1989: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2019, Heft 01 [1 ed.] 9783666800276, 9783734407055, 9783734407062, 9783525800270


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1989: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2019, Heft 01 [1 ed.]
 9783666800276, 9783734407055, 9783734407062, 9783525800270

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INDES Vandenhoeck & Ruprecht

Heft 1 | 2019 | ISSN 2191-995X

ZEIT SCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT

1989

Martin Sabrow  Zäsuren und die Frage der Perspektive  Angela Siebeold 

Zeitgeschichts­forschung und die Zäsur 1989  Christoph Kleßmann  Konjunkturen der DDR-Historiografie  Ralph Jessen  Immer wieder montags  Eva-Maria Stolberg  Das umstrittene Erbe des Michail Gorbatschow

WOCHEN SCHAU VERLAG

Wochenschau Wissenschaft

... ein Begriff für politische Bildung

Enrico Heitzer, Martin Jander, Anetta Kahane, Patrice G. Poutrus (Hg.)

Nach Auschwitz: Schwieriges Erbe DDR Spätestens seit dem Aufkommen von PEGIDA und AfD ist klar, dass politisches System und Gesellschaft der DDR aus dem Kontext des historischen Nationalsozialismus wie des gegenwärtigen Rechtsradikalismus genauso wenig herausgelöst werden können wie die alte und neue Bundesrepublik. Ein Klima ist entstanden, in dem bislang ignorierte oder verdrängte Konfliktlinien der deutschen Mehrheitsgesellschaft – wie der Umgang mit Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus – deutlich zutage treten. Das Buch versteht sich als Plädoyer für eine intensivere Hinwendung der Zeitgeschichtsforschung wie der politischen Bildung zur Untersuchung und Kritik der SED-Diktatur als einer von drei Nachfolgegesellschaften des Nationalsozialismus.

ISBN 978-3-7344-0705-5, 336 S., € 42,00 E-Book ISBN 978-3-7344-0706-2 (PDF), € 33,99

Herausgegeben im Auftrag der Amadeu Antonio Stiftung sowie der Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen (Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten).

Mit Beiträgen von Klaus Bästlein, Ingrid Bettwieser, Daniela Blei, Tobias von Borcke, Christoph Classen, Raiko Hannemann, Enrico Heitzer, Jeffrey C. Herf, Martin Jander, Anetta Kahane, Gerd Kühling, Christiane Leidinger, Katharina Lenski, Annette Leo, Günter Morsch, Agnes C. Mueller, Helmut Müller-Enbergs, Patrice G. Poutrus, Heike Radvan, Carola S. Rudnick und Regina Scheer.

www.wochenschau-verlag.de

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EDITORIAL ΞΞ Michael Lühmann / Matthias Micus

Als am 9. Oktober 1989 auf den Straßen Leipzigs der Ruf »Wir sind das Volk« erschallte, konnte kaum jemand ahnen, dass damit eine Zäsur von weltpolitischer Bedeutung einen ihrer Ausgänge nahm. Was als Selbstermächtigung der DDR-Bürger gegenüber der Staatsmacht begann, endete im Zusammenbruch der Blockkonfrontation, die so fest gefügte Nachkriegsordnung implodierte, teils wurde sogar schon – wenngleich, wie sich zeigen sollte, vorschnell – das Ende der Geschichte ausgerufen. Heute, dreißig Jahre später, scheint zwar noch immer sicher, dass sich in 1989 das Ereignis und die Wahrnehmung eines tiefen Einschnitts in der Geschichte in Deckung bringen lassen. Gleichwohl weisen nicht wenige der vorliegenden Beiträge in der aktuellen Ausgabe der INDES darauf hin, dass auch drei Dekaden nach 1989 noch unterhalb des Bruchs Kontinuitäten fortwirken, die eine Befragung des Zäsurcharakters von 1989 notwendig erscheinen lassen. Zunächst: Der Glaube an einen unwiderruflichen Schritt voran in der Menschheitsgeschichte, die Hoffnungen, die mit dem Ende der Blockkonfrontation einhergingen, sie haben sich weltweit längst deutlich abgekühlt. Ein neu-alter Kalter Krieg wird gleichermaßen proklamiert wie die Rückkehr des Autoritarismus. Erst recht hat sich kein Zeitalter von Frieden, H ­ umanismus und allgegenwärtiger Demokratie in der Nachfolge einer Epoche von Krieg, Konflikt und Unfreiheit segensreich entfaltet. Beinahe im Gegenteil – zeigte sich doch nun, dass der Außendruck der weltumspannenden Systemgegnerschaft innerhalb der jeweiligen Blöcke spannungsmindernd gewirkt hatte, wohingegen der Wegfall der kommunistischen Herrschaftsalternative separatistische Bestrebungen begünstigte und in zahlreichen Nationalitätenkonflikten resultierte. In den westlichen Industriestaaten griff – und greift – sodann eine rechte Regression ebenso um sich, wie sich der Klimawandel, der neoliberale Umbau von Staatlichkeit und die Spaltung von Arm und Reich zu neuen Höhen aufgeschwungen haben. Wie mit dieser potenzierten Unübersichtlichkeit umgegangen werden kann, ja muss, und was das für die Erforschung der jüngsten Zeitgeschichte bedeutet, beschreibt etwa der Beitrag von Angela Siebold: Das Ende der Geschichte, es war womöglich weniger eine Zäsur denn eine Atempause, die fortbestehende Kontinuitäten zwischenzeitlich überdeckte.

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Dies gilt noch für die Gegenwart. Die jüngsten Debatten um Ostdeutschland nach 1989, speziell die Versuche, eine ostdeutsche Identität zu bestimmen: Sie stehen in diesem Sinne stellvertretend für den klassischen Versuch, Geschichte und Geschichten eine idealtypisch gedachte Generation später noch einmal neu zu befragen, sie zu ordnen und einzufügen in den Fluss der Geschichte. So ist 1989/90 namentlich für »den Westen« viel stärker Fortsetzungs- denn Bruchgeschichte. Bezeichnend: Nicht das postmaterielle Programm der SPD – seinerseits ein Bruch mit der wirtschaftsproduktivistischen Parteitradition – sondern die Kontinuität schwarz-gelber Regierungspraxis überdauerte den Bruch. Zugleich zeigte sich, als die CDU im Osten die Wahlen des Jahres 1990 und hier vor allem die vormaligen »roten« Hochburgen Sachsen und Thüringen gewann, dass aber auch in den späteren neuen Bundesländern die Wirklichkeit der DDR manche Tradition bereits vor der Wende nachhaltig verschlissen hatte. Darüber hinaus manifestierte sich in den brennenden Asylbewerberunterkünften der frühen 1990er Jahre, erst im Osten der vereinten Bundesrepublik und dann auch im Westen, die Wiederkehr des untergründig stets Vorhandenen auf beiden Seiten der einst trennenden Mauer. Mithin: Die Einteilung in ein Davor und Danach, so sehr sie sich für 1989 auch anzubieten scheint, sie erzählt nicht die ganze Geschichte von 1989. Dass sich etwa ostdeutsche Konsumpraktiken nicht entlang dieser Jahreszahl

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EDITORIAL

aufspalten lassen, belegt bspw. Clemens Villinger in seinem Beitrag. Und dass der rechte Mob in Dresden wieder »Wir sind das Volk« brüllt, ist auch deshalb so wenig aus dem Heute allein erklärlich, weil der Bruch von 1989 – anders als die Aufarbeitungsbemühungen dies suggerieren wollen – gerade nicht auf seine langen Linien hin befragt worden ist, wie Ilko-Sascha Kowalczuk ausführt. Andererseits ist in der Einheitseuphorie und bei den nachfolgenden Jubiläen allzu bereitwillig übersehen worden, wie toxisch sich der Volks-­Begriff des Jahres 1989 auch auswirken konnte, worauf im vorliegenden Heft Ralph Jessen hinweist. Kurzum, bei allem gesicherten und teilweise schon wieder halb vergessenen Wissen – sei es über den Kontrollverlust der Staats- und SED-Parteiführung, über Dritte Wege oder insgesamt die Ereignisse um 1989 herum – scheint eines offenkundig: Die Debatte um den Ort von 1989 befindet sich im dreißigsten Jahr der Revolution von 1989 wissenschaftlich und publizistisch dort, wo sie hingehört – in einer Phase neuer, stärker reflektierender Befragung, vielleicht sogar an einem neuen Anfang mit ungewissem Ausgang, dem die vorliegende Ausgabe der INDES, wenn auch nur in Ausschnitten, einen Unterbau zu liefern versucht. Wir wünschen viel Freude bei der Lektüre und so manches neue/alte Frage­ zeichen.

EDITORIAL

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INHALT

1 Editorial

ΞΞMichael Lühmann / Matthias Micus

>> INTERVIEW 7 »Auf der Abschiedstreppe der postkapitalistischen­ Alternative« ΞΞEin Gespräch mit Martin Sabrow über Zäsuren, Kontinuitäten und die Frage der Perspektive

>> ANALYSE 25 Am Ende der großen Kämpfe?

Phasen und Konjunkturen der DDR-Historiografie ΞΞChristoph Kleßmann

35 Die Zeitgeschichts­forschung und die Zäsur 1989 Chancen und Verantwortung einer (fast) abgehängten Disziplin ΞΞAngela Siebold

46 Von Erfahrungen und Erwartungen Konsum und der Systemwechsel von 1989/90 ΞΞClemens Villinger

55 Immer wieder montags

Warum wir über eine populistische »Volks«-Erinnerung  reden müssen ΞΞRalph Jessen

61 Freiheitsrevolution 1989 und Einheitsrevolution 1990 Eine Geschichte mannigfacher Paradoxien ΞΞEckhard Jesse

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73 Eine historische Zäsur

Die Aktualisierung der Nation durch 1989 ΞΞTilman Mayer

81 Eine brandgefährliche Lage

Wohin entwickelt sich die internationale Ordnung? ΞΞThomas Jäger

90 Chance für einen ­Neubeginn?

Über Bürgerrechtler, die Gedenkstätte ­Hohenschönhausen und die Nach-DDR-Zeit ΞΞMarkus Decker

97 Göttin der Demokratie Blickpunkt China

ΞΞHelwig Schmidt-Glintzer

>> ESSAY 107 Die Aufarbeitung der Aufarbeitung Welche Zukunft hat die DDR-Geschichte? ΞΞIlko-Sascha Kowalczuk

PERSPEKTIVEN >> ANALYSE 117 Das umstrittene Erbe des Michail Gorbatschow Russland zwischen Zerfall und Neuanfang ΞΞEva-Maria Stolberg

Inhalt

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SCHWERPUNKT: 1989

INTERVIEW

»AUF DER ABSCHIEDSTREPPE DER POSTKAPITALISTISCHEN ALTERNATIVE« ΞΞ Ein Gespräch mit Martin Sabrow über Zäsuren, Kontinuitäten und die Frage der Perspektive

Herr Sabrow, in diesem Jahr steht mit dem Mauerfall ein besonderes Jubiläum an. Erinnern Sie sich noch, was sie am 9. November 1989 getan haben? Zunächst: Die Erinnerung verschiebt sich, auch an dieses Datum. Ich unterrichtete zu der Zeit als Studienrat die Fächer Geschichte und Deutsch am Walther-Rathenau-Gymnasium in Berlin-Wilmersdorf. Ich weiß noch, dass ich am Abend des 9. November recht früh und müde zu Bett gegangen bin. Am nächsten Tag stand in meinem Leistungskurs eine Klausur zum »Systemvergleich« an. Dort ging es u. a. darum, inwieweit die in der DDR-­Verfassung verbrieften Rechte dem Einzelnen erlaubten, sich auf sie auch gegen Staat und Partei zu berufen. Der Clou war natürlich, dass der Artikel 1 der DDR-­ Verfassung einer Generalprävention gegen die Einklagbarkeit von individuellen Rechten gleichkam, weil die Rolle der marxistisch-leninistischen Partei dort festgeschrieben war. Als man mir in der Schule erzählte, die Mauer sei offen und die Verhältnisse wären nicht mehr so wie noch am Abend zuvor, hatte ich den Eindruck, dass meiner Leistungskursklausur gleichsam die Grundlage entzogen worden war. Tatsächlich fand sie auch gar nicht statt; meine Schüler waren ausgeflogen. Ich selbst rief einen guten Freund von der Deutschen Presse-Agentur an und fuhr mit ihm zur Bornholmer Straße an die Mauer. Dort standen wir mit vielen anderen Menschen, die freudestrahlend »von drüben« die Grenze passierten. Wir selbst versuchten ein paar Hundert Meter weiter an einer kleinen Fußgängerbrücke, die bislang nur für die Grenzer bestimmt gewesen war, nach Ost-Berlin zu gelangen, wurden aber von Grenzsoldaten mit vorgehaltener Waffe zwar nicht unfreundlich, aber doch bestimmt zurückgedrängt: »Bürger, verlassen Sie das Territorium der DDR!« Was ich nicht

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wissen konnte: Ungefähr zur selben Zeit versuchte der Ost-Berliner Parteiapparat die Moskauer Führung per Telefon und Telegramm mit der Behauptung zu beruhigen, dass man die Lage im Griff habe und die eingerissene Mauer alsbald wieder abdichten werde: »Seit heute morgen wird die Ordnung an den Grenzübergängen wiederhergestellt.« In diese Bewegung waren wir hineingeraten und ahnten nur halb, dass der Mantel der Geschichte um uns herum noch heftig weiterwehte: Der freundlich-bestimmte Grenzer verteidigte ein Faustpfand des sozialistischen Weltexperiments, dessen Abbruch das SED-Regime sich bei zeitweiliger Wiederherstellung des »souveränen Grenz-

regimes« hätte teuer abkaufen lassen können; und ich war in meiner naiven Neugier Teil eines spontanen Zusammenwachsens, das mein DDR-Grenzer an diesem Vormittag auf einem unscheinbaren Steg neben der Bornholmer Brücke noch mühelos abwehren konnte und das als weltgeschichtliche Bewegung dann binnen Wochen die abgeschottete Welt des Staatssozialismus zum lautlosen Verschwinden brachte. War Ihnen zu diesem Zeitpunkt schon bewusst, dass es sich um einen großen Wendepunkt handelte? Das doch! Das Reisegesetz, das im Politbüro schon vorbereitet worden war, hatte sehr weitreichende Folgen, die im Grunde genommen dem Mauerfall nicht unähnlich waren, ihn nur eingehegt, vielleicht kanalisiert hätten. Alle Zeichen standen auf Annäherung, Öffnung und Liberalisierung. Gleichzeitig hat wohl kaum jemand, der den 9. und 10. November miterlebte, an das unverzügliche Ende der DDR geglaubt. Mir selbst dämmerte es erst viel später als anderen, nämlich in der zweiten Januarhälfte, dass die Entwicklung tatsächlich auf die Widervereinigung zulaufen könnte, deren Beschwörung ich schon seit Kindesbeinen als hohle Rhetorik zu empfinden gelernt hatte. Der irrige Glaube, dass die in der eigenen Sozialisation vorgefundenen Zustände und Verhältnisse mit Blick auf die Zukunft dauerhafter seien als in der Vergangenheit, pflanzt sich von einer zur anderen Generation fort, und die radikale Veränderlichkeit des Morgen gegenüber dem Heute lag mir als Kind der Wiederaufbauzeit nach 1945 eigentlich außerhalb des Denkhorizontes. Ich war, aus Kiel kommend, nach Studium und Zivildienst in Marburg und Bremen 1979 zum Studienreferendariat nach Berlin gezogen, und mein Vater hatte mich damals nachdenklich gefragt: »Junge, hast Du einmal auf der Karte nachgeschaut, wo West-Berlin liegt?« Hatte ich, fand die Sorge vor einem Untergang des westlichen Vorpostens in der östlichen Hemisphäre aber ganz abwegig. Ich hielt die Verhältnisse, wie ich sie kennengelernt hatte, für stabil. Wie instabil sie tatsächlich waren, konnte mein Vater

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mit der Erfahrungsgeschichte des 20. Jahrhunderts ganz anders beurteilen als ich. Wir alle benutzen die Matrizen der Erinnerung an die Vergangenheit. Er sah den großen russischen Bären, der alles verschlucken wird: Berlin-Ultimatum, Mauerbau – es gab ja Gründe. Ich dagegen war ein Kind des Entspannungszeitalters. Dass Deutschland geteilt war, empfand ich als unproblematisch. Nicht unproblematisch fand ich die fehlende Freiheit. Ich verspürte den tiefen Wunsch, dass das Tor zur Freiheit aufbricht und nicht, wie bei den Passierscheinabkommen der 1960er Jahre, bloß für einen kurzen Moment. Neben dem Begriff der »Wende« haben sich weitere Bezeichnungen, wie Zäsur, Umbruch oder Revolution, friedliche Revolution, etabliert. Welchen Begriff präferieren Sie? Meine Antwort hat drei Ebenen. Dass sich in der Alltagssprache das Wort »Wende« etabliert hat, hängt mit seiner Nüchternheit zusammen. Sein Alltagstun im Herbst und Winter 1989 mit dem Begriff der Revolution zu verknüpfen, etwa davon zu reden, wie man das Weihnachtsfest während der friedlichen Revolution verbracht habe, schleppt ein Pathos mit, vor dem man zurückscheut. Auf einer zweiten Ebene, als analytische Kategorie der zeithistorischen Betrachtung, scheint mir der Begriff der »friedlichen Revolution« hingegen ganz angemessen. Revolutionen definieren sich nicht nach ihrem Blutzoll oder der Kühnheit der Entwürfe, sondern nach der Kraft, mit der sie durchgesetzt werden. Eine Revolution zeichnet sich dadurch aus, dass sie Zustände schafft, deren Voraussetzungen sie nicht garantieren kann. Eine siegreiche Revolution schafft neues Recht, eine scheiternde Revolution zieht die Anklage wegen Hochverrats nach sich. Das unterscheidet revolutionäres Geschehen von evolutionärem. Revolutionen stellen Zäsuren dar, welche die Gültigkeit der bisherigen Ordnung der Dinge aufheben. Sie setzen neue normative Maßstäbe des Handelns und Denkens, die sich aus den alten Verhältnissen nicht ergeben konnten. Das führt auch in der Geschichtswissenschaft zu Konsequenzen, die nicht im Handlungshorizont des Einzelnen liegen. Wer bspw. als westlicher Historiker vor 1989 zur DDR publizierte, kam nicht umhin, seiner fachlicher Analyse die deutsche Teilung zugrunde zu legen; und die Zäsur von 1989 entwertete die Ergebnisse der DDR-Forschung schlagartig und ohne Rücksicht auf ihr gedankliches Niveau. Die dritte Ebene ist die metahistorische, und auf ihr geht es um die Orientierungsrahmen, die unser Reden bestimmen. Warum war die Unterscheidung zwischen Wende und Revolution über Jahrzehnte von tragender Bedeutung? Dass der abschwächende, unpathetische Begriff »Wende« als von Ein Gespräch mit Martin Sabrow

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Egon Krenz geprägt gilt, hat zu einer anhaltenden Auseinandersetzung um seine Legitimität geführt. Nun geht allerdings, was weniger bekannt ist, auch der Begriff »friedliche Revolution« maßgeblich auf Egon Krenz zurück, der ihn schon einen Monat nach dem Sturz Honeckers am 17. November 1989 auf einer Pressekonferenz gebrauchte: »Wir arbeiten für eine friedliche Revolution!« Ist es die Aufgabe des Historikers, sich für oder gegen eine öffentliche Auf- und Abwertung dieser beiden Zuschreibungsbegriffe einzusetzen? Ich meine: nein. Wir greifen sonst in semantische Kämpfe auf geschichtspolitischer Ebene ein, zu denen wir als Historiker einen metareflexiven Abstand wahren sollten. Fachlich weiterführend ist vielmehr die Frage, warum welcher Begriff gesellschaftliche Anerkennung findet – und wieder verliert. Termini wie »Wende« und »Revolution« sind Trophäen im geschichtspolitischen Kampf um Deutungshoheit; sie sagen darüber hinaus aber auch etwas über die unterschiedlichen Erzählmuster aus, mit denen erst die Zeitgenossen und dann die Nachlebenden die DDR zu erfassen und in ihr Weltbild zu integrieren suchen. Die Adelung des Regimekollaps vom Herbst 1989 als Revolution akzentuiert den aufopferungsvollen Kampf der Regimegegner und den hart errungenen, aber endgültigen Sieg der Freiheit. Und das Wort »Wende« verweist stärker auf die unerwarteten Umstände, unter denen sich der Untergang der SED-Herrschaft so überraschend und fernab jeder historischen Gesetzlichkeit als ein Geschehen vollzog, dessen Resultat eigentlich von keinem der beteiligten Milieus und Gruppen angestrebt wurde, weder von den SED-­Reformern noch von der Ausreisebewegung und auch nur sehr eingeschränkt von der Mehrzahl der oppositionellen Gruppen. Überwiegt Ihrer Ansicht nach das Neuartige und Überraschende, das in Begriffen wie Zäsur, Revolution, Wende zum Ausdruck kommt – oder doch die Kontinuität und das Langfristige, die über die Jahreszahl 1989 hinausgehen? Das Verhältnis von Zäsur und Kontinuität ist davon abhängig, was betrachtet wird. In politischer Hinsicht haben wir es 1989 zunächst mit einer tiefen Zäsur zu tun. Sie hat eine Diktatur hinweggeschwemmt, die allerdings in ihrer Spätphase zum Zwecke des Selbsterhaltes ausgerichtet war oder in Teilen der Herrschaftselite auch eigene Reformforderungen entwickelt hatte. Unter ihnen gab es Akteure, die zwar Reformbedarf sahen, aber nur zögerlich Veränderungen zu akzeptieren bereit waren, um die eigene Macht nicht zu gefährden; und es gab jüngere SED-Reformer im Parteiapparat, die insgeheim mit der Perspektive eines Dritten Wegs liebäugelten, was sie mit Teilen der Opposition verband. Aber das Wegschwemmen all dieser teils taktischen, teils utopischen Überlegungen durch eine Volksbewegung, welche die

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SED-Herrschaft insgesamt untergrub und zur Auflösung brachte, stellte eine

radikale politische und bald auch gesellschaftliche Zäsur dar. Dieser Prozess wiederum ordnet sich, zweitens, allerdings in ein säkulares Verblassen der Farbe Rot als politische Option ein, die das postkapitalistische Projekt insgesamt als glaubhafte Vision einer revolutionären Alternative zur bestehenden Gesellschaftsordnung aus dem politischen Diskurs verabschiedet hat. In der neuen Linken war die Unterscheidung zwischen »progressiv« und »reaktionär« eine Leitkategorie der politischen Verortung; heute ist sie substanzlos geworden – wir haben das Koordinatensystem aus dem Auge verloren, auf dem sich solche Bewegungsbegriffe abbilden lassen. Der Niedergang der postkapitalistischen Idee lässt sich bis zur Spaltung der Arbeiterbewegung im Ersten Weltkrieg zurückverfolgen und setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Ost-West-Antagonismus und der gewalt­samen Erstickung reformsozialistischer Bewegungen 1956 in Ungarn und Polen, 1968 in der Tschechoslowakei fort, um mit dem welthistorischen Umbruch von 1989/91 seinen vorläufigen Abschluss zu erreichen. Heute haben wir zwar unterschiedliche linke Klientelparteien, aber im europäischen Parteiensystem keine politische Gruppierung mehr, welche die revolutionäre Systemüberwindung zu ihrem eschatologischen Ziel erklärt. Drittens aber ist diese Zäsur von 1989/90 unterfüttert von einem ganz erstaunlichen Maß an Kontinuität, die sich erst zeigt, wenn wir unsere zeithistorische Fokussierung auf den Fluchtpunkt 1989 selbst einer kritischen Befragung unterziehen. Tatsächlich erleben wir gerade eine weitreichende Überholung und Veränderung unserer zeithistorischen Erzählmuster. Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte sich noch blockübergreifend die Suche nach Normalität und Normalisierung des Denkens der Zeitgenossen ein. Der Schock des verlorenen und in Barbarei geendeten Weltkrieges und seine Überwindung durch wiedererlangte Normalität galten als das herausragende Motiv der Nachkriegszeit, das Konrad Adenauer wie kein Zweiter verkörperte. Es wurde zwanzig Jahre später abgelöst durch die neue Erzählung von Fortschritt, Moderne und Zukunft, die das sozialdemokratische Jahrzehnt prägte, und es wurde begleitet von der Hoffnung Europa, die supranationale Verschwisterung als Versicherung gegen den unseligen Rückfall in nationalstaatliche Handlungsweisen verstand. Seit den 1980er Jahren schließlich ist der Holocaust insbesondere in Deutschland, aber auch in Europa und in den USA zur beherrschenden Orientierungsgröße des historischen Bewusstseins und politischen Handelns geworden und hat die Frage in das Zentrum gerückt, wie das hatte geschehen können, das in den Worten Hannah Arendts niemals hätte geschehen Ein Gespräch mit Martin Sabrow

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dürfen – und was wir tun können, um zu verhindern, dass es sich wiederholt. Auch dieses Erzählmuster hat sich in gewisser Weise abgenutzt. Es hat sich ritualisiert. Die Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Zivilisationsbruch hat an aufrüttelnder, aufklärerischer Kraft in unserer Zeit eingebüßt, ohne im Allgemeinen in ihrer inhaltlichen Substanz offen angegriffen zu werden. An Überzeugungskraft eingebüßt hat schließlich auch das Erzählmuster »1989«, also die Vorstellung, dass die Geschichte auf das Datum 1989/90 – bzw., wenn man die Sowjetunion einbezieht, 1989 bis 1991 – und den schließlich errungenen Sieg der Freiheit über die Unfreiheit hinausläuft. Wir lesen »1989« nicht mehr allein als eigentlichen Fluchtpunkt des 20. Jahrhunderts, das nach dem Durchgang durch Diktaturen und Katastrophen an sein glückliches Ende gekommen ist. Wir lesen »1989« heute auch als Beginn neuer Problemlagen, als bloßes Durchgangsstadium, als Zäsur im Kontext von Kontinuitäten. Hinter all dem zeichnet sich ein neues Erzählmuster ab, das sich seit 2015 und 2016 immer stärker herauskristallisiert und auf die Empfindung einer tiefgreifenden Ungewissheit, den Zweifel an der historischen Lektion, das Bild der fragilen Demokratie abhebt. Wir schauen sehr viel genauer als früher auf die Kontinuitäten, die von der Freude über die überwundene Diktatur lediglich überdeckt wurden. Am Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) bspw. werden autoritäre Einstellungskontinuitäten vom Kaiserreich über Weimar und die NS-Zeit bis in die DDR und die Nachwendezeit untersucht. Der besondere Wahlerfolg der AfD in den fünf »neuen« Bundesländern, die ausgetrockneten Milieus einer engagierten Bürgergesellschaft, der fehlende fundamental-liberale Umbruch, den sich der Westen rückblickend so gerne attestiert: All das spielt für uns heute eine immer weiter gewachsene Rolle im Bemühen, ostdeutsche Besonderheiten und Pfadabhängigkeiten zu erfassen. Insoweit würde ich die hinter der tiefen Zäsur von 1989/90 verborgenen Kontinuitätslinien stark gewichten. Also wächst auch künftig absehbar nicht zusammen, was nach Willy Brandt schon 1989 zusammengehörte? Hinter der politischen Zäsur von 1989 verbergen sich sozialgeschichtliche Umbrüche, die Ost- wie Westdeutschland betreffen: die Digitalisierung, die zunehmende Prekarisierung, die Privatisierung von öffentlichen Arbeitgebern wie Post oder Bahn. Auch dort, wo scheinbar Kontinuität herrschte, fanden in längerer Perspektive Umbrüche statt. Hier zeigt sich abermals: Es gibt sowohl Zäsurelemente als auch Kontinuitätsaspekte, die 1989/90 bestimmen. Welche wir stärker gewichten, ist eine Frage der Perspektive.

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Zuletzt ist eine Diskussion entbrannt, in welcher Defizite in der Aufklärungsarbeit über die DDR kritisiert werden. Brauchen wir diesbezüglich eine neue Art der Aufklärung? Die Indizien mehren sich, dass die schockpädagogische Aufklärung über die DDR und die politische Delegitimierung der SED-Herrschaft an ihr Ende gekommen ist und in ritualisierter Routine erstarrt. Das aus ihr gewonnene Bild der DDR hat sich dank beharrlicher und engagierter Aufarbeitung als Erzählung durchgesetzt. Niemand würde mehr bestreiten, dass es sich bei der SED -Herrschaft um eine Diktatur handelte. Aber es ist ein Trugschluss, dass die erzieherische Aufklärung über die vergangene Diktatur

Ein Gespräch mit Martin Sabrow

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unter Verletzung des Beutelsbacher Konsenses die Parteinahme für die Demokratie sichert. Nur dort, wo unterschiedliche Wege der Vergangenheitsverarbeitung und -aneignung miteinander in Austausch treten, kann mit Adorno das Vergangene »im Ernst verarbeitet« und sein Bann durch »helles Bewusstsein« gebrochen werden. Deshalb halte ich etwa die Idee, das Gelände der alten Stasi-­Zentrale in der Normannenstraße fortan als »Campus für Demokratie« umzuwidmen, wie sie Roland Jahn verfolgt, für nicht zielführend. Dreißig Jahre nach dem Untergang der kommunistischen Herrschaft in Europa ist es an der Zeit, die historisch-politische Aufarbeitung der DDR in die historisch-kritische Auseinandersetzung mit ihr zu überführen. Aufgabe auch der Gedenkstättenarbeit ist es doch, Anschauung mit Reflexionsfreiheit zu verbinden. Auch der Besuch von Schreckensorten wie der Gedenkstätte Hohenschönhausen sollte erlauben, individuelle Wege der Aneignung zu gehen, und bestenfalls sogar Räume der Metareflexion eröffnen: »Was will ich eigentlich erfahren, wenn ich eine Dunkelzelle oder einen Verhörraum betrete? Mit welchen Gedanken komme ich dorthin? Und wie zwingend sind diese Vorstellungen?« Ich wäre nicht besorgt darum, dass auf diese Weise die Repression verniedlicht, die Opfer verhöhnt werden, die Diktatur verharmlost würde, wie solche Überlegungen noch vor wenigen Jahren echoartig zurückgewiesen wurden. Im Gegenteil gilt doch, dass die historische Dauerhaftigkeit diktatorisch verwalteter und beherrschter Gesellschaften in ihrer Gefährlichkeit und in ihrer Komplexität überhaupt erst verständlich wird, wenn neben der nackten Überwachung und dem Terror die vielen anderen Bindungskräfte undemokratischer Herrschaft ebenso sichtbar werden wie die vielen Formen ihres Erleidens zwischen gebrochenem Widerstand, eigensinniger Unterlaufung und innerer Selbstaufgabe. Ulrike Poppe, einst Untersuchungshäftling in Hohenschönhausen, erzählte mir einmal von zwei Wärtertypen, die sie dort angetroffen habe: Der eine, jüngere, gab sich kalt, glatt und gleichgültig, aber nicht gewalttätig. Der andere, ältere, trat ihr aufbrausend gegenüber, lief gefährlich rot im Gesicht an. Aber vor ihm, dem brutalen Gesinnungsvertreter, hatte Ulrike Poppe weniger Angst; er verkörperte für sie jenen Rest an Menschlichkeit, der noch überzeugen und auf den rechten Weg zurückführen wollte, von dem der bloße Karrierist nichts mehr wusste. Für solche Ambiguitäten müssen Gedenkstätten offen sein. Sonst sind sie keine Orte des lernenden Fragens, sondern nur noch Orte des rituellen Vergewisserns. Bertolt Brechts »Die Maßnahme« buchstabiert die furchtbare Anziehungskraft der chiliastischen Befreiungsidee bis in das äußerste Extrem der

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entschlossenen Selbstauslöschung aus: Der an seiner gestellten Aufgabe scheiternde Kommunist bittet seine Genossen, ihn zu erschießen. Und sie tun es. Sie tun es nicht gern, aber sie tun es um der Sache willen. Diese Kraft einer Überzeugung, die so sehr gegen die eigene Menschlichkeit gerichtet sein kann, finde ich in unserem Verständnis kommunistischer Herrschaft sträflich unterschätzt. Um sie in ihrer unheilvollen Kraft zu begreifen, hilft der Blick auf die groben Instrumente – Gefängniszellen, Folter, Einschüchterung – alleine nicht weiter. Aus meiner Sicht sind die einschüchternden Gefängnismauern in Hohenschönhausen zu historischen Erkenntnisgrenzen geworden. Wir müssen andere Möglichkeiten nutzen, um die Geschichte des vergangenen Katastrophenjahrhunderts angemessen zu erfassen. Aufklärung über die DDR wünsche ich mir pluraler, offener, stärker auf Historisierung bedacht, auch internationaler argumentierend. Auch sähe ich als Historiker den historischen Wandel gerne stärker sichtbar gemacht. Warum hat die Kultur der Repression eigentlich 1989 nicht gewirkt, warum sind die markigen Worte der Machtsicherung mit der Waffe in der Hand in dem Moment verstummt, als es darauf ankam; warum fiel der Machtapparat des MfS nach Mielkes stammelnder Rede in der Volkskammer (»Ich liebe Euch doch alle«) so sang- und klanglos auseinander? Kommen wir noch einmal zum Wendejahr zurück: Wenn Geschichte immer auch vom Blickwinkel abhängt, kann es dann überhaupt eine gesamtdeutsche Aneignung von 1989 geben? Die öffentliche Diktaturerinnerung hat gesamtdeutsche Reichweite. Sie wird auch im »alten Westen« nicht nur geteilt, sondern sogar befördert. Geschichtsdidaktiker haben immer wieder darauf insistiert, dass die Auseinandersetzung mit der DDR angemessen in den Lehrplänen verankert sein müsse – und das ist sie auch, wiewohl die knappe Zahl der Unterrichtsstunden immer wieder zu curricularen Verteilungskämpfen führt, in denen der Geschichtsunterricht das Nachsehen hat. Im Schulbuch dominiert die Diktaturerinnerung. Kontrastierende Erzählmuster etwa, die das Ende des sozialistischen Experiments als feindliche Übernahme des Ostens durch den Westen begreifen und mit dem Begriff des »Anschlusses« – also nach österreichischem Beispiel als Kolonialisierung mit partieller Zustimmung der Kolonialisierten – belegen, spielt nur noch im Osten eine erkennbare und auch dort abnehmende Rolle. Als Denkmuster ist es fast nur innerhalb derjenigen Alterskohorten verbreitet, die den zweiten deutschen Staat nach 1945 und bis 1989 als antifaschistisches und sozialistisches Gegenmodell zur Bonner Republik gestützt hatten. Ein Gespräch mit Martin Sabrow

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Die Alltagssprache in Ost und West nutzt grenzüberschreitend bevorzugt nicht den Revolutions-, sondern den Wendebegriff. Dennoch ist die Erfahrung einer fundamentalen Wende eine zutiefst ostdeutsche Angelegenheit, die in der alten Bundesrepublik keine Entsprechung hat: Die »Wende« bedeutete in der ostdeutschen Lebenswelt Befreiung und Verstörung zugleich. In sie geht die Erfahrung des aufrechten Gangs ebenso ein wie der Zerfall der gewohnten Ordnung und die als narzisstische Kränkung erlebte Erfahrung der älteren Generation, die Familie nicht mehr zusammenzuhalten und nicht mehr in die neue Zeit zu passen, mit der Arbeit auch die Autorität in der Familie zu verlieren. Mit dem Begriff »Wende« verbindet sich die Erinnerung an einen Umbruch, der praktisch über Nacht nahezu alle bisherigen Lebenserfahrungen und Gewissheiten auf den Kopf stellte – und er verlangte den Deutschen im Osten eine Leistung ab, die von den Deutschen im Westen bis heute unterschätzt, ja vielfach in ihrer Tragweite kaum wahrgenommen worden ist. Neben dem Mix von Gewinn und Verlust – wie wenige Berufsgruppen konnten ihre Arbeitsplätze in der Zeit nach der deutschen Vereinigung retten! – enthält der Terminus »Wende« nicht zuletzt auch die Erfahrung des kühlen Abbruchs von begeistertem Aufbruch. Die vielen kleinen Start-up-Unternehmen, die sich in den N ­ ischen der abgewickelten Kombinate mit großer Hoffnung und kleinem Start­ kapital einnisteten, waren infolge der wegbrechenden Märkte im Zuge der Währungsumstellung meistens schnell am Ende. Dieser erstickte und enttäuschte Aufbruch, der Absturz der historischen Macher, welche die Bewegungsgesetze der Geschichte kannten, zu den aus- und abgeschiedenen Opfern einer historischen Entwicklung – das ist eine Wendeerfahrung, die man nicht als gemeinsame Ost-West-Erfahrung bezeichnen kann. Jenseits des gesamtdeutschen Zäsurbewusstseins ist also auf alltagsgeschichtlicher Ebene die Differenzerfahrung zwischen Ost und West sehr viel stärker zu gewichten, als dies in der öffentlichen Erinnerung an den Aufbruch in die Freiheit sichtbar wird. Die enttäuschte Aufbruchshoffnung wird vielfach auch zur Erklärung der besonderen Stärke rechter Gruppierungen und Einstellungen in den neuen Bundesländern herangezogen. Teilen Sie diese Sichtweise – oder dominieren aus Ihrer Sicht Kulturaspekte, die ihren Ursprung vor 1989 haben? Nach den vorliegenden soziologischen Befunden kann wohl davon ausgegangen werden, dass es in Deutschland einen Bodensatz von latentem Rechtsextremismus in Ost wie West gibt, der über die Jahrzehnte einigermaßen stabil geblieben ist, ohne immer in gleicher Stärke in Erscheinung zu

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treten; und nach der Zeitenwende von 1989/90 in Hoyerswerda, aber auch in Mölln und Solingen offenbarte. Rechtsextremismus gewann und gewinnt in Umbruchs- und Krisenzeiten in beiden Teilen Deutschlands Raum und schreibt sich damit in eine unheilvolle europäische Tradition ein – es handelt sich ja nicht um ein ausschließlich deutsches Phänomen. In Deutschland aber hat sich aufgrund der verhängnisvollen Entwicklung der Zwischenkriegszeit eine besondere Sensibilität herausgebildet, die uns die machtvolle Rückkehr des Rechtspopulismus auf die politische Bühne besorgter und erschrockener registrieren lässt als in anderen europäischen Ländern. Vor diesem Hintergrund lassen sich gleichwohl überzeugende Erklärungen identifizieren, warum die extreme Rechte heute in Ostdeutschland einen vergleichsweise besseren Nährboden gefunden hat. Sie beziehen sich zum Beispiel auf das größere Maß an Entwurzelung, das sich, gerade auf dem flachen Land, im Gefühl des Abgehängtseins ausdrückt. Es gibt »PEGIDA«-­Demonstranten, die nach Dresden fahren, weil es ein Happening ist und weil sie im Wutbürgertum eine Vergemeinschaftung finden, die sie in ihren Wohnorten vermissen. Die Vereinzelung, in die man aus einem sehr kollektivistisch organisierten Gemeinwesen gefallen ist, befördert in Verbindung mit der Etablierung der unbeschränkt zugänglichen sozialen Medien einen um Aufmerksamkeit buhlenden Verbalradikalismus, der sich u. a. in wüsten Beschimpfungen und medialen Attacken auf Politiker und überhaupt auf jedes Engagement für ein liberales und tolerantes Miteinander äußert, die Bestandteil der politischen Kultur bzw. Unkultur in unserer Zeit geworden sind. Ein anderer Erklärungsansatz operiert mit der aus der DDR in die erweiterte Bundesrepublik getragenen Distanz zum Staat und den von ihm verordneten Werten. Eine, fallweise zwei Generationen lang war der Staat für Bürger, die in der Zwischenkriegszeit und besonders in der DDR sozialisiert worden waren, nicht tua res, nicht die eigene Sache, sondern eine Instanz der Zumutungen. Sich ihr gefahrlos entgegenstellen konnte man sich erst seit November 1989 und übt es seither mit grimmiger Befriedigung ein. Zu den ostdeutschen Wahlerfolgen der AfD trägt der tradierte Habitus nicht wenig bei, es »denen da oben« ordentlich zu zeigen und den neuerdings propagierten Werten heute nicht weniger aufsässig zu misstrauen als früher. Dies gilt namentlich für die Xenophobie. Sich ausländerfeindlich zu verhalten, konnte in der DDR eine Form von Herrschaftskritik bedeuten. Die Vertragsarbeiter aus Mosambik, Angola, Vietnam und anderen Ländern waren im staatlichen bzw. im Parteiauftrag gekommen und wurden von der Partei entsprechend behütet. Sie zu verachten und herabzuwürdigen, war eine gefahrlose Ein Gespräch mit Martin Sabrow

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Möglichkeit, zugleich auch der Macht die Ablehnung zu zeigen. Diese Form von Herrschaftskritik und Menschenverachtung ist eine absurde Verbindung; aber sie kann helfen, die Übernahme »Wir sind das Volk« durch den Rechtsextremismus zu erklären. Vielleicht laufen gar nicht so wenige von denen, die sich 1989 mutig gegen die staatliche Macht und ihre Durchsage »Hier spricht die Volkspolizei« stellten, heute bei »PEGIDA« mit, weil sie immer noch dieselbe Anti-Herrschafts-Haltung leitet. Mit Blick auf 1989 und die Erfahrung von Bindungsverlusten, bezüglich des Wegbrechens von schützenden Strukturen, von Diskontinuitäten und lebensweltlichen Umwälzungen hat Wolfgang Engler die Ostdeutschen als »Avantgarde« beschrieben. Halten Sie diese Charakterisierung für plausibel? Zutreffend ist aus meiner Sicht, dass Ostdeutsche der mittleren Generation mehr Erfahrungen mit Umbrüchen und Umbruchschancen gemacht haben als Westdeutsche. Und ich würde nicht bestreiten, dass diese Fähigkeit, alte Gewissheiten infrage zu stellen, sowie die Bereitschaft, sich umzustellen – durch Wohnort- oder Perspektivwechsel über die eigenen Lebensziele –, auch ein enormes lebensgeschichtliches Kapital sein kann. Auf einer praktischen Ebene halte ich das Avantgarde-Argument allerdings für verfehlt. Wir haben im Bereich des Wissenschaftssystems viel mit prekären Beschäftigungsverhältnissen zu tun. Kaum jemandem fällt das Leben in unsicherer Arbeitsperspektive leicht, und die fortbestehenden Unterschiede zwischen ost- und westdeutsch Sozialisierten treten in Anbetracht der von Diskontinuität und Unsicherheit geprägten Beschäftigungsverhältnisse im digitalen Zeitalter vor den gemeinsamen Herausforderungen zurück, gegen welche die eine Herkunft nicht besser wappnet als die andere. Überhaupt sehe ich beim Avantgarde-Begriff eine starke Assoziation mit dem Selbstverständnis kommunistischer Herrschaft: das Handeln im Auftrag einer Gesellschaft, einer Masse, einer Klasse, die ihrer selbst noch nicht bewusst ist. Dieses Mandat ist selbst erteilt; es verbindet sich in der siebzigjährigen Geschichte des Kommunismus an der Macht mit einem politischen Erziehungsauftrag und legitimiert sich durch das behauptete Wissen um die Wahrheit und um die historische Gesetzlichkeit. Das sind die üblichen Kriterien der Avantgarde-Herrschaft; diesen Begriff würde ich nicht verwenden, um das individuelle Vermögen der Anpassung an eine unsichere Zukunft zu charakterisieren. Wie viele andere Historiker haben auch Sie in Bezug auf den friedlichen Verlauf der Wende von einem »Wunder« gesprochen. Warum hat der hochgerüstete

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SED-Staat im Herbst 1989 darauf verzichtet, zur Gewalt zu greifen, wie es noch

einige Monate zuvor die Chinesen getan hatten? Konnte die SED-Führung nicht anders, weil sie nicht mehr auf den Beistand der Sowjetunion zählen konnte, oder war es lediglich eine Reihe von Zufällen, die dazu führten, dass am Ende kein einziger Schuss fiel? Ein Grund ist sicher der Schutzschirm der evangelischen Kirche in der DDR. In Ost- wie Westdeutschland hat die Kirche sich nach 1945 dazu ent-

schlossen, pazifistische Positionen als gottesnäher auszugeben. Die Verwandlung von Schwertern zu Pflugscharen konnte unter kirchlichem Dach besser gedeihen und hatte dort auch ein gewisses Artikulationsprivileg. Ein zweiter Grund ist, dass in der SED-Spitze Fraktionskämpfe tobten zwischen denen, die sich schlicht an der Macht halten wollten, und den jüngeren SED-­Reformern um Egon Krenz, welche die alte Führung ablösen wollten. Hätten sie sich die Hände so blutig gemacht wie die chinesische Führung, dann wäre diese Idee vom Tisch gewesen. Ein dritter Grund liegt in der drückenden Aussichtslosigkeit der eigenen Herrschaft: Man ruft nicht nach Maschinengewehren, wenn man keinen Plan für die Zukunft hat, an den man selbst glaubt – und an den die glauben, die man zu den Waffen ruft. Das unterscheidet den 17. ­Oktober 1989 vom 17. Juni 1953. Honecker sprach am 9. und auch am 16. Oktober durchaus davon, zur Einschüchterung der aufbegehrenden Massen Panzer durch Leipzig rollen zu lassen – nicht um sie einzusetzen, aber um sie vorzuzeigen. Am 17. Oktober, also in der Dienstagssitzung des Politbüro, auf der Willi Stoph Honeckers Absetzung auf die Tagesordnung brachte, war es Mielke, der die innere Entkräftung der Macht auf den Punkt brachte: »Wir können doch nicht anfangen, mit Panzern zu schießen. Erich, Schluss: Ich akzeptiere das.« Das sagte derselbe Mielke, der 1931 auf dem Berliner Bülowplatz einen Polizistenmord beging und 1953 nichts dabei fand, im Windschatten der sowjetischen Panzer auf die eigene Bevölkerung schießen zu lassen. Doch im Oktober 1989 fehlte selbst ihm die Perspektive; und ohne Glauben an den Zweck der bewaffneten Machtsicherung ist der Erste, der die Waffe niederlegt, am besten dran, wie in der alten Garde auch jemand wie Innenminister Friedrich Dickel lernen musste, der vier Wochen zuvor noch »am liebsten hingehen und dieses Halunken zusammenschlagen« wollte, »dass ihnen keine Jacke mehr passt«. Dass den altersschwachen Machthabern am Ende das Zepter der Macht aus der Hand mehr fiel als gerissen wurde, erklärt sich weniger aus der Stärke ihrer politischen Gegner als aus dem Zukunftsverlust eines sozialistischen Gesellschaftsversuchs, der auf die Frage der Globalisierung und den von Polen, Ungarn und der Sowjetunion ausgehenden Umbruch nur mehr mit Einschüchterung und Selbstisolierung zu antworten wusste. Ein Gespräch mit Martin Sabrow

