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German Pages [238] Year 2023
Frodo Podschwadek
Die Erziehung der Vernünftigen Politischer Liberalismus und öffentliche Bildung
Die Erziehung der Vernünftigen
Frodo Podschwadek
Die Erziehung der Vernünftigen Politischer Liberalismus und öffentliche Bildung
Frodo Podschwadek Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Deutschland
ISBN 978-3-031-21265-9 ISBN 978-3-031-21266-6 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-031-21266-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Nature Switzerland AG 2022 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Laux Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Nature Switzerland AG und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Gewerbestrasse 11, 6330 Cham, Switzerland
Danksagung
Dieses Buch entwickelte sich aus meiner Dissertation, die ich von 2015 bis 2018 an der Universität Glasgow unter der Betreuung von Ben Colburn und Hugh Lazenby geschrieben habe und denen ich für ihre Unterstützung und Ermutigung zu Dank verpflichtet bin. Ich möchte auch meinen Prüfern, Matthew Clayton und J. Adam Carter, für ihr hilfreiches Feedback danken. Meine Arbeit an diesem Thema wurde finanziell durch ein Ogilvie Moral Philosophy Scholarship und zwei College of Arts Graduate School Research Support Awards der University of Glasgow unterstützt. Das Buch hat auch enorm von den Rückmeldungen profitiert, die ich auf frühen Versionen verschiedener Kapitel von Teilnehmern des Postgraduiertenseminars des Fachbereichs Philosophie der Universität Glasgow erhalten habe. Darüber hinaus bin ich dankbar für die Kommentare der Teilnehmer des Workshops für politische Philosophie, der von Fabian Wendt und David P. Schweikard in Hamburg 2016 organisiert wurde und auf dem ich die Gelegenheit hatte, einige der Materialien aus Kap. 4 vorzustellen. Ich bin auch zwei anonymen Rezensenten zu Dank verpflichtet, mit deren Hilfe das ursprüngliche Manuskript erheblich verbessert werden konnte. Weiter möchte ich den Herausgebern dieser Reihe und anderen Mitgliedern des Verlagspersonals bei Springer Nature, die an diesem Projekt beteiligt waren, für ihre Unterstützung danken. Den größten Dank aber schulde ich Annie Runkel für Jahre des konstanten Lektorats, zahlreiche Diskussionen über Rawls, ihre emotionale Unterstützung und dafür, dass sie die erstaunlich vernünftige Person ist, die sie ist.
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Inhaltsverzeichnis
1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1.2 Fragen für eine politisch-liberale Darstellung von Bildung. . . . . . . 8 1.3 Politische v. perfektionistische liberale Bildung. . . . . . . . . . . . . . . 13 1.4 Ziele und Anwendungsbereich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1.4.1 Kulturelle und geographische Grenzen. . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.4.2 Grenzen liberalen Sektierertums. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1.4.3 Grenzen der Gerechtigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1.5 Vorschau. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2 Rawls’sche Bildung: Vorbemerkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2.1 Bildung in Rawls’ Werk. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.2 Minimale staatsbürgerliche Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2.2.1 Kooperation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2.2.2 Selbstständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.2.3 Politische Tugenden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2.3 Die Entwicklung einer politischen Tugend: Der Gerechtigkeitssinn. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2.4 Bildung als Gegenstand der öffentlichen Vernunft . . . . . . . . . . . . . 46 2.5 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Teil I Zentrale Elemente des politischen Liberalismus 3 Politische Tugenden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 3.1 Tugenden, Exzellenz und der Aristotelische Grundsatz . . . . . . . . . 55 3.2 Die situationistische Herausforderung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 3.3 Soziale Normen in der politischen Theorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 3.4 Zur Verteidigung sozialer Normen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 3.5 Humesche Tugenden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3.6 Moralische Formierung in der Tugenderziehung. . . . . . . . . . . . . . . 73 VII
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3.7 Indirekte Beiträge zur Tugenderziehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 3.8 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 4 Autonomie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 4.1 Verschiedene Arten der Autonomie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 4.2 Politische Autonomie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 4.3 Schwache Autonomie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 4.4 Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 4.5 Verpflichtende Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 4.6 Förderung von Autonomie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 4.7 Der Umfang möglicher Lebensoptionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 4.8 Einwände gegen schwache Autonomie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 4.9 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 5 Rechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 5.1 Konzeptionen von Rechten im politischen Liberalismus. . . . . . . . . 118 5.2 Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 5.3 Eltern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 5.4 Der Staat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 5.5 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Teil II Anwendungsfälle 6 Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 6.1 Öffentliche und private Gründe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 6.2 Die Bürde der Religiosität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 6.3 Religiöse Gründe als öffentliche Gründe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 6.4 Disaggregation religiöser Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 6.5 Öffentliche und private Schulen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 6.6 Probleme der privaten Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 6.7 Bildung und das Unvernünftige. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 6.8 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 7 Gleichgeschlechtliche Beziehungen in der Bildung. . . . . . . . . . . . . . . 181 7.1 Die Spannung mit tiefen religiösen Überzeugungen. . . . . . . . . . . . 183 7.2 Die angenommene moralische Überlegenheit heterosexueller Beziehungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 7.3 Naturrechtslehre: Eine umfassende Lehre. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 7.4 Ehe als ungerechte Institution. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 7.5 Einschränkungen von politischen Tugenden und Autonomieanforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 7.6 Gleichgeschlechtliche Beziehungen, Sexualerziehung und Selbstachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
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7.7 Transgender-Schüler:innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 7.8 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 8 Immigration und Integration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 8.1 Grenzen in der realistischen Utopie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 8.2 Utopische Migration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 8.3 Der politische Status von Immigrant:innen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 8.3.1 Politische Tugenden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 8.3.2 Autonomie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 8.3.3 Rechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 8.4 Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 8.5 Absonderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 8.6 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 9 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
Kapitel 1
Einführung
Zusammenfassung Dieses Kapitel skizziert das Hauptziel des Buches, eine politisch-liberale Darstellung von Bildung zu entwickeln, und erläutert die Hintergründe, vor denen es dies zu erreichen versucht. Für Leser, die nicht allzu vertraut mit dem politischen Liberalismus sind, stellt dieses Kapitel zentrale Terminologie politisch-liberaler Theorie vor, die für die Entwicklung einer politischliberalen Darstellung der Bildung wichtig sein wird. Es bietet einen Überblick über die zentralen Fragen, die eine solche Darstellung beantworten sollte, sowie ein Argument, welche Vorteile eine politisch-liberale Darstellung von Bildung gegenüber einer perfektionistisch-liberalen hat. Dieses Projekt kann als Übung im öffentlichen Vernunftgebrauch verstanden werden, die darauf abzielt, angemessene normative Richtlinien für öffentliche Bildung zu bestimmen. Es ist auch ein Versuch, die Lücke zwischen idealer und nicht-idealer politischer Philosophie zu schließen, indem es zeigt, wie Prinzipien aus der Abwägung über idealisierte Gesellschaften Richtlinien mit Anwendungswert für die Politik in realen Gesellschaften liefern können. Bildung kann nicht wertneutral sein. Selbst wenn sie es versuchte, wäre die in der Gestaltung eines Lehrplans getroffene Auswahl, was unterrichtet wird und was nicht, und auf welche Weise, eine Auswahl, die bewertende Urteile erforder. Diese Urteile darüber, was unterrichtet werden soll, und auf welche Weise, sind auch normativ – jeder von uns denkt, dass Kinder dieses wissen sollten, dass siein der Lage sein sollten, jenes zu tun, dass sie sich zu Personen einer bestimmten Art entwickeln sollten. Es ist auch ziemlich wahrscheinlich, dass jeder von uns unterschiedliche Vorstellungen davon hat, was genau dieses und jenes sind, da jeder von uns etwas andere Vorstellungen davon hat, zu welcher Art von Personen Kinder sich entwickeln sollten. Unsere unterschiedlichen Urteile über die richtige Art der Erziehung sind ein Aspekt dessen, was John Rawls als „Faktum des Pluralismus“ in modernen liberal-demokratischen Gesellschaften bezeichnet. Bürger:innen desselben Staates haben unterschiedliche Vorstellungen davon, was ein sinnvolles Leben ausmacht und welche Güter für das menschliche Wohlergehen erforderlich sind. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Nature Switzerland AG 2022 F. Podschwadek, Die Erziehung der Vernünftigen, https://doi.org/10.1007/978-3-031-21266-6_1
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Aus diesem Grund hat Rawls seine politische Theorie neu gestaltet und sich einer „politischen“ Annäherung an den Liberalismus zugewandt, die in seinem Political Liberalism (Rawls 2005b) zusammengefasst ist. Im Gegensatz zu anderen Formen des Liberalismus, die auf substanziellen ethischen Annahmendarüber beruhen, was gut für Menschen sei, soll sich der politische Liberalismus nur auf Werte stützen, die von allen vernünftigen Bürger:innen in einer pluralistischen Gesellschaft gleichermaßen geteilt werden können. Entscheidungen über die wesentlichen Bestandteile der Verfassung und die Grundstruktur der Gesellschaft sollten nur auf Werte n beruhen, die politisch sind, d. h. von allen vernünftigen Bürger:innen bestätigt werden können, im Gegensatz zu bestimmten ethischen Werten, die die Unterstützung einiger, aber nicht aller vernünftiger Bürger:innen in einer Gesellschaft haben. Die Schulausbildung ist Teil der Grundstruktur der Gesellschaft. In einer gerechten Gesellschaft gelten die Einschränkungen des politischen Liberalismus auch für Entscheidungen über das Bildungssystem. Einerseits bedeutet dies, dass ein politisch-liberales Staatswesen sein Bildungssystem nicht so gestalten kann, dass Kinder zu Millschen Individualisten oder kantischen moralischen Rationalisten heranwachsen. Andererseits kann Bildung auch nicht nach beliebigen Massstäben gestaltet werden. Wie Rawls selbst immer wieder in seinem Werk betont, benötigt eine gerechte Gesellschaft, selbst eine politisch-liberale, bestimmte Wege, um ihre zukünftigen Bürger:innen zu erziehen und bestimmte Werte und Einstellungen zu vermitteln. Bildung ist ein notwendiger Baustein, um die Kontinuität einer gerechten liberalen Gesellschaft über Generationen zu sichern. Weder Rawls’ Political Liberalism noch seine anderen Werke liefern mehr Details über den politischen Liberalismus in der Bildung als gelegentliche Behauptungen darüber, wie gerechte politische Institutionen vernünftige und kooperative Bürger:innen hervorbringen und dass Bildung hierfür wichtig ist. Andere Autoren, die sich in einer Rawls’schen Tradition sehen, haben über Bildung und Erziehung von Kindern geschrieben. Allerdings habe ich den Eindruck, dass keiner dieser Ansätze eine systematische politisch-liberale Darstellung der Bildung bietet. Stephen Macedo schreibt mehrfach über Bildung, aber seine Version des politischen Liberalismus scheint mir stärker einschränkende zu sein, die sich auf Werte konzentriert, welche näher bei einem umfassenden Liberalismus liegen, als es notwendig wäre (siehe z. B. Macedo 1990, 2000). Harry Brighouses Arbeiten über die Philosophie der Bildung geht oft von einer Rawls’schen Idee der Verteilungsgerechtigkeit aus, scheint aber auch zu unterstellen, dass eine tatsächliche Mehrheitszustimmung für politische Legitimität erforderlich ist, was ihn eher in das Feld von umfassenden Demokraten rückt (siehe z. B. Brighouse 1998, 2003). Matthew Claytons Darstellung der politischen Bildung übersieht (meiner Ansicht nach) relevante Aspekte des politischen Liberalismus, wenn er Begriffe der Autonomie und politischen Tugenden verwendet, die mehr Widerspruch unter vernünftigen Bürger:innen hervorrufen würden, als notwendig (Clayton 2006). Ich werde im Laufe dieses Buches auf die Argumente dieser Autoren zurückkommen und mich mit ihnen auseinandersetzen, indem ich einige Teile ihrer Positionen unterstütze und andere ablehne. Allerdings möchte ich an dieser
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Stelle behaupten, dass es bisher noch keine gut entwickelte Darstellung von politisch liberaler Bildung gibt, die die verschiedenen wesentlichen Merkmale dieser Theorie brücksichtig, wie z. B. Stabilität aus den richtigen Gründen, einen übergreifenden Konsens über eine gemeinsame Vorstellung von Gerechtigkeit (oder eine Familie solcher Vorstellungen) und ethische Neutralität in Bezug auf umfassende Weltanschauungen. Der Mangel an einer umfassenden Rawls’schen Darstellung der Bildung macht die Ergebnisse einer quantitativen Studie der Debatte über liberale Staatsbürgerschaftserziehung umso überraschender: In den beiden Jahrzehnten zwischen 1990 und 2010 beschäftige sich eine Mehrheit der Beiträge in dieser Debatte mit einer „Rawls’schen Art von Liberalismus“, wobei Rawls der bevorzugte Gesprächspartner war (in 27 von 55 Artikeln) sowie der am häufigsten zitierte Autor (Fernández und Sundström 2011, S. 378–379). Eine ähnliche Tendenz, sich mit dem Rawls’schen politischen Liberalismus auseinanderzusetzen und ihn aus Gründen abzulehnen, die zumindest teilweise auf Argumenten beruhen, die auf dem Gebiet der Bildung angesiedelt sind, findet sich auch in Monographien, die in den letzten 25 Jahren veröffentlicht wurden (siehe z. B. Callan 1996; Levinson 2004; Winch 2006). Diese Kombination aus dem Fehlen einer halbwegs umfassenden Darstellung Rawls’scher Bildung und der wiederholten Beschäftigung mit seinem Liberalismus in der philosophischen Literatur zur Bildung motiviert diese Arbeit. Mein Ziel ist es, eine detailliertere Darstellung on Bildung zu geben, die auf Rawls’s Liberalismus basiert, den ich als politischen Liberalismus verstehe.1 Die wesentlichen Merkmale dieser Darstellung sind: • Eine Analyse der Anforderungen an die Bildung auf der Grundlage wesentlicher Elemente politisch-liberaler Theorie: politische Tugenden, Autonomie und politische Rechte. • Aktualisierungen und Änderungen politisch-liberaler Theorie, wenn Spannungen innerhalb der Theorie oder im Zusammenhang mit empirischen Behauptungen im Zuge der Entwicklung einer Bildungskonzeption auftreten. • Beispiele dafür, wie die Anforderungen einer politisch-liberalen Bildung in konkreten Fällen funktionieren: Religion in der Bildung, gleichgeschlechtliche Beziehungen als Teil der Sexualerziehung und das Verhältnis zwischen politischliberaler Bildung und Migration. Bevor ich jedoch beginne, ist es notwendig, mehr über die Terminologie, die Methode, den Umfang und die Einschränkungen der Darstellung der Rawls’schen Bildung zu sagen, die ich vorstellen werde, gefolgt von einer kurzen Vorschau auf den Inhalt der nachfolgenden Kapitel.
1 Es gibt jedoch Leute, die der Ansicht sind, dass Rawls’ Hinwendung zum politischen Liberalismus ein Fehltritt war und dass es besser gewesen wäre, seine Position dichter an den Aussagen aus A Theory of Justice zu halten (siehe z. B. Taylor 2011). Ich teile diese Ansicht nicht, werde mich hier aber auch nicht dagegen argumentieren.
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1.1 Terminologie Zunächst erscheint es sinnvoll, einige relevante Elemente der Terminologie vorzustellen, die in diesem Buch verwendet wird. Dies umfasst vor allem einige der Konzepte, die Rawls mit seinem politischen Liberalismus eingeführt hat und von denen viele inzwischen Eingang in die zeitgenössische politische Philosophie gefunden haben und den meisten Lesern bereits vertraut sind. Wer bereits weiß, wie Begriffe wie „umfassende Lehre“ und „vernünftige:r Bürger:in“ im politischen Liberalismus verwendet werden, kann diesen Abschnitt überspringen. Der Begriff „umfassende Lehren“ bezieht sich auf die Vielfalt der religiösen, philosophischen und moralischen Weltanschauungen, die man in modernen liberalen Gesellschaften finden kann, die durch das, was Rawls als „Faktum des Pluralismus“ bezeichnet, gekennzeichnet sind (Rawls 2005b, S. XXV). Eine umfassende Lehre „deckt die wichtigsten religiösen, philosophischen und moralischen Aspekte des menschlichen Lebens in mehr oder weniger widerspruchsfreier und kohärenter Weise ab“, „sie organisiert und charakterisiert anerkannte Werte so, dass sie miteinander kompatibel sind und eine nachvollziehbare Ansicht der Welt zum Ausdruck bringen“ und „sie wählt aus, welche Werte als besonders bedeutsam gelten“ (Rawls 2005b, S. 59). Paradigmatische Beispiele für umfassende Lehren sind Religionen. Sie umfassen jedoch auch andere metaphysische Lehren, wie zum Beispiel Utilitarismus oder Formen des klassischen Liberalismus, wie sie von Kant oder Mill vertreten wurden. Abgesehen von diesen von Rawls selbst im Laufe von Political Liberalism genannten Beispielen können wir auch bestimmte säkularistische Ansichten als umfassend einordnen.2 Solche Lehren betonen eine atheistische, wissenschaftlich orientierte Perspektive auf das Leben und sehen Religion als bloßen Aberglaube oder sogar als gefährlich für die Menschheit an.3 Bürger:innen in einer pluralistischen Gesellschaft werden eine Vielzahl unterschiedlicher umfassender Lehren unterstützen, die verschiedene Werte betonen und von denen einige hinsichtlich vieler normativer Fragen miteinander in Widerspruch stehen. Die politisch-liberale Theorie geht jedoch davon aus, dass sie sich zumindest auf eine Vorstellung von politischer Gerechtigkeit einigen werden, nach der die politischen Institutionen und Verfahren ihrer Gesellschaft strukturiert sind. Diese Vorstellung von Gerechtigkeit ist (trotz des Labels „politisch“) eine moralische, da sie eine Reihe von Werten wie „den Werten der gleichen politischen und bürgerlichen Freiheiten, der fairen Chancengleichheit und den
2 Für
einen Unterschied zwischen säkularen und säkularistischen Ansichten siehe z. B. Laborde (2013, S. 74). 3 Man nehme etwa Richard Dawkins als ein aktuelles Beispiel für einen populären umfassenden Säkularisten.
1.1 Terminologie
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Werten der wirtschaftlichen Gegenseitigkeit sowie die sozialen Grundlagen gegenseitiger Achtung unter Bürger:innen“ (Rawls 2005b, S. 139) sowie den Werten des öffentlichen Vernunftgebrauchs umfasst, von denen ich weiter unten eingeführt werden. Die Prinzipien und Werte, auf die sich diese Übereinstimmung konzentriert, sind nicht in einer bestimmten umfassenden Lehre verankert, sondern können aus der Perspektive aller als vernünftig angesehenen Lehren (weiter unten mehr dazu, was es für Rawls bedeutet, vernünftig zu sein) befürwortet werden. Der Rawls’sche Ausdruck für diese geteilte Zustimmung „übergreifender Konsens“, da der Inhalt des Konsenses eine Schnittmenge der Werte vernünftiger umfassender Lehren sein wird. Die Schaffung eines übergreifenden Konsenses wird dazu beitragen, die politische Stabilität einer pluralistischen Gesellschaft trotz der unterschiedlichen umfassenden Ansichten zu gewährleisten, die ihre Bürger:innen haben können. Ein weiterer wichtiger Begriff des politischen Liberalismus, der bereits mehrfach aufgetaucht ist, ist der Begriff der Vernunft in Bezug auf vernünftige Bürger:innen und vernünftige Lehren. „Vernünftig“ ist ein zentraler Begriff des politischen Liberalismus, der in einer Vielzahl von Kontexten und für eine Reihe sehr unterschiedlicher Dinge verwendet wird.4 Am wichtigsten ist jedoch, dass er sich auf Personen und umfassende Lehren bezieht. Für jede dieser Kategorien wird der Begriff auf leicht unterschiedliche Weise verwendet. Nach Rawls ist die Vernunft „mit der Bereitschaft verbunden, faire Kooperationsbedingungen vorzuschlagen und zu achten [und] mit der Bereitschaft, die Bürden des Urteilens anzuerkennen und ihre Konsequenzen zu akzeptieren“ (2005b, S. 48–49, Fn. 1). Diese Definition kann in zwei Teile unterteilt werden, wovon der erste eine (zum Teil) moralische Definition und der zweite eine epistemische ist. Der erste Teil bedeutet, dass die Bürger:innen nicht nur von ihren eigenen, selbstbezogenen Interessen motiviert sind, um mit ihren Landsleuten zusammenzuarbeiten, sondern auch durch die Anerkennung von Kooperation als dem Mechanismus, der diese Interessen vorantreibt. Sie sind jedoch keine Altruist:innen und „nicht vom Allgemeinwohl als solchem bewegt“ (Rawls 2005b, S. 50). Diese Motivation setzt sich nicht vollständig über prudentielle und eigennützige Gründe hinweg, ist aber auch keine bloß instrumentelle Überlegung. Der zweite, epistemische Teil dieser Definition bezieht sich auf das, was Rawls als „Bürden des Urteilens“ bezeichnet, ein Satz von Überlegungen über die Quellen von Meinungsverschiedenheiten. Die Bürden des Urteilens umfassen Überlegungen zu widersprüchlichen und schwer einzuschätzenden Aussagen, unterschiedliche Gewichtungen von Aussagen in den individuellen Aussagemengen verschiedener Personen, die Ungenauigkeit (einiger) Konzepte, perzeptuelle und psychologische Verzerrungen, divergierende normativen
4 Für eine ausführliche Liste der verschiedenen Verwendungen des Begriffs „vernünftig“ in Political Liberalism siehe Wenar (1995).
