialmacht und mit dem Regime des weißen Siedlerimperialismus. Wie in Europa und Nordafrika können wir 1945 auch in Asien einen engen Zusammenhang zwischen Befreiung und Kriegsende beobachten. Im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der japanischen Kapitulation verkündeten am 17. August in Djakarta und am 2. September in Hanoi die Führer der nationalen Befreiungsbewegungen Vietnams und Indonesiens, Ho Chi Minh einerseits, Sukarno und Hatta andererseits, die Unabhängigkeit ihrer Länder von der französischen bzw. niederländischen Kolonialmacht. Der 26. Juni 1945 ist der Tag, an dem in New York die UNO-Charta verabschiedet wurde. Dieser Gründungsakt einer internationalen Staaten­ gemeinschaft mit dem Ziel der kollektiven Friedenssicherung gehört aus globalgeschichtlicher Sicht zu denjenigen Ereignissen des Jahres 1945, die nicht unerwähnt bleiben dürfen, weil sie bei den Zeitgenossen weltweit große Erwartungen geweckt haben, von denen aber nur wenige erfüllt worden sind. Schließlich ist die Debatte um den Zäsurcharakter des Jahres 1945 untrennbar verbunden mit den Tagen des 6. und 9. August, als in Hiroshima und Nagasaki die amerikanischen Atombomben abgeworfen wurden, die Japan zur Kapitulation bewegen sollten. In ihrer Bedeutung sind diese beiden zunächst lediglich lokalen, dazu noch singulären Ereignisse vergleichbar mit der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches und Japans. Der militärische Einsatz der neuen Bombe erwies sich als so wirksam, zugleich aber so zerstörerisch, dass er eine neue Epoche der Militär- und Sicherheitspolitik einleitete. Es begann das Atomzeitalter, in dessen Schatten imperiale Konfrontationen vor der Schwelle eines dritten Weltkriegs haltmachten, das aber einer ganz anderen Form der Konfrontation, dem Kalten Krieg, den Weg bahnte. Schließlich ist da der 20. November, jener Tag, als in Nürnberg das internationale Militärtribunal eröffnet wurde. Knapp sechs Monate nach der Kapitulation wurden die »Hauptverantwortlichen« des NS-Regimes für ihre Verletzungen völkerrechtlicher Regeln – konkret: für ihre Angriffskriege, ihre Missachtung des Kriegsrechts sowie schließlich auf Grundlage der neuen Kategorie der Verbrechen gegen die Menschlichkeit – angeklagt. Was von vielen Deutschen zunächst erneut wie nach 1918 als willkürliche Siegerjustiz beiseitegeschoben wurde, erwies sich als etwas anderes und gewann nach und nach an Relevanz: Mit der justiziellen Aufarbeitung der NS-Kriegsverbrechen wurden die Fundamente für die Etablierung neuer Standards der völkerrechtlichen Ächtung und Ahndung staatlicher Massenverbrechen geschaffen. Lutz Raphael  —  1945 als langfristige Zäsur der Zeitgeschichte

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ZWISCHEN ÜBERLAPPENDEN KONTINUITÄTEN UND WASSERSCHEIDE All diese Einzelereignisse des Jahres 1945 verweisen bereits auf die internationale, ja globale Bedeutung, die dem Jahr zukommt. Aber beginnen wir mit der nationalgeschichtlichen Perspektive. Schon die Zeitgenossen haben 1945 als Erfahrungsbruch wahrgenommen und dann auch für sich reklamiert. Die »Stunde Null« wurde zum geflügelten Wort, mit dem sich wohlfeil die Spuren eigener Verstrickungen und Verantwortlichkeiten aus den Jahren 1933 bis 1945 verwischen, aber auch die nachvollziehbaren Hoffnungen des Neuanfangs und des Bruchs mit einer alptraumartigen Vergangenheit formulieren ließen. Schon bald zeigte sich aber, dass elementare Strukturen in Wirtschaft und Gesellschaft mit Zusammenbruch und Niederlage keineswegs endgültig aufgelöst worden waren, sondern der materielle Wiederaufbau mit der Wiederherstellung etablierter Hierarchien, Ordnungsmuster, ja sogar der Restauration von Traditionen und Routinen einherging. Der »restaurative« Charakter der frühen Nachkriegsjahre ist rasch kritisiert, dann auch durch zahlreiche Studien bestätigt worden, ohne dass dabei jedoch die These von der »Wiederkehr alter Zeiten« an Überzeugungskraft gewinnen konnte. Zu deutlich waren die Elemente des Neuanfangs, vor allem der Effekt der von den unantastbaren Siegermächten erzwungenen politisch-moralischen, aber auch sozial-ökonomischen Neuordnungen. Die These von der sofortigen Durchschlagskraft und Wirkmächtigkeit von Niederlage und Zusammenbruch jenseits der Politik, also in Gesellschaft, Kultur und Mentalitäten der Deutschen, hat sich eher nicht bewährt. Bewahrheitet hat sich hingegen die These von den langfristigen strukturbildenden Wirkungen der Neuanfänge des Jahres 1945. Das Kriegsende, so lässt sich formulieren, löste also längst nicht in allen Lebensbereichen gleichermaßen Abbrüche und Einschnitte aus; aber die 1945 herbeigeführten Neuanfänge verstärkten sich wechselseitig und führten innerhalb von knapp zwei Jahrzehnten dazu, dass die westdeutsche Demokratie auch Demokraten besaß und ihre sozialen und kulturellen Ordnungsmuster immer größere Ähnlichkeit mit ihren europäischen Nachbarn im westlichen Lager aufwiesen. Diese Neuanfänge waren zunächst einmal negativ bestimmt und wurden von einem Teil der Zeitgenossen entsprechend als »Katastrophe« bzw. »Verlust« wahrgenommen: Das Ende des Deutschen Reiches bedeutete den militärisch erzwungenen Verzicht der Besiegten auf alle imperialen Großmachtambitionen. Diese hatten seit der Reichsgründung die Politik und das Nationalbewusstsein der Deutschen mitgeprägt, die Ordnungsmuster des Nationalstaats überformt und schließlich auch Kultur und Habitus vieler Deutscher in Mitleidenschaft gezogen.

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Dieser Absturz vom imperialen Größenwahn wirkt bis heute in Form eines anhaltenden Verzichts auf weitere derartige Großmachtabenteuer nach. Dem nationalsozialistischen Versuch, mit militärischer Gewalt ein völkisches Kontinentaleuropa unter deutscher Führung zu kreieren, folgten die kollektive Anerkennung der neuen bipolaren Weltordnung und die Einpassung der beiden deutschen Staaten mitsamt ihren Bevölkerungen in die neuen imperialen Ordnungen des Kalten Krieges. West- und ostdeutsche Erfahrungen traten dabei zwangsläufig auseinander. Amerikanisierung, Westernisierung, Liberalisierung – wir Historiker haben viele Worte erfunden, um letztlich den Prozess der gesellschaftlichen Aneignung des neuen politischen Ordnungsrahmens, aber auch neuer Kulturmuster durch die große Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung zu beschreiben. 1968 ist in dieser Perspektive trotz des vehementen Protests von Studenten und APO gegen das westdeutsche »Establishment« als Fortsetzung und Bestätigung der Zäsur von 1945 in der Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik gedeutet worden. »Die zweite Gründung« war keine Umgründung, sondern eine Weiterführung und Vertiefung der Befreiungen und Brüche, die in den Ereignissen des Jahres 1945 angelegt worden waren. Deutsche Nationalgeschichten des 19. und 20. Jahrhunderts folgen denn auch nolens volens einem Narrativ, in dem bei aller Betonung überlappender Kontinuitäten das Kriegsende eine Art Wasserscheide darstellt: Während vorher die strukturellen Koppelungen in Richtung autoritärer Lösungen bzw. totalitärer Experimente liefen, wirkten sie nach dem Zweiten Weltkrieg in Richtung einer Demokratisierung bzw. der Durchsetzung von Pluralismus und liberalen Freiheitsgarantien. Eine politische Gesellschaftsgeschichte oder eine moderne Kulturgeschichte kommt also ohne diese Zäsur nicht aus. Noch viel deutlicher wird die nationalgeschichtliche Bedeutung des Jahres 1945, wenn man die Ebene der Erinnerungskulturen betritt. Der 8. Mai 1945 ist zusammen mit dem 27. Januar 1945 zum Gründungsdatum der deutschen Demokratie aufgerückt. Erst der alliierte Sieg und die Niederlage des deutschen Reiches ebneten den Weg für die zweite deutsche Demokratie. Zugleich etablierte sich die Geschichte des Nationalsozialismus als Negativfolie für unser politisches und moralisches Selbstverständnis als Nation. Der Holocaust wuchs zur wichtigsten historischen Zäsur in der Geschichte der eigenen Nation heran. Einen entsprechenden Platz nehmen die Erinnerung an den Judenmord und die rückhaltlose Aufklärung aller damit verbundenen Verbrechen in unserer Geschichtskultur ein. Die Vergegenwärtigung dieser Vergangenheit hat mit dem wachsenden Abstand zu den Ereignissen eher zugenommen; sie scheint auch nicht tangiert zu werden vom Sterben der Lutz Raphael  —  1945 als langfristige Zäsur der Zeitgeschichte

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letzten Zeitzeugen, Opfern wie Tätern. Bislang deutet alles darauf hin, dass 1945, anders als 1914, zum festen Bestandteil unseres kulturellen Gedächtnisses geworden ist. Auch Deutsche türkischer, arabischer oder anderer Herkunft, deren eigene familiäre Geschichten keine direkte Verbindung zur deutschen Geschichte vor 1945 aufweisen, haben sich dieser Erinnerungspflicht bislang unterworfen, ja sich diese kollektive Erinnerungskultur angeeignet. Auschwitz, Kapitulation und Nürnberger Prozesse, diese Trias, so meine These, macht 1945 zu einem Epochenjahr und zu einer Zäsur, deren symbolische Ausstrahlung ihre direkte historische Wirksamkeit für die jüngste Zeitgeschichte der Nation zu übertreffen beginnt. Inzwischen haben sich vielfältige Umbrüche und Weiterentwicklungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik eingestellt, die zwar alle den nach Kriegsende geschaffenen Gesamtrahmen nicht gesprengt, aber unsere Lebenswelten und die ihnen zugrundeliegenden Strukturen tiefgreifend und nachhaltig verändert haben. Gerade weil für die Mehrheit der Deutschen kollektiv kein weiteres Ereignisbündel mehr zu einer Synchronisierung von Strukturumbrüchen und Erfahrungswandel führte, ragt die Zäsur 1945 umso deutlicher empor. 1989 bestätigte in unserer kollektiven Wahrnehmung den Neuanfang 1945, weckte dagegen kaum Erinnerungen an ältere Zeitschichten und Zustände unserer nationalen Geschichte. OST-WEST-DIFFERENZEN Vieles von dem, was über die westdeutsche Entwicklung gesagt worden ist, ließe sich auch über die Zeitgeschichte unserer westlichen Nachbarn sagen. Überall in Kontinentaleuropa markiert das Jahr 1945 einen markanten Einschnitt in der Geschichte der eigenen Nation. Die Befreiung erfolgte auch hier in Form des Einmarschs alliierter Truppen – wenn auch unter Beteiligung eigener militärischer Verbände. Nur wenige Länder, wie Finnland und Jugoslawien, bilden eine Ausnahme. In allen Ländern spielten Widerstand und Kollaboration eine wesentliche Rolle für die Begründung des nationaldemokratischen Neuanfangs, der zunächst noch überall im Zeichen der gemeinsamen Erklärung der drei alliierten Mächte in Jalta stand. Im Februar 1945 hatten sie den Aufbau eines demokratischen Europa und die Beseitigung des Faschismus als weitere Friedensziele proklamiert. Doch Jalta ist nicht zum Ausgangspunkt der Demokratisierung Europas, sondern zum Symbol für die Ost-West-Spaltung Europas und die Unterwerfung der östlichen Hälfte unter sowjetische Interessen geworden. Damit wird eine grundlegende und bereits im innerdeutschen Vergleich erwähnte Trennung der europäischen Nationalgeschichten nach 1945 angesprochen.

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Sie überwölbt die großen Unterschiede, die wir feststellen, wenn wir die Bedeutung von 1945 für die Geschich­ te und das Geschichtsbewusstsein der einzelnen Länder untersuchen. Die im Winter und Frühjahr 1945 er­folgte Besetzung des östlichen Europa durch die Rote Armee eröffnete eine Phase tiefgreifender Eingriffe in die Eigentumsverhältnisse und damit verbunden die sozialen und wirtschaftlichen Strukturen Ost- und Mitteleuropas. Sie setzte unter anderen Vorzeichen und mit anderen Zielen fort, was bereits von den deutschen Besatzern mit der Enteignung, Vertreibung und Ermordung von Teilen der ansässigen Bevölkerung, voran der Juden, begonnen worden war. Es kam zur Enteignung der in diesen Ländern zahlenmäßig kleinen Gruppe der Gebildeten und Besitzenden bürgerlicher oder adeliger Herkunft. Dies war eng verbunden mit der Vertreibung ethnischer bzw. sprachlicher Minderheiten, nach der Niederlage der Wehrmacht voran der sogenannten Volksdeutschen. Das Jahr 1945 steht in diesem Fall für einen längeren Zeitraum von 1939 bis 1948, in dem die Gesellschaftsstrukturen der Vorkriegszeit in diesen Ländern gewaltsam aufgelöst wurden. Die Gesellschaften der Volksdemokratien, in denen dann nach 1947/48 der Sozialismus streng nach sowjetischem Rezept aufgebaut wurde, waren bereits vorgeprägt durch die Auflösung sozialer Bindungen und die Entfesselung sozialer Gewalt im vorangegangenen Jahrzehnt. Die Zerstörungskraft dieser Prozesse war die Grundlage für den Aufbau der volksdemokratischen Nachkriegsordnungen. In ihnen wurde die Schubkraft demokratischer Egalität schon bald überlagert von einer gewaltsamen Homogenisierung der Bevölkerung und vom Aufbau neuer herrschaftskonformer Hierarchien. Begleitet wurden diese Umbrüche von einem offiziellen Geschichtsbild, das 1945 zum Beginn eines neuen Zeitalters stilisierte und die Zeit davor ins schlechteste Licht zu setzen versuchte. So entstanden erhebliche Brüche Lutz Raphael  —  1945 als langfristige Zäsur der Zeitgeschichte

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zwischen den kommunistischen Diktaturen und ihren Vorgängerregimen – auch wenn viele Bewohner dieser Länder bald schon auf ihr Wissen und Können im Umgang mit polizeilicher Willkür und Repression vor 1945 zurückgreifen mussten. Die Zäsur des Kriegs ist also in strukturgeschichtlicher Perspektive vielfach tiefer und folgenreicher als im Westen; die politisch-moralische Ausstrahlung des Jahres 1945, die im westlichen Europa mit dem Datum des 8. Mai verbunden blieb, verblasste jedoch sehr schnell, ja verkehrte sich ins Gegenteil. In diesen Ländern holten die demokratischen und nationalen Revolutionen von 1989 nach, was 1945 versprochen, aber nicht eingelöst worden war. Insofern besteht auch hier ein enger Nexus zwischen diesen beiden Zäsuren. Geschichtspolitisch entwickelte sich daraus jedoch eine Situation, in der das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa sehr unterschiedlich beurteilt und erinnert wird. Die Befreiung vom Kommunismus hat in den östlichen Nachbarländern zu einer Aufwertung, ja Wiederentdeckung der Zeitgeschichte vor 1945 und der politischen Kräfte und Ideen früherer Jahrzehnte und Jahrhunderte geführt. GLOBALGESCHICHTLICHE PERSPEKTIVE VON 1945 Es wird Zeit, den globalgeschichtlichen Spuren des Jahres 1945 nachzugehen. Die Ereignisse in Sétif, Hanoi und Jakarta haben eine erste Richtung gewiesen: Das Ende des Zweiten Weltkriegs eröffnete weltweit die Phase der Dekolonisierung – jenen weltumspannenden Prozess, in dessen Folge die Kolonialreiche aufgelöst wurden und die unabhängige Staatenwelt Afrikas, Asiens und Ozeaniens entstand. Nun haben Historiker mit guten Gründen den Beginn der Dekolonisierung bereits auf das Jahr 1918 zurückverlegt, als Wilsons und Lenins programmatische Ankündigungen des Rechts auf nationale Selbstbestimmung unter den antikolonialen Kräften Asiens und Afrikas auf offene Ohren stießen und große Erwartungen weckten. Diesen kleinen Minderheiten fehlte jedoch überall die politische und militärische Durchsetzungskraft gegen die imperialen Siegermächte des Ersten Weltkriegs. Erst Verlauf und Ausgang des Zweiten Weltkriegs schwächten große und kleine Kolonialmächte politisch und militärisch derart, dass das Ende einer Epoche eingeleitet wurde. Markierte die Eroberung Äthiopiens 1938 durch Italien noch den Höhepunkt weltweiter kolonialer Expansion, so stand nur neun Jahre später der britische Rückzug aus Indien und Palästina am Anfang vom Ende einer Epoche. Wie auf dem europäischen Kriegsschauplatz spielten auch in Asien und Nordafrika die militärische Befreiung und die anschließende Besatzung durch

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die drei Alliierten eine wichtige Rolle. Die Unabhängigkeitserklärungen Viet­nams und Indonesiens stehen in unmittelbarer sachlicher und zeitlicher Nähe zur Kapitulation Japans. Der Siegeszug der japanischen Streitkräfte in Südostasien hatte die Kolonialherrschaft Frankreichs, der Niederlande und Großbritanniens in der Region erschüttert. Der militärischen Niederlage folgte der Verlust politischer Anerkennung seitens der beherrschten Bevölkerung. Koloniale Herrschaft war in dieser Region nur noch um den Preis brutaler Repression oder direkter militärischer Intervention zu sichern. Selbst das siegreiche Großbritannien sah sich in Indien mit einer Situation konfrontiert, in der nicht mehr daran zu denken war, die Forderung nach Unabhängigkeit weiter mit breiter polizeilicher Repression und hinhaltenden Versprechungen abzuwehren. Während Großbritannien in realistischer Einschätzung der eigenen Kräfte 1947 auf sein Kronjuwel Indien verzichtete, aber erfolgreich seine Kolonialmacht in Singapur und Malaya stabilisierte, wählten Frankreich und die Niederlande in Indochina und Indonesien den letztlich erfolglosen und verlustreichen Weg der militärisch-polizeilichen Rückeroberung. Sie verlängerten damit den Zweiten Weltkrieg bis ins Jahr 1949 bzw. 1954. Der Algerienkonflikt, dessen Gewaltpotenzial bereits am 8. Mai 1945 sichtbar wurde, folgte bis 1954 den Bahnen der politischen Konfrontation, bevor auch er nach dem 1. November 1954 zum offenen Krieg eskalierte. Diese Kriege verdeutlichen, dass mit der Zäsur 1945 keineswegs das Potenzial der Kolonialmächte, sich der Dynamik der Dekolonisierung mit Gewalt und Repression eine Weile entgegenzustemmen, gebrochen war. Globalgeschichtlich markieren die so gegensätzlichen Ereignisse der UNOCharta und der Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki das Kriegsende als eine Zäsur in der Geschichte der internationalen Staatenwelt. Gleich, ob man sich aus militärgeschichtlichen oder diplomatie- und ideengeschichtlichen Perspektiven diesen Ereignissen nähert: Immer erhärtet sich der Befund, dass beide das Zusammenrücken der Welt bestätigten und verstärkten. Die Atombombenabwürfe haben eine neue Epoche der Kriegführung und der internationalen Beziehungen eröffnet. Die Kontrolle der Verbreitung und schließlich das Verbot der militärischen Nutzung der Atomenergie sind seitdem Eckpfeiler eines internationalen Systems, das auf die Beschränkung dieser Waffe gerichtet war und ist. Zugleich entfesselten die beiden imperialen Vormächte des Kalten Kriegs eine Spirale atomarer Hochrüstung, die sie zu Supermächten machte. Die Abschreckungsdoktrin wurde zur neuen Sicherheitsgarantie des Atomzeitalters, und beides – Vernichtungspotenzial und Lutz Raphael  —  1945 als langfristige Zäsur der Zeitgeschichte

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Sicherheitsdenken – hat bis heute dazu geführt, dass die Epoche der Weltkriege keine Fortsetzung fand. Die UNO nahm sich gleich im Januar 1946 des neuen Problems an, scheiterte aber bei dem Versuch, die Verbreitung der neuen Massenvernichtungswaffe wirksam zu beschränken. Dies mag als Symbol gedeutet werden, dass die historische Bedeutung der UNO nicht an der Umsetzung ihrer großen Ziele gemessen werden sollte. Ihr gelang nur selten, den internationalen Frieden zu sichern und die Entwicklung der Völkergemeinschaft in friedliche Bahnen zu lenken. Die UNO-Gründung war jedoch Teil eines bereits seit 1944 wachsenden Systems internationaler Organisationen und Regulierungen, durch das und in dem die souveränen Staaten miteinander verbunden blieben. Dieses funktionierte auch jenseits der rasch wieder sich auftuenden Freund-Feind-­ Beziehungen des Kalten Krieges, aber auch der postkolonialen Konflikte und Kriege. Wenn heute gerne im Jargon von global governance gesprochen wird, dann verweist dieser Begriff zurück auf das Jahr 1945 und die Gründung der UNO sowie die vielen internationalen Organisationen und Kommissionen, die im Laufe der Jahrzehnte entstanden sind. In der Geschichte der internationalen Staatenbeziehungen steht 1945 natürlich in der Kontinuität von 1919. Die Gründung des Völkerbundes zeigte deutlich bescheidenere Wirkungen, weil wichtige Staaten niemals oder nur kurzzeitig Mitglieder waren und die Dominanz der westeuropäischen Kolonialmächte Fortschritte bei der schrittweisen Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts der Völker verhinderte. 1945 ALS GLOBALER SYNCHRONISIERUNGSPUNKT IM 20. JAHRHUNDERT Welche Rolle spielt nun 1945 als Zäsur, wenn wir nach transnationalen Verflechtungen der Erinnerungskulturen und Geschichtsbilder fragen? Bereits für Deutschland und erst recht für Europa haben wir beobachten können, dass 1945 ganz unterschiedliche Bedeutungen transportiert und auch ganz unterschiedliche Relevanz für die kollektiven Geschichtsbilder besitzt. Eine gemeinsame, weltumspannende Erinnerung an die Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki hat sich nur in Ansätzen – vor allem im Schatten der Atomrüstung des Kalten Krieges – entwickelt, mit Zentren in Japan und Europa. Diese Erinnerung ist mit dem Ende des Kalten Krieges und der Zunahme einer Vielzahl gewaltsamer Konflikte unterhalb der Schwelle der konventionellen Kriege eher in den Hintergrund getreten – auch wenn Hiroshima zweifellos nach wie vor ein zentraler Ort der weltweiten Erinnerung an die Schrecken des Weltkriegs und der Mahnung vor den Gefahren eines Atomkrieges ist.

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Immer stärkere internationale Bedeutung hat hingegen die Erinnerung an den Holocaust gewonnen. Längst ist Auschwitz zu einem globalen Erinnerungsort geworden. Der 27. Januar ist in vielen Ländern ein Tag der Erinnerung. Die Ermordung der europäischen Juden wird inzwischen als das Extremereignis des 20. Jahrhunderts angesehen. Offensichtlich brauchte es Zeit, bis Ausmaß und historische Bedeutung des Holocaust erkannt und akzeptiert worden sind. Bei aufmerksamen Zeitgenossen herrschte zunächst »blanke moralische Fassungslosigkeit«, wie Dan Diner formuliert hat. Die Einordnung des Mordgeschehens nicht nur in die deutsche Geschichte, sondern auch in die Geschichte Europas und der westlichen Moderne hat zu der inzwischen breit benutzten Formel des Zivilisationsbruches geführt. Ernst genommen beinhaltet sie die Einsicht, dass mit dem nationalsozialistischen Mordprogramm Entwicklungen langer Dauer zerstört, vermeintlich sicher geglaubte Fundamente moralisch-politischen Handelns weggerutscht sind. Dass diese Dimension inzwischen an vielen Orten der Welt erkannt wird, macht die globalgeschichtliche Zäsur 1945 aus. Damit hat ein Prozess der Universalisierung eingesetzt, der nach den historisch-anthropologischen Voraussetzungen für das Geschehen fragt und Antworten auch mithilfe des Vergleichs mit anderen Genoziden sucht. Doch diese geschichtspolitische Globalisierung hat ihren Preis und der ebenso verständliche wie unangemessene Streit der Opfer von Verfolgung und Völkermord um Gleichrangigkeit verstellt heute oft den Blick auf die historischen Dr. Lutz Raphael  lehrt seit 1996 als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier, war Gastprofessor an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris, am IGK Global labour an der HU Berlin, am St Antony’s College in Oxford und Gerda-Henkel-Gastprofessor an der London School of Economics und dem DHI London. Raphael ist Mitglied des Arbeitskreises für Moderne Sozialgeschichte, der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz sowie der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Von 2007 bis 2013 war er Mitglied der wissenschaftlichen Kommission des Wissenschaftsrats, 2013 erhielt er den Förderpreis für deutsche Wissenschaftler im »Gottfried Wilhelm Leibniz«-­ Programm der DFG.