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Darüber hinaus gibt es noch einen allerdings kontrovers diskutierten vierten Grund: Wir leben in einem Zeitalter, das der Gewalt wenig diskursive Macht zubilligt. Der Aufstieg der Menschenrechte, die politische Beteuerung, dass zehnmal zu verhandeln besser sei, als einmal zu schießen, wird gern mit dem Begriff der Entgewaltung beschrieben. In der realen Gewalthaftigkeit des gesellschaftlichen Zusammenlebens bildet sich dieser Trend kaum ab; aber als Lösungsansatz im politischen Kampf hat die Gewalt an Legitimation und Resonanz verloren. Auch das verstärkte im Herbst die Zögerlichkeit, den Gewalthebel zu betätigen, und führte dazu, dass in der entscheidenden Stunde auch die uneinsichtigsten Repräsentanten des SED-Regimes zu »Helden der Entmachtung« wurden, um eine zeitgenössische Formulierung von Hans ­Magnus Enzensberger aufzunehmen, die freilich mehr auf Jaruzelski und Gorbatschow zielte als auf die »Epigonen des Rückzugs« in der DDR. Doch auch deren Handeln folgte dem Trend zur Entgewaltung, wenn unmittelbar vor dem entscheidenden Kräftemessen auf der Leipziger Montagsdemonstration vom 9. November Befehl erging, die zur Niederschlagung innerer Unruhen gebildeten Einsatzkräfte der NVA nur noch ohne Bewaffnung einzusetzen, damit es in der aufgeheizten Situation nicht unbeabsichtigt zu Schusswechseln mit unabsehbaren Folgen kommen könnte. All das zusammen erklärt für mich die ganz unerwartbare Gewaltlosigkeit des Umbruchs von 1989. Zugleich aber bleibt auch im analytischen Rückblick ein nicht zu unterschätzendes Moment an Kontingenz. Wäre die Konfrontation in Plauen, Dresden, Leipzig oder anderswo stärker aus dem Ruder gelaufen, wäre irgendwo das friedliche Wendebegehren in revolutionäre Gewalt umgeschlagen, hätte sich daraus eine repressive Handlungslogik der gewaltsamen Protesterstickung, der massenhaften Internierung und der sowjetischen Machtdemonstration – etwa mit einer Militärübung an der deutsch-deutschen Grenze – entwickeln können, die wie 1953 auch die reformorientierten Kräfte im Politbüro nicht aufgehalten hätten. Das Illusionäre einer Opposition, welche die DDR nicht abschaffen, sondern verbessern wollte, war zugleich die entscheidende Voraussetzung für die Friedlichkeit des Umbruchs. Die ursprüngliche Perspektive der Opposition auf eine verbesserte DDR, auf einen Dritten Weg zwischen dem bis dahin real existierenden Sozialismus und dem Kapitalismus hat sich relativ schnell erübrigt. Steht insofern 1989 nicht nur für demokratischen Aufbruch, sondern auch für das endgültige Ende der Hoffnungen auf einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz? Das Jahr 1989 ist eine Stufe auf der Abschiedstreppe der sozialistischen Erlösungsutopie. Das 20. Jahrhundert stellt sich im Rückblick als Konkurrenz

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dreier Ordnungsentwürfe dar: des liberalen marktwirtschaftlichen Rechtsstaats, des Faschismus mit seiner nationalsozialistischen Steigerungsform und des Kommunismus in seinen verschiedenen Spielarten. Das faschistische Gesellschaftsmodell ist 1945 in einer Menschheitskatastrophe untergegangen, wiewohl es im europäischen Raum mit Franco in Spanien, mit Salazar und Caetano in Portugal und mit Papadopoulos in Griechenland noch nachwirkte. Der kommunistische Gegenentwurf hat die weltgeschichtliche Bühne erst nach sehr viel längerer Verweildauer und unter ganz anderen Umständen, aber vielleicht nicht weniger endgültig verlassen. Es scheint, als sei das im 19. Jahrhundert aufgekommene Denken in Systemalternativen im 21. Jahrhundert an sein Ende gekommen. Die Marx’sche Theorie, der Glaube, dass die bürgerliche Gesellschaft ein Durchgangsstadium sei, halte ich für eine historisch erledigte Sichtweise. Die bleibende und überzeitliche Vision eines besseren Lebens hat sich in unserer Zeit, wenngleich keineswegs einheitlich, von den Vergemeinschaftungen der Klasse, der Rasse und des Volks mehr hin zum Einzelnen und seinem Schutz verlagert. Mit dem Verblassen der einstigen Systemalternativen hat auch die tradierte Links-rechts-Unterscheidung an Kraft verloren – erhalten bleibt sie in der Gegenwart mehr als Haltung denn als Handlung, und die Protestbewegungen unserer Jahrzehnte lassen sich immer unbefriedigender in ein klassisches Links-rechts-Muster einfügen, wie sich am Beispiel der gilets jaunes in Frankreich ebenso zeigen lässt wie an der »Brexit«-Bewegung in Großbritannien – beide sind nach links wie rechts anschlussfähig, und die gegenwärtige italienische Regierung hat die Aufhebung des Gegensatzes von Links- und Rechtspopulismus sogar institutionalisiert. Immer wieder flammte auch die Idee eines Dritten Weges zum Sozialismus auf; aber immer wieder zerstob diese Hoffnung so rasch wieder, wie sie aufkam – nach dem Ersten Weltkrieg mit der USPD, 1956 und 1968 unter der Macht des sowjetischen Realsozialismus und nach 1989 selbst in der Erinnerung ihrer Protagonisten, die sich heute kaum noch entsinnen können, dass sie im revolutionären Herbst 1989 nicht den Weg nach Bonn suchten, sondern für einen »verbesserlichen Sozialismus« eintraten. Dabei war auch diese Hoffnung 1989 im Grunde nur noch ein nachholendes Aufflackern, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Die Opposition hielt mehrheitlich noch für einige Wochen und Monate an einer Idee fest, die nur in der Abgeschlossenheit der sozialistischen Ostblock-Hemisphäre hatte überleben können, während der Niedergang der westeuropäischen Linken schon in den 1970er Jahren begonnen hatte und in den 1980er Jahren zu einem zumindest vorläufigen Abschluss kam. Ungeachtet der fortbestehenden Frage, ob der demokratische Kapitalismus mit seiner inhärenten Steigerungsstruktur Ein Gespräch mit Martin Sabrow

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das historisch letzte Wort auf die fortbestehenden Probleme des gesellschaftlichen Zusammenlebens gewesen sein kann – wer spricht heute noch vom systemüberwindenden Marsch durch die Institutionen oder der politischen Alternative? Eine grundsätzlich neue Ordnung der Gesellschaft zu schaffen, ist heute kein ernsthafter politischer Anspruch mehr. Wenn zwei der drei konkurrierenden Systementwürfe, nämlich der Faschismus und der Kommunismus, praktisch untergegangen sind, gibt es dann heute nur noch die Alternative zwischen liberaler und illiberaler Demokratie? Ist die Abwehr antidemokratischer Kräfte, der sich etwa die Staatsschutzorgane verschrieben haben, damit ein Unterfangen, das sich eigentlich längst überlebt hat? Tatsächlich rüttelt an der Demokratie als alternativloser Staatsform keine politische Kraft, und selbst der Rechtspopulismus fordert die bestehenden Verhältnisse nicht wie in der Zwischenkriegszeit durch einen autoritären Messiasglauben heraus, sondern durch seinen ultrapartizipativen Gestus. Die Trennlinie der politischen Gegenwartskulturen verläuft zwischen liberaler und illiberaler Demokratie; auch Staaten wie Ungarn, Polen, Russland oder die Türkei, deren autoritäre Herrschaft diktatorische Züge trägt, überschreiten bislang jedenfalls nicht den Rubikon, die demokratischen Institutionen grundsätzlich abzuschaffen. Auch im europäischen Parlament formieren sich nicht etwa diktatorische gegen demokratische Parteien zu politischen Lagern – vielmehr halten sie sich allesamt für Demokraten. Die Gefährdung der Demokratie und des Gemeinwesens besteht nicht mehr in der systemischen Ablehnung, sondern in der punktuellen Untergrabung. Sie besteht im islamischen Terror gegen Frauen, die kein Kopftuch tragen; sie besteht in rechten Kameradschaften, die alltäglich Rechtsstaatlichkeit und Werteordnung herausfordern; sie besteht in der gezielten und dann als Missverständnis wieder relativierten Verletzung der geltenden Regeln politischer und historischer Verständigung. Wenn die Diagnose gilt, dass der Rechtsradikalismus heute nichts anderes könne, als Nadelstiche zu setzen, weil er über gar kein eigenes Nähgarn verfüge, dann suchen wir zu Unrecht immer wieder nach den heimlichen und unheim­lichen Parallelen zur antidemokratischen Herausforderung in den Weimarer Jahren und dann besteht der beste Weg des Umgangs mit dem Rechtspopulismus in der Wahrung überlegener Gelassenheit. Der Fall der Berliner Mauer jährt sich dieses Jahr zum dreißigsten Mal. Erwarten Sie durch weitere Aktenzugänge noch Erkenntnisse, die eine Neubewertung von 1989 mit sich bringen?

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Die DDR-Hinterlassenschaften sind nach dem Untergang des SED-Regimes überwiegend unmittelbar zugänglich gemacht worden. Der ostdeutsche Staat ging im hellen Abendlicht unter; nur zwei Monate später hatten die Historiker das Wort. Doch es gibt Ausnahmen: Für die Akten des Außenministeriums, die dem politischen Archiv des Auswärtigen Amtes zugeschlagen wurden, gilt die Dreißig-Jahre-Frist. Auch hier ist jedoch kein grundstürzend neuer Erkenntnisgewinn mehr zu erwarten. Denn auch das Außenministerium der DDR operierte ja nicht autonom. Alle grundsätzlichen Handlungsstränge

liefen im Hirn der Partei zusammen und sind im Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO) archiviert – und das ist öffentlich zugänglich. Deren zukünftige Zusammenführung mit den Akten, die sich in der Obhut der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) befinden, wird auch die langjährigen Zugangsunterschiede beseitigen, die sich bislang aus den Unterschieden des Stasi-Unterlagen- und des Bundesarchivgesetzes ergeben haben, und mit der Freigabe der bisher für externe Forscher unzugänglichen Findhilfsmittel der BStU sicherlich noch manchen interessanten Fund zutage fördern. Insgesamt aber gilt: Mit den Sensations- und Sonderfunden ist es meiner Einschätzung nach vorbei. Es sind die klugen Fragestellungen, auf die es in der Zeitgeschichtsschreibung auch für die DDR in Zukunft ankommt, und nicht so sehr die erfolgreiche Suche nach sensationellen Dokumenten. Was ist in Ihren Augen in den nächsten Jahren mit Blick auf die DDR-Forschung gefordert? Wo sehen Sie noch Desiderate oder Lücken, die durch neue Fragestellungen stärker ins Blickfeld geraten müssten? Die wichtigste Forderung sehe ich nach wie vor im Bemühen, gegen jede Verinselung der DDR-Forschung vorzugehen. Die DDR ist in erster Linie Teil eines Weltentwurfs, der in seinen deutsch-deutschen wie auch internationalen Bezügen gesehen werden muss und bei dem der Anschluss an die internationale Kommunismusforschung gewahrt werden muss. Zweitens scheint es mir zunehmend wichtig, die Erzählmuster, die Narrative, die Blickwinkel auf die DDR selbst stärker in den Blick zu nehmen und in ihrer zeitgeschichtlichen Bedingtheit zu analysieren. Wir brauchen eine energische Historisierung der Aufarbeitung. Unter welchen sinnweltlichen Bedingungen entwickelte sich der politische und historische Umgang mit der untergegangenen DDR? Stand er überstark unter dem Eindruck einer seinerzeit verfehlten NS-Bewältigung? Wie hat sich der Blickwechsel vollzogen, der »1989« nicht mehr als weltgeschichtliche Epochenzäsur und freiheitlichen Ausgang aus der Konfliktgeschichte des 20. Jahrhunderts begreift, sondern Ein Gespräch mit Martin Sabrow

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als Durchgangsstation oder sogar Gründungsdatum einer neuen Problemgeschichte der Gegenwart? Und zuletzt scheinen mir über den Bewusstseinshorizont der zeitgenössischen Akteure und Beobachter hinaus die Orientierungskategorien und -muster aufschlussreich, die ihr Handeln unwissentlich und unwillentlich bestimmten. In welchen zeitlichen Koordinatensystemen war man eigentlich im kurzen 20. Jahrhundert zwischen 1914 und 1989 unterwegs, und wie verschoben sich diese Koordinaten? Mit seinen Überlegungen zu den régimes d’historicité, also den Zeitverhältnissen, den temporalities, hat François Hartog eine Anregung gegeben, deren Weiterverfolgung lohnt. Welche vergangenen Zukünfte birgt die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts und welchen Wandel im Umgang mit der Vergangenheit? Wie sehr und wie lange bestimmte die Vision einer besseren Zukunft das politische Handeln der Zeitgenossen, und wie gingen sie mit dem Verlust von Zukunft etwa nach den verlorenen Kriegen oder durch die Vertreibung aus der Heimat um? Nach dem Ende der Systemkonkurrenz, die – wie der Nationalsozialismus – die bruchlose Versöhnung von Vergangenheit und Zukunft propagierte oder – wie der Sozialismus – die Hoffnung auf ein besseres Morgen zum Legitimationsfundament machte, konzipieren wir heute Zukunft vor allem als erfolgreich fortgeschriebene Gegenwart. Wir ziehen gegenwärtige Linien weiter und hoffen, dass in 15 Jahren der Krebs besiegt, der Klimawandel gestoppt ist und der Individualverkehr aus erneuerbarer Energie gespeist wird. Aber wir würden Zukunft nicht mehr als Entschädigung für das Elend der Gegenwart begreifen und unseren Kindern und Enkeln nicht die Hoffnung mitgeben, besser auszufechten, woran wir gescheitert sind. Mit der Verkümmerung des Zukunftshorizonts, die einen nicht unbeträchtlichen Teil zur Delegitimierung des SED-Regimes beigetragen hat, korreliert eine eindrucksvolle und noch immer anhaltende Erweiterung des Vergangenheitshorizonts. Sie hat auch die Orientierungsleistung der Geschichte für die Gegenwart so weit verstärkt, dass heute die absurde Annahme verbreitet ist, dass Gesellschaften, die aus der Vergangenheit nicht lernen wollten, zu deren Wiederholung verdammt sind. Aufgabe der Zeitgeschichte ist nicht, diesem Trend einfach zu folgen, sondern ihn gleichzeitig auch kritischer Betrachtung zu unterwerfen und mit den bescheidenen Mitteln der Wissenschaft zur eigenen Zeit in metareflexive Distanz zu treten. Das Gespräch führten Matthias Micus und Marika Przybilla-Voß.

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Prof. Dr. Martin Sabrow, geb. 1954, ist seit 2004 D ­ irektor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Politische Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, Diktaturforschung, Historiographie- und Erinnerungsgeschichte. Sein Buch »Erich Honecker. Das Leben davor – 1912–1945« erschien 2016 und wurde 2017 mit dem GoloMann-Preis ausgezeichnet.

ANALYSE

AM ENDE DER GROSSEN KÄMPFE? PHASEN UND KONJUNKTUREN DER DDR-HISTORIOGRAFIE ΞΞ Christoph Kleßmann

Die Demission von Hubertus Knabe sei das Ende der DDR-Geschichtsaufarbeitung aus der Perspektive der Opfer – das behauptete der Bundestags­ abgeordnete Arnold Vaatz in seiner Presseerklärung vom 14. Dezember 2018.1 Welch eine groteske, aber vielleicht auch symptomatische Überbewertung der Rolle Knabes in der geschichtspolitischen Auseinandersetzung! Anlass war ­Ilko-Sascha Kowalczuks zugespitzte Bilanz einiger grundsätzlicher Fragen zum Umgang mit der DDR-Geschichte in der Süddeutschen Zeitung.2 ­Kowalczuk hatte dabei die These formuliert, die bisherige Aufarbeitung sei gescheitert, und als Symptom dafür den Konflikt um Knabe und die Stasi-­ Gedenkstätte erörtert. Offensichtlich ist DDR-Geschichte auch fast dreißig Jahre nach dem Ende der Teilung Deutschlands noch ein vermintes Gelände. DDR-GESCHICHTE UND IHRE AUFARBEITUNG – NOCH EIN AKTUELLES THEMA? 1  Siehe Arnold Vaatz, Neues in Sachen Hohenschönhausen, Pressemitteilung, 14.12.2018, URL: https://www.arnold-vaatz. de/service/pressemitteilungen/ [eingesehen am 01.03.2019]. 2  Siehe Ilko-Sascha ­Kowalczuk, »Und was hast du bis 1989 getan?«, in: Süddeutsche Zeitung, 23.10.2018. 3  Ulrich Mählert (Hg.), Die DDR als Chance. Neue Perspektiven auf ein altes Thema, Berlin 2016.

Im Jahr 2016 erschien unter dem Titel »Die DDR als Chance«3 ein von der Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur initiierter Sammelband. Ohne Fragezeichen wurde nach »neuen Perspektiven auf ein altes Thema« gesucht. In diesem Band waren weder Hubertus Knabe noch der Berliner Forschungsverbund SED-Staat vertreten, allerdings auch nicht Kowalczuk oder der frühere Unabhängige Historikerverband ( UHV ). Ich selber habe mich trotz nachdrücklicher Aufforderung verweigert, weil mir nichts Neues zu diesem alten Thema einfallen wollte. War die DDR mehr als eine »Randnotiz der Geschichte«? Diese mir 2016 in Mannheim (auf einer Gedenkveranstaltung für Hermann Weber, den Nestor der DDR-Forschung) gestellte Frage variierte die suggestiv formulierte

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1989 — Analyse

Befürchtung Stefan Heyms, die von Hans-Ulrich Wehler als Feststellung gern aufgegriffen wurde, dass die DDR zu einer Fußnote der Weltgeschichte geworden sei.

Je nach Standort und Perspektive konnte und kann die Antwort genauso gut ja wie nein lauten. Im fünften Band von Wehlers »Deutscher Gesellschaftsgeschichte« war sie indes klar: in Gestalt eines furiosen Plädoyers gegen das »Intermezzo der ostdeutschen Satrapie«4. Auch in der voluminösen »Weltgeschichte des Kommunismus«5 von David Priestland tauchte die DDR nur hin und wieder am Rande auf, sodass Stefan Heyms Diktum zuzutreffen schien. Die Beiträge in dem genannten Sammelband plädieren allesamt – und nicht wirklich überraschend – für eine DDR-Forschung, allerdings zumeist in deutlich veränderter und erweiterter Form. Denn der Boom ist vorbei, die Menge der bisherigen Erträge kaum noch zu verarbeiten, signifikante weiße Flecken sind verschwunden. Lücken im Forschungsstand waren ohnehin immer ein schwaches Argument, wenn sie nicht durch überzeugende Fragen und Konzepte komplementär ergänzt wurden. Deutsche Nachkriegsgeschichte ist wichtig, weil sie immer auch über ihre deutsche Begrenzung hinausreicht; aber sie war und ist nicht der Mittelpunkt der europäischen, geschweige denn der Weltgeschichte. DDR-Geschichte kann mittlerweile als das best-

erforschte Terrain der deutschen Zeitgeschichte nach 1945 gelten und ist längst zu einem normalen Zweig der neuesten Historiografie geworden, der weder besonderer Legitimation noch besonderer Förderung bedarf. Diese Feststellung gehört zu einer Form der »Historisierung«, die auch für die NS-Diktatur längst ak­zeptiert ist. 4  Hans-Ulrich Wehler, ­Deutsche Gesellschafts­geschichte, Bd. 5: Bundesrepublik und DDR, München 2008. 5  David Priestland, Welt­ geschichte des Kommunismus. Von der Französischen Revolution bis heute, Bonn 2010.

»Aufarbeitung« ist aber zunächst vor allem ein politisch-moralisches Postulat und insofern keineswegs ohne Brisanz. Was von den vielfachen Bemühungen bei den Adressaten, insbesondere bei Schülern aller Stufen, ankommt, ist eine zweite Frage. Empirische Erhebungen haben belegt, auf welch kläg­lichem Niveau sich bisweilen die Kenntnisse von Schülern über die SED-Diktatur Christoph Kleßmann  —  Am Ende der großen Kämpfe?

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bewegen, aber auch wie rosarot das Bild der SED-Diktatur teilweise immer noch oder wieder geworden ist.6 Dass überhaupt eine eigenständige DDR-Forschung in der (alten) Bundesrepublik entstand, hatte mit der politischen Entwicklung Nachkriegsdeutschlands, der Verfestigung seiner Teilung und der Neugier von Journalisten und Wissenschaftlern zu tun, genauer zu erfassen, was sich jenseits der Elbe und der Berliner Mauer entwickelt hatte. Das ist hier nicht im Detail nachzuzeichnen. Nur so viel als Zitat aus Hermann Webers Erinnerungen: »Bis in die 80er Jahre ignorierten die westdeutschen Zeithistoriker in ihrer übergroßen Mehrheit die Geschichte der DDR. Deshalb suchte ich nach Wegen, das zu ändern und setzte alles daran, in Mannheim die seriöse kritische Analyse der DDR-Geschichte voranzutreiben.«7 Ideologisch spielte die DDR als Kristallisationskern für den antikommunistischen Konsens in der Bundesrepublik eine beträchtliche Rolle. Insofern war die Existenz der DDR auch ein wichtiges Element der westdeutschen Geschichte. Diese wurde jedoch ebenfalls erst spät Gegenstand der Zeit­ geschichtsforschung. Damit lockerte sich auch der politisch geforderte oder erwünschte Blick auf das ganze Deutschland. Seit Ende der 1960er Jahre gab es zudem in der linksliberalen Öffentlichkeit ein neues und anderes Anti: den Anti-Antikommunismus als Reaktion auf Exzesse des Kalten Krieges, auf als peinlich empfundene, platte Kommunismuskritik und auf eine zeitweilig fast völlig abgebrochene Marxismus-Tradition. Die Entspannungspolitik gab der Kritik am Antikommunismus Auftrieb. Damit entstand eine neue Konstellation. Das 1968 von Peter Christian Ludz in seiner Habilitationsschrift »Parteielite im Wandel« für die SED propagierte Paradigma der systemimmanenten Interpretation rückte hergebrachte Totalitarismustheorien in den Hintergrund. Nach dem überraschenden Ende der DDR und der Wiedervereinigung von 1989/90, die eigentlich eine Neuvereinigung war, änderte sich die Konstellation erneut. Die zweifellos vorhandenen Peinlichkeiten im Umgang mit kommunistischen Diktaturen im Zuge der neuen Ost- und Deutschland­politik sollten nun möglichst vergessen werden, und die schon fast tote Totalitarismustheorie erlebte eine bemerkenswerte Renaissance. Die verbrecherischen Züge der SED-Herrschaft fanden – insbesondere seitdem massenhaft Stasi-Dokumente zugänglich wurden – ein breites Echo in der Öffentlichkeit. Aus der DDR als »zweitem deutschen Staat«, »deutscher Möglichkeit« oder »kalkulierter Emanzipation« wurde nun vielfach der »Stasi-­ Staat«. Wer sich mit Geschichte jenseits der Elbe befasste, war mit überwiegend trostlosen Bildern aus »Dunkeldeutschland« kon­f rontiert.

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6  Vgl. Ulrich Bongertmann, DDR-Geschichte im Unterricht. Zwei neue Studien zu Geschichtsbüchern und zu Wissen und Einstellungen von Schülern, in: Deutschland Archiv, Jg. 39 (2006), H. 6, S. 1053–1060. 7  Hermann Weber, Leben nach dem »Prinzip links«: Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten, Berlin 2006, S. 321.

Zudem reaktivierte der »Wegfall« des Kalten Krieges schon bald in Ostmitteleuropa und weniger deutlich auch im Osten Deutschlands, nachdem die Befreiungseuphorie verflogen war, alte Konfliktlinien, die bereits vergessen schienen: Nationalismus, Xenophobie, autoritäre, populistische und teilweise antisemitische Trends. Zunächst aber erlebte die wissenschaftliche und mediale Aufarbeitung der DDR-Geschichte angesichts der überwältigenden Menge neuer Quellen einen ungeheuren Boom. DER BOOM: DDR-FORSCHUNG NACH 1989/90 – POLITISCHE KONTROVERSEN UND NEUE INSTITUTIONEN Erste kritische Impulse kamen aus der DDR selbst. Im Frühjahr/Sommer 1990 konnte ich während einer Gastprofessur an der Karl-Marx-Universität Leipzig beobachten, wie verblüffend schnell der Wandel der verordneten Geschichtsbilder vor sich ging. Aus der DDR-Geschichte avancierte vor allem der Aufstand vom 17. Juni 1953 zum akademischen Renner. In der etablierten marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft dauerte eine öffent­ 8  Siehe Heinz Heitzer, Für eine radikale Erneuerung der der Geschichtsschreibung über die DDR, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg. 38 (1990), H. 6, S. 483–509; Ders., Die Geschichte der DDR – wichtigster Zeitabschnitt der deutschen Geschichte, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg. 32 (1984), H. 5, S. 387–394. 9  Siehe Aufruf zur Bildung einer Arbeitsgruppe Unabhängiger Historiker in der DDR vom 10.01.1990, abgedruckt in: Rainer Eckert u. a. (Hg.), Krise – Umbruch – Neubeginn. Eine kritische und selbstkritische Dokumentation der DDR-Geschichtswissenschaft 1989/90, Stuttgart 1992, S. 160 f. 10  Siehe Matthias Berg u. a., Die versammelte Zunft. Historikerverband und Historikertage in Deutschland 1993–2000, Göttingen 2018, S. 645 ff. 11  Siehe Armin Mitter u. Stefan Wolle (Hg.), Ich liebe euch doch alle! Befehle und Lageberichte des MfS Januar– November 1989, Berlin 1990.

liche programmatische Absage an die ideologischen Bindungen freilich noch. Erst im Juni-Heft der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft des Jahres 1990 erschien das Plädoyer für eine »radikal erneuerte Geschichtswissenschaft« von Heinz Heitzer, einem der ideologischen Hardliner unter den Zeithistorikern, der weiland die DDR allen Ernstes zum wichtigsten Abschnitt deutscher Geschichte erklärt hatte. Verkürzt formuliert, gab er in seinem kritischen Plädoyer in allen wesentlichen Punkten den früher verdammten westdeutschen Interpretationen recht.8 Ein Trompetenstoß ganz anderer Art war zu dieser Zeit bereits mit dem Berliner Gründungsaufruf des Unabhängigen Historikerverbandes von Armin Mitter und Stefan Wolle erfolgt.9 Wie auch immer man dessen Ton einschätzt: Seine scharfe Kritik zerschnitt das Tischtuch zu den etablierten DDR-Historikern und gab auch den Kritikern im Westen Auftrieb, allerdings in sehr unterschiedlichen Formen. Der Bochumer Historikertag im September 1990 wurde dafür zu einem breit wahrgenommenen Forum.10 Eine der ersten und in der Folgezeit prägenden Quellenveröffentlichungen mit hoher fachlicher und politischer Resonanz waren die von Mitter und Wolle herausgegebenen internen Berichte der Stasi aus dem Jahr 1989 unter dem Titel aus Erich Mielkes letzter öffentlicher Rede in der schon gewendeten Volkskammer »Ich liebe euch doch alle«. Zum ersten Mal wurden einer staunenden Öffentlichkeit die in dieser Form bis dato unbekannten, in Ton und Stil grotesken geheimdienstlichen Einschätzungen präsentiert.11 Damit war das Stasi-Thema, das zuvor allenfalls peripher von Journalisten wie Karl Christoph Kleßmann  —  Am Ende der großen Kämpfe?

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Wilhelm Fricke intensiver berücksichtigt worden war, als zentrales Element der DDR-Geschichte »gesetzt«. Zwar gab es schon 1990 einen ersten Versuch prominenter DDR-Historiker zur kritischen Revision brisanter Themen der Geschichte;12 doch eine umfassendere »Neubefragung« benötigte Zeit und auch neues Personal. Bald nach der Herbstrevolution begann mit der Auflösung der Akademie der Wissenschaften der DDR (AdW) und der Umstrukturierung oder »Abwicklung« der Universitäten das Ende des Wissenschaftsbetriebes der DDR , insbesondere der Geisteswissenschaften. DDR-Geschichte wurde für die deutsche Zeitgeschichte zu einem bevorzugten Lehr- und Forschungsfeld. Neben der an den neu besetzten Lehrstühlen der ostdeutschen Universitäten forcierten Forschung waren es vor allem außeruniversitäre Neugründungen, die diesem Zweig der Zeitgeschichte Auftrieb gaben und zugleich für teilweise heftige politische Kontroversen sorgten. Diese Institutionen­ geschichte kann hier nur benannt und nicht genauer vorgestellt werden, sie war aber für die Ausprägung der unterschiedlichen »Kampffronten« von erheblicher Bedeutung.13 Das Institut für Zeitgeschichte in München bekam als älteste und bekannteste Einrichtung 1993 zunächst in Potsdam, dann in Berlin eine Außenstelle, deren Forschungen sich anfangs vor allem auf die Frühphase der SBZ/DDR konzentrierten. Ebenfalls in Potsdam entstand nach der Auflösung der AdW unter dem Dach der Max-Planck-Gesellschaft der Forschungsschwerpunkt »Zeithistorische Studien«, zusammen mit sechs anderen Geisteswissenschaftlichen Zentren eine der wenigen Neugründungen in der Wissenschaftslandschaft der neuen Bundesrepublik. Im Jahr 1996 erfolgte die Umbenennung und Umorganisation als Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF). An der

12  Siehe Jochen Cerny (Hg.), Brüche, Krisen, Wendepunkte. Neubefragung von DDR-­ Geschichte, Leipzig 1990.

Freien Universität Berlin etablierte sich 1992 der Forschungsverbund SEDStaat, dessen Name den Kern der wissenschaftlichen Ausrichtung wiedergibt. In die gleiche Zeit fiel die Gründung des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung als An-Institut der Universität Dresden. Für den öffentlichen politischen Raum sind vor allem die seit 1992 ins Leben gerufenen Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages zu erwähnen, die sich mit der Aufarbeitung der SED-Diktatur und ihren Folgen befassten. Mit Anhörungen, Gutachten und Zeitzeugenbefragungen machten sie ein riesiges Material aus allen Bereichen der DDR-Geschichte zugänglich.14 Als Verstetigung ihrer Arbeit wurde 1998 die Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur in Berlin geschaffen, die seitdem eine besonders relevante Anlaufstelle sowohl der »gesellschaftlichen Aufarbeitung« als auch der Förderung der Forschung ist.

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13  Als Überblick vgl. Christoph Kleßmann u. Martin Sabrow, Zeitgeschichte in Deutschland nach 1989, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 39/1996, S. 3–14. Für spätere Jahre vgl. Heidi Behrens u. a. (Hg.), Lernfeld DDR-Geschichte, Schwalbach 2009 sowie Mählert. 14  Siehe Deutscher Bundestag (Hg.), Materialien der Enquete-­ Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland« (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages). Neun Bände in 18 Teilbänden, Baden-Baden 1995.

Gewissermaßen quer und ergänzend zu diesen Institutionen lag eine der wichtigsten Einrichtungen der jüngsten Zeitgeschichte, die zugleich Modellcharakter für andere ehemals kommunistische Staaten erlangte: die nach ihrem ersten Chef Joachim Gauck benannte Behörde für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR. Neben der Erschließung der ungeheuren Menge an Quellen des MfS fiel ihr mit einer eigenen Abteilung »Bildung und Forschung« eine wichtige Funktion in der Aufarbeitungslandschaft zur DDR-Geschichte zu. Universitäre Lehrstühle mit DDR-Schwerpunkten gab

es vor allem in den neuen ostdeutschen Ländern. Vor dem Hintergrund dieser organisatorisch und finanziell imposanten Kulisse müssen die Erträge dieses Zweigs der deutschen und internationalen Zeitgeschichtsforschung auch gesehen werden. Zieht man vergleichend die Aufarbeitung der NS-Zeit heran, deren Schatten stets gegenwärtig waren, so zeigt sich der gravierende Unterschied. Paul Erker hat schon 1993 in einem Rückblick auf die Entwicklung der deutschen Zeitgeschichtsforschung davor gewarnt, auch für die DDR den Prioritäten der alten NS-Forschung zu folgen: erst die politische Geschichte, dann mit großer zeitlicher Verspätung die Sozial- und Alltagsgeschichte.15 Diese Sorge hat sich indes als unberechtigt erwiesen. Die öffentlich-politische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur begann sofort nach deren Ende mit einer Intensität, die jeden Vergleich im Umgang mit der NS-Zeit verbietet. Das betraf sowohl Institutionen als auch Inhalte. KONJUNKTUREN UND SCHWERPUNKTE DER HISTORIOGRAFIE Angesichts der Vielfalt und Breite der DDR-Forschung ist es kaum möglich, eindeutige inhaltliche und methodische Schwerpunkte über eine bloße Quantifizierung hinaus zu identifizieren. Das belegt etwa die erste umfassende Forschungsbilanz, die zugleich eine Art Festschrift für Hermann Weber darstellte. Sie versammelte 53 knappe Beiträge zu allen relevanten Feldern der DDR-Geschichte, wenngleich eine gewisse Dominanz der politischen Ge-

schichte zu erkennen ist.16 Multiperspektivität als Maxime wurde von Bernd 15  Siehe Paul Erker, ­Zeitgeschichte als Sozialgeschichte. Forschungsstand und Forschungsdefizite, in: Geschichte und Gesellschaft. Jg. 19 (1993), H. 2, S. 202–238. 16  Siehe Rainer Eppelmann u. a. (Hg.), Bilanz und Perspek­tiven der DDR-­ Forschung, ­Paderborn 2003.

Faulenbach als einem der Herausgeber eingefordert, aber ebenso die hier noch kaum berücksichtigte Erfahrungsgeschichte. Dass die DDR eine von der SED bestimmte Diktatur war, stand zwar – anders als vor 1989 – nicht mehr ernsthaft zur Debatte. Aber deren Etikettierung als totalitär, modern, parteibürokratisch, stalinistisch, als Erziehungs-, Konsens-, Fürsorge-Diktatur beflügelte die Debatte. Der wissenschaftliche und politische Streit um Alltag, Normalität, Weichspülen und Verharmlosen war zeitweilig heftig. Die interpretatorischen Konfliktlinien – teilweise mit Christoph Kleßmann  —  Am Ende der großen Kämpfe?

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schwerem politischen Säbel in der Öffentlichkeit ausgetragen – lassen sich in Grenzen institutionell zuordnen. Sie belegten die politische Aufladung des Forschungsobjekts, die aber mit den Jahren nachließ – ausgenommen vielleicht den Streit um Totalitarismuskonzepte. Einige Kontrahenten insistierten und insistieren geradezu verbissen immer wieder auf dem Vorrang des Totalitarismus zur angemessenen Erfassung der DDR-Geschichte.17 Die Gegenposition, die keineswegs grundsätzlich auf Totalitarismus als heuristische Kategorie verzichten muss, hat viele Argumente für sich18 und ist aus meiner Sicht unerlässlich für ein komplexes Bild, aber auch für ein angemesseneres und vermittelbares Verstehen der Diktatur und ihrer langen Dauer. Angesichts des kaum noch überschaubaren Forschungsertrags zur DDR-­ Geschichte meldeten sich frühzeitig auch kritische Stimmen. Vor allem Jürgen Kockas im Rahmen der Festveranstaltung für Hermann Weber vorgetragene Sorge vor einer »Verinselung« der DDR-Forschung, verbunden mit dem Plädoyer für einen methodisch und thematisch breiteren Horizont, traf einen Nerv. Damit wurde eine bis in die Gegenwart andauernde Pro­blematik angeschnitten.19 Die Kritik wurde zwar als voreilig zurückgewiesen, aber auch aufgegriffen in der Forderung, übergeordnete Fragen der Zeitgeschichte stär-

17  Siehe Klaus Schroeder u. Jochen Staadt in der Antwort auf Kleßmann u. Sabrow: Zeitgeschichte in Deutschland vor und nach 1989, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 26/1997; Klaus Schroeder, Bilanz der DDR-­Forschung, in: Tilman Mayer (Hg.), In der Mitte Europas. Deutschlandforschung aus nationaler und internationaler Perspektive, Berlin 2016, S. 77–96. 18  Vgl. die frühe Gegenüberstellung der Positionen zum Totalitarismus durch Jürgen Kocka und Horst Möller, in: Materialien der Enquete-Kommission, Bd. IX, S. 574 ff.

ker ins Blickfeld zu rücken, wie etwa die Fähigkeit moderner Diktaturen zur Erzeugung von Bindungen und Massenloyalität, das Scheitern der sozialistischen Sozialstaatsexperimente, vergleichende Zugänge zur Doppelgeschichte des europäischen Kontinents im 20. Jahrhundert. Eine generell wichtige weiterführende Perspektive der DDR-Forschung formulierte auch der Beitrag von Klaus-Dietmar Henke, der dafür plädierte, am Beispiel eines erweiterten Blicks auf die DDR »die sowjetischen Hegemonialstrukturen, die allgemeinen Funktionsmechanismen staatssozialistischer Systeme und die Existenz-

19  Jürgen Kocka, Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung. Hermann Weber zum 75. Geburtstag, in: Deutschland Archiv, Jg. 36 (2003), H. 5, S. 764–771; ferner Ulrich Mählert u. Manfred Wilke, Die DDR-Forschung – ein Auslaufmodell? Die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur seit 1989, in: Deutschland Archiv, Jg. 37 (2004), H. 3, S. 465–474.

bedingungen von Weltanschauungsdiktaturen in der Moderne«20 zu studieren. Was gegenwärtig aus politischen Gründen wieder verstärkt eine Rolle in der politischen Debatte spielt, war bereits frühzeitig ein kontrovers diskutiertes Thema der DDR-Forschung: der »Alltag in der Diktatur«. Die britische Deutschlandspezialistin Mary Fulbrook hat diesen Ansatz erweitert mit ihrem Narrativ der »Normalität«.21 Dieser Zugang geriet zwar sofort unter den Verdacht der Verharmlosung und der Weichspülerei der SED-Diktatur. Auch die erneut aufgeflammten aktuellen Debatten über »den Osten«, die Benachteiligungen und tiefen Brüche aus der Transformationsphase nach 1990 haben hier eine wichtige Wurzel. Zu einer breiten kritischen Aufarbeitung und Darstellung eines untergegangenen Staates gehört die Einbeziehung höchst widersprüchlicher Erfahrungen der Betroffenen. Nur durch die differenzierte Berücksichtigung von Erfahrungsgeschichte lässt sich auch

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20  Klaus-Dietmar Henke, DDR-Forschung seit 1990, in: Rainer Eppelmann u. a. (Hg.), Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung, Paderborn 2003, S. 376. 21  Vgl. exemplarisch Richard Bessel u. Ralph Jessen (Hg.), Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR, Göttingen 1996; Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971–1989, Bonn 1998; Mary Fulbrook, Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR, Darmstadt 2008.

neuen Ostalgie-­Wellen einschließlich politischer Radikalisierungstrends im rechtspopulistischen Spektrum zumindest begegnen. In der Forschung weitgehend akzeptiert ist mittlerweile die Forderung, die DDR in eine deutsche Nachkriegsgeschichte zu integrieren. Allerdings ist die Umsetzung in einer umfassenderen Gesamtdarstellung bislang noch kaum in Angriff genommen worden. Vor 1990 wäre ein solches Konzept noch kaum denkbar gewesen, weil die Historiker und Politologen als Fachleute hier ziemlich strikt zwei getrennte Felder bearbeiteten. Es gab Spezialisten für die DDR und für die BRD, und die Osteuropafachleute machten als eigene Dis-

ziplin in der Regel an der Oder-Neiße-Linie Halt. Auch das von Helmut Kohl 1983/84 initiierte Haus der Geschichte der Bundesrepublik in Bonn sollte ja ursprünglich, wie schon der Name sagte, nur den westlichen Teil musealisieren; erst nach 1990 wurde der Zusatz stillschweigend fallengelassen und die DDR-Geschichte schamhaft eingefügt. Eine Potsdamer Arbeitsgruppe aus Wissenschaftlern und Fachdidaktikern hat einige Überlegungen und Vorschläge zu einer integrierten Geschichte entwickelt. Eine verdeckte Nationalgeschichte, welche die über vierzigjährige Teilung gewissermaßen als unnatürliche Zwischenphase charakterisiert, war damit nicht intendiert. Sie wäre eine fatale Teleologie. Aber erst aus der Beschäftigung mit beiden Teilen Deutschlands zeichnet sich das spezifische Profil einer deutschen Nachkriegsgeschichte ab, die nicht mehr in der Trennung aufgeht, aber auch nicht umstandslos eine »ungeteilte Geschichte« sein sollte, wie es Peter Bender in seinem letzten Buch »Deutschlands Wiederkehr«22 2007 versucht hat. Denn erst dieser doppelte Blick macht Zusammenhänge, Verflechtungen und Wechselwirkungen erkennbar, die sonst zumindest blass blieben. Frank Bösch hat für die letzte Phase der DDR seit den 1970er Jahren in einer einschlägigen Publikation mit dem absichtsvoll doppeldeutigen Titel »Geteilte Geschichte« (im Sinne von Teilhabe und Trennung) vier Gründe angeführt, die aus heutiger Sicht eine deutsch-deutsche Geschichte relevant erscheinen lassen: 1. Beide Staaten knüpften an eine gemeinsame Geschichte an, die trotz Teilung prägend blieb – Weimar, NS und Zweiter Weltkrieg bildeten einen gemeinsamen und bestimmenden Erfahrungshintergrund. 2. Viel stärker als bei anderen Staaten war das Verhältnis durch Kommunikation 22  Peter Bender, Deutschlands Wiederkehr, Stuttgart 2007. 23  Siehe Frank Bösch (Hg.), Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 1970–2000, Göttingen 2015.

bestimmt. 3. Auch die oft penetrante Abgrenzung der SED war eine Form wechselseitigen Bezugs, von der Sozialpolitik über die Bildung bis zum Sport. 4. Die Wiedervereinigung legt nahe, nach den geteilten Vorgeschichten der Berliner Republik zu fragen und damit auch nach historischen Erklärungen für bestimmte Probleme der gesamtdeutschen Gegenwart zu suchen.23 Christoph Kleßmann  —  Am Ende der großen Kämpfe?

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Wie ergiebig der erweiterte Ansatz einer Beziehungs- und Verflechtungsgeschichte sein kann, zeigt eine kürzlich publizierte Bestandsaufnahme von Frank Wolff.24 Der »Knackpunkt« dieser umfassenden Bilanz lässt sich auch mit dem treffenden Titel einer ähnlich ausgerichteten englischen Aufsatzsammlung von 2010 charakterisieren: »Divided But Not Disconnected«25. Nicht ganz zu vergessen ist schließlich, dass die DDR auch ein kurioses Gebilde mit allerlei heute kaum noch nachvollziehbaren Wunderlichkeiten war. Ein unverdächtiger Zeitzeuge wie Stefan Wolle hat darauf immer wieder mit Spott hingewiesen. Das letzte und mit fast 2.500 Seiten mit Abstand umfangreichste Werk, das in dieser Bilanz genannt werden muss, ist Gerd Dietrichs voluminöse Kulturgeschichte der DDR. Sie beginnt mit ironischen Hinweisen auf diesen Zustand und das legendäre »Weltniveau« auf manchen Gebieten.26 Diese imposante Gesamtdarstellung, angesiedelt zwischen Handbuch und durchgehender Synthese, beschränkt sich zwar konträr zum gegenwärtig eher dominanten Trend zur integrierten auf eine Teildarstellung. Aber sie ist weit mehr als der Titel erwarten lässt: ein fulminanter Beitrag zur deutschen Zeitgeschichte von einem Autor, der ein Leben lang dazu intensiv geforscht hat und sowohl über ein besonderes Sensorium als auch über eine spezifische Expertise verfügt. Noch ist nicht absehbar, ob dieser hochdifferenzierte Text eines früheren DDR-Historikers auch ein Hinweis sein kann, wohin die DDR-Erinnerung

treibt – ein Thema, das schon 2007 mit beträchtlicher Resonanz in den Medien diskutiert wurde.27 Seitdem haben sich die Schwerpunkte und Interessen verschoben und richten sich allmählich stärker auf die Zeit nach 1990. Zumindest scheinen die verbissenen Kämpfe mit flotten Formeln der 1990er Jahre vorbei und in der Forschung mehr Gelassenheit und Distanz eingekehrt zu sein.

Christoph Kleßmann, Dr. phil., geb. 1938, 1976 bis 1992 Professor für Zeitgeschichte an der ­Universität Bielefeld, seit 1993 an der Universität Potsdam. Von 1996 bis 2004 Direktor des Zentrums für Zeithisto­ rische Forschung, Potsdam. Gastwissenschaftleraufenthalte in Leipzig, Bloomington/Indiana und ­Oxford. Seit 2004 emeritiert. A ­ rbeitsschwerpunkte in Forschung und Lehre: deutsche und polnische ­Geschichte des 20. Jahrhunderts, insbesondere der NS-Zeit, der Bundesrepublik und der DDR.

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24  Frank Wolff, In der Teilung vereint. Neue Ansätze der deutsch-deutschen Zeitgeschichte, in: Archiv für Sozialgeschichte, Jg. 58 (2018), S. 353–391. 25  Tobias Hochscherf u. a. (Hg.), Divided, But Not Disconnected. German Experiences of the Cold War, New York 2010 26  Siehe Gerd Dietrich, Kulturgeschichte der DDR. Bd. 1: Kultur in der Übergangsgesellschaft 1945–1957; Bd. 2: Kultur in der Bildungsgesellschaft 1957–1976; Bd. 3: Kultur in der Konsumgesellschaft 1977–1990, Göttingen 2018. 27  Siehe Martin Sabrow u. a. (Hg.): Wohin treibt die DDR-­ Erinnerung? Dokumentation einer Debatte, Bonn 2007.

DIE ZEITGESCHICHTS­ FORSCHUNG UND DIE ZÄSUR 1989 CHANCEN UND VERANTWORTUNG EINER (FAST) ABGEHÄNGTEN DISZIPLIN ΞΞ Angela Siebold

2019 jähren sich demokratischer Protest, Grenzöffnungen und erste Demokratisierungen in Ostmitteleuropa zum dreißigsten Mal. Dabei ist das Jahr kein gewöhnliches Jubiläumsjahr der Zeitgeschichte: Dreißig Jahre, das ist schon eine Wegmarke, die größere Aufmerksamkeit verdient. Dreißig Jahre: Das ist der Zeitraum, mit dem weitläufig ein Generationswechsel definiert wird. Wer nun noch glaubt, der Mauerfall habe doch eben erst stattgefunden und alle in Deutschland hätten dieses Ereignis – die Fernsehbilder, die Euphorie und das Staunen – noch vor Augen, der irrt: Wer heute das Gymnasium abschließt, der ist vielleicht gerade noch im alten Jahrtausend geboren. Kalter Krieg, Planwirtschaft und Perestroika sind für viele der jungen Generation böhmische Dörfer. Und sie sind gefühlt so weit weg, wie Geschichte es eben sein kann – von der eigenen Lebenswirklichkeit und von den Erwartungen an die individuelle und die gesellschaftliche Zukunftsgestaltung, Vor diesem Hintergrund verwundert nicht, dass die unmittelbare Faszination der Geschehnisse im Herbst 1989 zunehmend verblasst, ja dass sogar kritische Stimmen zur »Wende« lauter werden als noch vor fünf oder zehn Jahren. Es wäre nicht das erste Mal, dass sich eine Generation von dreißig Jahre zurückliegenden Ereignissen distanziert – sei es durch offenen Protest oder durch innere Abkehr und Unverständnis. Dreißig Jahre lagen zwischen dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem deutschen Angriff auf Polen unter nationalsozialistischer Herrschaft, zwischen der deutschen Niederlage in Versailles und dem erneuten militärischen Ausbruch aggressiven Großmachtstrebens in Deutschland. Dreißig Jahre wiederum vergingen zwischen dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und dem öffentlichen, wütenden Aufbegehren der sogenannten 68er-Generation gegen ihre Eltern, gegen die Alten, gegen das Vergessen. Und dreißig Jahre sind nun eben vergangen, seit die Umwälzungen in Ostmitteleuropa zu dem geführt haben, was heute weithin als »Friedliche Revolution« bezeichnet wird. Umso wichtiger, darüber zu sprechen.