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Erwägungen bezüglich bestimmter Zustände von Angelegenheiten und die potentielle Inkommensurabilität von Werten (Rawls 2005b, S. 56–57). Wenn die Meinungsverschiedenheiten in der Gesellschaft aus einer oder mehreren dieser Quellen herrühren, müssen vernünftige Bürger:innen sie tolerieren, da es keine rationalen Weg gibt, diese Art von Meinungsverschiedenheiten zu beenden. Die Anerkennung und Akzeptanz dieser Einschränkungen „führt zu einer Form der Toleranz und unterstützt die Idee des öffentlichen Vernunft“ (Rawls 2005b, S. 59). Eine andere Art, wie „vernünftig“ verwendet wird, ist als potentielles Merkmal umfassender Lehren, und nur vernünftige umfassende Lehren unterstützen den übergreifenden Konsens. Vernünftige Lehren werden durch drei Hauptmerkmale charakterisiert: Sie decken „die wichtigsten religiösen, philosophischen und moralischen Aspekte des menschlichen Lebens in mehr oder weniger widerspruchsfreier und kohärenter Weise ab“ und gehören „zu einer intellektuellen oder doktrinalen Tradition [die] obwohl sie über die Zeit hinweg stabil bleibt […] dazu tendiert, sich langsam im Licht dessen weiter zu entwickeln, was aus ihrer Sicht als gute und hinreichende Gründe gesehen wird“ (Rawls 2005b, S. 59). Während vernünftige Bürger:innen im Zentrum der politischen Darstellung von Bildung stehen werden, die ich vorstellen werde, ist es hilfreich, sich daran zu erinnern, dass diese Definition von vernünftigen umfassenden Lehren Perspektiven ausschließt, die nicht hinreichend kohärent sind oder nicht auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren. Geradeheraus gesagt bedeutet dies, dass die politischliberale Bildung Bedenken von z. B. nicht-fundamentalistischen katholischen oder muslimischen Gemeinschaften ernst nehmen sollte, aber nicht verpflichtet ist, sich auf Rechtfertigungen von Gemeinschaften einzulassen, die an eine globale Illuminati-Verschwörung glauben. Von vernünftigen Bürger:innen wird für ihren Teil erwartet, dass sie sich an einer Praxis politischer Deliberation beteiligen, die Rawls als „öffentlichen Vernunftgebrauch“ bezeichnet und die bestimmte Anforderungen an die Gründe stellt, welche Teilnehmer:innen verwenden können, um ihre Entscheidungen zu rechtfertigen. Die Standards des öffentlichen Vernunftgebrauchs gelten für Personen in ihrer Rolle als Bürger:innen, da die öffentliche Vernunft sich mit dem Allgemeinwohl hinsichtlich von „Fragen grundlegender Gerechtigkeit“ befasst und ist „ihrem Wesen und Inhalt nach öffentlich, insofern ihre Ideale und Grundsätze durch die politische Gerechtigkeitskonzeption der betreffenden Gesellschaft zum Ausdruck gebracht und auf dieser Basis offen erkennbar in Anspruch genommen werden“ (Rawls 2005b, S. 213). Der öffentliche Vernunftgebrauch soll das Problem ungerechtfertigter Ausübung von Zwangsgewalt lösen: Die Ausübung politischer Macht führt zu Zwang, der normalerweise die Freiheit von Personen einschränkt. Wenn Bürger:innen frei und gleich sind, muss politische Zwangsgewalt ihnen gegenüber gerechtfertigt werden (Rawls 2005b, S. 137).5
5 Sofern
ich es nicht ausdrücklich anders angebe, verwende ich die Begriffe „legitimiert“ und „gerechtfertigt“ synonym und unterscheide nicht zwischen ihnen, wie es z. B. John Simmons tut (2001).
1.1 Terminologie
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Man kann unterschiedliche Ansichten über den Umfang des öffentlichen Vernunftgebrauchs haben. Für Rawls muss für das, was er als „wesentliche Verfassungsinhalte“ und „Fragen grundlegender Gerechtigkeit“ bezeichnet (2005b, S. 214), eine öffentliche Rechtfertigung gegeben werden, aber nicht unbedingt für eine Vielzahl anderer politischer Fragen, die weniger grundlegend sind. Es scheint jedoch zumindest möglich zu sein, öffentlichen Vernunftgebrauch so zu interpretieren, dass seine Anwendung auf ein breiteres Spektrum politischer Fragen ermöglicht wird (siehe z. B. Quong 2011, S. 273–289). Die Rechtfertigung für politische Zwangsgewalt nach den Standards der öffentlichen Vernunft muss einer bestimmten Art entsprechen. Rawls spricht von einer moralischen Pflicht, der „Pflicht zur Bürgerlichkeit“, die Bürger:innen durch den das liberale Legitimitätsprinzip auferlegt wird und von ihnen verlangt, sich gegenseitig auf diesen grundlegenden Fragen [d. h. bezüglich der wesentlichen Verfassungsinhalten und der grundlegenden Struktur] erklären zu können, wie die politischen Grundsätze und Vorhaben, für die sie sich einsetzen und die sie unterstützen, durch die politischen Werte der öffentlichen Vernunft gestützt werden können. Diese Pflicht beinhaltet auch die Bereitschaft, anderen zuzuhören und eine faire Gesinnung, wenn es darum geht, wann man vernünftigerweise Zugeständnisse and die Auffassungen anderer machen sollte (Rawls 2005b, S. 217).
Das bedeutet, dass Rechtfertigungen für die Unterstützung politischer Zwangsgewalt letztendlich nur Werte anrufen können, die von allen vernünftigen umfassenden Lehren in der Gesellschaft als Teil des übergreifenden Konsenses vereinbart wurden. Nur für diese Werte kann die Zustimmung von vernünftigen Bürger:innen erwartet werden, und nur politischer Zwang, der mit diesen Werten begründet wird, wird mit Sicherheit von vernünftigen Bürger:innen unterstützt. Natürlich können Personen aus anderen Gründen auch eine bestimmte politische Maßnahme unterstützen, aber diese werden als „nichtöffentliche Gründe“ eingestuft, die ihren Platz in der „Hintergrundkultur“ der Zivilgesellschaft haben (Rawls 2005b, S. 220). Der Begriff der vernünftigen Person definiert die Menge der Personen, deren Gründe bei der Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt berücksichtigt werden müssen: nur die Gründe vernünftiger Personen haben rechtfertigende Kraft in der politischen Abwägung. Darüber hinaus nehmen die Vertreter eines öffentlichen Vernunftliberalismus allgemein an, dass die Gründe vernünftiger Bürger:innen gegen eine bestimmte Umsetzung politischer Zwangsmaßnahmen diese Politik wirksam blockieren.6
6 Der Begriff sogenannter Defeater-Gründe taucht nicht in den eigenen Schriften von Rawls auf und wird, soweit ich weiß, von Gerald Gaus (2011, S. 244–251) in Liberalismus öffentlichter Vernunft eingeführt, der wiederum die Idee von John Pollock (1996) übernimmt. Mehr über rechtfertigende und entkräftende Gründe und was dies für die öffentliche Rechtfertigung von Bildungspolitiken bedeutet, wird in Kap. 6 gesagt.
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1 Einführung
Das bedeutet jedoch nicht, dass die Standards des öffentlichen Vernunftgebrauchs an jedem Ort und zu jeder Zeit auf die Begründung politischer Fragen angewendet werden. Es wird von Bürger:innen erwartet, dass sie in bestimmten Situationen die Anforderungen der öffentlichen Vernunft erfüllen – sie gelten für durchschnittliche Bürger:innen, wenn sie wählen und „wenn sie sich im öffentlichen Forum politisch engagieren“ (Rawls 2005b, S. 215) sowie „für die Gesetzgeber:innen, wenn sie im Parlament sprechen, und für die Exekutive in ihren öffentlichen Handlungen und Erklärungen“ (Rawls 2005b, S. 216). Nach dieser langen, aber notwendigen Einführung in die zentralen Termini des politischen Liberalismus möchte ich mit einer allgemeineren Bemerkung dazu enden, wie ich auf verschiedene Arten von Schulen verweise. Ich werde den Begriff „öffentliche Schule“ häufig verwenden. Je nach Region hat er unterschiedliche Bedeutungen. In England und Wales sind öffentliche Schulen Teil des privaten Sektors, der Gebühren für die Teilnahme von Schüler:innen erhebt. In Schottland und den Vereinigten Staaten bezeichnet er staatliche Schulen, die durch Steuern finanziert werden. Ich übernehme die letztere Verwendung für den Begriff „öffentliche Schule“ und beziehe mich auf Schulen, die Gebühren erheben, als „private Schulen“.
1.2 Fragen für eine politisch-liberale Darstellung von Bildung Eine politisch-liberale Darstellung von Bildung sollte plausible Antworten auf die Fragen liefern, die die heutigen liberal-demokratischen Gesellschaften stellen. Während diese Fragen sowohl im Zusammenhang mit philosophischen Ansätzen zur Erziehung als auch mit Erziehung im Allgemeinen diskutiert wurden, gibt es bisher keine eindeutigen politischen liberalen Antworten darauf. Zwei Aspekte der Erziehung von Kindern in ihrer Rolle als zukünftige Bürger:innen, mit denen sich die meisten, wenn nicht alle Darstellungen staatsbürgerlicher Bildung befassen, sind die Entwicklung bestimmter bürgerlicher oder politischer Tugenden7 und die Entwicklung der Fähigkeit zur Autonomie. Beide Aspekte sind für staatsbürgerliche Bildung wichtig, da eine funktionierende liberaldemokratische Gesellschaft nicht allein auf die Gestaltung ihrer Institutionen angewiesen ist, sondern Bürger:innen braucht, die motiviert sind, aus den richtigen Gründen mit diesen Institutionen zu interagieren und sie aufrechtzuerhalten. Warum sind Tugenden für die politisch-liberale staatsbürgerliche Bildung wichtig und welche Einwände müssen beachtet werden?
7 Obwohl es möglich ist, sinnvoll zwischen bürgerlichen und politischen Tugenden zu unterscheiden (siehe z. B. Merry 2013), verwende ich diese Begriffe austauschbar.
1.2 Fragen für eine politisch-liberale Darstellung von Bildung
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Die Entwicklung politischer Tugenden, etwa eines Sinnes für Gerechtigkeit, Toleranz, gegenseitiger Achtung und weiterer, erscheint zentral bei der Motivation der Handlungen von Bürger:innen in ihrer politischen Interaktion miteinander. Aus diesem Grund ist es für gute staatsbürgerliche Bildung wesentlich, die Entwicklung solcher Tugenden bei Kindern zu fördern. Gleichzeitig muss erwartet werden können, dass sie fest in die Verhaltensroutinen und Entscheidungsprozesse integriert sind, wenn sie effektiv handlungsleitend sein sollen. Die Anforderung, dass Tugendbildung den Charakter von Kindern formen muss, könnte einige berechtigte Bedenken hinsichtlich staatlichee Autorität aufwerfen – inwieweit sollte das Curriculum von Schulen dazu beitragen, zukünftige Bürger:innen an die bestehenden politischen Institutionen anzupassen? Diese Frage scheint für den politischen Liberalismus sogar noch relevanter zu sein als für perfektionistische liberale Theorien, da sich der politische Liberalismus mit der Neutralität gegenüber den unterschiedlichen ethischen Weltanschauungen von Bürger:innen befasst. Der theoretische Teil einer politischliberalen Darstellung von Bildung muss daher festlegen, innerhalb welcher Grenzen Tugendbildung zulässig ist und eine Rechtfertigung für den Grad an Charakterbildung liefern, die sie innerhalb dieser Grenzen erlaubt. Dies sind nicht nur theoretische Anliegen, die sich auf ideale politische Philosophie beschränken, sondern gleichzeitig auch Fragen angewandter Bildung, z. B. welche Art von Bildungsstrategien Lehrer:innen in Schulen einsetzen können, um die staatsbürgerlichen Überzeugungen und Einstellungen von Kindern zu formen, wann Bedenken von Eltern über unzulässige Einmischung in ihre Ansichten über eine gute Erziehung von Kindern berechtigt sind und Entgegenkommen erfordern, oder ob staatliche Bildung die Verwendung indirekter Maßnahmen wie NudgingTechniken oder sogar technologischer Mittel (falls verfügbar) zur Förderung der Entwicklung politischer Tugenden bei Schüler:innen erlauben sollte. Ich werde mich in Kap. 3 mit der Art und Weise beschäftigen, wie politische Tugenden verstanden werden sollten, wie eine politische Tugendbildung begründet werden kann und welche praktischen Implikationen diese Überlegungen haben. Die Fähigkeit zur Autonomie, der zweite zentrale Aspekt der staatsbürgerlichen Bildung, kann als notwendige Voraussetzung für eine gute Staatsbürgerschaft, als universelles Gut an sich, als essentieller Ausdruck des Menschseins oder als wesentliche moralische Fähigkeit verstanden werden, oder als eine Kombination aus mehreren dieser Aussagen darüber, was Autonomie ist. Soll eine politisch-liberale staatsbürgerliche Bildung Autonomie ermöglichen oder sogar fördern? Wenn ja, was würde Erziehung zur Autonomie bedeuten; wenn nicht, aus welchen Gründen, und wie könnte man vermeiden, Kinder auf eine Weise zu unterrichten, die unvermeidlich eine gewisse Fähigkeit zur Autonomie in ihnen fördert? Abhängig von unserer Ansicht über die Natur von Autonomie werden wir am Ende sehr unterschiedliche Anforderungen an staatsbürgerliche Bildung haben, wenn es um die Entwicklung der Fähigkeit zur Autonomie bei Kindern geht. Wenn Autonomie mit hochreflektivem und kritischem Denken sowie einer substantiellen Vorstellung von Selbstbestimmung gleichgesetzt wird, welche Autonomie
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1 Einführung
mit wertvollen Aktivitäten und Lebensprojekten verbindet, dann resultieren die damit verbundenen Anforderungen in Spannungen mit Werten religiöser Eltern und Gemeinschaften, die ihren Art zu leben dadurch bedroht sehen. Der politische Liberalismus zielt darauf ab, solche Spannungen (in gewissem Maße) zu vermeiden, indem er sich auf die politische Autonomie von Bürger:innen konzentriert, also Aspekte der Autonomie, die für ihre Rolle als Bürger:innen und Mitglieder einer egalitären Gesellschaft relevant sind. Als solche sind sie verpflichtet, bestimmte rationale Fähigkeiten und Fertigkeiten zu besitzen und einzusetzen, um am politischen Prozess teilzunehmen und ein selbständiges Leben zu führen (es sei denn, körperliche oder mentale Gesundheitsbedingungen würden sie daran hindern). Die Idee der politischen Autonomie an sich könnte für einige eher seltsam erscheinen, und insbesondere aus einer Bildungsperspektive könnte man sich fragen, wie es möglich sein soll, Kindern Wissen und Fähigkeiten beizubringen, um eine Kapazität für politische Autonomie zu entwickeln, ohne sie gleichzeitig für die Entwicklung der individuellen (oder „privaten“, wenn man so will) Autonomie zu erziehen. Es überrascht nicht, dass Rawls’ Idee von politischer Autonomie von anderen liberalen Philosophen kritisiert wird, von denen die meisten argumentieren, dass Kinder eine substanziellere, ethische Art der Autonomie entwickeln müssen. Auf was für einer Konzeption von Autonomie ein politisch-liberale Darstellung beruht, bestimmt, welche Art von Unterricht in einem Lehrplan eingefordert oder als zulässig verteidigt werden kann, falls Schulen Beschwerden von Eltern begegnen, die bestimmte Autonomiekonzeptionen als Bedrohung für ihre Überzeugungen betrachten. Die in diesem Buch vorgestellte Darstellung wird versuchen, politisch-liberale Neutralität bezüglich Autonomie zu wahren, indem sie argumentiert, dass nur ein schwaches, prozedurales Verständnis von persönlicher Autonomie erforderlich ist, über welches Fähigkeiten für politische Autonomie aufgebaut werden können. Sind diesen beiden wesentlichen Aspekten der bürgerlichen Bildung geklärt, bleibt eine weitere praktisch relevante Frage offen: Wer hat das Recht, zu entscheiden, welche Art von Bildung ein Kind erhalten soll? In Kontexten staatsbürgerlicher Bildung ist es oft umstritten, wer moralische Autorität über die Erziehung von Kindern hat und aus welchen Gründen. Einerseits wird vielfach angenommen, dass diese Autorität bei den Eltern liegt, andererseits wird aber auch weitgehend akzeptiert, dass der Staat die Autorität der Eltern unter bestimmten Bedingungen übergehen kann. Schließlich sollen beide Parteien im Interesse der betroffenen Kinder handeln, und es scheint, dass Autorität bezüglich der Entscheidungen über die Bildung in hohem Maße davon abhängt, wie gut sie am Ende den Interessen oder dem Wohlergehen dieser Kinder dienen. Wer hat also die moralische Autorität, um über die Bildung von Kindern unter welchen Umständen zu entscheiden? Eine liberale Darstellung von Bildung sollte in der Lage sein, Richtlinien zu liefern, um festzulegen, welcher der beteiligten Akteur:innen Anspruch auf Autorität erheben kann, wenn Meinungsverschiedenheiten über Bildungsentscheidungen
1.2 Fragen für eine politisch-liberale Darstellung von Bildung
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entstehen. Die Zuweisung (moralischer) Rechte an relevante Akteure wie den Staat, die Eltern und auch die Kinder selbst kann die normativen Beziehungen zwischen ihnen klären und es leichter machen, Lösungen für Fragen der Autorität in angewandten Kontexten von Bildung zu finden, z. B. welchen Umfang die Rechte der Eltern, über die Bildung ihrer Kinder zu entscheiden, haben, und ob der Staat unter bestimmten Umständen gerechtfertigt ist, in Entscheidungen von Eltern über ihre Kinder einzugreifen. Während sich der politische Liberalismus mit den Rechten von Bürger:innen im Allgemeinen befasst, bleiben die meisten Diskussionen über Rechte abstrakt und bieten lediglich Richtlinien, wenn es darum geht, Antworten auf konkrete Fragen zu finden. Mein Vorschlag in diesem Buch wird sein, Wesley Hohfelds systematische Klassifizierung von Rechten zu verwenden, um hervorzuheben, dass viele relevante Rechte, die in Konflikten um die Bildung von Kindern eine Rolle spielen, zu unterschiedlichen Arten von Rechten gehören, die in bestimmten Beziehungen zueinander stehen. Sobald die Rechte der verschiedenen Akteur:innen in solchen Konflikten auf diese Weise klassifiziert sind, wird es einfacher, festzustellen, wer über die entscheidende Autorität über die verschiedenen Aspekte von Entscheidungen über Bildung verfügt, und so eine robuste Grundlage für weitere, detailliertere, angewandte Fragen zu schaffen. Während philosophische Diskussionen darüber, wie man die Ideen von Tugenden, von Autonomie und von Rechten verstehen sollte, oft auf einer abstrakten Ebene stattfinden, bedeutet dies nicht, dass sie zu entfernt von konkreten Kontexten sind, um einen Wert für angewandte philosophische Fragen zu haben. Für eine politisch-liberale Darstellung ist es insbesondere wichtig, diese theoretischen Elemente zu klären, da sie die normativen Grundlagen sind, auf denen sich die Meinungsverschiedenheiten über die Details von politisch-liberaler Bildung aushandeln lassen. Das wird deutlich, wenn man auf angewandte Fragen blickt, z. B. auf die Zulässigkeit von religiösen Schulen, ein Thema, das seit langem im Zentrum der Diskussion über liberale Bildung steht. Kann eine von politisch-liberalen Prinzipien geführte Gesellschaft religiöse Schulen mit ihren Zielen für eine gute staatsbürgerliche Bildung in Einklang bringen? Unter welchen Umständen könnte die religiöse Schulbildung eingeschränkt werden, vielleicht sogar stark, und welche rechtfertigenden Gründe wären für einen politisch-liberalen Staat verfügbar, um dies zu tun? Theoretische Überlegungen alleine darüber, wie die Bildung in einer idealen Gesellschaft gestalten sollte, werden wenig Nutzen haben, wenn man bestimmte soziale Kontexte mit ihrer besonderen Geschichte betrachtet, und eine praktische Umsetzung von politisch-liberalen Prinzipien für Bildung wird notwendigerweise unterschiedlich ausfallen, so wie sich auch bestehende liberal-demokratische Bildungssysteme unterscheiden (man vergleiche zum Beispiel Schulbildung in den Vereinigten Staaten, in Frankreich und in Japan). Dennoch kann eine sorgfältig erwogene normativ-ethische Darstellung dabei helfen, Umsetzungen zu verhandeln und festzulegen, welche Argumente basierend auf Ideen von Bildung, für Tugend und Autonomie vorgebracht werden können, um die Freiheit von
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religiösen Schulen einzuschränken, oder auch, um die Zulässigkeit von religiösen Schulen gegenüber säkularen Skeptiker:innen zu verteidigen. Dies wird das Thema von Kap. 6 sein. Ein Thema, das oft eng mit religiösen Ansichten verbunden ist, ist das Thema der Sexualerziehung. Wie sollte sie strukturiert sein, und inwieweit sollten nichtheterosexuelle Beziehungen und nicht-traditionelle Geschlechtsidentitäten einbezogen werden, falls überhaupt? Die Antwort auf diese Frage kann Kinder und Jugendliche auf viele Arten betreffen. Sie haben vielleicht gleichgeschlechtliche Eltern oder sie sind in einem Alter, in dem sie erkennen, dass sie selbst nicht in ein klassisches heteronormatives Narrativ passen. Wenn die Sexualerziehung Themen der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt nicht ausreichend behandelt, werden die Schüler:innen leicht den Eindruck gewinnen, dass diese Aspekte ihres Lebens (falls sie vom Mainstream abweichen) weniger wertvoll sind oder nur dann toleriert werden, wenn sie sozial unsichtbar bleiben. Die angemessene Behandlung dieser Themen in der Sexualerziehung weckt jedoch häufig Bedenken bei konservativen religiösen Bürger:innen, von denen einige befürchten, dass die Einbeziehung nicht-heteronormativer Themen wichtige sozialen Werte untergraben oder etwa Homosexualität schlichtweg „bewerben“ würde. Eine politisch-liberale Darstellung der Bildung muss auf derartige Bedenken antworten können, und sie kann es. Während Anhänger:innen vernünftiger religiöser Ansichten sicherlich das Recht haben, den Wert heterosexueller Beziehungen und Geschlechtsidentitäten aus ihrer Perspektive hervorzuheben, muss eine politisch-liberale Bildung eine breitere Sexualerziehung bieten, wie ich im Kap. 7 argumentieren werde. Schließlich scheint in einer Welt mit zunehmender Zahl an globalen Migrant:innen wichtig, dass eine politisch-liberale Darstellung von Bildung nicht nur in der Lage sein sollte, die Bedürfnisse einer pluralistischen Gesellschaft zu adressieren, sondern auch die einer Gesellschaft, die Immigrant:innen aus verschiedenen kulturellen und politischen Hintergründen aufnimmt. Benötigen Kinder von Immigrant:innen besondere Aufmerksamkeit in Bildungskontexten und haben sie vielleicht besondere Anforderungen, denen ein liberales Staatswesen verpflichtet wäre, mit geeigneten Bildungsmaßnahmen und Lehrplänen zu begegnen? Auf den ersten Blick mag diese Frage nicht sehr gut zu einem politischen Liberalismus passen; schließlich handelt es sich hierbei um eine politische Theorie, die sich auf moralische Richtlinien für den liberalen Staat und seine Bürger:innen konzentriert. Selbst Rawls nahm an, dass die idealisierte Gesellschaft, die er verwendet, um die Gültigkeit dieser Theorie zu demonstrieren, eine geschlossene Gesellschaft ist, in der es keine signifikante Zahl von Personen gibt, die aus- oder eintreten (außer durch Tod und Geburt). Für eine politisch-liberale Darstellung von Bildung, die normative Unterstützung für angewandte Fragen der Bildung liefern soll, wäre es jedoch enttäuschend, nichts über den Status von Kindern von Immigrant:innen zu sagen. Wie ich im Kap. 8 zeigen werde, kann sie es tatsächlich. Selbst wenn wir eine
1.3 Politische v. perfektionistische liberale Bildung
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konservative Ansicht zur Immigration annehmen, nach der ein liberales Staatswesen seine Grenzen weitgehend geschlossen hält und die Immigration einschränkt, wird es in einer moderat idealisierten politischen liberalen Gesellschaft legitime Immigrant:innen geben, und Kinder von Immigrant:innen könnten Anforderungen haben, die sich von denen der einheimischen Kinder unterscheiden und auf die der Staat mit geeigneten Bildungsmaßnahmen und Lehrplänen reagieren muss.