Besonderheiten und Zusammenhänge des Holocaust. Dies muss besonders unter Juden, aber auch unter uns Deutschen Befremden auslösen – denn für beide Kollektive bleibt dieser Zivilisationsbruch Teil der eigenen und einer gemeinsamen Geschichte. 1945 ist also als Einschnitt in den verschiedenen Geschichtskulturen weltweit präsent; übergreifend dient die regelmäßige Erinnerung an das Ende des Zweiten Weltkrieges an den meisten Orten der Welt inzwischen der Vergewisserung moralisch-politischer Werte und der Erinnerung an Leid und Schrecken des Krieges. Seine Bedeutung als Zäsur und Epochenschwelle für die historiografische Darstellung und Analyse hat dieses Jahr ebenfalls behalten; angesichts der vielen weltumspannenden und zugleich auch in den verschiedensten Weltregionen verankerten Ereignissen bleibt das Jahr 1945 einer der wenigen übergreifenden globalen Synchronisierungspunkte im 20. Jahrhundert. Dies ist die vierte Bedeutungsebene der Zäsur. Wie lange dieses Epochenjahr zugleich ein Ankerplatz kollektiver Erinnerungen bleiben wird, kann schwerlich prognostiziert werden. Als Bürger haben wir dies ein Stück weit selbst in der Hand. Lutz Raphael  —  1945 als langfristige Zäsur der Zeitgeschichte

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1968 – UND 50 JAHRE SPÄTER EINE DEUTSCH-DEUTSCHE BESTANDSAUFNAHME1 ΞΞ Eckhard Jesse »Wenn sich die Kanzlerin zum ›Feminismus‹ bekennt und der Bundespräsident von der ›unfassbaren Schuld‹ spricht, die ›wir Deutsche‹ auf uns geladen haben; wenn wir 1945 von den Amerikanern ›befreit‹ wurden, aber die Yankees seither nur imperialistische Kriege führen; wenn Art. 1 GG als ­Monstranz der Zivilreligion dient und Gleichheit als unumstößlicher Glaubenssatz; wenn man die Kaserne nach dem letzten Wehrmachtsstahlhelm durchsucht und das Eiserne Kreuz in Regenbogenfarben leuchtet; wenn Habermas als bedeutendster Philosoph der Gegenwart gilt und Enzensberger als bedeutendster Dichter; wenn der Zusammenhang zwischen höherer Bildung und nationalem Selbsthass evident ist; wenn der Kommunismus ›an sich‹ eine gute Idee war und die Errungenschaften der DDR immer noch verteidigt werden; wenn in einem bürgerlichen Organ Rassismus beim Zweifel am dauerhaft friedlichen Zusammenleben verschiedener Ethnien beginnt und der Zentralrat der Muslime definiert, was ›Leitkultur‹ ist; wenn der Großkonzern findet, dass seine Mitarbeiter nicht ›bunt‹ genug sind, und man die Menschen, die schon länger hier leben, ungestraft als ›Köterrasse‹ beschimpft; […] wenn ›Angstfreiheit‹ als Fetisch des Erziehungswesens aufgestellt wird, und das gleich neben ›Gewaltlosigkeit‹ und ›positiver Verstärkung‹; wenn nie zuvor so große Harmonie zwischen den Wertvorstellungen von Kindern und Eltern bestand und aufs Maulen automatische Wunscherfüllung folgt – dann hat das alles mit ’68 zu tun.«2 So lauten die ersten plakativen Sätze des rechten, nicht rechtsextremistischen Publizisten Karlheinz Weißmann, keines 68ers. Und so lautet die Interpretation der linken, nicht linksextremistischen Publizistin Barbara Sichermann, einer 68erin: »Sie machte von sich reden, die Neue Linke, die antiautoritäre Bewegung, die Außerparlamentarische Opposition (APO). Es wurde vieles ausprobiert in jenen Jahren, und was besonders überzeugte und bereichsweise überlebte, ist eine veränderte Einstellung gegenüber den Ausführungsbestimmungen der Demokratie. Auch Lehrlinge und Putzfrauen sollen mitreden auf einer Betriebsversammlung. Hierarchien müssen nicht sein, sie können flach sein oder ganz entfallen, und Kritik an

1  Zur Erinnerung an Dieter Dumath, Reinhard Eißrich, Rüdiger Krainau, Roland Peter und Werner Wobbe aus dem ersten Jahrgang des Wolfsburgkollegs 1968.

Vorgesetzten ist weniger eine Unverschämtheit als vielmehr eine Notwendigkeit. Widerspruch ist wichtig und Abweichung von der Norm erwünscht. Der Gehorsam als Modus der Verständigung in Organisationen und zwischen

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2  Karlheinz Weißmann, Kulturbruch ’68. Die linke Revolte und ihre Folgen, Berlin 2017, S. 7 f.

Männern und Frauen gehört zum alten Eisen einer versunkenen Epoche. Jugendliche sollen in Wohngemeinschaften ziehen können, ohne ihre Eltern bitten zu müssen, Liebende zusammenkommen, ohne einen Trauschein vorzulegen, und Frauen haben noch andere Lebensziele als Kaffeekochen für die Kerle. Arbeit muss nicht entfremdet und unerträglich sein, es gibt Alternativen. Was häufig als Modernisierungsprogramm für die westlichen Gesellschaften bezeichnet wurde, das ohnehin auf der Tagesordnung stand, war viel mehr. Es war eine Blaupause für das Streben nach Glück.«3 Ungeachtet der krass unterschiedlichen Bewertungen, die in beiden Fällen zugespitzt und einseitig ausfallen: Die Positionen decken sich insofern, als sie jeweils der 68er-Bewegung einen ungeheuren Stellenwert zuschreiben. Aber sind die genannten Vorgänge wirklich allesamt Folgen von 1968? DAS INTERESSE IST UNGEBROCHEN Jedenfalls: Das Thema fasziniert, zumal ein halbes Säkulum danach. Davon zeugt die Fülle der einschlägigen Bücher, die allein in den ersten drei Monaten des Jahres 2018 den Markt überschwemmten, darunter die Gesamtdar3  Barbara Sichtermann, Freiheit und Glück als politische Kategorien, in: Susanne Schüssler (Hg.), Wetterbericht. ’68 und die Krise der Demokratie Berlin 2017, S. 190 [Herv. i. Org.].

stellung von Richard Vinen, einem britischen Gelehrten, der einen sehr guten, kenntnisreichen Überblick zu 1968 in ausgewählten Demokratien (neben der Bundesrepublik Deutschland: USA , Frankreich, Großbritannien) bietet und weder als unkritischer Verteidiger noch als scharfer Ankläger der 68er argumentiert; die Studie von Detlef Siegfried, einem Zeithistoriker (in Kopen-

4  Vgl. Richard Vinen, 1968 – der lange Protest. Biografie eines Jahrzehnts, München 2018; Detlef Siegfried, 1968. Protest, Revolte, Gegenkultur, Ditzingen 2018; Christina von Hodenberg, Das andere Achtundsechzig. Gesellschaftsgeschichte einer Revolte, München 2018; Heinz Bude, Adorno für Kinder. Eine Geschichte von 1968, München 2018; Alexander Sedlmaier, Konsum und Gewalt. Radikaler Protest in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 2018. 5  Vgl. Gretchen Dutschke, 1968. Worauf wir stolz sein dürfen, Berlin 2018; Ulrike Heider, Keine Ruhe nach dem Sturm, Berlin 2018; Claus Koch, 1968. Drei Generationen – eine Geschichte, Gütersloh 2018; Willi Jasper, Der gläserne Sarg. Erinnerungen an 1968 und die deutsche »Kulturrevolution«, Berlin 2018.

hagen lehrend), der mit großer Sympathie den Protest der 68er einfängt und deren Langzeitwirkung betont – ungefähr eine Million Menschen hätten sich ein Jahrzehnt später in der alternativen Szene getummelt; die »Gesellschafts­ geschichte« Christina von Hodenbergs, welche die prägende Rolle der Frauen herauszuarbeiten sucht und den Nachweis dafür liefern will, dass die Kritik an den Versäumnissen der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit nicht im Vordergrund stand. Heinz Bude lässt in einem Essay, der auf Interviews mit Beteiligten basiert, erkennen, wie stark »68« seinerzeit polarisiert hat. Und Alexander Sedlmaier analysiert in seiner gelehrten Abhandlung die Rolle der Konsumkritik bei den 68ern, aber nicht nur bei ihnen.4 Was auffällt: Viele Arbeiten sind stark autobiografisch geprägt, so Gretchen Dutschkes Schilderung über das Leben ihres Mannes vor und nach dem Attentat vom 11. April 1968; so Ulrike Heiders anschauliche Berichte über die turbulente Zeit an der Frankfurter Universität; so Claus Kochs Geschichte dreier Generationen, der 68er sowie ihrer Eltern und Kinder; so der Essay von Willi Jasper, einst ein führendes Mitglied der maoistischen KPD, über Fragen an die Vergangenheit wie Fragen an die Zukunft.5 Eine Reihe Eckhard Jesse  —  1968 – und 50 Jahre später

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von Titeln stellt auf die 68er-Bewegung in einzelnen Städten ab, sei es Berlin oder Frankfurt, sei es München oder Tübingen.6 Zuweilen überlagert dabei nostalgische Schwärmerei die kritische Reflexion bei den Veteranen. Dieser Befund gilt nicht für das wohl tiefschürfendste Buch zur 68er-Bewe­ gung von Gerd Koenen, lange ein führender Funktionär des maoistischen Kommunistischen Bundes Westdeutschlands und heute einer der besten Historiker zur Geschichte des Kommunismus.7 Die von autobiografischen Reminiszenzen durchsetzte Studie aus dem Jahr 2001 mit dem symbolträchtigen Titel »Das rote Jahrzehnt« – wobei dieser Terminus auf Arthur Koestler zurückgeht –, versteht es, das Jahrzehnt von den Schüssen auf Benno Ohnesorg bis zu den Schüssen auf die Bewacher von Hanns Martin Schleyer in seiner farbigen Vielgestaltigkeit einzufangen, obgleich der Schwerpunkt auf dem Linksaußenmilieu liegt. Koenen schildert Phänomene dieser Zeit, etwa lebenskulturelle Umbrüche, ohne jeden Hang zur Verharmlosung, ebenso ohne die dämonisierende Perspektive, wie das oft bei Renegaten vorkommt.

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An die Seite Koenens gesellt sich Wolfgang Kraushaar, der wie wohl kein Zweiter dieses Themenfeld beackert hat. Der frühere 68er wahrt in seinen

6  Vgl. etwa Karl Stankiewitz, München 68 – Traumstadt in Bewegung, München 2018; Bernd Jürgen Warneken, Mein 68 begann 65. Eine Tübinger Retrospektive, Tübingen 2018. 7  Vgl. Gerd Koenen, Utopie der Säuberung. Was war der Kommunismus?, Berlin 2010; ders., Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus, München 2017. 8  Vgl. ders., Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977, Köln 2001; siehe auch ders., Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus, Köln 2003.

empirisch dichten, analytisch tiefschürfenden Studien immer kühle Distanz.9 Allein in den ersten Monaten des Jahres 2018 sind von ihm zwei Studien auf den Buchmarkt gekommen. In der einen schildert er kompakt Ursachen und Folgen der 68er, in der anderen ausführlich ihre »blinden Flecken«.10 ZÄSUR? ZÄSUR! Deutschland hat im 20. Jahrhundert vier große Zäsuren erlebt: 1918/19, 1933, 1945/49 und 1989/90.11 Wurde 1918 das autoritäre Kaiserreich beseitigt, gelangte 1933 die Weimarer Republik an ihr Ende und brach 1945 das Dritte Reich zusammen (durch äußere Einwirkungen), so musste 1989 die SED-­ Diktatur kapitulieren (durch innere Einwirkungen). Der Freiheitsrevolution folgte binnen eines Jahres die Einheitsrevolution. Die DDR war damit Geschichte. Kaum ein Staat hat derartig tiefgreifende Zäsuren innerhalb dieses Säkulums erlebt. Freilich: Während es über die grundsätzliche Bedeutung von Großzäsuren, die nicht nur die Politik beeinflussten, keinen ernsthaften Streit gibt, weichen bei jeder konkreten Binnenperiodisierung die Interpretationen bisweilen recht stark voneinander ab.12 Periodisierungen liegen stets Deutungen zugrunde. Hans-Peter Schwarz etwa spielt die Frage von Einschnitten mit Blick auf die Historie Deutschlands nach 1945 herunter: »Die eigentliche Zäsur in der neuesten Geschichte Deutschlands und Europas ist die Geschichte der Bundesrepublik selbst. Die Bedingungen, Akteure, Institutionen und Politiken, die den Umschlag von

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9  Vgl. Wolfgang Kraushaar (Hg.), Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail, 3 Bde., Hamburg 1998; ders., 1968 – das Jahr, das alles verändert hat, München 1998; ders., 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur, Hamburg 2000; ders., Achtundsechzig. Eine Bilanz, Hamburg 2008. 10  Vgl. ders., 1968. 100 Seiten, Ditzingen 2018; ders., Die blinden Flecken der 68er-­ Bewegung, Stuttgart 2018. 11  Vgl. Eckhard Jesse, Systemwechsel in Deutschland. 1918/19–1933–1945/49– 1989/90, Bonn 2013. 12  Vgl. etwa Alexander Gallus, Zäsuren in der Geschichte der Bundesrepublik, in: Hans-Peter Schwarz (Hg.), Die Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz nach 60 Jahren, Köln 2008, S. 35– 56. Siehe auch Alexander Gallus (Hg.), Deutsche Zäsuren. Systemwechsel seit 1806, Köln 2006.

der Instabilität zur Stabilität bewirkt haben und weiter bewirken, sind die interessantesten Themen. Was sich innerhalb dieser von ständigem, erfolgreichem Bemühen um dynamisches Gleichgewicht gekennzeichneten Stabilitätsgeschichte an segmentären Zäsuren eingestellt hat, verdient zwar sicher auch ein gewisses Interesse. Es ist aber doch zweitrangig vor der großen Frage, wie es eigentlich kam und möglich war, dass ein ursprünglich zutiefst hysterisiertes Volk inmitten eines aufgewühlten Kontinents fast auf Anhieb zur zivilisierten Ruhe kam und im Großen und Ganzen dabei geblieben ist. Diese Zäsur gilt es zu erforschen.«13 Dem ist einerseits zuzustimmen, doch darf das andererseits nicht bedeuten, weitere Einschnitte auszublenden. Die 68er-Bewegung stellt offenkundig einen solchen markanten Punkt dar, aber in einem anderen Sinne als die erwähnten Großzäsuren. Schließlich wurde kein Systemwechsel herbeigeführt, sondern ein fundamentaler Wandel in politisch-kultureller Hinsicht ausgelöst: und zwar nahezu weltweit, vergleichbar der Digitalisierung im Bereich der Kommunikation und der Globalisierung nicht nur im ökonomischen Feld. Wer vom Schlüsseljahr 1968 spricht, sollte sich deshalb bewusst sein, dass es ein langes Jahr war. Für manche Interpreten begann die 68er-Bewegung bereits 1964 (Georg Pichts »Deutsche Bildungskatstrophe« erschien seinerzeit ebenso wie Herbert Marcuses »Eindimensionaler Mensch«). »In diesem Jahr gab es ein Sammelsurium von Phänomenen, die charakteristisch oder voraussetzungsvoll für den ›Topos‹ sind, jedoch eben nicht erst in jenem Jahr auftraten.«14 Wer noch weiter zurückgehen will und die »langen« 1960er Jahre erwähnt – vom Ende der 1950er Jahre bis zur politischen (Rücktritt Willy Brandts, Stärkung der 13  Hans-Peter Schwarz, Segmentäre Zäsuren. 1949–1989: eine Außenpolitik der gleitenden Übergänge, in: Martin Broszat (Hg.), Zäsuren nach 1945. Essays zur Periodisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte, München 1990, S. 18 f.

inneren Sicherheit) und wirtschaftlichen (»Stagflation«, Ölpreisschock) »Tendenzwende« –, der mag um 1957 eine »symbolische Zäsur für Wandlungsprozesse«15 in Deutschland sehen. Wie 1968 eine Inkubationszeit hatte, so gab es auch eine Auslaufzeit. Ende der 1970er Jahre war der Niedergang der maoistischen Parteien unübersehbar und der linke Terrorismus, ein radikaler Ausläufer der 68er-Bewegung, isoliert und gescheitert. Schließlich lassen sich die Jahre 1982 und 1989 an-

14  So Robert Lorenz u. Franz Walter, 1964. Anfänge des tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandels, in: Dies. (Hg.), 1964 – das Jahr, mit dem »68« begann, Bielefeld 2014, S. 31. 15  Vgl. Alexander Gallus u. Werner Müller (Hg.), Sonde 1957. Ein Jahr als symbolische Zäsur für Wandlungsprozesse im geteilten Deutschland, Berlin 2010.

führen: Die Regierungsübernahme des christlich-konservativen Helmut Kohl mit der propagierten (wiewohl kaum praktizierten) geistig-moralischen Wende sowie der politische Umbruch in der DDR bedeuteten einen schweren Rückschlag für Positionen der 68er. Einerseits. Andererseits war in Deutschland 68, wenn man sich schon auf ein Jahr kaprizieren möchte, eigentlich und jedenfalls anfänglich 67! Der 2. Juni 1967 mit den tödlichen Schüssen auf Benno Ohnesorg bei der Anti-Schah-Demonstration führte explosionsartig zu einer Politisierung, der Eckhard Jesse  —  1968 – und 50 Jahre später

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jungen Generation, insbesondere von Studenten. In dem Band von Peter ­Mosler, zehn Jahre nach 1967, ist von »Studentenrevolte« sowie von »außerparlamentarischer Opposition« (APO) die Rede, aber nicht von einer Generation der 67er oder gar der 68er.16 Dies gilt ebenso für die anderen Bücher zum zehnjährigen Jubiläum. Es war wohl Klaus Hartung, der mit Blick auf Deutschland – im Jahre 1978 – als Erster von einer 68er-Generation gesprochen hat.17 Wer von einer »zweiten Gründung« (Peter Pulzer) der Bundesrepublik Deutschland durch die 68er-Bewegung spricht, von einer »Nachgründung« (Wolfgang Kraushaar), einer »Umgründung« (Manfred Görtemaker) oder einer »Neugründung« (Claus Leggewie), der schreibt ihr den Charakter einer Zäsur zu. Das stimmt zwar, aber das Wort Gründung relativiert indirekt und unangemessen die tatsächliche Gründung im Jahre 1949. Für die DDR wiederum ist das Jahr 1968, im Vergleich zu 1953 und 1961, schwerlich als Einschnitt zu bezeichnen, allenfalls im Sinne einer Festigung der Diktatur: Im April wurde eine sozialistische Verfassung verabschiedet und im August zerstoben mit der Intervention der Truppen des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei die Hoffnungen auf einen friedlich-freiheitlichen Wandel des Kommunismus. Global betrachtet ist das Epochenjahr 1968 eine Chiffre für die Rebellion vorzugsweise, jedoch nicht ausschließlich in der westlichen Welt, mit jeweils unterschiedlichen nationalen Ausprägungen. Überall dominierte ein Aufbegehren von Jugendlichen, vornehmlich aus dem akademischen Milieu. Besonders gewalttätig und konfrontativ verlief dieses Aufbegehren in den Ländern der ehemaligen Achsenmächte Deutschland, Italien und Japan. Während in den USA und in Deutschland das studentische Milieu bei seinem Aufruhr mehr oder weniger im eigenen Biotop verblieb, vermischten sich in Frankreich und Italien Studentenproteste mit Protesten der Arbeiterschaft, wodurch das System zwar durchaus nicht an den Rand des Abgrunds, wohl aber ins Wanken gebracht wurde. Das Kuriose an der französischen 68er-Bewegung besteht in der Reduktion auf eine Stadt und einen Monat – auf den »Pariser Mai 1968« mit dem Generalstreik und der Auflösung der Nationalversammlung. In den USA zielten die Proteste stärker auf offenkundige Missstände (Rassendiskriminierung

16  Vgl. Peter Mosler, Was wir wollten, was wir wurden. Studentenrevolte – zehn Jahre danach. Mit einer Chronologie von Wolfgang Kraushaar, Reinbek bei Hamburg 1977.

und Vietnamkrieg), dort wurde weniger das staatliche Gewaltmonopol infrage gestellt. Mit dem Sieg des Republikaners Richard Nixon bei der Präsidentschaftswahl 1968 und der Gaullisten bei den Wahlen zur französischen Nationalversammlung im selben Jahr sowie dem Wahlerfolg der Konservativen 1970 in Großbritannien, wo die Bewegung Exzesse weithin unterlassen hatte,

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17  Vgl. Klaus Hartung, Über die langandauernde Jugend im linken Gestus. Lebensalter und Politik – aus der Sicht eines 38jährigen, in: Kursbuch, Jg. 14 (1978), H. 54, S. 174–188.

kam die Stärke der schweigenden Mehrheit zur Geltung. Hingegen konnte die SPD 1969 erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg mit Willy Brandt die Kanz-

lerschaft übernehmen, wodurch sich Teile der 68er-Bewegung ins politische System einbinden ließen. Mark Kurlansky nennt vier für die mondiale Rebellion 1968 ursächliche Faktoren: das Vorbild der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung; eine sich entfremdet fühlende Generation, die Autoritäten ablehnte; ein als verabscheuungswürdig angesehener Krieg wie der in Vietnam; und das Aufkommen von Liveübertragungen im Fernsehzeitalter.18 Marcel van der Linden erwähnt mit Blick auf das »Rätsel der Gleichzeitigkeit« drei Möglichkeiten zur Erklärung der Synchronizität: Die Periode nahezu stetigen ökonomischen Wachstums neigte sich Ende der 1960er Jahre ihrem Ende zu und der Bildungssektor expandierte in einem nie dagewesenen Ausmaße, wodurch eine spezifische Jugendkultur an Einfluss gewann; Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt, von den Metropolen unterdrückt, fanden weltweit und zumal bei jüngeren 18  Vgl. Mark Kurlansky, 1968. Das Jahr, das die Welt veränderte, Köln 2005, S. 12. 19  Vgl. Marcel van der Linen, 1968: Das Rätsel der Gleichzeitigkeit, in: Jens Kastner u. David Mayer (Hg.), Weltwende 1968. Ein Jahr aus globalgeschichtlicher Perspektive, Wien 2008, S. 37. 20  Kraushaar, 1968. 100 Seiten, S. 27. 21  Vgl. Eckhard Jesse, Die Totalitarismuskonzeption von Herbert Marcuse, in: Mike Schmeitzner (Hg.), ­Linke Totalitarismustheorien, Göttingen 2007, S. 355–375. 22  Herbert Marcuse, zit. nach Leszek Kolakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus. Entstehung, Entwicklung, Zerfall, Bd. 3, München 1979, S. 450. 23  Vgl. Eckhard Jesse, Demokratie oder Diktatur? Luxemburg und der Luxemburgismus, in: Uwe Backes u. Stéphane Courtois (Hg.), »Ein Gespenst geht um in Europa«. Das Erbe kommunistischer Ideologien, Köln u. a. 2002, S. 125–142.