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DISZIPLINÄRE SELBSTZWEIFEL AN DER JÜNGSTEN ­Z EITGESCHICHTSFORSCHUNG Nicht nur im Sinne eines Generationswechsels, sondern auch mit Blick auf die geschichtswissenschaftliche Forschungsperspektive könnte das Jahr 2019 einen Wendepunkt darstellen: Durch den Ablauf der Sperrfristen in den Archiven nach dreißig Jahren könnte das, was 1989 geschehen ist, nun auch offiziell als Geschichte bezeichnet werden. Dennoch ist die Skepsis innerhalb der historischen Zunft darüber, ob zum Umbruch 1989 und zu der nachfolgenden Transformationszeit schon historisch gearbeitet werden könne, immer noch vorhanden. Als Historikerin, die sich seit über zehn Jahren mit der Zäsur 1989 beschäftigt, habe ich viele Male die kritische Frage vernommen, ob das, was ich behandle, denn überhaupt »schon Geschichte« sei – und meine Forschungen demnach überhaupt als geschichtswissenschaftlich eingeordnet werden könnten. Dieser Einwand kam nicht selten aus den Reihen der eigenen Disziplin. Zuletzt erhielt ich einen solchen Pauschalvorwurf vor zwei Jahren: »This is not a paper in history, but in political science« – so lautete etwa die Reaktion eines Gutachters in einem Peer review-Verfahren auf einen Artikel von mir, der sich mit einer begriffsgeschichtlichen Frage zu den 1980er und 1990er Jahren beschäftigte. Diese Vorbehalte der Geschichtswissenschaft gegenüber ihrer zeitlich betrachtet jüngsten Teildisziplin erstaunen mich insofern immer wieder, als einer solchen Haltung meiner Meinung nach das naive Verständnis zugrunde liegt, historische Forschung legitimiere sich durch den zeitlichen Abstand zum Untersuchungsgegenstand und nicht durch die Methode, mit der sie vergangene Phänomene in den Blick nimmt.1 Umso verwunderlicher sind solche Positionen auch deshalb, da selbst der Gründervater der deutschen Zeitgeschichtsschreibung, Hans Rothfels, lediglich acht Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Geschichtswissenschaft aufforderte, »die natio-

1  Vgl. zu dieser Frage auch: Marcus Böick u. Angela Siebold, Die Jüngste als Sorgenkind? Plädoyer für eine jüngste Zeitgeschichte als Varianz- und Kontextgeschichte von Übergängen, in: Deutschland Archiv, Jg. 44 (2011), H. 1, S. 105–113. Im Umkehrschluss bedeutet diese Sichtweise leider auch, dass sich diejenigen historischen Arbeiten, die sich mit lange Vergangenem beschäftigen, häufig kaum methodisch rechtfertigen müssen.

nalsozialistische Phase mit aller Energie anzugehen«2 – in einem Aufsatz, der bis heute als richtungsweisender Grundlagentext der Zeitgeschichte gilt. Zwar sind mittlerweile nicht nur zahlreiche Forschungsarbeiten von Nachwuchswissenschaftlern, die naturgemäß eine geringere Beachtung erfahren, erschienen; auch nehmen einige etablierte historiografische Werke die Transformationszeit um 1989 nun etwas ausführlicher in den Blick.3 Die Annäherung an das Thema erfolgt allerdings zurückhaltend und methodisch eher konventionell entlang politikgeschichtlicher, ereignisbezogener und nationalstaatlich ausgerichteter Fragestellungen. In erster Linie trägt die Geschichtswissenschaft also selbst die Verantwortung, dass die Zäsur 1989 noch nicht ausreichend historisiert ist – einerseits

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2  Hans Rothfels, Zeitgeschichte als Aufgabe, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 1 (1953), H. 1, S. 1–8, hier S. 8. 3  Zum Beispiel Andreas Rödder, 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart, München 2015; Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2014; Andreas Wirsching, Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit, München 2012.

aufgrund des eigenen zögerlichen und wenig kreativen Umgangs mit dem Thema, andererseits aufgrund der daraus resultierenden Defensivhaltung, die sie im gesellschaftlichen und politischen Diskurs übernehmen muss. Nun, dreißig Jahre nach dem Mauerfall, sollte sich das endlich ändern: Die Geschichtswissenschaft sollte zu einem offensiven und gestalterischen Umgang mit der Erforschung – und der Vermittlung! – der Umbruchzeit um 1989 finden. Denn eine kritische, offene und langfristige Historisierung und Kontextualisierung ist heute dringender denn je – aus innerdisziplinären Gründen, aber auch aus der gesellschaftlichen Verantwortung heraus, nicht denen das diskursive Feld zu überlassen, die aus dem Wandel 1989 heute lautstark interessengeleitete oder historisch schlicht falsche Positionen und Forderungen ableiten. POLITISCHE DEUTUNGSKONJUNKTUREN DES UMBRUCHS SEIT 1989 Statt der Zeithistoriker prägten nach dem Mauerfall in Deutschland zunächst Politiker, Journalisten, Publizisten, Sozialwissenschaftler und Zeitzeugen den Diskurs und beförderten eine Konjunktur, die zuerst von einer kurzfristigen Wende-Euphorie geprägt war und an die sich das Narrativ einer Erfolgsgeschichte der deutschen Einheit sowie der Annäherung West- und Osteuropas anschloss. Geschichtspolitisch wurde – etwa von der Bundesregierung, aber auch von Institutionen der Europäischen Union – das Ende des Kalten Krieges in einen Bedeutungszusammenhang mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gestellt: Während – so die Haltung vieler vor allem westlicher Politiker – Westeuropa bereits im Jahr 1945 vom Faschismus befreit worden sei, sei der Osten des Kontinents 1989 nachgefolgt. Diese Sichtweise, dass der Osten nachholen müsse, was der Westen schon lange erreicht habe – individuelle Freiheit, Demokratie, Modernisierung –, prägt noch heute die Sichtweise des Westens auf den Osten und wird diesem häufig nicht gerecht. Auf das Erfolgsnarrativ, das in den späten 1990er Jahren und bis etwa zur EU-Osterweiterung 2004 dominierte, folgte jedoch die nüchterne Erkenntnis, dass der Vereinigungsprozess in ökonomischer, politischer und sozialer Hinsicht doch nicht so gelungen war wie einmal erhofft. Die negativen Folgen von 1989/90 – also das, was Jürgen Kocka bereits 1995 als »Vereinigungskrise« bezeichnet hatte – erfuhren nun verstärkt Aufmerksamkeit. Die Betonung der beständigen Ungleichheiten zwischen West und Ost und voreiliger Fehlentscheidungen im Einigungsprozess reihte sich in der öffent­ lichen und medialen Debatte ein in das große europäische Narrativ, das spätestens seit 2007 durch Finanz- und Eurokrise, neue Kriege und Terrorismus, Angela Siebold  —  Die Zeitgeschichts­f orschung und die Zäsur 1989

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Zuwanderungsdebatten, den aufsteigenden Populismus bis hin zum »Brexit« nicht mehr als Erfolgsgeschichte, sondern nunmehr als Bild eines Europas in der Krise durchschlug und bis heute anhält. Wissenschaftliche Publikationen zu 1989 schlossen sich diesem Krisennarrativ in der nachfolgenden Zeit an und schrieben nicht mehr vom Freiheitsgewinn und dem »Triumph of Hope« (John Lewis Gaddis), sondern vom »Aufbruch der entsicherten Gesellschaft« (Heinrich Best und Everhard Holtmann), vom »Preis der Freiheit« (Andreas Wirsching) oder von »The Burdens of Freedom« (Padraic Kenney). POPULISTISCHE VEREINNAHMUNG DER ERINNERUNG AN 1989 In den vergangenen Jahren beriefen sich u. a. »PEGIDA«-Anhänger auf den Ausruf »Wir sind ein Volk« und stellten damit Parallelen zu den demokratisch motivierten Protesten aus dem Jahr 1989 her – obgleich Motivlage und politische Forderungen beider Bewegungen freilich weit auseinander liegen. Auch die Berliner AfD deutete den Slogan in ihrem Sinne und verkündete am 9. November 2017 über den Kurznachrichtendienst Twitter: »Wer am 9.11.89 ›Wir sind das Volk‹ rief, ruft es auch heute. Damals – wie heute – werden diese Regierungskritiker bekämpft.«4 Durch eine solche politische Vereinnahmung und Umdeutung der historischen Zusammenhänge wird die Erinnerung an 1989 dazu eingesetzt, die heutige parlamentarische Demokratie zu diskreditieren, indem sie als undemokratisch und elitenfreundlich beschrieben wird. Gleichzeitig rücken AfD, »PEGIDA« und andere sie in die Nähe zum DDR-Regime: »Die Mechanismen«, so schrieb die Berliner AfD weiter, »sind identisch. Kanzler, die eigenmächtig handeln. Regierungstreue Medien. Illegal handelnde Justizminister. Korrupte Regierungspolitiker. Schikanieren der eigenen Bürger. Verfassungsfeindliche Politik … etc.«5 Dass von geschichtspolitischen Akteuren gerade aus dem Umfeld des Populismus direkte Bezüge zwischen 1989 und der Gegenwart hergestellt werden, ist nicht nur ein deutsches Phänomen. So spricht bspw. die polnische Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) seit geraumer Zeit von der dobra zmiana – dem guten Wandel, den sie mit ihrer Regierungstätigkeit herbeiführe. In Abgrenzung zum Umbruch 1989 wird deutlich gemacht, dass die alte, schlechte Zeit des Kommunismus erst mit der Regierungsverantwortung der PiS-Partei zu Ende gegangen sei und der tatsächliche Bruch mit der Vergangenheit erst jetzt vollzogen werde. Wie auch in der Argumentation der AfD wenden sich die Positionen hier gegen bestehende (oft nicht genauer bezeichnete) Eliten und gegen pluralistische Gesellschaftskonzepte. Sie fordern stattdessen Homogenität und Vorrang des Nationalen.

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4  Twitter-Account AfD Berlin, 09.11.2017, URL: https://twitter. com/afdberlin/status/9287156 29867216896?lang=de [eingesehen am 05.03.2019]. 5  Ebd.

Problematische, weil oft zu einseitige Deutungen des Umbruchs 1989 wurden in den vergangenen dreißig Jahren auch über die nationalen Grenzen hinaus deutlich. So zogen westdeutsche Politiker etwa schon in der ersten Hälfte der 1990er Jahre einen Schlussstrich unter die Annäherung zwischen Deutschen und Polen: Die Probleme seien nun aus der Welt geräumt und es gebe keine Tabus mehr, so die Haltung mancher Mitglieder der Bundesregierung. Von polnischer Seite wurde dieser »Versöhnungskitsch«, wie der Journalist Klaus Bachmann es nannte, kritisch gesehen: Man sei erst am Anfang einer Annäherung, betonten Kabinettsmitglieder aus Warschau. Sie beriefen sich in den 1990er Jahren lieber auf nüchterne Begriffe wie Interessengemeinschaft, Normalisierung oder Nachbarschaft, wenn es darum ging, die deutsch-polnischen Beziehungen zu beschreiben. Solche kommunikativen Schieflagen zwischen West und Ost sind von westlicher Seite lange nicht wahrgenommen worden. Dies führt allerdings bis heute dazu, dass sich ostmitteleuropäische Akteure entweder nicht beachtet oder falsch verstanden fühlen. Auf den Punkt brachte die Kritik an der westlichen Dominanz der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán in seiner Rede in Bálványos im Juli 2018, in der er verkündete: »Vor dreißig Jahren haben wir noch gedacht, Europa sei unsere Zukunft, und heute denken wir, dass wir die Zukunft Europas sind.«6 Aus westlicher Warte liest sich diese Formulierung wie eine Bedrohung; aus Sicht des politischen Ostens aber stellt sie auch einen Befreiungsschlag aus alten Abhängigkeiten und eine selbstbewusste Forderung nach Gleichberechtigung und Anerkennung dar, welche die ostmitteleuropäischen Regierungen seit dreißig Jahren in Europa immer wieder eingefordert hatten. Zugleich steht Orbáns Haltung in einer Reihe mit anderen bewussten Abgrenzungen zum Westen, die als Reaktion auf eine vom Westen vorgegebene und einseitige Transformationszeit nach 1989 betrachtet werden können. Nicht nur die Regierungen Ungarns und Polens, auch der russische Staatschef Wladimir Putin inszeniert sich heute als Heilsbringer der wahren, richtigen »Wende«. Populistische Rädelsführer in Ostmitteleuropa, aber auch in der Bundesrepublik, stilisieren sich so zu Korrektoren der Geschichte. Sie betrachten sich als Anführer einer bewussten Gegenbewegung zu Westeuropa und haben 6  Viktor Orbán, Rede auf der 29. Freien Sommeruniversität in Bálványos, 29.07.2018, URL: http://www. miniszterelnok.hu/viktororbans-­rede-auf-der-29-freiensommeruniversitat-in-balvanyos/ [eingesehen am 05.03.2019].

zum Ziel, die aus ihrer Sicht fehlgeleitete und größtenteils westlich gesteuerte Transformation in die richtigen Bahnen zu lenken. Die damit einhergehende Aggressivität richtet sich dabei sowohl gegen Brüssel und die westeuropäischen Hauptstädte als auch gegen verschiedene Minderheiten und die alten Eliten im eigenen Land. Zu diesen alten Eliten gehören jedoch nicht mehr nur die ehemaligen Träger des kommunistischen Systems, sondern auch Angela Siebold  —  Die Zeitgeschichts­f orschung und die Zäsur 1989

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diejenigen, welche in den frühen 1990er Jahren für Demokratisierung und Marktreform zuständig waren. Der Mythos von 1989 wird von einem positiven Freiheitsmythos zu einem negativen Gründungsmythos neu ausgerufener Bewegungen umgedeutet. In vielen ostmitteleuropäischen Ländern reiht sich diese Sichtweise ein in eine lange historische Kontinuität der Unterdrückung und Fremdbestimmung – vom Deutschen Orden über Preußen, die Habsburger und das Zarenreich bis hin zu Adolf Hitler und Josef Stalin. Sie wendet sich gegen sogenannte innere und äußere Feinde. Das wirkt sich eben nicht zuletzt auf die Sicht auf die Europäische Union aus, indem diese als »äußerer Feind« betrachtet und zugleich von der Identität des »Europäers«, die nach wie vor positiv besetzt ist, getrennt wird. METHODISCHE KURSKORREKTUREN IN DER FORSCHUNG ZU 1989 Mit Blick auf die populistischen Umdeutungen zeigt sich, wie sehr sich heute das Bild von 1989, das einmal für den Inbegriff einer friedlichen, ja wundersamen Befreiung aus Gewalt und Unterdrückung stand, gewandelt hat. Mit dem generationellen Abstand zeigt sich auch, dass diejenigen, die glaubten, das Ende der Geschichte von 1989 zu kennen, eines Besseren belehrt wurden. Stattdessen kommen in jüngster Zeit immer häufiger Stimmen zu Wort, die den direkten Bezug zwischen 1989 und der Gegenwart betonen. So führte bspw. Angela Merkel in einem kürzlich erschienenen Interview mit Blick auf aktuelle Probleme aus: »Die politische Herausforderung ist ohne Zweifel groß. Ich tue mich dennoch schwer, zu sagen, das Land sei so gespalten wie nie zuvor. Das Land war vielleicht nie so versöhnt, wie man dachte.«7 Merkel betont hier einen Blick auf die Geschichte, der ein Verständnis von der Transformationszeit um 1989 als langem Übergang anstatt als scharfem Einschnitt deutlich macht. Ebenso ist in der historischen Forschung in den letzten Jahren verstärkt darauf hingewiesen worden, dass die Ereignisse um 1989 als eine »Problemgeschichte der Gegenwart« betrachtet werden sollten – also als eine Geschichtsschreibung, die gegenwärtige Probleme in ihren historischen Kontext einzubetten versucht und so zwar keine Lehren ziehen, aber doch Orientierung für heutige Herausforderungen stiften möchte. Das Jahr 1989 könnte so seinen in der Historiografie noch immer überwiegend abschließenden Charakter (Ende der DDR , Ende des Kommunismus) verlieren und endlich auch als Ausgangspunkt langfristiger Entwicklungen gesehen werden. Das ist auch dringend nötig, denn die lange dominierende verkürzte Darstellung einer Transition, die wenige Jahre – bspw. von 1989 bis 1991 – andauerte, wird dabei weder den Prozessen in Deutschland noch

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7  Angela Merkel, »Parität erscheint mir logisch« (Interview), in: Die Zeit, 24.01.2019.

weniger denen in anderen betroffenen Staaten gerecht, in denen die Transformationsphase spätestens in der ersten Hälfte der 1980er Jahre begann. Zugleich sollte darauf verzichtet werden, nach einem Zeitpunkt der Vollendung der Transformation zu suchen.8 Vielmehr kommt es auf eine offene Perspektive an, die je nach Fragestellung zeitliche, räumliche und thematische Schwerpunktverlagerungen zulässt. Dabei ist es Aufgabe der Geschichtswissenschaft, sich nicht der in Politik und Medien vorherrschenden Sehnsucht nach Eindeutigkeit anzuschließen, sondern die Zäsur 1989 in ihrer Komplexität und Mehrdeutigkeit anzuerkennen. Das Aufbrechen kurzfristiger Zäsuren könnte auch transnationale Perspektiven stärken, die in der bisherigen historischen Forschung nach wie vor zu kurz kommen. Stattdessen überwiegt noch immer die methodisch wenig überzeugende Addition verschiedener Nationalgeschichten, um die europäische oder gar globale Bedeutung der Zäsur 1989 zu betonen. Dabei sollte es darum gehen, zu der im Jahr 1989 schon fortgeschritten vernetzten Welt diejenigen Dynamiken herauszuarbeiten, die sich grundlegend von der Vorstellung quasi zufällig gleichzeitig stattfindender nationaler Protestbewegungen unterscheiden. Denn wo, wenn nicht im grenzübergreifenden Protestgefüge der Jahre um 1989, das aufgrund seiner dynamischen Gleichzeitigkeit vom Historiker Timothy Garton Ash als annus mirabilis bezeichnet wurde, wird deutlich, dass ein Denken in national isolierten Kategorien häufig an den zentralen Fragen der modernen Geschichte vorbeigeht? Zu einer solchen Forschung gehört bspw. die Untersuchung grenzübergreifender Netzwerke, gegenseitiger Bezugnahmen (und Abgrenzungen) sowie Wahrnehmungsmuster – West-Ost-übergreifende Perspektiven einzunehmen, stellt dabei ein besonderes Desiderat dar. Ein Beispiel, wie die Stärkung solcher Perspektiven gelingen kann, stellen neuere Arbeiten aus der erinnerungskulturellen Forschung dar, für die der Umbruch 1989 als ein doppelter Wendepunkt gelesen werden kann: einerseits im Umgang mit der Geschichte des Kommunismus, andererseits hinsichtlich der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Vor allem für die ostmitteleuropäischen Gesellschaften ist der Zweite Weltkrieg durch 1989 wieder näher an die Gegenwart herangerückt: Durch das Ende der sowjetisch sanktionier8  Dieser Gedanke findet sich z. B. bei Ivan T. Berend u. Bojan Bugaric, Unfinished Europe. Transition from Communism to Democracy in Central and Eastern Europe, in: Journal of Contemporary History, Jg. 50 (2015), H. 4, S. 768–785.

ten Tabuisierung konnten Themen teilweise erstmals frei und öffentlich diskutiert werden, andere Aspekte wiederum erfuhren und erfahren bis heute einen grundlegenden Bedeutungswandel. Themen wie Kollaboration und Antisemitismus in der eigenen Gesellschaft, sowjetische Verbrechen oder Fragen der Wiedergutmachung waren nicht verschwunden, sondern über die Zeit des Kalten Krieges hinweg verdeckt Angela Siebold  —  Die Zeitgeschichts­f orschung und die Zäsur 1989

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gewesen und treten nun wieder in einem neuen zeitlichen Kontext zutage: eben nicht mehr in einer Zeit, die unmittelbar vom Kriegsgeschehen geprägt ist, sondern mit dem Abstand von zwei Generationen und dem Umstand, dass die Erinnerung daran von der Primärerfahrung in eine politisch geprägte Erinnerungskultur übergegangen ist. Sie sind heute Gegenstand emotionaler politischer Kämpfe – auf nationaler, aber vor allem auf europäischer Ebene. PERSPEKTIVWECHSEL: NEUE FRAGESTELLUNGEN Die aktuellen politischen Herausforderungen des Populismus weisen tiefe historische Wurzeln auf und sind nicht zuletzt auch vom Westen mit verursacht worden. Zumindest in der historischen Forschung sollte daher das Nicht-Wahrnehmen östlicher Perspektiven weiter abgelegt werden – und zwar über die klassische Osteuropaforschung hinaus. Zahlreiche Fragestellungen – auch über erinnerungskulturelle Fragestellungen hinaus – wären denkbar, in denen die Perspektiven zwischen West und Ost einmal verschoben oder besser miteinander verflochten werden könnten. So könnte bspw. gewinnbringend sein, mögliche Rückwirkungen und Dynamiken auf ökonomischer Ebene von Ost nach West nach 1989 in den Blick zu nehmen, etwa durch die transnationalen Kontakte baltischer Unternehmen in den 1990er Jahren und deren Ausstrahlung auf den westlichen Markt. Denkbar wäre auch eine längerfristige Untersuchung der Arbeitsmigration von West nach Ost, die sich nach 1989 zwar nicht quantitativ vergleichbar mit der Ost-West-Wanderung, aber qualitativ dennoch bemerkenswert abzeichnete und auch Antworten auf die Frage der Wissensgewinnung in Ostmitteleuropa nach 1989 liefern könnte. Ein weiteres, drängendes Desiderat stellt ein neuer historiografischer Zugang zur Geschichte der Europäischen Union dar, der den Osten als gestaltenden Akteur und nicht bloß als 2004 erweitertes Geltungsgebiet wahrnimmt. Insgesamt wäre wünschenswert, alte Deutungen im Ost-West-Verhältnis zu hinterfragen. So schrieb zum Beispiel Andreas Rödder in seinem 2015 erschienenen Band zur Geschichte der Gegenwart von der historisch verwurzelten Asymmetrie zwischen west- und osteuropäischer Entwicklung: »Die Diskrepanz innerhalb Europas hatte ältere Wurzeln. Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit war der ostmitteleuropäische Raum dünner besiedelt und weniger produktiv gewesen. Er war überwiegend später und geringer industrialisiert worden und stärker autoritär geprägter Herrschaft unterworfen gewesen als Nordwesteuropa.«9 Ein solcher Blick mag im Konkreten korrekt sein, im größeren Zusammenhang weist er allerdings mehrere Probleme auf: Erstens bestätigt er aktuelle

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1989 — Analyse

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Rödder, S. 310.

Wertungen, die einem offenen Dialog entgegenstehen, indem er bestehende Unterschiede zwischen West und Ost als historisch langfristig zementiert. Zweitens erklärt er nicht die Gründe für die teilweise verspätete östliche Entwicklung, die häufig auch in der imperialen Aggression des Westens zu finden sind. Drittens historisiert er nicht ausreichend, indem er die Kategorien West und Ost, wie sie im Kalten Krieg definiert wurden, bis zurück ins Mittelalter zu gültigen Analysekategorien erklärt. Stattdessen wäre wünschenswert, die Vorstellung vom Osten als homogene Region bewusst aufzubrechen. So vermittelte bspw. Estland in den frühen 1990er Jahren mit dem 32 Jahre alten Ministerpräsidenten Mart Laar ein völlig anderes Bild vom postkommunistischen Osten als Russland, das zur selben Zeit den dreißig Jahre älteren Boris Jelzin zum Präsidenten hatte, der zudem Teil des alten Systems gewesen war. Gerade mit Blick auf eine Wahrnehmungsgeschichte von 1989 durch die jüngere Generation wäre auch das Übrigbleiben der kapitalistischen Monokultur ein lohnender Untersuchungsgegenstand. Bereits 1964 hatte Herbert Marcuse in seinem Werk »Der eindimensionale Mensch« angesichts der totalen Bipolarität der Welt davor gewarnt, die Menschen könnten die Fähigkeit verlieren, zu transzendieren, also sich Alternativen zur Wirklichkeit vorzustellen. Wie also der Kalte Krieg das Denken der Menschen prägte, so hatte und hat sicherlich der Sieg des Kapitalismus als scheinbar alternativlose Gesellschaftsordnung Auswirkungen auf das Denken und Handeln besonders der jüngeren Generation nach dem Ende des Kalten Krieges. In diese Kerbe einer Geschichte einer neuen Selbstverortung in der Welt nach 1989 schlägt auch der Gedanke des indischen Intellektuellen Pankaj Mishra, der in seinem Werk »Zeitalter des Zorns« mit Blick auf die 1990er Jahre festgestellt hat, dass die Betonung individueller Rechte nach dem Fall des Kommunismus vielen erst ins Bewusstsein gerückt habe, dass ihre Lebenslage als ungerecht verstanden werden könnte. DEN DIALOG AUFNEHMEN Die Zeitgeschichtsforschung sollte zum einen dazu beitragen, den Umbruch 1989 historisch zu reflektieren, ihn in lange, transnationale Linien einzuordnen und aus persönlichen wie politischen Narrativen auszulösen; zum anderen stellt sich in Zeiten populistischer Vereinnahmung der Erinnerung eine weitere, vielleicht sogar größere Herausforderung als die der innovativen Forschung: Nun rückt die Vermittlung eines historischen Bewusstseins in den Vordergrund – dieser Aufgabe sollten sich auch die Universitäten stellen. Angela Siebold  —  Die Zeitgeschichts­f orschung und die Zäsur 1989

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Dazu gehört erst einmal, einen kritischen Gegenwartsbezug herzustellen, der – mit Nietzsche gesprochen – im besten Sinne von Nutzen für das Leben in unserer Gesellschaft ist. Damit ist nicht gemeint, Parallelen zwischen 1989 und der Gegenwart zu ziehen, sondern sich mit den aktuellen Herausforderungen und Fragen in Politik und Gesellschaft ernsthaft auseinanderzusetzen und im Dialog mit der Geschichte Perspektiven zu eröffnen, die eine konstruktive gesellschaftliche Auseinandersetzung befördern. Zu einer solchen Öffnung gehört auch, vom Podium der Wissenschaft nicht nur hinabzusprechen, sondern hinabzusteigen und mit allen Teilen der Gesellschaft – also auch mit denen, die einem wissenschaftlichen Zugang zum Jahr 1989 entgegenstehen – das Gespräch zu suchen. Das mag bisweilen unbequem sein, doch übernimmt man gesellschaftliche Verantwortung und setzt sich damit auch für den Fortbestand der eigenen Disziplin und für die Anerkennung des Fachs Geschichte in Schule und Universität ein. Dass unsere Gesellschaft aktuell ein Problem mit dem Umgang mit der Vergangenheit hat, hat zwar auch der Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands erkannt und auf dem Historikertag 2018 in Münster in seiner »Resolution zu gegenwärtigen Gefährdungen der Demokratie« gefordert: »Geschichtswissenschaft hat die Aufgabe, durch die Analyse historischer Entwicklungen auch zur besseren Wahrnehmung von Gegenwartsproblemen beizutragen und die Komplexität ihrer Ursachen herauszuarbeiten. Angesichts einer zunehmend von demoskopischen Stimmungsbildern und einer immer schnelllebigeren Mediendynamik getriebenen Politik möchten wir betonen, dass nur ein Denken in längeren Zeiträumen die Zukunftsfähigkeit unseres politischen Systems auf Dauer gewährleisten kann.«10 Jetzt sollte die Geschichtswissenschaft allerdings auch den nächsten Schritt gehen. Denn während die Resolution Politik und Gesellschaft zum Handeln auffordert, sollte sich die Geschichtswissenschaft angesichts der jüngsten Entwicklungen selbst herausgefordert fühlen, zu handeln. Tut sie das nicht, überlässt sie das Feld anderen, die nicht zögern, historisch Position zu ergreifen: Die Gegner der offenen Gesellschaft und der parlamentarischen Demokratie machen sich die Instrumentalisierbarkeit der Geschichte für ihre politischen Forderungen zunutze – nicht nur in Dresden und Passau, auch in Warschau, Budapest und Moskau. Dabei eignet sich das Jahr 1989 besonders gut dazu, aktuelle Herausforderungen auch kritisch zu reflektieren. Es ist in der Lage, die Jungen, die Zugewanderten (und deren Aufnahmegesellschaft) anzusprechen. Auch aktuell gegenwärtige Verunsicherungen und Zukunftsängste ließen sich überzeugend mit den Erfahrungen aus den frühen 1990er Jahre verknüpfen. Ein

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1989 — Analyse

10  Resolution des V ­ erbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands zu gegenwärtigen Gefährdungen der Demokratie, verabschiedet von der Mitgliederversammlung am 27. Sept. 2018 in Münster, URL: https://www. historikerverband.de/verband/ stellungnahmen/resolution-zugegenwaertigen-­gefaehrdungender-demokratie.html [eingesehen am 05.03.2019].

solch kritischer Zugang stände den heute noch weitverbreiteten Konventionen gegenüber, nach welchen sich die Beschäftigung mit 1989 häufig noch in der Wiedergabe von Geschehnissen und in einer zunehmend nostalgisch werdenden persönlichen Erinnerung, im Sinne eines Bewahrens oder in der gegenseitigen Selbstvergewisserung über die Erfolge der sogenannten Friedlichen Revolution, erschöpft. Nimmt die Zeitgeschichtsforschung diese Herausforderung an und diese Aufgabe ernst, dann müsste sich dies auch institutionell niederschlagen; denn nach wie vor erfährt die Vermittlung historischer Erkenntnis eine deutlich geringere Reputation als die ihrer Erforschung. Diese Reputationsasymmetrie zwischen Forschung auf der einen und Lehre, Vermittlung und Bildungsarbeit auf der anderen Seite befördert allerdings, dass sich in Wissenschaft und Gesellschaft zwei parallel verlaufende, wenig miteinander kommunizierende Narrative über die Transformationsjahre um 1989 entwickeln. Da sich für die wissenschaftliche Anerkennung nicht lohnt, aus dem Elfenbeinturm herauszutreten, finden sich in Zeiten des Drittmitteldrucks und prekärer Beschäftigung leider nur wenige, die bereit sind, Zeit und Mühe in eine Tätigkeit zu investieren, die akademisch gesprochen nicht als »lebenslaufrelevant« bezeichnet werden kann. Das ist bedauerlich und könnte doch leicht behoben werden. Die universitäre Public History hat erste Ansätze dazu geliefert, wie Universitäten auch außerhalb ihres klassischen Wirkungsfeldes präsent sein können. Dennoch entstehen innovative Formate der zeithistorischen Bildungsarbeit nach wie vor häufig außerhalb der Hochschulen. Der Gefahr einer freien Interpretation der Fakten und einer Vereinnahmung der historischen Prozesse für politische Partikularinteressen wird dadurch von der Wissenschaft Vorschub geleistet. Dem Historikerverband stände gut zu Gesicht, hinsichtlich dieser Frage in seiner Resolution nicht nur »Grundhaltungen in Politik und Gesellschaft«, sondern ganz bewusst Handlungen aus den eigenen Reihen zu stärken.

Dr. Angela Siebold, geb. 1981, ist Historikerin an der Goethe-Universität Frankfurt. Ihre Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind die Beziehungen zwischen West- und Osteuropa, europäische Migrationsgeschichte im 20. Jahrhundert sowie die Geschichte der Europäischen Integration.

Angela Siebold  —  Die Zeitgeschichts­f orschung und die Zäsur 1989

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VON ERFAHRUNGEN UND ERWARTUNGEN KONSUM UND DER SYSTEMWECHSEL VON 1989/90 ΞΞ Clemens Villinger

In seiner Fernsehansprache anlässlich des Inkrafttretens der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion am 1. Juli 1990 prognostizierte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl die Verwandlung Ostdeutschlands in »blühende Landschaften […], in denen es sich zu arbeiten und leben lohnt«1. Kohls Satz gehört zu den wohl bekanntesten im Kontext des Systemwechsels von 1989/90 geäußerten ökonomischen Zukunftsvorstellungen. Nur wenige Monate zuvor hatte Otto Schily (SPD) während einer Fernsehsendung den Wählerinnen und Wählern in der DDR eine ähnliche Erwartung unterstellt. Für Schily war nach der Volkskammerwahl im März 1990 vollkommen klar: Die Allianz für Deutschland (CDU, DSU, DA) hatte gewonnen und die SPD verloren, weil die Ostdeutschen keine politischen Visionen mehr, sondern Wohlstand und Konsum erwarteten. Um seinen Punkt zu unterstreichen, hielt Schily eine Banane in die Kamera. Mit ihrem Programm für eine schnelle Vereinigung mit der Bundesrepublik und die Umgestaltung der ostdeutschen Wirtschaft nach marktwirtschaftlichen Kriterien erhielt die Allianz für Deutschland 40,8 Prozent der Stimmen – und das, obwohl es, worauf Marcus Böick hingewiesen hat, gar keinen eindeutigen Plan für die ökonomische Transformation gegeben hatte, sondern lediglich ein Nebeneinander unterschiedlichster »Marktordnungsvorstellungen«2. Abgeschlagen auf dem zweiten Platz, nur fünf Prozentpunkte vor der PDS, landete die erst im Oktober 1989 in der DDR wiedergegründete SPD mit einem Stimmenanteil von 21,9 Prozent. Zwar strebte auch die SPD

eine Einführung der sozialen Marktwirtschaft auf dem Gebiet der DDR an, allerdings nicht auf dem Weg einer Übernahme des westdeutschen Modells, sondern durch eine graduelle Anpassung. Sowohl die Deutung des Wahlergebnisses durch Otto Schily als auch das Wahlergebnis selbst wirft die Frage auf, welche wirtschaftlichen Erwartungen die Wählerinnen und Wähler mit ihrem Votum verbanden. Wie stellte sich die ostdeutsche Bevölkerung die zukünftige Entwicklung ihres Lebensstandards vor? Inwiefern prägten vergangene lebensweltliche Erfahrungen und Ereignisse die ökonomische Erwartungsbildung und beeinflussten das Handeln der ostdeutschen Bevölkerung?

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1  Vgl. das Skript der Fernsehansprache vom 1. Juli 1990, URL: https://www.helmut-kohl.de/ index.php?msg=555 [eingesehen am 28.02.2019]. 2  Marcus Böick, »Das ist nunmal der freie Markt«. Konzeptionen des Marktes beim Wirtschaftsumbau in Ostdeutschland nach 1989, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Jg. 12 (2015), H. 3, S. 448–73, hier S. 471.

Clemens Villinger  —  Von Erfahrungen und Erwartungen

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Erfahrungen und Erwartungen können, im Anschluss an die Überlegungen von Reinhart Koselleck3, als zwei aufeinander bezogene und in einem dynamischen Verhältnis zueinander stehende kognitive Prozesse verstan-

3  Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1995.

den werden, die großen Einfluss auf die Entscheidungsbildung und letztlich das Handeln ausüben.4 Kommt es zu einer Richtungsentscheidung in der Gegenwart, so greifen Menschen häufig auf »fiktionale Erwartungen« (Jens Beckert) zurück, die sich einerseits aus früheren Erfahrungen und andererseits aus Zukunftsprognosen bilden.5 Der Weg von der erlebten ökonomischen Realität in die imaginierte Zukunft wird durch angenommene bzw. vermutete Kausalzusammenhänge rationalisiert und zu einem kohärenten Weltbild zusammengesetzt, das Entscheidungen in der Gegenwart entscheidend determiniert.6 Verbindet man die weitverbreitete Deutung von 1989/90 als einer »Konsumrevolution«7 mit der Analyseperspektive von Jens Beckert, ergeben sich neue Sichtweisen auf die Rolle von alltäglichem Konsum als erfahrungsbildendem Element im Vorfeld von 1989/90, aber auch im unmittelbaren Umbruch und während der anschließenden Transformation. Grundlage der folgenden Überlegungen sind die vom Autor im Kontext seines Dissertationsprojektes »Die lange Geschichte der ›Wende‹: Konsum in den Lebenswelten von Ostdeutschen« erhobenen Quellenmaterialien.8 Den umfangreichsten Quellenbestand bilden drei Konvolute mit jeweils etwa fünfzig qualitativen Interviews, die Anfang der 1990er Jahre im Rahmen sozialwissenschaftlicher Forschungsprojekte erhoben worden sind. Die sekundäranalytische Auswertung dieser Interviews ermöglicht einen unmittelbaren Einblick in das Erleben des Umbruchs und die erzählerisch vermittelten Zukunftserwartungen im Bereich des Konsums. »BEDÜRFNISKONKURRENZ« UND GESELLSCHAFTLICHE UNGLEICHHEIT ALS ALLTAGSERFAHRUNGEN Welche Rolle der alltägliche Konsum für die Ausdifferenzierung der DDR-­ Gesellschaft in den 1980er Jahren spielte, lässt sich anhand der Preisentwicklung von alltäglichen Konsumgütern sowie des Ausbaus des Netzwerkes der Delikatläden und der Intershops nachvollziehen.9 Um die Lebensmittelpreise nicht direkt zu erhöhen und Verbraucherpro-

4  Vgl. Mark Jakob u. a., Erfahrung und Erwartung – eine vernachlässigte wirtschaftshistorische Perspektive?, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Jg. 59 (2018), H. 2, S. 229–341. 5  Siehe Jens Beckert, Imagined Futures. Fictional Expectations and Capitalist Dynamics, Cambridge 2016. 6  Vgl. Ders., Woher kommen Erwartungen? Die soziale Strukturierung imaginierter Zukünfte, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Jg. 59 (2018), H. 2, S. 507–523. Im Rahmen seines Konzeptes schlägt Beckert sieben mögliche Einflussfaktoren vor, mit denen die Erwartungsbildungsprozesse wirtschaftlicher Akteure untersucht werden können: Institutionen, soziale Position, soziale Netzwerke, kalkulative Instrumente, kulturelle Strukturen, Reflexivität und Protention. Zusätzlich betont er die Bedeutung von Massenmedien zur Verbreitung und Popularisierung von Erwartungen. 7  Manuel Schramm, Die »Wende« von 1989/90 als Konsumrevolution, in: BIOS, Jg. 27 (2014), H. 1–2, S. 95–108. 8  Die Arbeit ist Bestandteil der am ZZF Potsdam angesiedelten Forschungsgruppe »Die lange Geschichte der ›Wende‹. Lebenswelt und Systemwechsel in Ostdeutschland vor, während und nach 1989«, die von PD Dr. Kerstin Brückweh geleitet wird.

teste zu vermeiden, verlagerte die DDR-Führung im Laufe der 1980er Jahre immer größere Teile der Lebensmittelsortimente in das Angebot der sogenannten Delikatläden. Im Gegensatz zu regulären Verkaufsstellen, wie Konsum-Läden oder Kaufhallen, war die Versorgungslage in den Delikatläden konstanter und das dort ausgelegte Warenangebot qualitativ hochwertiger;

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9  Zur Geschichte der Intershops vgl. Jonathan R. Zatlin, The Currency of Socialism: Money and Political Culture in East Germany, Washington 2007, S. 243–259.

allerdings waren die Produkte auch deutlich teurer. Die Bevölkerung der DDR nahm – das zeigen nicht nur zahlreiche Berichte des MfS, sondern auch

Interviews – diese Maßnahmen als verdeckte Preiserhöhung wahr, die besserverdienende Menschen bevorzugte und gegen den ideologischen Egalitätsanspruch verstieß.10 Abseits dieser staatlich regulierten und relativ statischen Versorgungssysteme gab es in der DDR auch dynamische Märkte – etwa in Form illegaler Schwarzmärkte für besonders begehrte Konsumgüter, wie bspw. beim Handel mit Heavy Metal-Platten11, oder beim privaten Verkauf von selbst erzeugtem Obst und Gemüse. Dort regulierten Angebot und Nachfrage die Preisgestaltung, sodass der Zugang zu diesen selbstregulierten Märkten von individuellen Ressourcen und nicht von staatlichen Verteilungsmechanismen abhing. Die massenhafte Eröffnung von Intershops während der 1980er Jahre im gesamten DDR-Gebiet verstärkte die im alltäglichen Konsum sicht- und erfahrbare gesellschaftliche Ausdifferenzierung. In den Intershops konnten nur Menschen einkaufen, die westliche Währung besaßen. Da in der DDR jedoch nur wenige Möglichkeiten existierten, auf offiziellem Weg in deren Besitz zu gelangen, war die DDR-Bevölkerung dabei auf Geschenke ihrer westlichen Verwandtschaft angewiesen. Obwohl solche Kontakte politisch unerwünscht waren, belohnte die Eröffnung der Intershops ein derartiges politisch nicht-konformes Verhalten. Der Zugang zur westlichen Warenwelt im Intershop stand, ebenso wie die Delikatläden, mithin im Gegensatz zu den ideologischen Ansprüchen der SED. Trotz dieses ideologischen Wider10 

Zur sozialen Ungleichheit in der DDR als Forschungsperspektive vgl. Jens Gieseke, Soziale Ungleichheit im Staatssozialismus. Eine Skizze, in: Zeithistorische Forschungen, Jg. 10 (2013), H. 2, S. 171–98.

11  Vgl. Okunew, Nikolai, Schwere Zeiten – Medien(praktiken) der Heavy-Metal-Szene in der DDR, in: Maldener, Aline u. Zimmermann, Clemens (Hg.), Let’s Historize it! Jugendmedien im 20. Jahrhundert, Köln 2018, S. 283–312. 12  Vgl. Steiner, André, Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, Berlin 2007, S. 228–229.

spruches war die SED auf das System der Intershops zur Erwirtschaftung von Devisen angewiesen.12 Die Beispiele der selbstregulierten Märkte, der Preisentwicklung und der Intershops verdeutlichen, dass die DDR-Bevölkerung trotz ideologisch postulierter Gleichheitsideale bereits vor 1989 Erfahrungen mit gesellschaft­licher Ungleichheit gesammelt hatte. Diese unterschieden sich jedoch von den Ausprägungen sozialer Ungleichheit in kapitalistischen Demokratien. Den alltäglichen Konsum in der DDR bestimmten Parameter wie verfügbare Zeit, familiäre und berufliche Netzwerke, politische Privilegien oder ein besonderes Wissen über den Zugang zu gewünschten Konsumgütern. Dementsprechend verfügten die Menschen in der DDR zwar über Erfahrungen des Zusammenhangs von verfügbarem Einkommen, sozialer Ungleichheit und möglicher Partizipation am Konsum. Aufgrund der unzureichenden Versorgungslage kam es jedoch häufig vor, dass nach Arbeitsschluss nicht mehr das volle Lebensmittelsortiment im Handel verfügbar war. Um die Clemens Villinger  —  Von Erfahrungen und Erwartungen

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gewünschten Lebensmittel und Waren dennoch einkaufen zu können, verließen täglich tausende Arbeiterinnen und Arbeiter ihre Betriebe während der Arbeitszeit. Angestellte von Betrieben, in denen die Arbeitszeitregelungen strikter kontrolliert wurden, verfügten dementsprechend über weniger Zeit für den Konsum. In der alltäglichen Konkurrenz um den Erwerb von Lebensmitteln entwickelte sich die Verfügbarkeit von Zeit zu einem entscheidenden Faktor, der in der Regel die nicht-arbeitende Bevölkerung – wie Hausfrauen oder Rentner – und somit wiederum politisch unerwünschtes Verhalten bzw. politisch nicht geförderte Bevölkerungsgruppen bevorzugte. Über entscheidende Vorteile beim alltäglichen Einkaufen verfügten zudem jene, die auf persönliche Netzwerke und Beziehungen zurückgreifen konnten. Insbesondere im Handel tätige Personen mit direktem Zugang zu begehrten Konsumgütern konnten eigene Verteilungs- und Tauschsysteme aufbauen, die mit einer gewissen Handlungsmacht einhergingen. Neben informellen, auf Gegenseitigkeit basierenden Tauschgeschäften berichteten die Interviewten aus dem Handel von der Entstehung einer Kultur der Straflosigkeit, die auf dem wechselseitigen Wissen über illegales Verhalten basierte. Dies führte zur Wahrnehmung von Diebstählen als einer Selbstverständlichkeit. Neben verfügbarer Zeit und persönlichen Netzwerken spielte nicht zuletzt eine besondere Form des »Verbraucherwissens« eine wichtige Rolle für den Erwerb von Konsumgütern. Da die Verkaufsstellen nicht mit eigenen Medien, mit Prospekten oder Zeitungsanzeigen, über Angebote informierten und obendrein noch unregelmäßig beliefert wurden, mussten sich die Verbraucherinnen und Verbraucher ihr Wissen über Anlieferungszeiten sowie Umfang und Qualität des Angebotes durch regelmäßige Besuche der Verkaufsstellen sowie wiederum über eigene Netzwerke oder auch das bloße Glück des Zufalls aneignen. Während der 1980er Jahre konkurrierte die DDR-Bevölkerung im Alltag folglich auf vielfältige Weise um die knappen Konsumgüter. Diese in die Verteilungs- und Versorgungsstrukturen der Planwirtschaft eingebetteten »Markterfahrungen« und »Bedürfniskonkurrenzen« prägten – ähnlich wie die Erfahrungen der »Schwarzmarktzeit«13 die Vorstellungen über die ökonomische Entwicklung der Nachkriegszeit beeinflussten – die ökonomischen Erwartungen der DDR-Bevölkerung an die wirtschaftliche Entwicklung der Umbruchszeit. Zudem deuten die Aussagen der Zeitzeugen darauf hin, dass sich die Bevölkerung der DDR bereits vor 1989 Alltagswissen über Konsumpraktiken angeeignet hatte, die auch in der kapitalistischen Bundesrepublik verbreitet waren.

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13  Malte Zierenberg hat in seiner Arbeit dargelegt, wie die Erfahrungen des Schwarzmarktes nicht nur die Erwartungen der Bevölkerung an die wirtschaftliche Entwicklung beider Staaten in der Nachkriegszeit prägte, sondern auch das Handeln ökonomischer Akteure beeinflusste; vgl. Malte Zierenberg, Stadt der Schieber. Der Berliner Schwarzmarkt 1939–1950, Göttingen 2008, S. 317–323.