1.3 Politische v. perfektionistische liberale Bildung Diejenigen, die bereits von der Richtigkeit des politischen Liberalismus als theoretischem Rahmen überzeugt sind, werden keine weiteren Bemühungen benötigen, ihnen aufzuzeigen, dass eine politisch-liberale Darstellung von Bildung Vorteile gegenüber anderen liberalen Perspektiven hat. Es könnte jedoch sinnvoll sein, für diejenigen, die es nicht sind, kurz die Bereiche aufzuzählen, in denen sich ein politisch-liberaler Ansatz zur Bildung als besser geeignet erweisen könnte als sogenannte liberale perfektionistische Ansichten. Der politische Liberalismus zielt auf Neutralität in Fragen substantieller ethischer Weltanschauungen ab. Es sollten keine moralischen Werte zur Rechtfertigung politischer Strukturen und Institutionen verwendet werden, sofern nicht als gegeben vorausgesetzt werden kann, dass diese Werte tatsächlich aus allen vernünftigen Perspektiven moralisch akzeptabel sind. In diesem Fall sind sie Teil der „politischen“ Moral des politischen Liberalismus. Der politische Liberalismus unterscheidet sich daher von Formen des Liberalismus (bezeichnet als umfassender Liberalismus), die einige Dinge als intrinsisch wertvoll befürworten, wie z. B. Autonomie.8 Die Unterscheidung zwischen umfassendem und politischem Liberalismus ist jedoch nicht die einzige Unterscheidung, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung ist. Eine weitere Unterscheidung, die im Zusammenhang mit politisch-liberaler Bildung relevant ist, ist die zwischen Perfektionismus und AntiPerfektionismus. Für eine perfektionistische Art liberaler Theorie ist es zulässig, aufgrund einiger angenommener intrinsischer Werte oder anderer metaphysischer Behauptungen eine Reihe von Lebensweisen zu fördern oder zu behindern, während eine anti-perfektionistische liberale Theorie solche Strategien als unzulässig betrachten würde.9
8 Zumindest aus der Sicht der meisten politischen Liberalen. Kritik an diesem Neutralitätsanspruch kommt z. B. von Gerald Gaus (2012), der argumentiert, dass der politische Liberalismus einer Rawls’schen Art eine weitere sektiererische liberale Lehre bleibt (und daher keinen Unterschied zu umfassenden liberalen Theorien aufweist). 9 Ich folge hier der von Jonathan Quong vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen Umfassendheit und Perfektionismus (2011, S. 15–21).
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Der politische Liberalismus ist sicherlich nicht als umfassende Form des Liberalismus gedacht, aber ob dasselbe in Bezug auf Perfektionismus gilt, steht noch zur Diskussion. Jonathan Quong argumentiert, dass politischer Liberalismus anti-perfektionistisch ist (2011, S. 15–21), während andere, wie z. B. Steven Wall, denken, dass politischer Liberalismus Raum für perfektionistische rechtfertigende Gründe lässt (2013). Meines Wissens gibt es keine überzeugenden Argumente dafür, welche dieser beiden Positionen die plausiblere ist. Ob wir Quongs Position annehmen oder Walls, wird jedoch einen Unterschied in der Reihe von Bildungsmaßnahmen machen, die in einer wohlgeordneten Gesellschaft zulässig wären, sowie einen Unterschied in ihrer Rechtfertigung (etwas, das ich in Kap. 3 in mehr Tiefe diskutieren werde). Warum sollte uns das aus der Perspektive einer angewandten Philosophie der Bildung kümmern? Schließlich gibt es eine ganze Reihe ambitionierter perfektionistischer Ansätze für eine liberale Bildung. Ich möchte zwei Beispiele geben, um zu zeigen, wie diese sich von einem politisch-liberalen Bildungskonzept unterscheiden und warum ich denke, dass dies aus einer Anwendungsperspektive ein Problem sein kann. Das erste Beispiel ist Ian MacMullens Auffassung von Autonomie in liberaler Bildung, der behauptet, dass viele liberale Positionen zur Bildung ein sogenanntes ‚Prinzip des politischen Primats‘ annehmen, das Staatsgewalt rechtfertigt um Bedenken aufgrund umfassender ethischer oder religiöser Werte zu übergehen, wenn es darum geht, die übergeordnete liberal-demokratische Struktur der Gesellschaft aufrechtzuerhalten (siehe MacMullen 2007, S. 42). Oft wird die Entwicklung persönlicher Autonomie als ein zentrales Ziel der staatsbürgerlichen Bildung angesehen, was im Widerspruch zu manchen religiösen Vorstellungen steht, zumindest einige Aspekte des eigenen Lebens und der eigenen Überzeugungen unkritisch zu akzeptieren. Liberale Perfektionisten werden argumentieren, dass Autonomie ein grundlegender liberaler und/oder demokratischer Wert ist und der Staat daher berechtigt ist, eine Bildung für die Autonomie durchzusetzen, selbst gegen die Einwände von Eltern, die anderer Ansicht sind. Die Strategie des politischen Liberalismus ist hier anders, da Rawls behauptet, dass der politisch liberale Staat nur die politische Autonomie seiner Bürger:innen kümmern muss, d. h. Fähigkeiten zur Autonomie, die sie in ihrer Rolle als Bürger:innen einer gerechten liberalen Gesellschaft benötigen. Während diese Unterscheidung einige relevante rechtfertigende Arbeit leistet, könnte sie weniger Bedeutung haben, wenn es darum geht, Kindern tatsächlich das Wissen und die Fähigkeiten beizubringen, die sie für eine politische autonome Bürgerschaft benötigen, wie Rawls selbst bemerkt: Bildung für eine Fähigkeit zur politischen Autonomie könnte gleichzeitig eine Fähigkeit zur persönlichen Autonomie entwickeln, die im Widerspruch zu einigen umfassenden Weltanschauungen steht. Wie bedauerlich dies vielleicht sein mag, so muss es aus einer politisch-liberalen Perspektive dennoch akzeptiert werden (siehe Rawls 2005b, S. 200). Dieser Punkt ist, wie MacMullen zu Recht beobachtet, problematisch, da hier die Bedenken religiöser Eltern in dieser Hinsicht scheinbar nicht ernst genug genommen werden. Ich stimme mit MacMullen überein, dass diese Bedenken
1.3 Politische v. perfektionistische liberale Bildung
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berechtigt sind und von einer politisch-liberalen Bildungskonzeption angegangen werden müssen. MacMullens eigene Herangehensweise an diese Bedenken führt jedoch in eine klar perfektionistische Richtung, da er eine substantielle Konzeption der Autonomie verteidigt, nach der Menschen in der Lage sein müssen, sich kontinuierlich als Autoren ihres Lebens zu verstehen und ihre Unabhängigkeit von anderen auszuüben (siehe MacMullen 2007, S. 71). Ich werde in Kap. 4 solche Ansätze diskutieren, in denen ich eine andere Sichtweise der Beziehung zwischen politischer und persönlicher Autonomie darlege. An dieser Stelle sollte es ausreichen, darauf hinzuweisen, dass eine solche Vorstellung von Selbstbehauptung und individueller Unabhängigkeit im Widerspruch zu einigen vernünftigen umfassenden Lehren in einer politisch-liberalen Gesellschaft stehen kann. Wir können uns ziemlich leicht vorstellen, dass ein Lehrplan, der dieses Ideal persönlicher Autonomie umsetzt, Bedenken darüber aufkommen lässt, Kinder zu überindividualistischen, egoistischen Individuen zu erziehen, denen die Fähigkeit fehlt, sich der Welt auf spontane, unkritische Weise zuzuwenden und die aus ethischer oder religiöser Sicht wertvoll sein kann. Schlimmer noch, zumindest aus politisch-liberaler Perspektive, scheint zu sein, dass MacMullen argumentiert, die von ihm verteidigte Konzeption der Autonomie für jede ernsthafte ethische oder religiöse Ansicht wertvoll sein müsse und es daher per Definition gerechtfertigt sei, sie zu einem integralen Bestandteil liberaler Bildung zu machen. Dies scheint eine Autorität des Staates (oder zumindest der politischen Philosoph:innen) über nicht-politische Werte vorauszusetzen, die politische liberale Theorie ablehnen sollte. Das zweite Beispiel für einen perfektionistischen Ansatz zur Erziehung (und zur Erziehung von Kindern im Allgemeinen) ist die Arbeit von Tim Fowler. Fowlers Ansatz ist unverhohlen perfektionistisch, da er argumentiert, dass ein politischliberales Vorgehen bei der Erziehung Bildung nicht genügend Sicherheit dafür bietet, dass Kinder für ein erfülltes und glückliches Leben vorbereitet werden (2014) und, schlimmer noch, die rechtfertigenden Mittel fehlen, um Kinder vor Schaden zu bewahren, die ihnen aufgrund bestimmter elterlicher Entscheidungen drohen könnten (2010). Fowler schlägt eine objektive Liste von Gütern des Wohlergehens vor, die unter anderem Wissen, Natur und Kreativität umfasst. Diese „Güter sind nicht auf der Liste, weil sie von allen akzeptiert werden, sondern weil es gute Gründe gibt, sie für das menschliche Leben als objektiv gut zu bewerten“ (2020, S. 80). Weiter argumentiert er, dass der Standard, auf den wir abzielen sollten, anhand des Wohlergehens eines Individuums im Laufe seines Lebenszyklusses gemessen werden sollte; die besten Chancen, dies zu erreichen, bestehen darin, die notwendigen Fähigkeiten von Kindern zu entwickeln, um diese objektiven Güter früh in ihrem Leben zu erreichen (2020, Kap. 4). Bildungsmaßnahmen, die von einem solchen perfektionistischen Liberalismus geleitet werden, müssten sicherstellen, dass Lehrpläne darauf abzielen, die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten zu entwickeln, um so viele Punkte auf Fowlers Liste wie möglich zu verwirklichen und idealerweise auch noch die Chancen erhöhen, dass sie diese als Erwachsene auch weiterhin als relevante Elemente eines guten Lebens ansehen.
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1 Einführung
Im Gegensatz zum vorherigen perfektionistischen Fokus auf Autonomie erscheint es bei den meisten Punkten auf Fowlers Liste weniger Reibung mit bestimmten umfassenden Lehren zu geben.10 Die meisten religiösen und ethischen Ansichten in modernen liberalen Gesellschaften lehnen weder Kreativität noch Natur oder Wissen im Allgemeinen ab. Allerdings entlässt dies Perfektionist:innen noch nicht aus der Verantwortung. Erstens muss für eine Umsetzung in Lehrplänen zum Beispiel festgelegt werden, welche Arten von kreativen Aktivitäten unterrichtet werden sollen oder welche Art von Beziehung zur Natur Schulen fördern sollen. Aus der Perspektive bestimmter umfassender religiöser oder ethischer Positionen könnten bestimmte Arten von Kreativität besonders wertvoll sein, während die gleichen Aktivitäten aus anderen Perspektiven abzulehnen sind. Das Gleiche gilt für Wissen, Natur und viele andere Punkte auf Fowlers (oder anderen) Liste von objektiv wertvollen Gütern. Zweitens, selbst wenn es keine vernünftige umfassende Sichweise gibt, die sich gegen eine der möglichen Umsetzungen von objektiven Gütern in die Bildung von Kindern richtet, sind diese Güter für viele von ihnen einfach nicht besonders wichtig. Diesen Sichtweisen mag es gleichgültig sein, ob Kinder kreativ sind oder nicht, oder ob sie Natur schätzen oder nicht. In einer Welt ohne jegliche Einschränkungen von Bildungsbudgets und, noch relevanter, Zeit, würden sie einer perfektionistischen Bildungspolitik nicht widersprechen (sie würden sich einfach nicht darum kümmern). Allerdings benötigt Bildung, genau wie andere öffentliche Dienstleistungen, Ressourcen, um ihre Ziele zu verwirklichen, und zwar nicht nur finanzielle Ressourcen, sondern auch Zeit. Während eine moderat wohlhabende liberale Gesellschaft vielleicht ausreichende Mittel bereitstellen könnte, ist die Zeit, die Schulen haben, um Kinder wirksam zu unterrichten, begrenzt, nicht zuletzt aufgrund der rohen Tatsachen bezüglich dessen, was Kinder in einem gegebenen Zeitraum lernen können und wie lange es dauert, bis sie erwachsen werden. Eltern, die den Punkten auf der Liste der objektiven Güter grundsätzlich nicht widersprechen, sind unter Umständen begrenzter Bldungs- und Zeitressourcen berechtigt zu widersprechen, wenn die von ihnen befürworteten Bildungsziele mit Zielen konkurrieren, die sie nicht kümmern. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es keine allgemeinen Ziele in der liberalen Bildung geben kann, noch dass die Einwände der Eltern gegen ein Bildungsziel es automatisch ausschließen (Kap. 6 diskutiert den Fall der Elternpräferenzen für die Einbindung bestimmter evolutionärer Theorie und der Sexualerziehung im Detail). Aus einer politisch-liberalen Perspektive werden einige Bildungsinhalte
10 Auf
der Liste steht auch „sexuelle Intimität“ als objektives Gut, was bestimmte Anforderungen an Kindererziehung und Sexualkundeunterricht mit sich bringt, die einige religiöse Eltern ablehnen könnten. Ich werde diesen Punkt hier beiseite lassen, da ich die Rolle von nichtheterosexuellen Beziehungen in Kap. 7 diskutiere. Fowlers perfektionistischer Liberalismus stellt ähnliche Anforderungen wie die politische liberale Darstellung, die ich verteidige, wenn auch aus anderen Gründen.
1.4 Ziele und Anwendungsbereich
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auch erforderlich sein. Die Liste der Anforderungen wird jedoch kürzer sein als die meisten Listen objektiver Güter, und die Begründung, bestimmte Themen zu unterrichten, besteht nicht darin, dass sich dabei um Güter für alle handelt, sondern dass sie notwendige Bausteine für eine legitime liberale Gesellschaft sind, die ethische und religiöse Vielfalt respektiert. Die beiden oben genannten Beispiele zeigen, dass perfektionistische liberale Hintergrundtheorien natürlich Darstellungen liberaler Bildung liefern können, die vielleicht sogar viele von uns ansprechen, wenn sie auf Werten beruhen, denen wir zugeneigt sind. Wir sollten jedoch nicht vergessen, dass viele dieser Werte nicht unbedingt absolut oder universell sind und dass es vernünftige Meinungsverschiedenheiten über sie geben kann. Wenn wir denken, dass der Staat seine Bildungspolitik und seine curricularen Anforderungen auf der Grundlage einer perfektionistisch-liberalen Sichtweise gestalten sollte, können wir sie denen nicht mehr rechtfertigen, die damit nicht einverstanden sind. Dies stellt ein moralisches Problem dar, da wir in diesem Fall den Staat ermächtigen, anderen Personen Maßnahmen aufzuerlegen, mit denen sie nicht (jedenfalls im Prinzip) einverstanden sind. Dies würde nicht nur Eltern betreffen, die sich über die Auffassung von Autonomie hinter diesen Maßnahmen streiten, sondern auch Lehrer:innen, die vernünftige, aber divergierende Ansichten über persönliche Autonomie haben können. Um Bildungsmaßnahmen und Lehrpläne bereitzustellen, die unterschiedliche Sichtweisen zu diesen Themen respektieren, sollte politischer Liberalismus mit seinem Ziel der rechtfertigenden Neutralität daher eine geeignetere Hintergrundtheorie für normativ-pädagogische Fragen sein als perfektionistisch-liberale Theorien.