Personen Unterstützung; schließlich verbreiteten sich durch internationale Kontakte US-amerikanische Protestformen wie Sit-ins weltweit.19 Ein Zusammenspiel der unterschiedlichen Faktoren mag die globale Ausbreitung des Phänomens erklären, wobei die Bewegungen zugleich höchst verschieden und unterschiedlich stark waren. 68ER IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND Besonders erbittert fielen die Proteste in der Bundesrepublik Deutschland aus. Wolfgang Kraushaar spricht sogar von einem »Sonderfall«20. Hier entstand eine neue linke soziale Bewegung, die nicht nur die Sowjetunion ablehnte, sondern auch die Sozialdemokratie. Orientiert an dem Theoriegebäude des deutsch-amerikanischen Philosophen Herbert Marcuse21 und dessen Verständnis von Totalitarismus, stand die 68er-Bewegung als Neue Linke dem »Staatsterror« des Ostens ebenso weit entfernt gegenüber wie dem »Konsumterror« des Westens. So heißt es bei Marcuse: »Das Wort ›totalitär‹ wird hier in der Weise umgedeutet, dass es nicht nur ein terroristisches, sondern auch ein pluralistisches Absorbieren jeglicher wirksamen Opposition durch die bestehende Gesellschaft bezeichnet.«22 Zu den ideologischen Autoritäten gehörte auch Rosa Luxemburg, eine intellektuell herausragende Protagonistin der Arbeiterbewegung, die bis heute eine Mystifizierung erfährt. In der Studentenbewegung dominierte seinerzeit Hagiografie über Historiografie. Luxemburg war mit ihrem Massenspontaneismus keine ausgemachte Demokratin, wie etwa ihre Haltung zur Novemberrevolution 1918 bezeugt.23 Kaum ein Satz ist so häufig fehlinterpretiert Eckhard Jesse  —  1968 – und 50 Jahre später

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worden wie der von der »Freiheit des Andersdenkenden«. Die letzten zu ihren Lebzeiten veröffentlichten pathetischen Zeilen lauten: »Ihr stumpfen Schergen! Eure Ordnung ist auf Sand gebaut. Die Revolution wird sich morgen schon ›rasselnd‹ wieder in die Höh’ richten und zu eurem Schrecken mit Posaunenklang verbinden. Ich war, ich bin, ich werde sein.«24 Die 68er haben bei ihrem »Marsch durch die Institutionen« die Gesellschaften verändert – und diese die 68er –, obwohl keine Einigkeit über das Ausmaß herrscht. Konsens besteht allerdings darin, dass einerseits der Wandel im soziokulturellen Bereich weithin größer ausfiel als jener in der politisch-ökonomischen Sphäre und dass sich andererseits die Auswirkungen durch die 68er keineswegs mit ihren Intentionen decken. Da die schillernde Bewegung nicht auf einen schlichten Nenner zu bringen ist, weichen die Interpretationen ansonsten weit voneinander ab, so in der Frage: Sind die am chinesischen wie albanischen Kommunismus orientierten K-Gruppen und die terroristischen Aktivitäten den 68ern zuzurechnen? Um ein »Ja« kommt die Analyse im Hinblick auf die nicht zuletzt personellen Kontinuitäten kaum herum; »Nein« lautet hingegen die Antwort, wenn nach dem Charakteristischen des Aufbruchs gefragt wird. Dass ein Teil der zunächst antiautoritären Bewegung Anfang der 1970er Jahre schnell in zutiefst autoritäres Gehabe umschlug und eine Reihe von sektenartigen Parteien aus dem Boden schießen ließ, ist ein zweifellos merk-würdiges Phänomen.25 Untereinander zutiefst verfeindet, orientierten sich diese Parteien an der Volksrepublik China und ihrem großen Führer Mao, verantwortlich für Millionen von Toten, nicht nur in der Kulturrevolution Mitte der 1960er bis Mitte der 1970er Jahre, sondern auch schon vorher. Der auf die Mitglieder der kommunistischen Parteien (»K-Gruppen«) ausgeübte Gruppendruck war enorm. Tausende junger Menschen gerieten auf die schiefe Bahn, machten keine Examina und fanden nicht mehr den Anschluss an die bürgerliche Gesellschaft. Andere wandten sich später den Grünen zu, gaben

24  Rosa Luxemburg, Die Ordnung herrscht in Berlin, in: Dies. Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin (Ost) 1974, S. 536 [Herv. i. Org.].

ihre dogmatischen Positionen auf, sei es aus Überzeugung, sei es aus Berechnung, und machten dort Karriere, übrigens meist auf dem Realo-Ticket (etwa Marieluise Beck, Ralf Fücks, Winfried Kretschmann, Wilfried Maier, Winfried Nachtwei, Heide Rühle, Krista Sager, Antje Vollmer, Wolfgang Wieland) – es handelt sich hierbei, wenn man so will, um eine Merkwürdigkeit in der Merkwürdigkeit. Einige zogen von den Grünen weiter zur Partei DIE LINKE, etwa Ulla Jelpke und Andrea Lederer, wenige zur SPD, so Ulla Schmidt. Renegaten von rechtsaußen wären solche Karrieren wohl versperrt geblieben. Viele andere ehemalige 68er freilich waren da schon ausgestiegen und machten den Schwenk zu den K-Gruppen nicht mehr mit. Dank der

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25  Vgl. neben dem Band von Gerd Koenen (Das rote Jahrzehnt) Andreas Kühn, Stalins Enkel, Maos Söhne. Die Lebenswelt der K-Gruppen in der Bundesrepublik der 70er Jahre, Frankfurt a. M. 2005; Anton Stengel, Zur Geschichte der K-Gruppen. Marxisten-Leninisten in der BRD der 70er Jahre, Frankfurt a. M. 2011; Sebastian Gehrig u. a. (Hg.), Kulturrevolution als Vorbild? Maoismen im deutschsprachigen Raum, Frankfurt a. M. 2008.

Integrationskraft der SPD unter Willy Brandt fanden bei ihr viele reformbereite 68er Unterschlupf. Diese Blutzufuhr nützte der SPD, der Anfang der 1970er Jahren tonangebenden politischen Kraft – ungeachtet mannigfacher interner Auseinandersetzungen. Der oft gescholtene Extremistenbeschluss von Januar 1972 geht übrigens maßgeblich auf die SPD zurück, u. a. deshalb, um ihre Ostpolitik innenpolitisch abzusichern. Aber dessen Geschichte ist die Geschichte seiner beständigen Rücknahme. Die Kritik der 68er machte sich in Deutschland an wechselnden Themen fest: so beispielsweise an der Großen Koalition, der Ordinarienuniversität, den Notstandsgesetzen, der unaufgearbeiteten NS-Vergangenheit, dem Viet­ namkrieg und dem bereits erwähnten Extremistenbeschluss. Aber wer das System von einer utopischen Idee aus prinzipiell ablehnte, orientiert am rousseauistischen Demokratieverständnis, ausgerichtet an der Frankfurter Schule, war nicht durch systemimmanente Reformen in einem bestimmten Sektor zu erreichen. Im intellektuellen Milieu gewann eine Richtung Einfluss, die sich nicht mit der Verbesserung der Lebensverhältnisse begnügte. Das 1965 von Hans Magnus Enzensberger gegründete »Kursbuch« stand als »Vademekum der Protestbewegung« für eine solche Position Pate.26 Gleichwohl: Die 68er bewirkten durchaus eine Liberalisierung. Doch führte diese eben zugleich zu Illiberalität im Gewand der postulierten Toleranz, zu einer Form der political correctness, die im Bestreben, Offenheit zu sichern, diese auch ersticken konnte. Eine weitere Paradoxie: Die Protestbewegung nahm den Westen (»USA-SA-SS«) ins Visier und trug doch zu einer 26  Vgl. Kristof Niese, »Vademekum« der Protestbewegung? Transnationale Vermittlungen durch das Kursbuch von 1965 bis 1975, Baden-Baden 2017. Der Terminus »Vademecum der Protestbewegung« geht auf Wolfgang Kraushaar zurück. 27  Dabei hatte doch bereits Willy Brandt den Bundestagswahlkampf 1972 mit folgendem Hauptslogan bestritten: »Deutsche, ihr könnt stolz sein auf euer Land.« 28  Dutschke, S. 209. 29  Zitiert nach Hannah Arendt u. Karl Jaspers, Briefwechsel 1926–1999, hg. von Lotte Köhler u. Hans Sauer, München 1985, S. 715 f.

Verwestlichung bei. Gretchen Dutschke spricht von einem massiven, bis heute anhaltenden Tabu. Man dürfe nicht stolz sein auf Deutschland.27 Für Dutschke jedoch ist Stolz auf Deutschland angebracht, gerade wegen der 68er: »Erst der durch sie angestoßene Aufbruch in eine neue Zeit«, heißt es bei ihr, »führte zu dem allmählichen Aufbau einer echten Demokratie im Nachkriegsdeutschland, die zu Beginn der 1950er-Jahre in der Bevölkerung nur von einem verschwindend kleinen Anteil positive Unterstützung erfuhr.« Die 68er-Bewegung habe die Vollendung der Demokratisierung in allen Lebensbereichen angestrebt, »die mit der bürgerlichen Revolution von 1848 begonnen hatte, dann aber allzu rasch an den Machtverhältnissen scheiterte«28. Das sind große Worte, die sich im Kern decken mit denen von Hannah Arendt vor fünfzig Jahren: »Mir scheint, die Kinder des nächsten Jahrhunderts werden das Jahr 1968 mal so lernen wie wir das Jahr 1848.«29 Doch stimmt das? Anhänger wie Gegner der 68er sitzen häufig zwei Mythen auf, weil sie die Bedeutung des seinerzeitigen Auf- und Umbruchs – trotz all seines Eckhard Jesse  —  1968 – und 50 Jahre später

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Gewichtes – überschätzen. Für die einen ist die Bundesrepublik erst durch die 68er ein lebensfähiger, liberaler Staat geworden, der es verdient, verteidigt zu werden. Jedoch: Bereits in der Adenauer-Ära war bei allem provinziellen Muff und aller Schönwetterhaftigkeit die Öffnung gen Westen vollzogen worden. Für die anderen haben die 68er unauslöschlichen, nicht wiedergutzumachenden Schaden angerichtet. Aber: Die Durchlüftung stärkte die Demokratie, die sich gegenüber der DDR gerade in den 1970er und 1980er Jahren als überlegen erwiesen hatte, bis die ostdeutsche Diktatur schließlich zusammenbrach. 68ER IN DER DDR? Vernachlässigt werden in den meisten Jubiläumsdebatten die anderen 68er. Wer von 68 im Osten spricht, denkt gemeinhin an den durch die Sowjetunion im August 1968 blutig niedergeschlagenen Prager Frühling, übrigens ohne Beteiligung der Truppen der Nationalen Volksarmee. Der »Revolution von unten« im Westen steht die »Reform von oben« im Osten gegenüber. Folgende Paradoxie springt ins Auge: Die Revolutionäre lösten eine gesellschaftliche Reform aus, die Reformer eine Revolution, beides großenteils wider Willen. Nach dem gescheiterten Prager Frühling resignierte manch kritischer DDR-Bürger, weil eine Reform des realen Sozialismus unmöglich schien; andere setzten weiter auf eine Erneuerung des versteinerten Systems, zumal nach dem Machtantritt Michail Gorbatschows. Bei aller Heterogenität befürworteten die verbliebenen alternativen Kräfte einen Dritten Weg jenseits des östlichen Sozialismus und des westlichen Kapitalismus. Opponenten in der DDR traten in den 1970er und 1980er Jahren mit linken Parolen auf,30 30  Vgl. Christof Geisel, Auf der Suche nach einem dritten Weg. Das politische Selbstverständnis der DDR-Opposition in den 80er Jahren, Berlin 2005. 31  Vgl. etwa Thomas Widera (Hg.), Pazifisten in Uniform. Die Bausoldaten im Spannungsfeld der SED-Politik 1964–1989, Göttingen 2004. 32  Vgl. Karl Wilhelm Fricke, Opposition und Widerstand in der DDR. Ein politischer Report, Köln 1994. 33  Vgl. umfassend Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989, Bonn 2000.

etwa die »Bausoldatenbewegung«31, anders als noch in den 1950er Jahren.32 Westdeutschland nahm die zaghaften reformerischen Vorgänge in Ostdeutschland, das ohnehin als spießbürgerlich galt, kaum zur Kenntnis. Den Wandel in der Tschechoslowakei hin zu einem Sozialismus mit menschlichem Antlitz interpretierten die einen 68er wohlwollend, die anderen eher missmutig: Waren die tschechoslowakischen Reformkommunisten nicht Revisionisten? Ostdeutsche hingegen, fixiert auf den Westen, verfolgten das Aufbegehren der 68er gegen die Obrigkeit nicht selten mit Unverständnis für das Verhalten der Protestler – etwa angesichts der grassierenden Mao-Verehrung. Beeinflusst und unterstützt von Teilen der Grünen im Westen, plädierten die meisten ostdeutschen Bürgerrechtler in den 1970er und 1980er Jahren für Antifaschismus und Pazifismus sowie für einen Austritt der beiden Staaten aus den Militärbündnissen, aber wegen der Last der Vergangenheit gegen die deutsche Einheit unter westlichen Vorzeichen.33 Gerade deshalb konnten sie das ideologisch entkräftete und wirtschaftlich marode Regime weiter Eckhard Jesse  —  1968 – und 50 Jahre später

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destabilisieren; schließlich ließen sie sich nicht umstandslos als Feinde des Sozialismus abtun. Den einstigen Repräsentanten eines Dritten Weges heute ihre illusionäre Position vorzuhalten, mag billig sein: Zum einen ist in einer geschlossenen Gesellschaft nicht jede Aussage belastbar; zum andern trifft der Vorwurf des mangelnden Realismus viel eher West-Grüne – diese hingen als Erben der 68er lange unausgegorenen Prinzipien an. Und etablierte Kräfte im Westen, auch das ist ein schwarzer Fleck, sahen die störrischen Bürgerrechtler zuweilen als Störenfriede für die sich entspannenden deutsch-deutschen Beziehungen. Ostdeutsche Bürgerrechtler waren als »89er« in einem doppelten Sinne 68er: Sie sympathisierten einerseits mit den Reformideen des Prager Frühlings, anderseits mit dem Ideengut der West-68er, wenngleich in abgeschwächter Form. Mit Ho-Ho-Ho-Tschi-Minh-Rufen auf Demonstrationen konnten sie wenig anfangen. Im Osten ließ sich nicht wie im Westen den Herrschenden der Kampf ansagen.34 Die Masse der DDR-Bürger aber war, erkennbar nicht erst nach dem Fall der Mauer, auf den Westen ausgerichtet: nach außen hin angepasst, im Innern renitent. Hingegen agierten die ostdeutschen alternativen Gruppen teils spiegelverkehrt, im Innern ideologisch angepasst, nach außen hin renitent. Dem Fall der Mauer folgte binnen Kurzem nicht nur das Ende der DDR , sondern auch das des Dritten Weges. RÜCKBLICK AUF 68ER UND 89ER Ein Rückblick auf 1968 und 1989 lässt Seitenwechsler im Westen35 wie im Osten erkennen, wobei Differenzierung nottut. Horst Mahler, führender APO-Aktivist und später einer der Mitbegründer der Roten Armee Fraktion,

gehört mittlerweile zu den harten Rechtsextremisten, Bernd Rabehl, Rudi Dutschkes engster Freund, in eine dubiose Grauzone, und Frank Böckelmann, einst Gründer der anarchistischen Subversiven Aktion, ist nunmehr Herausgeber eines gegenüber der Massenzuwanderung kritisch eingestellten Magazins namens Tumult. Die meisten linken 89er haben mittlerweile ihren Frieden mit dem Kapitalismus und der deutschen Einheit geschlossen. Neben wenigen Utopisten, von ihrem einstigen Idealismus oder Rigorismus, je nach Perspektive, nach wie vor beseelt, vollzogen manche aus dem Umfeld des Bündnis 90 einen Kurswechsel, ohne deswegen Rechtsextremisten geworden zu sein: etwa Peter Grimm, einst Redakteur der Samisdat-Zeitschrift Der Grenzfall; Michael Beleites, vor 1990 ein so heftiger wie mutiger Kritiker der Umweltschäden in der DDR; oder Vera Lengsfeld, 1988 für zwei Jahre aus der DDR nach Großbritannien abgeschoben, Bundestagsabgeordnete von 1990 bis 2005, bis 1996

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34  Diese Position blitzt in der folgenden Studie zuweilen auf: Stefan Wolle, Der Traum von der Revolte. Die DDR 1968, Berlin 2008. 35  Vgl. etwa Mario Carini, Die Achse der Abtrünnigen. Über den Bruch mit der Linken, Berlin 2012; Manuel Seitenbecher, Mahler, Maschke & Co. Rechtes Denken in der 68er-­ Bewegung?, Paderborn 2013.

für die Grünen, dann für die CDU. Heute ist sie Initiatorin der »Gemeinsamen Erklärung 2018«, welche die »illegale Masseneinwanderung« kritisiert.36 Viele von denjenigen, die in der DDR Zivilcourage zeigen mussten, um nicht einzuknicken, empfinden die heutige Debattenkultur als stickig, etwa zu Fragen der Migration oder des Islamismus. Womöglich wohnt diesem Wandel hier eine Gesetzmäßigkeit inne: Wer die Deutungsmacht resolut verteidigt, provoziert im Kulturkampf Gegner. Waren die 68er einst in der Offensive, obwohl gesellschaftliche Außenseiter, so sind sie heute, obwohl gesellschaftlich etabliert, in der Defensive. Hingegen fühlen sich Anti-68er in der Offensive, wobei auch ein hohes Maß an Selbststilisierung und -überschätzung, das Gegner nicht angemessen kritisieren, eine Rolle spielt. Zu denken wäre dabei etwa an den schwadronierenden Götz ­Kubitschek und sein Periodikum Sezession. In einer merkwürdigen Übernahme von Parolen des Antipoden lautet der letzte Satz bei dem eingangs erwähnten Karlheinz Weißmann: »Er [der Anti-68er] muss das Gefühl der Entfremdung nähren, indem er jede Gelegenheit nutzt, um auf den inneren Widerspruch, die Absurdität, die Verlogenheit der geltenden Normen hinzuweisen, und darauf beharrt, dass eine andere und humanere Form der Existenz möglich ist.«37 36  URL: https://www.erklaerung2018.de/ [eingesehen am 11.04.2018]. 37  Weißmann, S. 212.

Auch dies zeigt: 1968 hat nicht nur eine Vorgeschichte, sondern ebenso eine – im Übrigen mittlerweile längere – Nachgeschichte. Zur Vorgeschichte gehörte ein beträchtlicher gesellschaftlicher Wandel in den frühen 1960er Jahren hin zu 1968, zur Nachgeschichte ein gesellschaftlicher Wandel weg von 1968. Wer sich auf 68 fixiert, kann diese Bewegung in ihren Ursachen und Folgen nicht angemessen einordnen. Inkubationszeit und Nachwirkungen, auch subkutane, sind einzubeziehen. Ganz wesentlich führte der Zusammenbruch der DDR im Besonderen, des realen Sozialismus im Allgemeinen zu einer Schwächung der ostdeutschen und der westdeutschen 68er. Ostdeutsche Bürgerrechtler lösten sich früher von utopischen Gedankengängen, viele West-68er später, zum Teil bedingt durch alternative Kräfte aus den neuen Bundesländern.

Prof. Dr. Eckhard Jesse, geb. 1948, besuchte von 1968 bis 1971 ein Institut zur Erlangung der Allgemeinen ­Hochschulreife, nicht das Braunschweig-­Kolleg wie Benno Ohnesorg, sondern das Wolfsburg-Kolleg. Die kritische Sympathie für die 68er ging im Studium am Otto-Suhr-Institut Anfang der 1970er Jahre schnell in eine kritische Distanz über.

Und so scheinen Positionen der 68er heute zwar vielfach etabliert zu sein; aber ihre Nachfolger sind argumentativ partiell entkräftet, sie agieren eher aus der Defensive. Dass die Fixierung auf Antifaschismus mitunter zu dem Versuch führt, gegnerische Positionen zu disziplinieren, ist ebenfalls kein Zeichen intellektueller Stärke. Die illiberale Strategie, die sie einst den Herrschenden vorgeworfen haben, praktizieren die Post-68er aktuell selbst durch die Diskreditierung von nicht geteilten Positionen: »kein Forum bieten«, »Rechtspopulismus bekämpfen«, »rassistische Parole verhindern«. Eckhard Jesse  —  1968 – und 50 Jahre später

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1968 IN DER DDR EINE AUSGEBLIEBENE REVOLTE UND IHRE FOLGEN ΞΞ Michael Lühmann

1968 ist wieder in aller Munde. Allerdings wieder als eine auf die westdeutschen Zusammenhänge reduzierte Chiffre. Erstaunlich genug, schienen das Jahr und die mit der Jahreszahl umschriebenen Ereignisse einer solchen Überhöhung doch mittlerweile entwachsen. Nach Jahren der Selbstheroisierung setzte spätestens mit Heinz Budes Generationenporträt und Ingrid Gilcher-Holteys programmatischem Sammelband von 1968 als Gegenstand der Geschichtswissenschaft gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts eine Historisierung des Komplexes 1968 ein,1 dessen End- und Höhepunkt die Publikationsflut des Jahres 2008 markiert haben dürfte. Seither darf wohl, historisch abgesichert, von einem wichtigen Wendeoder Kristallisationspunkt in der Geschichte nicht nur der Bundesrepublik gesprochen werden, der einerseits nicht auf das Jahr 1968 allein, sondern auf ein dynamisches zeitliches Umfeld verweist, und der andererseits, bei aller Breite des Ereigniszusammenhangs, als ein, aber nicht der einzige Beitrag zur Liberalisierung der Bundesrepublik gelten kann. Dabei ist klar, dass nicht jedes Zerfallsprodukt der 68er bruchlos in eine Erzählung von Demokratisierung und Liberalisierung überführt werden kann; und es ist auch klar, dass Themenfelder wie Frauenrechte, Gleichstellung oder Ökologie erst weiterer Aufbrüche bedurften, die fernab mancher ideologischer Verwirrung eine eigene Entstehens- und Wirkungsgeschichte beanspruchen dürfen – die Entstehung der Grünen bspw. ist ein Lehrstück über die Parallelität, Heterogenität und teils fundamentale Widersprüchlichkeit von sozialer Bewegung seit den 1960er Jahren.2 So klar dieser Befund für den Westen der Republik ist, so wenig b ­ ekannt sind die zeitgleichen Entwicklungen für den östlichen Teil der heutigen Bundesrepublik. Es fehlt schlicht an einer Erzählung, an einer geteilten Ikonografie, an Versuchen, die Geschichte der östlichen Bundesländer über Herrschafts- und Diktaturgesichtspunkte auf der einen und stereotypisierte Alltagsaspekte auf der anderen Seite hinaus um Protestphänomene und prägende subkulturelle Praxisformen zu ergänzen.3 Dabei gibt es sehr wohl, verschüttet unter Diskursen über Erfolg und Misserfolg von Revolution und

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1  Siehe Heinz Bude, Das Altern einer Generation. Die Jahrgänge 1938–1948, Frankfurt a. M. 1995; Ingrid Gilcher-Holtey, 1968. Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1998. 2  Vgl. hierzu etwa Silke Mende, »Nicht rechts, nicht links, sondern vorn«. Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011. 3  Eine wohltuende Ausnahme liefert Stefan Wolle, Der Traum von der Revolte. Die DDR 1968, Berlin 2008.

Einheit, von Transformation und Ankommen in einer gemeinsamen Republik, so etwas wie ein geteiltes, kollektives Wissen über 1968 in der DDR , das indes in den Erlebnisberichten der Zeitzeugen jener Jahre eingeschlossen ist und im heutigen Reden über die DDR und ihre langfristigen Nachwirkungen kaum einen Platz gefunden hat. Und auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung ist die Existenz einer eigenständigen Generation der Ost-68er, bei aller möglichen Plausibilität, bis heute kaum anerkannt.4 68ER IM OSTEN? Marc-Dietrich Ohse etwa kommt zu dem Schluss, dass es mit Bezug auf den Prager Frühling gerade in kirchlichen Kreisen »1968« als generationellen Diskurszusammenhang gegeben haben mag; ideelle Wirkungsmacht, im Sinne der dahinter stehenden Ideen, sei von jenem Jahr aber kaum ausgegangen.5 4  Vgl. zur Debatte, die in der vergangenen Dekade kaum berichtenswerte Ergänzung gefunden hat: Michael Lühmann, Geteilt, ungeliebt, deutungsschwach? Die 68er-Generation der DDR, in: Deutschland Archiv, Jg. 41 (2008), H. 1, S. 102–107.

Auch Florian Havemann, bekennender Ost-68er, will nur wenige hundert 68er in der DDR entdeckt haben.6 Will man aber die Protestierenden von 1968, zu denen Havemann gehörte, als 68er verstehen, so kann man anhand der Akten des MfS eine weit größere Zahl rekonstruieren.7 Wolfgang Engler sieht in den 68ern gar eine von drei politischen Generationen der DDR ,8 während Mary Fulbrook zwar nicht expressis verbis von einer 68er-Generation im Os-

5  Vgl. Marc-Dietrich Ohse, »Keinen Dubcek, keinen Ulbricht.« 1968 und die Jugend in der DDR, in: Angelika Ebbinghaus (Hg.), Die letzte Chance? 1968 in Osteuropa, Analysen und Berichte über ein Schlüsseljahr, Hamburg 2008, S. 170–178, hier S. 178. 6  Vgl. Florian Havemann, 68er Ost, in: UTOPIE kreativ, H. 164 (2004), S. 544–556. 7 

Vgl. etwa Bernd Gehrke, Die 68er- Proteste in der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Jg. 30 (2008), H. 14/15, S. 40–46. 8  Vgl. Wolfgang Engler, Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land, Berlin 1999.

ten spricht, mit ihrem Entwurf der ersten FDJ-Generation aber eine wenig integrierte, im Grunde außerhalb des Systems stehende Generation zumindest potenzieller 68er konturiert: Diese schaffte nicht mehr den Aufstieg innerhalb der DDR , stellte extrem unterproportional hohe Führungspersönlichkeiten in Partei und Sicherheitsapparaten, aber deutlich überproportional viele Oppositionelle. Sucht man prominente Köpfe dieser Generation im »Wer war Wer in der DDR«, so findet man Systemgegner, Kulturschaffende oder Sportler; Karrieren als hauptamtliche Mitarbeiter des MfS oder als Parteifunktionäre bilden die Ausnahme.9 Auch in den vielfältigen biografischen Erinnerungsschnipseln finden sich immer wieder Verweise auf das Lebensgefühl einer Generation im Aufbruch, aber auch auf jene Nacht und jenen Morgen des 21. August 1968, an dem durch den Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes unter Führung sowjetischer Einheiten in Prag der Traum von einem Sozialismus mit menschlichem Antlitz erlosch. An die Stimmung im kurzen Sommer 1968 erinnert sich die Fotografin Barbara M. Berthold, Jahrgang 1951, etwa so: »Es gibt

9  Vgl. Mary Fulbrook, Generationen und Kohorten in der DDR, in: Annegret Schühle, u. a. (Hg.), Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive. Eine Inventur, Leipzig 2006, S. 113–130.