Soziale Konflikte und persönliche Enttäuschungen in den Lebenswelten traten demnach auf, weil die meisten Menschen in der DDR bis 1989/90 spezifische Erfahrungen mit den ökonomischen Ordnungsprinzipien des Kapitalismus, wie Konkurrenz oder Markt, gesammelt und deshalb andere Erwartungen ausgebildet hatten als die Westdeutschen. Mit dem von der Allianz für Deutschland propagierten schnellen Übergang zur »sozialen Marktwirtschaft« verbanden viele der Interviewten Anfang der 1990er Jahre die Vorstellung eines alltäglichen Konsums, der sich nicht nach persönlichen Machtfaktoren, etwa Netzwerken oder politischen Privilegien, sondern nach idealtypischen Kriterien wie fairem Wettbewerb, Einkommen und Leistungsbereitschaft organisierte. KONSUM IN DER BUNDESREPUBLIK ALS POSITIVER ERWARTUNGSHORIZONT In den 1980er Jahren gab es für die Bevölkerung der DDR unterschiedliche Möglichkeiten, um im Alltag Erfahrungen mit dem Konsum in der Bundesrepublik zu sammeln und sich Wissen über die westdeutsche Produktkultur anzueignen. Neben dem fast überall frei empfangbaren Westfernsehen prägten Besuchsreisen in die Bundesrepublik oder Verwandtschaftsbesuche aus dem Westen, der Erhalt von »Westpaketen«14 oder das Einkaufen in den Intershops die Vorstellungen der DDR-Bevölkerung vom Konsum in der Bundesrepublik. Sowohl die westdeutsche Produkt- und Konsumkultur als auch die damit verbundenen Erfahrungen schilderten die meisten der Interviewten als durchweg positive Erinnerungen. Die Medien der DDR hingegen vermittelten ein Bild des Konsums im Kapitalismus, das den Alltagerfahrungen der DDR-Bevölkerung widersprach. Zahlreiche Berichte des MfS belegen, wie sich die Wahrnehmung in der Bevölkerung im Laufe der 1980er Jahre veränderte: Aufgrund der Diskrepanz zwischen der medialen Berichterstattung über vermeintliche Planübererfüllungen in der Konsumgüterproduktion und dem tatsächlichen Erleben der prekären Versorgungssituation im Alltag verloren die DDR-Medien zunehmend an Glaubwürdigkeit. 14  Vgl. Konstanze Soch, Eine große Freude? Der innerdeutsche Paketverkehr im Kalten Krieg (1949–1989), Frankfurt a. M. 2018. 15  Vgl. dazu auch Petra Köpping, »Integriert doch erst mal uns!« Eine Streitschrift für den Osten, Berlin 2018, S. 79.

Die Sekundäranalyse der Interviews zeigt, dass die Befragten bereits vor 1989 über umfangreiches, medial vermitteltes Wissen zu möglichen negativen Auswirkungen des Kapitalismus – wie Massenarbeitslosigkeit, Armut oder geringe Einkommen – verfügten. Allerdings misstrauten die meisten DDR-Bürger der offiziellen Deutung der DDR-Medien.15 Stattdessen führten

die positiven Erfahrungen mit den materiellen Konsumgütern aus der Bundesrepublik und der westdeutschen Währung dazu, dass viele Ostdeutsche Clemens Villinger  —  Von Erfahrungen und Erwartungen

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im Vorfeld des Umbruchs kaum skeptische wirtschaftliche Erwartungen herausbildeten, sondern im März 1990 eine Erweiterung des westdeutschen Konsummodells auf das Gebiet der ehemaligen DDR euphorisch begrüßten und dann auch dementsprechend abstimmten. KONSUMERWARTUNGEN ALS HANDLUNGSMOTIVATION IM UMBRUCH? Welchen Einfluss die Aussicht auf den bundesrepublikanischen Wohlstand auf die aktive Teilnahme am revolutionären Geschehen von 1989 ausübte, hing wesentlich von der jeweiligen politischen Einstellung und sozialen Position ab.16 Am Beispiel des »Dritten Weges« hat Martin Sabrow aufgezeigt, welche Rolle die politische Vision eines »demokratischen Sozialismus zwischen Planund Marktwirtschaft« für die Mitglieder der im engeren Sinne regimekritischen Gruppen spielte.17 Die in unterschiedlichsten Kontexten organisierten Akteure verfolgten weniger ökonomische denn politische Reformpläne und standen zur westdeutschen Wohlstandsgesellschaft in kritischer Distanz. Insofern handelten die meisten Mitglieder der Oppositionsgruppen und der Bürgerrechtsbewegung im Umbruch von 1989 nicht aus einer wirtschaftlichen, sondern aus einer politischen Motivation heraus. Zusätzlich hatten viele Akteure aufgrund ihres politischen Engagements Erfahrungen mit politischen, beruflichen und sozialen Repressionen gesammelt, was den eher politisch geprägten Erwartungshorizont an die angestrebten Veränderungen mitbestimmte. Im Laufe des Jahres 1989 wuchsen die öffentlichen Proteste in der DDR langsam an, bis sie schließlich im Herbst ihren Höhepunkt erreichten. Das Entstehen einer »situativen Allianz«18 zwischen der Bürgerbewegung und größeren Bevölkerungsgruppen hatte verschiedene Ursachen: die Entstehung von Massendemonstrationen, das Engagement der Bürgerrechtsbewegung und von SED-Reformern, die Ausreisebewegung sowie das (Nicht-)Handeln der SED-Führung.

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Gerade jüngere DDR-Bürgerinnen und -Bürger hatten aufgrund ihrer lebensweltlichen Erfahrungen eine Art negativen Erwartungshorizont herausgebildet und entschlossen sich daher, die DDR zu verlassen. Im Gegensatz dazu verband die Bürgerrechts- und die Volksbewegung nicht nur die SED-Herrschaft als gemeinsame politische Gegnerin, sondern auch der all-

16  Vgl. auch Beckert, Woher kommen Erwartungen?, S. 512 f. 17  Hierzu und im Folgenden: Martin Sabrow, Der vergessene »Dritte Weg«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 11/2010, S. 6–13. 18 

Ebd., S. 9.

gemeine Wille zu einer Veränderung der politischen Verhältnisse. Diese Entwicklungen verdeckten kurzfristig die voneinander abweichenden und letztlich inkompatiblen Erwartungen an einen Regimewechsel. Spätestens mit dem Mauerfall am 9. November 1989 traten dann die unterschiedlichen Zukunftsvorstellungen von politisch motivierter Demo-

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19  Die Gewichtung der unterschiedlichen Faktoren hängt von der jeweiligen Forschungsperspektive ab. Bisher besteht in den Geschichtswissenschaften kein Konsens.

kratiebewegung und eher wohlstandsorientierter Volksbewegung deutlich zutage. Ihre endgültige politische Marginalisierung erfuhr die Vorstellung eines »Dritten Weges« dann bei der Volkskammerwahl 1990, als die Bürgerrechtsgruppen zusammen lediglich fünf Prozent der Stimmen erhielten. Welche konsumpolitischen Erwartungen Menschen, die sich spontan den Demonstrationen anschlossen und zuvor nicht in regimekritischen Gruppen tätig gewesen waren, mit ihrer Teilnahme an den Demonstrationen verbanden, lässt sich nur anhand von Einzelbeispielen untersuchen. Eine Ende 1990 in Leipzig durchgeführte sozialwissenschaftliche Studie kam dabei zu widersprüchlichen Ergebnissen: Einerseits habe die individuelle »wirtschaftliche Unzufriedenheit keine Rolle für die Teilnahme an den Protesten gespielt«20; andererseits hätten sich bereits vor dem 9. Oktober 1989 fast drei Viertel der Befragten die Einführung der Marktwirtschaft gewünscht.21 Auch die Sekundäranalyse der Interviews aus den 1990er Jahren stützt eher die Annahme einer politischen Motivation der Teilnehmenden. Trotz der heterogenen wirtschaftlichen Erwartungen an einen Systemwechsel verfügten sowohl die Bürgerrechtsgruppen als auch die Volksbewegung über einen gemeinsamen, relativ homogenen ökonomischen Erfahrungsraum: die sich verschlechternde Versorgungslage während der 1980er Jahre. 1990–91: TESTPHASE DER ERWARTUNGEN Auf Beschluss des Ministerrates der DDR konnten ab Anfang Februar 1990 Lebensmittel und Waren aus der Bundesrepublik ohne größere Hindernisse in die DDR importiert und dort verkauft werden. Innerhalb kürzester Zeit erschlossen westdeutsche Lebensmittel- und Handelskonzerne den ostdeutschen Markt, den das Inkrafttreten der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion am 1. Juli 1990 endgültig für den Wettbewerb öffnete. Zwar bemühte sich die staatliche Bürokratie um den Schutz des Binnenmarktes; doch angesichts der dynamischen politischen Entwicklung und der großen Nachfrage nach westlichen Produkten in der DDR-Bevölkerung verschwanden Waren aus ostdeutscher Produktion schnell aus den Regalen der Supermärkte. Die Sekundäranalyse der Interviews deutet daraufhin, dass viele Menschen den Zeitraum zwischen Februar 1990 und Anfang 1991 nutzten, um sich durch den Kauf westlicher Produkte Alltagswissen über deren Geschmack, Qualität, Materialität und Preis-Leistungs-Verhältnis anzueignen. 20  Karl-Dieter Opp u. a., Die volkseigene Revolution, Stuttgart 1993, S. 15. 21  Vgl. ebd., S. 104.

Gleichzeitig dienten die vor 1989 gesammelten Erfahrungen mit dem Konsum in der Bundesrepublik im Umbruch als individuelle Wissensressource, mit der die Bürgerinnen und Bürger der DDR die Veränderungen im Alltag bewältigten. Clemens Villinger  —  Von Erfahrungen und Erwartungen

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Zu den häufig in den Interviews erzählten Geschichten des Konsums in der Nachwendezeit gehört die Erfahrung, sich aufgrund von Arbeitslosigkeit, gesunkenem Einkommen oder steigenden Preisen Dinge nicht mehr leisten zu können. Insofern prägten die nun gemachten Erfahrungen des Nexus aus Einkommenshöhe und Partizipationschancen gegenüber den neuen Konsummöglichkeiten die Erwartungen an die eigene ökonomische und politische Zukunft – vor allem auch vor dem Erfahrungshintergrund der Vor-WendeZeit. Angesichts der Massenarbeitslosigkeit der frühen 1990er Jahre freuten sich viele Interviewte zwar über die erreichten politischen Freiheiten, sahen ihre Teilhabe an den Grundrechten aufgrund ihres Einkommens aber als eingeschränkt an. FAZIT Die schlechte Versorgungslage in der DDR während der 1980er Jahre und deren ständiger Abgleich mit den Konsummöglichkeiten in der Bundesrepublik prägten eine negative Erwartungshaltung in der Bevölkerung hinsichtlich der zukünftigen ökonomischen Entwicklung in der DDR. Zwar spielten für die aktive Teilnahme an den Demonstrationen wirtschaftliche Erwartungen im Gegensatz zu politischen eine untergeordnete Rolle; trotzdem hatten die »Markterfahrungen« sowie die Erlebnisse der DDR-Bevölkerung mit der Versorgung und der daraus resultierenden sozialen Ungleichheit einen entscheidenden Einfluss auf die Ereignisse der Jahre 1989/90. Die SED-Herrschaft konnte schon vor ihrem Zusammenbruch keinen positiven ökonomischen Zukunftshorizont mehr anbieten, der einen Großteil der Bevölkerung dazu motiviert hätte, zu ihrer Verteidigung auf die Straße zu gehen. Obwohl Helmut Kohl Medienberichten zufolge an sein Diktum von den »blühenden Landschaften«22 selbst nicht geglaubt habe, entfaltetet seine Zukunftsvorstellung doch eine machtvolle Wirkungskraft, da sie den Erfahrungen und Erwartungen vieler Bürgerinnen und Bürger der DDR entsprach.

Clemens Villinger, geb. 1984, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. In seiner Dissertation untersucht er die Rolle von alltäglichem Konsum in den Lebenswelten von Ostdeutschen vor, während und nach 1989/90. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Alltags- und Konsumgeschichte sowie Forschungen zur Wissens- und Kapitalismusgeschichte. Neben seiner Arbeit widmet er sich dem Verhältnis von zeitgenössischer Kunst und Geschichtswissenschaft.

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22  Vgl. Klaus Wiegrefe, Kohls Lüge von den blühenden Landschaften, in: Der Spiegel, 26.05.2018.

IMMER WIEDER MONTAGS WARUM WIR ÜBER EINE POPULISTISCHE »VOLKS«-ERINNERUNG REDEN MÜSSEN ΞΞ Ralph Jessen

Die Erinnerung an 1989 ist und bleibt umkämpft. Dabei herrscht an Wissen über die Geschichte dieses Jahres kein Mangel. Ebenso zuverlässig wie zum zwanzigsten Jahrestag werden wir auch zum dreißigsten Jahrestag der Ereignisse, die zum Zusammenbruch der SED-Diktatur und zum Ende der DDR geführt haben, mit neuen Studien und Sammelbänden rechnen können. Ob sie allerdings auch Neues zu berichten haben, wird sich zeigen. Aber ganz gleich, wie viele Details wir noch über die unerwarteten Wendungen jenes Jahres erfahren werden, »als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte«1: Weder wird dieses Wissen zu einem allseits geteilten Geschichtsbild noch zu einem nationalen Erinnerungskonsens führen. Unter den Bedingungen einer freien und pluralen Öffentlichkeit ist ein einheitliches Bild weder zu erwarten noch zu wünschen. Auch dreißig Jahre danach ist nicht erkennbar, dass die Sicht auf den Um1  So der Untertitel eines Bandes zum 20. Jahrestag: Klaus-Dietmar Henke (Hg.), Revolution und Vereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte, München 2009. 2  Zur »Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes ›Aufarbeitung der SED-Diktatur‹« siehe Martin Sabrow (Hg.), Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Debatte, Göttingen 2007; zum BStU siehe Deutscher Bundestag, 18. Wahlperiode, Bericht der Expertenkommission zur Zukunft der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU), Bundestagsdrucksache 18/8050, 05.04.2016, URL: http://dipbt.bundestag. de/doc/btd/18/080/1808050.pdf [eingesehen am 05.03.2019].

bruch von 1989 aus der Sphäre des kommunikativen und kollektiven in die des kulturellen Gedächtnisses übergeht, wo sie sich in Master narratives, nationalen Erinnerungsorten und einer kanonisierten Symbolik sedimentiert. Die anhaltende Symbolschwäche des »Tages der deutschen Einheit« zeigt dies ebenso wie die sich seit Jahren hinschleppende Diskussion um ein nationales Denkmal und die periodisch aufflammenden Auseinandersetzungen um die »Aufarbeitung der SED-Diktatur« oder die Zukunft des »Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes«.2 Anlässlich des zwanzigsten Jahrestages hatte Martin Sabrow im Hinblick auf 1989 drei dominierende Erinnerungsstränge unterschieden: Erstens die Revolutionserinnerung, die in der Formel von der »Friedlichen Revolution« zum Schlüsselbegriff der historischen Aufarbeitung und der staatlichen Geschichtspolitik geworden ist und in der Wendung von der »verratenen Revolution« zum Erinnerungsnarrativ einiger enttäuschter ehemaliger Bürgerrechtler gehört, die seinerzeit auf der Suche nach einem »Dritten Weg« waren. Zweitens die öffentlich weniger präsente, aber in den Neuen Bundesländern gesellschaftlich virulente Wendeerinnerung, welche die Ereignisse von 1989/90 als eher passiv erfahrenen, tiefgreifenden, zugleich verstörenden

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und die Zukunft öffnenden Umbruch deutet. Drittens die vor allem von Angehörigen der ehemaligen DDR-Eliten gepflegte Anschlusserinnerung, die das Ende der DDR als koloniales Ausgreifen des Westens interpretiert.3 Je länger die Ereignisse zurückliegen, desto klarer wird, dass wenigstens ein vierter Erinnerungsstrang hinzuzufügen ist: die populistische »Volks«-Erinnerung. Um Missverständnissen vorzubeugen: Damit ist keine irgendwie »authentische« Erinnerung »des Volkes« gemeint, sondern ein politisches Narrativ, das sich der 1989 revitalisierten Volkssemantik zur Identitätsstiftung und zur Legitimation populistischer Mobilisierung bedient. Dessen jüngste, spektakulärste und umstrittenste Erscheinungsform sind die »PEGIDA«-Aufmärsche. Aggressiv nutzen sie das Protestmuster der Montagsdemonstrationen und die Selbstermächtigungsformel von 1989: »Wir sind das Volk«. Auch wenn die mittlerweile zum lokalen Ritual geschrumpften Dresdner Kundgebungen wieder aus den Schlagzeilen verschwunden sind, bleibt doch die Frage, wie diese provokative Reminiszenz und ihre Wirkungsmacht zu deuten sind: Werden hier die Aktionsformen und Leitbegriffe der antidiktatorischen Bewegung gekapert und missbraucht? Oder besteht eine Verbindung zwischen Wiederaufführung und Original? Für viele Bürgerrechtsaktivisten des Jahres 1989 ist die Sache klar: »Ihr seid nicht das Volk! Ihr seid eine gespenstische Minderheit«, die eine »Verhunzung … der symbolträchtigen ­Signale dieser wunderbaren Emanzipationsbewegung« betreibt, schleuderte Friedrich Schorlemmer den »PEGIDA«-Anhängern entgegen.4 Andere ehemalige Oppositionelle schickten ihnen im Dezember 2014 einen empörten Weihnachtsgruß: »Ihr sprecht nicht für ’89 / Ihr sprecht für keine Freiheitsbewegung / Ihr seid deren Schande / Schämt euch.«5 Viel Erfolg hatte diese moralisierende Geisterbeschwörung indes nicht; und schaut man genauer hin, wird die Sache kompliziert. Bereits seit Mitte der 1990er Jahre werden das Protestmuster »Montagsdemonstration« und die »Volks«-Anrufung für unterschiedliche politische Anliegen genutzt, ab der Jahrtausendwende immer häufiger im Kontext rechtsradikaler Mobilisierung.6 Schon 2003 versuchte man deshalb in Leipzig, den Ruf »Wir sind das Volk« juristisch gegen eine rechtsextreme Vereinnahmung zu schützen. Ein Jahr später lebte dann die Protestwelle gegen »Hartz IV«, die vor allem in den ostdeutschen Ländern auf starke Resonanz stieß, von der Symbolik und Volksrhetorik der Montagsdemonstrationen. Während im Anti-Hartz-IV-Protest rechts- und linkspopulistische Motive aufeinandertrafen und die Bewegung auch wegen dieser inneren Widersprüche schnell zerfiel, verknüpft der »PEGIDA«-Protest seit 2014 doch das Formen- und Symbolrepertoire von 1989 nachhaltig mit autoritären, fremdenfeindlichen, antipluralistischen und ethnonationalistischen Inhalten.7 Konträr zur geschichtspolitisch

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3  Vgl. Martin Sabrow, Wem gehört »1989«?, in: Ders. (Hg.), Bewältigte Diktaturvergangenheit? 20 Jahre DDR-Aufarbeitung, Leipzig 2010, S. 9–20, hier S. 17–19. 4  Friedrich Schorlemmer, Ihr seid nicht das Volk!, in: der Freitag, 29.01.2015. 5  Zit. nach Maier, Anja, DDR-Oppositionelle über Pegida: »Jesus hätte gekotzt«, in: taz.de, 22.12.2014, URL: http://taz.de/!5025521/ [eingesehen am 05.03.2019]. 6  Vgl. Ralph Jessen, Die Montagsdemonstrationen, in: Martin Sabrow (Hg.), Erinnerungsorte der DDR, München 2009, S. 466–480. 7  Vgl. Felix Kramer, Die Anti-Hartz IV-Proteste im Sommer 2004 in Ostdeutschland. Akteure – Positionen – Mediendebatten, ungedr. BA-Arbeit, Köln 2017; Axel Philipps, »Weg mit Hartz IV!« Die Montagsdemonstrationen in Leipzig zwischen 30. August und 4. Oktober 2004, in: Berliner Debatte INITIAL, Jg. 16 (2005), H. 5, S. 93–104; Dieter Rucht u. Mundo Yang, Wer demonstrierte gegen Hartz IV?, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, Jg. 17 (2004), H. 4, S. 21–27; zu »PEGIDA«: Lars Geiges u. a., Pegida: Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft?, Bielefeld 2015; Samuel Salzborn, Pegida und die Renaissance völkischer Verschwörungsphantasien, in: Wolfgang Frindte u. a. (Hg.), Rechtsextremismus und »Nationalsozialistischer Untergrund«. Interdisziplinäre Debatten, Befunde und Bilanzen, Wiesbaden 2016, S. 359–366.

gestützten Revolutionserinnerung, die seit Anfang der 2000er Jahre in immer aufwendigeren und professionelleren Jahrestagfeiern den freiheitlich-demokratischen Charakter von 1989 inszeniert, hat sich so eine rechtspopulistische »Volks«-Erinnerung etabliert, welche die Erbschaft des vergangenen Umbruchs als symbolische Ressource einer Fundamentalopposition gegen die liberale Demokratie der Bundesrepublik in Stellung bringt. Selbstverständlich spielen hierbei Propaganda und bewusstes Kalkül einschlägiger Führungsfiguren der rechten Szene eine wichtige Rolle. Dass sie Resonanz finden konnten, und zwar in den östlichen deutlich stärker als in den west­ lichen Bundesländern, hat aber sowohl mit der Geschichte von 1989 als auch mit der des Vereinigungsprozesses als auch mit neonationalistischen Trends und der Glaubwürdigkeitskrise politischer Repräsentation in jüngster Zeit zu tun. Vier Aspekte scheinen besonders relevant, will man besser verstehen, warum sich der rechtspopulistische Protest in (Ost-)Deutschland immer wieder und nicht ohne Erfolg der Symbolsprache von 1989 bedient. Erstens spielt natürlich die Bedeutungsvielfalt des »Volks«-Begriffs eine Rolle, der durch die Demokratiebewegung in der DDR eine unerwartete Renaissance erfahren hat, nachdem er in der politischen Sprache der alten Bundesrepublik lange Zeit nur noch eine Nebenrolle gespielt hatte.8 »Volk« können die »kleinen Leute« sein, die »denen da oben« – den wirtschaftlichen, politischen oder kulturellen Eliten – gegenüberstehen. Es kann das souveräne »Staatsvolk« sein, das nach republikanischem Verständnis die Staatsgewalt in letzter Instanz legitimiert. Dieses kann, muss aber nicht identisch mit dem »Volk« sein, das die gedachte Gemeinschaft der Nation bildet. Und es kann das nach kulturellen, ethnischen, religiösen oder rassistischen Kriterien essentialistisch definierte »Volk« sein, das sich meist mit dem Anspruch der Höherwertigkeit von anderen »Völkern« abgegrenzt. Als die Leipziger Demonstranten 1989 »Wir sind das Volk« riefen, stellten sie sich als politischer 8  Klassisch zur Begriffs­ geschichte: Reinhart Koselleck u. a., Art.: Volk, Nation, Nationalismus, Masse, in: Otto Brunner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 7, Stuttgart 2004, S. 141–431; Ralph Jessen, Das Volk von 1989 als Praxis, Projektion und Erinnerungsort, in: Thomas Großbölting u. Christoph Lorke (Hg.), Deutschland seit 1990. Wege in die Vereinigungsgesellschaft, Stuttgart 2017, S. 33–50.

Souverän vor, welcher der SED-Diktatur die Legitimation absprach. Mit der Formel »Wir sind ein Volk« trat dann die nationale Konnotation in den Vordergrund, die den Vereinigungsprozess legitimierte. Die Vorstellung eines ethnisch homogenen Volkes war an der Oberfläche zunächst kaum sichtbar, zeigte ihre Virulenz aber schon in den rassistischen Pogromen der frühen 1990er Jahre und jüngst in der Welle fremdenfeindlicher Hetze und Gewalt gegen Migranten sowie in den Wahlerfolgen der AfD. Zweitens sollte man sich bei aller Hochschätzung der antidiktatorischen Herbstbewegung von 1989 ihrer Ambivalenzen bewusst sein. Wenn das souveräne Volk gegen die SED-Diktatur in Stellung gebracht wurde, schwang damit fast notwendigerweise eine antielitäre Bedeutung mit. Das entsprach Ralph Jessen  —  Immer wieder montags

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den diktatorischen Herrschaftsverhältnissen und wurde durch den Egalitarismus der DDR-Gesellschaft bestärkt. Zugleich begünstigte die kategorische Entgegensetzung von »Volk« und kommunistischer Herrschaftselite die Etablierung eines populären Opfernarrativs, das viele DDR-Bürger von der Notwendigkeit entlastete, sich mit ihrem eigenen Anteil an der Aufrechterhaltung des Regimes zu befassen. Und wo es nicht um Klassen oder Schichten, Generationen oder Statusgruppen, politische Richtungsentscheidungen und Interessenkonflikte geht, sondern um »das Volk«, gedeihen leicht Homogenitätsfiktionen und Einheitssehnsüchte. Die »Wir sind das Volk«-Formel bot neben der in der historischen Konstellation des Herbstes 1989 dominanten Selbstermächtigung des Souveräns gegenüber diktatorischer Herrschaft potenziell auch einem antiinstitutionalistischen, antipluralistischen und antielitären, kurz: einem populistischen Politikverständnis Raum. Fassbar wurde diese Dimension bereits Ende November, Anfang Dezember 1989, als sich die politische Stimmung in der DDR nach einer Welle von Enthüllungen über angebliche oder tatsächliche Korruptions- und Bereicherungspraktiken, Verschwörungen und Seilschaften in der politischen Führung schlagartig radikalisierte. Die Transparente der Leipziger Montagsdemonstrationen griffen die Herrschenden jetzt als »Volksbetrüger«, »Parasiten«, »Verräter« und »Schmarotzer« an, die »das Volk verachtet« hätten.9 Karsten Timmer hat die Welle antielitärer moralischer Empörung, die sich in den Parolen der Demonstrationen abzeichnete, mit der Phase der »großen Furcht« in der Französischen Revolution verglichen.10 Anders als 1789 ist es 1989 zwar nicht zur gewaltsamen Eskalation gekommen, aber das populistische Momentum war erkennbar. Vermutlich hat gerade die nationale Wendung der Ereignisse, die Ablösung »des Volkes« durch das national-integrative »eine Volk«, dazu beigetragen, diese Dynamik zu dämpfen. Drittens haben die »Vereinigungskrise« der 1990er Jahre, Massenarbeitslosigkeit und der Verlust einer sicheren Lebensperspektive, der Import der bundesrepublikanischen Institutionenordnung, der abrupte Elitenwechsel, der Aufstieg westlicher Wendegewinner sowie die manchmal höchst zweifelhaften Vorgänge bei der Privatisierung der ostdeutschen Wirtschaft dazu beigetragen, die Skepsis gegenüber staatlichen Institutionen und scheinbar abgehobenen politischen Akteuren zu verstärken. Die schockartige, unerwartete Umwälzung der eigenen Lebenswelt wurde nicht selten als Ergebnis undurchschaubarer Vorgänge gedeutet. In den »kollektiven Erinnerungsbildern« Leipziger Bürger zum Herbst 1989, die Susan Baumgartl aufgezeichnet und analysiert hat, bilden Berichte über angeblich »undurchsichtige und manipulative Machenschaften« ehemaliger Kader, die sich nach dem Mauerfall und

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1989 — Analyse

9  Vgl. die Sammlungen von Sprechchören und Transparenttexten in Wolfgang Schneider (Hg.), Leipziger Demontagebuch, Leipzig 1990; Bernd Lindner, Die demokratische Revolution in der DDR 1989/90, Berlin 1998 sowie die quantifizierende Übersicht bei Walter Heidenreich u. Michael Richter, Parolen und Ereignisse der Friedlichen Revolution in Sachsen. Eine quantitative Auswertung, Dresden 2009, S. 68–70. 10  Vgl. Karsten Timmer, Vom Aufbruch zum Umbruch. Die Bürgerbewegung in der DDR 1989, Göttingen 2000, S. 314.

im Kontext des Vereinigungsprozesses mit westlichen Profiteuren gegen die Interessen der kleinen Leute in der DDR verschworen hätten, ein starkes Erzählmotiv. »Clevere Funktionäre« hätten den »kleinen Leuten« auf unredliche Weise das »Volkseigentum … weggenommen« und ihre Schäfchen auch nach der Wende ins Trockene gebracht. Spiegelbildlich zur Erzählung vom betrügerischen und opportunistischen Wendehals gab es die Erzählung von »diesen ganzen Versagern aus dem Westen«, die nach 1990 in den Osten einfielen, um dort Karriere zu machen. Das Motiv des »betrogenen Volkes« wurde so in die unübersichtliche und chaotische Vereinigungsgesellschaft transferiert, konnte auf die postrevolutionären Eliten projiziert werden und stand fortan als griffige Erklärung eines außerordentlich komplexen und verwirrenden Transformationsprozesses zur Verfügung.11 11  Sämtliche Zitate dieses Abschnitts aus »Das ›betrogene‹ Volk: Machtlosigkeit und Benachteiligung im Systemwechsel« in dem Band von Susan Baumgartl, Der eigene Aufbruch, Kollektive Erinnerungsbilder Leipziger Bürger zum Herbst 1989, ­Leipzig 2015, S. 193–199.

Viertens wurde die populistische »Volks«-Erinnerung an 1989 durch das massenmediale Framing der postrevolutionären Konstellation und der OstWest-­Beziehungen begünstigt. Bundesrepublikanische Kommentatoren und Leitmedien tendierten in den 1990er Jahren nicht selten dazu, westliche Standards und Normalitätsvorstellungen unreflektiert zum Bewertungsmaßstab der ostdeutschen Verhältnisse zu machen, die ehemaligen DDR-Bürger zu exotisieren und ihre Haltungen, Kompetenzen und Prägungen als defizitär zu

12  Eines der bekanntesten Beispiele: Arnulf Baring, Deutschland, was nun?, München 1991.

zeichnen.12 Dass sich viele Ostdeutsche angesichts solch abwertender Alteritätsrhetorik als erniedrigt, »symbolisch desintegriert« und als »Bürger zweiter Klasse« empfanden, ist nicht verwunderlich.13 Komplementär wirkten die

13  Thomas Ahbe, Die diskursive Konstruktion Ostdeutschlands und der Ostdeutschen seit dem Beitritt der DDR. Medienbilder, Ostalgie und Geschichtspolitik. Ein Überblick, in: Ute Dettmar u. Mareile Oetken (Hg.), Grenzenlos. Mauerfall und Wende in (Kinder- und Jugend-)Literatur und Medien, Heidelberg 2010, S. 97–124, hier S. 112.

Deutungs- und Identifikationsangebote, die von jenen Massenmedien produziert wurden, die speziell an eine ostdeutsche Leserschaft adressiert waren und bei dieser auch auf große Resonanz stießen. Das prominenteste Beispiel: die SUPERillu. Die 1990 vom westdeutschen Burda-Verlag als »Blatt der Einheit« und »Stimme des Ostens« gegründete Wochenzeitschrift war die spektakulärste Medieninnovation auf dem Gebiet der neuen Bundesländer und in den frühen 1990er Jahren mit bis zu 900.000 verkauften Exemplaren zweifellos auch die erfolgreichste.14 Eine gründliche Analyse der von der SUPERillu

14  Vgl. Wolf-Sören Treusch, 25 Jahre SUPERillu. Das Sprachrohr des Ostens, Deutschlandfunk Kultur, 23.08.2015, URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/25-jahre-superilludas-sprachrohr-des-ostens.1076. de.html?dram:article_id=329035; Sonja Pohlmann, Blühendes Blatt, in: Der Tagesspiegel, 09.11.2009, URL: https://www.tagesspiegel. de/gesellschaft/medien/superillu-­ bluehendes-blatt/1629920.html [beide eingesehen am 05.03.2019].

verbreiteten Geschichtsnarrative steht bisher aus. Aber bereits die kursorische Durchsicht ausgewählter Hefte aus den frühen 1990er Jahren offenbart ein signifikantes Muster: Mit den grellen Stilmitteln des Boulevardjournalismus zeichnete die SUPERillu ein extrem dichotomisches und dramatisiertes Bild der Vergangenheit, in welchem die »normalen« DDR-Bürger, die sich notgedrungen mit den Verhältnissen arrangieren mussten, einer völlig verkommenen Herrscherclique ausgesetzt waren. Im Dauermodus der Skandalisierung und moralischen Empörung wurden Honecker und Co. als Bonzen, Heuchler, Lügner und Mauermörder porträtiert, deren heimliches Luxusleben allen Ralph Jessen  —  Immer wieder montags

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Maßstäben sozialistischer Moral hohnsprach. Zugleich kontrastiert das Blatt in umgekehrter Stereotypisierung die aufrechten und von den Umbrüchen des Wandels gebeutelten Ostdeutschen mit den arroganten und ignoranten Westdeutschen. Wie in einer Endlosschleife wurden Bilder der (ost-)deutschen Geschichte und Gegenwart vermittelt, die für ein populistisches Politikkonzept bruchlos anschlussfähig waren. All dies mindert die historische Bedeutung der Bürgerbewegung von 1989 um kein Jota. Auch können die angesprochenen Faktoren nicht den Aufschwung des Rechtspopulismus in den letzten Jahrzehnten erklären, der sich als gesamteuropäisches Phänomen ohnehin einer rein nationalgeschichtlichen Erklärung entzieht und dessen Genese und Entwicklung viel mehr mit den Folgen von Globalisierungsprozessen, den destruktiven Effekten ausgreifender Vermarktlichung, der Krise der Volksparteien, der abnehmenden Bindekraft der repräsentativen Demokratie und den desintegrierenden Effekten einer permanenten Medienrevolution zu tun haben als mit der Erbschaft von 1989 oder auch den langfristigen mentalen Folgen der SED-Diktatur. Indes können sie plausibler machen, warum populistische Mobilisierung vor allem in den ostdeutschen Ländern immer wieder und mit Erfolg auf den Symbolvorrat der Bürger­bewegung zurückgreifen konnte. Sie sollten aber auch Anlass sein, die Ambivalenz der »Volksbewegung« am Ende der SED-Herrschaft ernster zu nehmen. Mit der antidiktatorischen Wiederbelebung des Volksbegriffs wurde ein semantisches Feld reaktiviert, das durch die Protestgeschichte von 1989 vorderhand positiv aufgeladen war, das aber auch erlaubte, an ganz andere Begriffstraditionen anzuschließen. Anders, als man es angesichts der zeitgenössischen Kritik mancher Bürgerrechtler am überstürzten Übergang von der demokratischen zur nationalen Phase der ostdeutschen Revolution erwarten könnte, greifen rechte Populisten gerade nicht auf die Wendung von dem »einen« nationalen Volk zurück, sondern auf die Losung »Wir sind das Volk«. Die Aura von 1989 soll die pseudoplebiszitäre Frontstellung gegen die repräsentative Demokratie und die politischen und kulturellen Eliten legitimieren. Der historische Moment »des Volkes« als revolutionäres Subjekt war zwar schon im November 1989 vorbei, nicht aber die trügerische Magie der Volksanrufung.

Ralph Jessen, Dr. phil., Professor für Neuere Geschichtean der Universität zu Köln seit 2002. ­Arbeitsgebiete: Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts; ­Publikationen u. a.: Konkurrenz in der Geschichte. Praktiken – Werte – Institutionalisierungen, Frankfurt 2014; Transformations of Retailing in Europe after 1945, Farnham 2012 (hg. mit L. Langer); Voting for Hitler and ­Stalin. Elections ­under 20th Century Dictatorships, Frankfurt 2011 (hg. mit H. Richter).

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FREIHEITSREVOLUTION 1989 UND EINHEITSREVOLUTION 1990 EINE GESCHICHTE MANNIGFACHER PARADOXIEN ΞΞ Eckhard Jesse

Im Herbst 1989 brach die SED-Diktatur durch das indirekte Zusammenspiel von exit und voice, von Flucht- und Demonstrationsbewegung,1 wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Der »große Bruder« Sowjetunion, das »Vaterland aller Vaterländer«, war unter Michail Gorbatschow im Gegensatz zu früher keineswegs mehr zur militärischen Intervention bereit. Ohne diesen Konstellationswandel wäre es weder zur viel beschworenen »Wende« von der Diktatur zur Demokratie gekommen noch zum »Ende« der Deutschen Demokratischen Republik, wie sie sich wider jede Berechtigung bezeichnet hat. Nach dem Fall der Mauer hieß es dann auf den Straßen bald nicht mehr »Wir sind das Volk«, sondern »Wir sind ein Volk« – die Freiheitsrevolution ging binnen Kurzem in eine Einheitsrevolution über. Am 3. Oktober 1990, kein Jahr nach dem von den Granden gefeierten vierzigsten Jahrestag des »Arbeiter- und Bauernstaates«, gab es die DDR nicht mehr. Freiheits- und Einheitsrevolution hängen durch den bekundeten Willen der DDR-Bürger eng zusammen. Im ersten Teil dieses Textes kommt das Ende der SED -Diktatur zur Sprache – zum einen am Beispiel mutiger Bürgerrechtler, die den Boden für den Einsturz des Systems bereitet haben, u. a. Roland Jahn, Marianne Birthler, Joachim Gauck; zum anderen am Beispiel des Schicksals der DDR-Oberen Erich Honecker, Egon Krenz und Hans Modrow, die plötzlich abgehalftert wurden, sei es durch Kräfte aus den eigenen Reihen, sei es auf demokratisch legitimierte Weise. In beiden Fällen – bei den Bürgerrechtlern wie den Repräsentanten des Systems – handelt es sich um Personen aus der DDR . Im zweiten Teil, zeitlich mit dem Beginn der deutschen Einheit zusammenfallend, stehen zum einen, mit Blick auf die Währungsreform, Theo Wai1  Vgl. Albert O. Hirschman, Abwanderung, Widerspruch und das Schicksal der Deutschen Demokratischen Republik. Ein Essay zur konzeptionellen Geschichte, Jg. 20 (1992), H. 3, S. 330–350.

gel, Horst Köhler und Thilo Sarrazin im Vordergrund – ein aus heutiger Sicht merkwürdig anmutendes Dreigestirn –; zum anderen, mit Blick auf die außenpolitische Dimension, Helmut Kohl, Michail Gorbatschow und George Bush.

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Absehbar war die Zeitenwende dabei nicht. Wohl niemand konnte mit dem Abtreten des »realen Sozialismus« von der weltpolitischen Bühne innerhalb kürzester Zeit rechnen. Der Beitrag fragt nach der Rolle von Persönlichkeiten ebenso wie nach der von Strukturen. Er präsentiert eine Vielzahl von Paradoxien, die sich u. a. damit erklären lassen, dass die Intentionen wichtiger Entscheidungen den Wirkungen zuwiderliefen.

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ROLAND JAHN, MARIANNE BIRTHLER UND JOACHIM GAUCK In der diktatorischen DDR gab es Personen, die wider den Stachel der Macht gelöckt haben, und zwar mit höchst unterschiedlichen Mitteln und Zielen. War die oppositionelle Bewegung vor dem Mauerbau eher bürgerlich orientiert – sofern sie sich überhaupt artikulieren konnte –, so trat später, vor allem in den 1970er und 1980er Jahren, ein abrupter Wandel ein. Die wenigen Anhänger der alternativen Szene standen ungeachtet aller Kritik fest auf dem Boden eines wie auch immer zu interpretierenden Sozialismus, jedenfalls nach außen hin. Das Paradoxe: Viele Formulierungen oppositioneller Kräfte in ihren Samisdat-Organen 2 waren zwar systemimmanent gemeint, aber sie erwiesen sich als systemsprengend. Denn die Diktatur konnte eben keine grundlegenden Reformen in die Wege leiten, wie deren systemimmanente Kritiker dies wünschten. Das sozialistische Anliegen der SED-Kritiker führte obendrein zu gewissen Beißhemmungen der Obrigkeit, da nicht so einfach war, sie als 2  Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.), Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985–1989, Berlin 2002. Darin sind allerdings nur Texte aufgenommen worden, die stark menschenrechtliche Positionen widerspiegeln, wie der Herausgeber einräumt. Insofern ist der Band nicht ganz repräsentativ für die Anliegen alternativer Kräfte. Siehe jetzt auch, am Beispiel eines Organs: Peter Wensierski, Fenster zur Freiheit. Die radix-­ blätter. Untergrundverlag und -druckerei der DDR-Opposition, Halle (­Saale) 2019. 3  Dieser Punkt kommt in dem folgenden Buch etwas zu knapp weg: Christof Geisel, Auf der Suche nach einem dritten Weg. Das politische Selbstverständnis der DDR-Opposition in den 80er Jahren, Berlin 2005. 4  Karsten Timmer, Vom Aufbruch zum Umbruch. Die Bürgerbewegung in der DDR 1989, Göttingen 2000, S. 73. 5  Vgl. Hans Michael Kloth, Vom »Zettelfalten« zum freien Wählen. Die Demokratisierung der DDR 1989/90 und die »Wahlfrage«, Berlin 2000.

Feinde des Systems hinzustellen. Proteste wirkten also umso mehr, je weniger sie einen oppositionellen Jargon erkennen ließen. Im Grunde verstanden sich diejenigen, die aufbegehrten, auch gar nicht als »Opposition«, obwohl sie faktisch eine solche repräsentierten. Zwar beruhten die sozialismusnahen Konzeptionen zum Teil – dies konnte von Fall zu Fall höchst unterschiedlich sein – auch auf taktischen Vorsichtsmaßnahmen.3 Der Bielefelder Historiker Karsten Timmer leugnet aber pauschal jedwede sozialistischen Anflüge bei den Regimekritikern, ohne deswegen die sozialistische Tönung der Verlautbarungen zu bestreiten. Sein Erklärungsversuch für diese Paradoxie: »Die These, dass hinter diesen [sozialistischen] Bezügen keine innere Überzeugung stand, führt zu der Vermutung, dass es sich hierbei um eine eher taktische Verwendung des Begriffs handelte. […] Dies deckt sich mit zahlreichen Erklärungen von Beteiligten, die unisono darauf verweisen, dass der Begriff des Sozialismus vor allem als Vorbehalt gegen Kriminalisierung und Tabuisierung verwandt wurde.«4 Allerdings dürfte diese Position weit über das Ziel hinausschießen. Wie wäre sonst die weitgehende Isolation dieser Kräfte nach dem Mauerfall plausibel zu erklären? Und: Wohnt den späteren Erklärungen der Beteiligten nicht ebenso eine »taktische Verwendung« inne? Zahlreiche Oppositionelle etwa hatten als Kritiker der »bürgerlichen Demokratie« die Wahlfrage lange ausgeblendet. Dass das mit der geharnischten Kritik an der gefälschten Kommunalwahl 1989 anders aussah5 und gleich beim ersten Zusammentreten des Zentralen Runden Tisches am 7. Dezember 1989 die Kräfte in den neu gebildeten Gruppen auf unverzügliche Wahlen Eckhard Jesse  —  Freiheitsrevolution 1989 und Einheitsrevolution 1990

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pochten, ändert an diesem Sachverhalt nichts. Ungeachtet aller regionalen Unterschiede in der DDR – der Süden war viel aktiver als der Norden – spielte bei den hiesigen Oppositionellen die Orientierung an einem dritten Weg eine deutlich größere Rolle als in Polen und Ungarn. Die Existenz der Bundesrepublik erwies sich für Kritiker diesbezüglich als ambivalent: Einerseits hatten sie mit ihr einen Zufluchtsort, andererseits konnten Opponenten dorthin abgeschoben werden. Konkret stehen Joachim Gauck, Marianne Birthler und Roland Jahn, die drei »Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik«, so der offizielle Titel, für durchaus unterschiedliche Positionen, wie ihren Memoiren zu entnehmen ist.6 Roland Jahn, Jahrgang 1953, etwa hatte öffentlich gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns protestiert und war von der Universität Jena exmatrikuliert worden. Provokative Protestaktionen folgten, sodass er schließlich zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und später in den Westen ausgebürgert wurde. Von dort setzte Jahn seinen Kampf für DDR-Oppositionelle fort, bspw. über journalistische Mittelsleute. Marianne Birthler, Jahrgang 1948, in einer antikommunistischen Ostberliner Familie aufgewachsen, engagierte sich in der »Initiative Frieden und Menschenrechte« – der ersten oppositionellen Gruppierung außerhalb der Kirche, die 1985 gegründet worden war. Birthler war für Freiheit in der DDR , aber seinerzeit nicht für die deutsche Einheit. Innerhalb von gut sechs Monaten gehörte sie 1990 als Mitglied von Bündnis 90 der Volkskammer, dem Bundestag und dem Landtag von Brandenburg an. Aufsehen erregte 1992 ihr Rücktritt als brandenburgische Bildungsministerin, da sie eine Weiterarbeit unter Ministerpräsident Manfred Stolpe wegen dessen dubioser Vergangenheit nicht mehr verantworten wollte. Der Rostocker Joachim Gauck, Jahrgang 1940, war in der DDR mit seinem Protest deutlich zurückhaltender als Jahn und auch Birthler. Der evangelische Pastor gehörte zwar nicht zu den Fundamentaloppositionellen, machte den einen oder anderen Kompromiss mit der Staatsgewalt. Aber nach dem Zerfall der SED-Diktatur war sein Engagement bei der Aufarbeitung der Hinterlassenschaften umso stärker. Diese scheinbare Paradoxie erklärt sich u. a. wohl mit Gaucks Skepsis gegenüber sozialistischen, nicht auf die Einheit Deutschlands ausgerichteten Positionen. Die Dissidenten in der DDR – allerdings nicht nur sie – vernachlässigten insgesamt neben der Wahlfrage auch die deutsche Frage. Sie bedienten sich zwar seiner Medien, wünschten aber keine Einmischung des Westens. Die Teilung wurde nicht infrage gestellt, es sei denn durch ein Plädoyer für den

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6  Siehe Joachim Gauck, Winter im Sommer – Frühling im Herbst. Erinnerungen, München 2009; Marianne Birthler, Halbes Land – ganzes Land – ganzes Leben. Erinnerungen, München 2014; Roland Jahn, Wir Angepassten. Überleben in der DDR, München 2014.

beiderseitigen Austritt aus den Militärblöcken.7 Charakteristisch ist dafür der öffentlichkeitswirksame Aufruf »Für unser Land«, verfasst drei Wochen nach dem Fall der Mauer und unterzeichnet von bekannten Bürgerrechtlern wie Ulrike Poppe, Friedrich Schorlemmer oder Konrad Weiß. Darin heißt es u. a.: »Noch haben wir die Chance, in gleichberechtigter Nachbarschaft zu allen Staaten Europas eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln.«8 Was so nicht abzusehen war: Der Niedergang des bekämpften Systems bedeutete zugleich den Niedergang der DDR-Oppositionellen. ERICH HONECKER, EGON KRENZ UND HANS MODROW Die SED-Politiker wähnten sich in ihrer Machtstellung so lange sicher, wie die Sowjetunion an ihrer Seite stand: Die Breschnew-Doktrin garantierte ihre Existenz. Der 17. Juni 1953 war für die Herrschenden ein beständiges Trauma – am 31. August 1989, nach Einsetzen der Flüchtlingswelle, fragte Erich Mielke einen Obersten der Staatssicherheit ahnungsvoll: »Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?«9 Die politische Führung lehnte den Auf­ lockerungsprozess in der Sowjetunion unter Michal Gorbatschow ab, da sie zu Recht befürchtete, damit die eigene Machtbasis zu untergraben. Insofern ist der stereotype Vorwurf, der Starrsinn der alten Riege habe das Ende des Systems beschleunigt, so nicht haltbar. Es war gerade umgekehrt: Wo grundlegend reformiert wurde (etwa in Polen und Ungarn), brach der Kommunismus zuerst zusammen. Hart formuliert: Gorbatschow war der Totengräber des Kommunismus wider Willen. In der Endphase der diktatorischen DDR lag deren Schicksal in der Hand dreier SED-Politiker: Erich Honecker, Egon Krenz und Hans Modrow. Zwar erklärte Honecker, gesundheitlich stark angeschlagen, noch am 14. August 1989: »Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf.«10 Aber 7  Die Akzente setzt anders Andreas Apelt, Die Opposition in der DDR und die deutsche Frage 1989/90, Berlin 2009. 8  Aufruf. Für unser Land, zit. nach Neues Deutschland, 29.11.1989, S. 2 (Herv. i. Orig.). 9 

Zit. nach Armin Mitter u. Stefan Wolle (Hg.), »Ich liebe euch doch alle!« Befehle und Lageberichte des MfS Januar–­November 1989, Berlin 1990, S. 12. 10  Zit. nach Neues Deutschland, 15.08.1989.

schon während der angespannten Feierlichkeiten zum vierzigsten Jahrestag der DDR mit Demonstrationen, als er diesen Spruch im Beisein G ­ orbatschows wiederholt hatte, schwebte das Damoklesschwert über ihm. Egon Krenz, der lange als »Kronprinz« galt, avancierte am 18. Oktober 1989 zum Nachfolger Honeckers, der aus »gesundheitlichen Gründen« seine Ämter niedergelegt hatte. Sein wenig glaubwürdiger Versuch als Generalsekretär des ZK der SED, eine »Wende« zu proklamieren und sich an die Spitze der Bewegung

zu stellen, war zum Scheitern verurteilt – zumal nach dem Fall der Mauer am 9. November. Durch den Rücktritt des Politbüros der SED mit Krenz an der Spitze am 3. Dezember 1989 ging die Macht auf den bereits seit Mitte November amtierenden Ministerpräsidenten Hans Modrow über. Aber auch dessen Initiative Eckhard Jesse  —  Freiheitsrevolution 1989 und Einheitsrevolution 1990

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vom 1. Februar 1990 (»Für Deutschland, einig Vaterland«), mit der er die Flucht nach vorn antreten wollte, war kein Erfolg beschieden. Am 5. Februar 1990 gelang ihm zwar ein Coup durch die Einbeziehung jener oppositionellen Kräfte, die eine gewisse Nähe zu einer Reform des Sozialismus erkennen ließen, in seine »Regierung der nationalen Verantwortung«. Doch nach der ersten und letzten demokratischen Volkskammerwahl am 18. März verschwand der niemals demokratisch Legitimierte von der Macht. Die PDS ging als Nachfolgepartei der SED mit deren einstigen Größen unterschiedlich um. Dem Ausschluss Honeckers aus der Partei folgte die Kündigung seiner Wohnung in Wandlitz und die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens, schließlich seine (wegen Haftunfähigkeit bald ausgesetzte) Festnahme. Ausgerechnet ein Pastor, dessen Kinder in der DDR nicht hatten studieren können, nahm Honecker auf. Dessen weitere Odyssee entbehrt nicht tragikomischer Züge: Flucht in die Sowjetunion, dann in die dortige chilenische Botschaft, Auslieferung an die Bundesrepublik, Justizvollzugsanstalt Moabit, Anklagerhebung, Einstellung des Verfahrens wegen schwerer Krankheit, Ausreise nach Chile, wo Honecker 1994 schließlich verstarb. Während Krenz ebenso aus der Partei ausgeschlossen wurde, avancierte hingegen Modrow, später Mitglied des Bundestages und des Europaparlamentes, zum Ehrenvorsitzenden der PDS. Nach dem Fall der Mauer änderten die Demonstrationen (nunmehr: »Wir sind ein Volk«) ihren Charakter. Die Oppositionellen, die so mutig den Alleinvertretungsanspruch der SED infrage gestellt hatten, gerieten jetzt ins Hintertreffen. Sie wollten mehrheitlich – wie erwähnt – eine »andere DDR«. Damit standen sie in einer paradoxen Nähe zur PDS, die sich nun ebenso einem dritten Weg verpflichtet fühlte. Gregor Gysi als neuer Vorsitzender der PDS veröffentlichte zur Erläuterung des Parteiprogramms eigens einen »Wir

brauchen einen dritten Weg«-Band.11 Dieser Weg bezog sich auf eine unausgegorene Mischung aus Kapitalismus und Sozialismus. Vor allem ging es zunächst um den Erhalt einer reformierten, eigenständigen DDR; doch war dieser Zug längst abgefahren. Lebensgeschichtliche Gegensätze verhinderten zudem das Zusammenspiel der PDS mit den Kräften aus der Opposition – es bestand eine »Kommunikationsbarriere«12. Von unterschiedlichen Deutungsmustern und unterschiedlicher Sozialisation geprägt, haben Reformkommunisten und Oppositionelle, heißt es, »den historischen Augenblick verpasst, in dem vielleicht mehr möglich gewesen wäre als der Sturz des alten Regimes«13. Dies dürfte freilich eine Chimäre sein – selbst wenn das wechselseitige Spannungsverhältnis ignoriert wird, stießen derartige Reform-Positionen bei der Bevölkerung doch lediglich auf marginalen Zuspruch.