1.4 Ziele und Anwendungsbereich Ich betrachte dieses Buch als eine Übung im öffentlichen Vernunftgebrauch. Die Idee der öffentlichen Vernunft gewann nach Rawls’ Einführung der Idee in Justice as Fairness: Political not Metaphysical (Rawls 1999) und deren Einbeziehung in seine politische Theorie in Political Liberalism an Bedeutung in der liberalen politischen Philosophie. Sie wird allgemein als moralischer Standard für die Abwägung politischer Entscheidungen verstanden. Bürger:innen einer wohlgeordneten Gesellschaft sollten zwingende Gesetze und Institutionen nur unterstützen, wenn ihre Gründe dafür von ihren Mitbürger:innen akzeptiert werden, d. h. wenn ihre Gründe öffentlich sind.11 Es ist an dieser Stelle erwähnenswert,
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Umfang der öffentlichen Vernunft variiert je nach den Autoren, die sie verteidigen. Rawls’ eigene Konzeption der öffentlichen Vernunft gilt nur für wesentliche Bestandteile der Verfassung und Fragen grundlegender Gerechtigkeit (Rawls 2002a, S. 136), während Johnathan Quong für eine Erweiterung des Anwendungsbreichs auf jede Art von gesetzlichem Zwang plädiert, siehe Quong (2011), Kap. 9. Wenn die öffentliche Bildung als Teil der Grundstruktur der Gesellschaft gilt, wie ich annehme und argumentiere, ist sie bereits durch den engeren Anwendungsbereich gedeckt.
1 Einführung
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dass die Bürger:innen einer wohlgeordneten Gesellschaft zu einem gewissen Grad idealisiert werden, um sie von den Vorurteilen zu befreien, die ihre realen Gegenstücke haben könnten (und um davon ausgehen zu können, dass sie den Grundsätzen der Gerechtigkeit ohne weitere externe Anreize oder Sanktionen folgen). Dieses Buch ist ein Versuch, Gründe für die Befürwortung von Prinzipien für ein politisch-liberales Bildungssystem zu liefern, die für rationale und vernünftige Bürger:innen einer wohlgeordneten Gesellschaft akzeptabel wären. Es berücksichtigt die grundlegenden Prinzipien und Werte einer liberalen Konzeption der Gerechtigkeit und extrapoliert Gründe für verschiedene Details öffentlicher Bildung, die von den Bürger:innen dieser moderat idealisierten Gesellschaft als öffentlich angesehen werden würden. Man könnte versucht sein zu argumentieren, dass der öffentliche Vernunftgebrauch ein deliberatives Rahmenwerk für Bürger:innen ist und nicht das Forum für ideale (oder semi-ideale) politische Philosophie des Typs, den ich hier entwickle. Dieser Ansicht nach sollte der öffentliche Vernunftgebrauch sich auf das beziehen, was „normale“ Bürger:innen über politische Probleme denken. Dennoch, diese Art der Deliberation würde nicht unbedingt ausschließen, sich zumindest ab und zu auch mit idealer Theorie zu beschäftigen. Es erscheint durchaus plausibel, dass selbst „normale“ Bürger:innen in gewissem Maße ideale Theorien verwenden, wenn sie über normative politische Fragen nachdenken. Einige dieser Bürger:innen können sogar politische Philosoph:innen sein, die sich eine idealisierte Gesellschaften vorstellen, um öffentliche Gründe für ihre bevorzugten Prinzipien der Bildung zu finden.12 Wenn wir denken, dass philosophische Idealisierung eine legitime Methode der Deliberation ist, dann ist die nächste relevante Frage, inwieweit wir in Bildungsangelegenheiten plausibel idealisieren können, die nützliche Richtlinien für die Bildungspolitik im wirklichen Leben bieten sollte. Einen plausiblen Grad der Idealisierung zu finden, ohne den Blick für die tatsächlichen politischen Herausforderungen zu verlieren, ist daher eines der Anliegen dieses Buches. Dieses Buch ist daher auch ein Versuch, eine Brücke zwischen der idealen Theorie, die den Rawls’scher Liberalismus trägt, und dem, was ich als semiidealen Ansatz bezeichne, zu bauen. Aus diesem Grund beschäftigt sich der erste Teil des Buches mit den grundlegenden Werten und Prinzipien, die zum idealen Teil der politisch-liberalen Theorie gehören. Zusammen bilden sie die Grundlage, auf der ein politisch-liberales Bildungskonzept stehen muss. Im zweiten Teil stelle ich Möglichkeiten vor, wie man sich mit Fragen auseinandersetzen kann, die oft im Zusammenhang mit liberaler Bildung diskutiert werden, wie dem Status von Religionserziehung, gleichgeschlechtlichen Beziehung in der Sexualerziehung und den Möglichkeiten, die liberale Bildung für Immigrant:innen bieten muss. Da mein Ansatz im zweiten Teil des Buches auf den normativen Grundlagen aus den vorherigen Kapiteln basiert, kann die Diskussion über mehr „angewandte“ Themen nicht strikt als nicht-ideale Theorie bezeichnet werden. Ich versuche
12 Für
ein Argument zugunsten dieser beiden Punkte siehe Neufeld (2017).
1.4 Ziele und Anwendungsbereich
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jedoch, genug zu entidealisieren, um ein Bild einer wohlgeordneten Gesellschaft zu bekommen, das zwar nicht völlig realistisch, aber zumindest auch nicht so abstrakt ist, dass wichtige soziale Phänomene wie Diskriminierung und Immigration völlig verschwinden. Während ich dies als semi-idealen Ansatz bezeichne, bin ich mir bewusst, dass es aus der Perspektive der nicht-idealen Theorie immer noch viel zu idealisiert erscheinen könnte. An vielen Stellen werde ich versuchen, zumindest einen groben Überblick darüber zu geben, welche Probleme in bestimmten realen Kontexten auftreten können und welche Optionen wir haben, wenn wir unsere politisch liberale Darstellung von Bildung als normativen Hintergrund annehmen. Trotzdem bleibt dies ein idealisierter Ansatz, wenn auch hoffentlich in wichtigen Aspekten deutlich weniger idealisiert als die ursprünglichen Theorien von Rawls. Wenn wir den politischen Liberalismus entidealisieren, um normative Richtlinien für etwas Probleme in der Bildungspolitik zu erhalten, die stärker in den angewandten Bereich fallen, wird auch deutlich, dass ein solches Projekt notwendigerweise begrenzt ist. Ich sollte daher auch einige Worte über den Anwendungsbereich dieses Buches sagen.
1.4.1 Kulturelle und geographische Grenzen Die ideale, wohlgeordnete Gesellschaft, die in meinem Fokus steht, ist eine politisch liberale und orientiert sich daher an westlichen liberal-demokratischen Gesellschaften.13 Dies ist die Einschränkung des politischen Liberalismus von Rawls und damit auch die Einschränkung meiner Darstellung politisch-liberaler Bildung. Diese Einschränkung des Anwendungsbereichs spiegelt sich in den im zweiten Teil des Buches besprochenen Anwendungsfällen wider. Die im Kap. 6 diskutierte Spannung zwischen Liberalismus und Religion scheint vor allem in westlichen Staaten vorzukommen, wahrscheinlich am typischsten in den USA. Ähnlich konzentriert sich das Kap. 7 auf Themen wie homosexuelle Identität
13 Wir
können uns hier an Rawls’ eigener Theorie orientieren. Die historischen Entwicklungen, die Rawls in der Einleitung zu Political Liberalism beschrieben hat und seine Identifizierung der „dritten Eigenschaft einer politischen Gerechtigkeitskonzeption [als solche], dass ihr Inhalt in Begriffen bestimmter Grundideen ausgedrückt wird, die als implizit in der öffentlichen politischen Kultur einer demokratischen Gesellschaft erstanden werden“, Rawls (2005b, S. 13) deuten beide darauf hin, dass das Thema seiner politischen Theorie eine liberale Gesellschaft mit einer repräsentativen demokratischen Regierung ist, eine ideale Version der Demokratien in der westlichen Welt. Dieses bescheidene Ziel des politischen Liberalismus wird von Johnathan Quong hervorgehoben, für den politisch-liberale Theorie darauf abzielt, zu verstehen, welche Argumente Personen „in modernen Gesellschaften“, die „bereits bestimmten grundlegenden liberalen Normen verpflichtet sind“, gegenseitig „berechtigterweise anbieten können“. Quong (2011, S. 5), Hervorhebung im Original.
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1 Einführung
und Homophobie, wie sie in westeuropäischen und nordamerikanischen Gesellschaften vorgefunden und diskutiert werden. Für Gesellschaften mit anderen historischen Hintergründen müsste ein Ansatz zu Gender und Geschlechtergleichheit gegebenenfalls anders aussehen auch wenn politischer Liberalismus generell ein attraktives politisches Ideal für sie sein könnte. Solche nicht typisch westlichen Ansätze könnten auch aus den grundlegenden Anforderungen an politisch-liberale Bildung abgeleitet werden, sie werden in diesem Buch jedoch nicht besprochen (siehe z. B. Dankmeijer 2007). Das Kap. 8 beschäftigt sich mit der Art der Immigration, wie sie typischerweise in westlichen Demokratien vorkommt, sei es in den Vereinigten Staaten oder in europäischen Ländern. Einige Aspekte des politischen Liberalismus und damit wahrscheinlich auch einige der mehr praktisch orientierten Implikationen, die ich daraus ableite, könnten auf andere Arten von Gesellschaften übertragbar sein.14 Eine angemessene Analyse dessen, welche Elemente portierbar wären und was dies für die Theorie sowie die betreffende Gesellschaft bedeuten würde, ist jedoch außerhalb des Anwendungsbereiches meines Projekts.
1.4.2 Grenzen liberalen Sektierertums Eine weitere Einschränkung dieses Buches besteht in den grundlegenden Konzepte und Zielen des politischen Liberalismus, die es voraussetzt. Ich bin sicher kritisch gegenüber einigen der Ideen des politischen Liberalismus, wie Rawls sie entwickelt, insbesondere in Bezug auf politische Tugenden und Autonomie (wie in den Kapiteln 3 und 4 deutlich wird), aber meine Verbesserungsversuche zielen darauf ab, innerhalb bestimmter Toleranzgrenzen der politisch-liberalen Rahmenbedingungen zu bleiben. Insofern werde ich im Zusammenhang dieses Buches nicht das politisch-liberale Projekt selbst kritisieren. Die Frage, ob politischer Liberalismus tatsächlich eine liberale Theorie ist, die sich durch ihren neutralen Ansatz gegenüber verschiedenen Weltanschauungen von anderen liberalen Theorien unterscheidet, oder nur eine andere Form liberalen Sektierertums (Gaus 2012), wird hier nicht diskutiert (mein Gefühl ist, dass er sektiererisch ist – aber immer noch in geringerem Maße als die meisten anderen Formen des Liberalismus). Unabhängig von dieser Diskussion werde ich mich auf die Notwendigkeit des politischen Liberalismus konzentrieren, etwas über Bildung zu sagen. Seine Position bezüglich anderer liberalen Theorien macht keinen Unterschied für diese Aufgabe.
14 Ein aktuelles Beispiel wäre Sungmoon Kims Arbeit zur Integration der Idee öffentlicher Vernunft in konfuzianisch geprägte Gesellschaften in Ostasien, siehe Kim (2017).
1.4 Ziele und Anwendungsbereich
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1.4.3 Grenzen der Gerechtigkeit Der Anwendungsbereich dieses Buches ist in einem anderen Sinne eingeschränkt – es ist nur mit einem begrenzten Spektrum an Gerechtigkeitsvorstellungen kompatibel. Der politische Liberalismus, wie Rawls ihn in A Theory of Justice (2005a) präsentiert, nimmt Gerechtigkeit als Fairness als zentrale Vorstellung von Gerechtigkeit an, die von Bürger:innen in einer wohlgeordneten Gesellschaft unterstützt wird. Gerechtigkeit als Fairness ist natürlich die Bezeichnung jener Theorie der Gerechtigkeit, die Rawls selbst in A Theory of Justice entwickelt (2005a). Sie soll die gerechten Regelungen dessen aufzeigen, was er die Grundstruktur der Gesellschaft nennt, einschließlich der Verfassung und der politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Institutionen eines Staates, arrangiert nach egalitären Gerechtigkeitsprinzipien. Rawls ist davon überzeugt, dass Gerechtigkeit als Fairness die vernünftigste liberale Konzeption von Gerechtigkeit ist, wenn man sie in den Kontext seiner politisch liberalen Theorie stellt, obwohl er zugibt, dass auch andere Konzeptionen seine Definition einer liberalen Gerechtigkeitskonzeption erfüllen würden (Rawls 2005b, S. xlvii). In seinem späteren Werk wiederholt Rawls sein Zugeständnis, dass eine politisch-liberale Gesellschaft nicht unbedingt auf der Grundlage einer bestimmten Theorie der Gerechtigkeit einen Konsens finden würde. Stattdessen würde eine Reihe von akzeptablen Theorien der Gerechtigkeit den übergreifenden Konsens in einer politisch liberalen Gesellschaft aufrechterhalten können (Rawls 2002b, S. 137). Die verschiedenen Vorstellungen von Gerechtigkeit, die für eine politischliberale Gesellschaft akzeptabel sind, unterscheiden sich in ihren Details. Gleichzeitig müssen sie genug gemeinsam haben, um die grundlegenden liberalen Anforderungen zu erfüllen. Die Eignung einer Konzeption von Gerechtigkeit für den politischen Liberalismus kann anhand „dreier Hauptmerkmale“ bestimmt werden: • Sie müssen die grundlegenden Rechte und Freiheiten aufrechterhalten, die in einer verfassungsrechtlichen Ordnung als selbstverständlich vorausgesetzt werden, • sie ordnen diesen Rechten und Freiheiten Prioritäten gegenüber anderen politischen Überlegungen zu, und • sie müssen sicherstellen, dass Bürger:innen die Mittel haben, diese Rechte und Freiheiten sowie die von ihnen gebotenen Möglichkeiten tatsächlich auszunutzen (Rawls 2002a, S. 140–141; auch Rawls 2005b, xlvi, für eine frühere Version dieser Bedingungen). In diesem Buch gehe ich davon aus, dass Gerechtigkeit als Fairness die maßgebliche Konzeption von Gerechtigkeit ist. Meine Darstellung von Bildung ist jedoch mit unterschiedlichen vernünftigen Gerechtigkeitskonzeptionen vereinbar, da sie alle die oben genannten Kriterien erfüllen und ausreichend ähnliche Prinzipien bereitstellen, aus den grundlegende liberale Anforderungen an Bildung
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1 Einführung
abgeleitet werden können. Daher bin ich nicht darauf beschränkt, Behauptungen über eine Gesellschaft aufzustellen, die von den Grundsätzen von Gerechtigeit als Fairness geleitet wird, auch wenn ich auf vernünftige Gerechtigkeitskonzeptionen beschränkt bin. Schließlich wird mein Ansatz der politisch-liberalen Bildung vor allem den moralischen Status von Individuen konzentrieren, auf ihre Rolle als Bürger:innen in einer wohlgeordneten liberalen Gesellschaft und auf die Rechtfertigung politischer Bildungsprinzipien ihnen gegenüber. Detaillierte Fragen einer fairen Verteilung von Bildung (oder Wissen oder Fähigkeiten) und damit verbundenen Ressourcen sind für dieses Buch sekundär. Dies bedeutet natürlich nicht, dass ich nie über Fragen der Verteilungsgerechtigkeit sprechen werde, im Gegenteil – es ist unmöglich, Aspekte der Verteilungsgerechtigkeit vollständig von Fragen liberaler Legitimität zu trennen. Trotzdem werde ich dies nur im Kontext meines primären Fokus tun, wann immer ich Verteilungsgerechtigkeit in den folgenden Kapiteln diskutiere. Sehr viel mehr könnte über Fragen der Verteilungsgerechtigkeit im Zusammenhang mit Bildung gesagt werden, sicherlich genug für ein weiteres Buch. Die von mir vorgestellte Darstellung soll eine von vielen möglichen politischliberalen Darstellungen von Bildung sein. Es ist eine plausible und vernünftige Darstellung, die versucht, einige der Probleme zu lösen, die bisher im Zusammenhang von politisch-liberaler Theorie und Bildungsphilosophie aufgeworfen wurden. Sie soll auch demonstrieren, wie ideale politische Theorie weniger abstrakte normativ Richtlinien generieren kann, die, angepasst an den Anwendungskontext, auf realpolitische Fragen bezüglich Bildung anwendbar sind. Eine solche Charakterisierung ist allerdings offen für unterschiedliche Interpretationen und kann zu Erwartungen führen, die ich nicht erfüllen werde. Aus diesem Grund ist es wichtig, auch zu klären, was meine Ziele nicht sind. Dieses Buch soll keine getreue Rawls-Exegese sein, die versucht, Rawls’ Sichtweise auf das Projekt des politischen Liberalismus in jedem Detail zu bewahren. Einige der Ideen über Autonomie und politische Tugenden in Rawls’ Version des politischen Liberalismus scheinen im Widerspruch zu grundlegenden Ideen der Bildung zu stehen; hierzu verweise ich insbesondere auf die Kap. 3 und 4, in denen ich Modifikationen von Rawls’ Darstellung von Autonomie und von politischen Tugenden vorschlage. Neben dem Ziel, ein politische Darstellung von Bildung zu entwickeln, ziele ich auch darauf ab, den politischen Liberalismus so anzupassen, dass er grundlegende Bildungsanforderungen erfüllt. Einige politische Liberale werden diese Revisionen möglicherweise für kontrovers halten. Die im Kap. 3 gemachte Behauptung, dass Rawls’ aristotelische Darstellung von Tugenden durch eine Humesche ersetzt werden sollte, mag für diejenigen, die denken, dass Rawls’ Aristotelischer Grundsatz nach seinem political turn noch eine relevante Funktion hat, überflüssig oder sogar abträglich erscheinen. Die Einführung dessen, was ich im Kap. 4 als schwache Autonomie bezeichne, die aus der einschlägigen Idee resultiert, dass nur die „politische“ Autonomie der Individuen für den politischen Liberalismus relevant ist, mag für diejenigen, die denken, dass der politische Liberalismus so neutral wie möglich
1.5 Vorschau
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in Fragen der Autonomie sein muss, unannehmbar erscheinen. Einige politische Liberale könnten auch mit meiner Sichtweise zur Rolle von Religion und Bildung im Kap. 6 und der Behauptung, dass private und religiöse Schulen aus der Perspektive des politisch-liberalen Bildung (meistens) unproblematisch sind, nicht einverstanden sein. Mir ist bewusst, dass nicht jede:r Leser:in mit den in jenem Kapitel gemachten Behauptungen (und wahrscheinlich auch mit einigen anderen Behauptungen) übereinstimmen wird, aber es scheint mir für diese Änderungen gute Gründe zu geben, für die ich argumentieren werde. Die Absicht dieses Buch es ist es auch nicht, die einzige, endgültige und korrekte politisch-liberale Darstellung von Bildung liefern. Ich bin davon überzeugt, dass dies generell unmöglich ist. Abhängig davon, welche Modifikationen und Revisionen politisch-liberaler Theorie wir als akzeptabel erachten und davon, welche Anforderungen Bildung an den Staat, an Eltern und an Kinder stellen kann oder muss, werden wir am Ende mit einer Vielzahl unterschiedlicher Darstellungen von politisch-liberaler Bildung enden. Politische Philosoph:innen, selbst diejenigen, die sich hauptsächlich dem politischen Liberalismus verpflichtet fühlen, unterliegen, ebenso wie die Bürger:innen einer wohlgeordneten Gesellschaft, berechtigten Meinungsverschiedenheiten. Zum Abschluss dieser Einführung biete ich eine kurze Vorschau auf die folgenden Kapitel und ihre wichtigsten Argumente.