Generationen, bei denen das alterstypische Lebensgefühl der gesellschaftlichen Stimmung entspricht. Bei uns war das so. Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre in die DDR hineingeboren, erlebten wir im Aufbruchselan der Jugend, wie sich in vielen Teilen der Welt Umbrüche anbahnten, Revolten Michael Lühmann  —  1968 in der DDR

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aufbrachen und die Hoffnung, alte Restriktionen und Gebote hinwegzufegen. Das fand zwar, bis auf den Prager Frühling in uns unzugänglichen Ländern statt, aber der Abglanz davon wirkte nur umso stärker.«10 Der Leipziger Kabarettist – und zugleich exzellente Chronist der DDR – Bernd-Lutz Lange, Jahrgang 1944, der sich im August 1968 in Prag aufhielt, erinnert sich an »ein Land mit frischem Geist und einem neuen gesellschaftlichen Konzept«, das so gar nicht diesem »Land der kalten Funktionäre« geglichen habe.11 Langes autobiografischer Bericht memoriert »ein Volk im Aufbruch, Trubel, strahlende Menschen, frohe Gesichter […]. Keine Strasse in Prag, wo nicht mit Kreide an die Hauswand geschrieben stand ›Viva Dubcek‹.«12 Aber auch für die Daheimgebliebenen war spürbar, was in Prag passierte. So erinnert sich Christa Wolf: »1968 war ein sehr, sehr wichtiges Jahr in der DDR. Was in der DDR Beine, Ohren und Augen hatte, war vollkommen be-

sessen von dem, was in der CSSR passierte. Zuerst von den Dubcekschen Reformen und dann vom Einmarsch in Prag. […] So interessiert waren die Leute. Nicht ein paar Intellektuelle, sondern viele DDR-Bürger.«13 Nicht minder einprägsam als die Aufbruchsstimmung war folglich der Einmarsch in Prag. Eindrücklich beschreibt Stefan Wolle, wie »am frühen Morgen des 21. August 1968 […] die Radiomeldungen über den Einmarsch der Armeen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei jäh die sommerliche Idylle [zerrissen]«14, während der Leipziger Autor und langjährige SPD-Stadtrat Gerhard Pötzsch im Blick zurück den Vorabend des 21. August 1968 als einen Abend schildert, den »eine gespenstische, allumfassende Stille ein[schnürte]«15. Dass man sich, in Ost wie West, öffentlich wie wissenschaftlich, dennoch so schwer tut mit den Ost-68ern, mag auch und gerade an der fehlenden Ikonografie der Revolte liegen. Keine nackte Obermaier, keine Kommunarden, kein Dutschke, kein Ohnesorg zierten die Cover; vielmehr dominierten düstere Warnungen an das Nachbarland die Zeitungen – hernach wurde Prag 1968 im gesamten Ostblock ein bis 1989 hinein beschwiegener Komplex.16 WAS VON 1968 ÜBRIG BLIEB … Aber selbst wenn 1968 wohl auch wegen dieses Mangels kein Erinnerungsort der DDR geworden ist,17 lassen sich dennoch mehrere Linien bis 1989 und darüber hinaus ziehen, die im Gedenkjahr 2018, aber auch mit Blick auf das große Wendejubiläum in den kommenden Jahren eine Rolle spielen sollten. Erstens zermalmten die Panzerketten des real existierenden Sozialismus nicht nur die Hoffnung auf ein bisschen Luft zum Atmen; sie zerstörten vielmehr wenige Jahre nach dem Aufbruch des Jahres 1964 und dem Kahlschlag des Jahres

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Zäsuren — Analyse

10  Barbara Metselaar Berthold, Kratzen am Beton. 68er in der DDR?, Jena 2008, S. 7. 11  Bernd Lutz Lange, Mauer, Jeans und Prager Frühling, Berlin 2006. 12 

Ebd.

13  Vgl. Arno Widmann, »Nehmt Euch in Acht.« Die Schriftstellerin Christa Wolf über den Prager Frühling, existenzielle Kämpfe in der DDR und die widersprüchliche Rolle der West 68er, in: Frankfurter Rundschau, 11.07.2008; vgl. auch Jana Simon, Frei hinter geschlossener Tür. Auch in der DDR gab es 68er. Aber anders als im Westen entlud sich ihr Protest nicht auf der Straße, sondern am Küchentisch, in: Die Zeit, 05.06.2017. 14 

Wolle, S. 8.

15  Gerhard Pötzsch, Taschentuchdiele, Halle (Saale) 2015, S. 289. 16  Vgl. hierzu die Beiträge in Ebbinghaus. Insbesondere in Tschechien und der Slowakei war 1968 lange Zeit ein nahezu peinlich beschwiegenes Jahr, das allenfalls für Abgrenzungsdiskurse herhalten musste; so ist etwa Milan Kunderas literarische Verstoffwechslung »Die Unerträgliche Leichtigkeit des Seins« erst im Oktober 2006 in Tschechien erschienen. 17  Ein entsprechender Eintrag fehlt jedenfalls in Martin Sabrow, Erinnerungsorte der DDR, München 2009.

1965 erneut und wohl endgültig den Glauben an die Reform- und Zukunftsfähigkeit sowie die innere Legitimation des Sozialismus, den sich Honecker mit seiner finanziell und legitimatorisch desaströsen Einheit von Sozial- und Wirtschaftspolitik später im wahrsten Sinne des Wortes zurückkaufen musste. Daraus folgt zweitens, dass der Bezugspunkt eines demokratischen Sozialismus, der in den Reihen der Bürgerrechtler am Beginn der Revolution von 1989 vielfach im Zentrum stand, an der Bevölkerung scheitern musste, wie die nachstehend zitierte Äußerung aus den Wirren der Revolution unterstreicht: »›Wenn ick det schon höre, von Beruf Dramaturg, Lyriker, Malerin, denn weeß ick doch: Die können nich’ arbeiten, und die wolln och nich’ arbeiten‹, schimpft Mirko, 23, Reichsbahner. ›Die wolln, det wir ihnen den Sozialismus mit menschlichem Gesicht uffbauen. Noch mal zehn Jahre lang. Ohne mich, det sag’ ich dir.‹«18 Drittens hatte sich der größte Teil dieser 68er-Generation nach 1968 aus der Öffentlichkeit weitestgehend zurückgezogen, führte ein richtiges Leben im falschen System, wie Wolfgang Thierse später formulierte,19 und harrte der Dinge, die da kommen mochten. Die spätberufenen Wendepolitiker, wie etwa Thierse, Matthias Platzeck oder Angela Merkel, mögen hier als prominenteste Beispiele gelten. Nicht umsonst brauchte es lange Zeit, bis sich diese Generation wieder, dafür umso gewaltiger, im Vorfeld und Verlauf der Revolution von 1989 zurückmeldete. Dennoch reichten einige wenige Stichwortgeber, um die 1968 ff. steckengebliebene Generation an das Versprechen einer besseren Zukunft zu erinnern. Der Traum durfte noch einmal geträumt werden, die Generation bekam, anders als die auf die Rente zusteuernde Aufbau-Generation, noch einmal eine zweite, eine echte Chance und nutzte diese, so gut es eben ging.20 Dass sich aber über das Beschweigen von Prag 1968 und dessen Verarbeitung diese Generation inzwischen tief in sich gespalten hatte – in einen 18  Christoph Kleßmann u. Georg Wagner, Das gespaltene Land. Leben in Deutschland 1945–1990. Texte und Dokumente zur Sozialgeschichte, München 1993, S. 392 f. 19  Vgl. Wolfgang Thierse, Das richtige Leben im falschen System. Wolfgang Thierse im Gespräch mit Ulrich Wickert, Stuttgart 2001, S. 15–43, hier S. 31.

kleinen Generationszusammenhang, der vor allem in oppositionellen und in Kirchenkreisen zu verorten war, und einen wesentlich größeren, der sich mit dem DDR-System weitestgehend auf ein Stillhalteabkommen geeinigt hatte –, erschwerte die Kommunikation zwischen den Gleichaltrigen. Diese tiefe Zerrissenheit der Trägergeneration der friedlichen Revolution von 1989 dürfte viel zum Zielkonflikt zwischen der Opposition, den neu hinzuströmenden Politikern der Wendezeit und dem Volk auf der Straße beigetragen haben. All diese Linien verbanden sich in der Revolution von 1989. Die Opposition und die Bewegung auf der Straße entfremdeten sich im Eiltempo und

20  Vgl. Michael Biedowicz, Angela und ich, in: Die Zeit, 09.06.2005.

die Bürgerbewegten hatten Mühe, nachzuvollziehen, welche zentrale Frage die Menschen auf den Straßen antrieb. Hinzu kam: Während Honecker zum Michael Lühmann  —  1968 in der DDR

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einen das hehre Ziel einer Gesellschaft der Gleichheit auf dem Altar des Konsumsozialismus geopfert hatte, als er den Ostdeutschen in den 1970er Jahren ein Strohfeuer bescheidenen Wohlstands als Politikersatz entfachte, war zum anderen der Glaube an die Reformierbarkeit des Sozialismus 1968 ff. abgestorben – die Arena für Helmut Kohls blühende Landschaften war bereitet. Nicht allein der zweifellos schon in der Weimarer Republik erfolgte Rückgang sozialdemokratischer Blüte in Sachsen und Thüringen, auch nicht nur die Vereinnahmung der sozialistischen Symbole und Rituale durch die SED21 verhalf Kohl zu seinen Siegen bei den kommenden Bundestagswahlen; sondern ebenfalls die aus der Niederschlagung des Prager Frühlings resultierenden Enttäuschungen und die folgende resignative Desillusionierung weiter Teile der Bevölkerung, die ihren Anteil an der weitgehend konservativen Wende in weiten Teilen des Ostens 1990 mit ihrer besonderen Hochburg in Sachsen hatten.22

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21  Vgl. hierzu Franz Walter, Das »rote Mitteldeutschland«. Mythos und historische Realität, in: Perspektiven ds, Jg. 8 (1991), H. 3, S. 228 ff.; Ders. u. a., Die SPD in Sachsen und Thüringen zwischen Hochburg und Diaspora, Bonn 1993. 22  Vgl. Michael Lühmann, Sächsische Befunde. Blicke ins eigene Land, in: Dresdner Hefte, Jg. 35 (2018), H. 1 (i.E.).

Diese konservative Wende bescherte der Union fulminante Wahlsiege, sie brachte zudem, darunterliegend und mit tiefen Wurzeln in der niedergehenden DDR , etwas hervor, was heute mit Blick auf Ostdeutschland vielfach diskutiert wird: eine spezifische politische Kultur, die rechte Haltungen begünstigt und in der Abwehr gegen die eingangs beschriebene Chiffre 1968 resultiert – jenes 1968 des Werte- und Sittenverfalls, des Multikulturalismus und der linken Meinungshegemonie, das »links-rot-grün verseuchte 68er-Deutschland« (Jörg Meuthen), welches von neurechten Apologeten als der Ursprung allen Übels beschworen wird.23 Der Bezugspunkt 1968 ist mithin heute in konservativ-rechten Kreisen – nicht nur – Ostdeutschlands einer, der auf massive Ablehnung stößt und in seinen verschiedenen Spielarten entweder als Beweis für das Scheitern linker Utopie oder als Fundament einer Erzählung des Werteverfalls ein Eigenleben führt. … UND WELCHE DEBATTEN HEUTE NOTWENDIG SIND Über diese Delegitimierung des Jahres 1968 im ostdeutschen Diskurs geht allerdings eine Dimension der versäumten Revolte von 1968 zwischen Ostsee 23  Vgl. etwa Albrecht von Lucke, Gegen ’68: GrünSchwarz und der Kulturkampf der AfD, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. (2016), H. 6, S. 5–8. Eine Debatte, die allerdings deutlich älter ist als der neueste »Kulturkampf von rechts«, vgl. Gunter Hofmann, Kulturkampf gegen die K ­ ulturrevolutionäre, in: Die Zeit, 01.01.1993. 24  Elisabeth Zoll, Interview: Politikwissenschaftler Kraushaar zu den 68ern, in: swp.de, 12.01.2018, URL: https://www.swp.de/ politik/inland/politikwissenschaftler-kraushaar-zu-68ern_-_modernisierungsschub-fuer-die-deutsche-gesellschaft_-24529230.html [eingesehen am 20.03.2018]. 25  Stephan Stach, Westdeutschland erklärt’s dem Osten. … oder warum die DDR-Geschichte als Erklärungsgrund nicht ausreicht, in: Zeitgeschichte-online, Januar 2018, URL: http://www.zeitgeschichte-online.de/kommentar/ westdeutschland-­erklaerts-demosten [eingesehen am 20.03.2018].

und Erzgebirge verloren, die für die politische Kultur in Ostdeutschland so dringend notwendig wäre: jener mit Sicherheit in seiner Fixierung auf 1968 übertriebene, aber für die »Fundamentalliberalisierung« der Bundesrepublik so notwendige Diskurs über die Verstrickung der Vorgängergeneration in den Nationalsozialismus. Dies hat Folgen bis heute, die Wolfgang Kraushaar auf die Frage der Unterschiedlichkeit von 1968 Ost und 1968 West in aller Deutlichkeit auf den Punkt bringt: »In einem Staat, der sich als antifaschistisch verstand, meinte man sich nicht mit den autoritären Ressentiments und dem Nationalsozialismus auseinandersetzen zu müssen. Dadurch ist es zu einer Verlängerung dieser braunen Ur-Suppe durch die DDR-Zeit hindurch bis in die heutige Zeit gekommen. In den 90er Jahren kam dann in den neuen Bundesländern diese ungeheure Welle an Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus zum Vorschein. Und das stärkt bis heute Pegida und die AfD. Im Osten Deutschlands war man von einem bestimmten Erbe eingeholt worden.«24 Sicher wäre es zu einfach, nun als Ostdeutscher dem Westler Kraushaar vorzuwerfen, er schreibe sich hiermit in den »nicht eben kleinen Korpus jener Texte ein, in denen westdeutsche ExpertInnen die Anfälligkeit für autoritäres und rechtsextremes Gedankengut als vermeintlich ostdeutsches Problem pathologisieren und mit Verweis auf angebliche Versäumnisse in der DDR meinen, ihrer Beweispflicht nachgekommen zu sein«25. So argumen-

tierte der ostdeutsche Historiker Stephan Stach jüngst in einer Replik auf Michael Lühmann  —  1968 in der DDR

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westdeutsche Kritiker ostdeutscher Verhältnisse. Aber so einfach sollte man es sich im Vorfeld des großen Revolutions- und Einheitsjubiläums 2019/20 nicht machen, sondern weitersuchen, ob es neben den Wirren der Transformation, falschen oder enttäuschten Versprechen und mannigfaltigen rechten Ideen- und Personentransfers aus den westlichen in die östlichen Bundesländer nach 1989/90 nicht auch Logiken gibt, welche die besondere Offenheit gegenüber rechtem Denken (und leider allzu oft auch entsprechendem Handeln) in Ostdeutschland auch aus der Geschichte der DDR heraus begründbar erscheinen lassen.26 Eine bis heute viel zu wenig diskutierte Anregung gab hierzu bereits im März 1989 der Regisseur und DDR-Bürgerrechtler Konrad Weiß, der in Bezug auf den Stalinismus feststellte, dass dieser nicht nur den »antifaschistischen Staat und die antifaschistische Idee« diskreditiert habe, sondern dass seither »alle Fehler, alle Mängel dieses Staates und dieser Gesellschaft […] Argumente für die eigene moralische Überlegenheit [wurden] […]. Die latente Bereitschaft zur Umkehr schlug um in einen neuen, jedoch in der tiefsten Seele gehaltenen Fanatismus. Diese rückbekehrten Faschisten lebten vierzig Jahre lang nach außen hin angepaßt, als politisch indifferente oder sich sozialistisch gebärdende Bürger. Sie sind es, denke ich, die geduldig auf ihre

26  Vielfältige Hinweise liefert die Studie von Danny Michelsen u. a., Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland im regionalen Kontext, Göttingen 2017.

Stunde gewartet und nun an ihre Enkel den braunen Stafettenstab weitergereicht haben. Sie, die unauffällig sind und harmlos scheinen, die schwer zu packen sind, halten die Fäden in der Hand; nicht jene Handvoll früherer SS-Leute und Parteibonzen, die hier und da unter falschem Namen oder mit gefälschten Papieren untergekrochen sein mögen. Das alles, es ist mir be-

27  Konrad Weiß, Die neue alte Gefahr – Junge Faschisten in der DDR, in: Kontext 5, März 1989, URL: http://www.kontextverlag.de/weiss.winterberg.html [eingesehen am 20.03.2018].

wußt, ist Hypothese. Vielleicht ist alles viel einfacher. Vielleicht gibt es wirklich Familien, in denen die faschistische Idee offen und ungebrochen gelebt und ein faschistisches Elitebewußtsein gezüchtet wurde. Vielleicht sind es die Witwen der Gehenkten, die an die Söhne und Enkel das Vermächtnis der Männer weitergereicht haben.«27 Weiß’ Überlegungen, angewendet auf das Bild der Niederschlagung des Prager Frühlings, aber auch auf die negativ aufgeladene Chiffre 1968 West, könnten erklären helfen, wieso sich rechtes Denken in Ostdeutschland und insbesondere in Sachsen gerade als Abwehrdiskurs in neue Höhen aufschwingen konnte. Jedenfalls: Dass fünfzig Jahre nach den Träumen eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz in manchen Regionen Ostdeutschlands und besonders Sachsens AfD, NPD, »PEGIDA« und Co. eine gewisse Deutungshoheit errungen haben und gemeinsam das liberale Fundament der Bundesrepublik attackieren, sollte jenseits ostdeutscher Befindlichkeiten und westdeutscher Belehrungen neue Debatten anstoßen.

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Zäsuren — Analyse

Michael Lühmann, geb. 1980, ist Politikwissenschaftler, Historiker und Publizist. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung und Redakteur der Zeitschrift INDES. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Parteienforschung, historische Kulturforschung und deutsch-deutsche Geschichte.

EIN NEUER KAPITALISMUS FÜR EINE NEUE ZEIT JOHN KENNETH GALBRAITH UND DIE CHICAGO SCHOOL OF ECONOMICS ΞΞ Maurice Cottier

1977 publizierte das britische Institute of Economic Affairs ein kleines ­Pamphlet mit dem Titel »From Galbraith to Economic Freedom«. Der Autor dieser Streitschrift war Milton Friedman, Mitbegründer und öffentliches Gesicht jener sogenannten Chicago School of Economics, die heute als Epizentrum des Neoliberalismus bekannt ist.1 Im selben Jahr wurde dasselbe P ­ amphlet vom kanadischen Fraser Institute – ebenso wie das Institute of Economic Affairs ein neoliberaler Thinktank – abgedruckt. Interessant ist die Gestaltung des Covers der kanadischen Ausgabe, auf dem zwei übereinander angeordnete Dreiecke dargestellt sind, deren Spitzen sich berühren – im typischen Siebzigerjahre-Design auf orangenem Hintergrund. Im oberen, größeren und auf den Kopf gestellten Dreieck steht in geraden, klar lesbaren Buchstaben ­FRIEDMAN. Im unteren kleineren Dreieck steht in verzogener Schrift ­GALBRAITH. Das Arrangement erweckt den Anschein, als würde der Name Galbraith wegen der erdrückenden Last des Friedman-Dreiecks dahinschmelzen.2 1  Zur Geschichte der Chicago School of Economics vgl. Edward Nik-Khah u.Robert van Horn, The ascendancy of Chicago neoliberalism, in: Simon Springer u. a. (Hg.), The Handbook of Neoliberalism, New York 2016, S. 27–38; Robert van Horn, Building Chicago economics. New perspectives on the history of America’s most powerful economics program, Cambridge 2011. 2  Das Büchlein wurde mehrfach aufgelegt. Die kanadische Ausgabe hat einen leicht veränderten Titel, der auf beide Vorträge Friedmans in London verweist. Milton Friedman, From Galbraith to economic freedom, London 1978; Ders., Friedman on Galbraith, and on curing the British disease, Vancouver 1977.

Durch das Titelbild wird die Auseinandersetzung um die Neuausrichtung der US-Wirtschaftspolitik in den 1970er Jahren bildlich dargestellt. In den zwei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich in den westlichen Industriestaaten mit unterschiedlicher Ausprägung ein (post)-keynesianischer Konsens etabliert. Vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre herrschte in dieser Zeit die Überzeugung vor, den inhärent instabilen Kapitalismus durch gezielte staatliche Eingriffe vor Krisen schützen zu können. Die zentralen Ziele waren Vollbeschäftigung und Wirtschaftswachstum. Die Wirtschaftspolitik war so untrennbar mit sozialpolitischen Zielsetzungen verbunden. Zu Beginn der 1970er Jahre aber begann dieser breit abgestützte Konsens wegen der anhaltenden Rezension zu bröckeln. Das Ende des Wirtschaftsbooms der Nachkriegszeit intensivierte die Diskussion um mögliche Alternativen. Friedman war einer von mehreren US-Ökonomen, die bereits seit den späten 1940er Jahren gegen den (post-)keynesianischen Konsens aufbegehrt hatten. Zu diesem Kreis gehörten u. a. George Stigler und später James

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M. Buchanan und Gary Becker. Sie alle standen der sogenannten Chicago School of Economics nahe, waren in der Mont Pèlerin Society aktiv und bekamen gegen Ende ihrer Karrieren den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften verliehen.3 Es lässt sich darüber streiten, ob Stiglers economic theory of regulation, Bucha­nans public choice theory oder Beckers household economics einen größeren Anteil an der Schwächung der (post-)keynesianischen Ausrichtung innerhalb der Wirtschaftswissenschaften hatten. Ohne Zweifel aber war Friedman das öffentliche Gesicht des amerikanischen Neoliberalismus. In populären Büchern, Presse und Fernsehen propagierte er unermüdlich die Effizienz freier Märkte für Arbeit, Güter und Kapital. In Margaret Thatcher und Ronald Reagan fanden neoliberale Ökonomen auf beiden Seiten des Atlantiks wichtige politische Verbündete. Ihre Wahlsiege 1979 bzw. 1981 waren entscheidend für die neoliberale Wende in der Wirtschaftspolitik, die eine Phase der Offenheit und Unentschlossenheit beendete. Obwohl die Zäsur in der Wirtschaftspolitik auf dem europäischen Kontinent weniger deutlich ausfiel, trugen die Reformen, die ab den späten 1970er Jahren einsetzten, auch jenseits des Ärmelkanals eine neoliberale Handschrift.4 Freilich bedeutete das in der politischen Praxis nicht, dass die staatlichen Eingriffe in die Wirtschaft generell abgebaut worden wären – so wie dies bspw. Friedman propagierte. Vielmehr wurden sie zugunsten privater Unternehmen neu gestaltet.5 Friedman half dennoch aktiv mit, die wirtschaftspolitische Zäsur einzuleiten. Im Verlauf der 1960er Jahre avancierte er zum Hausökonomen der neuen Rechten innerhalb der republikanischen Partei und beriet in der Folge die Präsidenten Richard Nixon sowie Ronald Reagan.6 Konservative Politiker wurden auf die populäre Kampfschrift »Capitalism and Freedom« von 1962 aufmerksam, die Friedman unter der Mitarbeit seiner Ehefrau Rose verfasst hatte. Das kurze Buch liest sich als Programm für eine politische Ökonomie neoliberaler Prägung. Die Friedmans diskutieren darin verschiedene Themen der US-Wirtschaft und -Gesellschaft in den späten 1950er Jahren wie bspw. die Steuer-, Bildungs- und Zollpolitik, die Jugendarbeitslosigkeit unter Afroamerikanern sowie die hartnäckige Persistenz von Armut.7 Immer wieder kommen sie dabei zu demselben Schluss: Ökonomische Selbstbestimmung bei gleichzeitigem Abbau staatlicher Interventionen in die Wirtschaft könne sämtliche Probleme mildern oder sogar lösen – wenn nur die Marktkräfte uneingeschränkt wirken. Die Rolle des Staats sei auf die Wahrung von Recht und Ordnung zu beschränken. Nur bei der Bildungs- und Sozialpolitik solle

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Zäsuren — Analyse

3  Vgl. Philip Mirowski u. Dieter Plehwe (Hg.), The road from Mont Pèlerin. The making of the neoliberal thought collective, Cambridge, Mass. 2009. 4  Allgemein zu Neoliberalismus vgl. Simon Springer u. a., in: Ders. u. a. (Hg.), The Handbook of Neoliberalism, New York 2016; Manfred B. Steger u. Ravi K. Roy, Neoliberalism. A very short introduction, Oxford 2010; Rachel S. Turner, Neo-liberal ideology. History, concepts and policies, Edinburgh 2008; David Harvey, A brief history of neoliberalism, Oxford 2005. Für einen hilfreichen Überblick zur neoliberalen Wende in den USA und Großbritannien vgl. Daniel Stedman Jones, Masters of the Universe: Hayek, Friedman, and the Birth of Neoliberal Politics, Princeton 2012. Zum Neoliberalismus in den ehemals kommunistischen Staaten Osteuropas vgl. Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2014. 5  Vgl. etwa Quinn Slobodian, Against the neoliberalism taboo, in: FocaalBlog, 12.01.2018, URL: http://www.focaalblog.com/ 2018/01/12/quinn-slobodianagainst-the-neoliberalism-­taboo/ [eingesehen am 14.03.2018]. 6  Angus Burgin, The Great Persuasion. Reinventing Free Markets since the Depression, Cambridge 2012, S. 152 ff. 7  Milton Friedman, Capitalism and freedom, Chicago 1962. Wie Friedman im Vorwort erwähnte, beruhte das Buch auf einer Reihe von Vorträgen im Jahr 1956.

der Staat hilfsbedürftige Familien in Form von Gutscheinen bzw. einem garantierten Grundeinkommen mit Kapital ausstatten. »Capitalism and Freedom«– vorerst kaum rezipiert – avancierte in den kommenden Jahrzehnten zum Bestseller.8 Friedmans Karriere als öffentlicher Intellektueller nahm im Verlauf der 1960er Jahre entscheidend an Fahrt auf. Zwischen 1966 bis 1984 schrieb Friedman regelmäßig eine Kolumne für das Nachrichtenmagazin Newsweek. Doch wer war John Kenneth Galbraith – der angebliche Feind wirtschaftlicher Freiheit, gegen den sich das eingangs erwähnte Pamphlet richtete? Obwohl Galbraith derselben Generation von Ökonomen wie Friedman angehörte, ist sein Name heute außerhalb der Wirtschaftswissenschaften kaum noch 8  Im Vorwort zur Ausgabe von 1982, die in der Ausgabe von 2002 enthalten ist, ist von 400’000 verkauften Exemplaren die Rede. Milton Friedman, Capitalism and freedom, Chicago 2002.

bekannt. Wie Friedman war der Harvard-Professor Galbraith als politischer Berater aktiv – allerdings im Lager der Demokraten. Als höchster Preisüberwacher während des Zweiten Weltkriegs knüpfte Galbraith enge Kontakte zum progressiven Flügel der Partei.9 Als Anhänger des New Deal diente er den demokratischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt, Harry S. Truman, John F. Kennedy sowie Lyndon B. Johnson.