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11  Siehe Gregor Gysi (Hg.), Wir brauchen einen dritten Weg. Selbstverständnis und Programm der PDS, Hamburg 1990. 12  So Rainer Land u. Ralf Possekel, Fremde Welten. Die gegensätzliche Deutung der DDR durch SED-Reformer und Bürgerbewegung in den 80er Jahren, Berlin 1998, S. 7. 13 

Ebd., S. 210.

Heute ist kaum noch vom dritten Weg der Oppositionellen die Rede. Die normative Kraft des Faktischen – nicht nur das Ende der DDR , sondern auch das Ende der Sowjetunion – hat maßgeblich den Wandel begünstigt. Was einst lange nicht vorstellbar schien, war abrupt eingetreten: das Ende der Diktatur, weithin friedlich. Der analoge Wandel bei den einstigen Oppositionellen dürfte stärker der Einsicht, weniger dem Opportunismus geschuldet sein. Allerdings gibt es manche Bürgerrechtler, die ebendiesen Vorwurf erheben.14 Die alternativen Kräfte strebten mehrheitlich einen besseren Sozialismus an und bewirkten eine Revolution; sie wollten eine Reform des eigenen Staates und beschleunigten seinen Untergang. Gewiss: Die alternativen Gruppen, die gegen das DDR-Regime offen aufbegehrten, wiesen keine Homogenität auf. Was sie im Kern zusammenhielt, war die Orientierung an einem diffus interpretierten dritten Weg. Sie wussten sich darin einig, was sie nicht wollten (nämlich die SED-Diktatur), aber nicht darin, was sie wollten. Nach dem Fall der Mauer traten größere politische Differenzen hervor, die entweder vorher verdeckt geblieben waren oder sich erst als eine Folge der Revolution ergaben. Die Masse der Bürgerrechtler nahm allmählich Abstand von dezidiert linken Positionen. Nach der friedlichen Revolution kehrte bei einem beträchtlichen Teil der ostdeutschen Oppositionellen ob des mangelnden Realitätsgehalts der eigenen Maximen schnell eine Akzeptanz der parlamentarischen Demokratie und der deutschen Einheit ein. THILO SARRAZIN, HORST KÖHLER UND THEO WAIGEL Die SED-Diktatur war nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich am Ende – wiewohl dies dem westdeutschen Establishment angesichts manipulierter Zahlen in dieser Dimension anfangs so nicht voll bewusst war. Nach dem 9. November 1989 siedelten viele DDR-Bürger in die Bundesrepublik Deutschland über. Die Gefahr eines Ausblutens der DDR war groß. Dem musste Einhalt geboten werden, und zwar aus Sicht der Verantwortlichen in beiden deutschen Staaten. Als Väter der ökonomischen Vereinigung kommen drei Personen aus dem Bundesfinanzministerium infrage: ein Referatsleiter, ein beamteter Staatsekretär und der Finanzminister. Wer bei Google deren Namen eingibt, stellt 14  Siehe etwa Bernd Gehrke u. Wolfgang Rüddenklau (Hg.), … das war doch nicht unsere ­Alternative. DDR-Oppositionelle zehn Jahre nach der Wende, Münster 1999; Bernd Gehrke (Hg.), Die alternative DDR. Dokumente der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 2016.

fest, dass der damalige Referatsleiter mehr Nennungen (550.000) aufweist als der Staatssekretär (368.000) und dieser wiederum mehr als der Minister (145.000). Dieser paradoxe Befund erklärt sich schnell bei der Erwähnung der drei Namen: Thilo Sarrazin, später Autor des umstrittenen Bestsellers »Deutschland schafft sich ab«, Horst Köhler, Bundespräsident von 2004 bis 2010, und Theo Waigel, Bundesfinanzminister von 1989 bis 1998. Eckhard Jesse  —  Freiheitsrevolution 1989 und Einheitsrevolution 1990

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Zunächst war für die Währungsunion eine Art Stufenplan ins Auge gefasst worden, um finanzielle Risiken abzufedern. Sarrazin, zum Leiter des Referats »Nationale Währungsfragen« ernannt, arbeitete mehrere Konzepte aus, die auf eine Währungsunion an einem Tag setzten15 – entgegen der herrschenden Lehrmeinung, die vor hohen Transferleistungen warnte. Sarrazin war einerseits davon überzeugt, dass sich nur auf diese Weise eine Massenflucht in den Westen verhindern ließe, und sich andererseits der damit verbundenen Risiken bewusst, etwa einer hohen Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern. Am 26. Januar erhielt Sarrazin, inzwischen Leiter einer abteilungsübergreifenden Arbeitsgruppe zur Währungsunion, von Köhler den Auftrag, die Überlegungen im Finanzministerium schriftlich zu fixieren. »Meinen Vermerk habe ich am 29. Januar fertiggestellt und meinem Staatssekretär Horst Köhler übergeben. Der gab ihn dann weiter an Finanzminister Theo Waigel. Dann fiel die interne politische Entscheidung zwischen dem Bundeskanzler und dem Finanzminister einen Tag später.«16 Die Öffentlichkeit erfuhr bald davon. Was wie Selbstbespiegelung aussehen mag, trifft in der Sache zu, wie etwa Köhler bestätigt hat.17 Auch in dem Standardwerk Dieter Grossers über das Wagnis der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion wird Sarrazins Beitrag eingehend gewürdigt.18 Gewiss: Die Währungsunion basierte nicht auf einem Alleingang Sarra­ zins; aber seine aktive Rolle lässt sich schwerlich bestreiten, ungeachtet mancher Übertreibungen aufgrund seines übersteigerten Selbstbewusstseins. »Bis zur Unterschrift unter den Vertrag zur Währungsunion lief ohne mich kein Schritt.«19 Im Nachhinein beklagt Sarrazin das Restitutionsprinzip (Rückgabe vor Entschädigung), das Investitionen gebremst habe. Das Paradoxe war die Dynamik durch einen Sozialdemokraten – eine gewisse Skepsis blieb im Finanzministerium daher nicht aus. Gleichwohl wurde Sarrazin im Oktober 1990 zum Leiter der Unterabteilung Treuhandanstalt befördert, ehe ihn die SPD-geführte rheinland-pfälzische Landesregierung 1991 zum Staatssekre-

tär ins Finanzministerium berief. Nicht nur die Bundesbank war über diese politische und finanziell äußerst riskante Entscheidung irritiert, sondern auch Oskar Lafontaine, der stark postnational eingestellte sozialdemokratische Kanzlerkandidat, der in der Währungsunion eine riesige Hypothek für die bundesdeutsche Wirtschaft sah. Lafontaine ließ sogar ein Rechtsgutachten zur Einschränkung der Freizügigkeit für Übersiedler in Auftrag geben; doch angesichts erheblicher Proteste in den eigenen Reihen ging er danach selbst auf Distanz dazu. »Lafontaines Konzept entsprang einer für die neuen Milieus der Bundesrepublik

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15  Vgl. dazu ausführlich Thilo Sarrazin, Die Entstehung und Umsetzung des Konzepts der deutschen Wirtschafts- und Währungsunion, in: Theo Waigel u. Manfred Schell (Hg.), Tage, die Deutschland und die Welt veränderten. Vom Mauerfall zum Kaukasus. Die deutsche Währungsunion, München 1994, S. 160–225. 16  Thilo Sarrazin zit. nach Arvid Kaiser u. Nils-Viktor Sorge, Billionentransfers waren einkalkuliert (Interview mit Thilo Sarrazin), in: manager-magazin.de, 01.07.2010, URL: http://www. manager-magazin.de/politik/ artikel/a-703860–3.html [eingesehen am 02.04.2019]. 17  Siehe Horst Köhler, Alle zogen mit, in: Theo Waigel u. Manfred Schell (Hg.), Tage, die Deutschland und die Welt veränderten. Vom Mauerfall zum Kaukasus. Die deutsche Währungsunion, München 1994, S. 120 f. 18  Siehe Dieter Grosser, Das Wagnis der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Politische Zwänge im Konflikt mit ökonomischen Regeln, Stuttgart 1998, insbes. S. 159–173. 19  »Es war keiner da, dem etwas einfiel …« Die deutsch-deutsche Währungsunion 1990. Thilo Sarrazin im Gespräch mit Jens Schöne, in: Deutschland Archiv, Jg. 48 (1990), H. 3, S. 419–425 (Zitat: S. 422).

charakteristischen Mischung aus Postnationalismus und inidvidualisiertem, zugleich sozialstaatlich rückversichertem Wohlstandsdenken. In deutschlandpolitischer Hinsicht aber war es 1990 – auch in der SPD – schlicht nicht mehrheitsfähig.«20 Die Währungsunion war nun nicht mehr aufzuhalten. Horst Köhler übernahm in den deutsch-deutschen Gesprächen zunächst die Verhandlungsführung auf westdeutscher Seite, ehe diese Aufgabe dann an Hans Tietmeyer – Köhlers Vorgänger im Finanzministerium – überging, da Köhler sich intensiv um die Europäische Währungsunion zu kümmern begann. Der Staatsvertrag sah die Zahlung von Löhnen, Renten und Mieten im Verhältnis von 1:1 vor sowie die Umstellung von Guthaben und Schulden im Verhältnis von 2:1. Das mochte unter ökonomischen Gesichtspunkten zwar heikel gewesen sein, war aber politisch sinnvoll, um nicht bei der jahrzehntelang ohnehin benachteiligten DDR-Bevölkerung großen Missmut zu ernten. In den parlamentarischen Gremien herrschte denn auch weithin Konsens bei der Annahme des Vertrages zur Währungsunion, der die innenpolitischen Weichen für die Einheit stellte. Selbst eine klare Mehrheit der SPD -Abgeordneten stimmte im Juni 1990 dem Vertrag zu, im Bundesrat ebenso die Mehrheit der SPD -geführten Länder, mit Ausnahme Niedersachsens und des Saarlandes. HELMUT KOHL, MICHAIL GORBATSCHOW UND GEORG BUSH Der deutsche Regierungschef, der sowjetische Generalsekretär des Zentralkomitees und der US-Präsident fanden nach einigem Hin und Her den Konsens, die Wiedervereinigung Deutschlands zu befürworten und sie auch umzusetzen. Das war angesichts sowjetischer Vorbehalte anfangs keineswegs zu erwarten gewesen, zumal keine Vereinigung unter westlichen Vorzeichen. Die Bundesregierung unter Helmut Kohl hielt sich bis zum Mauerfall mit der Kommentierung der Protestdemonstrationen in der DDR weithin zurück; um nicht Öl ins Feuer zu gießen, mahnte sie lediglich Reformen an. Eine Destabilisierung der DDR sei nicht beabsichtigt. Doch am 28. November folgte ein »Paukenschlag« des Kanzlers, dem Fortune beschieden war. Mit dem überraschenden Alleingang seines Zehn-Punkte-Programms – nur die USA waren zuvor informiert, aber nicht konsultiert worden – ging die Initiative auf Helmut Kohl über. Der Punkt zehn des Stufenplanes für die deutsche 20  Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982–1990, München 2006, S. 680.

Einheit, allerdings ohne jede Terminierung, lautete: »Die Wiedervereinigung, das heißt die Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands, bleibt das politische Ziel der Bundesregierung.« Stieß Kohls Plan in Washington auf Zustimmung, so war dies nicht bei allen Regierungschefs der Europäischen Eckhard Jesse  —  Freiheitsrevolution 1989 und Einheitsrevolution 1990

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Gemeinschaft der Fall. Er habe, schrieb Kohl später, »niemals einen EG-­Gipfel in so eisiger Atmosphäre«21 erlebt wie jenen am 8. Dezember 1990. Gegen die Selbstbestimmung Deutschlands ließ sich allerdings schwerlich ein überzeugendes Argument finden. Der – abermals paradoxe – Befund: Befreundete Länder wie Frankreich mit seinem sozialistischen Staatspräsidenten François Mitterrand oder Großbritannien mit seiner konservativen Premierministerin Margaret Thatcher meldeten zeitweise größere Skepsis an als die Sowjetunion unter ­Gorbatschow – offenbar aus Angst vor einem zu starken Deutschland. Hingegen standen die USA unter ihrem Präsidenten George Bush an der Seite der Deutschen; allerdings nur unter der Voraussetzung eines im westlichen Verteidigungsbündnis verbleibenden Deutschland. Die deutsche Bündnistreue, etwa beim umstrittenen NATO-Nachrüstungsbeschluss Anfang der 1980er Jahre, und der glaubwürdige Verzicht auf eine »Schaukelpolitik« zahlten sich aus. Ein weiterer bemerkenswerter Befund: Hieß es vor 1990, die deutsche Einheit könne lediglich eine Folge der europäischen Einheit sein, wurde nach 1990 diese durch die deutsche Einheit forciert, um Deutschland einzubinden. So ließ sich die deutsche Einheit international abfedern. Vielleicht ist eine europäische Währung eine indirekte Voraussetzung für das Plazet Frankreichs zur Einheit gewesen. Gorbatschow hat sich schließlich nicht gegen die Einbindung des vereinigten Deutschland in den Westen gestemmt, weil er – so die wohlwollende Interpretation von William Taubman in seiner Gorbatschow-Biografie – den Westen gebraucht habe, vom Selbstbestimmungsrecht überzeugt gewesen sei und die Hauptargumente des Westens schließlich geteilt habe: »dass ein vereintes Deutschland nicht ›in einer Situation bleiben durfte, die vergleichbar mit der von 1918 war‹; dass ein vereintes Deutschland im Warschauer Pakt ›unmöglich‹ war; dass eine deutsche NATO-Mitgliedschaft in der Tat keine Gefahr für die sowjetische Sicherheit war; dass – ›am wichtigsten‹ – Deutschland selbst, vertreten sowohl durch die west- als auch ostdeutsche Regierung, ›in die NATO eintreten wollte‹«22. Warum Gorbatschow nicht die »deutsche Karte« gespielt und nicht auf ein Zerwürfnis zwischen Deutschland und dem Weißen Haus gesetzt hat, wie seinerzeit Stalin mit seiner berühmten Note aus dem Jahr 1952, oder angesichts der maroden Lage des Landes nicht wenigstens in finanzieller Hinsicht aktiv(er) wurde, ist nach wie vor ein Rätsel. Vielleicht fehlte ihm ein gerüttelt Maß an konzeptionell-strategischem Denken. Zudem: Die gute Chemie zwischen ihm und Kohl dürfte neben der Erwartung wirtschaft­l icher Hilfe ebenso zu Gorbatschows Entgegenkommen beigetragen haben.23 Dass Kohl 1986 in

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21  Helmut Kohl, »Ich wollte Deutschlands Einheit«, dargestellt von Kai Diekmann und Ralf Georg Reuth, Berlin 1996, S. 195. 22  William Taubman, Gorba­ t­schow. Der Mann und seine Zeit. Eine Biographie, München 2018, S. 651 (die Zitate im Zitat stammen von Gorbatschow). 23  Vgl. Rafael Biermann, Zwischen Kreml und Kanzleramt. Wie Moskau mit der deutschen Einheit rang, Paderborn u. a. 1997.

einem Newsweek-Interview Gorbatschow mit Goebbels verglichen und dadurch diplomatisches Porzellan zerschlagen hatte, war mittlerweile vergessen. So konnte der Zwei-plus-Vier-Vertrag unter Dach und Fach gebracht werden – der »Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland«, der die Nachkriegsordnung beendete. Unterzeichnet am 12. September, trat er am 15. März 1991 in Kraft, also erst nach der Wiedervereinigung. Der Vertrag ist als Grenz- und Friedensvertrag ein »Souveränitätsvertrag«, ohne dass dieser Terminus auftauchen würde.24 Als Folge des Vertrages verließen 1994 die letzten sowjetischen Truppen Deutschland, ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. NACH DREISSIG JAHREN Mittlerweile ist seit dem so wunderlichen wie wundersamen Jahr 1989 die Zeit einer Generation verstrichen. Dabei kommen die damaligen Vorgänge denen, die sie miterlebt haben, so vor, als hätten sie sich gerade erst ereignet. Wohl jeder weiß, wo er am 9. November war, als die Berliner Mauer fiel – unerwartet und in dieser Form keineswegs beabsichtigt. Es wäre verkehrt, aus den vorangegangenen Überlegungen einer personalistischen Sichtweise das Wort zu reden. Aber auch das Gegenteil – eine ausschließlich strukturalistische Per­spektive – stimmt so keineswegs. Es musste Personen geben, die den Kairos zu nutzen verstanden und Chronos außer Kraft setzten. Einige von ihnen fanden Erwähnung. Heute wohnen auf dem Gebiet der einstigen DDR mehr als zwei Millionen Menschen weniger als vor dreißig Jahren. Und zwischen 1949 und 1989 haben etwa drei Millionen Bürger die DDR verlassen. Der Abwanderungsprozess ist mittlerweile zwar nahezu gestoppt, aber zunehmend macht nun die Überalterung dem Osten zu schaffen. Die neuen Verhältnisse gemeistert zu haben, ist eine beträchtliche, nicht immer hinreichend gewürdigte Lebensleistung der 24  Vgl. Christoph-Matthias Brand, Souveränität für Deutschland. Grundlagen, Entstehungsgeschichte und Bedeutung des Zwei-plus-Vier-Vertrages vom 12. September 1990, Köln 1993. 25  Siehe die beiden unterschiedlichen Stellungnahmen zweier sächsischer Politikerinnen: Petra Köpping, Integriert doch erst mal uns! Eine Streitschrift für den Osten, Berlin 2018; Antje Hermenau, Ansichten aus der Mitte Europas. Wie die Sachsen die Welt sehen, Leipzig 2019.

Ostdeutschen. Ihnen wird nicht gerecht, wer diesen Sachverhalt bestreitet.25 Selbstverständlich ist auch nicht, dass es – anders als etwa in Belgien, Frankreich, Großbritannien oder Spanien – keinerlei sezessionistische Anflüge gibt. Selbst der schärfste Kritiker der deutschen Einheit strebt keine Abspaltung des Ostens vom Westen oder des Westens vom Osten an. Bei allen Spannungen zwischen Ost und West steht fest, selbst wenn sie zum Teil kultiviert und geschürt werden: Gewisse innerdeutsche Unterschiede sind unübersehbar, erkennbar an der politischen Kultur, am Parteiensystem, an den Themen Patriotismus, Deutschland und Europa. Manche dieser Unterschiede sind sozialisationsbedingt, hervorgerufen durch die Zeit vor 1990, andere situationsbedingt, gegründet in der Zeit nach 1990. Maßstab für die Eckhard Jesse  —  Freiheitsrevolution 1989 und Einheitsrevolution 1990

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Bewertung können dabei nicht ausschließlich die Maximen der westdeutschen Gesellschaft sein. Denn dadurch wird legitime Vielfalt ignoriert. »Den« Osten gibt es ohnehin nicht. Ähnlich sind sich beide Teile Deutschlands im grassierenden Konsens­ denken. Eine offene Streitkultur ist hier wie da nicht vorhanden – wiewohl die ostdeutsche »Konsenskultur« andere Gründe hat als die im Westen. Wer von »alternativlosen« Entscheidungen spricht, muss sich folgender rhetorischer Frage bewusst sein: Was ist alternativlos? Mutige Anstöße zu mehr Aufbruch sind nicht anstößig. Wer einen demokratischen Minimalkonsens verficht, kann gerade deshalb für offenen Dissens eintreten. Der überschießende Gesinnungsmoralismus bei der Beurteilung von Sachverhalten entspringt oft keiner Verantwortungsethik. Dem Revolutionsjahr 1989 kommt – weltweit gesehen – vielleicht der gleiche Zäsurcharakter zu wie dem Revolutionsjahr 1789. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Ländern glückte eine friedliche Revolution. Zerbrach als Folge der Revolution der eine oder andere Staat (wie etwa die Tschechoslowakei), so verlief der Prozess in Deutschland umgekehrt. Die Vereinigung zweier völlig unterschiedlicher Gesellschaftssysteme von heute auf morgen war ein präzedenzloser Vorgang. Vor diesem Hintergrund muss das Urteil ungeachtet einiger Defizite im politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Bereich lauten, wenngleich ohne jeden Anflug von Triumphalismus: Die Geschichte der Revolution wie die der Einheit ist – alles in allem betrachtet – eine deutsche Erfolgsgeschichte! »Das« Ausland, das vielfach bewundernd nach Deutschland blickt, kann denn auch nicht recht den hiesigen Missmut begreifen, der dann und wann auflebt. Betont wird bei uns weniger das Erreichte als das Noch-nicht-Erreichte, das Misslungene eher als das Gelungene. Dabei war nicht jede »verpasste Chance« eine solche. Der Mythos um die erwähnte Stalin-Note vom 10. März 1952 mit dem Angebot eines neutralen Deutschland ist dafür ein treffendes Beispiel.

Prof. Dr. Eckhard Jesse, geb. 1948, ist Politikwissenschaftler sowie Extremismusforscher und h ­ atte von 1993 bis 2014 den Lehrstuhl für Politische Systeme und Politische Institutionen an der Technischen Universität Chemnitz inne.

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EINE HISTORISCHE ZÄSUR DIE AKTUALISIERUNG DER NATION DURCH 1989 ΞΞ Tilman Mayer 200 Jahre nach der Französischen Revolution, in welcher der dritte Stand die Nation allein zu repräsentieren beanspruchte, hat mit der Friedlichen Revolution in Deutschland ebenfalls eine Bewegung von unten die Herrschafts­ verhältnisse umgestürzt. Die im Herbst 1989 auf Demonstrationen in der DDR ausgerufenen Protestparolen »Wir sind das Volk« und »Wir sind ein Volk« sind Formeln revolutionärer Art und haben die demokratische und nationale Frage auf die Tagesordnung in Deutschland gesetzt. Die nationale Frage war Jahrzehnte ungelöst; sie war entstanden als Ergebnis der Auseinander­ entwicklung der Sieger des Zweiten Weltkriegs, die Deutschland besetzt und in der Konsequenz geteilt hatten. Die Einheit der deutschen Nation wiederherzustellen, war erklärtes Ziel westdeutscher Regierungen. Die Präambel des Grundgesetzes transportierte dieses Staatsziel. Allerdings muss das, was verfassungsrechtlich aufgegeben ist, auch von den Bürgern mitgetragen werden. Im Laufe der Jahrzehnte ging dieser Wille zur Wiederherstellung des deutschen Nationalstaates in manchen akademischen Kreisen verloren. Unter diesen Politikern und Publizisten entwickelte sich die fixe Idee, dass die Teilung Deutschlands der Preis sei, den die Deutschen für den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust zu bezahlen hätten. Andere sprachen davon, dass der Friede in Europa nur mit der Teilung Deutschlands gewahrt werden könne. Eine dritte Argumentationslinie besagte, dass wir in Europa aufgrund des europäischen Integrationsprozesses in eine postnationale Ära eingetreten seien, in der ohnehin Nationalstaaten, vom Format und von der Kompetenz her gesehen, keine Rolle mehr spielten. Diese verschiedenen Argumentationsfiguren verstellten mit moralischen Bedenken und friedenspolitischen Vorwürfen jedoch den Blick auf die Realität. Mithin gehörte zur Lebenslüge von Teilen der politischen Repräsentanz West-Deutschlands, mit der deutschen Nation abgeschlossen zu haben. Aus fortschrittlich-postnationaler Sicht war das Denken in nationalstaatlichen Kategorien gefährlich, rückständig und schlicht nicht mehr zeitgemäß. Eine schwierige Lage für eine politische Kultur, wenn namhafte Kreise offensichtlich bzw. de facto in Konflikt geraten mit einem maßgeblichen Staatsziel und der Realität – denn die Nation bestand ja weiterhin auch in der Teilungsphase fort.

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DIE VIRULENZ DER NATIONALEN FRAGE Umgekehrt die Situation derjenigen Kreise, welche die Einheit der Nation herzustellen durchgehend als Aufgabe angesehen haben, für die also die deutsche Frage offen war. Ihre stärkste Unterstützung1 fanden sie im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973. Das Gericht erklärte die Entspannungspolitik der sozialliberalen Koalition insgesamt für verfassungsgemäß, da sie mit dem Ziel der Wiedervereinigung vereinbar sei; dann sei auch das Grundlagenvertragswerk wiedervereinigungskonform. Dieses Urteil wird heutzutage nicht nur studentischerseits nicht mehr verstanden, da doch die Entspannungspolitik zur Wiedervereinigung geführt habe. Gerade nicht die Anerkennung der Teilung, sondern die Perspektive einer Wiedervereinigung war der Clou dieses Urteils. Die Kritik an der Entscheidung der Verfassungsrichter kam entsprechend von vehementen Vertretern der entspannungsorientierten Teilungsanerkennung und natürlich von der DDR , die erkannte, dass mit dem Ziel der Wiedervereinigung das Ende ihres

Staates angedacht war. Diese These vom Ende der DDR und von der potenziellen Möglichkeit einer Wiedervereinigung widersprach der Entspannungsphilosophie – die nicht die Beseitigung der DDR , sondern die Koexistenz mit ihr zum Ziel hatte. Viele Befürworter einer umstandslosen Anerkennung des Status quo waren konsterniert, dass man sie auf die Wiedervereinigung festlegte – aus ihrer Sicht eine Kalte-Kriegs-Position. Bis in den Herbst 1989 hinein gab es diese vehementen Kritiker einer Wiedervereinigungspolitik, welche die Virulenz der nationalen Frage nicht erkannt hatten und wenig später dem Schock des realgeschichtlichen Prozesses in Deutschland ausgesetzt und zur Revision ihrer Fehlurteile gezwungen waren. Die Höflichkeit gebietet es, keine Namen von Wissenschaftlern und Politikern dieser Provenienz zu nennen. Die Bevölkerung der DDR war die Akteurin des revolutionären Prozesses, der zur Einheit führte. Die Bevölkerung der DDR hat die nationale Frage von unten aufgeworfen. Der Selbstbefreiungsprozess der DDR-Bevölkerung stand in Europa nicht allein. Auch in anderen mittel- und osteuropäischen Ländern hat man die von den Bevölkerungen getragenen Veränderungsprozesse zu Recht als Revolutionen bezeichnet. EINE ERFOLGREICHE REVOLUTION IN DEUTSCHLAND Insofern ist das Jahr 1989, obgleich es zu keinem Blutvergießen kam, in die Kategorie der großen Revolutionen einzuordnen. Im Unterschied zur Oktoberrevolution von 1917 kam eben hier der emanzipatorische Charakter deutlich zum Tragen: als Befreiung von einem repressiven System, dem

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1  Vgl. hierzu Daniel Koerfer, Den Anspruch wachhalten, in: Frankfurter A ­ llgemeine Zeitung, 26.07.2013.

Kommunismus – oder was von diesem real-existierend und spättotalitär übriggeblieben war, aber beseitigt werden musste. Hier von einer Zäsur zu sprechen, ist so gesehen das Mindeste, was man annehmen muss; denn schließlich ist von einer Revolution die Rede. Dagegen lediglich von einer Wende zu sprechen, würde bedeuten, den SED-Jargon zu verwenden, mit dem Egon Krenz damals versucht hatte, der Oppositionsbewegung Wind aus den Segeln zu nehmen, sie zur Trägerin einer bloßen Richtungsänderung herunterzustufen. Der Zäsurcharakter von 1989 lässt sich auch problemlos begründen mit dem Fall der Mauer, dem eine weltpolitische Bedeutung zukommt. »Schaut auf diese Stadt«, das hatte der Regierende Bürgermeister von Berlin, Ernst Reuter, in den 1950er Jahren der Welt zugerufen, und die ganze Welt hat 1989 die symbolische Bedeutung des Falls der Mauer wahrgenommen. Das Ende des Kommunismus in Europa wurde mit dem Fall der Mauer in Berlin eingeleitet. Lenins Einschätzung, dass wer Deutschland habe, ganz Europa beeinflusse, hat sich – freilich gegen seine Intention – bestätigt. Die Veränderungen in Deutschland haben einen wesentlichen Beitrag zum Umbruch in ganz Europa geleistet. Mit der Zäsur von 1989 und dem Ende der Sowjetunion 1991 hat das kurze 20. Jahrhundert seinen Abschluss erlebt. Zwischen 1917 und 1989 entwickelte sich der Aufstieg und Niedergang des ersten, Maßstäbe setzenden totalitären Staates. Nach der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, dem Ersten Weltkrieg, hatten sich nun, am Ende des Jahrhunderts, erstmals für alle Europäer Freiheitsperspektiven eröffnet. Insofern war 1989 die große Zäsur des 20. Jahrhunderts – ohne damit das Ende des Faschismus 1945 übergehen zu wollen. Umso erstaunlicher ist die Neigung unter deutschen Intellektuellen, nach einigen Jahren des Schockschweigens – wenn man ein derartiges Wort dafür kreieren darf – die Zäsur von 1989 gar nicht als solche anzuerkennen und dem weltpolitischen Umbruch keine tragende Idee zuzubilligen. So hat zum Beispiel der ehemalige WZB-Direktor und Historiker Jürgen Kocka2 die Jahre 1989 bis 1991 mit den großen Zäsuren 1789, 1914 und 1945 verglichen und die These vertreten, dass die großen Zäsuren der Weltgeschichte erst mit zunehmendem Abstand gewichtiger würden. Er ist nicht davon überzeugt, dass 1989 dazu gehört. Das Denken der Historiker zu diesem Datum sei nicht ver2  Siehe Jürgen Kocka, Umwälzung ohne Utopie. 1989 und die Geschichtswissenschaft, in: WZB-Mitteilungen, Zeitenwende 1989. Umsturz, Wandel und Kontinuitäten, H. 146 (Dezember 2014), S. 11–14.

ändert worden, es handele sich um eine Umwälzung ohne Utopie. Die Utopie ist Kocka anscheinend ein Maßstab: »Anders als die Revolution von 1789 oder 1917 war die Umwälzung von 1989/91 nicht mit einer neuen Utopie, nicht mit einer Vision der zivilisatorischen Neugestaltung, nicht mit einem neuen Wirklichkeitsentwurf verbunden. Deshalb zögern auch viele, im Tilman Mayer  —  Eine historische Zäsur

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Rückblick von einer Revolution zu sprechen. Im Kern ging es um die Durchsetzung bereits vorher formulierter Grundsätze in einem Teil der Welt, der sich ihnen bis dahin versperrt hatte.«3 Die Friedliche Revolution von 1989 wird so ex cathedra zu einem leichten Wind in der Weltgeschichte herunter dekliniert. Von einer Zäsur zu sprechen, wäre dann schon fast eine Übertreibung. Ich erachte das als ein Fehlurteil, das dem weltgeschichtlichen Umbruch, symbolisiert durch den Fall der Mauer, nicht gerecht wird. Das Ende der Sowjetunion und des gesamten Ostblocks bedeutete eine kolossale Niederlage des europäischen Kommunismus. Damit endete auch eine von Utopien gesättigte Ideologie, deren Erschütterung sich zwar lange Zeit angekündigt hatte, aber deren Ende mit Krieg und Gewalt in Verbindung gebracht wurde und insofern als absolut unrealistisches Szenario galt. Es spricht für sich, dass viele linke Intellektuelle der alten Bundesrepublik noch immer nicht bereit sind, diese gewaltige Erschütterung und endgültige Erledigung einer Utopie als großes weltgeschichtliches Ereignis anzuerkennen, das vielleicht zum Ende des utopischen Denkens überhaupt beiträgt. Möglicherweise handelt es sich auch nur um einen internen Streit unter Historikern, wobei der Sozialgeschichtler nicht die gravierende Rolle der politischen Geschichte respektieren möchte. Jedenfalls wird die Wesensverwandtschaft von 1789 und 1989 zu nivellieren gesucht. Bei beiden Zäsuren handelt es sich um Revolutionen, die Bottom up-­ Regime hinweggefegt haben. Feudale und stalinistische Repressionen wurden beseitigt oder marginalisiert. Dass in der Phase 1989–91 die (mit der Französischen Revolution in Europa praktisch begründeten) Prinzipien des Selbstbestimmungsrechts der Völker und der Volkssouveränität aktualisiert wurden, hat auch ideenpolitische wie praktische Bedeutung. Ideenpolitisch, weil hier zwei Prinzipien nationalstaatliche Anwendung fanden, die – wie wir sahen – manche bereits aufgegeben hatten. Noch bedeutsamer ist in praktischer Hinsicht mit Blick auf Mittel- und Osteuropa zu vergegenwärtigen, wie elementar das postnationale Ideologem doch widerlegt wurde. Denn man hatte ja in den 1970er und 1980er Jahren lesen können, dass nicht nur das Zeitalter der Nationalstaaten längst abgelaufen, sondern dass auch mit Neugründungen nicht mehr zu rechnen sei. Das Gegenteil trat ein. Ein Dutzend neuer Nationalstaaten wurden in Europa gegründet und die Kreise des ehemals postnationalen Denkens täten vor diesem Hintergrund gut daran, dem Nationalstaat sein politisch-gestalterisches und (hoffentlich) konstruktives Potenzial nicht von vornherein abzusprechen. Diesem Ansinnen entgegen steht aber ein Denken, das mit den Kategorien Nation und Nationalstaat schlicht nichts anfangen kann bzw. auch nichts anfangen möchte und

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3  Ebd., S. 14.

das damit erneut eine Herausforderung für die politische Kultur darstellt, weil nun einmal von der Fortexistenz der europäischen Nationalstaaten ausgegangen werden muss. DEN NATIONALSTAAT RESPEKTIEREN Die Schwierigkeit im Umgang mit der Nation besteht in Deutschland wegen der vorherrschenden Deutung des Nationalstaats als Übeltäter im Sinne des Nationalismus und zusätzlich noch als Träger nationalsozialistischer Politik. Aus diesem Deutungsansatz herauszukommen, ist in Deutschland kaum möglich. Dennoch kann die deutsche Problematisierung des Nationalstaates nur als sonderliche Entwicklung eingeordnet werden. Denn die Nationalstaaten in Großbritannien und den USA zum Beispiel transportieren nicht diese negative Konnotation, wie sie in Deutschland seit der Nachkriegszeit üblich ist. Die im Grunde einfache Unterscheidung, dass Politik und Politikrichtung eines Nationalstaates autoritär oder demokratisch ausfallen können, nicht aber der Nationalstaat als solcher schon der Stein des Anstoßes sein muss, bestimmt die Diskussion in Deutschland nicht. Vor diesem Hintergrund lässt sich leicht nachvollziehen, dass das Wiederauftauchen eines Nationalstaates in Deutschland ein größeres Lernpotenzial ausgelöst hat – nicht in der Bevölkerung 4, aber in Teilen der Öffentlichkeit. Und es ist leicht verständlich, dass die sogenannte Erfindung der Nation in Deutschland als wissenschaftliche These besonders viel Resonanz fand und findet. Die kürzlich aufgetauchte Formel, Europa bzw. der europäische Integrationsprozess diene der Auflösung der Nationalstaaten, ist Teil dieser spezifisch deutschen, wenn auch verständlichen Psychose. 4  Vgl. Thomas Petersen, 17. Juni, der »Wartesaal der Geschichte« und die Schatten der Diktatur, in: Tilman Mayer (Hg.), Im »Wartesaal der Geschichte«. Der 17. Juni als Wegmarke der Freiheit und Einheit, Baden-Baden 2014, S. 147–168. 5  Vgl. Brendon Simms, Ein Kampf um Vorherrschaft: Eine deutsche Geschichte Europas seit 1453 bis heute, München 2014; vgl. auch Hans Kundnani, German Power. Das Paradox der deutschen Stärke, München 2016 sowie Andreas Rödder, Wer hat Angst vor Deutschland? Geschichte eines europäischen Problems, Frankfurt a. M. 2018.

Führt man sich diese Momente vor Augen, erklärt sich schnell, dass die Zäsur von 1989 die Wahrnehmung der Nation veränderte. Doch nach wie vor meidet man gerne den Begriff des Nationalstaates und spricht lieber von Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Allerdings gibt es bereits eine Diskussion in Europa über das zunehmende Gewicht Deutschlands, das schon Margaret Thatcher umgetrieben hat. Es werden, insbesondere aus britischer Feder, eine neue deutsche Frage und eine semihegemoniale Struktur Deutschlands in Europa behauptet oder befürchtet.5 Man könnte sagen, dass der deutsche Nationalstaat, wie bereits im 19. Jahrhundert unter Bismarck, heute wieder vielfach als potenzielle Bedrohung wahrgenommen wird. Dazu ist allerdings anzumerken, dass es sich dabei um ein Konstrukt handelt, dem die Bevölkerungen in Europa – was das Ansehen Deutschlands angeht – keinesfalls folgen. Diese internationalen Vorbehalte, wenn auch hauptsächlich aus britischer Sicht, kommen der Tilman Mayer  —  Eine historische Zäsur

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Nationalstaatsskepsis hierzulande, wie ich sie geschildert habe, entgegen. Der – deutsche – Nationalstaat verlangt eigentlich nach einer eingehenderen Beschäftigung mit ihm.6 Allerdings bleibt richtig, dass das »deutsche Problem« in der Entstehungsphase europäischer Integrationsstrukturen nach 1945 motivational eine erhebliche Bedeutung hatte.7 Helmut Kohl hat die Vorbehalte gegenüber dem Nationalstaat seinerseits bedient, die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands dadurch aber nicht infrage gestellt, sondern beide Prozesse – die deutsche wie die europäische Einigung – als gleichermaßen zielwürdig angesehen. Die Zäsur von 1989 ist also deshalb so widersprüchlich, weil in akademischen Kreisen sich zum Nationalstaat als Format der Politik zu bekennen nicht ohne Weiteres erwartet werden kann. Damit negiert man die geschichtskorrektive Leistung der Bonner Republik, d. h. eine Politik, welche die historische Fehlentwicklung einer ganzen Nation nach 1933 korrigiert und auf diese Weise eine Art Normalität im Konzert der europäischen Nationalstaaten entwickelt und erreicht hat. Denn Bonn war ja ein Nationalstaat in spe, der Prototyp des wiederherzustellenden Nationalstaates bzw. ein Nationalstaat in nuce, dem lediglich versagt blieb, seinen Geltungsbereich auch bis an die Elbe wahrzunehmen, was erst nach den freien Wahlen vom März 1990 möglich wurde – ganz in der Logik des erwähnten Verfassungsgerichtsurteils von 1973. IST DIE ALTE BUNDESREPUBLIK UNTERGEGANGEN? Insofern ist die Frage, ob die alte Bundesrepublik im Zuge der Wiedervereinigung untergegangen sei, in zweifacher Hinsicht zu beantworten. Einmal mit Ja, wenn man die Rede von der Berliner Republik absolut setzt – so, als ob sie etwas anderes wäre als die vorausgegangene Bonner Republik. Von ihr ist nachvollziehbar die Rede, um den Entwicklungsprozess nach 1990, insbesondere mit der Verlagerung des Regierungszentrums von Bonn nach Berlin, deutlich herauszustreichen. Und sicherlich hat sich ja auch die politische Kultur von Bonn und Berlin unterschiedlich ausdifferenziert. Andererseits kann man mit Nein antworten, die Bundesrepublik besteht auch »über Bonn hinaus«8. Und vor allen Dingen kann man sagen, dass die Bonner Republik ihre Aufgabe erfüllt hat, die Wiedervereinigung als Möglichkeit für Jahrzehnte aufrechtzuerhalten und auch die Substanz der Demo-

6  Vgl. Hans-Christoph Kraus, Nation und Nationalstaat – Historische Voraussetzungen und gegenwärtige Bedeutung, in: Carlo Masala (Hg.), Zur Lage der Nation. Konzeptionelle Debatten, gesellschaftliche Realitäten, internationale Perspektiven, Baden-Baden 2018, S. 9–27. 7  Vgl. Matthias Schütz, Mit und gegen Deutschland. Die europäische Einigung und das »deutsche Problem«, Berlin 2018.

kratie dieser Republik für ein gefestigtes, fortbestehendes demokratisches Deutschland zu konzeptualisieren. Die Berliner Republik baut auf den Bonner Vorleistungen auf. Tatsache bleibt, dass »1989« die deutsche Geschichte mit einer erfolgreichen Revolution beglückt hat. Das Wort Glück ist hier durchaus angemessen.

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8  Tilman Mayer u. Dagmar Schulze-Heuling (Hg.), Über Bonn hinaus. Die ehemalige Bundeshauptstadt und ihre Rolle in der deutschen Geschichte, Baden-Baden 2017.