1.5 Vorschau In Kap. 2, nähere ich mich der politisch-liberalen Bildung durch einen Überblick über das wenige Material zu dem Thema, das man in Rawls’ Werk finden kann. Während dieses Buch sich auf eine politisch-liberale Darstellung der Bildung konzentriert, beurteile ich auch Arbeiten vor Rawls’ political turn, da Ansichten, die in Rawls’ frühen Schriften entwickelt wurden, auch für seinen politischen Liberalismus noch relevant sind (oft sind sie es bezüglich anderer Themen). Diese Untersuchung liefert einen ersten Eindruck davon, was Rawls für relevant für die liberal-demokratische Bildung hielt und weisen in die Richtung, in die eine robuste Darstellung der politischen liberalen Bildung entwickelt werden sollte. Die nächsten drei Kapitel bilden den ersten, theoretischen Teil des Buches. Sie umfassen eine Analyse politischer Tugenden, von Autonomie und von politischen Rechten und Freiheiten von Akteuren in einer politisch-liberalen Gesellschaft sowie einige Vorschläge für Änderungen, die im Licht der Anforderungen von Bildung erforderlich erscheinen. Detailliertere Ausführungen darüber, wie die politisch-liberale Bildung funktionieren sollte, müssen sich auf diese Konzepte und ihre Implikationen beziehen. Das Thema von Kap. 3 sind die politischen Tugenden, die Bürger:innen in einer politisch liberalen Gesellschaft kultivieren müssen. Die Verantwortung für die Kultivierung politischer Tugenden liegt zumindest teilweise beim Bildungssystem einer Gesellschaft. Wie ich jedoch zeigen werde, erscheint in Rawls’
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1 Einführung
politischem Liberalismus die Vorstellung von Tugenden und davon, was tugendhaftes Verhalten motiviert, nämlich der Aristotelische Grundsatz, sehr wie ein Überbleibsel aus seiner ‘vorpolitischen’ Theorie und würde eine Reihe von umfassenden und/oder perfektionistischen politischen Maßnahmen implizieren. Bildungsmaßnahmen mit dem Aristotelischen Grundsatz zu rechtfertigen würde darüber hinaus bedeuten, die Rechtfertigung für grundlegende politische Maßnahmen auf einer Idee des menschlichen Wohlergehens gründen, über die vernünftige Bürger:innen uneins sein und welche sie ablehnen können. Als Lösung für dieses Problem schlage ich vor, stattdessen eine Humesche Auffassung von Tugenden zu übernehmen, die bezüglich der exakten Natur politischer Tugenden weitgehend neutral bleibt und damit eine unverfänglichere Rechtfertigung für eine Bildung bietet, welche eine Reihe von politischen Tugenden fördert. In Kap. 4 diskutiere ich die Rolle von Autonomie für politisch liberale Bildung. Aus dem kurzen Exkurs über Bildung, der im Kontext von Rawls’ politischliberaler Theorie zu finden ist, scheint hervorzugehen, dass seiner Ansicht nach nur politische Autonomie für Bildung relevant sein sollte. In diesem Kapitel argumentiere ich, dass dies ein unvollständiges Bild politisch-liberaler Bildung liefern würde. Damit Bürger:innen die mit Bürgerschaft in einer liberale-demokratischen Gesellschaft verbundenen moralischen Vermögen entwickeln und einige der politischen Tugenden entwickeln können, benötigen sie mehr als nur politische Autonomie. Die zentrale Aussage von Kap. 4 ist, dass eine Darstellung von Autonomie von Individuen als selbstbestimmte Akteure erforderlich ist, um diese Bildungsziele zu erreichen, und dass die politisch-liberale Bildung eine Darstellung dieser Art von Autonomie einbinden muss. Kap. 5 untersucht die Beziehungen zwischen dem politisch-liberalen Staat, Eltern und Kindern in Bezug auf Rechte und Freiheiten. Ich schlage vor, politische Rechte und Pflichten in einer Hohfeldschen Weise zu verstehen, um die Beziehungen zwischen diesen Akteur:innen besser zu verstehen. So ist es mir möglich zu zeigen, inwieweit Gerechtigkeitsanforderungen Pflichten für Eltern, aber auch für den Staat generieren, um eine hinreichende Bildung für Kinder sicherzustellen, damit sie eine Reihe von Grundgütern angemessen nutzen können. Die Interessen von Kindern generieren auch bestimmte Ansprüche des Staates gegenüber den Eltern, sollten diese nicht in der Lage oder bereit sein, ihre Pflichten gegenüber ihren Kindern zu erfüllen. Kap. 6, 7 und 8 bilden den zweiten, angewandten Teil des Buches. Jedes dieser Kapitel behandelt einen bestimmten Satz von Themen und Problemen, die im Bildungskontext auftreten. Die Rolle von Religion in der Bildung sowie die Frage, ob ein politisch liberales Bildungssystem Raum für private Schulen bietet, werden in Kap. 6 diskutiert. Ein Schwerpunkt dieses Kapitels ist Kevin Valliers Behauptung, dass das ein Liberalismus der öffentlichen Vernunft (von dem der politische Liberalismus eine Form ist), richtig verstanden, zwangsläufig dazu führen würde, dass ein öffentliches Bildungssystem illegitim ist und eine politische Rechtfertigung nur für ein privates Bildungssystem erzielt werden kann. Ich widerspreche der Sichtweise und behaupte, dass dies nicht auf den politischen Liberalismus zutrifft,
Literatur
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obwohl es sich um eine Form von Liberalismus der öffentlichen Vernunft handelt. Ich gestehe jedoch ein, dass es in einer politisch-liberalen Gesellschaft prima facie keinen Grund gegen ein gemischtes Schulsystem gibt, in dem private Schulen unter günstigen sozialen Bedingungen und den notwendigen politischen Standards und Kontrollen möglich sind. Kap. 7 nimmt die Diskussion über gleichgeschlechtliche Beziehungen auf, die in der Bildungsphilosophie stattfindet, und erkundet, wie sich die Prinzipien der politisch-liberalen Bildung hier anwenden lassen. In diesem Kapitel argumentiere ich, dass eine politisch-liberale Bildung gleichgeschlechtliche Beziehungen in ihre Lehrpläne zur Sexualerziehung aufnehmen muss, da es sich dabei um einen wichtigen Baustein für die Selbstachtung zukünftiger Bürger:innen handelt. In weniger idealen Gesellschaften, in denen Ungleichheit zwischen Paaren unterschiedlichen Geschlechts und gleichgeschlechtlichen Paaren besteht, z. B. in Bezug auf den Zugang zur Institution der Ehe, ist eine inklusive sexuelle Bildung auch ein Schritt in Richtung einer gerechteren Gesellschaft, so möchte ich zumindest behaupten. Das letzte der drei angewandten Kapitel, Kap. 8, versucht sich an einer Analyse der Frage, ob politisch-liberale Bildung zusätzliche Angebote für die Kinder von Immigrant:innen machen muss und was für Angebote dies sein müssten. Dies ist der Anwendungsfall, der am weitesten entfernt ist von der idealisierten, wohlgeordneten Gesellschaft der Rawls’schen politisch-liberalen Theorie, da er bis zu einem Grad de-idealisiert, an dem Austausch mit anderen Gesellschaften und Immigration auftreten. Meine Hauptaussage in diesem Kapitel ist, dass der politisch-liberale Staat tatsächlich die Pflicht hat, Kindern von Immigrant:innen zusätzliche Bildungsmittel zur Verfügung zu stellen, die aus Erwägungen bezüglich der Verteilungsgerechtigkeit sowie der langfristigen Stabilität der Gesellschaft aus den richtigen Gründen entstehen. Kap. 9 fasst die wichtigsten Erkenntnisse der vorherigen Kapitel zusammen und erklärt, was die von mir entwickelte Darstellung politisch-liberaler Bildung plausibel und vernünftig macht. Außerdem schlage ich hier vor, dass das Projekt der Entwicklung einer politischen Theorie der Bildung deutlich macht, dass ideale politische Theorie manchmal Anpassungen erfordert, falls sich herausstellt, dass sie auf reale Probleme nur unzureichend eingehen kann.
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1 Einführung
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Kapitel 2
Rawls’sche Bildung: Vorbemerkungen
Zusammenfassung Dieses Kapitel bietet eine Analyse jener Aspekte von John Rawls’ politischer Philosophie, die für Fragen der Bildung relevant sind. Es beginnt mit einer Übersicht über die wenigen Gelegenheiten, zu denen Rawls selbst über die Bedeutung dieser Konzepte für die liberale Bildung schreibt, und diskutiert dann die drei wichtigsten Aussagen zu Bildung, die dort zu finden sind: die Idee der politisch-liberalen minimalen staatsbürgerlichen Bildung und ihrer Ziele, die Entwicklung eines Gerechtigkeitssinns als politische Tugend und Bildung als politische Institution, der die Anforderungen der öffentlichen Vernunft unterliegen. Natürlich muss es mit Rawls beginnen – mit dem wenigen, was Rawls selbst über dieses Thema geschrieben hat, wobei das wahrscheinlich offensichtlichste ein kurzer Absatz in Political Liberalism ist, in dem er ein sehr kurzes Konzept einer politisch-liberalen bürgerlichen Bildung skizziert, und mit der Analyse der impliziten Annahmen über Bildung, die in zentralen Teilen seines Werks zu finden sind. Auf dieser Grundlage werde ich argumentieren, dass Prinzipien und Regeln im Zusammenhang mit der Bildung durchaus als Gegenstand öffentlicher Vernunft betrachtet werden können und nach deren Standards gerechtfertigt werden müssen. Wenn Bildung in Rawls’ Arbeit erwähnt wird, dann oft in ihrer Rolle als Ressource im Zusammenhang mit Verteilungsgerechtigkeit, aber auch im Zusammenhang mit der Entwicklung eines Gerechtigkeitssinns. Letzteres ist der für meine Darstellung der politisch-liberalen Bildung relevante Aspekt, weil der Gerechtigkeitssinn eine von mehreren politischen Tugenden ist, die Personen entwickeln müssen, um anständige demokratische Bürger:innen einer wohlgeordneten Gesellschaft zu werden. Aufgrund meines Fokus auf die politischen und moralischen Anforderungen des politischen Liberalismus und ihrer Rechtfertigung gegenüber Einzelpersonen wird Bildung als Frage der Ressourcenverteilung hier nicht berücksichtigt. Dies bedeutet nicht, dass der Platz von Bildung
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Nature Switzerland AG 2022 F. Podschwadek, Die Erziehung der Vernünftigen, https://doi.org/10.1007/978-3-031-21266-6_2
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2 Rawls’sche Bildung: Vorbemerkungen
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in einem fairen Verteilungsplan für Ressourcen keine Rolle spielen würde. Vielmehr ist es ein anderer Aspekt der Bildung, auf den ich mich in diesem Buch konzentriere.1 Ich werde diese Frage in diesem Buch nicht im Detail diskutieren, weil ich davon ausgehe, dass ein politisch liberaler Rahmen ein von Steuern finanziertes Schulsystem erfordert, auch wenn ein solches auf verschiedene Arten umgesetzt werden kann (entweder durch staatliche Schulen, ein Gutscheinsystem für privat betriebene Schulen oder etwas anderes). Es erscheint als die plausibelste Wahl für ein System, in dem Bürger:innen den gegenseitigen sozialen und politischen Austausch schätzen und das Verteilungsrichtlinien wie Rawls’ Differenzprinzip verwendet. Obwohl Rawls kaum etwas über das Thema Bildung in expliziter Weise geschrieben hat, deuten viele Passagen in seinem Werk darauf hin, dass er bestimmte Formen politischer Bildung für die Bürger:innen einer wohlgeordneten Gesellschaft favorisiert, welche durch Prinzipien der Gerechtigkeit geordnet ist, auf die sich alle Bürger:innen einigen können. Es wird offensichtlich, dass Rawls sich der Auswirkungen der politischen Struktur auf das Leben von Bürger:innen bewusst ist, wenn er zum Beispiel schreibt: [T]he institutional form of society affects its members and determines in large part the kind of persons they want to be as well as the kind of persons they are. The social
1 Es
sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass eine der grundlegendsten Fragen zu einem öffentlichen Bildungssystem ist, ob es gerecht ist, es durch Steuern zu finanzieren, insbesondere gegenüber Bürger:innen, die selbst keine Kinder haben haben oder die sie ausschließlich auf Privatschulen schicken. Dies ist sowohl eine Frage der Legitimität als auch eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit, wobei keiner dieser Aspekte dem jeweils anderen nachzustehen scheint. Ich werde diese Frage in diesem Buch nicht im Detail erörtern, weil ich davon ausgehe, dass der politisch-liberale Rahmen ein steuerfinanziertes Schulsystem erfordern muss, obwohl dies auf verschiedene Weise realisiert werden könnte(entweder durch staatliche Schulen, ein Gutscheinsystem für Privatschulen oder auf anderem Wege). Es scheint die plausibelste Wahl für ein System zu sein, in dem Bürger:innen Wert auf reziproke soziale und politische Interaktion legen und in dem Umverteilungsrichtlinien wie das Rawls'sche Differenzprinzip angewandt werden. Ich möchte hier zwei skizzenhafte Gründe anführen: Bildung erzeugt positive Externalitäten, die Bürger:innen wahrscheinlich unabhängig davon zugute kommen werden, ob ihre Kinder öffentliche Schulen besuchen oder ob sie überhaupt Kinder haben. Kinder, sofern sie eine ausreichende Bildung erhalten, werden die nächste Generation von Arbeitskräften sein, welche die notwendigen Güter und Dienstleistungen für die Gesellschaft bereitstellen und ein bestehendes Sozialsystem aufrechterhalten. Es scheint daher im Interesse einer politisch-liberalen Gesellschaft, so vielen Kindern wie möglich den Erwerb ausreichender Kenntnisse und Fähigkeiten zu ermöglichen, um diese Rolle in einem auf Gegenseitigkeit beruhenden Sozialsystem zu spielen, wofür einige Umverteilungsanstrengungen erforderlich sein dürften. Aus individueller Sicht schafft Bildung eine Reihe von Möglichkeiten für künftige Bürger:innen, ihr Leben nach ihren Vorstellungen des Guten zu führen und Selbstachtung zu entwickeln und zu bewahren; beides wird eine politisch-liberale Gesellschaft unterstützen wollen. Um den Kindern weniger wohlhabender Bürger:innen ein angemessenes Spektrum an Möglichkeiten zu bieten, scheint wiederum ein steuerfinanziertes Bildungssystem erforderlich zu sein.
2.1 Bildung in Rawls’ Werk
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structure also limits people’s ambitions and hopes in different ways; for they will with reason view themselves in part according to their position in it and take account of the means and opportunities they can realistically expect (2005b, S. 269).
Es ist offensichtlich, dass Bildungsinstitutionen in westlichen liberal-demokratischen Gesellschaften Bürger:innen stark in ihrer Entwicklung zu der Art von Personen beeinflussen, die sie werden. Obwohl dies sicherlich nicht die einzigen Institutionen sind, die so etwas tun, sind sie für einen großen Teil der Bevölkerung vermutlich der wichtigste Faktor; und auch wenn Rawls dies nie explizit gesagt hat, zählen Schulen (und vielleicht auch andere Bildungsinstitutionen) daher als Teil der Grundstruktur der Gesellschaft und sollten als solche betrachtet werden, wenn man eine ideale wohlgeordnete Gesellschaft modelliert, um herauszufinden, wie eine politische Konzeption von Gerechtigkeit funktionieren würde.
2.1 Bildung in Rawls’ Werk In einem ersten Schritt sollten wir uns ansehen, was Rawls selbst über Bildung geschrieben hat. Idealerweise könnte uns dies zumindest einen Hinweis darauf geben, wie eine komplexe Angelegenheit wie Bildung am besten in sein philosophisches Rahmenwerk passt und welche Art von Ansatz bezüglich Bildung Rawls selbst bevorzugt oder gegebenenfalls vermieden hätte. Leider schreibt Rawls nur sehr wenig über Bildung in seinem Werk, und nur ein Teil dessen, was er schreibt, scheint für dieses Projekt relevant zu sein. Folgendes ist eine meines Wissens vollständige Sammlung der Bezüge zur Bildung, die in Rawls’ Werk zu finden sind.2 In A Theory of Justice wird Bildung explizit vor allem im Zusammenhang mit Verteilungsgerechtigkeit erwähnt. Sie wird als Beispiel für die Anwendung des Differenzprinzips verwendet. (Kurz gesagt, das Differenzprinzip zeigt uns, dass eine ungleiche Verteilung von Gütern und Wohlfahrt in einer Gesellschaft gerecht ist, wenn die Position des schlechtestgestellten Mitglieds dieser Gesellschaft unter einem anderen Verteilungsmuster nicht besser wäre.) Eine gerechte Bildungspolitik, so Rawls, muss nicht darauf abzielen, die verschiedenen auch nur möglichen Nachteile von Bürger:innen vollständig auszugleichen, sondern darauf, die „langfristige Erwartung der Schlechtestgestellten“ zu verbessern (2005a, S. 101). Hinsichtlich der Fairness der Verteilung von Bildungsressourcen sollte das Zuweisungskriterium nicht nur die erwartete Rendite der Produktivität einer Person sein, sondern auch Verbesserungen für diejenigen, die nicht zu hochproduktiven Individuen werden. Dies wird die Selbstachtung dieser Personen
2 Viele Behauptungen zum Thema Bildung in diesen Papieren und Artikeln in Rawls’ wichtigsten Werken erscheinen bereits in früheren Versionen in einigen seiner veröffentlichten Artikel. Wenn dies der Fall ist, nenne ich der Vollständigkeit halber beide Quellen.
2 Rawls’sche Bildung: Vorbemerkungen
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erhöhen, was für Rawls ein wichtiges Grundgut ist und in jede gerechten Verteilungsplan für Bildungsressourcen einbezogen werden muss (2005a, S. 107).3 Die einzige explizite Erwähnung von Bildung, die nicht im Zusammenhang mit Umverteilung steht, findet sich in einer kurzen Diskussion über Paternalismus in einer liberalen Gesellschaft: Paternalistische Prinzipien sind ein Schutz vor unserer eigenen Unvernunft und dürfen nicht so interpretiert werden, dass sie Angriffe auf die Überzeugungen und den Charakter einer Person durch beliebige Mittel rechtfertigen, solange diese die Aussicht auf spätere Zustimmung bieten. Allgemeiner gesagt, auch Bildungsmethoden müssen sich an diese Grenzen halten (Rawls 2005a, S. 250).