9  Auch Friedman arbeitete während des Zweiten Weltkriegs für die US-Regierung; allerdings in einer weit bescheideneren Stellung als Galbraith. Diese und alle weiteren biografischen Angaben stützen sich auf die Memoiren von Galbraith sowie von Rose und Milton Friedman. Vgl. John Kenneth Galbraith, A Life in our Times. Memoirs, Boston 1981; Milton Friedman u. Rose Friedman, Two lucky people. Memoirs, Chicago 1999.

Neben Galbraiths wirtschaftswissenschaftlicher Expertise waren vor allem auch seine Künste als Redenschreiber gefragt. Den Höhepunkt seines politischen Engagements erreichte er unter Kennedy, der ihn 1961 zum US-Botschafter in Indien ernannte. Galbraiths aktive Rolle in der Politik endete Mitte der 1960er Jahre, nachdem er wegen seiner kritischen Haltung zum Vietnamkrieg bei der Johnson-Administration in Ungnade gefallen war. Allerdings kreuzten Friedman und Galbraith ihre Klingen in erster Linie nicht als Berater in Washington, sondern auf dem öffentlichen Parkett als Ökonomen von nationaler und internationaler Berühmtheit. Als Friedman mit »Capitalism and Freedom« und seinen Newsweek-Kolumnen allmählich als

10  Robert McCrum, The 100 best nonfiction books: No24 – The Affluent Society by John Kenneth Galbraith (1958), in: The Guardian, 11.06.2016, URL: https://www.theguardian.com/ books/2016/jul/11/100-bestnonfiction-books-affluent-society-­ jk-galbraith [eingesehen am 16.01.2018]. 11  John Kenneth Galbraith, American capitalism. The concept of countervailing power, Boston 1952; Ders., The great crash 1929, London 1955; Ders., The Affluent Society, London 1958; Ders., The New Industrial State, Boston 1967.

öffentlicher Intellektueller Bekanntheit erlangte, musste er die Bühne noch mit Galbraith teilen, der sich bereits in den 1950er Jahren als feste Größe im öffentlichen Diskurs etabliert hatte. Mit »American Capitalism« war Galbraith 1952 ein erster Publikumserfolg gelungen. Vier Jahre später erschien dann sein Meisterwerk, »The Affluent Society«, welches der linksliberale Guardian – trotz Galbraiths marginaler Rolle in der heutigen wirtschaftspolitischen Diskussion – jüngst zu den hundert bedeutendsten Sachbüchern aller Zeiten zählte.10 In den 1960er und 1970er Jahren erschienen weitere seiner Bücher wie etwa »The New Industrial State« (1967) auf den Bestsellerlisten.11 Galbraith und Friedman, die sich persönlich kannten, hatten durchaus Gemeinsamkeiten. Beide entstammten der um 1910 geborenen Generation Maurice Cottier  —  Ein neuer Kapitalismus für eine neue Zeit

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von Ökonomen, deren Denken grundlegend durch die Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise und des Zweiten Weltkriegs geprägt wurde. Gemeinsam war beiden auch, dass sie den wirtschaftswissenschaftlichen Status quo der Nachkriegszeit kritisch betrachteten. Bei Friedman waren die Differenzen offensichtlich. Aber auch Galbraith gehörte nicht zum Kern der neo- oder post-keynesianischen Schule, obwohl er stark von John Maynard Keynes beeinflusst war. Friedmans und Galbraiths Überlegungen, wie die Zukunft zu gestalten sei, konnten jedoch unterschiedlicher nicht sein. Während Friedman für eine

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Rückbesinnung auf die ökonomischen Prinzipien Adam Smiths aus dem 18. Jahrhundert eintrat, schlug Galbraith eine konsequente Weiterentwicklung der Wirtschaftswissenschaften vor. Zentral für Galbraiths politische Ökonomie war seine Beobachtung, dass der amerikanische Kapitalismus der Nachkriegszeit nicht mehr von Individuen – Unternehmern und Arbeitern –, sondern von großen Firmen wie General Motors oder General Electric und mächtigen Gewerkschaften dominiert würde. Diese begegneten sich auf Augenhöhe und setzten in zähen, aber berechenbaren Auseinandersetzungen Preise und Löhne fest. Im Spätkapitalismus

Maurice Cottier  —  Ein neuer Kapitalismus für eine neue Zeit

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dominiere daher nicht der Markt die Unternehmen, sondern umgekehrt. Die Ökonomen hätten dies allerdings nicht realisiert und analysierten die Wirtschaft weiterhin als freies Spiel aus Angebot und Nachfrage. Das Interesse der Großunternehmen und Gewerkschaften war aber nicht mehr unbedingt, sich ein Maximum an Ressourcen anzueignen und stets die größtmöglichen Gewinne zu erzielen. Vielmehr ging es ihnen darum, die höchstmögliche Kontrolle, Stabilität und Sicherheit zu erlangen, um die Zukunft sorgfältig und langfristig planen zu können. Planung war für große Firmen deshalb elementar, weil es überlebenswichtig und gleichzeitig riskant war, komplexe Technologien zu entwickeln und nutzbar zu machen. In der Tradition von Thorstein Veblen argumentierte Galbraith, dass dadurch Manager und Ingenieure wichtiger für den Erfolg einer Firma seien als die eigentlichen Besitzer – die Unternehmer und Aktionäre. Galbraith nannte dieses bürokratische Geflecht technostructure. Nicht nur die Unternehmer – einst die großen Kapitäne des Kapitalismus – hatten ihre Unabhängigkeit eingebüßt, sondern auch die Konsumenten. Ein weiteres wichtiges Charakteristikum der »Gesellschaft im Überfluss«12 – so der Titel der deutschen Übersetzung von »The Affluent Society« – war die Kollegenschelte, die Ökonomen würden die Schaffung von Konsumwünschen durch die Werbung missachten. Da die Befriedigung der elementaren Bedürfnisse nachhaltig gesichert sei, so Galbraith, machten Konzerne ihre Produkte den Konsumenten unter größter Anstrengung immer aufs Neue schmackhaft. Was im Zeitalter des Konsums fast als banale Feststellung erscheint, stellt sich bei genauerer Betrachtung wiederum als grundlegende Kritik am neoklassischen Paradigma des freien Individuums heraus. Auch mit Blick auf den Konsumenten attackierte Galbraith also die Vorstellung eines autonomen homo oeconomicus, der stets bewusste und souveräne Entscheidungen zur Befriedigung der eigenen Interessen treffe. Die Spirale der permanenten Schaffung von Bedürfnissen, die befriedigt werden müssten, um immer neuen Bedürfnissen Platz zu machen, war laut Galbraith mit den (post-)keynesianischen Zielen der fortwährend gesteigerten Produktion, des Wirtschaftswachstums und der Vollbeschäftigung kompatibel. Die nicht endende Flut an Konsumgütern führe jedoch zu Problemen wie Stress, Überarbeitung, Verkehrsüberlastung und Umweltverschmutzung. Die Aufrechterhaltung des Status quo brachte es laut Galbraith des Weiteren mit sich, dass Investitionen vornehmlich in den privaten Sektor flössen. Im Schatten des privaten Konsumreichtums würden daher die Bereiche verkümmern, für die der öffentliche Sektor zuständig ist. Inseln der Armut, Unsicherheiten

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12  John Kenneth Galbraith, ­Gesellschaft im Überfluss, ­München 1959.

bei der medizinischen Versorgung, Unterinvestitionen in die öffentlichen Verkehrsmittel und Vernachlässigung des Umweltschutzes blieben Bestandteile der Überflussgesellschaft. Galbraith plädierte deshalb dafür, die soziale Bilanz (»social balance«) ausgeglichen zu gestalten. Es wäre verfehlt, Galbraith als kulturpessimistischen Kommentator zu lesen. Schließlich ging es ihm weder darum, den Wohlstand zu verdammen, noch darum, ihn als Zeichen für den Niedergang des Kapitalismus zu verstehen. In diesem Sinne leitete er »The Affluent Society« in dem für ihn typisch ironischen Stil mit folgenden Worten ein: »Wealth is not without its advantages and the case to the contrary, although it has often been made, has never proved widely persuasive.«13 Galbraith sah im allgemeinen Wohlstand stattdessen die Chance für eine nachhaltige Neuausrichtung der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die Bedingung dafür sei, dass sich die Wirtschaftswissenschaften von ihren Wurzeln aus dem späten 18. und 19. Jahrhundert emanzipieren. Für eine Gesellschaft, deren Mitglieder sich nicht mehr wegen der Befriedigung elementarer Bedürfnisse den Kopf zerbrechen müssten, sei es unsinnig, fortwährend die Produktion steigern zu wollen. Dabei gehe es aber nicht darum, den Reichtum aufzugeben. Er sei vielmehr die Voraussetzung, um neue Ziele zum Wohle der Menschheit in Angriff zu nehmen. Dem Staat kam bei der Erneuerung des Kapitalismus eine Schlüsselrolle zu, denn er war gleichzeitig ein Teil des Problems wie auch der Lösung. Galbraith konstatierte, dass die staatliche Verwaltung eng mit der technostructure verbunden sei. Gleichzeitig sah er in den demokratischen Verfahren den Weg für Reformen. Vor diesem Hintergrund erstaunt nicht, dass Galbraith zur Zielscheibe der Chicago School of Economics wurde. Bereits 1953 hatte George Stigler zu einer vernichtenden Kritik von »American Capitalism« angesetzt, indem er Galbraith jeglichen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit absprach.14 1970 hatte Friedman noch erfolglos versucht, Galbraiths Wahl zum Präsidenten der American Economic Association zu verhindern. Doch in der sich zuspitzenden Situation angesichts der Krisenstimmung in den westlichen Industriestaaten aufgrund der Rezession und des Erdöl-Preisschocks sowie des nachhaltigen Vertrauensverlustes der Politik in den USA infolge des Water13 

Galbraith, A ­ ffluent Society, S. 1.

14  Craig Freedman, Counterveiling Egos – Stigler Versus Galbraith, in: History of Economics Review, Jg. 27 (1998), H. 1, S. 50–75.

gate-Skandals um Präsident Nixon gewannen Alternativen zum (post-)keynesianischen Konsens nur kurz darauf sprunghaft an Einfluss. Auf dem Höhepunkt der Krise 1973 erschien Galbraiths Buch »­Economics and the Public Purpose«, in welchem er erneut die Wichtigkeit eines dauerhaften ­Gleichgewichts zwischen öffentlicher und privater Sphäre unterstrich und erstmals ein konkretes Reformprogramm vorlegte. Wichtigstes wirtschaftspolitisches Maurice Cottier  —  Ein neuer Kapitalismus für eine neue Zeit

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Ziel, so argumentierte Galbraith hier, müsse die V ­ erringerung sozialer ­Un­gleichheit sein und nicht länger die Steigerung der ­Produktion.15 Als Folge des neuen Buchs fragte die British Broadcasting Company ( BBC) Galbraith an, eine TV-Serie zur Geschichte der Wirtschaftswissenschaften zu drehen.16 Im gegnerischen Lager blieb das Engagement nicht unbemerkt. Noch vor Ausstrahlung der Serie 1977 bemühte sich das Institute of Economic Affairs um eine Gegendarstellung und lud extra Milton Friedman nach England ein. Seine zwei Vorträge wurden in Form des eingangs erwähnten Pamphlets gedruckt. Ausgestattet mit der Aura des amtierenden Nobelpreisträgers wiederholte Friedman die Kritik Stiglers: Die Arbeiten Galbraiths würden grundlegenden wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügen. Friedmans Einwände zielten in erster Linie darauf, die Existenz (und damit die Macht) der technostructure zu negieren. Empirisch sei nicht nachweisbar, dass die Souveränität der Aktionäre oder Konsumenten eingeschränkt sei. Friedman verteidigte also die neoklassischen Grundannahmen und versuchte seinen Zuhörern klarzumachen, dass sein Widersacher als Missionar betrachtet werden müsse. Auf Galbraiths Kritik der Werbung und der fortwährenden Produktion von Konsumgütern anspielend, warf Friedman Galbraith Arroganz und aristokratisches Benehmen vor. Er wolle den Leuten vorhalten, was guter Geschmack sei. Im Markt hingegen sah Friedman eine Alternative zur Intellektuellenherrschaft à la Galbraith. Hier würden die Bedürfnisse der Konsumenten ohne moralisches Urteil im freien Spiel von Angebot und Nachfrage befriedigt. Friedman formulierte mithin schon 1976 in London eine argumentative Strategie, die er vier Jahre später in seiner eigenen Fernsehserie »Free to Choose« gekonnt anwendete. Wie Sören Brandes zeigt, präsentiert Friedman

15  John Kenneth Galbraith, Economics and the public purpose, Boston 1973. 16  The Age of Uncertainty (GB 1977) ist online einsehbar unter URL: https://archive.org/ search.php?query=The%20 Age%20of%20Uncertainty [eingesehen am 15.03.2018]. Zur TV-Serie erschien auch das Buch: John Kenneth Galbraith, The Age of Uncertainty, London 1977. 17  Sören Brandes, Free to Choose. Die Popularisierung des Neoliberalimus in Milton Friedmans Fernsehserie (1980/90), in: Zeithistorische Forschungen Jg. 12 (2015), H. 3, S. 526–533. Free to Choose (US 1980) ist online einsehbar unter URL: http://www.freetochoose.tv/ broadcasts/ftc80.php [eingesehen am 15.03.2018]. 1990 wurde Free to Choose (US 1990) in leicht veränderter Fassung erneut ausgestrahlt. Zu den TV-Auftritten Galbraiths und Friedmans vgl. auch Angus Burgin, Age of Certainty. Galbraith, Friedman, and the Public Life of Economic Ideas, in: History of Political Economy, Jg. 45 (2013), H. Suppl. 1, S. 191–219.

den Kapitalismus als Wirtschaftssystem der gewöhnlichen Leute. Der Staat hingegen erscheint als übermächtiges Gebilde, das die unternehmerische Freiheit des Einzelnen drastisch einschränkt.17 Es steht außer Zweifel, dass Friedmans konservative Rückbesinnung auf das souveräne Individuum und die freien Märkte im Wettstreit der Ideen gegen Galbraith das Rennen machte. Spätestens mit dem Washington Consensus, dem Third Way unter Bill Clinton oder New Labor unter Tony Blair bestimmten neoliberale Rezepte auch die wirtschaftspolitischen Agenden der Mitte-links-Parteien. Anders als die Maxime möglichst freier Märkte erscheint Galbraiths Forderung einer »sozialen Bilanz« heute als unzeitgemäß. Die Probleme, die er damit bekämpfen wollte, scheinen allerdings akuter denn je.

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Zäsuren — Analyse

Maurice Cottier, geb. 1981, ist Historiker und zurzeit Gast­ wissenschaftler an der Havard University. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Kriminalitätsgeschichte und der Kulturgeschichte der Wirtschaft.

ESSAY

ZÄSURDENKENSZÄSUR DER VERLUST GESCHICHTSPHILOSOPHISCHER ­KOMPASSE NACH DEM BOOM ΞΞ Fernando Esposito

Zäsuren oder Schnitte in der Zeit spielen im historischen Denken bekanntlich eine prominente Rolle. Sie bestimmen die Praxis der Periodisierung, insofern mit ihnen Epochen, Phasen, mal größere, mal kleinere Zeit­abschnitte aus dem Gesamtkörper historischer Zeit herausgelöst und gleich medizinischen Präparaten konserviert werden. Haben sie für die eine oder andere Generation historischer Pathologen als Anschauungsobjekt ausgedient, wandern sie dann ihrerseits aus dem Anatomiesaal in die museale Präparatensammlung ab. In seinem letzten, 2014 erschienenen, Buch machte Jacques Le Goff auf die lange Vorgeschichte dieses Bedürfnisses nach dem Schneiden der Zeit aufmerksam, und auf den Wandel, den diese Praxis durchlief.1 Trotz Streitigkeiten, ob man das Skalpell lieber ein wenig weiter unten respektive oben anlegen solle, haben die großen oder groben Schnitte – Antike, Mittelalter und Neuzeit – seit der »Sattelzeit« festen Bestand. Mit der Etablierung des modernen Zeit- und Geschichtsdenkens zwischen etwa 1750 und 1850 wurde der Bruch mit der Vergangenheit geradezu eine Obsession der Zeitgenossen. Und mit diesem gesteigerten Epochenbewusstsein wuchs auch die Bedeutung der Suche nach Kontinuitäten und Einschnitten seitens der Historiker. Jahrhunderte und Dekaden stellten und stellen besonders beliebte Ausschnitte dar, die dann gedehnt oder gekürzt werden. Gerade anlässlich von Jahrhundertwenden und sonstigen runden Daten wird das Sezierbesteck auffallend gerne aus dem Etui hervorgeholt: Von kapi1  Siehe Jacques Le Goff, Geschichte ohne Epochen? Ein Essay, Darmstadt 2016. Siehe hierzu insbesondere auch Krzysztof Pomian, L’ordre du temps, Paris 1984.

talistischer Verkaufs- und Konsumierwut gescheucht, vom Selbstvergewisse­ rungs- und -verortungszwang angetrieben, werden die Jubiläen gefeiert, wie sie fallen. Als seien wir Anhänger einer okkulten Zahlenmystik, verzaubern uns die Zehnerpotenzen – und insbesondere die Zahlen 100, 75, 50 sowie 25

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bilden häufig den Ausgangspunkt mehr oder minder säkularer rites de passage. Doch äußerst selten, wenn überhaupt, tun uns die gesellschaftlichen Statusübergänge den Gefallen, jener eindeutigen zeitlichen Lokalisierbarkeit zu folgen, die den Kalendern, der gemessenen Zeit, eigen ist. Was hat das nun mit dem Präparat »Nach dem Boom« zu tun – jenem Zeitabschnitt, der vor etwa einer Dekade ins zeitgeschichtliche Formaldehyd getaucht wurde? Nun, die Hauptthese lautete, dass sich die drei Jahrzehnte seit etwa 1968/73 als eine zusammengehörige Übergangsphase und als Vorgeschichte der Probleme und Konstellationen unserer Gegenwart verstehen ließen. Vor dem Hintergrund der »trentes glorieuses« (Fourastié) zwischen 1945 und 1975 erschienen die Entwicklungen, die sich in den darauffolgenden Jahrzehnten entfalteten, als eine Art Paradigmenwechsel. Diverse Prozesse in unterschiedlichsten gesellschaftlichen Feldern hätten im Umfeld der emblematischen Jahre 1968/73 zu einer allmählichen Umstellung des Ordnungsmodells europäischer Gesellschaften geführt. In den 1970er Jahren habe der Übergang vom »Konsens« zur »Freiheit«, wirtschaftspolitisch der ideologische Umschwung vom »Keynesianismus« zum »Neoliberalismus«, eingesetzt, der die neue Gegenwart bestimmen würde, die gegen Mitte der 1990er Jahre deutlich geworden sei. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts sei der neue Geist aufgekommen, der seither in Europa umgehe, nämlich der Geist des »digitalen Finanzmarktkapitalismus«. In ihrem programmatischen Essay stellten Anselm Doering-Manteuffel und Lutz ­Raphael diesen Abschied von der »Welt von gestern« und den Aufbruch in die Welt von heute als »Strukturbruch« dar, der einen »sozialen Wandel von revolutionärer Qualität mit sich gebracht« habe.2 Die Kritik, auch die wohlwollende, störte sich nicht zuletzt am Begriff des

2  Anselm Doering-Manteuffel u. Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008, S. 10 (Herv. i. Org.).

Strukturbruchs; lege dieser doch einen zu klaren Schnitt nahe, der angesichts zahlreicher Kontinuitäten ein falsches Bild vermittle.3 Doch implizieren die Begriffe Strukturbruch oder Zäsur tatsächlich einen Zeitschnitt dergestalt, dass die Welt von einem auf den nächsten Tag eine andere geworden sei? Man legte sich am Abend ins Bett, noch in einer Lebenswelt befindlich, die den Fotografien Bernd und Hilla Bechers entstammte: allerorts Fördertürme und Zechen, Hochöfen und Eisenhütten, verrußte Malochergesichter und Trinkhallen; die Studenten lasen Marx und Marcuse, ihre Haare waren lang und ihre Hosen hatten noch einen Schlag. Und dann setzte in der Nacht – vermutlich gegen drei Uhr, wie bei der Zeitumstellung – der historische Welt-

3  Siehe etwa die Sammelbesprechung der sehepunkte: Thomas Schlemmer u. a., Mehrfachbesprechung: A. Doering-Manteuffel/L. Raphael: Nach dem Boom, Göttingen 2008. Einführung, in: sehepunkte, Jg. 9 (2009), H. 5 [15.05.2009], URL: http://www.sehepunkte. de/2009/05/forum/mehrfachbesprechung-a-doering-manteuffel-l-raphael-nach-dem-boom-goettingen-2008–115/ [eingesehen am 19.03.2018].

geist zum Schnitt an und trennte die Vergangenheit von der neuen Gegenwart, die schwere von der flüchtigen Moderne.4 Schnipp, Schnitt, nach dem Boom. Soll das die gedankliche Logik des Strukturbruchs sein?