Allzu viele derartige Ereignisse gibt es bekanntlich in der deutschen Geschichte nicht. Den (späteren Bundes-)Ländern in der Sowjetischen Besatzungszone war nach 1945 nicht gestattet, an der Wiederherstellung der deutschen Staatlichkeit teilzunehmen. Die Entstehung der Bundesrepublik Deutschland geschah deshalb in gesamtdeutschem Auftrag, also auch für die Länder, denen eine Mitwirkung versagt blieb. Die provisorische Staatlichkeit Westdeutschlands war auf die definitive Vollendung der Einheit der Nation hin ausgerichtet. Nicht in allen Jahrzehnten wurde von allen politischen Akteuren dieser Intention entsprochen. 1989/90 war es in diesem ursprünglichen gesamtdeutschen Sinne möglich, die staatliche Einheit in den Grenzen von 1990 zu verwirklichen. So war es möglich, die Erfolgsgeschichte Westdeutschlands sukzessive auf Ostdeutschland zu übertragen. In der Praxis des Zusammenwachsens ist es in Ostdeutschland bekanntlich zunächst, entgegen der Intention der Handelnden, in den 1990er Jahren zu erheblichen sozialen und ökonomischen Anpassungsprozessen gekommen. Aber Republik, Demokratie, Verfassung mussten nicht neu erfunden werden. Was »Bonn«, die sogenannte Bonner Republik, erreicht hatte, war übertragbar und anschlussfähig. So kann man bildlich gesprochen von einer Stafette sprechen, die »Bonn« in der deutschen Nationalgeschichte übernommen hat und die es zehn Jahre später, mit dem Wechsel des Regierungssitzes 1998 nach Berlin, übergeben hat. Die Beendigung der kommunistischen Herrschaftsformation in der DDR führte konkret zur Übernahme der folgenden Errungenschaften der Bonner Republik. Ich greife hier auf einen früheren Beitrag zurück.9 Erstens hat die Demokratiegründung in Westdeutschland zu einer gefestigten Kanzlerdemokratie nach Westminster-Vorbild geführt und deshalb Stabilität erzeugt und Anerkennung gefunden, was in den Jahrzehnten der Bonner Republik auch vom Ausland bestätigt wurde. Dass die Demokratieverankerung nach den Prägungen durch den Sozialismus in den neuen Bundesländern nicht pauschal oder für eine Mehrheit, aber für einen gewissen Bevölkerungsanteil eine Herausforderung darstellen würde, lässt sich demoskopisch nachweisen. Die Prägung in einer sozialistischen Diktatur verschwindet nicht über Nacht und deshalb ist die Demokratieverankerung zu gewährleisten auch immer eine politisch-kulturelle Herausforderung. Zweitens haben sich 1989/90 große Erwartungen an die Einführung der sozialen Marktwirtschaft in Gesamtdeutschland gerichtet. Viel Fantasie bezog 9  Vgl. Tilman Mayer, Bonn und Nationalgeschichte, in: Ders. u. Schulze-Heuling, S. 321–333.

sich auf das »Wirtschaftswunder« der 1950er Jahre, als ob eine Übertragung lediglich eine mechanische Angelegenheit wäre. Das Modell zu etablieren, Tilman Mayer  —  Eine historische Zäsur

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stellte sich indes als sehr große Herausforderung dar, die blühenden Landschaften ließen auf sich warten. Die Transformation der Ökonomie im Beitrittsgebiet vollzog sich unter erschwerten Umständen. Die Schaffung einer nationalökonomisch erfolgreichen Einheit im Zeitalter der Globalisierung erwies sich als Zäsur besonderer Art. Die sozialen Verwerfungen waren für das einheitliche Nationalbewusstsein, die betroffenen Individuen in Ostdeutschland, sehr belastend. 1990 kam die Frage nach einer neuen Verfassung auf; aber sie wurde mit Blick auf das Grundgesetz und seine Errungenschaften aus verfassungsgeschichtlicher Perspektive nicht weiter verfolgt – hauptsächlich, weil die Zeitumstände keinen Spielraum ließen. Grundlegende Prinzipien der Verfassung bedürften allerdings nicht der Überarbeitung. Die politische Kultur der Bundesrepublik stand – drittens – nie unter den prekären und militanten Auspizien der Weimarer Republik, d. h., die Anerkennung des politischen Systems stand so gut wie immer außer Zweifel, jedenfalls nach überwiegender Mehrheitsauffassung. Diese Stabilität ist ein hohes Gut. Viertens war der freiheitliche Westen eine Folie der Selbstverständigung, die mit der Ausdehnung der Geltung des Grundgesetzes zwar aufgegriffen, aber nicht immer unterstützt wurde. Erklärungsbedürftig bleibt zum Beispiel die gewisse Ausrichtung mancher Ostdeutscher Richtung Russland. Fünftens spielt die Einbettung in das westliche Bündnissystem für die Identität der Westdeutschen eine große Rolle, so insbesondere im Kalten Krieg, als es um die Sicherheit und Sicherung dieses geografischen Raumes ging. Endlich lässt sich sechstens die Akzeptanz der europäischen Integration begründen, die zusätzlich für Frieden und Wohlstand sorgte. Die Wiedergewinnung der Nationalstaatlichkeit in Deutschland und Osteuropa wirft aber aktuell die noch immer ungeklärte Frage auf, wie das gewollte Fortbestehen der Nationalstaaten mit Europa bzw. der EU zusammen gedacht werden kann. Der wiederentdeckte Nationalstaat – nicht nur in Osteuropa – schickt sich nicht an, sich wieder aufzugeben, um den europäischen Integrationsprozess zu befördern. Das Europa der Vielfalt hat sich 1989 gezeigt und rekonfiguriert. Siebtens kann das in Westdeutschland entwickelte Parteiensystem erwähnt werden. Es verändert sich sukzessive und wird in Ostdeutschland mehrheitlich anerkannt, auch wenn es – mit Blick auf die Mitgliederzahlen der Parteien und ihre Zustimmungswerte – weniger verankert ist. Die Zäsur von 1989 hat zu einem nationalen Bewusstwerdungsprozess, zugleich aber auch mit einer Vielzahl nationalstaatlicher Neugründungen zu neuer Verantwortung Europas geführt. Das Ende des Kommunismus in Europa bedeutete einen neuen Anfang für viele Nationalstaaten – einen Aufbruch, der die europäische Architektur noch lange bestimmen wird.

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Tilman Mayer, Univ.-Prof. für Politische Theorie, Ideen- und Zeitgeschichte an der Universität Bonn. Mitglied des Vorstandes der Deutschen Gesellschaft, Berlin (»Forum Deutschland-­ Forschung«).

EINE BRANDGEFÄHRLICHE LAGE WOHIN ENTWICKELT SICH DIE INTERNATIONALE ORDNUNG? ΞΞ Thomas Jäger

Von dem Ende des Ost-West-Konflikts nach 1989 unterscheidet sich die derzeitige Lage für Europa grundlegend. Damals wollten die USA Europa im Wettstreit mit der Sowjetunion an sich binden; heute indes lockert die westliche Großmacht die Verbindungen mit der EU. Hinter dieser Politik steckt ein klares Kalkül – der EU aber fehlt bisher jede Strategie, mit dieser Lage und den Herausforderungen durch Russland und China umzugehen. Die USA können ohne den institutionellen Rahmen des Westens leben, die EU

hingegen nicht. DIE AUSGANGSLAGE Vor dreißig Jahren gab es keinen Zweifel am Ausgang der globalen Konkurrenz: Der Westen hatte den Ost-West-Konflikt, den viele analog der amerikanischen Bezeichnung als Kalten Krieg etikettieren, für sich entschieden, obwohl Letzterer in einer anderen Lesart nur eine bestimmte Phase des Ersteren darstellte, dem die Anti-Hitler-Koalition vorausgegangen war und die Entspannung folgte. Demokratie und Marktwirtschaft hatten sich in jahrzehntelangem Ringen als die überlegenen Systeme erwiesen. Von den zwei Polen, um die sich die Staaten gruppierten, verlor der eine seine Anziehungskraft, und seine Verbündeten taumelten in ordnungspolitische Zwischenräume. Konflikte, die in der Konkurrenz der beiden Supermächte eingefroren waren, tauten auf und wurden blutig ausgetragen. Ganze Regionen gerieten in tiefe Spannungen. Neue Staaten lösten sich aus den bisherigen Herrschaftsverbünden und postulierten ihre Unabhängigkeit. Die internationale Ordnung war durch den Untergang der Sowjetunion ins Wanken geraten, trug einige Staaten in die Sphären einer sicher geglaubten Neuen Welt und warf andere in heftige Zerwürfnisse und Gewaltkonflikte. Heute, dreißig Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, ist das zuvor gefällte Urteil darüber, wer diesen Systemkonflikt für sich entschieden hat, nicht mehr so sicher und eindeutig zu treffen wie bislang angenommen. Die Überlegenheit des westlichen Modells aus Demokratie und Marktwirtschaft

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wird in Zweifel gezogen; eine Alternative aus Staatskapitalismus, Technototalitarismus und autoritärem Herrschaftssystem, am stärksten vertreten durch China, feiert wirtschaftliche und politische Erfolge. Der Neue Osten, dessen politische Konturen sich in China und Russland ausbilden, fordert den Alten Westen heraus, dessen Verantwortliche sich um den inneren Zusammenhalt in den letzten drei Jahrzehnten nicht wirklich geschert haben. In diesen Jahren ist der Erfolg, der im Ost-West-Konflikt errungen worden war, verspielt worden. Der Abstieg des Westens, der Aufstieg Chinas, die Evolution einer neuen internationalen Ordnung prägen das Denken vieler Beobachter. Die große Frage ist: Gelingt es dem Westen – vorausgesetzt, er findet zu seinem Selbstverständnis zurück –, auch diese Systemkonkurrenz erfolgreich zu bestehen? DER ANTAGONISMUS Der Kern der Auseinandersetzung zwischen den USA und der Sowjetunion war in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der grundlegende, nicht zu überbrückende Widerspruch zwischen den politischen Systemen – antagonistische Ordnungsvorstellungen über grundlegende Freiheiten, über die Menschenrechte, die Individualisierung oder Sozialisierung der Menschen, die Ausgestaltung der Wirtschaftsverfassung, über Pluralismus und die Organisation des Parteiensystems. Das Kennzeichen dieses Antagonismus war, dass er alle Sphären des staatlichen und gesellschaftlichen und damit auch des individuellen Lebens durchzog. Angesichts dieser Widersprüche und der Übermacht der beiden Supermächte, deren Vorrang nicht bloß auf ihren nuklearen Arsenalen, sondern auch auf der Sicherung einer bestimmten politischen Ordnung beruhte, gab es nichts Drittes. Kein Dritter Weg wies einen Pfad aus der Zuordnung zu einem der beiden Lager. Die beiden Systeme unterschieden sich vor allem darin, ob sie der Individualität der Menschen oder der Kollektivität der Gesellschaft die größere Bedeutung beimaßen, und darin, welche Folgen dies für die Organisation der politischen Ordnung – Parteienwettbewerb auf der einen, die Herrschaft einer Partei auf der anderen Seite – hatte. Diese Divergenz bildet sich auch in den heutigen Großmachtkonkurrenzen ab. China und Russland betonen den kollektiven Charakter des sozialen Lebens, die USA und die EU den individuellen. Der Herrschaft der kommunistischen Partei in China und der »gesteuerten Parteienkonkurrenz« in Russland stehen die verschiedenen Wettbewerbssysteme in den westlichen Demokratien gegenüber. Dieser Antagonismus war einige Jahre überdeckt, weil davon ausgegangen wurde, die wirtschaftliche Öffnung der beiden

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Großmächte im Osten werde deren politische Transformation zur Demokratie begründen – nun tritt er wieder deutlicher hervor. Dies zeigt sich besonders auch in internationalen Konflikten, deren Bearbeitung entweder von dem Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten geprägt sein kann, wie es China und Russland hochhalten; oder von dem Prinzip der Schutzverantwortung aller Regierungen für bedrohte Menschenleben in anderen Staaten. In den Kriegen in Libyen und Syrien prallten diese Prinzipien dann aufeinander: in Libyen die Schutzverantwortung, in Syrien die Nichteinmischung. DIE KOOPERATION Unter den Umständen der antagonistischen Systemkonkurrenz zwischen den USA und der UdSSR war Zusammenarbeit schwierig. Beide Seiten gingen

davon aus, dass die Gegenseite die eigenen Prinzipien allgemeingültig werden lassen wollte – und das hieß nichts anderes, als sie gegen Widerstand durchzusetzen, also Macht anzuwenden, die diese Widersetzlichkeit der anderen Seite überwindet. Im Ost-West-Konflikt wurde diese machtpolitische Dimension des Konflikts doppelt eingehegt: Zum einen führte die Fähigkeit zur gegenseitigen nuklearen Zerstörung dazu, dass kooperative Rüstungssteuerung im beiderseitigen Interesse lag und, freilich mit allen Tricks und Finessen, auch umgesetzt wurde; zum anderen erkannten die Weltmächte die jeweiligen Einflusszonen des Gegenübers an, auch wenn sie sich – wiederum gegenseitig – alle möglichen subversiven Akte zutrauten und sich gleichermaßen dagegen wappneten. Sie griffen aber nicht ein, wenn Konflikte im anderen Block eskalierten. Der Westen stand bei Aufständen in Warschauer-Pakt-­ Staaten still: 1953 in der DDR , 1956 in Ungarn, 1968 in der ­Tschechoslowakei und auch 1981 in Polen. Diese beiden zentralen Bedingungen bestehen derzeit jedoch nicht. Die Machtpotenziale sind zwischen den drei handlungsfähigen Großmächten USA , China und Russland asymmetrisch verteilt. Es gibt keine trilaterale nu-

kleare Abschreckung zwischen ihnen und auch keine trilaterale wirtschaft­ liche Verletzlichkeit. Zudem suchen Mittelmächte eigenständige Plätze in der internationalen Ordnung. Ja, mehr noch: Manche Diskussionen suggerieren, dass sich diese Mittelmächte ihre Partner selbstbewusst wählen könnten, also entscheiden könnten, wen sie als Vormacht präferieren – die USA , China oder Russland. Mobile Allianzen werden in die Diskussion eingestellt. Wo politische Wirklichkeit konstruiert wird und nur durch ein glaubhaftes Narrativ unterlegt Thomas Jäger  —  Eine brandgefährliche Lage

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sein muss, öffnen sich gleichsam Türen. Dies allerdings nur zum Schein. Die verschiedenen Allianzen des Ost-West-Konflikts sind so nicht entstanden, sondern waren vielmehr Ausdruck der jeweiligen Bedrohungen und machtpolitischen Reaktionen. Gerade dies testen die drei Großmächte derzeit aus. Auch die zweite Bedingung ist nicht gegeben, denn die drei Großmächte sind dabei, ihre Einflusszonen auszugestalten. Russland ringt um die Vorherrschaft jenseits seiner Grenzen; China strebt Dominanz im Südchinesischen Meer an und greift über die Neue Seidenstraße nach Afrika und

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Europa aus; die USA versuchen, ihren bisherigen Einfluss zu bewahren, und verteidigen diese Politik gegen den eigenen Präsidenten, wenn auch manchmal ohne Erfolg. Die Zusammenarbeit der drei Rivalen ist deshalb so prekär, weil sie ihrer zukünftigen internationalen Rollen und Gewichte nicht gewiss sind; und auch, weil sie nicht sicher einschätzen können, welche Bedeutung die anderen Großmächte in Zukunft haben werden. Präsident Obamas Charakterisierung Russlands als Regionalmacht im Jahr 2014 verdeutlicht diese Unsicherheit schlagartig. Deshalb streiten die USA , China und Russland gerade um ihre Positionen in der internationalen Ordnung und tragen diesen Wettbewerb mit den ihnen jeweils zur Verfügung stehenden Mitteln aus. Als Handels-, Informations- oder militärischer Krieg – in klassischen, asymmetrischen oder hybriden Formen – prägen diese Konflikte derzeit die Ausbildung einer neuen internationalen Ordnung und testen die jeweilige Eskalationsbereitschaft der betroffenen Regierungen. DAS ENDE DES OST-WEST-KONFLIKTS Als der Ost-West-Konflikt an sein Ende kam, weil eine Seite in der Konkurrenz nicht mehr mithalten konnte und sich ihre Verbündeten deshalb neu ausrichteten, hob die Diskussion an, wie denn mit dieser Lage ordnungspolitisch umzugehen sei. In den USA , die nun den internationalen Takt vorgaben – da kein Staat und keine Staatengruppe sie davon abhalten konnte, zu tun, was sie sich vorgenommen hatten –, sprachen sich die einen dafür aus, so viel Machtfähigkeiten wie möglich anzuhäufen, um den Abstand zu den zurückgebliebenen Mächten – zu denen auch die EU und Japan zählten – zu vergrößern, während andere rieten, internationale Institutionen zu errichten, die fester als bisher die liberale Weltordnung tragen und damit zukünftig garantieren könnten. Die Erwartung war, dass die Konkurrenz um internationalen Einfluss dann im internationalen Ordnungssystem und nicht über seine Ausgestaltung ausgetragen werde. Ebenso wie nach 1947 – und in sämtlichen Phasen des Ost-West-Konflikts – waren es aber nicht die großen Konferenzen, die zur Absprache einer neuen Ordnung führten, sondern die Auseinandersetzungen um Einfluss und Macht, die dann in einer internationalen Anordnung ihre feste Form fanden. Das ist auch derzeit zu beobachten; und diejenigen Akteure, die diesen Prozess beeinflussen wollen, werden nur dann erfolgreich sein, wenn sie von dieser Voraussetzung ausgehen. Die neue internationale Ordnung wird nicht in Davos verhandelt, sondern zwischen den Großmächten entschieden. Dass die amerikanische Dominanz nach 1989 so rasant zerrann, befeuert diese Entwicklung. Thomas Jäger  —  Eine brandgefährliche Lage

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DER UNIPOLARE MOMENT Rascher, als es bei einem klugen Umgang mit den eigenen Ressourcen geschehen wäre, gelangte der unipolare Moment amerikanischen Vorrangs, wie Charles Krauthammer diese historische Phase nannte,1 an sein Ende. Denn die USA setzten ihre Fähigkeiten zu ihrem eigenen Nachteil ein. Dies geschah auf

militärischem Gebiet durch die Kriege in Afghanistan und – viel schmerzhafter und in jeder Hinsicht kostspieliger – im Irak. Zwar schlug die wirksame Überlegenheit der amerikanischen Streitkräfte im militärischen Kampf geradewegs durch; aber den asymmetrischen Kriegsmethoden ihrer Gegner konnten die USA nichts entgegensetzen, das ihnen erlaubt hätte, aus dem militärischen

Sieg eine neue politische Ordnung zu formen. Auf diese Weise demonstrierten sie ihre Überlegenheit wie gleichermaßen deren politische Nutzlosigkeit. Mit der Finanzkrise 2008 brachen die entfesselten Banken zudem die wirtschaftliche Dominanz Amerikas, was belegte, dass die einzige Weltmacht keineswegs in der Lage war, alleine derart gravierende Folgen abzufedern und politisch einzuhegen. Vielmehr rief die amerikanische Regierung die G20, die bis dahin auf höchster Ebene ein Nischendasein geführt hatten, auf der Ebene von Staats- und Regierungschefs zusammen, um ein multilaterales Krisenmanagement anzulegen. Die einzige Weltmacht hatte vor aller Augen demonstriert, dass sie nicht in der Lage war, politische und wirtschaftliche Ordnung herzustellen, geschweige denn zu garantieren. Dass sie genügend destruktive Kraft besaß, Strukturen einzureißen, musste sie hingegen niemandem beweisen. Zwar gelang den USA, die Versuche abzuwehren, den US-Dollar als Weltreservewährung durch

einen Korb aus verschiedenen Währungen abzulösen; und ihnen gelang auch, weiterhin die weltweit stärkste Militärmacht zu unterhalten. Doch als alleiniger Garant der internationalen Ordnung konnten sie nicht mehr agieren. ÖKONOMISCHE HANDLUNGSFÄHIGKEIT Das Vorgehen der USA im Irak stieß in Deutschland eine Diskussion über die Ausgestaltung der internationalen Ordnung an, die völlig folgenlos war, weit an der Realität vorbeiging und trotzdem weiterwirkte, weshalb geraten ist, gerade mit Blick auf die aktuellen internationalen Herausforderungen an sie zu erinnern. Im Kern besagte sie, dass allein die Europäische Union eine Alternative für die Gestaltung der internationalen Ordnung anbieten könne, nachdem die USA durch den Rückfall in archaische Gewalt bewiesen hätten, nichts aus dem historischen Prozess gelernt zu haben. Dessen Lehren müsse daher die Zivilmacht Europa, deren Einfluss sich auf Wirtschaftskraft, Diplomatie und Kultur gründe, umzusetzen versuchen.

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1  Siehe Charles Krauthammer, The Unipolar Moment, in: Foreign Affairs, Jg. 70 (1991), H. 1, S. 23–33; Ders., The Unipolar Mo­ment Revisited, in: The National Interest, Winter 2002/03, S. 5–17.

Dieser Ansatz ist deshalb analytisch erhellend, weil er einen zivilisatorischen Prozess internationaler Politik behauptet, der über den Austausch von Gewalt zur Regelung zwischenstaatlicher Kontroversen hinausführt, weshalb die Europäische Union als alternative Weltmacht sich Fähigkeiten zur militärischen Machtprojektion erst gar nicht verschaffen muss. So blieb es denn auch. Die EU verstand sich als Zivilmacht in einer Zivilwelt, in der Streit­ fragen im Rahmen eines in internationalen Institutionen verregelten Prozesses gelöst werden können. Ihre ökonomischen Potenziale nutzte die EU nicht dazu, andere Fähigkeiten zu erwerben. Ebendas tat unterdessen China, indem es seinen enormen Kapitalstock gleich doppelt einsetzte: zur inneren Machtbildung, indem es militärisch kräftig aufrüstete und den USA nach und nach im Südchinesischen Meer entgegentreten konnte; und zur äußeren Machtbildung, indem es entlang der Neuen Seidenstraße Investitionen ermöglichte, die schon mittelfristig zu wirtschaftlicher und damit politischer Abhängigkeit dieser Staaten führen sollten. Wo keine Abhängigkeit erreicht werden könnte, würde zumindest Rücksicht auf chinesische Interessen genommen werden. Den USA waren solche Investitionen aufgrund eines enormen Staatsdefizits verwehrt. Sie konnten angesichts der Schlagzahl des chinesischen Wirtschaftsplans nicht mithalten und mussten mit ansehen, wie sich China nach und nach neue Handlungsfelder erschloss. Das bezog sich nicht nur auf Staaten entlang der Route von Asien nach Europa, sondern auch auf internationale Organisationen wie die Asiatische Infrastruktur Investitionsbank, eine Art »internationaler Währungsfonds unter chinesischem Einfluss«2, dessen Gründung und Akzeptanz die USA nicht verhindern konnten. China nutzt seine überlegenen finanziellen Möglichkeiten, politischen Einfluss zu erwirken, der bis in die Europäische Union reicht; denn einige der EU-Mitgliedsstaaten sind auch in der G16+1 (+1 ist China) vertreten, die von den expansiven Wirtschaftsprogrammen profitieren wollen. Die USA hingegen hielten sich lange zurück, waren an ausgeglichenen Beziehungen zu China stärker interessiert als an der Gestaltung der internationalen Ordnung und müssen nun aus einer nachteiligen Lage heraus handeln. Denn anders 2  Zur Asian Infrastructure Investment Bank siehe für einen ersten Überblick deren Website, URL: https://www.aiib. org [eingesehen am 04.03.2019]. Zum Prozess der Institutionali­ sierung: Xiao Ren, China as an Institution-builder: the case of the AIIB, in: The Pacific Review, Jg. 29 (2016), H. 3, S. 435–442.

als die USA beweist China schon seit Jahren, dass es seine ökonomischen Potenziale zur Gestaltung politischer Ordnung einzusetzen weiß. MILITÄRISCHE HANDLUNGSFÄHIGKEIT Nach dem Debakel im Irak wollte sich die US-amerikanische Außenpolitik aus den Konflikten im Mittleren Osten und Nordafrika heraushalten. Nur zögerlich, geradezu halbherzig, griffen die USA in den Arabischen Frühling Thomas Jäger  —  Eine brandgefährliche Lage

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ein und agierten dabei obendrein konzeptlos. Russlands Intervention im Syrienkrieg wurde deshalb von den Amerikanern auch als Fehler betrachtet, weil der russischen Regierung nicht zugetraut wurde, militärische Überlegenheit in politische Ordnung übersetzen zu können. Dass Konflikte nicht militärisch gelöst werden könnten, wurde bald zu einer Sprechformel, die von mehreren Regierungen zur Vergewisserung des eigenen Weltbilds vorgetragen wurde. Nachteilig an dieser Feststellung war jedoch, dass sie falsch war. Konflikte können militärisch entschieden werden, wenn es gelingt, aus dem militärischen Vorteil eine politische Lösung zu ziehen. Ebendies demons­ trierten Russland, der Iran und das syrische Regime bei der Rückeroberung des Landes und der Restauration von Assads Herrschaft. Dabei gelang der russischen Regierung, gleich mehrere Ziele parallel zu verfolgen. Erstens sicherte sie sich regionalen Einfluss in einem Gebiet, das aus geostrategischen und ökonomischen Gründen weltweite Bedeutung hat. Während die USA sich zurückzogen und China dort nur mäßigen Einfluss suchte, um seine Energieimporte zu sichern, strebte Russland offensiv nach einem festen Platz in der Gestaltung des Mittleren Ostens – den hat es sich durch sein militärisches Eingreifen gesichert. Gegen Russland gibt es keine diplomatische Lösung. Zweitens konnte Präsident Putin sich als Garant bedrängter Diktatoren anbieten – von Assad in Syrien bis Maduro in Venezuela und wer immer da noch folgen wird. Das Argument lautet: Wer die Herrschaft in einem souveränen Staat ausübt, soll von außen nicht gestürzt, sondern allenfalls gestützt werden. Das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten ist die Grundlage dafür, dass Regierungen ebendieser Staaten die russische Regierung aus eigenem Recht zu Hilfe bitten dürfen. Präsident Assad wurde diese Hilfe gewährt. Auch in der Ukraine bewies die russische Regierung militärische Handlungsfähigkeit, indem sie die Destabilisierung des Ostens fortsetzte und in der Straße von Kertsch daran erinnerte, den Konflikt jederzeit eskalieren zu können. Diese militärische Eskalationsbereitschaft versetzt Russland in eine sehr effektive diplomatische Position. INFORMATIONSKRIEGE Desinformationskampagnen gehören seit Jahrhunderten in das Fähigkeitsportefeuille ambitionierter Staaten. In der virtuellen Welt haben sie indes eine neue Qualität erhalten. Solche Kampagnen versetzen diejenigen Staaten, die eine engmaschige Kontrolle dieses virtuellen Raums für die eigene Bevölkerung errichtet haben, aber das Internet in anderen Gesellschaften

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durchdringen, in eine für sie vorteilhafte Lage. Auf Einzelne und Gruppen können sie wirksamen Einfluss nehmen, unsichtbar deren Wahrnehmung und Denken beeinflussen und auf diesem Weg politische Entscheidungen steuern. Autoritäre Systeme wirken dadurch nachhaltig auf demokratische Entscheidungsprozesse in anderen Staaten ein. DIE GESTALTUNG DER NEUEN INTERNATIONALEN ORDNUNG Es war eine kurze Phase nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, in der die USA als alleinige Weltmacht nicht nur die Dominanz des Westens, sondern

auch den weltpolitischen Schutz für die EU garantierten. Dies ist in seiner bisherigen Form vorbei. Inzwischen wird die liberale internationale Ordnung von autoritären Großmächten infrage gestellt und herausgefordert. Die USA ringen mit sich, wie viel sie dem entgegensetzen wollen. Die EU hat auf

diese Auseinandersetzung in ihrer jetzigen Verfassung keinen veritablen Einfluss. Das versetzt den Westen in eine bedrängte Lage, die von zentrifugalen Dynamiken einerseits – der Fragmentierung westlicher Standpunkte – und von zentripetalen Antrieben andererseits – den nationalpopulistischen Kräften – geprägt ist. Der Befund vom Ende des Westens ist jedoch verfrüht. Die USA sind international noch nicht abgestiegen, die EU kann sich politisch besinnen. Und auch wenn weiter oben vor allem die herausstechenden Fähigkeiten Chinas und Russlands betont worden sind, so kämpfen doch beide Staaten im Innern mit großen Bedrohungen. Russland muss aus der Rohstoffwirtschaft herausfinden, eine breitere industrielle Basis aufbauen und Verbündete finden, um seinen Status zu festigen. China muss die inneren Spannungen balancieren, darf nicht die gesamte Nachbarschaft gegen sich aufbringen und muss weiterhin enormes Wirtschaftswachstum erzeugen, um die Einparteienherrschaft zu legitimieren. Entschieden ist derzeit noch längst nicht, welche internationale Ordnung in den nächsten Jahrzehnten entstehen wird. Die Frage ist indes, ob die Verantwortlichen in den USA und der EU ihrer Verantwortung gerecht werden, die demokratische Lebensweise gegen die beiden autoritären Großmächte zu verteidigen.

Thomas Jäger, geb. 1960, ist Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Politik und A ­ ußenpolitik an der Universität zu Köln und hat eine Gast­ kolumne auf Focus Online, zudem schreibt er für die Huffington Post und den Cicero.

Thomas Jäger  —  Eine brandgefährliche Lage

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CHANCE FÜR EINEN ­NEUBEGINN? ÜBER BÜRGERRECHTLER, DIE GEDENKSTÄTTE ­H OHENSCHÖNHAUSEN UND DIE NACH-DDR-ZEIT ΞΞ Markus Decker

Die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur hat bereits reagiert. Im Herbst 2018 veranstaltete sie in Berlin eine Podiumsdiskussion zum Thema »Demokratie in der Krise? Extremismus und Zivilgesellschaft in Ostdeutschland«1. Bei dieser Gelegenheit konstatierte die ehemalige Stasiunterlagenbeauftragte Marianne Birthler angesichts der AfD-Wählerschaft, zwanzig Prozent der Ostdeutschen hätten Mühe mit der Demokratie und zudem Schwierigkeiten, sich an Sachdebatten konstruktiv zu beteiligen. Überdies seien sie nach 1989 überrascht gewesen, es nicht nur mit Westdeutschen, sondern »mit der ganzen Welt« zu tun zu haben. Stattdessen habe die Ansicht überwogen: »Wir wollen so weit kommen wie der Westen. Und die anderen sollen bitte draußen bleiben.« Der Publizist Klaus-Rüdiger Mai nahm die Gegenposition ein: Er befand, die CDU sei nach links gerückt und hinterlasse damit ein Vakuum auf der Rechten, das unter dem Eindruck der zahlreichen Flüchtlinge von anderen gefüllt werde. Das, was nicht wenige für einen Rechtsruck halten, ist für den Mann aus Sachsen-Anhalt eine legitime politische Entwicklung. Er konnte in dem Sinne auch keine Demokratiekrise erkennen, sondern betonte, aus seiner Sicht funktioniere die Demokratie. Ebenfalls alarmiert ist die Robert-Havemann-Gesellschaft. Sie zeigte im Sommer 2018 eine Film-Dokumentation über »PEGIDA« und lud anschließend unter der Überschrift »Montags in Dresden. Identitätsverlust in blühenden Landschaften?« zur Debatte. Im Januar 2019 folgte die Stiftung Berliner Mauer mit einer Tagung zum Thema »Die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Diktaturen nach 1949 und 1989«. Vorausgegangen waren Äußerungen des ehemaligen Stasi-Häftlings Siegmar Faust, der in der Stasiopfer-Gedenkstätte Hohenschönhausen während eines Interviews mit der Berliner Zeitung verständnisvolle Worte sowohl für den AfD-Rechtsaußen Björn Höcke als auch den Holocaust-Leugner Horst Mahler gefunden und schließlich kund-

1  Siehe hierzu Markus Decker, »Eine neue Dimension von Rechtsextremismus«, in: FR.de, 19.06.2019, URL: https://www. fr.de/politik/eine-neue-dimension-rechtsextremismus-10971133. html [eingesehen am 14.03.2019].

getan hatte, in der Gedenkstätte dächten viele wie er selbst2 – aufgeklärte DDR-Aufarbeiter wussten anschließend zu berichten, dass Faust zumindest

in diesem Punkt Recht habe. Jedenfalls polarisiert sich neben der gesamten

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2  Vgl. Markus Decker, Immer gegen den Strom, in: Berliner Zeitung, 30.05.2018.

Gesellschaft nun auch die ostdeutsche Dissidenten-Szene. Und die Frage ist weniger, ob ein Problem besteht, als warum es besteht. Die Antworten darauf sind zahlreich. Die erste ebenso banale wie richtige Antwort lautet: Ein Teil der einstigen Bürgerrechtler rückt nach rechts, weil Teile der gesamten Gesellschaft nach rechts rücken. So ging der Spiegel-Journalist Konstantin von Hammerstein Anfang 2018 der Frage nach, »warum ehemalige Bürgerrechtler sich jetzt bei der AfD engagieren«3. Neben Faust tauchten in dem Text u. a. Angelika Barbe, Michael Beleites und Hans-­Joachim Maaz auf. Auch wenn es mit Marianne Birthler, Ines Geipel, Lutz Rathenow, Frank Richter und Friedrich Schorlemmer zahlreiche Gegenbeispiele gibt: Zufall ist das Ergebnis der Spiegel-Recherche nicht. Denn wenn zuletzt 26 Prozent der Menschen zwischen Greifswald und Greiz bereit waren, die »Alternative für Deutschland« zu wählen, warum sollte es dann unter jenen, die das SED-Regime aktiv bekämpften und dafür oft einen hohen Preis bezahlen mussten, anders sein? Schließlich wurden in der Szene schon in den 1990er Jahren tiefe Gräben sichtbar, die sich vor allem um das Verhältnis zur einstigen PDS und heutigen Linkspartei rankten. Ein monolithischer Block waren die Bürgerrechtler weder vor noch nach 1989. Der zweite Grund, warum die Rechtsdrift unter einem Teil der früheren DDR-Oppositionellen Experten nicht überrascht, ist, dass es diese Rechts-

drift ihnen zufolge bereits zu DDR-Zeiten gegeben habe. So verweist Christian Booß, langjähriger Mitarbeiter in der Forschungsabteilung der Stasi-Unterlagenbehörde und jetzt Vorsitzender des Bürgerkomitees 15. Januar, darauf, dass schon ein keineswegs geringer Teil der SED-Kritik rechts motiviert gewesen sei. »Etwa 20 Prozent der sogenannte [sic] Hetze-Delikte, die die Stasi in den 1980er Jahren registrierte, waren rechts konnotiert«4, schrieb er in der tageszeitung – und führte weiter aus: »Es gab damals ausländerfeindliche Attacken, die denen von heute nicht unähnlich sind. Während der Revolution 1989 wurden ultranationalistische Töne vom nationalen Überschwang nur übertönt, waren aber zweifelsohne vorhanden.« Booß nennt es ferner »ein historisches Missverständnis, wenn undifferenziert vom roten Mitteldeutschland oder roten Sachsen die Rede ist. Es gibt dort lange rechtsextremistische 3  Konstantin von Hammerstein, Was für Helden, in: Der Spiegel, 05.01.2018. 4  Christian Booß, Das große Schweigen, in: die tageszeitung, 18.07.2018. 5  Ebd.

Traditionslinien, die bis in die Vorkriegszeit zurückreichen.« Anders als im Westen, wo unter dem Stichwort des »autoritären Charakters« die Mitverantwortung der Befehlsempfänger und Mitläufer zumindest thematisiert worden sei, hätten die DDR-Bürger nicht einmal die Chance gehabt, ihre Verstrickungen und Traumata aus der NS-Zeit aufzuarbeiten. »Was ostdeutsche AfDler als angeblichen linksliberalen Meinungsterror darstellen«, so der Stasi-Fachmann, »ist im Westen teilweise sensus communis bis in die CDU.«5 Markus Decker  —  Chance für einen ­N eubeginn?

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Der bereits erwähnte Schriftsteller und sächsische Stasi-Landes­beauftragte Lutz Rathenow weiß zu berichten, dass ihn Ostdeutsche Anfang der 1990er Jahre mit der Erwartung konfrontiert hätten, dass sie die Türken ja jetzt wohl nach Hause schicken würden – jetzt nach der Vereinigung. Sie: Das waren die Westdeutschen. Eine dritte Ursache der Rechtsdrift liegt in der Dynamik politischer Auseinandersetzungen. So sagte der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) einmal, politisches Denken und Handeln resultiere in aller Regel und Spektrum-übergreifend aus einem Dagegen. Das sei die Initialzündung. Zuweilen kommt es hier freilich zu verhängnisvollen Übertreibungen. So wandten sich viele Anti-Kommunisten mehr und mehr gegen alles, was sie für links hielten. Dies traf nach der Wende nicht nur die PDS und ihre Nachfolgerinnen, sondern gleichermaßen SPD und Grüne. Die Anti-­Haltung lässt manche Anti-Kommunisten gleichsam automatisch auf die ganz rechte Seite abgleiten. Auf der Linken gibt es dasselbe Phänomen im Feld des AntiAmeri­kanismus. So finden sich dort einige in den Armen Wladimir Putins, Baschar al-Assads oder Nicolás Maduros wieder. Hauptsache, es geht gegen die USA. Antisemitismus ist der extremen Linken so wenig fremd wie der extremen Rechten. Im Falle der DDR-Bürgerrechtler tritt ein weiterer, wichtiger Punkt hinzu. So klagte Siegmar Faust, der wie so viele andere irgendwann in West-Berlin landete, darüber, dass ihm die West-Linken hätten beibringen wollen, dass die Unterdrückungsmechanismen im Westen letztlich »genauso« seien wie die im Osten – »bloß raffinierter, das können Sie noch nicht durchschauen«. Diese West-Linken hätten stets Gleichheitszeichen setzen wollen, sagte er, während sie für die DDR-Oppositionellen kaum Sympathie übriggehabt hätten. Original-Ton Faust: »Wir waren isoliert.« Abwegig ist das nicht. Teile der westdeutschen Linken standen der SED offenkundig näher als der Opposition gegen sie. Ohnehin hatte die westdeutsche Mehrheitsgesellschaft der DDR in den 1970er und 1980er Jahren längst den Rücken zugekehrt. Oppositionelle klagten denn auch, dass führende westdeutsche Politiker vor 1989 einen engeren Draht zu den Mächtigen in der DDR gehalten hätten als zu ihnen. Das setzte sich nach 1989 fort und traf die Opfer, die im vereinten Deutschland selten herausgehobene Stellungen bekleiden konnten, ganz besonders. Will sagen: Dass Linke und Liberale auf DDR-Oppositionelle nicht besonders anziehend wirkten, lag auch an ihnen. Letztere suchten andernorts Anerkennung – und fanden sie. Dass ein Mangel an gesellschaftlicher Anerkennung Radikalisierungen auslösen oder verstärken kann, das wiederum ist längst sozialwissenschaftlicher Konsens und

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1989 — Analyse

Markus Decker  —  Chance für einen ­N eubeginn?

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gilt für Ostdeutschland genauso wie für die französische Provinz oder den US-amerikanischen Rustbelt. Eine vierte und letzte Ursache dafür, dass manch DDR-Oppositioneller unterdessen der AfD zuneigt, ist erst in den letzten Monaten so richtig sichtbar geworden. Sie lässt sich unter dem subsumieren, was Soziologen und Psychologen »Opfer-Konkurrenz« nennen. Diese Opfer-Konkurrenz gilt seit dem Zuzug von Millionen Flüchtlingen in den Jahren 2015 folgende eben­jenen Menschen aus dem Nahen und Mittleren Osten. Diese schienen den letzten Rest öffentlicher Aufmerksamkeit zu absorbieren, um den die SED-Opfer schon zuvor immer heftiger und meist erfolglos hatten buhlen müssen. Seit jeher besteht ferner die Konkurrenz mit den Opfern des Nationalsozialismus. Diese wurde auch in Hohenschönhausen indirekt offenkundig. So verschickte die Gedenkstätte noch unter dem damaligen Direktor Hubertus Knabe am 20. Juli 2018 eine Pressemitteilung, in der es hieß: »Die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen wird ab Ende 2018 ein Register mit den Namen aller Opfer des Kommunismus in Deutschland erarbeiten. Vorbild ist die Datenbank der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem, in der die Opfer des Holocaust namentlich verzeichnet werden.«6 Der Politische Bundesgeschäftsführer der Grünen, der im thüringischen Gera geborene Michael Kellner, sagte ein halbes Jahr später, mit Knabe gehe auch »ein falsches Geschichtsverständnis. Er steht exemplarisch für eine Haltung, die besagt, die DDR war letztlich so schlimm wie der Nationalsozialismus. Das ist falsch. Es gab bitteres Unrecht in der DDR , aber keinen Holocaust. Jetzt bietet sich die Chance, sich die Geschichte neu anzuschauen.«7 Womit wir bei den Ereignissen in Hohenschönhausen selbst wären. Das auslösende Ereignis war jenes um Fausts rechtslastige Äußerungen in der Stasi-Vernehmungszelle, in deren unmittelbarer Folge Knabe sich von ihm trennte und anschließend auch die Zusammenarbeit mit dem Förderverein Hohenschönhausen aussetzte. Zuvor war nämlich ruchbar geworden, dass dessen aus Hannover stammender langjähriger Vorsitzender Jörg Kürschner seit einiger Zeit für die Junge Freiheit AfD-nahe Artikel schrieb. Knabe ließ wissen, Fausts Äußerungen seien »geeignet, das Anliegen der Aufarbeitung der SED -Diktatur insgesamt und damit auch die Arbeit der Gedenkstätte und ihrer Mitarbeiter massiv zu beschädigen«8. Denn deren Arbeit fuße auf den Werten des Grundgesetzes, insbesondere auf der Unantastbarkeit der Würde des Menschen und auf den unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft. Deshalb trete die Gedenkstätte für eine konsequente Aufarbeitung beider Diktaturen in Deutschland ein. »Ihr Auftrag und ihr Anliegen ist es, aktiv für

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6  Gedenkstätte Berlin-­Hohen­ schönhausen, Presse-­Mitteilung: Gedenkstätte erarbeitet DDR-­ Opferregister, 20.07.2018, URL: https://www.stiftung-hsh.de/ assets/­Uploads/2018-07-20BMBF-Forschungsprojekt.pdf [eingesehen am 26.02.2019]. 7  Michael Kellner, »Fehlende Sicherheit macht die Leute nervöser«, Interview, in: Frankfurter Rundschau, 07.01.2019. 8  Gedenkstätte Berlin-­ Hohenschönhausen, Presse-­ Information, Stellungnahme zum Artikel »Immer gegen den Strom«, Berliner Zeitung vom 30.05.2018, 30.05.2018, URL: https://www. stiftung-hsh.de/assets/Uploads/ 2018-05-30-Stellungnahme-BLZ2. pdf [eingesehen am 26.02.2019].

Freiheit und Menschenrechte, für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie einzutreten!«9, so Knabe. Zwar kandidierte Kürschner, der lange als Journalist für den MDR gearbeitet hatte, kurz darauf nicht mehr für den Vorsitz des Fördervereins; doch dessen neuer Vorstand wurde auf Kürschners Betreiben gewählt und teilt dessen Linie – sodass sich prominente Mitglieder aus dem Verein verabschiedet haben, darunter die einstigen Grünen-Bundestagsabgeordneten Lukas Beckmann und Wolfgang Wieland sowie der Stasi-Unterlagen-Beauftragte Roland Jahn. Bald darauf wurde publik, dass frühere Mitarbeiterinnen bei den politisch Verantwortlichen jahrelange sexuelle Belästigung aus der Chefetage und ein von ihr erzeugtes »Klima der Angst« angezeigt hatten. Zunächst musste bekanntlich der Vize-Direktor Helmuth Frauendorfer seinen Hut nehmen, hinterher auch Knabe. Von außen wirkte es, als hätten beide Ereignisse und Entwicklungen gar nichts miteinander zu tun und fielen eher zufällig zeitlich zusammen. Allerdings war es die vom Spiegel dem AfD-Spektrum zugeordnete Angelika Barbe, die Knabe mit Blumen empfing, nachdem er zwischenzeitlich für wenige Stunden vermocht hatte, sich auf seinen alten Platz zurückzuklagen. Und mit dieser Sympathie-Bekundung war Barbe nicht allein. So oder so hat das Jahr 2018 in der Dissidenten-Szene einiges durcheinandergewirbelt. Allerdings nicht nur in die eine, sondern auch in die andere Richtung. Denn während manche Dissidenten nach rechtsaußen unterwegs sind, ließ der Vorsitzende der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft ( UOKG), Dieter Dombrowski, zuletzt Verständnis für die Linkspartei erkennen. Es handele sich nicht mehr um die Partei, die früher zu recht attackiert worden sei, sagte er. In der Folge war Dombrowski selbst Objekt von Kritik ehemals Gleichgesinnter wie Freya Klier oder Heidi B ­ ohley. Die Stimmung ist aufgeheizt. Sicher ist, dass die Differenzen innerhalb der Szene von den Kombattanten deutlicher benannt werden als zuvor. Der Westdeutsche Hubertus Knabe, der manchen als einziger Fürsprecher der DDR-Opfer erschien, markiert den einen Pol; die Ostdeutsche Marianne Birthler, aus dem Unruhestand vom rotrot-grünen Berliner Senat zur Krisenbewältigung nach Hohenschönhausen bestellt, markiert den anderen Pol. Unsicher ist, wie es weitergeht. Die Stelle des Direktors ist ausgeschrieben. In der Ausschreibung steht: »Gesucht wird eine erfahrene Persönlichkeit, die auf Grund ihres beruf­ lichen Werdegangs in der Lage ist, die Stiftung zu leiten und in vertrauensvoller Zusammenarbeit mit den Stiftungsgremien sowie mit Partnerinnen und 9 

Ebd.

Partnern aus Kultur, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, insbesondere Markus Decker  —  Chance für einen ­N eubeginn?

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Opferverbänden, weiterzuentwickeln. An die Führungskompetenz, Kommunikations- und Teamfähigkeit sowie Belastbarkeit der Direktorin/des Direktors werden hohe Anforderungen gestellt. Die Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen steht in besonderer Weise im Blickpunkt der Öffentlichkeit.« Über die Besetzung des Postens entscheidet abschließend der Stiftungsrat. Die Vorauswahl erfolgt durch eine Findungskommission, der neben ­Birthler die Stasi-Beauftragten von Brandenburg und Sachsen-Anhalt, Maria Nooke und Birgit Neumann-Becker, der Direktor der Gedenkstätte Berliner Mauer, Axel Klausmeier, der Direktor des NS-Dokumentationszentrums ­Topographie des Terrors, Andreas Nachama, sowie der Historiker Christian Sachse von der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft angehören. Der Historiker Ilko Sascha-Kowalczuk hat derweil dafür plädiert, die Aufarbeitung zu professionalisieren.10 Nicht jedes SED -Opfer sei automatisch zur Aufklärung geeignet, schrieb er bereits zuvor in der Süddeutschen Zeitung.11 In der Hohenschönhausen-Krise liege aber auch eine Chance – die Chance für einen Neubeginn. Der von Roland Jahn geprägte Satz, man müsse »Diktatur begreifen, um Demokratie zu gestalten«, scheint jedenfalls so ohne Weiteres nicht mehr aufzugehen. Entweder ist der Satz zweifelhaft – oder es hapert am Begreifen. Damit spricht dreißig Jahre nach dem Mauerfall vieles dafür, in der Erinnerungsarbeit noch einmal neu anzusetzen. Nach dem Ende der Nachkriegszeit ist nämlich auch das Ende der Nach-DDR-Zeit gekommen. Wie wir der deutschen Diktaturen gedenken und zu welchem Zweck: Das ist strittiger denn je.

Markus Decker, geb. 1964, Studium der Politikwissenschaft, Soziologie und Romanistik in Müns­ ter und Marburg, ab 1994 Redakteur in Lutherstadt Wittenberg und Halle, seit 2001 Berliner Parlamentskorrespondent für die Mitteldeutsche Zeitung und den Kölner Stadtanzeiger, ab 2012 auch für die Berliner Zeitung und Frankfurter Rundschau, seit 2018 beim Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). 2006 erhielt Markus Decker den Journalistenpreis Münsterland für einen autobiografischen Text über seine Heimatstadt. Er lebt in Berlin.