Dies kann als normativer Anspruch gelesen werden, dass Schulen (wo „Bildungsmethoden“ vermutlich angewendet werden) sich an einen liberalen Grundsatz der Achtung der Autonomie von Kindern halten müssen, soweit anwendbar.4 Es wird aus diesem kurzen Abschnitt jedoch nicht klar, ob der zugrunde liegende Wert für diese normativen Einschränkungen politisch im Sinne von Rawls’ späterem Werk Political Liberalism oder ob er hier als umfassendere ethische Idee verwendet wird. Aber selbst wenn es in letzterer Weise gedacht ist, könnte man sicherlich versuchen, ein ähnliches Argument nur auf der Grundlage politischer Werte zu begründen. Eine weitere Frage, die sich angesichts späterer Publikationen in Bezug auf diesen Abschnitt ergibt, ist, ob die Achtung von Überzeugungen und Charakterzügen von Kindern auch die Erziehungsmethoden im familiären Umfeld beinhaltet. Wenn Rawls später behauptet, dass die Familie als Teil der Grundstruktur der Gesellschaft gilt (siehe den Abschnitt über The Idea of Public Reason Revisited unten), mag man argumentieren wollen, dass die Einschränkungen des politischen Liberalismus tatsächlich auch die Familie betreffen. Schließlich werden Schulen auch als eine Art von Vereinigung genannt, in der Kinder ihr Moralsinn für Assoziation mit anderen entwickeln, d. h. sie lernen, dass in verschiedenen sozialen Kontexten unterschiedliche Rollen unterschiedliche moralische Standards haben. Schule ist jedoch nur eine von vielen Vereinigungen, in denen Kinder diese Stufe ihrer moralischen Entwicklung erreichen (eine von dreien nach Rawls’ Moralpsychologie), neben z. B. der Familie, der Nachbarschaft und eher temporären Formen der Zusammenarbeit wie dem Spielen mit Gleichaltrigen (Rawls 2005a, S. 467–468).5
3 Dasselbe Argument
findet sich bereits in Distributive Justice: Some Addenda (1999a, S. 166). scheint offensichtlich, dass Kinder, abhängig von ihrem Alter, nicht als vollständig autonome Akteur:innen behandelt werden können, sondern dass sie ihre Autonomie allmählich entwickeln. Auch könnten Kinder in einigen Bereichen ihres Lebens früher als in anderen als autark gelten, siehe z. B. Archard (2004, Kap. 5 und 6). 5 Diese Darstellung der moralischen Entwicklung erscheint bereits in einer weniger anspruchsvollen Version in The Sense of Justice (1999c, S. 102–105), wo sie als „Erzeugung von Vereinigungsschuld“ bezeichnet wird. 4 Es
2.1 Bildung in Rawls’ Werk
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Später werde ich in einer ausführlicheren Diskussion über die Entwicklung des Gerechtigkeitssinns argumentieren, dass die Rolle der Schulen bei der Entwicklung politischer Tugenden eine ziemlich wichtige ist (siehe Abschn. 2.2.3). Die Idee, dass Bildungsressourcen nach dem Differenzprinzip verteilt werden sollten, wird in Political Liberalism (Rawls 2005b, S. 184) kurz wiederholt, aber etwas Neues über Bildung im Zusammenhang mit den Grundinstitutionen der Gesellschaft findet sich hier nicht. Ein interessanterer Anspruch, den Rawls an Bildung hat, findet sich im Zusammenhang mit der Frage, ob politischer Liberalismus in seiner Behandlung von sehr zurückgezogenen umfassenden Lehren ungerecht ist (2005b, S. 199– 200).6 Hier gibt er eine kurze Darstellung minimaler Bildung, die zu einem gewissen Grad auf normative Anforderungen hinweist, die eine politisch-liberale Bildung erfüllen müsste. Dieser kurze Teil kann als die wichtigste Quelle für Bedingungen einer politisch liberalen Bildung angesehen werden, die von Rawls selbst genannt werden. Wenn es nur um diese ginge, müssten Bürger:innen in einer wohlgeordneten Gesellschaft nur äußerst minimale normativen Kriterien für öffentlicher Bildung erfüllen. Ich werde diese minimale Darstellung der Bildung im nächsten Abschnitt diskutieren. Schließlich enthält The Idea of Public Reason Revisited wichtige Klarstellungen und Modifikationen des in Political Liberalism vorgestellten Konzepts der öffentlichen Vernunft. Während seiner „endgültigen Darstellung des politischen Liberalismus“ (Freeman 2007, S. xxi) bespricht Rawls kurz die Beziehung zwischen öffentlicher Bildung und Religion. Um zu zeigen, dass die öffentliche Vernunft die Ergebnisse von Debatten über politische Fragen nicht schon von vornherein bestimmt, bezieht er sich auf die Debatte zwischen Patrick Henry und James Madison über die Frage, ob Gebete in öffentlichen Schulen eingeführt werden sollten. Ich werde diesen Abschnitt später genauer untersuchen, um zu sehen, wie für Rawls der Gebrauch öffentlicher Vernunft auf Bildungsangelegenheiten angewendet werden kann (siehe Abschn. 2.4). Rawls betont außerdem en passant die Bedeutung der Bildung für die öffentliche Vernunft, eines der Kernelemente des politischen Liberalismus (zu diesem Zeitpunkt seiner Karriere sieht er den Gebrauch öffentlicher Vernunft als eine notwendige Bedingung für die demokratische Abwägung in einer wohlgeordneten Gesellschaft an): Ohne breite Bildung für alle Bürger:innen hinsichtlich der grundlegenden Aspekten verfassungsmäßiger demokratischer Regierung und ohne ein Öffentlichkeit, die über drängende Probleme informiert ist, können schwerwiegende politische und soziale Entscheidungen einfach nicht getroffen werden. Selbst wenn weitsichtige politische Führer:innen vernünftige Änderungen und Reformen anstreben, können sie eine
6 Wie bei vielen Elementen, die in Political Liberalism zu finden sind, hat Rawls dieses Argument in einem früheren Artikel entwickelt. Die gleiche Darstellung der minimalen Bildung findet sich bereits in The Priority of the Right (1999b, S. 464–465) und in den Vorträgen, die in Justice as Fairness gesammelt wurden (2001, S. 156–157).
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2 Rawls’sche Bildung: Vorbemerkungen missinformierte und zynische Öffentlichkeit nicht davon überzeugen, sie anzunehmen und ihnen zu folgen (2002, S. 139–140).
Obwohl die Implikationen nicht ausgesprochen werden, wird in diesem kurzen Abschnitt klar, dass in einer politisch-liberalen Gesellschaft mit ihrem Anspruch, politische Entscheidungen allen vernünftigen Bürger:innen gegenüber zu rechtfertigen, Bildung eine notwendige Bedingung ist, um dieses Ziel zu erreichen. Bisher haben wir gesehen, dass Rawls uns nicht explizit sagt, dass Schulen selbst Teil der Grundstruktur der Gesellschaft sind, d. h. dass sie Institutionen sind, für die die Prinzipien der Gerechtigkeit und die Einschränkungen der öffentlichen Vernunft gelten. Die Passagen in seinen Werken, die sich mit Bildungsangelegenheiten befassen, deuten jedoch darauf hin, dass es höchst plausibel ist, Schulen als Teil der Grundstruktur der Gesellschaft zu betrachten und daher zu fragen, wie sie in das rechtfertigende Modell des politischen Liberalismus passen.
2.2 Minimale staatsbürgerliche Bildung Die direkteste und ausführlichste Darstellung der Bildung, die Rawls gibt, ist ziemlich minimal. Sie taucht im Zusammenhang mit der Frage auf, ob eine politische Auffassung von Gerechtigkeit ungerecht ist für Menschen, die bestimmte Auffassungen von Gut und Böse vertreten und die sich unter Umständen schwertun, ihre ethischen Integrität unter dem Regime einer gerechten Verfassungs aufrechtzuerhalten: [Der politische Liberalismus] wird verlangen, dass die Bildung von Kindern solche Dinge umfasst, wie das Wissen über ihre verfassungsmäßigen und staatsbürgerlichen Rechte, damit sie zum Beispiel wissen, dass in ihrer Gesellschaft Gewissensfreiheit existiert und dass Apostasie nicht illegal ist, all dies, um sicherzustellen, dass ihre fortlaufende Mitgliedschaft [in ihrer ethischen oder religiösen Gemeinschaft], wenn sie volljährig sind, nicht einfach auf Unwissen über ihre grundlegenden Rechte oder aus Angst vor Bestrafung für Verbrechen beruht, die es nicht gibt. Darüber hinaus sollte ihre Bildung sie auch dazu ermutigen, vollwertige Mitglieder der Gesellschaft zu sein und sie in die Lage versetzen, finanziell unabhängig zu sein; sie sollte auch die politischen Tugenden fördern, damit sie die fairen Bedingungen sozialer Kooperation in ihren Beziehungen zu den übrigen Mitgliedern der Gesellschaft respektieren (Rawls 2005b, S. 199).
Rawls betont, dass politischer Liberalismus im Vergleich zu umfassenden Liberalismus weniger Anforderungen hat, wenn es um Bildung geht. Es gibt z. B. keine Anforderung bezüglich einer umfassenden (oder „ethische“, in Rawls’ eigenen Worten) Konzeption von Autonomie, welche davon ausgeht, dass die aktive Entwicklung der eigenen Fähigkeiten oder eine individualistische Lebensweise an sich wertvoll ist, wie es bei den kantischen oder Millschen Formen des
2.2 Minimale staatsbürgerliche Bildung
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Liberalismus der Fall wäre. Im Allgemeinen sollen im Rahmen einer politischliberalen Bildung keine Werte vermittelt werden, die nicht von allen vernünftigen Bürger:innen geteilt werden.7 Rawls stimmt jedoch zu, dass selbst diese minimale Bildung letztlich dazu führen könnte, dass einige Menschen letzten Endes eine umfassendere liberale Weltsicht annehmen, da „es einige Ähnlichkeiten zwischen den Werten des politischen Liberalismus und den Werten des umfassenden Liberalismus von Kant und Mill gibt“ (Rawls 2005b, S. 200). Der wichtigste Unterschied besteht in der Rechtfertigung, die der politische Liberalismus bietet: Politische Werte sollen für alle vernünftigen Menschen geltende Rechtfertigungsgründe sein, nicht nur für diejenigen, die eine umfassende liberale Vorstellung vom Guten teilen. Die oben zitierte kurze Darstellung von Bildung hat zwei deutlich voneinander abgegrenzte Teile. Der erste Teil bleibt in Bezug auf die Werte von Bürger:innen neutral, da es sich mit Fakten staatsbürgerlicher Rechte beschäftigt. Die Kenntnis solcher Fakten kann ohne Vermittlung von Werten und ohne jegliche Motivation zur Unterstützung von moralischen Werten, die mit diesen Rechten verbunden sein könnten, vermittelt werden. Der zweite Teil der obigen Aussage betrifft normative Bildungsanforderungen, da er Werte einbezieht, die für den politischen Liberalismus grundlegend sind: • ein vollständig kooperierendes Mitglied der Gesellschaft zu sein • selbstständig zu sein • bestimmte politische Tugenden zu besitzen Diese normativen Anforderungen können im weitesten Sinne als moralische oder ethische Anforderungen verstanden werden. Aus der Perspektive des politischen Liberalismus sind dies jedoch Anforderungen einer politischen Moral, die von allen vernünftigen Bürger:innen unterstützt wird, im Gegensatz zu den von Rawls als „umfassend“ oder „ethisch“ bezeichneten moralischen Anforderungen, die nur von der normativen Weltanschauung eines bestimmten Teils aller vernünftigen Bürger:innen unterstützt werden. Um den vollen Umfang der normativen Anforderungen dieses „minimalen“ Ansatzes zu verstehen, ist es hilfreich, den normativen Inhalt jener drei Punkte zu erweitern, die Rawls auf einen einzigen Satz zusammengefasst hat.
7 Obwohl Rawls seine Beispiele auf Autonomie beschränkt, erscheint es möglich, dass ein liberales Staatswesen andere Werte fördern könnte, z. B. Wissen oder bestimmte ästhetische Werte siehe z. B. Sher (1997), besonders Kap. 9, oder die Entwicklung der menschlichen Natur nach einer bestimmten Definition siehe z. B. Hurka (1996), oder wertvolle Lebensformen, siehe z. B. Raz (2009). Für ein Argument gegen den Einwand, dass umfassender Liberalismus bestimmte Lebensformen ausschließt, die Autonomie nicht als wertvoll betrachten, siehe z. B. Colburn (2008). Eine ausführlichere Diskussion über den Status der Autonomie wird es in einem der folgenden Kapitel geben.
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2.2.1 Kooperation Wenn wir im Rahmen des politischen Liberalismus über Kooperation sprechen, müssen wir uns daran erinnern, dass in der Rawls’schen Theorie die Gesellschaft als „ein System fairer Kooperation“ angenommen wird, eine Idee, die Rawls als „implizit in der öffentlichen Kultur einer demokratischen Gesellschaft“ ansieht (2005b, S. 15). Es ist keine Kooperation aus Klugheitserwägungen, wie es Rawls zufolge unter einem Modus Vivendi oder unter rein rationalen, Hobbes’schen Strukturen der Fall wäre, unter denen Bürger:innen aus Gründen der Strafverfolgung kooperieren; in einem solchen Fall würden die durch den Staat auferlegten Sanktionen die Kosten einer Defektion erhöhen und dadurch zur einer unattraktiven Wahl machen. Stattdessen wird Kooperation in einer wohlgeordneten Gesellschaft durch moralische Erwägungen seitens der Teilnehmer:innen unterstützt. Drei Elemente definieren diese Idee von Kooperation genauer: a) sie wird durch öffentliche, allgemein akzeptierte Regeln und Verfahren gelenkt, b) sie beinhaltet eine Idee der Fairness, und c) sie berücksichtigt auch die persönlichen Motive aller Teilnehmer:innen. Betrachten wir jedes dieser Elemente einmal genauer. (a) Kooperation wird „durch öffentlich anerkannte Regeln und Verfahren gelenkt, welche die kooperierenden Mitglieder der Gesellschaft akzeptieren und als angemessene Regulierung ihres Verhaltens betrachten“ (2005b, S. 16). Rawls bleibt vage darüber, wo und auf welche Weise die kooperierenden Mitglieder der Gesellschaft von diesen Regeln und Verfahren Kenntnis erlangen, und vielleicht noch wichtiger, was sie dazu bewegt, sie zu akzeptieren und als angemessen zu betrachten. Er räumt zwar ein: Wenn die Bürger:innen einer gut geordneten Gesellschaft einander als freie und gleiche Personen anerkennen sollen, müssen die grundlegenden Institutionen sie zu dieser Vorstellung von sich selbst erziehen und dieses Ideal der politischen Gerechtigkeit öffentlich vorführen und fördern. Diese Aufgabe der Erziehung gehört zu dem, was wir als den weiten Anwendungsbereich einer politischen Konzeption bezeichnen können. In dieser Funktion ist eine solche Konzeption Teil der öffentlichen politischen Kultur: Ihre höchsten Grundsätze sind in den Institutionen der politischen Grundstruktur verkörpert und auf sie wird bei deren Interpretation verwiesen. Die Bekanntschaft mit und die Teilnahme an dieser öffentlichen Kultur ist eine Möglichkeit, wie Bürger:innen lernen, sich selbst als freie und gleiche Personen zu begreifen, eine Vorstellung, die sie wahrscheinlich, sich selbst überlassen, nie selbst formen, geschweige denn akzeptieren und verwirklichen wollen würden (2001, S. 56).8
8 Diese
Darstellung davon, wie die Gesellschaft die Ambitionen und Erwartungen ihrer Bürger:innen formt, wird in Political Liberalism (2005b, S. 269–270) wiederholt, allerdings ohne den Fokus auf die gegenseitige Anerkennung als freie und gleiche Bürger:innen. Ich denke, die hier zitierte Passage drückt deutlicher als die spätere Version aus, dass die Grundstruktur nicht nur die Verwirklichung der Talente und Fähigkeiten von Individuen beeinflusst (und daher in Bezug auf diese Aspekte gestaltet werden muss), sondern auch, dass die Grundstruktur den ihnen Kenntnisse über die grundlegenden politischen Konzepte und Verfahren ihrer Gesellschaft vermitteln muss.
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Rawls legt jedoch nicht fest, auf welche Weise die Bürger:innen mit ihrer öffentlichen Kultur vertraut werden, so dass wir die von diesem Abschnitt hinterlassenen Lücken selbst ausfüllen müssen. Eine Möglichkeit bestünde darin, anzunehmen, dass Bürger:innen schlicht durch Beobachtung und Beispiel lernen und dass es ausreicht, in einem politischen System aufzuwachsen und zu leben, das gemäß bestimmter Gerechtigkeitsgrundsätze funktioniert, um sie zu ordentlichen Bürger:innen zu machen. Insofern Kinder lernen, Gesetze zu befolgen und soziale Regeln in der Praxis umzusetzen, scheint dies plausibel, solange ihre Eltern es ebenfalls tun. Wenn es darum geht zu verstehen, warum die politische Struktur einer wohlgeordneten Gesellschaft und ihre Prinzipien gerechtfertigt und angemessen sind, bin ich jedoch skeptisch, ob dieses Wissen von den meisten Eltern ausreichend vermittelt wird. Obwohl Rawls die Bürger:innen einer wohlgeordneten Gesellschaft idealisiert, wenn es um den Grad geht, nach dem sie gemäß bestimmten Prinzipien der sozialen und politischen Moral handeln, geht er sicherlich nicht davon aus, dass sie idealisierter sind als ihre realen Entsprechungen, wenn es darum geht, Kenntnisse über die Welt zu erwerben, in der sie leben. Um die wohlgeordnete Gesellschaft seiner Theorie realistisch genug zu gestalten, damit sie einen Rechtfertigungswert für angewandte Politik hat, müssen die rationalen Fähigkeiten idealisierter Bürger:innen im gleichen Maße epistemische begrenzt sein wie die ihrer realen Entsprechungen. Wie reale Bürger:innen müssen auch idealisierte Bürger:innen die Eigenschaften ihrer Gesellschaft unter einem gewissen Grad an Unsicherheit bewerten, der durch die Kosten von Informationsbeschaffung und -verarbeitung bestimmt wird. Ein solches Verständnis von Rawls würde auch bedeuten, dass Bürger:innen bei der Beurteilung der Angemessenheit von Regeln sozialer Zusammenarbeit den gleichen Bürden des Urteilens unterliegen wie bei der Einschätzung verschiedener Konzeptionen des Guten, zumindest anfänglich.9 Das heißt nicht, dass es völlig unmöglich wäre, dass Bürger:innen „einfach so“ die Angemessenheit der sozialen Institutionen, unter denen sie leben, erkennen. Es erscheint jedoch unwahrscheinlich, dass eine Mehrheit von ihnen dies in einem solchen Ausmaß tut, dass sie die hinreichend selbstmotivierten Kooperationspartner:innen werden, die sie sein sollten. Es erscheint auch unwahrscheinlich, dass in den meisten Fällen die Eltern dieses Wissen an ihre Kinder weitergeben.10 Daher benötigen die meisten Bürger:innen eine ausführlichere Einführung in die gerechten politischen Institutionen, unter denen sie leben, und eine Möglichkeit, sie mit grundlegenden politischen Konzepten und Verfahren vertraut zu machen, wäre in der Schulausbildung. 9 Für
eine ausführliche Kritik dieser Art siehe Gaus (1999). können davon ausgehen, dass Kinder von gut ausgebildeten Eltern mit einem echten Interesse an Politik tatsächlich lernen, die Angemessenheit des politischen Systems und die Rechtfertigung von Regeln der Kooperation in ihrer Gesellschaft zu erkennen. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass diese Art von Eltern weiterhin eine Minderheit bleibt, selbst in einer wohlgeordneten Gesellschaft. 10 Wir
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Ich denke, in dieser Hinsicht kann politisch-liberale Bildung ähnlich wie die Art von demokratischer Bildung verstanden werden, die Amy Gutmann im Sinn hat, wenn sie darlegt, dass Bildungseinrichtungen die Mittel zur Reproduktion von Bürger:innen sind (Gutmann 1999).11 Diesen Gedanken findet man auch in Political Liberalism: [T]he basic structure shapes the way the social system produces and reproduces over time a certain form of culture shared by persons with certain conceptions of their good (2005b, S. 269).12
Es scheint, dass Kinder, die einmal Bürger:innen werden, bereits das erste Element, das Rawls’ Vorstellung von Kooperation charakterisiert, lernen müssen: die Anerkennung von Regeln und Verfahren, die für das Verständnis und die Teilnahme am politischen System wichtig sind.13 Es wäre zu idealistisch, anzunehmen, dass dies als ein Nebenprodukt des Zusammenlebens in einer wohlgeordneten Gesellschaft geschieht, und eine realistischere Lesart von Rawls führt zu dem Schluss, dass diese grundlegenden Kenntnisse in Schulen vermittelt werden sollten. Andernfalls ist keineswegs sicher, dass Bürger:innen ein gemeinsames Wissen über die Regeln der Kooperation erwerben, geschweige denn, dass sie beurteilen können, ob diese angemessen sind. (b) Darüber hinaus „beinhaltet Kooperation die Idee von fairen Kooperationsbedingungen: Dies sind Bedingungen, die jede:r Teilnehmer:in aufgrund der Tatsache, dass alle anderen sie ebenfalls akzeptieren, vernünftigerweise akzeptieren kann“ (Rawls 2005b, S. 16). Die fairen Kooperationsbedingungen werden durch die politische Gerechtigkeitzkonzeption spezifiziert, welche die Institutionen der Gesellschaft strukturiert. Rawls entwickelt seine besondere Vorstellung von Gerechtigkeit – Gerechtigkeit als Fairness – in A Theory of Justice. Es könnte jedoch auch eine andere sein, wie er in späteren Schriften zugesteht (2002, S. 142). In jedem Fall ist die gewählte Vorstellung von Gerechtigkeit (welche auch immer) eines der Themen des übergreifenden Konsenses, über den sich alle vernünftigen Bürger:innen einig sind. Es scheint jedoch nicht erforderlich zu sein, dass Kinder jedes Detail und jede Konsequenz der vorherrschenden Vorstellung von Gerechtigkeit in der Schule lernen müssen. Es sollte ausreichen, dass sie die Grundlagen davon bereits in privaten Kontexten lernen, und dass die meisten von ihnen durch ihre formalen Bildung mehr Details darüber erfahren, warum und wie sich diese 11 Gutmanns
Darstellung demokratischer Bildung unterscheidet sich insoweit, als es eine Tendenz zu einer umfassenderen Sicht auf demokratische Werte hat. Trotzdem gelten viele ihrer Überlegungen auch für eine politische -liberale Darstellung von Bildung. 12 The same thought, although in a slightly different context, can also be found on S. 18: „[S]ociety is […] conceived as existing in perpetuity it produces and reproduces itself and its institutions and culture over generations and there is no time at which it is expected to wind up its affairs.“ 13 Natürlich wird es Fälle geben, in denen Erwachsene die angemessenen Regeln erst lernen müssen, zum Beispiel bei Immigrant:innen aus hinreichend undemokratischen Gesellschaften. Allerdings ist die Erziehung von Erwachsenen nicht Gegenstand dieses Buches, obwohl in Kap. 8 besondere Aspekte der Erziehung von Zuwandererkindern berücksichtigt werden.