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Zäsuren — Essay

4  Siehe Zygmunt Bauman, Flüchtige Moderne, Frankfurt a. M. 2003.

Selbstverständlich geht historischer Wandel auf andere Art und Weise vonstatten. Schon bei Droysen liest man, »dass es in der Geschichte sowenig Epochen gibt wie auf dem Erdkörper die Linien des Äquators und der Wendekreise, dass es nur Betrachtungsformen sind, die der denkende Geist dem empirisch Vorhandenen gibt«5. Welten zerfallen bekanntlich nicht komplett, vieles bleibt gleich und dauert fort. Erst recht zerfallen sie nicht an einem Tage, obwohl die Schul- und Lehrbücher die großen Umbrüche meist politischen Ereignissen anheften, die sich chronologisch eindeutig lokalisieren lassen: 14. Juli 1789, 11. November 1918, 8. Mai 1945, 9. November 1989. Die Ordnungsvorstellungen und Ideen, welche an diesen Tagen der Vergangenheit anheimgegeben werden, feiern meist noch eine ganze Weile fröhliche Urständ. Und manche Ideen und Vergangenheiten beehren einen, wie Derrida 1993 eindrücklich darlegte, noch oftmals als »Gespenster« mit ihrer abwesenden Anwesenheit.6 Strukturelle Transformationen ereignen sich eine Etage tiefer, sprich: unterhalb der »ruhelos wogende[n] Oberfläche, vom Strom der Gezeiten heftig erregte[r] Wellen«7 der Ereignisse. Die Geschichte des polit- und sozioökonomischen wie auch ideengeschichtlichen Wandels oder, wenn man so will, der Strukturbrüche folgt den langsamerem Rhythmen der zwar gemächlicher fließenden, aber dennoch bewegten sozialen Zeit. Erwiesen sich nach dem Boom auch manche Strukturen als langlebig – etwa die nationalstaatliche Verfasstheit zentraler Politik­felder –, so wurden sie dennoch durch gleichzeitige Entwicklungen, wie etwa das 5  Johann G. Droysen, Historik, hg. v. Peter Leyh, Stuttgart 1977, S. 371. 6  Siehe Jacques Derrida, Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt a. M. 2004 [1993]. 7  Fernand Braudel, Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., Bd. 1, Frankfurt a. M. 1990, S. 20 f. 8  Auf der Website des Städel Museums ist noch der sogenannte Digitorial zur Ausstellung zu sehen: http://becherklasse. staedelmuseum.de/. Empfehlenswert naturgemäß auch der Katalog: Martin Engler u. a. (Hg.), Fotografien werden Bilder – Die Becher-Klasse, München 2017.

wachsende Bewusstsein globaler Interdependenz und die zunehmende ökonomische Verflechtung, verwandelt. Der Übergang in die Welt von heute vollzog sich trotz des Fehlens der einen, eindeutigen Zäsur. Stattdessen waren viele, mal kleinere, mal größere Schnitte notwendig, die an unterschiedlichen Stellen zu unterschiedlichen Zeitpunkten vorgenommen wurden, mittels derer sich aus Sicht des Historikers die neue Gegenwart von ihrer Vergangenheit trennte. Will man sich diesen Wandel in der Kontinuität vor Augen führen, lohnt es, den oben erwähnten Fotografien des Ehepaars Becher jene ihrer Schüler gegenüberzustellen, die im vergangenen Jahr im Frankfurter Städel Museum ausgestellt wurden.8 Nimmt man die Fotografien etwa Tata Ronkholz’ in den Blick, so meint man beobachten zu können, wie das, was gestern noch die Lebenswelt bestimmte und die Zeit charakterisierte, sich zu entfernen scheint. Der Trinkhalle, vor welcher vielleicht Vater oder Bruder noch mit Kollegen ihr Feierabendbier stürzten, haftet bereits etwas Unzeitgemäßes, Entrücktes an. Es ist – zumindest im Auge des Historikers –, als schaue man der Zeit beim Historischwerden zu. Fernando Esposito — Zäsurdenkenszäsur

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Tata Ronkholz, Trinkhalle, Duisburg-Wedau, Kalkweg 217, 1978

Es scheint lohnend, hier noch einen ideengeschichtlichen Strukturbruch in Augenschein zu nehmen, der das Zeit- und Geschichts-, ja das Zäsurdenken der Zeitgenossen selbst betrifft. Seit den 1960er Jahren stand nämlich die Geschichte, wie sie bislang gedacht worden war, im Kreuzfeuer der Kritik, und es wurden Zweifel an den fortwährenden Brüchen laut, die dem Fortschritt zugeschrieben wurden. Aus dieser Kritik ging eine Zäsurdenkenszäsur hervor, die von größter Relevanz war. Denn sie betraf keineswegs nur das akademische Feld, auf dem sie explizit thematisiert wurde. Vielmehr hatte sie auch weiterreichende Auswirkungen auf die Logiken des politischen Feldes, dessen Wandel sie wiederum widerspiegelte. Doch der Reihe nach. Zunächst ist ein Szenenwechsel erforderlich: von der Trinkhalle in den Elfenbeinturm, von Duisburg in den Taunus. Dort, in Bad Homburg nämlich, kam Ende September 1983 das »Zentrum der intellektuellen Nachkriegsgeschichte« zum zwölften Mal zusammen.9 Nicht von ungefähr befasste sich die Gruppe Poetik und Hermeneutik mit dem Thema »Epochenschwelle und Epochenbewusstsein«. Denn das eigene Epochenbewusstsein war in den vergangenen Jahren immer wieder von Zäsurproklamationen bedrängt worden, in denen nicht zuletzt das Ende der Moderne verkündet wurde. Die Zeit nach dem Boom wurde von einer Welle an Post-Ismen überschwemmt: Man befand sich in der Postmoderne oder gar im Posthistoire, die Gesellschaft war postindustriell, ihre Werte postmaterialistisch, ihre Künstler postavantgardistisch, ihre Kritiker Poststrukturalisten, Postmarxisten oder postkolonial.

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Zäsuren — Essay

9  Jürgen Kaube, Zentrum der intellektuellen Nachkriegsgeschichte, in: Frankfurter ­Allgemeine Zeitung, 18.06.2003.

Und so begann auch der Tagungsbeitrag des Konstanzer Literaturwissenschaftlers Hans Robert Jauß – der die Gruppe Poetik und Hermeneutik mit ins Leben gerufen hatte und dessen lange verschwiegene Vergangenheit als Hauptsturmführer der Waffen-SS in den letzten Jahren intensiv diskutiert wurde – mit der Verkündigung, dass in Europa das »Gespenst der Post­ moderne«10 umgehe. Jene seit der Sattelzeit etablierte Trias von Antike, Mittel­ alter und Neuzeit trachteten einige Zeitgenossen durch ein Viertes, durch eine Nachneuzeit, zu ergänzen. In Bad Homburg war auch Odo Marquard zugegen. Dort fragte der im Mai 2015 verstorbene Philosoph: »Wozu Epochenbewusstsein? Warum brauchen Menschen Zäsuren? Weshalb denken die modernen Menschen ihren Zäsurbedarf historisch?«11 Es ist sinnvoll, kurz bei Marquard zu verweilen, sprach er doch das Thema des vorliegenden Heftes dezidiert an. Historische Zäsuren seien eine Form der »Grenzbedarfsdeckung«, die dem endlichen, also begrenzten und daher stets abgrenzenden Menschen zur Verfügung stünden. Der Mensch müsse sich stets auch temporal verorten und durch zeitliche Grenzen, die er zum Anderen ziehe, konstituieren. Marquard stellte fest, dass sich gerade eine »Zäsurwanderung« ereigne. Der »futurisierte Antimodernismus« habe den althergebrachten Antimoder­ nismus (der Romantik) verdrängt und bedränge den Modernismus (der Auf10  Hans Robert Jauß, Der literarische Prozess des Modernismus. Von Rousseau bis Adorno, in: Reinhart Herzog u. Reinhart Koselleck (Hg.), ­Epochenschwelle und Epochenbewusstsein, München 1987, S. 243–268, hier S. 243; dort (S. 245 f.) auch die folgenden Zitate. 11 

Odo Marquard, Temporale Positionalität. Zum geschichtlichen Zäsurbedarf des modernen Menschen, in: Herzog u. Koselleck, S. 343–352, hier S. 343. Alle folgenden Zitate: ebd., S. 344, S. 346, S. 349 u. S. 346. 12 

Vgl. Charles S. Maier, The Unmasterable Past. History, Holocaust, and German National Identity, Cambridge, MA 1988. 13  Jürgen Habermas, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, in: Ders., Kleine Politische Schriften I–IV, Frankfurt a. M. 1981, S. 444–464.

klärung). Die Moderne werde nicht mehr durch die Vergangenheit, sondern vielmehr durch die Zukunft, durch eine »revolutionäre Eschatologie im Resignationspelz« infrage gestellt. Das habe zur Ablösung der »amtierenden Grundzäsur« geführt: »Grundzäsur vom Dienst« sei nun nicht mehr die »Mittelalter-Neuzeit-Zäsur«, sondern die »Neuzeit-Nachneuzeit-Zäsur«. Die von Marquard thematisierte Ablösung der Querelle des Anciens et des Modernes durch jene der Modernes et des Postmodernes ist nur einer von vielen Beiträgen zu der in jenen Jahren heftig geführten Diskussion um eine zeitgenössische Zäsur. Die Intensität dieses Streites um Postmoderne und Posthistoire ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass sie vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Vergangenheit, des Antimodernismus der Zwischenkriegszeit, aber auch im Kontext der konservativen Tendenzwende und der Suche nach einer kontinuitätsstiftenden usable past ausgetragen wurde.12 Jegliche Gegenwartsnegation und Infragestellung des »unvollendeten Projekts der Moderne« geriet in den Augen bundesrepublikanischer Modernisten, wie Habermas etwa, leicht in den Ruch mindestens des Konservativen.13 Da hatten es die französischen Theoretiker leichter, die Schattenseiten der Moderne anzuprangern und das »Durcharbeiten« selbiger einzufordern. Fernando Esposito — Zäsurdenkenszäsur

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Hierzu gehörte auch, den modernen Zwang zum Bruch mit der Vergangenheit zu hinterfragen. Genau eine solche paradoxe Zäsurdenkenszäsur hatte Jean François Lyotard im Sinn, als er 1986 feststellte: »Da wir [die Modernen] etwas völlig Neues einleiten, müssen wir die Zeiger der Uhr auf null stellen. Der Gedanke der Moderne selbst korreliert eng mit dem Prinzip, dass es möglich und notwendig ist, mit der Tradition zu brechen und eine völlig neue Lebens- und Denkweise einzuführen. Heute haben wir den Verdacht, dieser ›Bruch‹ sei eher eine Möglichkeit, die Vergangenheit zu vergessen und zu unterdrücken, das heißt sie zu wiederholen, als sie zu überwinden.«14 Diese Zäsurdenkenszäsur war ein Indikator von Transformationen, die sich jenseits des Elfenbeinturms abspielten. Auch jenseits der Akademie wurde der Fortschritt fragwürdig, die Erwartungshorizonte verdüsterten sich. Der Optimismus, der das Wirtschaftswunder, den Aufbruch in die Konsum­ moderne, ja jegliche Modernisierung begleitet hatte, machte in den 1970er und 1980er Jahren dem Pessimismus Platz. Joachim Radkau hat in seiner »Geschichte der Zukunft« zwar zu Recht davor gewarnt »die deutschen Zukunftserwartungen dekadenweise gleichzuschalten«15, gewisse Tendenzen lassen sich dennoch ausmachen. Folgt man etwa Hans Ulrich Gumbrecht, so ereignete sich nun eine entscheidende Transformation der Zukunft: Seitdem ist sie »für uns kein offener Horizont von Möglichkeiten mehr, sondern eine Dimension, die sich zunehmend allen Prognosen verschließt und die zugleich als Bedrohung auf uns zuzukommen scheint«16. Selbstverständlich gab es noch sektorale Fortschritte, in der Wissenschaft, in der Technik oder auch in der Ernährungslage in Ländern des globalen Südens etwa; doch der Fortschritt, die Zuversicht in das Heil am Ende der Geschichte, war geschwunden. Zu diesem Wandel trug zunächst einmal die Veränderung der ökonomischen Großwetterlage bei, die unter den Stichworten des Zerfalls des Währungssystems von Bretton Woods, der Ölkrisen, der Stagflation und des Strukturwandels subsumiert wird. Auf hohe Wachstumsraten und Vollbe-

14  Jean-François Lyotard, Postmoderne für Kinder. Briefe aus den Jahren 1982–1985, Wien 1987, S. 100 f.

schäftigung folgten Konjunktureinbrüche und die Rückkehr der Arbeitslosigkeit. Zudem wurde zunehmend deutlich, dass die bislang angewandten keynesianischen Steuerungsinstrumente nicht mehr griffen. Und keineswegs erwiesen sich allein die ökonomischen Vorstellungen einer Globalsteuerung als illusionär. Vielmehr wuchsen die Zweifel an der Regierbarkeit hochkomplexer moderner Gesellschaften und an Planung über-

15  Joachim Radkau, Geschichte der Zukunft. Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschland von 1945 bis heute, München 2017, S. 317. Vgl. hierzu auch Lucian Hölscher, Die Entdeckung der Zukunft, Göttingen 2016, S. 289–315.

haupt. Nirgendwo wird der Attraktivitätsverlust geplanter und kolonisierter Zukunft deutlicher als in den um die Modernisierung kreisenden Debatten. Die vorherrschenden Modernitätsvisionen wurden zunehmend von einem

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Zäsuren — Essay

16  Hans Ulrich Gumbrecht, Unsere breite Gegenwart, Berlin 2010, S. 16.

small is beautiful-Denken untergraben, welches das Lokale, Kleinräumige, das menschliche Maß an die Stelle megalomanischer, umweltzerstörender Entwicklungsprojekte setzte, die von einem repressiven, technokratischen, tendenziell totalitären Staat implementiert würden. Seit dem Erscheinen des Berichts des Club of Rome zu den »Grenzen des Wachstums« im Jahr 1972 wuchs darüber hinaus das Bewusstsein, dass Fortschritt auch Raubbau an der Natur bedeutete. Angesichts von Seveso und Harrisburg, des NATO-Doppelbeschlusses und der sowjetischen Intervention in Afghanistan, von Waldsterben und Tschernobyl kam vielen der Glaube abhanden, dass sich die drohende Katastrophe überhaupt noch würde abwenden lassen. Zahlreichen Zeitgenossen auch jenseits des linksalternativen Milieus schien es, als sei es nunmehr fünf vor zwölf. Nicht zu vergessen ist auch, dass sich im Deutschen Herbst die Agonie des Marxismus ankündigte. Wer seinen Glauben nicht schon infolge des 20. Parteitags der KPdSU, der Nieder17  Siehe hierzu und zum Folgenden Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution, 1967–1977, Frankfurt a. M. 2004, S. 415–500. 18  Eric J. Hobsbawm, Should the Poor Organize?, in: The New York Review of Books, Jg. 25 (1978), H. 4, S. 44–49, hier S. 44.

schlagung des ungarischen Volksaufstands ebenso wie des Prager Frühlings oder der Lektüre von Solschenizyns »Archipel Gulag« verloren hatte, wurde in Anbetracht des Terrors oder, so Gerd Koenen, »de[s] späte[n] Flirt[s] mit den Roten Khmer« und der Verhängung des Kriegsrechts in Polen abtrünnig.17 Im Zusammenbruch der Sowjetunion 1989/91 kulminierte schließlich jener Prozess der Entzauberung der Utopien und der Delegitimierung der geschichtsphilosophischen Metanarrative, der schon im Zweiten Weltkrieg eingesetzt hatte. Bereits 1978 hatte der bis an sein Lebensende überzeugte Marxist Eric J. Hobsbawm resümiert: »Once upon a time, say from the middle of the nineteenth century to the middle of the twentieth, the movements of the left […] like everybody else who believed in progress, knew just where they wanted to go and just what, with the help of history, strategy, and effort, they ought or needed to do to get there. Now they no longer do. In this respect they do not, of course, stand alone. Capitalists are just as much at a loss as socialists to understand their future, and just as puzzled by the fail-

Dr. Fernando Esposito, geb. 1975, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Zeitgeschichte der Eberhard Karls Universität Tübingen. Dort arbeitet er gerade an einem Buch zur Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Vergangenes Jahr hat er den Band »Zeitenwandel. Transformationen geschichtlicher Zeitlichkeit nach dem Boom« (Göttingen 2017) ­herausgegeben.

ure of their theorists and prophets.«18 Der Verlust der geschichtsphilosophischen Kompasse, mittels derer die Modernen über 200 Jahre lang auf der hohen, offenen Zukunftssee navigiert hatten, lag der Zäsurdenkenszäsur nach dem Boom zugrunde. Und wenngleich wohl keiner die alten Utopien und Metanarrative, vor allem aber die Hekatomben, die sie als Nebenfolgen zeitigten, wieder herbeisehnt, so haben die Fragen danach, wohin wir steuern, sowie auch Suchanstrengungen nach dem Ausguck vom Dienst doch nichts an Brisanz eingebüßt.

Fernando Esposito — Zäsurdenkenszäsur

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WANN, WENN NICHT JETZT? WARUM ES OFT SCHWER FÄLLT, DAS GUTE ZU TUN ΞΞ Hilal Sezgin Am Abend des 20. Januar 2017 stand ich in einem Lüneburger Supermarkt in einer Kassenschlange. Vor mir Leute, die ich nicht kannte, hinter mir Leute, die ich nicht kannte. Alle wollten ihr Abendbrot einkaufen und dann heim. Plötzlich hob der Wartende hinter mir sein linkes Handgelenk, zog die Jacke zurück und schaute darauf: Es war kurz nach 18 Uhr. »Ob er wohl schon die Atomcodes getwittert hat?« Alle lachten. Abendbrot hin oder her: Jede*r von uns war zumindest mit einem Teil der Gedanken auch in Washington gewesen, wo gerade Trump als Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt worden war.

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»Vor Trump« und »seit Trump« lautet daher eine mögliche Einteilung der neueren politischen Zeit. Natürlich grassierten in der politischen Klasse auch vorher schon Dummheit, Korruption und Hoffnungslosigkeit; aber sie waren wenigstens nicht offiziell in den Stand leitender Prinzipien erhoben worden. Als jemand, die viele Vorträge zum Thema Tierrechte hält, hatte ich zeitweise das unangenehme Gefühl, man habe mir mein gesamtes Instrumentarium aus der Hand geschlagen. Jetzt mussten wir der fleischessenden Mehrheit nicht mehr nur plausibel machen, welche Vernunftgründe dagegensprachen, andere empfindungsfähige Wirbeltiere einzusperren, zu quälen und umzubringen. Nein, es schien, als müssten wir erst einmal über die Grundlagen diskutieren, warum das überhaupt so wichtig sein sollte: dass man sein Handeln an Kriterien des Vernünftigen orientiert. Diejenigen Zeitgenoss*innen, denen Tiere mehr oder weniger egal waren, hatten wir Veganer*innen bis dato wenigstens mit Verweis auf den Klimawandel zu einer pflanzlichen Ernährung zu bewegen versucht. Der Klimawandel, das war immerhin der kleinste gemeinsame Nenner von Politik und Eigennutz gewesen. Doch nun saß ein Mann im Weißen Haus, der den Klimawandel schlicht abstritt. Alles war im freien Fall. So viel ist schon über die Zeitenwende Trump geschrieben worden, dass ein anderes einschneidendes Kollektiverlebnis, zumindest für uns Westeuropäer*innen, dabei fast in Vergessenheit zu geraten droht: der Sommer/Herbst 2015. Es waren die Monate, als die vielen Flüchtenden kamen; in denen sie von Budapest aus aufbrachen und sich nicht mehr von Zäunen und Pässen aufhalten ließen; als hiesige Behörden sie teils unbehelligt weiterziehen und teils fast an Bürokratie ersticken ließen; als allabendlich in den Fernsehnachrichten Strände voll orangefarbener Schwimmwesten gezeigt wurden; als die Silben La-ge-so zum Inbegriff von Unbarmherzigkeit und Inkompetenz wurden; als Privatpersonen Geflüchtete bei sich beherbergten und paketweise Brot, Bananen und Wasser an Bahnhöfen verteilten. Dieser Flüchtlingssommer und -herbst verdient die Bezeichnung als Zäsur aus zwei Gründen: Zum einen wurde Westeuropa in einem bisher unvorstellbaren Maße von einer Realität eingeholt, die auf Distanz zu halten Teil unseres Selbstverständnisses war. Ausgerechnet Angela Merkel sprach bei Anne Will am 7. Oktober 2015 die – in meinen Hilal Sezgin  —  Wann, wenn nicht jetzt?

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Augen jedenfalls – treffenden Sätze dazu aus, wonach zu lange beim Bild auf den Fernseher gedacht worden sei, es kümmere sich schon jemand um die Krisen in der Welt, aber nun sei es an der Zeit, sich selbst zu kümmern. Das zweite einschneidende Erlebnis bestand in unserer eigenen Reaktion darauf: Millionen von Deutschen setzten sich in Bewegung und halfen. All diese Dinge, von denen man und wir selber uns jahrzehntelang eingeredet hatten, man könne sie nicht tun: Doch, sie konnten getan werden! Hungrige konnten genährt und Durstende mit Wasser versorgt werden. Fremde konnten in unseren Betten schlafen. Menschen, mit denen wir keine gemeinsame Sprache sprachen, konnten sich uns mit Händen und Füßen verständlich machen; der große Riss, der zwischen »uns« und »ihnen« zu verlaufen und absolut unüberwindlich zu sein schien, war nur ein kleiner Strich auf dem Boden, den wir gemeinsam überwanden. Zwei Ereignisse also – die Wahl Trumps und die Ankunft der Geflüchteten –, die zeitlich kaum anderthalb Jahre auseinanderliegen, bieten sich an, als Zäsuren wahrgenommen zu werden. Beide brachten nichts tatsächlich absolut Neues in die Welt; und doch konfrontieren uns beide Ereignisse mit der Frage, wie wir es etwa mit der Ungerechtigkeit zwischen der sogenannten Ersten und der sogenannten Dritten Welt halten wollen; oder mit dem Klima­wandel und vielleicht auch mit der Ausbeutung der Tierwelt durch uns Menschen. All diese Fragen stehen schon länger auf der politischen Agenda, doch hangeln wir uns von Krise zu Krise und sitzen sie aus. Aber wie lange noch wollen wir dieses Wissen über die genannten Probleme noch mit uns herumschleppen, ohne zu handeln? Was hält uns davon ab, diesbezügliche Wendepunkt zu markieren? Wieso sollten wir die genannten Zäsuren nur passiv erdulden, statt sie aktiv mitzugestalten? Natürlich droht hier, wie so oft, die verächtlich machende Beschimpfung als Gutmensch, die sich in den letzten Jahren reflexhaft in den öffentlichen Diskurs eingenistet hat und jeden Impuls, die Welt zum Guten zu verbessern, mit Spott straft. »Das geht doch nicht!«, »Das könnt ihr nicht machen!«, »Das tust du nur, um dich selbst gut zu fühlen!«, »Das ist ja naiv!«: So oder ähnlich lauten die zahlreichen Einwände, mit denen Menschen, die moral-politische Visionen oder praktisch-hilfreiche Vorschläge ins Spiel bringen, vorgeführt werden. Dass es sich hierbei um einen alten rechten Trick handelt, Weltverbesserern den Wind aus den Segeln zu nehmen, ist das eine. Das andere und fast noch Schlimmere ist, dass sich das Gutmenschen-Bashing auch jenseits dieser politischen Front etabliert hat, weit über den Kreis der notorischen Miesmacher hinaus. Selbst im Alltag kann das entsprechende Abwehrverhalten zum Zuge kommen. Zwar schätzt alle Welt Leinwandhelden wie Robin Hood oder Florence

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Zäsuren — Essay

Nightingale; aber echte Helden – etwa solche, die sich bei dem berühmt-­ berüchtigten Milgram-Experiment weigerten, Unschuldigen im Nebenraum Stromstöße zu versetzen – kommen bei ihren Zeitgenoss*innen nicht unbedingt gut an. Was aus der Entfernung heldenhaft aussieht, wird aus der Nähe gern verfemt. Doch wie lässt sich dieses paradoxe Phänomen erklären, dass moralische Helden von Außenstehenden zwar als Vorbilder angesehen werden mögen, von den unmittelbar Umstehenden und Mitbeteiligten oft aber abgelehnt werden? Moralpsycholog*innen erklären dies u. a. mit der moralischen Ablehnung, welche die Mitmacher*innen selbst befürchteten. Diejenigen, die sich beim Milgram-Experiment weigerten, Stromstöße zu versetzen, zeigten damit implizit auf, dass die anderen, die damit keine Probleme gehabt hatten, falsch handelten; sie ließen sie »in schlechtem Licht« erscheinen. Obwohl dies zunächst nur eine Antizipation ist, lässt sie die Mitmacher*innen, wie ich sie hier der Einfachheit halber nennen will, sozusagen die Flucht nach vorn antreten – Angriff ist die beste Verteidigung. Es gibt zahlreiche psychologische Experimente, die verschiedene Aspekte dieser zunächst widersinnig scheinenden Reaktion untersucht haben. Sie haben wieder und wieder belegt, wie wichtig moralische Selbst- und Fremdwahrnehmung für Menschen sind; und dass wir hier – ebenso wie in anderen sozialen Situationen – mit Vergleichen oder Konkurrenzgefühlen reagieren. Genau genommen lässt der Held die Mitmacherin nämlich nicht in schlechtem, sondern in schlechterem Licht erscheinen, der Mitmacher fühlt sich in seinem oder ihrem moralischen Ansehen herabgesetzt.1 Das tut anscheinend so weh, dass man lieber eine Rechtfertigung eigenen Handelns konstruiert, als auf Platz zwei der imaginierten Moralskala zu landen. Im Grunde ist es so bedrückend wie verstörend, dass selbst das Feld der Moral, das Menschen zusammenführen und sie etwas füreinander tun lassen soll, derart stark vom Wettbewerbsgedanken überwölbt wird. Ob dies mit spätkapitalistischen Verhältnissen begründbar ist – der Gedanke ist verlockend, schließlich sind selbst Ess-, Turn- und Schlafverhalten zum Gegenstand wettbewerbskonformer Selbstoptimierung geworden –, oder ob es sich um eine anthropologische Konstante handelt, muss zunächst offen bleiben. 1  Vgl. Benoît Monin, Holier than me? Threatening Social Comparison in the Moral Domain, in: Revue Internationale de Psychologie Sociale, Jg. 20 (2007), H. 1, S. 53–68. 2  Siehe ebd., S. 60.