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10  Vgl. den Beitrag in diesem Heft. 11  Siehe Ilko-Sascha ­Kowalczuk, »Und was hast du bis 1989 getan?«, in: Süddeutsche Zeitung, 23.10.2018.

GÖTTIN DER DEMOKRATIE BLICKPUNKT CHINA ΞΞ Helwig Schmidt-Glintzer Im Frühjahr 1989 richtete sich die Aufmerksamkeit der Welt auf den Tian’anmen-Platz in Peking und die dort stehende »Göttin der Demokratie«. Mit dieser Figur wollten studentische Aktivisten die von der Kommunistischen Partei Chinas kontrollierte Staatsmacht weniger herausfordern, als vielmehr – insbesondere auch angesichts einer hohen Inflationsrate – zu einer neuen Politik auffordern. Als dann nach wochenlangen Demonstrationen in der Nacht zum 4. Juni Panzer in das Zentrum Pekings rollten und alle Proteste – auch die inzwischen in mehreren anderen Großstädten entflammten Unruhen – beendeten, legte sich ein Mehltau über China. Mehr noch als die blutige Niederschlagung sollte die offizielle Rhetorik von der Gesetzwidrigkeit des Studentenprotestes Folgen haben – eine Argumentation, bei welcher der Kommunistischen Partei das Agieren mancher studentischer Anführer der Proteste half, insbesondere die Publizitätssucht und das doppelbödige Verhalten einiger ihrer Repräsentanten. Die Machthaber konnten infolgedessen die ganze Bewegung als einen »Sturm im Wasserglas«, einen fengbo, abtun. Diesen zu beenden, sei allein schon deswegen geboten gewesen, um den mit dem Namen Deng Xiaopings verbundenen wirtschaftlichen Aufschwung nicht zu gefährden. In jenen Junitagen nahm die ganze Welt Anteil an den Ereignissen in China. In München bildete am 22. Juni unter dunklem Nachthimmel zu Füßen der Bavaria eine Solidaritätskundgebung mit Fackeln die leuchtenden Konturen des chinesischen Begriffes für »Menschenrechte«: renquan bzw. ­人权. In China selbst aber sollten diese Ereignisse nicht erinnert werden. Mit dem Massaker vom Tian’anmen schien jede Hoffnung auf ein lebendiges neues China und eine stärkere, sich jenseits der Parteivorgaben organisierende zivilgesellschaftliche Partizipation gestorben. Diese Niederschlagung der Protestbewegung wird seither mit dem Ende eines »Pekinger Frühlings« gleichgesetzt, mit dem Ende auch jenes Geistes der Weltoffenheit, der mit der 4.-Mai-Bewegung von 1919 verknüpft und dessen 1 

Mit der ­Begriffsgeschichte beschäftigt sich Elisabeth Forster, 1919 – The Year that changed China. A New History of the New Culture Movement, Berlin 2018, S. 156.

Wiederbelebung in den Jahren nach dem Ende der Kulturrevolution mehrfach beschworen worden war.1 Denn durch das dritte Plenum des elften Zentralkomitees der KPCh im Dezember 1978 waren, verbunden mit dem Namen Deng Xiaoping, die Weichen für die folgende Öffnung des Landes und den

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zaghaft beginnenden Aufschwung gestellt worden. Der bereits in Sichuan als Parteisekretär durch Reformen ausgewiesene Zhao Ziyang (1919–2005), seit 1977 Mitglied des Politbüros und seit 1980 Premierminister, war nach dem erzwungenen Rückzug des reformfreundlichen Hu Yaobang (1915–89) 1987 Generalsekretär der KPCh geworden. Als er dann aber bei den Protesten der Studenten am Tian’anmen selbst eine vermittelnde Position einnahm, verlor er all seine Ämter und wurde unter Hausarrest gestellt. An der Parteispitze gab es also einige, die einen Reformprozess und mehr Bürgerrechte forderten. Tonbandaufzeichnungen Zhao Ziyangs aus den Jahren 1999 und 2000 wurden nach seinem Tod im Jahr 2005 ins Ausland gebracht und im Jahr 2009 unter dem Titel »Prisoner of State« veröffentlicht. Darin vertrat er die Ansicht, die blutige Niederschlagung der Revolte sei vermeidbar gewesen. Eine öffentliche Kontroverse hierüber ist in China selbst aber nie geführt worden. Daher liegt zunächst nahe, von einem »geschichtsvergessenen Stolz«2 der chinesischen Führung zu sprechen. Doch erlaubt die Geschichte noch einen anderen Blick auf das Geschehen. Schon mit den Begriffen war es schwierig. Immerhin war die Demokratie schon seit hundert Jahren ein Thema in China. »Mr. Science« und »Mr. Democracy« waren die Götter der 4.-Mai-Bewegung 1919 gewesen. Chen Duxiu (1879–1942), Vordenker der Bewegung, hatte diesen Begriffszwilling 1918 geprägt. Mit ihm, der dann angesichts der Versailler Beschlüsse am Westen zweifelte, seine Hoffnungen zunächst auf das Vorbild der Russischen Revolution setzte und so 1921 zum Mitbegründer der KPCh wurde, blieben die Schlagworte verbunden. Darüber hinaus konnten sich die protestierenden Studierenden auf eine lange Protesttradition in China berufen, die 2.000 Jahre bis in die Han-Zeit zurückreicht.3 Wurde in westlichen Medien der Protest als antikommunistische Demokratiebewegung gedeutet und der Herrschaft der KPCh nur noch eine kurze Dauer zugestanden, war Kennern klar, dass es sich bei dem Protest der chinesischen Studierenden zu jener Zeit eher um einen Konflikt innerhalb der Elite und zwischen den Generationen handelte als um eine antikommunistische Volksbewegung. Die Volksrepublik China war seit ihrer Gründung ein »volksdemokratischer Staat«, wie es die erste Verfassung von 1954 formulierte, bzw. sei »ein sozialistischer Staat unter der demokratischen Diktatur des Volkes«, wie es seit 1982 im Artikel 1 der Verfassung heißt. Dies begründete Erwartungen, nicht zuletzt bei einem großen Teil der Studierenden. Doch trotz der historischen Traditionslinien und auch wenn der Begriff der Demokratie 1989 als Zauberformel diente, hatten doch die wenigsten der Studierenden konkrete Vorstellungen davon, wie eine Demokratie zu organisieren sei. Wichtiger war

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2  Friederike Böge, Geschichtsvergessener Stolz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.12.2018. 3  Vgl. Jeffrey N. Wasserstrom, Student Protests in Twentieth-­ Century China. The View from Shanghai, Stanford, Cal. 1991; Die Studentenbewegungen in der Kaiserzeit fasst zusammen: Thomas H.C. Lee, Education in Traditional China. A History, Leiden 2000, insbes. S. 639–656.

offenbar das Erlebnis, »im Schutz der Masse und unter den Augen westlicher Medien der Autorität der Partei«4 die Stirn zu bieten. Dazu trugen die symbolgeladenen Inszenierungen im Machtzentrum Chinas, die in einem Hungerstreik zum Ausdruck gebrachte Opferbereitschaft und die Respektlosigkeit gegenüber höchsten Repräsentanten des Staates bei. Man dürfe sich das nicht so vorstellen, so diagnostiziert der Zeitzeuge Michael Kahn-Ackermann, als hätten die Studentenführer eine klare politische Strategie oder Vorstellung von Demokratie gehabt. »Sie wollten einfach nicht ständig bevormundet werden.«5 Zum Zusammenstoß am 4. Juni 1989 war es dabei durchaus nicht überraschend gekommen. Unruhen in der Bevölkerung hatten schon seit Längerem Rückwirkungen innerhalb der Partei gehabt und in den Wochen des April und Mai 1989 ließ sich eine allgemeine Verunsicherung verzeichnen. Chaos drohte – ein Alarmzeichen für die Partei- und Staatsführung. Bereits zehn Jahre zuvor waren im Herbst 1978 in Peking an der »Mauer der Demokratie« öffentlich Reformen gefordert worden – eine Aktion, die im Frühjahr 1979 gewaltsam beendet worden war. Im Kampf zwischen Konservativen und Reformern war, wie erwähnt, am 16. Januar 1987 Hu Yaobang seines Amtes als Generalsekretär der KPCh enthoben und Zhao Ziyang an seine Stelle gesetzt worden. Gleichzeitig wurde die Kampagne gegen bürgerliche Liberalisierung fortgeführt. Einen neuen Höhepunkt hatten sodann die inzwischen als »Demokratiebewegung« bezeichneten Aktivitäten im Frühjahr 1989 erreicht. Diese Bewegung hatte freilich inzwischen gegenüber den Vorläuferstadien ihren Charakter insofern geändert, als sich nunmehr insbesondere die städtischen Intellektuellen, namentlich die Studierenden, zu Wort meldeten. INTRAELITÄRER KONFLIKT Einige Wortführer spielten bei alledem eine besondere Rolle. Am 6. Januar 1989 hatte der Astrophysiker Fang Lizhi (1936–2012) einen Brief an Deng 4  Sebastian Heilmann, »Tatsächlich hoffen wir auf ein Blutvergießen«, in: faz.net, 04.06.2008, URL: https://www. faz.net/aktuell/politik/china-spezial/chinas-geschichte/studentenrevolte-in-china-1989-tatsaechlich-hoffen-wir-auf-ein-blutvergiessen-1548835.html [eingesehen am 30.01.2019]. 5  Friederike Böge, Rückkehr in ein unbekanntes Land, in: Frankfurter ­Allgemeine Zeitung, 17.12.2018.

Xiaoping (1904–97) geschrieben, den damals mächtigsten Mann Chinas, der den Vorsitz in der Militärkommission innehatte. Fang Lizhi bat um Amnestie für alle politischen Gefangenen. Als Zeichen des Einlenkens wurde im April 1989 Hu Yaobangs Rückkehr auf die politische Bühne verstanden. Doch als er nach wenigen Tagen, am 15. April, starb, gerieten die Trauerkund­gebungen zum Ausdruck weiterer Proteste, die auch im Zeichen der Forderung nach besseren Lebensbedingungen für die Studierenden standen. Die Regierung – insbesondere der Generalsekretär der KPCh, Zhao Ziyang – reagierte zunächst mit Vermittlungsversuchen; doch die Proteste eskalierten und gipfelten am 20. April 1989 in einem Demonstrationszug auf den Tian’anmen-Platz. Helwig Schmidt-Glintzer  —  Göttin der Demokratie

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Damals strömten etwa 20.000 Menschen auf jenen Platz, der als Ort der Massendemonstrationen von Partei und Staat beansprucht wurde und von Mao bei seinen Kampagnen während der Kulturrevolution und später bei Feiern wie jenen zum 35. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China am 1. Oktober 1984 genutzt worden war. Die Vierzig-Jahr-Feier sollte am 1. Oktober 1989 stattfinden und nun sammelte sich dort eine Protestbewegung – am 22. April sollen es 200.000 gewesen sein.6 Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb bereits am 26. April die Volkszeitung die Demokratiebewegung als »planvolle Verschwörung« verurteilte. Wenngleich die Zahlenangaben schwanken, sollen auch am Folgetag wieder »rund 100.000 Studenten zusammen mit Zehntausenden Bürgern auf die Straße«7 gegangen sein. In der Folge lud sich der Konflikt auf – durch eine Reihe klug eingesetzter politischer Rituale aufseiten der Demonstranten einerseits sowie andererseits durch zahlreiche Ungeschicklichkeiten aufseiten der Führung, die sich unter der Wortführerschaft des Ministerpräsidenten Li Peng, Jahrgang 1928, dem am 13. Mai 1989 begonnenen Hungerstreik und den damit verbundenen Unruhen entgegenstellte. Insbesondere die Beeinträchtigung des Besuchs des russischen Präsidenten Michail Gorbatschow am 18. Mai in Peking – des ersten Besuchs eines sowjetischen Parteichefs seit dem Bruch zwischen Moskau und Peking im Jahr 1959 – hatte die Beachtung der Proteste und besonders des inzwischen begonnenen Hungerstreiks in der internationalen Medienwelt gesteigert. Zwar hatte es im Vorfeld des Besuchs letztlich erfolglose Verhandlungen mit den Studierenden gegeben, an denen auch der damals 33-jährige Literaturdozent Liu Xiaobo (1955–2017), der 2008 als Hauptverfasser der »Charta 08« an die Öffentlichkeit trat und 2010 den Friedensnobelpreis zugesprochen bekam, beteiligt gewesen war. Wegen der Besetzung des Tian’anmen-Platzes durch Protestierende konnte der Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion dann aber nicht wie sonst üblich dort, unweit der Großen Halle des Volkes, empfangen werden; die Empfangszeremonie wurde stattdessen auf den Flugplatz verlegt. Die von der Führung als peinlich empfundene Störung gerade dieses Staatsbesuchs und der damit verbundene Gesichtsverlust dürften die Bereitschaft zu einer militärischen Auflösung der Proteste erheblich befördert haben. Doch erst nach Gorbatschows Abreise am 19. Mai wurde am Folgetag der Ausnahmezustand über Peking verhängt und erst am 11. Januar 1990 wieder aufgehoben.

6  Vgl. Johnny Erling, Geheime Bekenntnisse eines Schlächters, in: Die Welt, 09.06.2010.

Am 30. Mai war es auf dem Platz des Himmlischen Friedens zur Errichtung der »Göttin der Demokratie« gekommen, einer weithin sichtbaren, zehn Meter hohen weißen Skulptur, die man aus Pappmaché und Polystyrol-Schaum

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1989 — Analyse

7  Klaus Mühlhahn, Die Volksrepublik China, Berlin 2017, S. 109.

auf einem Metallgestänge errichtet hatte. Wenige Tage später wurde mit dem Aufmarsch von Panzerverbänden und Truppen in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni 1989 der Platz blutig geräumt. Dass nach der dargestellten Vorgeschichte die Staatsmacht den Konflikt gewaltsam beendete, war für viele überraschend und empörend zugleich – stellten sich mit dem Aufmarsch der Panzer im Zentrum der Hauptstadt doch Partei und Staat mit der chinesischen Armee gegen die Bürger Chinas. Denn Protestbereitschaft hatte sich nicht nur in Peking, sondern in vielen Städten Chinas gezeigt, bis in breiten Kreisen der Bevölkerung und nicht zuletzt der Industriearbeiterschaft. Deng Xiaoping indessen gratulierte den Einheiten der Volksbefreiungsarmee und bedankte sich. Zhao Ziyang verlor kurz danach sein Amt als Generalsekretär, von dem er schon zuvor entbunden worden war; ihm folgte im Juni 1989 Jiang Zemin, der bis 1988 Bürgermeister von Shanghai gewesen war und sich schon bald als Nachfolger Deng Xiaopings durchsetzen sollte. Dazu gehörte, dass er bereits im November Deng Xiaoping im Amt des Vorsitzenden der Militärkommission folgte. Die Bilder vom Aufmarsch der Panzer, insbesondere von dem mutigen Sich-in-den-Weg-Stellen eines couragierten Bürgers und von der Räumung des Tian’anmen-Platzes, gingen um die Welt. Während im Ausland zahlreiche Dokumentationen publiziert wurden,8 blieben innerhalb Chinas die Ereignisse bis in die Gegenwart tabuisiert. Westliche Medien konnten dadurch ihre Deutungsmacht ausspielen und der Begriff vom »Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens« wurde geprägt.9 Die Zahl der Opfer bei der Räumung des Platzes und – viel entscheidender – der Zufahrtsstraßen wird heute zumeist mit hunderten, von manchen sogar mit mehreren tausend Toten und tausenden Verletzten angegeben.10 Über die Zahl der Toten 8  Siehe Ruth Cremerius u. a., Studentenprotest und Repression in China. April–Juni 1989. Analyse, Chronologie, Dokumente, Hamburg 1991; Andrew J. Nathan u. Perry Link, Die Tiananmen-­ Akte. Die Geheimdokumente der chinesischen Führung zum Massaker am Platz des Himmlischen Friedens, München 2001. 9  Vgl. auch Cremerius u. a., S. 3, die den Begriff des »Massakers« diskutieren. 10 

Vgl. Mühlhahn, S. 110. 11 

Ebd., S. 109.

in anderen Städten, in denen ebenfalls Demonstrationen zerschlagen wurden, gibt es überhaupt keine verlässlichen Angaben. Zusammenfassend stellt Klaus Mühlhahn fest: »Die Demokratiebewegung von 1989 war die größte spontane Massenbewegung seit der Gründung der VR China. Die Studenten verlangten Freiheit und Demokratie, aber ihre Proteste waren auch eine direkte Reaktion auf die aufkommenden sozialen Probleme und wirtschaftlichen Unsicherheiten Ende der 1980er Jahre.«11 DEMOKRATIE ALS ANDAUERNDES PROJEKT Das Thema Demokratie aber blieb freilich auf der Tagesordnung. Man hatte sie seit dem Vorabend der 4.-Mai-Bewegung 1919 als eines der wichtigsten Ziele im Rahmen einer Modernisierung Chinas gefordert. Dies hatte die geistige Debatte seither begleitet. Auch die junge Volksrepublik hatte sich Helwig Schmidt-Glintzer  —  Göttin der Demokratie

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unter das Motto einer »Neuen Demokratie« gestellt. Mit dem Ausgang der Kulturrevolution und nach dem Rückgang der Konfrontation mit den USA waren Demokratie und Menschenrechte erneut zum Thema geworden. Nach Vorboten seit etwa 1974 waren die Forderungen nach Demokratie zunehmend mit Kritik an der »Viererbande« verknüpft worden. Mit der Rehabilitation von Deng Xiaoping hatte im April 1977 der sogenannte Pekinger Frühling eingesetzt, der allerdings nur kurz währte. Hier wurde auch erste Kritik an Mao Zedong laut. Mit dem Namen Deng Xiaopings verband sich in den folgenden Jahren ein neuer Pragmatismus. Auf einer im März 1978 gehaltenen Rede hatte er die »Vier Modernisierungen« gefordert: die Modernisierung der Landwirtschaft, der Industrie, der Landesverteidigung und der Wissenschaft. Die Bestätigung des von Deng Xiaoping eingeleiteten Reformprozesses hatte die Parteispitze auf dem dritten Plenum des XI. Zentralkomitees im Dezember 1978 bekräftigt. Zur gleichen Zeit hatte es in Peking die bereits erwähnte »Mauer der Demokratie« gegeben, an der mit Wandzeitungen Kritik an der bisherigen Politik geäußert und wirtschaftliche Reformen eingeklagt wurden. An diesem Ort freien Meinungsaustauschs wurden bald auch Stimmen laut, die eine politische Modernisierung und Demokratie einforderten und die sich nicht durch die Reformversprechen beschwichtigen ließen. Nachdem im Januar 1979 auch die Partei selbst Gegenstand offener Kritik geworden war, begann die Parteiführung unverzüglich mit der Verhaftung führender Vertreter dieser Bewegung. Einzelne Wandzeitungsautoren wurden verfolgt und das mit Artikel 45 der Verfassung eingeräumte Recht, solche Wandzeitungen (dazibao) anfertigen zu dürfen, wurde aufgehoben. Damit endete im Frühjahr 1979 die nach dem Ort in Peking, an dem sich die »Mauer der Demokratie« befand, benannte »Xidan-Bewegung«; und der Bruch des Vertrauens zwischen der zaghaften Demokratiebewegung und der Regierung trat offen zutage. Mit der Schließung der sogenannten Mauer der Demokratie war eine Hoffnung gerade bei den Angehörigen der gebildeteren Mittelschicht enttäuscht worden.

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Als Symbolfigur für Hoffnung und Enttäuschung hatte lange Zeit der 1950 geborene ehemalige Rotgardist Wei Jingsheng gegolten. Ab 1976 wurde er als Dissident zu einer der zentralen Figuren der Protestbewegung und hatte zusätzlich zu den »Vier Modernisierungen« eine umfassende Demokratisierung als »fünfte Modernisierung« gefordert. Nach jahrelangem Gefängnis- und Arbeitslager-Aufenthalt kam er schließlich frei und lebt seit 1997 in den USA. Bei all den Unruhen hatte sich die Partei zu konsolidieren gesucht und bereits 1980 Deng Xiaopings Position durch die Berufung Zhao Ziyangs und Hu Yaobangs in den Ständigen Ausschuss des Politbüros des Zentralkomitees der KPCh gestärkt. Hu Yaobang wurde Generalsekretär der Partei, und durch die nachträgliche Rehabilitierung des der Kulturrevolution zum Opfer gefallenen ehemaligen Staatspräsidenten Liu Shaoqi (1898–1969) wurde die Neubewertung der Kulturrevolution fortgesetzt. Nun konnte, nachdem sich die alten Gegner Mao Zedongs auf ganzer Linie durchgesetzt hatten, die mit dem Namen Deng Xiaoping verbundene und seit 1978 eingeleitete Öffnungs- und Modernisierungspolitik stetig vorangetrieben werden. Vornehmliches Ziel war dabei, mittels marktwirtschaftlicher Reformen die ökonomische Leistungsfähigkeit des Systems zu steigern. HARMONIE, PROSPERITÄT UND VIELFALT Aus der durch die Reformpolitik geförderten Erwartungshaltung entstand bald sowohl eine Spannung zum Staat als auch eine Spannung innerhalb der Intellektuellen. Einerseits war Chinas Rückständigkeit lange Zeit dem Beharrungsvermögen der traditionellen Elite zugeschrieben worden; andererseits sollten nun von den Intellektuellen Impulse zur Erneuerung ausgehen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte gerade die Instabilität in der Elite eine Modernisierung unmöglich gemacht – eine Instabilität, die zwar ein Resultat der »Sorge für das Ganze«, ebenso aber auch eine Folge der Verweigerung und der Verfolgung von Partikularinteressen war. Während die einen in dem Bedürfnis nach Harmonisierung von Staat und Gesellschaft eines der Haupthindernisse auf dem Weg in die Moderne sahen und namentlich Helwig Schmidt-Glintzer  —  Göttin der Demokratie

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die regionalen Militärmachthaber zudem in erster Linie ihre regionale Herrschaft zu sichern suchten, strebten andere nach dem Aufbau eines starken, geeinten China, allen voran Chiang Kai-shek, über Jahrzehnte der Gegenspieler Mao Zedongs. Die nach dem Sturz der »Viererbande« erfolgte außenpolitische Öffnung hatte stärkere Einflüsse westlicher Kultur und zunehmende Rufe nach mehr Freiheit und Demokratie zur Folge. Solche Bestrebungen wurden zwar im Rahmen der Kampagne gegen geistige Verschmutzung im Oktober 1983 und auch in den folgenden Jahren immer wieder eingeschränkt; doch ließ sich die einmal entstandene informelle Meinungsfreiheit und Sittenvielfalt in den Städten nicht wieder zurückdrängen. Die Öffnung neuer Vermarktungsmöglichkeiten für die Bauern, insbesondere in der Nähe von Städten, hatte neue Formen der Ungleichheit entstehen lassen und in den Städten selbst zu wachsender Unzufriedenheit mit den Lebens- und Einkommensverhältnissen geführt. Solche Unzufriedenheit machte breitere Kreise für die Forderungen nach mehr Freiheits- und Entfaltungsmöglichkeiten empfänglich; Forderungen an die Regierung verbanden sich leicht, wie etwa bei den Demonstrationen für Pressefreiheit im November und Dezember 1986, mit ausländerfeindlichen, hier: anti-japanischen Forderungen. Was aber fehlte, war ein gesellschaftlicher Konsens, der sich schon innerhalb der Partei nicht wirklich entfalten konnte. Allein das Versprechen von zunehmendem Wohlstand und die Einführung marktwirtschaftlicher Strukturen dämmten weitere Proteste ein. FORDERUNGEN NACH REFORMEN UND DAS FORTLEBEN DES GEISTES VON 1989 Eine im Sommer 1998 sich stärker artikulierende innerchinesische politische Opposition – eine Folge der zeitweiligen Lockerung der Presse- und Medienkontrolle und einer partiellen Reform des chinesischen Strafrechts sowie von Unsicherheiten im Verhalten der lokalen Behörden – wurde im Herbst desselben Jahres durch drastische Verurteilungen gebremst, die vielerlei internationale Proteste hervorriefen. Das Neue an dieser politischen Opposition war, dass sie nicht mehr in der kleinen Gruppe der Dissidenten-Intellektuellen ihre Adressaten sah, sondern in einfacher Sprache die Sorgen und Nöte der breiten Bevölkerung artikulierte. Doch hatten einzelne von der Zentralregierung durchgesetzte Maßnahmen der Daseinsvorsorge und vor allem einige erfolgreiche Hilfseinsätze bei Naturkatastrophen, etwa bei der Bewältigung der Flutkatastrophe im August 1998, das Vertrauen der Bevölkerung in das System wieder gestärkt. Zugleich wurde die geschärfte Programmatik

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der innerchinesischen Opposition als ernsthafte Herausforderung der politischen Führung gesehen. So ist Demokratie bis heute in China ein Thema geblieben. Dabei war die Reform des politischen Systems immer virulent, nicht zuletzt innerhalb der KP Chinas; und eine der zentralen Aufgaben chinesischer Politikwissenschaftler bestand darin, hierfür Vorschläge zu erarbeiten. So wurden bereits vor dem 17. Parteitag 2007 einzelne Studien zur Reform des politischen Systems vorgelegt, die allerdings erst nach Ende des Parteitages veröffentlicht wurden.12 In diesen wurde eine »›Demokratisierung‹ des chinesischen Systems bis 2010« prognostiziert, allerdings »nicht als Angriff auf das Machtmonopol der Partei, sondern als Beitrag zu den laufenden Reformmaßnahmen« verstanden.13 12  Siehe die offizielle Seite der KPCh unter URL: http://theory.people.com.cn/ GB/68294/120979/index.html [eingesehen 03.11.2018].

Eine solche Form der Demokratisierung wird auch durch Meinungsumfragen gestützt, wonach sich die Mehrheit der Bevölkerung eher für einen konsensualen Reformprozess und für staatliche Fürsorge als für einen Wettbewerb zwischen unterschiedlichen Kräften aussprach. Wichtiger, als Meinungsfreiheit im Kontext der Regierungskritik zuzulas-

13  Vgl. Nele Noesselt, ­Governance-Formen in China. Theorie und Praxis des chinesischen Modells, Wiesbaden 2012, S. 151 f.

sen, ist der überwiegenden Mehrheit, dass die Regierung die Meinung der Bevölkerung beachtet. Für viele war eine geringe Einkommensdifferenz zwischen Arm und Reich und die Abdeckung der Grundbedürfnisse, etwa nach Essen, Kleidung und Obdach, wichtiger als die Möglichkeit, die Regierung

14  Siehe [Zhu, Suli =] Su Li, The Constitution of Ancient China hg. von Zhang Yongle u. Daniel A. Bell, Princeton 2018. Ich selbst habe an anderer Stelle zu dieser Frage Stellung genommen: siehe Helwig Schmidt-Glintzer, Der Mensch in Harmonie zwischen Himmel und Erde. Verfassungen in China in Vergangenheit und Gegenwart, in: Franz-Josef ­Arlinghaus u. a. (Hg.), Verfassungsgeschichte aus internationaler und diachroner Perspektive, München 2010, S. 15–33. 15 

Siehe Su Li, S. 18.

16  Vgl. Dorothea Gädeke, Politik der Beherrschung. Eine kritische Theorie externer Demokratieförderung, Berlin 2017. 17  Jürgen Zimmerer, Kunst der Beherrschung. Darf »der Westen« Demokratie exportieren?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.09.2018.

wählen zu können oder die politische Führung zu kritisieren. Als ein Beispiel und Indikator für ein solches Selbstverständnis und die gegenwärtig verhandelten Überlegungen zur Verfasstheit Chinas kann man etwa Positionen solcher Personen wie Zhu Suli, Jahrgang 1955, anführen. Dieser konzipiert seinen Verfassungsbegriff aus einer lebensweltlichen Rekonstruktion und erklärt schriftlich niedergelegte normative Verfassungstexte für zweitrangig.14 Verfassungen seien nämlich, wie die Weimarer Verfassung gezeigt habe, keine Garantie gegen den Rückfall in die Barbarei.15 Für China gelte, dass es durch die Geschichte geformt, also seine Verfassung bzw. Verfasstheit die Folge eines geschichtlichen Prozesses sei. Andere berufen sich wiederum auf Überlegungen zur Übertragbarkeit westlicher Staats- und Politikmodelle,16 wobei inzwischen manchem – angesichts der »von einigen propagierten Universalisierung des Antidemokratischen« – das »Pochen auf Beherrschungsfreiheit seltsam entrückt« erscheint.17 Zwar werden von vielen, insbesondere den Angehörigen der wachsenden Mittelschichten, auch heute noch politische Mitbestimmung und Teilhabe eingefordert – nicht nur auf die Volksrepublik als Ganzes, sondern auch auf einzelne Regionen bezogen. Jede Bedrohung Chinas fördert jedoch, wie in den letzten Jahren wiederholt zu beobachten war, nationalistische Haltungen Helwig Schmidt-Glintzer  —  Göttin der Demokratie

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und wirkt einer inneren Ausweitung von Freiheitsrechten des Einzelnen entgegen. Selbst die Protagonisten der Demokratiebewegung wie der Astrophysiker Fang Lizhi gaben, bei aller persönlichen Sympathie für Unabhängigkeitsbestrebungen etwa der Tibeter, der Einheit und dem Festhalten an den Außengrenzen Chinas oberste Priorität.18 Die Unterschiede in den Positionen und Prioritätensetzungen der Akteure des Protestes von 1989 schließlich lassen sich zum Teil auch damit erklären, dass sie verschiedenen Generationen angehörten und zudem mit spezifischen eigenen Vorstellungen die Entwicklung Chinas beeinflussen wollten, wie dies bei Fang Lizhi ebenso wie bei dem Schriftsteller und Publizisten Liu Binyan (1925–2005) der Fall war, die bereits seit Längerem ihre Vorstellungen von Demokratie, Reform und Modernisierung nicht nur innerhalb der Universitäten propagiert hatten19 und nach dem Fall der »Göttin der Demokratie« im Juni 1989 auf Dauer ins Exil gingen. Die Erinnerung an die »Göttin der Demokratie« wird in China tabuisiert; doch gedenkt man ihrer auf dem Campus der kanadischen University of British Columbia, gelegentlich auch durch Nachbildungen an anderen Orten. Dass die damaligen Ereignisse in Chinas Hauptstadt in Europa in besonderer Weise in Erinnerung geblieben sind, dürfte nicht zuletzt mit den dortigen Veränderungen im Jahre 1989 zusammenhängen, in dessen Herbst sich bei

18  Vgl. Helwig Schmidt-­ Glintzer, China: Vielvölkerreich und Einheitsstaat. Von den Anfängen bis heute, München 1997, S. 231.

der »friedlichen Revolution« gerade ein Blutbad wie in Peking nicht wiederholen sollte – wozu vielleicht das Entsetzen über den dortigen Panzereinsatz einen Beitrag geleistet hat.

Helwig Schmidt-Glintzer, geb. 1948, ist Sinologe und Publizist sowie Professor für Ostasiatische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Göttingen, zudem seit 2016 Seniorprofessor der Universität Tübingen und Gründungsdirektor des China Centrum Tübingen (CCT). Von 1993 bis 2015 war er Direktor der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und zuvor von 1981 bis 1993 Inhaber des Lehrstuhls für Ostasiatische Kultur- und Sprachwissenschaft an der Universität München. Seit 2014 Vizepräsident der Internationalen Konfuzius-Gesellschaft. 2015 Staatspreis der Volksrepublik China für besondere Verdienste um die chinesische Buchkultur. Zu seinen Forschungsthemen gehören die Geschichte Chinas sowie die europäische Beschäftigung mit China; Ungleichzeitigkeit von Modernisierungsprozessen unter besonderer Berücksichtigung von Wertsphärenverschiebungen; der Buddhismus als transnationale Religionsbewegung. Zuletzt erschien von ihm: Chinas leere Mitte. Die Identität ­Chinas und die globale Moderne (Matthes & Seitz: Berlin 2018).

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19  Siehe Fang Lizhi, China im Umbruch, hg. von Helmut Martin, Berlin 1989.

ESSAY

DIE AUFARBEITUNG DER AUFARBEITUNG WELCHE ZUKUNFT HAT DIE DDR-GESCHICHTE? ΞΞ Ilko-Sascha Kowalczuk

Die Entlassung des Politikwissenschaftlers Hubertus Knabe aus Unna als Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, die an das frühere zentrale Untersuchungsgefängnis des MfS erinnert, schlug öffentlich hohe Wellen. Dabei dürfte, aus demokratietheoretischer Sicht, unstrittig sein: Wenn Menschen zu lange unhinterfragt auf Posten und Pöstchen sitzen, deformiert das oft die Posten, nicht selten aber auch die amtsausübenden Personen – nicht nur in Wahlämtern, sondern ebenso in Institutionen. Von diesem Phänomen blieb auch die Aufarbeitung der SED-Diktatur, ganz abseits von Hubertus Knabe, nicht verschont. Da ich bereits seit 1990, mit damals jungen 23 Jahren, in dieser Szene aktiv bin, kann ich aus eigener Erfahrung bspw. konstatieren: Noch heute bekomme ich Einladungen zu Veranstaltungen aus dem Bereich der gesellschaftlichen Aufarbeitung, die ich überwiegend auch so schon etwa 1995 erhalten habe oder wenigstens hätte erhalten können. Offenbart sich darin nicht ein Problem? Seit 1990 war ich Mitglied im Unabhängigen Historiker-Verband, war am Umbau der Humboldt-Universität zu Berlin beteiligt, war sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur SED-Diktatur, war nach ihrer Gründung Mitarbeiter der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und habe nebenbei wissenschaftliche Arbeiten publiziert – alles in den 1990er Jahren. Als aktiver Zeitzeuge glaube ich daher, aus eigener Anschauung sagen zu können: Ja, es ist ein Problem, dass es bislang in der Aufarbeitungslandschaft keinen Typuswechsel des Aufarbeiters gegeben hat. Aufarbeitung von Geschichte ist – anders als im Idealfall die geschichtswissenschaftliche Analyse der Vergangenheit – ein sehr politischer Vorgang. Sie verfolgt geschichtspolitische Interessen, will etwas bewirken, im Falle Deutschlands die Demokratie und Freiheit stärken. So war die DDR-Aufarbeitung mit

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dem Grundsatz angetreten, die Demokratie im Osten zu befördern. Manche Aufarbeiter verkünden sogar, dass je besser Diktatur begriffen werde, Demokratie sich umso besser gestalten lasse. Das hört sich zwar etwas sehr stark nach Volkspädagogik an, ist aber ebenso ernst gemeint, wie es öffentlich kaum infrage gestellt wird. 2018 stifteten vor allem zwei Vorgänge Unruhe unter den Aufarbeitern und stellten Fragen an das bisherige Wirken: Zeigen – erstens – die rassistischen Vorgänge in Ostdeutschland, zuletzt in Chemnitz, womöglich, dass die Aufarbeitung der letzten fast dreißig Jahre fruchtlos geblieben ist? Haben im Osten womöglich zu viele die Demokratie nicht begriffen, von Diktaturen ganz zu schweigen? Oder ist – zweitens – die bisherige Aufarbeitung, wie so manche orakeln, in Gefahr, weil am 25. September 2018 einer der Oberaufarbeiter, Hubertus Knabe, seinen Hut nehmen musste? Natürlich ist die Aufarbeitung deswegen nicht gescheitert, geschweige denn in Gefahr. Knabe musste gehen, weil er viele Jahre sexistische Strukturen in seiner Institution verschleierte und diese dadurch mittrug. Er fand dafür keine Worte des Bedauerns – weder für diese Strukturen noch für die Frauen, die darunter zu leiden hatten. Von jemandem, der sich professionell mit Aufarbeitung von Schuld beschäftigt, ist das allerdings das Mindeste, was man hätte erwarten dürfen. Der Rausschmiss war demnach kein Racheakt, sondern offenbar nötig. Hier wurde ein politisches Zeichen gesetzt, Sexismus überall den Kampf anzusagen. Überfällig ist auch – und nun erst recht –, über das von Knabe vertretene, außerordentlich fragwürdig Gedenkstättenkonzept zu sprechen. Unter seiner Verantwortung war die Gedenkstätte mit einer Überwältigungsstrategie versehen worden: Niemand sollte nach einem Besuch aus der Gedenkstätte herauskommen und eine andere Auffassung über die DDR und ihr Unrecht als der Gedenkstättenleiter haben. Eine Gedenkstätte hat die Aufgabe zu informieren, Zeitzeugen zu Wort kommen zu lassen, deren Schicksal offenzulegen, den Opfern Namen zu geben und ebenso die Täter klar zu benennen, ihr Tun ins gesamtstaatliche Konzept einzuordnen. Das alles muss nach wissenschaftlich und museumspädagogisch anerkannten Maßstäben erfolgen, nicht nach geschichtspolitisch gewünschten Kriterien. Gedenkstätten als authentische Orte können ganz auf die Kraft des Ortes setzen, dürfen nicht übertreiben, sollen objektiv und nüchtern beschreiben. Die Zeitzeugen sollen ihre eigenen Geschichten erzählen, nicht die von anderen, und dies dem eigenen Erleben verpflichtet: Das Leben in den Zellen konnte sich schließlich stark unterscheiden; der Alltag war zu verschiedenen Zeiten sehr unterschiedlich. Gedenkstätten sollen auch nicht mit jungen Besucherinnen und Besuchern in Zellen Verhörsituationen nachstellen – so etwas nennt man

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vornehm Überwältigung oder, etwas burschikoser: durchgeknallt. Das aber gehörte zum Knabe-Konzept. Und Hohenschönhausen war im Vergleich zu anderen Haftorten in der DDR in den 1970er und 1980er Jahren bei Weitem nicht der schlimmste, sehr wohl aber der modernste Knast. Die meisten dort Inhaftierten kamen über kurz oder lang in den Westen – das kalkulierten auch SED und MfS mit entsprechenden Folgen für den Untersuchungshaftalltag in der Honecker-Ära ein. Auch dreißig Jahre nach ihrem weltweit gefeierten Ableben ist die DDR noch immer heftig umkämpft. Dabei erinnerte Knabes Einrichtung selbst im Prinzip an die Mahn- und Gedenkstätten der DDR – auch dort führten einstige Häftlinge die Besucher durch die Ausstellungen mit dem Ergebnis, dass nicht wenige anschließend schlaflose Nächte hatten. Das war vielleicht nicht schlimm. Aber zugleich wurde mit Holzhammerargumenten allen eingetrichtert, dass es nur eine Wahrheit gebe und diese gesetzmäßig zur DDR führe. Nur hier würde das Erbe des Antifaschismus richtig bewahrt. Hatte diese Antifaschismuspädagogik etwas mit den neofaschistischen Umtrieben der 1980er und frühen 1990er Jahre im Osten zu tun? Ja, da sind sich die Experten einig. Und führt die Ursachensuche, was heute im Osten los ist, auch zum Antifaschismusdogma in der DDR? Ja, auch da sind sich die Experten einig. Nun muss sich auch die DDR-Aufarbeitung, nicht nur wie Knabe sie vertritt, unangenehme Fragen gefallen lassen. Die unangenehmste vielleicht: Hat sie mit dazu beigetragen, was im Osten geschieht? Hat sie also ihre selbstgestellte Aufgabe, Demokratie zu befördern, verfehlt und womöglich sogar das Gegenteil mit provoziert? Aufarbeitung an sich ist wichtig, keine Frage – aber wie wichtig wirklich? Wer sollte das messen, einschätzen? Wen erreicht Aufarbeitung und vor allem: wen nicht? Man sollte sie nicht überschätzen, so wie man das Gewicht Einzelner in diesem Zirkus nicht überschätzen sollte. Weder große Männer machen allein Geschichte noch schlanke Menschen allein Geschichtsaufarbeitung. Beide Gruppen glauben das allerdings gern. In der DDR-Aufarbeitungslandschaft haben wir den merkwürdigen Umstand zu beobachten, dass in vielen Institutionen – die erfolgreiche Berliner Mauergedenkstätte ist eine rühmliche Ausnahme – Personen Entscheidungen treffen, den Ton vorgeben, Verantwortung tragen, die dafür meist »nur« durch ihre Biografie, nicht aber wegen einer professionellen Ausbildung in Museumsdidaktik, Geschichtspädagogik, Geschichts- oder Politikwissenschaften qualifiziert sind. Keine Frage: Vor allem in den 1990er Jahren war es von hoher symbolischer Bedeutung, dass Oppositionelle und Opfer der SED-Diktatur den kommunistischen und postkommunistischen Geschichtsmärchen Ilko-Sascha Kowalczuk  —  Die Aufarbeitung der Aufarbeitung

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ihre lebensgeschichtliche Wucht entgegenhielten. So funktionieren nun einmal Revolutionen. Aber die Revolution ist Geschichte. Die Kinder sind nicht entlassen worden, sondern eigentlich im Rentenalter – eigentlich. Die Aufarbeitung der SED-Diktatur in den 1990er Jahren stand ganz im Zeichen der Revolution. Endlich konnten mithilfe der Regime-Archive jene Geschichten und Biografien öffentlich gemacht werden, die zuvor brutal unterdrückt worden waren. Nochmals, weil es zentral ist: Aufarbeitung ist im Gegensatz zur Geschichtswissenschaft ein geschichtspolitisches Anliegen. Bei Aufarbeitung geht es nicht um Differenzierung, sondern um Anklage, Demaskierung, Entblößung, darum, mit Geschichtsbildern zu bilden, etwas zu legitimieren, Demokratie zu befördern. Deshalb stehen Geschichtsaufarbeitung und Geschichtswissenschaft auch miteinander im Dauerclinch. Will Letztere etwa Alltag und Gesellschaft in ihren vielschichtigen Erscheinungen differenziert analysieren, so wirft ihr Erstere Verharmlosung und Schönfärberei vor. Konzentriert sich die Aufarbeitung auf Opfer, Mauertote, Opposition und Widerstand, Haftanstalten und politische Justiz, bemängelt die professionelle Forschung, hier würde ein einseitiges Bild gemalt, das nur Schwarz und Weiß, aber keine Grautöne kenne. Beide Vorwürfe liegen regelmäßig daneben. Denn beider Aufgaben unterscheiden sich nun einmal so stark wie die von Bäckereien und Konditoreien: Nur weil sie zuweilen die gleichen Grundstoffe für ihre Arbeit benutzen und ihr Publikum Schnittmengen aufweist, streben sie ja noch keine ähnlichen Produkte an. Das ist nur leider nicht allen bewusst – weder den Beteiligten noch den Beobachtenden. Interessanterweise kam die ostdeutsche Revolution 1989 – anders als die der Polen, Tschechen, Slowaken, Balten oder Ungarn – praktisch ohne historische Bezüge aus. Das veränderte sich erst nach dem Sturm auf die Stasi und der Eroberung der Akten 1990. In Deutschland wurde nun diese Geschichte zu einem extremen politischen Kampfmittel – das von allen Seiten intensiv genutzt wurde. Neuartige Institutionen, parlamentarische Untersuchungsausschüsse und Kommissionen, eine neue Stiftung, zahlreiche Museen, Gedenkstätten und viele Vereine sowie Verbände bis hin zu Akten, die darüber entschieden, ob jemand zukunftstauglich sei oder nicht, ließen nicht nur eine flächendeckende Aufarbeitungslandschaft entstehen, sondern provozierten auch viele Fragen. Was hat die Regelüberprüfung, wofür das irreführende Wort gaucken erfunden wurde, eigentlich mit den Seelen der Überprüften, ob nun belastet oder nicht, gemacht? Millionen Menschen wurden überprüft, ob sie mit der Stasi zusammengearbeitet hatten. Viel Platz für Differenzierung blieb da nicht – umso weniger, da nur diese eine Institution, das Ministerium für Staatssicherheit, zum Beelzebub erklärt wurde. Ihr Auftraggeber, die SED,

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blieb im Schatten und konnte sich häuten. Was für eine schreiende Ungerechtigkeit. Nicht einmal die Aufarbeitung war wenigstens konsequent und nahm alle Verantwortlichen der SED-Diktatur ernst. Im Nachhinein erscheint die Stasi-Überprüfung als eine Beruhigungspille für die Mitläufer­gesellschaft. Und dass die Überprüfungen die Jahrtausendwende unbeschadet überstanden hatten, führte nicht nur zu Kopfschütteln, sondern vor allem zu Frust, Wut, Enttäuschung. Wie lange, fragten viele auch unbelastete Bürger, wollt »Ihr« uns eigentlich noch unsere Vergangenheit vorhalten? Obwohl der Kampf um die Stasi-Akten ein Sieg ostdeutscher Bürgerrechtler gegen gesamtdeutsche Schlussstrichbefürworter darstellte und auch die Existenz der Gauck-Behörde ganz allein ostdeutschen Aufarbeitern zu verdanken war, wird die gesamte Aufarbeitung einschließlich der Stasi-Überprüfung im Osten weithin als eine westdeutsche Idee angesehen. Das kommt daher, dass die Eliten im Osten – egal welche – prinzipiell als Westdeutsche gelten. Und wenn es dann doch mal ein Ostler in irgendeine maßgebliche Position geschafft hat, gilt er vielen Ostlern als irrelevante Ausnahme – oder als »Volksverräter« wie Bundespräsident a. D. Gauck oder Bundeskanzlerin Merkel. Beiden schlägt der besondere Hass der ostdeutschen Seele entgegen, weil sie doch eigentlich von »uns« sind, aber das Geschäft der Wessis betreiben würden. Was bedeutet es, wenn die (westdeutschen) Deutungs- und Erklärer-­Eliten ganz und gar überwiegend einen anderen Sozialisationshintergrund haben als jene Menschen, denen sie mittels Medien, Wissenschaft und Politik die Vergangenheit deuten und erklären sollen? Was folgt eigentlich aus dem Umstand, wenn die (ostdeutsche) Aufarbeitungstruppe im Ganzen gesehen ganz andere Lebenswege, Lebenserfahrungen vorzuweisen hat als die große Mehrheit der Gesellschaft, die sie mit ihrer Aufarbeitung aufklären will? Und wer klärt die Aufarbeiter über die Anderen auf? Sind sie die allwissenden Erzähler? Fragen, die bisher kaum gestellt werden; Fragen, auf die wir bislang keine überzeugende Antwort kennen. Die Irritationen in Ostdeutschland begannen aber nicht erst, als Westdeutsche notwendigerweise kamen und beim Aufbau im Osten tatkräftig mithalfen (und die Richtung des Aufbaus vorgaben). Schon die Bürgerrechtsgruppen 1989 waren durchweg von mutigen Menschen gegründet worden, die aufgrund ihrer beruflichen Stellung in der DDR (Kirche) oder ihres Eintretens für Menschenrechte vor 1989 (Opposition) zu gesellschaftlichen Randgruppen zählten. 1989 wussten alle, wogegen sie waren. Ein Programm wofür man sei, gab es jedoch nicht. Nie hat jemand jene gezählt, die 1989 nicht mitmachten. Sie waren die Mehrheit. Lohnte heute nicht zu analysieren, warum schon die Ilko-Sascha Kowalczuk  —  Die Aufarbeitung der Aufarbeitung