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Vorstellung von Gerechtigkeit in der politischen Struktur manifestiert. Das letztere Wissen, das in der Schule erworben wird, bildet die breitere Grundlage dafür, dass Kinder zu gut informierten, politisch aktiven Bürger:innen werden. (c) Das dritte Element ist die Anforderung einer „Idee des rationalen Vorteils oder Gutes jedes Teilnehmers. Diese Idee eines Gutes legt fest, was diejenigen, die an der Zusammenarbeit beteiligt sind […] aus ihrer eigenen Perspektive zu erreichen versuchen“ (Rawls 2005b, S. 16). Um erfolgreich zusammenzuarbeiten, müssen die Mitglieder der Gesellschaft verstehen, dass ihre Kooperationspartner:innen eigene motivierende Gründe haben, die sich von ihren eigenen unterscheiden können, aber dennoch gleichermaßen berechtigt sind. Während Rawls hierzu keine weiteren Details gibt, möchte ich weitergehen und behaupten, dass sie, um ein solches Verständnis zu entwickeln, auch in der Lage sein müssen, einige gute Schlüsse über die Natur der motivierenden Gründe ihrer Kooperationspartner:innen zu ziehen. Daher sollten wir einen Blick darauf werfen, wie diese Prozesse vermutlich funktionieren und was die dabei beteiligten psychologischen Mechanismen für die oben genannte Anforderung bedeuten würden. Die Fähigkeit, auf die Motive anderer zu schließen, und Tatsachen aus anderen Perspektiven zu betrachten als aus der eigenen, wird nicht zuerst in der Schule gelernt. Menschen entwickeln in der Regel eine Fähigkeit, die Perspektive anderer Personen anzunehmen, in einem sehr frühen Lebensstadium.14 Wir können annehmen, dass Bürger:innen in alltäglichen Situationen in der Lage sind, sich eine Vorstellung von der Haltung ihrer Mitstreiter:innen zu machen, selbst wenn sie nie eine Schule besucht haben – solange sie ihnen ausreichend vertraut sind, ihre Umstände kennen und vielleicht Dinge durch direkte Kommunikation mit ihnen klären können. In einer modernen Massengesellschaft ist dies oft nicht der Fall; Bürger:innen einer pluralistischen Gesellschaft werden immer wieder Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen begegnen, die an sehr andersartige umfassenden Lehren glauben. Viele von ihnen werden sich nie begegnen, aber alle nehmen an dem Prozess der Abstimmung teil, befürworten bestimmte Gesetze und Richtlinien und haben politischen Einfluss aufeinander. Ein Weg, jemandem zu ermöglichen, die Perspektiven (geographisch wie sozial) entfernterer Mitbürger:innen anzuerkennen und vielleicht sogar (teilweise) zu verstehen, ist Bildung. Dies kann auf zwei Arten geschehen: Zunächst durch das Angebot einer pluralistischen Umgebung, in der Kinder Kontakt mit anderen Kindern aus anderen kulturellen und sozialen Hintergründen haben als ihren eigenen. Für manche ist dies der erste oder sogar der einzige Kontakt zu
14 Kinder
im Alter von 18 Monaten scheinen bereits die beabsichtigten Handlungen von Erwachsenen zu vermuten, siehe Meltzoff (1995), und im Alter von fünf Jahren können sie die Perspektiven anderer annehmen, um auf deren Überzeugungen und Wünsche Bezug zu nehmen, siehe Atance et al. (2010).
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Menschen mit anderen Hintergründen als ihren eigenen.15 Ein zweiter Weg wäre es, ein Lehrplan zu entwickeln, der die Perspektiven von Minderheiten und entfernten sozialen Gruppen sowie die besonderen Probleme vermittelt, mit denen sie in der Gesellschaft konfontiert waren oder noch immer sind, z. B. im Rahmen von Literaturunterricht, aber auch auf anderen pädagogischen Wegen.16 In jedem Fall können die Fähigkeiten für die Art von fairer Zusammenarbeit, die politischer Liberalismus erfordert, durch eine geeignete Art von Bildung gefördert werden. Dies bedeutet nicht, dass Bürger:innen ohne derartige Bildung diese Fähigkeiten nicht erwerben könnten, aber in einer Gesellschaft, die durch Wertpluralismus und kulturelle Vielfalt gekennzeichnet ist, kann Bildung ein wichtiger zusätzlicher Faktor sein, der zu ihrer Entwicklung beiträgt.
2.2.2 Selbstständigkeit Die Behauptung, Bildung sollte zukünftige Bürger:innen „in die Lage versetzen, sich selbst zu versorgen“, ist in diesem minimalen Bildungskonzept am wenigsten erklärt. Dies könnte zu einem Problem werden, weil das Ziel dieses minimalen Ansatzes zur Bildung darin besteht zu argumentieren, dass politischer Liberalismus sich von umfassendem Liberalismus unterscheidet. Wenn das Konzept der Selbstständigkeit weit offen für eine Reihe von Interpretationen bleibt, könnte dies die Behauptung untergraben, dass politischer Liberalismus in dieser Hinsicht anders ist. Kritiker:innen könnten vermuten, dass umfassende Werte wie Autonomie und Individualismus hinter dem Konzept der Selbstversorgung lauern. Wenn der politische Liberalismus vermeiden will, in umfassendes Terrain abzudriften, muss das hier involvierte Konzept der Selbstständigkeit flach bleiben. Wir können zugestehen, dass ein kooperierendes Mitglied einer modernen demokratischen Gesellschaft zu sein zu einem gewissen Teil auch darin besteht, die eigenen Ausgaben zu bestreiten und seinen Weg durch die Verwaltungsstrukturen des täglichen Lebens zu finden. Für die meisten Bürger:innen kann davon ausgegangen werden, dass sie ihre eigene Miete bezahlen (oder andere Wohnformen bezahlen können), dass sie in der Lage sind, selbst ein Bankkonto zu eröffnen, ihre Steuererklärung einzureichen order sich für Wahlen anzumelden, um nur einige Herausforderungen des modernen Lebens zu nennen. Wir können wohl ziemlich sicher annehmen, dass diese und andere alltägliche Aufgaben, die zur Rolle von Bürger:innen in der Zusammenarbeit mit anderen gehören, gemeistert werden müssen um als selbstständig zu gelten. Zumindest teilweise basieren diese Fähigkeiten zur Selbstständigkeit auf der Schulbildung der Kinder. Weiterhin gehe 15 Dies
ist z. B. das, was Harry Brighouse als einen wichtigen Beitrag von Schulen zur Staatsbürgerschaft in einer pluralistischen Gesellschaft versteht (2006, S. 129–130). 16 Siehe Nussbaum (2003) für eine ausführlichere Darstellung dieses Arguments. Obwohl Nussbaum speziell das Thema der Hochschulbildung an Universitäten diskutiert, scheinen ähnliche Ansätze (mit geeigneter Literatur und anderen Medien) im Grund- und Sekundarbereich möglich zu sein.
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ich davon aus, dass Grundkenntnisse in Lesen, Schreiben usw. für die Selbstständigkeit in einer modernen Gesellschaft unerlässlich sind, da sie für eine minimale Beschäftigungsfähigkeit erforderlich sind. Einige Bürger:innen werden allerdings nicht in der Lage sein, alle diese Kriterien zu erfüllen. Angeborene Krankheiten oder Behinderungen werden das Aktivitätsfeld einiger Menschen einschränken, ohne dabei ihre Fähigkeiten als Bürger:in zu beeinträchtigen.17 Die Erziehung zur Selbstständigkeit wird sich z. B. bei einigen neurodivergenten Zuständen (bestimmte Arten von Autismus sind ein häufiges Beispiel) unterscheiden, während sie in anderen Fällen an eine Vielzahl von körperlichen Beeinträchtigungen angepasst werden muss, wie z. B. Querschnittslähmung, Blindheit und weiteren. In einigen Fällen werden die Betroffenen nicht in der Lage sein, sich selbst zu unterstützen, aber dennoch vollständig in der Lage sein, ihre Rolle als Bürger:in in Bezug auf ihre politischen Urteile und Einstellungen wahrzunehmen. Die Verpflichtung zur Ausbildung zur Selbstunterstützung in solchen Fällen wäre nicht nur sinnlos, sondern sogar respektlos. Selbst wenn man Rawls’ Konzeption der Gerechtigkeit nicht als vollständig gleichheitsorientiert einstuft (siehe z. B. Lippert-Rasmussen 2020), so scheint es doch fair anzunehmen, dass Gerechtigkeit als Fairness und jede andere Konzeption der Gerechtigkeit, die von einer politisch-liberalen Gesellschaft unterstützt wird, die Bildungsanforderungen und -inhalte anpassen wird, um die Bedürfnisse von Bürger:innen mit Behinderungen zu erfüllen.18
17 Rawls
selbst schreibt nicht viel über Bürger:innen mit Behinderung, abgesehen davon, dass seine Theorie keine Menschen mit „dauerhaften Behinderungen oder mentalen Störungen umfasst, die so schwerwiegend sind, dass sie [sie] daran hindern, in gewöhnlicher Weise kooperierende Mitglieder der Gesellschaft zu sein“ (2005b, S. 20). Behinderung ist jedoch eine Frage des Ausmaßes, in dem sie Menschen daran hindert, kooperative Mitglieder einer Gesellschaft zu sein. Jede Umsetzung von Gerechtigkeitsprinzipien in realistische Kontexte wird daher nuancierte Möglichkeiten finden müssen, um Bürger:innen mit Behinderungen einzubeziehen. Dies ist insbesondere aufgrund der Tatsache der Fall, dass unterschiedliche Arten von Behinderungen unterschiedliche Grade der Einbeziehung erlauben und oft einige pragmatische Lösungen im Hinblick auf begrenzte Ressourcen und Kompetenzen erfordern (siehe z. B. Merry 2020, S. 153–186, für eine Diskussion der Einbeziehung von autistischen Kindern). Leider werde ich in diesem Buch außer diesem kurzen Einschub keine weiteren Einzelheiten über die Beziehung von Behinderung und politischer liberaler Bildung anbieten können. Es ist jedoch ein relevantes Thema, über das mehr Forschung durch Philosoph:innen mit ausreichender Kompetenz in der Philosophie der Behinderung durchgeführt werden muss. 18 Für eine Diskussion der Frage, ob Rawls’ soziale Vertragstheorie behinderte Menschen überhaupt integrieren kann, siehe z. B. Richardson (2006). Es muss jedoch gesagt werden, dass wahrscheinlich alle politischen liberale Ansätze zur Anpassung der Bildung an die Bedürfnisse und Umstände von Menschen mit Behinderungen einer allgemeineren Kritik unterliegen. Ein Fokus auf die Selbstständigkeit in der Bildung könnte immer noch eine schädliche Unterscheidung zwischen behinderten und nichtbehinderten Bürger:innen hervorrufen, indem den letzteren der Status des Ungewöhnlichen zugewiesen wird. Man könnte einwenden, dass dies zunächst einmal falsch ist, weil es behinderte Bürger:innen nicht als ebenbürtig mit nichtbehinderten behandelt, oder man könnte aufgrund der schädlichen Auswirkungen, die eine solche Differenzierung auf das Selbstwertgefühl von Menschen mit Behinderungen sowie auf die Verfestigung schädlicher Vorurteile und Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderungen haben kann, Einwände haben. Bedenken hinsichtlich der Auswirkung solcher Bildungsstrategien könnte durch z. B. die Verbesserung der sozialen Wahrnehmung von Menschen mit Behinderungen und die Bekämpfung von Vorurteilen durch ähnliche Mittel wie in Kap. 7 (bezüglich gleichgeschlechtlicher
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2 Rawls’sche Bildung: Vorbemerkungen
Für Menschen mit Behinderungen müsste daher die Forderung nach Selbstständigkeit an ihre jeweiligen Umstände angepasst werden. Bei einigen Behinderungen sind die Betroffenen ein Leben lang stark auf externe Unterstützung angewiesen, während bei anderen unterschiedliche Grade der Selbstständigkeit möglich sind. Auch hier kann eine angemessen angepasste Bildung die erforderlichen Fähigkeiten und Kenntnisse vermitteln. Diese Forderung an Bürger:innen, auf diese Weise selbstständig zu sein, erscheint mir unbedenklich, wenn man sie aus der Perspektive des politischen Liberalismus betrachtet.19 Es ist ein vorwiegend pragmatischer Begriff der Selbstständigkeit, der keine Werte fördert, die nicht Teil des übergreifenden Konsenses sind und daher aus der Perspektive aller vernünftigen Lehren akzeptabel sein sollten.20 Selbst im Fall des Erwerbs von Kenntnissen über Formen der politischen Beteiligung (zumindest in Form von Abstimmungen, vielleicht auch in Form der Beteiligung an politischen Parteien) sind nur politische Werte involviert, da die Idee von Bürger:innen als frei und gleich, mit den gleichen Chancen auf politische Beteiligung und Kandidatur für Ämter, von allen vernünftigen Bürger:innen geteilt werden sollen. Jede umfassende Lehre müsste als unvernünftig betrachtet werden, die behauptet, dass selbst diese pragmatische Version von Selbstständigkeit eine ungerechte Beeinträchtigung ihrer Werte darstellt. Personen, die sich weigerten, diese minimalen Fähigkeiten zur Selbstunterstützung zu erwerben, würden zudem ihre Fähigkeit einschränken, sich an fairer Kooperation zu beteiligen und einen fairen Beitrag zu leisten. Solche Personen könnten eine ungerechte Verteilung der Ressourcen verursachen, da sie Unterstützung durch die Gesellschaft einfordern würden, die sonst nicht benötigt würde.
Beziehungen und Transgender-Menschen) angegangen werden. Zu dem ersten Einwand kann ich an dieser Stelle keine ausführliche Antwort geben, und es ist möglich, dass aus der Sicht einiger Theoretiker, die sich mit Behinderung beschäftigen, eine politisch-liberale Bildung die Fähigkeit zur Selbstständigkeit aufgeben muss, um behinderten Bürger:innen angemessene Gerechtigkeit zukommen zu lassen. Eine ausführliche Diskussion einer solchen Sichtweise müsste sicherlich einmal in zukünftigen Arbeiten zur politisch-liberale Bildung angesprochen werden. 19 Das heißt, solange wir die aktuelle Struktur einer gegebenen Gesellschaft als gerecht ansehen. Bürger:innen, die ihr politisches System nicht akzeptieren, könnten einwenden, dass das Unterrichten alltäglicher Fähigkeiten zur Selbstständigkeit nichts anderes ist als ungerechte Indoktrination. Da jedoch die wohlgeordnete Gesellschaft unseres Modells als gerecht angesehen wird, müssten solche Bürger:innen Rawls zufolge als unvernünftig eingestuft werden. 20 Man könnte argumentieren, dass dies voraussetzt, dass eine kapitalistische Gesellschaft mit einem Arbeitsmarkt existiert, und es ist daher bereits nicht mehr neutral gegenüber verschiedenen Formen der sozialen Organisation. Das ist zwar richtig, aber ich denke nicht, dass die Ambitionen des politischen Liberalismus darin bestehen, gegenüber verschiedenen Formen der sozialen Organisation neutral zu sein. Tatsächlich gehen die Vorstellungen von Gerechtigkeit als Fairness mit ihrem berühmten Differenzprinzip von einer Form der marktbasierten Gesellschaftsordnung aus. Obwohl vermutlich nicht so stark auf freie Märkte ausgerichtet wie zum Beispiel der klassische Liberalismus, bleibt der politische Liberalismus eine marktorientierte Form des Liberalismus, allerdings mit einem starken „sozialistischen“ Einschlag.
2.2 Minimale staatsbürgerliche Bildung
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Eine minimale Fähigkeit zur Selbstständigkeit scheint also eine Voraussetzung der distributiven Gerechtigkeit zu sein. Es bleibt die Frage, in welchem Maße diese Fähigkeit zur Selbstständigkeit erforderlich ist und ab welchem Punkt einige religiösen Lehren diskriminiert würden, die diese Art von Bildung als Bedrohung ihrer Lebensweise betrachten, oder im Widerspruch stehend zu ihren grundlegenden Überzeugungen über das, was richtig ist. Die Gerichtsfälle Wisconsin v. Yoder und Mozert v. Hawkins werden hier oft als Beispiele zitiert, die ich beide kurz zusammenfassen werde, da sie im Folgenden immer wieder auftauchen werden. Die Entscheidung im Fall Wisconsin v. Yoder legte (für die Vereinigten Staaten) fest, dass Mitglieder der Old Order Amish ihre Kinder berechtigterweise aus der öffentlichen Schule nehmen können, nachdem sie die achte Klasse abgeschlossen hatten. Das bedeutet, dass ihre Kinder die Schule nach der achten Klasse, zwischen dem Alter von 14 und 15, beenden können, während das Gesetz des Bundesstaates Wisconsin normalerweise eine Schulpflicht bis zum sechzehnten Lebensjahr vorsieht. Nach Abschluss der achten Klasse im öffentlichen Bildungssystem zu bleiben, würde für Amish-Kinder bedeuten, die High School zu besuchen, was für die Old Order Amish problematisch ist. Der Lehrplan der High School mit seinem stärkeren Fokus auf Wettbewerb und intellektuelle Leistungen gilt als wenig kompatibel mit den religiösen Werten der Amish, ein einfaches Leben zu führen, das größtenteils von körperlicher Arbeit geprägt ist. Darüber hinaus würde es die das Leben von Kindern der Amish in einer Phase unterbrechen, in der sie durch einen informellen Lernprozess in den praktischen Alltag ihrer Gemeinde eingeführt werden. Angesichts der Aussagen von Experten, dass öffentliche High Schools in der Tat keine Werte vermitteln können, die in der Weltanschauung der Amish förderungswürdig sind, und dass die Durchsetzung einer Schulpflicht bis zum sechzehnten Lebensjahr die Integration von Kindern in die Amish-Gemeinde behindern würde, entschied der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten, dass eine Befreiung in diesem Fall gerechtfertigt ist (U.S. Supreme Court 1972). Im Fall von Mozert v. Hawkins widersprachen konservative christliche Eltern der Verwendung eines Lehrbuchs für den Englischunterricht, dessen Verwendung durch den Schulrat von Hawkins County, Tennessee, vorgeschrieben wurde. Der Einwand der Eltern war, dass das Lehrbuch eine Vielfalt von Weltanschauungen abdeckte und Inhalte enthielt, die ihren religiösen Überzeugungen widersprachen. Darüber hinaus ermutigte es Kinder zum kritischen Nachdenken über Fragen, zu denen in der Bibel definitive Richtlinien zu finden seien. Nachdem ihr Antrag, ihre Kinder aus den Unterrichtseinheiten zu nehmen, in denen das Lehrbuch verwendet wurde, und s durch ein anderes zu ersetzen, vom Schulrat abgelehnt wurde, klagten die Eltern gegen diese Entscheidung. Während das zuständige Bezirksgericht den Eltern zustimmte (U.S. District Court for the Eastern District of Tennessee 1986), wurde die Entscheidung später von einem US-Berufungsgericht aufgehoben (United States Court of Appeals, Sixth Circuit 1987), so dass
42
2 Rawls’sche Bildung: Vorbemerkungen
ein Ausstieg aus Teilen des Lehrplans, welche die Eltern als inkompatibel mit ihren religiösen Überzeugungen ansahen, nicht zulässig war. In der Debatte über die Beziehung zwischen liberal-demokratischer Bildung und religiösen Gemeinschaften werden diese beiden Fälle oft verwendet, um die Anwendung wichtiger Grundwerte wie Toleranz, Freiheit, Autonomie, Respekt oder die Unwissenheit über ebendiese darzustellen.21 Ich mache hier keine Ausnahme und werde in den folgenden Kapiteln auf diese Fälle verweisen, wenn ich über zentrale Werte der politischen Moral und ihre Rolle in der Bildung sprechen werde. An dieser Stelle soll schon einmal betont werden, dass das, was für politische Liberalen wie scheinbar pragmatische Anforderungen der Selbstständigkeit und Unabhängigkeit aussehen, aus der Sicht einiger Bürger:innen als eine stärkere Vermittlung von Werten gesehen werden kann, die ihren ethischen und religiösen Überzeugungen widersprechen.