Jedenfalls sei es zwar nie angenehm, nicht Recht zu haben, meint der Stanforder Psychologe Benoît Monin dazu; aber es sei anscheinend besonders unangenehm, moralisch im Unrecht zu sein und dabei sozusagen ertappt zu werden. Dies gelte übrigens auch dann, wenn die jeweilige moralische Frage, in der »konkurriert« wird, gar nicht von allen Beteiligten als bedeutsam eingestuft wird.2 Um dies zu untersuchen, hat Monin in Experimenten Hilal Sezgin  —  Wann, wenn nicht jetzt?

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Fleischesser und Vegetarier aufeinanderprallen lassen; und sogar Fleischesser, die Ernährungsweisen für moralisch irrelevant hielten, reagierten mit denselben Formen von Abwehr auf die »Bedrohung« durch die moralische »Superiorität« der Vegetarier*innen. Monin teilt die typischen Abwehrmechanismen dabei in drei Stufen ein, von denen die erste Skepsis ist. Derjenige, der sich als der weniger Moralische blamiert fühlt, zweifelt an den Motiven des Anderen. Das wäre in der Gutmenschen-Debatte die Unterstellung, der andere handele nicht wirklich moralisch, sondern insgeheim eigennützig: Es gehe ihm ja hauptsächlich darum, sich selbst gut zu fühlen. Eine zweite Stufe nennt Monin Trivialisierung. Hier werden dem Wohltäter Kompetenzmangel, Blauäugigkeit und/oder Naivität unterstellt. Auch dieser Vorwurf ist aus der Diskussion zum Beispiel um die Flüchtlingshelfer*innen im Herbst 2015 vertraut. Wenn beides nichts fruchtet und sich schlicht nicht von der Hand weisen lässt, dass das an den Tag gelegte Do-Gooder-Verhalten sowohl genuin moralisch intendiert als auch sinnvoll ist, werden als dritte Strategie Distanz und Ablehnung gewählt. Dabei gehen die ablehnenden Personen zu persönlicher Abwertung, Diffamierung oder sogar direkten Feindseligkeiten über – ein Phänomen, das man von Online-Foren und rechtsintellektuellen Blogs kennt. Ein Scheitern der moralischen Projekte wird mit Schadenfreude begleitet. Man erinnere sich hier bspw. an den regelrecht triumphalen Beiklang so mancher Kommentare im Zuge der Silvester-Diskussion nach der sexuellen Gewalt in Köln. Was in den mir bekannten moralpsychologischen Untersuchungen sonderbarerweise nicht erwähnt wird, sind Schuldgefühle. Schließlich können diese, so sie erwachen, weil man jemand anderen bei gutem Verhalten beobachtet, äußerst schmerzhaft sein. Und das soll scheinbar tunlichst vermieden werden. Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: In dem Moment, in dem Person A, die seit Jahr und Tag möglichst billige Klamotten kauft, erfährt, wie viel Mühe sich Person B gibt, möglichst fair produzierte Kleidung zu erwerben, wird A schlagartig bewusst, wie viele Shirts und Hosen sie schon getragen hat, die von vermutlich unterbezahlten Näherinnen angefertigt wurden, die ohne nennenswerten Arbeitsschutz viel zu viele Stunden in viel zu stickigen Räumen festsaßen. Auch Person A hatte schon mal eine Reportage darüber im Fernsehen gesehen, das daraus resultierende mulmige Gefühl aber schnell verdrängen können; schließlich wusste sie gar nicht, wie sie an andere Kleidung herankommen könnte. Die Ausbeutung der Näherinnen schien abstrakt und weit weg. Nun aber ist B aufgetaucht, und das moralische Problem ist da. Und damit das Schuldgefühl.

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Im Falle nicht fair produzierter Kleidung mag dieses nicht ganz so stark sein wie bei direkter Schädigung eines anderen. Aber wer nur kurz in sich geht und entsprechende Erinnerungen aufruft, wird feststellen: Schuld­gefühle gehören zu den unangenehmsten Gefühlen überhaupt. Man möchte sich winden und verstecken und die Zeit zurückdrehen. Wem dies zu unangenehm ist, wem die persönliche Konsequenz zu mühsam erscheint, dem bleibt dann zumindest die Trias aus Distanzierung, lächerlich machen und Gutmenschen-Schmäh. Ein weiterer relevanter Begriff, das Soziometer, verweist wiederum auf die Sozialpsychologie. Es beschreibt die im Alltag wie auch im Labor wieder und wieder zu bestätigende Beobachtung, dass wir Menschen uns geradezu obsessiv damit beschäftigen, was andere von uns halten, und dass wir deren positiven Erwartungen meist genügen wollen. Allerdings ist uns verblüffenderweise bisweilen noch wichtiger, vor uns selbst bzw. einem fiktiven Beobachter als vor den tatsächlichen anderen gut dazustehen. Wohl kaum jemand ist erhaben über die beschriebenen Mechanismen. Als ich selbst, bereits seit etlichen Jahren Vegetarierin, im Sommer 1989 in Santa Cruz das erste Mal auf Veganer traf, reagierte ich ähnlich dem hier Beschriebenen: Ich bestellte in einem studentischen Café ein Sandwich, in dem kein Fleisch sein sollte; und die Bedienung sagte, in sämtlichen ihrer Produkte sei nicht nur kein Fleisch, sondern auch kein Käse, kein Ei, nichts vom Tier – also vegan. Es wäre schön, wenn ich jetzt berichten könnte, ich hätte geantwortet: »Oh, das ist ja ein interessantes Konzept. Vegan? Das ist eigentlich viel konsequenter als vegetarisch.« Bloß war das, was ich sagte, eben dies: »Ist mir egal – Hauptsache, kein Fleisch drin!« Und zwar im Tonfall extra dick aufgetragenen Desinteresses und schönsten Hochmuts. Die Erinnerung daran, wie ich die Gelegenheit, etwas dazuzulernen, mit völlig unpassendem Triumphschnauben – »Hauptsache, kein Fleisch drin« – beiseite wischte, lässt mir noch heute eine Welle von Scham den Rücken hinunterlaufen. Aufgrund dieser und ähnlicher Erfahrungen nehme ich an, dass der Reflex des Ablehnens einer anderen ethischen Meinung auch gerade dadurch ausgelöst werden kann, dass wir ahnen, dass der andere recht hat. Doch das wollen wir nicht zugeben. Also wird dagegengehalten, mit Argumenten und Emotionen. Vor dem anderen stehen wir dadurch freilich noch blöder da, als würden wir ihm einfach zustimmen. Wir ähneln also dem Kind, das sich beim Versteckspiel die Hände vors Gesicht hält; aber anders als das Kind wissen wir, dass wir nicht unsichtbar sind, sondern müssen uns dies noch zusätzlich einreden. Das internalisierte Soziometer wird in solchen Situationen deutlich, es Hilal Sezgin  —  Wann, wenn nicht jetzt?

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tritt hervor und scheint unser Handeln anzuleiten. Dass wir in vielen solcher Fälle das tatsächliche Urteil der anderen ignorieren und den Kampf mit Scham, antizipierter Abwertung, Schuld und dem Eingeständnis oder Leugnen von Fehlern im Grunde nur mit uns selbst ausmachen, scheint mir ein Indiz dafür zu sein, dass das erwähnte Soziometer in starkem Maße internalisiert ist. Unterstützt wird ein solches Verhalten womöglich auch durch das allgemeine menschliche Bedürfnis nach kognitiver Konsonanz, das eben nicht immer im Dienste der Wahrheit aktiv ist, sondern auch ganz gerne Abkürzungen wählt. Kognitive Konsonanz bedeutet, dass wir zum Beispiel das Auseinanderdriften von Ratio und Praxis als unangenehm empfinden und uns stattdessen lieber sinnstiftende Hintergrunderklärungen konstruieren, um beides zusammenzuführen – selbst dann, wenn diese logischen Grundlagen entbehren. Hauptsache, die erschaffene Geschichte hat einen Anfang und ein Ende und suggeriert zwischen beiden einen Zusammenhang. Demnach gibt es viele Gründe, warum es uns so schwerfällt, unser Verhalten zu ändern oder überhaupt etwas zu tun; und warum wir meistens noch eine ganze Zeit lang auf dem sinnlosen Pfad weiter trotten, bevor wir die Richtung wechseln. Bisweilen erkaufen wir uns mit hanebüchenen Ausweichmanövern lieber noch ein wenig (Selbst-)Achtung auf Pump, um bloß nicht zugeben zu müssen, wie schlecht es bereits um uns steht. Wohin tragen uns nun diese moralpsychologischen Beobachtungen zum Tun des Guten und zum Spott darüber? Erst einmal ist die etwas traurige Einsicht mitzunehmen, dass die menschliche Psyche – ob nun speziell unter postkapitalistischen Bedingungen oder generell – dazu tendiert, sogar etwas, das eigentlich dem Guten und Gemeinsamen dienen sollte, als ein Konkurrenzverhältnis zu interpretieren und gelegentlich zu einer Art verbalem Gladiatorenkampf werden zu lassen. Dies führt dann eher zur Ablehnung moralisch-politischer Visionär*innen als zum Nacheifern oder Mitmachen. Doch erstens sollten wir die Hoffnung nie aufgeben, dass einige Menschen, die sich zunächst noch durch die ethische Präsenz eines anderen bedroht fühlen, irgendwann umkehren. Das ist vermutlich schwieriger und verlangt mehr Größe, als von Anfang an auf der richtigen Seite gestanden oder einfach geschwiegen zu haben. Doch hierzu nun eine gute Nachricht, auch wieder aus den Laboren der Moralpsychologie. Es gibt ein auch im Alltag recht vertrautes Phänomen, das in der Redewendung auf den Punkt gebracht wird: »Der Überbringer einer schlechten Nachricht wird geköpft.« Er mag nichts dafür können, aber wir empfinden erst einmal Antipathie gegenüber demjenigen, der das Unwillkommene ausspricht; auch bei einer uns unangenehmen ethischen Botschaft.

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Das Gute ist nun, dass damit nicht unbedingt auch die Botschaft selbst »geköpft« oder ad acta gelegt wird. Oft arbeitet sie in demjenigen weiter, der den Überbringer zunächst schmäht. Denn unsere intuitiven moralischen Reaktionen mögen zwar stark sein, auch die damit einhergehenden Impulse, unser Selbstbild zu verteidigen; doch die rationale Bearbeitung setzt ebenfalls ein, oft etwas später.3 Der oder die Ethiker*in oder politische Visionär*in braucht also nie die Hoffnung aufzugeben, dass das Gesagte doch noch auf fruchtbaren Boden fällt; nur trifft der Regen vielleicht etwas später die Erde als das Samenkorn. Zweitens muss der Vergleich oder das moralische Vorbild nicht immer bedrohlich, sondern kann auch inspirierend sein. So gibt es Experimente, bei denen die Teilnehmer*innen vorab ihrer moralischen Integrität versichert wurden; in diesen Fällen reagierten sie mit weniger Verunsicherung und Ablehnung auf moralische Vorbilder. Selbstsicherheit schützt hier also vor Konkurrenzgefühlen bzw. dem Gefühl einer Bedrohung.4 Eine Möglichkeit, sich wechselseitig eher zum Gut-Sein anzustiften, als einander vor Konkurrenzprobleme zu stellen, wäre also, grob gesagt, Situationen von Konkurrenz und/oder mangelnder Anerkennung zu entschärfen. Eine weitere Möglichkeit könnte nicht zuletzt darin bestehen, das Gut3  Vgl. Julia A. Minson u. B ­ enoît Monin, Do-gooder derogation: Putting down morally-­motivated others to defuse implicit moral reproach, in: Social Psychological and Personality Science, Jg. 3 (2012), H. 2, S. 200–207.

Sein vermehrt und in affirmativer Weise als gemeinsames Handeln zu begreifen, so wie Fahrradtouren oder Ins-Kino-Gehen auch. Weltverbesserung ist schließlich selten solitäres Tun. Sie ist auch kein Tun, das wir nur für andere vollbringen, unter schmerzlichen Opfern, während uns Lust und Wille angeblich eigentlich in Richtung Egoismus treiben. Diese starke Dichotomie zwischen Egoismus und Altruismus, auf die ich hier aus Platzgründen nicht

4  Vgl. Benoît Monin u. a., The rejection of moral rebels: resenting those who do the right thing, in: Journal of Personality and Social Psychology, Jg. 95 (2008), H. 1, S. 76–93.

weiter eingehen kann, ist vermutlich selbst bloß ein weiteres Erbe des mo-

5  Was an die Stelle dieser Dichotomie treten könnte, versuche ich, im vierten Kapitel meines Buches »Nichtstun ist keine Lösung. Politische Verantwortung in Zeiten des Umbruchs« (Köln 2017) auszuführen, dem auch einige Passagen des vorliegenden Beitrags entnommen sind.

menschliche Wesen von nicht-menschlichen trennen, dann tun wir dies nicht

dernen Moraldiskurses unter kapitalistischen Bedingungen.5 Gutes tun bedeutet ja tatsächlich, diejenigen Ideale Wirklichkeit werden zu lassen, die wir in der Welt am Wirken sehen wollen. Und wenn wir an den vielfältigen Grenzen rütteln, die Menschen von anderen Menschen und nur für die anderen. Wir tun es ebenso für uns, weil wir wissen, dass eine friedlichere und gerechtere Welt eine schönere Heimat für alle ist. Damit können wir jeden Tag beginnen, und am nächsten erneut. Damit können wir jeden Tag beginnen und eine Zäsur setzen, und wenn wir mit dem Ergebnis noch nicht zufrieden sind, dann am nächsten Tag erneut. Hilal Sezgin, geb. 1970, studierte Philosophie in Frankfurt a. M. und arbeitete danach mehrere Jahre im Feuilleton der Frankfurter Rundschau. Seit 2007 lebt sie als freie Journalistin und Buchautorin in der Lüneburger Heide.

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PERSPEKTIVEN

GLASHAUS-GEFECHTE DER JARGON DER EIGENTLICHKEIT UND DIE DEUTSCHE HALBBILDUNG ΞΞ Wilfried von Bredow

»1968« wird gerne als Chiffre benutzt, um die sozialen und politischen Veränderungen zu evozieren, die der langfristig rumorende, aber mitunter auch ruckartig sich vollziehende Wertewandel in vielen westlichen und indirekt auch in manchen sowjetisch dominierten Gesellschaften ausgelöst hat. In der Bundesrepublik hat dieses Jahr sogar das Image eines besonders dramatischen Aufbruchs, dessen man 2018 mit unverdrossen polarisierter Nostalgie gedenkt. Tatsächlich aber bedeutete 1968 eher ein enttäuschtes Inne­ halten. Der Wandel verlor sein Charisma; der Mai 1968 in Paris und der August 1968 in Prag ließen die utopischen Träume von einer anderen Politik erst einmal platzen. Entsprechend sind für die Wirkung von »1968« die zahlreichen kulturellen Umdeutungen und Umbrüche in den Jahren davor – an Universitäten und Gymnasien, im Freizeitverhalten der Jugendlichen und im Diskurs über die deutsche Vergangenheit, insbesondere die Zeit nationalsozialistischer Herrschaft – aufschlussreicher als die Ereignisse im vermeintlichen annus mirabilis selbst. Zwar ist die rigide Gegenüberstellung einer muffig-restaurativen Ära Adenauer und eines daran anschließenden freiheitlich-lockeren bis kulturrevolutionären Neuaufbruches eine ungerechtfertigte Zuspitzung; aber auch, wenn man das gelassener sieht, fallen einem zahlreiche Beispiele für weitreichenden Wandel ein, von einer neuen Aufmüpfigkeit gegenüber den Ordnungsvorstellungen der älteren Generation über eine weniger prüde Einstellung zur Sexualität sowie andere Konsumgewohnheiten bei Pop-Musik und Filmen bis hin zu einer Renaissance marxistisch geprägten, kapitalismuskritischen Denkens in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Ein Beispiel für Letzteres ist Theodor W. Adornos Schrift »Jargon der Eigentlichkeit«. JARGON DER EIGENTLICHKEIT 1  Siehe Theodor W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, Frankfurt a. M. 1964.

Dieses schnell berühmt gewordene und häufig zitierte Buch von Theodor W. Adorno stammt vom Anfang der 1960er Jahre.1 Zitiert wird allerdings meist nur der fesche Obertitel – schon den Untertitel »Zur deutschen Ideologie«,

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eine Anspielung auf die Frühschrift von Karl Marx und Friedrich Engels, kennen nur diejenigen, die das schmale Buch, erschienen ursprünglich in der edition suhrkamp, auch wirklich in die Hand genommen haben. In den 1960er Jahren waren das allerdings gar nicht so wenige. In den Augen der damals studierenden Prä-Achtundsechziger gewann der »Jargon der Eigentlichkeit« den Status eines Kultbuchs – nicht zuletzt wegen Adornos ausgeprägten Talents zu ätzender, scharf-eleganter Polemik. Das war eine Tonlage, die den aufgeweckten Jungakademikern seinerzeit abenteuerlich neu erschien. Adorno selbst hat in einer dem Text beigefügten Notiz angemerkt, dieser sei im Zusammenhang mit einem philosophischen work in progress entstanden, aber wegen seiner sprachphysiognomischen und soziologischen Anteile diesem Kontext entwachsen. Dieses größere Werk erschien dann zwei Jahre nach dem »Jargon der Eigentlichkeit«.2 Liest man jenen Text wieder – er hat zwar Patina angesetzt, ist aber zumindest im ersten Teil vergnüglich zu lesen –, dann wird klar, dass sein Autor ihn in der Absicht begonnen hat, den in den 1950er Jahren in den Geisteswissenschaften an westdeutschen Universitäten und in der von ihnen beeinflussten »geistigen Welt« vorherrschenden Diskurs raunender Betulichkeit zu verhöhnen und dessen historische Wurzeln im Deutschland von der Jugendbewegung bis zum Nationalsozialismus aufzudecken. Er ist dann aber im Verlauf der Niederschrift dazu übergegangen, sich direkter mit der Philosophie und speziell den Vorstellungen von Martin Heidegger über das Leiden und den Tod auseinanderzusetzen. Diese textinterne Akzentverlagerung hat unterschiedliche Lesarten erleichtert. So formulieren die Herausgeber eines neueren Sammelbandes zu Adornos Schrift etwas verdrießlich: »Seit Jahrzehnten gehört es zu den bis zur Ermüdung vorgebrachten und sich hartnäckiger Beliebtheit erfreuenden Befunden über den Jargon der Eigentlichkeit, dass es darin primär um Heidegger gehe […].«3 Freilich konzentriert sich die Schrift erst im zweiten Teil mehr und mehr auf Heidegger. Hier soll es allerdings um den ersten Teil des »Jargon der Eigentlichkeit« gehen. JARGON Alle Wissenschaftssprachen, etwa in der Medizin oder der Juristerei, haben die Funktion, die professionelle Binnenkommunikation zu vereinfachen und für die Berufsgenossen transparenter zu machen. Zugleich schotten sie gegen Fachfremde ab. Das Abschotten gilt auch bis zu einem gewissen Grad für die Sprache der Sozialwissenschaftler, was in ihrem Fall schon allein deswegen beklagenswert ist, weil häufig (wenn auch nicht immer) die Vermittlung der

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Perspektiven — Analyse

2  Ders., Negative Dialektik, Frankfurt a. M. 1966. 3  Max Beck u. Nicholas Coomann, Adorno, Kracauer und die Ursprünge der Jargonkritik, in: Dies. (Hg.), Sprachkritik als Ideologiekritik. Studien zu Adornos Jargon der Eigentlichkeit, Würzburg 2015, S. 7.

Forschungsergebnisse in die Öffentlichkeit oder zumindest interessierte Teile davon doch zu ihrem Selbstverständnis gehört. Aus der Perspektive des staunenden, aber nicht immer amüsierten Laien existiert für solche exklusiven Fachsprachen der kritisch gemeinte Begriff ­Jargon. Er hat eine längere Tradition. »Meyers Großes Konversations-Lexikon« aus dem Jahr 1905 definiert »Jargon« mit einer gewissen Unfreundlichkeit als die einer besonderen Klasse oder einem gewissen Kreis eigentümliche Sprache (zum Beispiel Künstlerjargon). Hierbei kann es sich um eine verdorbene, fehlerhafte Sprache handeln (vgl. Kauderwelsch); um die typischerweise bei Grenzvölkern anzutreffende Mischsprache; oder auch um eine gemachte Sprache, wie etwa das Rotwelsche, die Gaunersprache. Nun, den Jargon der Sozialwissenschaftler mit dem Rotwelsch zu vergleichen, ist vielleicht zu viel der Ehre. Aber wie auch immer, im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich die Bedeutung von Jargon nicht aufgehellt, sondern ist im Gegenteil eher noch negativer geworden. Wer einen Jargon benutzt, steht heute sogleich im Verdacht, entweder bloß Sprachklischees zu verwenden und mit vorgestanzten, »unechten« Aussagen zu arbeiten – oder mit vielen Worten eigentlich gar nichts aussagen zu wollen. Letzteres wird bekanntlich oft, mal zu Recht, mal zu Unrecht, den Politikern vorgeworfen. EIGENTLICH UND EIGENTLICHKEIT Im alltäglichen Sprachgebrauch ist der Mitteilungswert von eigentlich meist nicht besonders bemerkenswert. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich das Wort als vielfach verwendbar, um etwas verzwickte, weil nicht ganz eindeutige Sachverhalte auszudrücken. So steht es manchmal für eine nicht mehr aktuelle Absicht (»Eigentlich wollte ich einkaufen, aber dann kam mir etwas dazwischen.«) oder Eigenschaft (»Eigentlich habe ich eine Ausbildung als Diplompolitologe, aber jetzt verkaufe ich Versicherungen.«). Nicht mehr wie früher zweifelsfreie Meinungen können auf diese Weise kenntlich gemacht werden (»Ich liebe die Großstadt. Eigentlich. Aber seit hier die Kriminalität so stark angestiegen ist, zieht es mich weg.«). Ferner kann es aber auch als Synonym für genau genommen verwendet werden (»Nach dem Essen im Restaurant blieben mir nur noch zehn Euro für die Heimfahrt, d. h., eigentlich waren es nur 9,81 Euro.«). Oder man drückt damit eine Enttäuschung aus (»Eigentlich hatten wir schon gewonnen, aber dann kriegten wir in der Nachspielzeit noch dieses dämliche Tor.«). All diese Beispiele machen deutlich, dass es jedenfalls nicht ganz ins Schwarze trifft, wenn Adorno die Aufgabe von eigentlich im vorterminologischen Sprachgebrauch als Trennung des Wesentlichen vom Akzidentiellen Wilfried von Bredow  —  Glashaus-Gefechte

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einer Sache ansieht (S. 102). Das gilt schon eher, wenn man eigentlich als Adjektiv gebraucht oder aus diesem Adjektiv ein Substantiv macht – wobei in Adornos ideologiekritischem Blickwinkel bei der Kennzeichnung des Wesentlichen einer Sache, bei der Identifizierung ihres Eigentlichen, immer schon ein bestimmtes Interesse besteht. In sarkastischer Absicht hat Adorno aus dem vergleichsweise harmlosen Alltagswörtchen eigentlich zwei Substantive gemacht (ob vorgefunden oder selbst konstruiert, ist hier egal): die Eigentlichen als selbstgemaltes Etikett einer Personengruppe mit dem Anspruch auf einen herausgehobenen geistigen Status; und Eigentlichkeit als Merkmal einer solchen, als völlig verfehlt, ja gefährlich angesehenen intellektuellen Anspruchshaltung, die Adorno als »sakral ohne sakralen Charakter« und »Verfallsprodukt der Aura« beschreibt (S. 12). JUSTE MILIEU-KRITIK IM KLEINFORMAT Adornos Schrift beginnt mit einer Anekdote aus den frühen 1920er Jahren. Eine Gruppe von anti-intellektuellen Intellektuellen mit einem Hang zu freihändiger Religiosität, unzufrieden mit dem an den Universitäten herrschenden Idealismus, hat einen Kreis mit hohen menschheitsverbessernden Ambitionen gegründet.4 Einem Freund Adornos, der sich davon angezogen fühlt, wird die Aufnahme indes verwehrt. »Er sei, so bedeutete man ihm, nicht eigentlich genug […]. Sie bestätigten sich ihr höheres Einverständnis damit, daß sie einen, der nicht derart sich bekannte, wie sie es sich gegenseitig bezeugten, aussperrten« (S. 7). Ob das wirklich so gesagt wurde, steht dahin, ist eher unwahrscheinlich. Gleichviel: Adorno nimmt diesen Ausgrenzungsgestus auf und dreht ihn um. Er verspottet die sich als etwas Besonderes betrachtenden Mitglieder des Intellektuellenzirkels als »die Eigentlichen«. So weit die Anekdote, die ja nur einen kleinen Kreis von Menschen in einer bestimmten historischen Konstellation betrifft – charakteristisch als Verhalten eines Juste milieu im Kleinformat und aussagekräftig für den damaligen Zeitgeist, zudem ein mäßig aufregendes Kuriosum menschlicher Eitelkeit. Adorno benutzt diese Anekdote jedoch als Ausgangspunkt für die Identifizierung und gleichzeitige Attacke auf das, was er die »deutsche Ideologie« nennt, die schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts ins Manifeste gedrängt (»Jugendstil und Jugendbewegung«) und als mächtige gesellschaftliche Entwicklungstendenz den Nationalsozialismus (»Faschismus«) hervorgebracht oder ihm zumindest nichts entgegenzustellen gewusst habe und auch noch in der Nachkriegsgesellschaft der Bundesrepublik im Mainstream des politisch-kulturellen Diskurses weiter schwele.