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freie Volkskammerwahl am 18. März 1990 so viele verstörende Ergebnisse zeitigte? Es verloren ja nicht nur die Sozialdemokraten und die Idealisten aus der DDR-Opposition, besonders bitter in Sachsen; es gewannen ja nicht nur das Geld und die schnellstmögliche Einheit; es gewannen vor allem jene, die – so sagen wir es heute – populistisch versprachen, die Landschaften würden schnell blühen und die Ostdeutschen würden in drei bis fünf Jahren wie die Westdeutschen leben. Es kam jedoch etwas anders. Als nach 1990 die DDR-Vergangenheit in den Medien, den Kommissionen und auf den Marktplätzen erzählt wurde, wie sie sich in den Akten darstellte, staunten die meisten Menschen, die dort gelebt hatten. Das meiste hätten sie nicht gewusst, hörte man immer wieder. Das war oft schwer zu glauben. Dahinter verbarg sich aber etwas anderes: Diese Geschichte von Leid, Opfern, Unterdrückung und Widerstand erreichte die Gesellschaft nicht, sie war nicht ihre Geschichte; noch schlimmer sogar: Sie wurde nicht ihre Geschichte. In Reaktion auf diese unverstandene Vergangenheit gab es die Ostalgie-­ Welle Anfang der 2000er Jahre. Kati Witt erzählte – ein aktuelles Foto zeigte sie lachend im FDJ-Hemd – dumme Geschichten, für die sie sich heute schämt. Sie hat dazugelernt. Die Aufarbeiter aber hatten nicht verstanden, dass sie an der Gesellschaft vorbei erzählten. Immer, wenn ihnen die Gegenerzählung nicht passte, vermuteten sie dahinter alte Seilschaften (die es auch gab) und Ewiggestrige (die es zuhauf gab). Warum kamen sie nicht auf die Idee, dass größere Teile der Gesellschaft begannen, sich dagegen zu wehren, wie ihnen ihre eigene Vergangenheit erzählt und damit eine immer fremder werdende Gegenwart legitimiert wurde? Im Osten waren simple Geschichtsbilder à la Knabe nicht nur im SED/PDS/Linkspartei-Milieu verpönt; die Ostalgiewellen waren, zugespitzt, nichts anderes als die Landserschmonzetten in der alten Bundesrepublik, die sich jahrzehntelang größter Beliebtheit erfreuten. Wurden die Millionen Leserinnen und Leser deshalb beschimpft? Das hätte schon aus wahlarithmetischen Gründen vor dem Auftauchen der Grünen niemand wagen dürfen. Für den Osten gab es eine solche Zurückhaltung nie – weder von Westlern noch von den Ostlern, die aufarbeiteten. Historiker verfolgen nicht die wissenschaftliche Aufgabe, Bilder zu entwerfen, in denen sich der Einzelne wiederfindet. Das geht auch nicht. Die Aufarbeitung aber will Identifikationsangebote unterbreiten, die eine Form von Integrationschancen darstellen: Aufarbeitung als Mittel, um die Ostdeutschen in die bundesdeutsche Gesellschaft zu integrieren: »Ihr habt eine Diktatur überwunden, Ihr könnt stolz sein, Ihr seid Demokraten. Wenn Ihr die Diktatur verstanden habt, seid Ihr für die Demokratie gerüstet, könnt sie gestalten und seid für immer und ewig immun gegen Extremismus.« So

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ungefähr lauten Lehrsätze der Aufarbeiter. Das hat nicht ganz geklappt – zumindest bis jetzt. Fast die Hälfte der Ostdeutschen können sich aktuell vorstellen, die rassistische AfD zu wählen; und fast die Hälfte fühlen sich als Deutsche zweiter Klasse. So viel Kollektivismus im Osten hat es bisher noch nie gegeben. Das liegt natürlich nicht nur daran, dass die Aufarbeitung an ihren Ansprüchen scheiterte. Auch wenn es durchaus Parallelen zu anderen rassistischen und populistischen Entwicklungen in Nord- und Westeuropa, Nord- und Südamerika gibt. Die Besonderheiten dürfen dabei nicht aus den Augen verloren werden: In Ostdeutschland hat es nach 1933 fast sechzig Jahre lang nicht nur keine Demokratie, sondern auch keine Zivilgesellschaft gegeben. Von den etwas mehr als 16 Millionen Ostdeutschen hatten 1990 nur etwa zwölf Prozent, also die vor 1924 Geborenen, eine parlamentarische Demokratie durch eigene Anschauung irgendwie erlebt. Es gab keine Traditionen, an die sich hätte anknüpfen lassen. Demoskopen zeigten sich noch in den 2000er Jahren verwundert, wie homogen in Ostdeutschland der Wertehorizont der Gesellschaft ausfiel, im scharfen Kontrast zur Heterogenität im Westen. Der sozialökonomische Transformationsprozess in den 1990er Jahren war in Ostdeutschland kulturell und mental – nicht sozial – so schmerzvoll, einschneidend, umfassend und fast die gesamte Bevölkerung erfassend wie nirgends sonst. Es war, wie DGB -Chef Heinz-Werner Meyer im August 1990 treffend formulierte, als würde man einem Auto bei rasender Fahrt die Reifen wechseln wollen. Die Gesellschaft kam nicht zur Ruhe – und dabei mussten auch noch fast jeder und jede sich fragen lassen: »Und was hast Du bis 1989 getan?« Die falsche Antwort, die passen1  Vgl. Ilko-Sascha ­Kowalczuk, Einmal Stasi – immer Stasi?, in: bpb.de, 17.03.2017, URL: http://www.bpb.de/ geschichte/deutsche-geschichte/ stasi/240047/einmal-stasi-immerstasi?pk_­campaign=nl2017-01-11 &pk_kwd=240047 [eingesehen am 07.02.2019]. 2  Ausführlich: Ilko-Sascha Kowalczuk, Die Hochschulen und die Revolution 1989/90. Ein Tagungsbeitrag und seine Folgen, in: Benjamin Schröder u. Jochen Staadt (Hg.), Unter Hammer und Zirkel. Repression, Opposition und Widerstand an den Hochschulen der SBZ/DDR, Frankfurt a. M. 2011, S. 365–408.

den Akten und ein neuer biografischer Bruch waren besiegelt. So hatte sich das 1989/90 wohl niemand vorgestellt; und noch weniger, dass die Grundsätze in der Aufarbeitung seither kaum Veränderungen erfahren haben. Die Debatte um Andrej Holm am Jahresende 2016/Jahresanfang 2017, der als 19-Jähriger fünf Monate am Ende der DDR hauptamtlicher Mitarbeiter des MfS gewesen war, hat das eindrücklich gezeigt.1 Bei einer anderen Debatte einige Jahre zuvor – es ging um den Umgang des designierten Präsidenten der Humboldt-Universität zu Berlin, Jan-Hendrik Olbertz, mit seinen Graduierungsschriften aus der DDR – hatte sich ein Großteil der Öffentlichkeit weitaus gnädiger gezeigt.2 Hier der Stasi-Mann, dort der zwangsweise Angepasste – so die öffentliche Deutung. Fünf Monate Stasi standen gegen mehr als zehn Jahre als leninistischer Ideologe. Beide leugneten nicht, beide gingen kritikwürdig mit ihrer Vergangenheit um; der eine wurde in Schimpf und Schande davongejagt, Ilko-Sascha Kowalczuk  —  Die Aufarbeitung der Aufarbeitung

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der andere in Amt und Würden befeiert und ohne jeden wissenschaftlichen Ausweis noch mit einer Lebenszeitprofessur belohnt. Glaubt da jemand, die Kriterien wären vernünftig, rational, nachvollziehbar, historisch angemessen, unabhängig von der jetzigen politischen Verortung? Vor diesem Hintergrund: Ist die Aufarbeitung noch zu retten? Ja, natürlich! Sie muss sich nicht gänzlich neu erfinden. Aber sie sollte sich neu aufstellen. Die Zukunft der DDR-Geschichte ist nämlich offen. Die Causa Knabe sollte uns alle einmal innehalten und fragen lassen, ob es nicht doch mehr Zusammenhänge gibt zwischen einseitigen Geschichtsbildern, fehlenden Eliten aus dem eigenen Lebensbereich, sozialen Ungerechtigkeiten und einer gesichtslosen Menge, die Menschen im Mittelmeer »absaufen« lassen möchte, die zu Gewalt gegenüber »Anderen« bereit ist und die ihren Hass in sozialen Medien wie auf Marktplätzen unverblümt zur Schau trägt und dabei keinerlei Berührungsängste mit extremistischem Gedankengut hat. Victor Klemperer sprach davon, dass Sprache wie winzige Arsendöschen töten könne. Der Hass auf diskriminierungsfreie Sprache ist eine Arsenbombe. Um nur noch zu hoffen, ist keine Zeit mehr. Aufarbeitung kann Integrations- und Identifikationsangebote unterbreiten, aber sie ist natürlich kein Allheilmittel. Aufarbeitung muss die Menschen dort abholen, wo sie stehen – nicht wo die Aufarbeiter stehen. »Täter« und »Opfer« sind keine geeigneten Kategorien, um eine Gesellschaft zu erklären; noch weniger aber um eine historische Gesellschaft Nachgeborenen zu erklären, nahezubringen. Die DDR-Aufarbeitung könnte nun, fast dreißig Jahre nach dem Mauerfall, be-

ginnen, die ganze Palette der DDR-Gesellschaft und die Transformationsgeschichte miteinander verknüpft zu erzählen. Die Aufarbeitung der 1990er Jahre muss überhaupt beginnen. Natürlich brauchen wir dafür keine Wahrheitskommissionen, auch keine Versöhnungskommissionen. Wer das fordert, wie die sächsische Integrationsministerin Petra Köpping, hat von der Apartheid-Diktatur in Südafrika, wo es nach dem Sturz der Apartheid solche Kommissionen gab, offenkundig nicht einmal Grundkenntnisse – und vom Transformationsprozess in Ostdeutschland wohl auch nicht. Ebenso ist absurd, von der ostdeutschen Kolonisierung zu sprechen – ein Schlagwort seit 1990. Kolonialismus war eine Fremdherrschaft, Diktaturen mit dutzenden Millionen Opfern, in den Dimensionen nur dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus ähnlich. Und keine Kolonialherrschaft ist von den Kolonisierten sehnlichst herbeigewählt worden. Wir brauchen eine kritische Auseinandersetzung mit den sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Ursachen und Folgen der Transformation. In dieser Aufarbeitung müssen alle Erfahrungsräume Platz finden. Das Leben

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der Menschen vor und nach 1989 ist bei den meisten viel stärker miteinander verknüpft, als historische Epochenzäsuren vorgeben. Ostdeutschlands Gegenwart ist nicht zu erklären als Ergebnis eines linearen Prozesses. Historische Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert, Prägungen durch den Nationalsozialismus und den SED-Kommunismus, die fehlende Aufarbeitung von Kolonialismus, Rassismus und Antisemitismus und der Transformationsprozess seit 1990 gehören in der Analyse zusammen und werden ohne die Berücksichtigung der globalen Herausforderungen – der bundesdeutschen Versäumnisse in der Aufarbeitung (Rassismus, Kolonialismus) und der westdeutschen Vereinigungsmentalität –, denen sich Ostdeutschland seit 1990 stellen musste, nicht befriedigend ausfallen. In vielen Parametern kam es nur zu einer nachholenden Modernisierung, in anderen war Ostdeutschland auch Modellfall globaler Entwicklungen. Wenn wir es schaffen, ostdeutsche Geschichte, die Hoffnungen, Träume, Aufbrüche und Enttäuschungen als einen Fluss im Strom der Zeit des 20. Jahrhunderts zu erzählen – aufzuarbeiten –, dann sind wir auch nicht mehr weit entfernt von der schon lange geforderten gesamtdeutschen Geschichte. Bundesdeutsche und DDR-Geschichte, deutsche und europäische sowie globale Geschichte gehören zusammen – mehr als den damals Verantwortlichen lieb und den Zeitzeugen bewusst war. Nicht als platte Kontrastgeschichte, sondern als eine miteinander verzahnte Geschichte sollte die deutsch-deutsche Geschichte erzählt werden; und die DDR eben auch als eine Gesellschaftsgeschichte in der Parteidiktatur, in der viel mehr möglich war, als nur »Täter« oder »Opfer« zu sein. Die meisten waren weder das eine noch das andere, ganz viele aber beides. Das könnte gelingen. Voraussetzung wäre aber wahrscheinlich, dass nun all jene an den Schaltstellen der Aufarbeitungsmacht und Wissenschaftsdeutung, die sich in den letzten Jahren so verdient gemacht haben, Platz machen für die dreißig- bis vierzigjährigen Visionäre, für jene, die Aufarbeitung und Wissenschaft endlich zusammenbringen können, ohne sich des Verdachts auszusetzen, irgendetwas verharmlosen zu wollen. Die Gedenkstätte Hohenschönhausen könnte hierfür eine echte Vorreiterrolle einnehmen.

Dr. Ilko-Sascha Kowalczuk, geb. 1967, ist Historiker, Autor und Herausgeber zahlreicher zeithistorischer Bücher; im Sommer 2019 erscheint: Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde, München 2019.

Ilko-Sascha Kowalczuk  —  Die Aufarbeitung der Aufarbeitung

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PERSPEKTIVEN

ANALYSE

DAS UMSTRITTENE ERBE DES MICHAIL GORBATSCHOW RUSSLAND ZWISCHEN ZERFALL UND NEUANFANG ΞΞ Eva-Maria Stolberg

Die friedliche Auflösung der Sowjetunion und des sozialistischen Bündnissystems in Osteuropa war eines der wichtigsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts. Dieser Prozess, in Gang gesetzt durch die Reformen Gorbatschows in den späten 1980er Jahren, führte zur deutschen Wiedervereinigung, zur Entstehung demokratischer Gesellschaften in Osteuropa und zu deren Beitritt zur Europäischen Union. Dreißig Jahre nach der Ära Gorbatschow ist es an der Zeit, Bilanz zu ziehen, welche Auswirkungen Gorbatschows Politik des Wandels auf das Russland des 21. Jahrhunderts hatte – und noch immer hat. URSACHE ODER WIRKUNG? Perestroika (Umbau) und Glasnost (Offenheit) sind in der retroperspektiven Betrachtung nicht unumstritten – vor allem in Russland besteht der Vorwurf, Michail Gorbatschow sei der Totengräber der russischen Weltmachtstellung gewesen. In Abkehr von der Breschnew-Doktrin verfügte Gorbatschow 1989, dass die Länder des Warschauer Paktes ihre Staatsform selbst wählen durften. Dies führte schließlich zu den friedlichen Revolutionen in Osteuropa. Unter Gorbatschows Mitwirkung kam es 1990 zur deutschen Wiedervereinigung, im selben Jahr wurde ihm der Friedensnobelpreis verliehen. Im August 1991 wollten Putschisten dann das Rad der Reformen wieder zurückdrehen und Gorbatschow entmachten. Der Sieger des Konfliktes im Sommer war Boris Jelzin, der nach der Auflösung der Sowjetunion zum ersten Präsidenten der Russländischen Föderation avancierte. Die Sowjetunion war untergegangen, der Zerfall hatte jedoch schon früher eingesetzt. Mitte der 1980er Jahre durchlebte die Sowjetunion mit der vergreisten und kurzlebigen Führungsriege unter Andropow und Tschernenko eine Stagnation in Wirtschaft und Politik. Erkannt hatte das Juri Andropow,

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der wie Gorbatschow selbst aus der nordkaukasischen Region Stawropol stammte und für einen Führungswechsel hin zu einer jungen Generation von Kadern plädierte. Am 11. März 1985, einen Tag nach dem Tod Tschernenkos, wählte das Zentralkomitee der KPdSU den erst 54-jährigen Michail Gorbatschow zum neuen Generalsekretär. Es folgte die kurze Zeit von Glasnost und Perestroika. Das Ergebnis der Reformierung der Sowjetunion war

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Perspektiven — Analyse

sechs Jahre später deren Auflösung, die von Gorbatschow weder beabsichtigt noch vorausgesehen worden war. Im Jahr 2011 bezeichnete Vladimir Putin den Zerfall der Sowjetunion als »größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts«; er hätte an Gorbatschows Stelle um den Erhalt der Union gekämpft.1 Putins Politik zielt auf die Wiederherstellung der Weltmacht Russland ab, wie unlängst der Konflikt um die Ukraine gezeigt hat – der ebenfalls ein Erbe der untergegangenen Sowjetunion ist. »SOZIALISMUS MIT MENSCHLICHEM ANTLITZ« Im Westen wird die Ära Gorbatschow positiv bewertet: Seine Reformpolitik führte zur Auflösung des Ostblocks und der Sowjetunion; der Kalte Krieg fand ein Ende, der geopolitische Gegenspieler des Kapitalismus war untergegangen. In Russland fällt das Urteil indes anders aus: Gorbatschow habe die Supermacht Sowjetunion auf seinem Gewissen. 2018 hat das russische Meinungsforschungsinstitut Lewada eine Bevölkerungsfrage durchgeführt. Die Befragten sollten sich entscheiden, welchem politischen Programm aus dem Jahr 1991 sie heute folgen würden: dem Gorbatschows oder dem Jelzins. Beide Politiker kamen dabei schlecht weg – auf Gorbatschow entfielen neun Prozent, auf Jelzin 16 Prozent.2 In einem Interview mit dem BBC-Korrespondenten Steve Rosenberg im Dezember 2016 räumte Gorbatschow nach 25 Jahren ein, das Ende der Sowjetunion sei für ihn persönlich ein Drama gewesen, aber auch für seine Landsleute3 – wenngleich die bis heute umstrittenen Reformen Gorbatschows in den 1980er Jahren zeitgemäß erschienen. Gorbatschows Entwicklung zum ambitionierten Parteikader der KPdSU begann in den 1970er Jahren, in der Breschnew-Ära – der Zeit der Stagnation. Gorbatschow kam durch den tschechischen Kommunisten und früheren Kommilitonen an der Moskauer Universität, Zdeneˇk Mlynárˇ, mit den Ideen des Prager Frühlings in Berührung. Die Idee eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz beeindruckte ihn zwar, aber angesichts seiner eigenen politischen Karriere in der Sowjetunion verhielt sich Gorbatschow angepasst. Ungeachtet der Sogkraft eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz, den

1  Siehe Gorbatschow – Totengräber der UdSSR, in: MDR, 19.08.2016.

Gorbatschow mit seiner neuen Politik von Glasnost und Perestroika in den

2  Siehe ebd.

tem mithilfe einiger reformsozialistischer Reparaturen wiederherzustellen –,

späten 1980er Jahren verwirklichen wollte – quasi als letzter Versuch, das Syslässt sich bilanzieren, dass Gorbatschow ein zunehmend krisengeschütteltes

3  Siehe Mikhail Gorbachev – The man who lost an empire, in: BBC News, 13.12.2016.

Land regierte, mit desolater Wirtschaft, daraus resultierender sozialer Unzufriedenheit und nationalen Spannungen im Vielvölkerreich Sowjetunion. Die Eva-Maria Stolberg  —  Das umstrittene Erbe des Michail Gorbatschow

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Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken hatte in politischer, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht tiefe Risse bekommen, die sich lediglich durch neues Denken nicht mehr kitten ließen. Der August-Putsch von 1991 kulminierte dann in der Existenzfrage für Gorbatschow und die Zukunft der Sowjetunion. Es war die Stunde der Gegner Gorbatschows: auf der einen Seite die Putschisten um Gorbatschows Stellvertreter, Gennadi Janajew; auf der anderen Seite Boris Jelzin, der seine eigene politische Chance witterte. Die Putschisten verlangten von Gorbatschow die Verhängung des Ausnahmezustandes, sie wollten die Unterzeichnung des neuen Unionsvertrages verhindern. Gorbatschows Festsetzung und Isolierung in seinem Feriendomizil auf der Krim im August 1991 war der erste Coup d’État vonseiten der Putschisten; der zweite kam später von Boris Jelzin. Szenenwechsel: Als Michail Gorbatschow gegenüber dem Hardliner der ungarischen KP, János Kádár, im September 1985 seine Politik des neuen Denkens vorstellte, meinte dieser: »Haben Sie keine Angst, dass sich die Geschichte in Gestalt einer Hofverschwörung wiederholt, wie dies bei Chruschtschow der Fall war?«4 Gorbatschows neuer Kurs in den 1980er Jahren entsprang seiner persönlichen Einsicht, die er nochmals in seinem Buch »Das neue Russland. Der Umbruch und das System Putin« dargelegt hat, der zufolge »die Gesellschaft im Würgegriff eines Systems erstickte, das auf Bürokratie und Befehlsgewalt ausgerichtet war«. »Dazu verdammt zu sein, einer Ideologie zu dienen und gleichzeitig die schreckliche Last eines Rüstungswettlaufs zu tragen – geht an die Grenzen des Möglichen«5, so Michail Gorbatschow. Gorbatschow ging es nicht um Teilreformen, sondern um einen grundsätzlichen Erneuerungsprozess, um das Land aus dem inneren und äußeren Würgegriff zu befreien. Das totalitäre System sollte durch wirtschaftliche Liberalisierung und bürgerliche Freiheiten (Glasnost) überwunden werden. Dabei spielten auch Gorbatschows eigene Erfahrungen hinein: Seine Studienzeit an der Juristischen Fakultät der Moskauer Universität und die frühe politische Laufbahn fielen in die Zeit des Spätstalinismus. Seine Eltern und Großeltern hatten in der Stawropoler Provinz die Zwangskollektivierung erlebt. In seinem erwähnten Buch zieht Gorbatschow eine positive Bilanz seiner Amtszeit: Zwar sei die Sowjetunion aufgelöst worden, doch habe sich es bei ihr um ein rigides System gehandelt. An dessen Stelle seien im postsowjetischen Russland eine Marktwirtschaft und ein Parteienpluralismus getreten. Die Auflösung der Sowjetunion habe sich zudem ohne Blutvergießen vollzogen. Russland habe sich dem Ausland gegenüber geöffnet und sich damit internationale Anerkennung und Vertrauen erworben. Das postsowjetische Russland habe ein neues, demokratisches Fundament erhalten.

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Perspektiven — Analyse

4  György Dalos, ­Gorbatschow. Mensch und Macht. Eine Biographie, München 2012, S. 16. 5  Michail Gorbatschow, Das Neue Russland. Der Umbruch und das System Putin, Berlin 2015, S. 19.

REFORMEN ALS KRISENMANAGEMENT Die Perestroika beschreibt Gorbatschow als einen »gewaltigen Kraftaufwand«, einen »heftigen Kampf gegen den Widerstand der Bestrebungen des Alten, Überlebten […] der früheren Partei- und Staatsstrukturen, des Wirtschaftsapparates – und letztendlich gegen unsere eigenen Gewohnheiten, unsere ideologischen Vorurteile, unsere Gleichmacherei und unsere Unselbständigkeit«. Darüber hinaus spricht er das »niedrige Niveau der politischen Kultur« und »die Angst vor dem Neuen« an. Den Übergang zum postsowjetischen Russland beschreibt er als schwierig: »Das alte System war zusammengebrochen, noch bevor das neue die Chance hatte, ans Laufen zu kommen. Und die Krise unserer Gesellschaft spitzte sich zu.«6 Selbstkritisch reflektiert Gorbatschow, dass die Jahre der Perestroika durch ein Krisenmanagement gekennzeichnet gewesen seien. Der Putsch vom August 1991 habe lediglich den Höhepunkt bedeutet. Nach der Auflösung der Sowjetunion machte das postsowjetische Russland unter seinem neuen Präsidenten Boris Jelzin eine Schocktherapie durch. Infolge der Freigabe der Preise spitzte sich 1992 die wirtschaftliche, soziale und politische Lage zu.7 Die starken Tendenzen eines politischen Autoritarismus sieht Gorbatschow in der russischen Geschichte begründet, in der es nur wenige Ansätze gab, eine demokratische Gesellschaft zu entwickeln. Die traditionelle Obrigkeitsstaatlichkeit habe – und zwar schon im Zarenreich – zur politischen Unmündigkeit der Bevölkerung geführt. Staatlicher Dirigismus habe auch die Entfaltung einer Marktwirtschaft behindert. Die Reformresistenz habe schließlich im Jahr 1917 zur Oktoberrevolution geführt. Lenin, so Gorbatschow, habe desolate politische, wirtschaftliche und soziale Verhältnisse vorgefunden. Aber im Unterschied zu Stalin habe er selbstkritisch die Fehler in seiner Politik erkannt und als Konsequenz zum Beispiel die Neue Ökonomische Politik verkündet. Diese konnte sich in ihrer Wirksamkeit jedoch mit Stalins Machtantritt nicht mehr entfalten. Nach Gorbatschows Ansicht habe die Ideologie des Sozialismus unter Stalin eine rigide und dogmatische Form angenommen. Davon seien sowohl der Staat als auch die Gesellschaft in der Sowjetunion über Jahrzehnte geprägt worden. Gorbatschow gibt die treffende Analyse, dass die Massenbewegung – die Beteiligung von Arbeitern und Bauern an der Oktoberrevolution – nicht 6  Ebd., S. 21. 7  Vgl. Michail ­Gorbatschow, Das Neue Russland. Der Umbruch und das System Putin, Berlin 2015.

zu einer politischen Mitbestimmung der Bevölkerung im Sinne einer Demokratisierung geführt habe; stattdessen habe bereits Lenin eine hierarchisch organisierte Einparteienherrschaft mit einer privilegierten Nomenklatura eingeführt. Dieses Merkmal habe die Sowjetunion bis zu ihrer Auflösung im Jahr 1991 geprägt. Die Kommunistische Partei habe alle Lebensbereiche Eva-Maria Stolberg  —  Das umstrittene Erbe des Michail Gorbatschow

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durchdrungen und dem sowjetischen Bürger jedes Recht auf politische Teilhabe entzogen, ihn insofern entmündigt. Gorbatschows Politik der Glasnost habe dem sowjetischen Bürger das Recht auf freie Meinungsäußerung zurückgeben wollen.8 Das Dilemma, vor dem Gorbatschows neue Politik stand, war das schwierige Erbe der Breschnew-Ära. In den 1980er Jahren war der Niedergang der von der Schwer- und Rüstungsindustrie geprägten sowjetischen Wirtschaft nicht mehr zu verleugnen. Die Trägheit des Systems und die Selbstgefälligkeit der politischen Elite, der Nomenklatura, bewirkten eine tiefgreifende Entfremdung von der Bevölkerung – und zwar in allen Sowjetrepubliken. Diese Entfremdung hat Gorbatschow in den sechs Jahren seiner Amtszeit nicht grundsätzlich überwinden können – sie prägt bis heute das postsowjetische Russland. Der Samisdat-Schriftsteller Boris Kagarlitsky stellte zu Recht fest, dass Gorbatschows Politik der Glasnost nichts Substanzielles gegen die tradierten Parteistrukturen habe ausrichten können.9 Die Wahlen zu den einzelnen Parteigremien habe nach dem bisherigen Prozedere stattgefunden, ohne demokratische Verwurzelung in der Bevölkerung. Das Machtmonopol der Kommunistischen Partei sei von Gorbatschow nie infrage gestellt worden. Auch Teile der damaligen sowjetischen Presse, vor allem in der Provinz, monierten den antidemokratischen Prozess bei der Wahl der Delegierten. Einen kompetitiven Wettstreit politischer Ideen und Programme gab es nicht. In der russischen Geschichte wurden die Reformen stets von der Elite initiiert, eine breite Verankerung in der Bevölkerung fehlte, so auch in der Gorbatschow-Ära. Reformprozesse gestalteten sich in der russischen Geschichte folglich zäh und langwierig. Oft wurden gesellschaftliche Veränderungen durch Revolution (Oktoberrevolution) oder Repression (Stalinismus) angestoßen.10 Kagarlitsky beschreibt die zunehmende Spaltung der Kommunistischen Partei, aber auch der intellektuellen Elite des Landes: auf der einen Seite die »konservativen« Kräfte, die in Gorbatschows Reformen die Gefahr eines politischen und wirtschaftlichen Zerfalls der Sowjetunion sahen, auf der anderen die »liberalen« Kräfte, die einen freien Markt forderten. Auch die Wirtschaft lief nicht gut. Leonid Abalkin, Direktor des Wirtschaftsinstituts der Sowje­ tischen Akademie der Wissenschaften, zog 1988 eine Bilanz der wirtschaftlichen Reformen der zurückliegenden drei Jahre und erklärte, die »Phase der Stagnation« sei noch nicht überwunden.11 Dass Gorbatschow bei seinen Reformen lediglich die Überlebensfähigkeit der sowjetischen Gesellschaft sichern wollte, zeigte sich schon bei seinem Machtantritt, der ohne die Unterstützung des erfahrenen Außenministers

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Perspektiven — Analyse

8  Siehe ebd. 9  Siehe Boris Kagarlitsky, Farewell Perestroika. A Soviet Chronicle, London 1990, S. 20. 10  Vgl. ebd., S. 3. 11  Vgl. ebd., S. 19.

Andrei Gromyko und des Leiters des KGB, Viktor Tschebrikow, nicht möglich gewesen wäre. Die neue Politik von Perestroika und Glasnost entsprach dem Geist der KSZE-Schlussakte von Helsinki. Gorbatschows neuer Kurs bekannte sich zu den Menschenrechten, zur Meinungs- und Pressefreiheit; unter seiner Regierung wurden sowjetische Dissidenten wie Andrei Sacharow rehabilitiert. Die Reformen entwickelten schnell eine Eigendynamik. Die zahlreichen gesellschaftlichen Gruppen, die sich im Zuge der Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit bilden konnten, die nationalen Bewegungen in den Sowjetrepubliken, vor allem im Baltikum, die für sich nun das Selbstbestimmungsrecht der Völker in Anspruch nahmen, bewirkten eine Erosion des Herrschaftsmonopols der Kommunistischen Partei. ZWISCHEN DEMOKRATISIERUNG UND AUGUST-PUTSCH Der Demokratisierungsdruck von »unten« nahm ab 1989 immer mehr zu. In der Sowjetunion entstand eine starke Bürgerrechtsbewegung, die nicht mehr auf einige wenige Dissidenten beschränkt war. Diese Bürgerrechtsbewegung mit ihrer Losung »Weg mit der KPdSU« wurde zum Impulsgeber für die Demokratisierung in den anderen ostmittel- und osteuropäischen Staaten.12 Die orthodoxen Kommunisten in der KPdSU, die Putschisten vom August 1991, sahen darin den »Ausverkauf der sozialistischen Werte«13. Schlussendlich hat sich gezeigt, dass Glasnost zu tiefgreifenderen Auswirkungen als die Perestroika, d. h. der wirtschaftliche Reformprozess, führte. Die öffentliche Kommunikationskultur, die dadurch entstand und an der gerade auch die nationalen Bewegungen in den Sowjetrepubliken beteiligt waren, führte zur Erosion des autoritären Systems, wodurch das Meinungsmonopol der Kommunistischen Partei nicht mehr aufrechtzuerhalten war. Die Perestroika wiederum hatte mit der Einführung einiger begrenzter Elemente der Marktwirtschaft nicht den erwarteten Erfolg. Die Versorgungslage der sow12  Vgl. Sidney Ploss, The Roots of Perestroika. The Soviet Breakdown in Historical Context, Jefferson (NC) 2010, S. 2. 13  Yuliya von Saal, KSZE-Prozess und Perestroika in der Sowjetunion. Demokratisierung, Werteumbruch und Auflösung 1985–1991, München 2014, S. 350 f.

jetischen Bevölkerung verschlechterte sich in den letzten Amtsjahren Gorbatschows, der nicht erkannt hatte, dass die Missstände systemimmanenter Natur waren und nur durch einen Systemwechsel zu beheben waren. Gorbatschows Ziel war, durch Glasnost eine gesellschaftliche Partizipation der sowjetischen Bürger am Reformprozess zu erreichen. Er monierte, dass die Kommunistische Partei den Kontakt zu den Massen verloren habe. Glasnost sollte die »schöpferische Kraft« der Kommunistischen Partei wiederbeleben.14 Demokratisierung war dabei in einem »sozialistischen« Rahmen gedacht. Die Perestroika – der »Umbau«, die »Umstrukturierung« –

14  Siehe Mikhail Gorbachev, On my country and the world, New York 2000, S. 22.

wurde 1986 verkündet; allerdings waren gewaltige Anstrengungen nötig, um die sowjetische Wirtschaft effizienter zu organisieren und die desolate Eva-Maria Stolberg  —  Das umstrittene Erbe des Michail Gorbatschow

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Versorgungslage der Bevölkerung zu überwinden. Auch war schwierig, in einem System, das jahrzehntelang unter der rigiden Kontrolle der KPdSU gestanden hatte, Transparenz einzuführen. Für dieses ambitionierte Unterfangen fehlte die Zeit; nach dem Aufbruch von 1989 kam es 1990 zu einer tiefgehenden Krise der Perestroika. Das Rangeln um den Unionsvertrag mit den zur Unabhängigkeit strebenden Sowjetrepubliken und der August-Putsch waren bloß äußere Anzeichen dieser Krise. Das Ende der Gorbatschow-Ära war nun lediglich eine Frage der Zeit. Mit Gorbatschow endete der letzte Versuch, die sowjetische Gesellschaft zu reformieren. Schon frühere Reformen waren in der sowjetischen Geschichte gescheitert: so die Neue Ökonomische Politik unter Lenin (1920–22), die vom totalitären Stalinismus abgelöst wurde; die »Tauwetter-Phase« unter Nikita Chruschtschow in den frühen 1960er Jahren, der die Ära der Stagnation unter Leonid Breschnew in den 1970er Jahren folgte. Der Putsch vom August 1991, von reformfeindlichen Kräften initiiert, zerstörte in der sow­jetischen Öffentlichkeit dann die Illusion einer demokratischen Umstrukturierung der KPdSU. Weihnachten 1991 musste Michail Gorbatschow als Präsident der Sowjetunion zurücktreten, die UdSSR löste sich auf, der neue Präsident der Russländischen Föderation, Boris Jelzin, löste auch die Kommunistische Partei auf. Im Unterschied zum heutigen postsowjetischen Russland brachten Gorbatschows Reformen Positives: Außenpolitisch hatten sich die Sowjetunion und der Westen angenähert, die Staaten Ost- und Ostmitteleuropas und die Nationalitäten der Sowjetunion erhielten ihr Recht auf Selbstbestimmung. Offenheit und Kritik bestimmten den gesellschaftlichen Diskurs in der Sowjetunion. Öffnung zum Westen und innenpolitische Liberalisierung gingen jedoch einher mit einem weiteren wirtschaftlichen Verfall.15 Siebzig Jahre lang war die Sowjetunion von der ineffizienten, bürokratischen Planwirtschaft geprägt gewesen. Die Jahre der Perestroika zeigten, dass eine Reform nicht ausreichte. Nach dem Ende der Sowjetunion 1991 und dem Regierungsantritt Boris Jelzins vollzog Russland, wie viele Staaten Ostmittelund Osteuropas, die von westlichen Ökonomen favorisierte Schocktherapie. Gorbatschow hatte in seiner Regierungszeit der Bevölkerung eine Verbesserung des Lebensstandards und die Erfüllung ihrer Konsumwünsche in Aussicht gestellt. Dieses Ziel wurde nicht erreicht, womit auch die breite Zustimmung in der Bevölkerung für Gorbatschows Reformen sank. Dieser Punkt war bereits 1989 erreicht; einhellig lautete die öffentliche Meinung, dass Gorbatschows Politik auf Illusionen aufbaue. Im Mai 1988 war im Auftrag der New York Times und CBS News eine Umfrage unter Moskauer

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Perspektiven — Analyse

15  Vgl. Wolfgang Geierhos, Der große Umbau. Russlands schwieriger Weg zur Demokratie in der Ära Gorbatschow, Köln 2016.

Bürgern hinsichtlich ihrer Zufriedenheit mit Gorbatschows Reformen durchgeführt worden: 73 Prozent der Befragten unterstützten damals die Reformen, 1989 waren es dann nur noch 13 Prozent. Gegen Ende des Jahres startete die sowjetische Regierung eine Bevölkerungsumfrage, wonach 56 Prozent der Befragten die Situation der Sowjetunion als kritisch, 38 Prozent als schlecht einstuften.16 Gleichzeitig war die sowjetische Wirtschaft von einer Inflation und einem defizitären Staatshaushalt gebeutelt. Die zentrale Planwirtschaft war am Ende, als es zu einem Streit um finanzielle Ressourcen zwischen Zentrum und Regionen sowie Republiken kam. Dies war letztlich auch ein Grund für die Aushandlung eines neuen Unionsvertrages. Um die Krise zu meistern, wurde vom Premierminister Nikolai Ryschkow der sogenannte 500-Tage-Plan entwickelt, der den Übergang zur Marktwirtschaft ab 1991 vorsah. Zentrale Ziele des Planes waren die schnelle Freigabe der Preise, die Privatisierung der Staatsbetriebe sowie drastische Haushaltskürzungen in den Bereichen Verteidigung und ausländische Hilfen, die vor allem die Länder Ostmittelund Osteuropas betrafen. DIE AUTORITÄRE PRÄGUNG DES RUSSISCHEN POLITISCHEN SYSTEMS Fast ein Jahr nach dem August-Putsch gegen Gorbatschow fanden im Juni 1992 die ersten freien Präsidentschaftswahlen in Russland statt, aus denen Boris Jelzin als Sieger hervorging. Die ersten demokratischen Parteien entstanden. Diese Phase währte allerdings nur kurz. Während des August-Putsches hatte sich Jelzin als Volkstribun inszeniert, der auf Barrikaden kletterte und die anrollenden Panzer stoppte. Jelzin verbat auch die unbeliebte Kommunistische Partei. Doch er schuf ein präsidiales System, das ihm uneingeschränkte Vollmachten einräumte. Auch hier sind sich viele Russen heute einig, dass Jelzin das Chaos, das bereits unter Gorbatschow herrschte, verstärkt habe. Jelzin gilt nicht weniger als Totengräber der alten Ordnung denn Gorbatschow. Der ungarische Gorbatschow-Biograf György Dalos beschreibt Jelzin als einen Politiker, der die Stimmung der Bevölkerung für seine Politik genutzt habe, wohingegen Gorbatschow eine zu intellektuelle Herangehensweise bevorzugt habe.17 Fatal waren die persönlichen und politischen Differenzen 16  Vgl. William Moskoff, Hard Times. Impoverishment and Protest in the Perestroika Years, The Soviet Union 1985–1991, Armonk (N.Y.) 1993, S. 5. 17  Siehe Dalos, S. 239.

zwischen Gorbatschow und Jelzin vor dem August-Putsch. Gorbatschow hatte die Stärke Boris Jelzins gefürchtet, was ihn 1990 zu der Entscheidung veranlasste, Gennadi Janajew und Valentin Pawlow zu befördern – farblose Funktionäre. Damit verprellte Gorbatschow Jelzin und kreierte die Putschisten aus seinem eigenen politischen Umfeld. 1990 war Gorbatschow politisch isoliert. Eva-Maria Stolberg  —  Das umstrittene Erbe des Michail Gorbatschow

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Innenpolitisch haben Gorbatschows Reformen einen wichtigen Impuls gegeben. Für eine kurze Zeit markierten sie einen neuen Aufbruch, doch waren sie letztlich nur Schönheitskorrekturen an einem System mit immanenten Defiziten. Gorbatschow wollte die Sowjetunion erhalten, sie zu einem demokratischen Staat mit mehr Mitbestimmung für Bevölkerung und Nationalitäten machen; zugleich wollte er aber an dem Herrschaftsmonopol der Kommunistischen Partei festhalten. Dies war ein Anachronismus, der zum Untergang und zur Auflösung der Sowjetunion führte. Mit der Schocktherapie führte Jelzin die Marktwirtschaft ein, von der dann vor allem eine mächtige Oligarchie profitierte. Das politische System des postsowjetischen Russland wurde auf den Präsidenten zugeschnitten. Ein Autoritarismus entstand, der von Jelzins Nachfolger Wladimir Putin verfeinert wurde. Während in den 1990er Jahren, nach dem Untergang der Sowjetunion und mit der Durchführung der marktwirtschaftlichen Transformation, die Stimmung in der Bevölkerung von Unsicherheit geprägt war, steht die Ära Putin für innere Stabilität und das Wiedererlangen außenpolitischer Weltmachtgeltung – sei es im Ukraine-Konflikt oder im Bürgerkrieg in Syrien. Wenn das gegenwärtige politische System Russlands markant durch Autoritarismus gekennzeichnet ist, dann lässt sich dies auch historisch erklären. Autoritäre Herrschaft war in der russischen Geschichte ein Kontinuum, mit Ausnahmen zaghafter demokratischer Ansätze wie der kurzen Zeit der Duma unter dem letzten Zaren Nikolaus II. (1905–14), der parlamentarischen Demokratie unter Alexander Kerenski zwischen Februar und Oktober 1917 und schließlich Gorbatschows Politik der Glasnost zwischen 1986 und 1991. Letztlich hat sich der Autoritarismus in Russland stets als mächtigere Kraft erwiesen. Im Unterschied zur Ära Gorbatschow finden unter Putin eine Re-Zentralisierung der politischen Macht und die Stärkung des Kollektivismus gegenüber individuellen, bürgerlichen Freiheiten statt. Die Präsidialherrschaft Putins bekennt sich zum autokratischen Regieren, zum russischen Patriotismus, zur orthodoxen Religion und zu obrigkeitsstaatlichen Strukturen in allen Bereichen des öffentlichen Lebens. Gorbatschows Politik der Glasnost, die für mehr Offenheit und Buntheit der Gesellschaft stand, hat – so das Fazit nach dreißig Jahren – keine starken Wurzeln in Russland schlagen können. Dr. Eva-Maria Stolberg, hat an der Universität Bonn Osteuropäische Geschichte und Ostasienwissenschaften studiert. 1996 hat sie über die sow­ jetisch-chinesischen Beziehungen im Kalten Krieg promoviert und sich 2005 mit einer Arbeit über die ­Geschichte S ­ ibiriens und seine Verflechtungen im ostasiatisch-pazifischen Raum habilitiert. Nach langjähriger Tätigkeit als Hochschullehrerin an der Universität Duisburg-­Essen arbeitet sie heute als selbstständige Dozentin im Bereich Politik und Wirtschaft.

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INDES ZEITSCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT Herausgegeben durch das Institut für Demokratieforschung der Georg-August-Universität Göttingen. Redaktion: Dr. Felix Butzlaff, Alexander Deycke, Dr. Lars Geiges, Jens Gmeiner, Julia Bleckmann, Jöran Klatt, Danny Michelsen, Dr. Robert Lorenz, Dr. Torben Lütjen, Luisa Rolfes. Konzeption dieser Ausgabe: Michael Lühmann. Redaktionsleitung: Dr. Matthias Micus (verantw. i. S. des niedersächs. Pressegesetzes), Michael Lühmann, Marika Przybilla-Voß. Redaktionsanschrift: Redaktion INDES c/o Göttinger Institut für Demokratieforschung Weender Landstraße 14, 37073 Göttingen, [email protected] Online-Auftritt: www.indes-online.de Anfragen und Manuskriptangebote schicken Sie bitte an diese Adresse, möglichst per E-Mail. – Die Rücksendung oder Besprechung unverlangt eingesandter Bücher kann nicht gewährleistet werden. INDES erscheint viermal jährlich. Bestellung durch jede Buchhandlung, unter [email protected] (Bestellungen und Abonnementverwaltung) oder unter [email protected]. Jahresbezugspreis print + online € 73,– D / € 75,10 A; ermäßigter Preis für Studierende/Auszubildende (gegen Bescheinigung, befristet auf drei Jahre) € 41,80 D / € 43,– A; Inst.-Preis print + online ab € 137,– D / ab € 140,90 A Inst. Preis online ab € 151,– Einzelheftpreis € 21,– D / € 22,– A. Jeweils zzgl. Versandkosten. Preisänderungen vorbehalten. Die Bezugsdauer verlängert sich jeweils um ein Jahr, wenn nicht eine Abbestellung bis zum 1.10. erfolgt. Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. ISBN 978-3-666-80027-6 ISSN 2191-995X © 2019 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Gestaltung, Satz und Lithografie: SchwabScantechnik, Göttingen

BEBILDERUNG Die Künstlerin Juliana Žamoit hat in ihrer Heimatstadt Vilnius an der Kunstakademie Innenarchitektur studiert. Seit 2015 lebt und arbeitet sie freiberuflich in Berlin und hat sich hier vor allem einen Namen in der Musikszene gemacht, für die sie Grafiken für Plattencover oder Veranstaltungen anfertigt. Die Arbeiten der gebürtigen Litauerin zeichnen sich durch ein buntes Detailreichtum aus, zeugen von Verletzlichkeit und Schönheit der Dinge, sie verschmelzen Traum und Wirklichkeit zu surrealen, farbenfrohen Szenerien. Ihr Handwerkszeug sind Wasserfarben, Tinte und Salz – sie prägen den farbenfrohen Stil der Dreißigjährigen. www.julijah.com Text: Florian Eckert.

Bildnachweise Decker: Mike Fröhling Villinger: Henrike Naumann

Jugendpolitik in der DDR Anspruch und Auswirkungen Extremismus und Demokratie

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Jugendpolitik in der DDR Anspruch und Auswirkungen

Jugendpolitik in der DDR Anspruch und Auswirkungen Von Dr. Steffi Lehmann, M.A. 2019, 879 S., brosch., 149,– € ISBN 978-3-8487-4831-0 (Extremismus und Demokratie, Bd. 35) nomos-shop.de/37389

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Bislang sind die Ziele bzw. die Schwerpunkte der Jugendpolitik in der DDR und deren praktische Auswirkungen unzureichend untersucht. Steffi Lehmann setzt in ihrer Studie die ideologischen Ansprüche der SED und die realen Auswirkungen der Jugendpolitik sowie den Umgang der Staatsmacht mit – vermeintlich – oppositionellen Jugendlichen von 1949 bis 1989/90 erstmals in einen Kontext. Sie untersucht, aufgegliedert in vier zeitliche Phasen, einer­ seits den Anspruch der offiziellen Jugendpolitik mit Blick auf Ziele, sozialisti­ sche Erziehungsdoktrin und Funktionen der FDJ, andererseits die tatsächlichen Verhältnisse anhand der Einstellung zur FDJ, des privaten Raums und der Freizeitgestaltung, Konformitätszwang und Anpassung sowie Nonkon­ formismus.

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Nach der Unterzeichnung der Schlussakte der »Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa« (KSZE) unterstützte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) einerseits die harte Linie der SED-Führung, auch gegenüber Moskau, indem es die politischen Auswirkungen vor allem in den Bereichen der Menschenrechte einzudämmen versuchte. Andererseits befürwortete das MfS die Forderungen Moskaus gegenüber der DDR, sich von der Bundesrepublik abzugrenzen. Die Autoren zeigen, dass in Folge des politischen Prozesses und der wirtschaftlichen Schwäche beider Regime das MfS die innenpolitischen Auswirkungen nicht mehr unter Kontrolle halten konnte.