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Perspektiven — Analyse

4  Adorno spielt hier auf das rencontre seines Freundes Siegfried Kracauer mit dem »Patmos-Kreis« an, einem der unzähligen Bünde und Netzwerke von Intellektuellen in den Jahren der Weimarer Republik. Der Patmos-Kreis bestand nur aus wenigen Mitgliedern, die ihn jedoch voller Selbstgerechtigkeit als geistig einzig relevant betrachteten; vgl. Knut Martin Sünkel, Formular und Pfingsten. Jürgen Freses Soziologie der Intellektuellen-Assoziationen, dargestellt am Patmos-Kreis (1919–1921), in: Frank-Michael Kuhlemann u. Michael Schäfer (Hg.), Kreise – Bünde – Intellektuellen-Netzwerke. Formen bürgerlicher Vergesellschaftung und politischer Kommunikation 1890–1960, Bielefeld 2017, S. 31–59.

DEUTSCHE IDEOLOGIE Identifiziert wird diese deutsche Ideologie anhand ihrer Sprache, eben des Jargons der Eigentlichkeit. Diese Substantivierung von eigentlich ist Adorno selbst etwas unbehaglich – »sprachliche Nerven« revoltieren dagegen. Im Allgemeinen, so Adorno, drücke das Suffix »-keit« die Substantivierung einer Eigenschaft aus. Aber eigentlich sei ja keine Eigenschaft. Also geht es hier um etwas anderes: Eigentlichkeit nenne »kein Eigentliches als spezifische Eigenschaft, sondern bleibt formal, relativ auf einen in dem Wort ausgesparten, womöglich zurückgewiesenen Inhalt selbst dort noch, wo das Wort adjektivisch verwendet wird. Es besagt nicht, was eine Sache sei, sondern ob, in welchem Maß sie das in ihrem Begriff schon Vorausgesetzte sei, in implizitem Gegensatz zu dem, was sie bloß scheint« (S. 104). Ob das alle Leser verstanden haben? Anders gesagt: Jenen Jargon, für den Adorno im ersten Teil seiner Schrift etliche Beispiele anführt,5 etwa von Otto Friedrich Bollnow, Karl Jaspers, übrigens auch von Heidegger, identifiziert er als Kennzeichen einer typisch deutschen Geisteshaltung: »In Deutschland wird ein Jargon der Eigentlichkeit gesprochen, mehr noch geschrieben, Kennmarke vergesellschafteter Erwähltheit, edel und anheimelnd in eins; Untersprache als Obersprache. Er erstreckt sich von der Philosophie und Theologie nicht bloß Evangelischer Akademien über die Pädagogik, über Volkshochschulen und Jugendbünde bis zur gehobenen Redeweise von Deputierten aus Wirtschaft und Verwaltung. Während er überfließt von der Prätention tiefen menschlichen Angerührtseins, ist er unterdessen so standardisiert wie die Welt, die er offiziell verneint […]« (S. 9). Standardisierte Versatzstücke dieses Jargons seien etwa Wörter wie existenziell, Entscheidung, Auftrag, Anruf, Begegnung, echtes Gespräch, Anliegen, Bindung oder Spannungsfeld. In der Tat reagiert ein einigermaßen empfindliches Sprachempfinden allergisch gegen derlei, wenn mit diesen Worten eine hehre Stimmung evoziert werden soll. Für Adorno war dieses pompös-betuliche Sprachgehabe nicht nur »sprachphysiognomisch« hässlich. Seine Sprachkritik wuchs sich 5  So viele Beispiele sind es dann doch wieder nicht; dafür aber zitiert er über fast zwei Seiten hinweg eine etwas laue »gestanzte Festansprache«, eine Satire von Christian Schütze mit einer großen Auswahl von seinerzeit (und auch heute) in diesem Genre üblichen Phrasen. Richtig komisch ist das aber nicht. Und als Ideologiekritik nicht brauchbar.

zur Ideologiekritik aus, methodisch freilich auf etwas unsicheren Füßen, was er durch die schneidende Schärfe mancher Formulierungen zu überspielen vermochte. An Adornos ätzenden Bemerkungen kann man auch heute noch seine Freude haben; seinerzeit, Mitte und Ende der 1960er Jahre, trafen sie den Nerv der aufmüpfigen akademischen Jugend. Nur die allerwenigsten hatten Texte von Heidegger gelesen; aber dass der hier sein Fett wegkriegte, damit waren sie ganz einverstanden. Wilfried von Bredow  —  Glashaus-Gefechte

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SPRACHE ALS IDEOLOGIE? Letztlich kreist der »Jargon der Eigentlichkeit« um den tiefen Schrecken, den die zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft hierzulande im Nachhinein ausgelöst haben. Er bezieht sich dabei auf drei Zeit- und Frageebenen: Wo liegen die Ursachen für die Machtergreifung des Nationalsozialismus? Wie konnte er sich so rasch und weitgehend widerstandslos stabilisieren, sich tief in die deutsche Gesellschaft einnisten und ihr kulturelles Selbstverständnis umprägen? Schließlich: Wie viel von diesen Prägungen hat sich über die Zäsur der totalen Niederlage und des Neuanfangs nach 1945 erhalten? Die Kontinuitätsfrage hatte schon Dolf Sternberger, Gerhard Storz und Wilhelm E. Süskind umgetrieben, als sie in der Monatszeitschrift Die Wandlung 6 von November 1945 bis April 1948 sprachkritische Glossen über die nationalsozialistische Einfärbung bestimmter Wörter (wie etwa Anliegen, Betreuung, Einsatz, Schulung) veröffentlichten. Ein emphatischer Schlüsselsatz aus der Vorbemerkung 1945 macht dabei ihren Grundgedanken deutlich: »Der Verderb der Sprache ist der Verderb des Menschen.« 1957 wurden die gesammelten Zeitschriftenbeiträge überarbeitet und in Buchform veröffentlicht7 – mit einer melancholisch klingenden Vorbemerkung Sternbergers: »Das Wörterbuch des Unmenschen ist das Wörterbuch der geltenden deutschen Sprache geblieben, der Schrift- wie der Umgangssprache, namentlich wie sie im Munde der Organisatoren, der Werber und Verkäufer, der Funktionäre von Verbänden und Kollektiven aller Art ertönt.«8 Wenn das 1957 eine korrekte Beobachtung war, wie soll man sie interpretieren? Als Indiz – manche möchten hier sogar von Beleg sprechen – für eine Kontinuität der nationalsozialistischen Verderbnis? Als Ausdruck einer spezifisch deutschen Sprach- und Denkdisposition, eben der »deutschen Ideologie«? Adornos Jargon-Buch schlägt den Bogen von der Jugendbewegung bis in die 1960er Jahre. Sein »wesentlich materialistisches Sprachverständnis« lässt ihn Sprache »als Gegenstand und Niederschlag von gesellschaftlicher Praxis« und Worte »nicht per se, sondern in der je konkreten historischen Konstellation« begreifen.9 Das ist sinnvoll, aber es braucht dafür eigentlich kein »wesentlich materialistisches Sprachverständnis«. Dieses wird vielmehr reklamiert, um aus den »sprachphysiognomischen und soziologischen Elementen« (S. 137) mit einer Art hermeneutischem Storchenschnabel eine umfassende Kritik an der »deutschen Ideologie« zu machen. Das ist, wie gesagt, methodisch nicht unproblematisch. Dass es damals in der zeitgeistgemäß linksorientierten akademischen Öffentlichkeit auf so positive Resonanz stieß, hat allerdings weniger mit einer ebenfalls nur polemisch

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Perspektiven — Analyse

6  Die Wandlung erschien vom November 1945 bis Herbst 1949 und wurde herausgegeben von Dolf Sternberger, Karl Jaspers, Werner Krauss und Alfred Weber. Sie wollten mit dieser Zeitschrift zur »geistigen Erneuerung« der Deutschen beitragen. 7  Dolf Sternberger u. a., Aus dem Wörterbuch des Unmenschen, Hamburg 1957. 8  Ebd., S. 10. 9  Magnus Klaue, Jargon und Idiom. Anmerkungen zur Geschichte einer folgenschweren Verwechslung, in: Max Beck u. Nicholas Coomann (Hg.), Sprachkritik als Ideologiekritik. Studien zu Adornos Jargon der Eigentlichkeit, Würzburg 2015, S. 119–136, hier S. 128.

(von rechts) behaupteten »deutschen Neurose«10 zu tun. Die ist ohnehin nur die Neurose derjenigen, die sie konstatieren, um ein Bonmot von Karl Kraus zu paraphrasieren. UNBEHAGEN Aus heutiger Sicht, meinen Dirk Braunstein und Christoph Hesse mit Bedauern, sei Adornos Sprachkritik »ein vergleichsweise harmloses und […] auch ziemlich folgenloses Unterfangen«11 gewesen. Mag sein; das hängt freilich auch davon ab, mit welchen weiteren Unterfangen sie verglichen wird. Der nüchterne Befund der beiden Autoren sieht im Übrigen davon ab, dass Adorno seine Sprachkritik ja nicht in erster Linie (wenn überhaupt) in der Absicht formuliert hat, das Sprachverhalten der Deutschen eleganter und urbaner zu machen. Vielmehr wollte er mit ihr eine spezifische »deutsche Ideologie« aufdecken und sein Unbehagen darüber öffentlich ausdrücken. Gerade dieses Unterfangen aber ist ihm nicht recht gelungen. Seine großformatige, gesamtgesellschaftliche Juste milieu-Kritik bleibt im Kern elegische bildungsbürgerliche Schelte für die selbstgerechte Prätention von post-nationalsozialistischer Normalität. All das in Formulierungen, die wie Weihnachtsplätzchen mit Ingwer klingen: den Jargon des Buber’schen Existentialismus als »die Wurlitzer-Orgel des Geistes« (S. 18) zu bezeichnen, beeindruckt selbst 10  Anton Peisl u. Armin Mohler (Hg.), Die deutsche Neurose. Über die beschädigte Identität der Deutschen, Frankfurt a. M. 1980. 11  Dirk Braunstein u. Christoph Hesse, Philosophie als Mähmachendes. Die Rettung der Sprache durch Verbindlichkeit und Ausdruck (steht hier jedenfalls nicht zu erwarten), in: Max Beck u. Nicholas Coomann (Hg.), Sprachkritik als Ideologiekritik. Studien zu Adornos Jargon der Eigentlichkeit, Würzburg 2015, S. 28–47, hier S. 31. 12  Eine Anspielung auf das umstrittene Konzept des Soziologen Helmut Schelsky von der Bundesrepublik Deutschland als einer »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« aus dem Jahr 1953. 13  Max Horkheimer u. Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947.

(vor allem?) diejenigen, die nie ein solches Instrument gehört haben. Ebenso hübsch ist der gegen Jaspers gerichtete Spott über die schleimige Innerlichkeit als »metaphysische Winterhilfe in Permanenz« (S. 61). Der Jargon der Eigentlichkeit verkleistere Klassenunterschiede. Er sei »zur universalen Ideologie einer Gesellschaft geworden, die sich als einiges Volk von Mittelständlern verkennt und das von einer Einheitssprache sich bestätigen läßt, der für Zwecke des kollektiven Narzißmus […] hochwillkommen ist« (S. 20).12 Bisweilen verrutschen Adorno auch die Metaphern, etwa wenn er schreibt: »Wer den Jargon plappert, auf den kann man sich verlassen; man trägt ihn im Knopfloch anstelle derzeit nicht reputabler Parteiabzeichen« (S. 20). Hier taucht, die Dialektik der Aufklärung 13 lässt grüßen, schließlich auch der topos der Medienkritik auf: Die Kommunikationsmittel, »zumal Radio und Fernsehen, erreichen die Bevölkerungen derart, daß sie nichts von den ungezählten technischen Zwischengliedern merken; die Stimme des Ansagers ertönt im Heim, als wäre er zugegen und kennte jeden Einzelnen. Ihre technisch-psychologisch ertüftelte Kunstsprache – Modell ist das abstoßend-vertrauliche ›Auf Wiederhören‹ – ist vom gleichen Blut wie der Jargon der Eigentlichkeit« (S. 65 f.). Wilfried von Bredow  —  Glashaus-Gefechte

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Kurzum: Aus der Perspektive des Kritikers erscheint der Jargon der Eigentlichkeit mal als Verführungsmittel der Herrschenden, mal als Ausdruck einer trübe-affirmativen Mentalität der Bundesbürger. Er »verlängert anspruchsvoller die ungezählten Veranstaltungen, die den Menschen ein Leben, das ihnen sonst widerwärtig würde und dem sie sich auch nicht gewachsen fühlen, schmackhaft machen wollen« (S. 22). Und natürlich: Dass der Jargon »das deutsche Symptom fortschreitender Halbbildung« (S. 19) sei, dazu kann man immer elitär mit dem Kopf nicken. Das Unbehagen, das Adorno in diesen und vielen anderen Formulierungen ausdrückt, ist in der damaligen Zeitstimmung auf viel Beifall gestoßen. Es fand sich wieder in der zunehmenden Distanz der Jüngeren zu ihrer Elterngeneration. Der »Wertewandel« der 1960er Jahre hatte 1964 bereits kräftig eingesetzt. Eine Gesellschaftskritik, die mit wenigen eindringlichen Formulierungen die geistigen Untiefen im dominierenden Diskurs aufdeckte, die feierlichen Töne als Einschläferungsideologie kennzeichnete und das unterirdische Fortleben nationalsozialistischer Ansichten und Verhaltensweisen anprangerte, fiel auf fruchtbaren Boden. RETOURKUTSCHEN (DOPPELT) Kritiker des Jargons der Eigentlichkeit haben, das bot sich ja nun auch wirklich an, gerne eine Retourkutsche losgeschickt: »Schlimmer als der geschmähte Jargon der Eigentlichkeit kommt mir der Jargon vor, in dem da geschmäht wurde.«14 Das kam aus den Tiefen des Bauches von Martin Walser und war, wie bei ihm ja nicht selten, hauptsächlich von der Freude an der eigenen Formulierungskunst motiviert. Substanzieller ist die bereits 1967 unter dem Titel »Jargon der Dialektik«15 niedergeschriebene Kritik von Jean Améry, der, nebenbei bemerkt, zu den klarsichtigsten und zugleich redlichsten Intellektuellen seiner Generation in Deutschland gehörte. Améry unterscheidet zunächst zwischen dem Jargon als einem »regellosen Sprachspiel« und der Fachsprache als »von einem speziellen Kenntnis- und Erkenntnisvorgang« erzwungenen sprachlichen Ausdruck. Als Beispiele für Überschneidungen zwischen beidem gelten ihm – surprise, surprise – die Psychoanalyse und die Philosophie. »Der Raum des philosophischen Denkens ist ein unwirtlicher. Es gibt keine Disziplin, die so dem tödlichen Eindringen von Unsinn ausgesetzt wäre wie die Philosophie. Und keine andere Sprache ist so sehr wie die ihre bedroht von der Gefahr der Jargonisierung«16. Das tödlich in diesem Satz von Améry meint wohl vor allem eine etwas verstärkte Version von lächerlich. In der Tat hat Adorno ja in seiner

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Perspektiven — Analyse

14  Martin Walser, Händedruck mit Gespenstern, in: Jürgen Habermas (Hg.), Stichworte zur ›Geistigen Situation der Zeit‹, Frankfurt a. M. 1979, S. 46. 15  Jean Améry, Jargon der Dialektik, in: Ders., Widersprüche, Stuttgart 1971, S. 53–78. 16 

Ebd., S. 56, S. 57 u. S. 59.

Eigentlichkeitskritik zahlreiche höchst lächerliche Formulierungen genussvoll aufgespießt. Améry goutiert das durchaus, meint aber, die »kulturrevolutionären Veränderungen« der späten 1960er und 1970er Jahre antizipierend, die Zeit sei schon dabei, über diesen Jargon hinwegzugehen. »Die Tiefschwätzerei solchen Musters versickert«. Damit hat er nicht ganz, aber doch weitgehend recht behalten. Mit einer geschickten Verschiebung der Blickrichtung kommt Améry zu einem anderen Befund: »Dafür steht ein anderer Jargon im Begriffe, die Sprache aufzublähen. Dieser ist nicht reaktionär, im Gegenteil: er gibt sich progressiv bis progressistisch. Er ist nicht raunend, sondern schneidend, nicht wuchtig-gewichtig, sondern scharf-elegant. Er trieft nicht von Serenität, sondern tritt aggressiv auf […]. Es ist der Jargon der Dialektik«17. Zur Illustration dieses Jargons führt Améry Sätze aus Schriften französischer Autoren, aber auch von Adorno und Ulrich Sonnemann an. Er tut das auf durchaus respektvolle Weise, also weder raunend noch schneidend, aber doch entschieden auf schnörkelfreie Klarheit der Sprache insistierend. Jean Améry hat in Deutschland nie viel öffentliche Resonanz gefunden. Auch seine Vorbehalte gegen Adornos »Jargon der Eigentlichkeit« sind nie wirklich rezipiert worden. Schade eigentlich. SCHATTIERUNGEN DER SELBSTGERECHTIGKEIT Zoomen wir den Blick auf diese halb sprachkritische, halb ideologiekritische Kontroverse zurück. Im ersten Teil seiner Schrift diagnostiziert Adorno die Kontinuität einer bestimmten Haltung erschrocken-selbstbewusster Intellektueller vom Beginn des 20. Jahrhunderts über die Zeit des Nationalsozialismus bis in die Ära Adenauer. Diese Haltung habe sich weit ausgebreitet und sei in den Bildungsstätten der Bundesrepublik, ihren Medien und generell überall dort, wo es hehr und festlich zugehe, anzutreffen. Mit seinen Belegen unterschiedlich starker Aussagekraft konstruiert Adorno auf diese Weise ein ihm unheimlich und bedrohlich erscheinendes Juste milieu, gekennzeichnet durch die Mechanismen des Kapitalismus, die Unlust an der Aufklärung über die Ursachen des Nationalsozialismus (begrifflich als Faschismus gefasst) sowie die weitgehende personale und damit eben auch geistige Kontinuität des Regimes von 1933 bis 1945 in die Gegenwart hinein. Auf diese Weise herrschten Opportunismus und Selbstgerechtigkeit. Genau diese Botschaft war es ja, die bei den später so genannten 68ern gut ankam. Ein gerütteltes Maß an Selbstgerechtigkeit charakterisiert allerdings ge17  Ebd., S. 61.

nauso die grobkörnige Juste milieu-Kritik Adornos. Die Auseinandersetzung Wilfried von Bredow  —  Glashaus-Gefechte

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mit Heidegger und dessen eigenartiger Veredelung des menschlichen Leidens sei hier ausdrücklich ausgenommen. Aber die Diagnose, der Jargon der Eigentlichkeit sei das deutsche Symptom fortschreitender Halbbildung (S. 19), und die Behauptung, eine psychologische Interpretation des Jargons der Eigentlichkeit würde in diesem Sprachgestus eine unbewusste homosexuelle Übertragung entdecken (S. 67) – das ist schon sehr von oben herab formuliert. Der Dialektiker beugt sich über das ihm großenteils unappetitliche Wimmelbild der deutschen Gesellschaft und urteilt ex cathedra aus einem eigenen, kleinen, feinen, elitären, mit anderen Worten: einem anderen Juste milieu heraus. Gegen eine hohe Selbstwerteinschätzung und manchmal sogar gegen ein elitäres Sonderbewusstsein braucht man sich nicht immer und in jedem Fall zur Wehr zu setzen. Selbstgerechtigkeit jedoch, zumal wenn sie, wie dann später bei vielen 68ern, in Rudeln auftritt, verdirbt die Auseinandersetzung, weil es nicht mehr um Argumente und deren Stichhaltigkeit geht, sondern um das Erobern, Markieren und Halten eigener, nicht mehr der Selbstkritik zugänglicher Positionen: um geo-intellektuelle Glashaus-Gefechte.

Prof. Dr. Wilfried von Bredow, geb. 1944, war bis 2009 Professor für Internationale Beziehungen an der Philipps-Universität Marburg. Zu seinen Schwerpunkten in Forschung und Lehre zählen die Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands, der Ost-West-Konflikt und die Außenpolitik Kanadas.

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Perspektiven — Analyse

INDES ZEITSCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT

BEBILDERUNG

Herausgegeben durch das Institut für Demokratieforschung der Georg-August-Universität Göttingen. Redaktion: Dr. Felix Butzlaff, Alexander Deycke, Dr. Lars Geiges, Jens Gmeiner, Julia Bleckmann, Jöran Klatt, Danny Michelsen, Dr. Robert Lorenz, Dr. Torben Lütjen, Luisa Rolfes. Konzeption dieser Ausgabe: Michael Lühmann. Redaktionsleitung: Dr. Matthias Micus (verantw. i. S. des niedersächs. Pressegesetzes), Michael Lühmann, Marika Przybilla-Voß. Redaktionsanschrift: Redaktion INDES c/o Göttinger Institut für Demokratieforschung Weender Landstraße 14, 37073 Göttingen, [email protected] Online-Auftritt: www.indes-online.de Anfragen und Manuskriptangebote schicken Sie bitte an diese Adresse, möglichst per E-Mail. – Die Rücksendung oder Besprechung unverlangt eingesandter Bücher kann nicht gewährleistet werden. INDES erscheint viermal jährlich. Bestellung durch jede Buchhandlung oder beim Verlag. Jahresbezugspreis € 71,– D / € 73,– A / SFr 88,90; ermäßigter Preis für Studierende/Auszubildende (gegen Bescheinigung, befristet auf drei Jahre) € 41,80 D / € 43,– A; Einzelheftpreis € 20,– D / € 20,60 A. Inst.-Preis € 133,– D / € 136,80 A. Jeweils zzgl. Versandkosten. Preisänderungen vorbehalten. Die Bezugsdauer verlängert sich jeweils um ein Jahr, wenn nicht eine Abbestellung bis zum 1.10. erfolgt. Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen. Anzeigenverkauf: Anja Kütemeyer E-Mail: [email protected] (für Bestellungen und Abonnementverwaltung) oder [email protected] Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. ISBN 978-3-666-31067-6 ISSN 2191-995X © 2018 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Gestaltung, Satz und Lithografie: SchwabScantechnik, Göttingen

Der Illustrator Lennart Gäbel hat in Rotterdam und New York studiert. Seit 2014 arbeitet er von Hamburg aus freiberuflich für Kunden wie DIE ZEIT, Stern, SPIEGEL Online, FAZ und Playboy. Seine Arbeit »They Let You Do It« wurde 2017 für den World Illustration Award nominiert und mit einem Art Directors Club Deutschland Award prämiert. Die Idee für seine Arbeiten steht immer an erster Stelle, der Stil muss die Message unterstützen. Die Idee jedoch muss die allerbeste für das Projekt sein. Das Ergebnis sind farbenfrohe Illustrationen, die häufig mithilfe von Logos oder Symbolen ihre komplexe Botschaft auf eine Art kommunizieren. Die Illustration ist somit ein Puzzle, das sich beim Betrachten zusammensetzt.

Bildnachweis: Porträt Koenen: Louise Reichstetter Beitrag Esposito: Tata Ronkholz, Trinkhalle, Duisburg-Wedau, Kalkweg 217, Mai 1978 © Tata Ronkholz, Van Ham Art Estate 2018; courtesy Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur, Köln

Björn Milbradt Über autoritäre Haltungen in ‚postfaktischen‘ Zeite

Björn Milbradt

Björn Milbradt

Über autoritäre Haltungen in ‚postfaktischen‘ Zeiten

Über autoritäre Haltungen in ‚postfaktischen‘ Zeiten

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Den ersten Schwerpunkt des Bandes bilden Studien zur Verwissenschaftlichung des Sozialen im Europa des 20. Jahrhunderts. Dabei steht die wachsende Bedeutung von Sozialexperten seit den 1880er Jahren im Fokus. Der zweite Themenschwerpunkt beschäftigt sich mit den epochenspezifischen Besonderheiten zentraler Ordnungsmuster des modernen Europas. Den dritten Schwerpunkt bilden Beiträge zur Geschichte der europäischen Geschichtswissenschaft, insbesondere zur Entwicklung einer kritischen Sozialgeschichte in Frankreich und Westdeutschland. Im letzten Themenblock stehen Ordnungsmuster und Wissensmodelle im Mittelpunkt.