2.2.3 Politische Tugenden Obwohl Rawls uns nirgendwo eine einheitliche und definitive Liste zur Verfügung stellt, vermittelt er uns durch sein Werk hinweg eine Vorstellung davon, was politische Tugenden sind: Sie „charakterisieren das Ideal guter Bürger:innen eines demokratischen Staates“ (2005b, S. 195–196). Die im Besonderen erwähnten politischen Tugenden sind ein Sinn für Gerechtigkeit (2005b, S. 402), „Toleranz, gegenseitige Achtung, ein Sinn für Fairness und Bürgerlichkeit“ (2005b, S. 122), „ein Geist des Kompromisses und eine Bereitschaft, anderen entgegenzukommen“ (2005b, S. 163), „Vernünftigkeit und eine gerechte Denkungsart, die sich in der Beachtung der Kriterien und Verfahren der Common-Sense-Erkenntnis ebenso zeigen wie in der Anerkennung der unstrittigen Methoden und Ergebnisse der Wissenschaften“ (2005b, S. 139). Sie sind für die soziale Zusammenarbeit relevant, weil sie „die Bereitschaft, wenn nicht den Wunsch, mit anderen aufgrund von Bedingungen zusammenzuarbeiten, die alle öffentlich als fair auf auf der Grundlage von Gleichheit und gegenseitiger Achtung akzeptieren können“ (2001, S. 116). Die Rede von Tugenden und ihrer Spezifizierung hebt einen wesentlichen moralischen Aspekt des politischen Liberalismus hervor. Die Bürger:innen einer liberal -demokratischen Gesellschaft sollten diese Tugenden zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrem Leben erwerben, und die beiden wichtigsten
21 Für die akademische Diskussion der beiden Fälle siehe z. B. Michael (1987); Breyer (1991); Burtt (1994, 1996); Gutmann (1995, 2002); Macedo (1995); Arneson und Shapiro (1996); Eisgruber (2002); Reich (2002); Tomasi (2002); Vojak (2003); Ramsay (2007); DeGroff (2009); Kessel (2015).
2.3 Die Entwicklung einer politischen Tugend …
43
Quellen, von denen sie ihre politischen Tugenden lernen, sind die Familie (2001, S. 157) und Bildungsinstitutionen. Der Hauptgrund für Rawls, diese Tugenden als n otwendig zu betrachten, ist das Problem der Stabilität, und einer der Inhalte des übergreifenden Konsenses, der zur Stabilität beiträgt, ist „eine Darstellung der politischen Tugenden, durch die [die Prinzipien einer Gerechtigkeitskonzeption] sich im menschlichen Charakter verwirklichen und im öffentlichen Leben ausdrücken“ (2005b, S. 147). Eine politische Tugend, auf die Rawls im Laufe seiner Arbeit immer wieder eingeht, ist der Gerechtigkeitssinn, der die Menschen dazu motiviert, fair zusammenzuarbeiten.22 Ich werde eine kurze Zusammenfassung davon geben, wie er denkt, dass Menschen ihren Gerechtigkeitssinn entwickeln, um mögliche Wege zu zeigen, wie die Bildung hierbei eine Rolle spielen kann.
2.3 Die Entwicklung einer politischen Tugend: Der Gerechtigkeitssinn Eine Zusammenfassung der Entwicklung eines Gerechtigkeitsgefühls findet sich in Abschnitt 75 von A Theory of Justice. Hier gibt Rawls eine Liste von drei „psychologischen Gesetzen“ an: Erstes Gesetz: Falls die Familieninstitutionen gerecht sind und die Eltern das Kind lieben und drücken ihre Liebe durch ihre Fürsorge aus, dann erkennt das Kind ihre offensichtliche Liebe zu ihm und entwickelt ebenfalls Liebe zu ihnen. Zweites Gesetz: Falls sich die Fähigkeit einer Person zu einem Gemeinschaftsgefühl in Bindungen gemäß dem ersten Gesetz verwirklich hat, und falls eine soziale Anordnung ist gerecht und als solche allgemein bekannt, dann entwickelt diese Person Freundschafts- und Vertrauensbindungen zu anderen Mitgliedern einer Vereinigung, wenn sie mit offensichtlicher Absicht ihre Pflichten und Verpflichtungen und die mit ihrer Stellung verbundenen Ideale erfüllen. Drittes Gesetz: Falls die Fähigkeit einer Person, Mitgefühl zu empfinden, durch die Bildung von Bindungen gemäß den ersten beiden Gesetzen verwirklicht wurde und die Institutionen einer Gesellschaft gerecht sind und dies allgemein bekannt ist, dann erwirbt diese Person einen entsprechenden Gerechtigkeitssinn, wenn sie erkennt, dass sie selbst und diejenigen, die ihr wichtig sind, Nutznießer dieser Verhältnisse sind (Rawls 2005a, S. 490–491).
Ob diese „Gesetze“ als deskriptive Darstellungen der menschlichen Psychologie oder als normativer Anspruch gedacht sind, bleibt unklar. In frühen Versionen dieser Darstellung sind sie „die Stufen einer Entwicklung […], durch die der Gerechtigkeitssinn aus unseren primitiven natürlichen Einstellungen entstehen könnte“, obwohl Rawls „nicht behauptet, dass dargestellt wird, was tatsächlich
22 Beginnend
erläutert.
mit The Sense of Justice (1999c) und in A Theory of Justice (2005a) detaillierter
44
2 Rawls’sche Bildung: Vorbemerkungen
stattfindet“ (1999c, S. 100). Später scheint er sich damit zufrieden zu geben, dass, selbst wenn sein Konto nicht alle psychologischen Details umfasst und „bestenfalls nur die wesentlichen Umrisse“ skizziert, es dennoch darauf abzielt, „wahr zu sein und mit bestehendem Wissen übereinzustimmen“ (2005a, S. 462).23 Trotz dieser Vagheit bleibt es ein zentraler Anspruch von Rawls’ Theorie, dass der Gerechtigkeits sinn eine der grundlegenden moralischen Vermögen von Bürger:innen ist. Dieses Vermögen benötigt irgendeine Art von plausiblen Modell, um zu erklären, wie und warum Personen dazu motiviert werden, mit gerechten sozialen Institutionen übereinstimmend zu handeln. Daher sind die drei psychologischen Gesetze oder eine gleichartige Erklärung der menschlichen Moralpsychologie ein notwendiger und wichtiger Bestandteil der Rawls’schen politischen Philosophie. Sie können uns auch etwas über die Rolle der Moralerziehung in einer gerechten Gesellschaft sagen. Im ersten Gesetz finden wir einen Verweis auf familiäre Institutionen, die gerecht sein müssen, und tatsächlich identifiziert Rawls später die Familie als Teil der Grundstruktur der Gesellschaft (2002, § 5). Weil „eine der Hauptaufgaben der Familie darin besteht, Grundlage einer geordneten Produktion und Reproduktion von Gesellschaft und Kultur von einer Generation zur nächsten zu sein“ (2002, S. 157), gilt eine Gerechtigkeitskonzeption ebenso für die Familie wie für andere Institutionen der Grundstruktur. Der Gerechtigkeitssinn sowie vermutlich auch alle anderen politischen Tugenden sind zumindest teilweise etwas, das von der Familie in einer wohlgeordneten Gesellschaft gefördert wird. Die Familie bleibt jedoch nicht die einzige soziale Umgebung für die Moralerziehung von Bürger:innen. Gemäß dem zweiten Gesetz findet die nächste Stufe der moralischen Entwicklung zeitgleich in einer Vielzahl von Umgebungen statt. Eine frühe Definition charakterisiert diese Stufe als „eine gemeinsame Aktivität [welche die Prinzipien der Gerechtigkeit erfüllt] – vielleicht einige Art von wirtschaftlicher Kooperation – [bei der] die Teilnehmer durch Bande der Freundschaft und gegenseitiges Vertrauen verbunden sind und sich gegenseitig vertrauen, ihren jeweiligen Teil zu tun“ (1999c, S. 103). Später verwendet Rawls den Begriff „soziale Anordnung“ (siehe das Zitat über die drei Gesetze aus A Theory of Justice oben), um Raum für eine Vielzahl von sozialen Umgebungen zu lassen, in denen eine Person mit anderen interagiert: Dazu gehören möglicherweise immer noch die Familie selbst, aber auch die Schule, die Nachbarschaft oder Fälle von kurzfristiger Kooperation wie etwa das Spielen mit Gleichaltrigen. Auf dieser Stufe hat das Kind unterschiedliche Rollen in diesen unterschiedlichen Vereinigungen und lernt, dass mit jeder andere Tugenden verbunden sind (2005a, S. 467–468). Schulen sind einer von vielen Orten, an denen die im Zusammenhang mit dem zweiten Gesetz erwähnte moralische Entwicklung stattfindet, aber ich denke, dass ihr Einfluss erheblich ist. In der Schule werden Kinder häufig mit einer Umgebung konfrontiert, die vielfältiger und abwechslungsreicher ist als die, in der sie
23 Die
drei Gesetze sind von Jean Piagets Arbeit über die moralische Entwicklung von Kindern inspiriert, siehe Rawls (1999c, S. 100), n. 5.
2.3 Die Entwicklung einer politischen Tugend …
45
normalerweise leben. Schulen unterscheiden sich in wichtigen Punkten von anderen Umgebungen moralischen Lernens, wie der eigenen Familie oder der unmittelbaren Nachbarschaft, welche hinsichtlich Ethnizität, Einkommen und Kultur möglicherweise homogener sind. Schulen bieten die Möglichkeit, den Gerechtigkeitssinn von Kindern auf eine Weise zu entwickeln, dass er auch Menschen aus anderen sozialen Schichten und Kulturen einbezieht, deren Überzeugungen und Motive sich erheblich von den eigenen unterscheiden. Institutionelle Bildung hat bei der Moralerziehung dieser zweiten Stufe eine wichtige Rolle zu spielen.24 Das dritte Gesetz schließlich beschäftigt sich mit den Institutionen der Gesellschaft und dem Gerechtigkeitssinn, welcher die Bürger:innen der wohlgeordneten Rawls’schen Gesellschaft charakterisiert, und auch hier könnten die Schulen wieder eine besondere Rolle spielen. Es muss öffentlich bekannt sein, dass die Institutionen der Gesellschaft gerecht sind, und Teil dieses Wissens sind zumindest einige grundlegende Informationen über Funktionsweise die Funktionsweise dieser Institutionen. Es genügt nicht, Jugendlichen, die zu Bürger:innen heranwachsen, lediglich zu sagen, dass ihre Verfassung, ihr oberster Gerichtshof und andere Institutionen ihres politischen Systems gerecht sind und es darauf beruhen zu lassen. Um diese Überzeugungen über ihre Gesellschaft gut begründen zu können, müssen sie zumindest lernen, wie diese Institutionen funktionieren, welche Verfahren dabei eine Rolle spielen und warum sie als gerecht gelten. Natürlich müssen die Schulen nicht der einzige Ort sein, an dem dieses Wissen vermittelt wird, aber für die meisten Menschen sind sie die erste (und in vielen Fällen wahrscheinlich die einzige) Quelle solchen Wissens. Schulen sind nicht nur soziale Gebilde, in denen Gemeinschatfsgefühl entwickelt werden kann, sondern auch entscheidend für die Entwicklung eines Gerechtigkeitssinns, soweit dieser auch Wissen über ihre politischen Institutionen beinhaltet. In dieser kurzen Diskussion über den Erwerb des Gerechtigkeitssinns und, in Ableitung davon, über politischen Tugenden im Allgemeinen sollte deutlich geworden sein, dass Schulen wichtige soziale Institutionen bei der politischen moralischen Erziehung von Bürger:innen sind. Schulen sind daher Teil der Grundstruktur einer wohlgeordneten Gesellschaft, daher müssen sich alle vernünftigen Bürger:innen über ihre Rolle für die politische Gesellschaft im Rahmen des übergreifenden Konsenses einig sein (zumindest in einem hinreichenden Maße). Neben der Vermittlung politischer Tugenden gibt es jedoch auch andere Inhalte der politischen Moral, über die vernünftige Bürger:innen sich einig sein werden und die von Schulen auf eine oder andere Weise vermittelt werden müssen.
24 Natürlich
nur bedingt. Schulen können auch homogen sein, sogar noch mehr, wenn es sich um private Schulen handelt, die vor allem von Kindern aus demselben sozialen, kulturellen oder religiösen Umfeld besucht werden. In diesem Fall unterscheiden sie sich nicht wesentlich von den anderen Formen der Vereinigung, die die Entwicklung des Gerechtigkeitssinns fördern. Dies bedeutet nicht, dass private Schulen in einer wohlgeordneten Gesellschaft in jedem Fall unzulässig sind, obwohl sie unter bestimmten sozialen Bedingungen unzulässig sein können, wie ich in Kap. 6 argumentiere.
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2 Rawls’sche Bildung: Vorbemerkungen
2.4 Bildung als Gegenstand der öffentlichen Vernunft Bisher sollte klar geworden sein, dass die Bildung eine wichtige Rolle in der politischen liberalen Theorie spielt und dass Schulen als Bildungsinstitutionen Teil der Grundstruktur der Gesellschaft sind. Die vorherigen Abschnitte haben gezeigt, dass die politisch-liberale Bildung selbstständige, politisch autonome Bürger:innen formen soll, die mit den Grundideen einer politisch liberalen Gesellschaft vertraut sind. Bildungseinrichtungen und Bildungsmaßnahmen müssen daher Teil der Grundstruktur und Gegenstand öffentlicher Rechtfertigungsanforderungen sein. Wenn jedoch Standards öffentlicher Rechtfertigung auf Bildung und Schulen angewendet werden, bleibt die Frage, mit welcher Granularität die öffentliche Rechtfertigung in Bildungsangelegenheiten erfolgen muss. Um eine Vorstellung davon zu bekommen, in welchen Fällen Rawls Standards der öffentlichen Vernunft auf Bildungsangelegenheiten anwenden würde, sollten wir zu einem Abschnitt aus The Idea of Public Reason Revisited zurückkehren, der bereits zuvor kurz erwähnt wurde. Um Bedenken zu zerstreuen, dass seine Konzeption der öffentlichen Vernunft für den politischen Diskurs zu restriktiv ist, bezieht sich Rawls in The Idea of Public Reason Revisited auf die historische Debatte zwischen Patrick Henry und James Madison über die Frage, ob Beten in öffentlichen Schulen eingeführt werden sollten. Statt von vornherein anzunehmen, dass Schulgebete aus einer liberalen Position heraus unzulässig sind, weist Rawls darauf hin, dass es eine vernünftige Debatte darüber geben kann, solange alle Teilnehmer in ihren Argumenten auf politische Werte verweisen (was in dieser speziellen Debatte fast vollständig der Fall war, wie er meint).25 Dieser Fall kann als Beispiel für die Offenheit politischer Diskurse selbst unter den Einschränkungen öffentlicher Vernunft dienen. Vorausgesetzt, Bürger:innen können sich auf politische Werte beziehen (d. h. Werte, auf die sich alle vernünftigen Bürger:innen einigen können), auf die ihre Gründe letztlich zurückgeführt werden können, ist es ihnen sogar möglich für Schulgebete zu argumentieren, wie Henry es getan hat. Und obwohl in diesem historischen Fall Schulgebete aus öffentlichen Schulen „aus Gründen verbannt wurden, […] die sich weitgehend darauf bezogen, ob eine religiöse Einrichtung erforderlich ist, um eine wohlgeordnete bürgerliche Gesellschaft zu unterstützen“ (2002, S. 165), sieht es so aus, als hätte es einen alternativer Ausgang geben können, der mit den Grenzen der öffentlichen Vernunft vereinbar gewesen wäre und Schulgebete erlaubt hätte. Es ist allerdings bemerkenswert, dass Rawls selbst dies nicht so sieht: Für ihn ist die Debatte nur ein Beispiel dafür, dass die Trennung von Kirche und Staat aus Gründen, „der alle freien und gleichen Bürger:innen
25 Dasselbe
Beispiel findet sich auch in Political Liberalism in der Einleitung zur Taschenbuchausgabe, S. li–lii.
2.5 Fazit
47
a ngesichts des Faktums des vernünftigen Pluralismus zustimmen können“ (2002, S. 166), gerechtfertigt werden kann. Seine weiteren Ausführungen über den Nutzen dieser Trennung für Kirche und Staat machen deutlich, dass, obwohl man mit öffentlichen Gründen gegen eine solche Trennung argumentieren kann, eine Zustimmung zu Schulgebeten aus Rawls' Sicht offenbar kein mögliches Ergebnis des öffentlichen Vernunftgebrauchs sein könnte.26 Diejenigen, die ohnehin Zweifel am politischen Liberalismus haben, wird dieses Beispiel wahrscheinlich nicht besonders davon überzeugen, dass öffentlicher Vernunftgebrauch nicht oder nur minimal restriktiv ist. Was es jedoch zeigt und was für uns jetzt gerade von größerem Interesse ist, ist, dass die Schule als soziale Institution Gegenstand der öffentlichen Vernunft ist, zumindest dann, wenn es um „fundamentale politische Fragen“ geht (Rawls 2002, S. 165). Dies ist mit den verschiedenen Möglichkeiten, in denen Schulen an der moralischen Entwicklung von Kindern beteiligt sind (siehe oben), konsistent und ich möchte behaupten: es zeigt, dass Schulen für die „wohlgeordnete Produktion und Reproduktion einer Gesellschaft und ihrer Kultur“ genauso wichtig sind wie zum Beispiel die Familie.
2.5 Fazit Obwohl Rawls nur selten explizit über Bildung schreibt, liefert er doch eine Reihe von Hinweisen darauf, welche Rolle Bildung im politischen Liberalismus zu spielen hat. Wenn wir die Implikationen seiner kurzen Bemerkungen über Bildung ausformulieren, sehen wir, dass eine politisch-liberale Bildung nicht so minimal sein kann, wie Rawls selbst behauptet. Stattdessen muss sie bereits einige spezifische substantielle normative Inhalte vermitteln, um Menschen zu der Art von Bürger:innen zu erziehen, die eine wohlgeordnete Gesellschaft benötigt. Wie andere demokratische und liberale Theorien hat der politische Liberalismus ein Interesse an der „bewussten sozialen Reproduktion“ (Gutmann 1999, S. 45),27 welche sich notwendigerweise in Bildung äußern wird.
26 Eine
aus diesem Beispiel ableitbare grundlegende Tendenz, religiöse Verpflichtungen in der öffentlichen Sphäre zu marginalisieren, wurde von anderen Vertretern des öffentlichen Vernunftsliberalismus’ direkter vorgebracht und ist Gegenstand umfangreicher Kritik gewesen. Ich werde mich später in Kap. 6 näher mit diesem Thema befassen. 27 Es sollte beachtet werden, dass Gutmann in Democratic Education argumentiert, dass die bewusste soziale Reproduktion ein besonderes Merkmal demokratischer Bildung ist, im Gegensatz zur liberalen Bildung, die sich auf absolute moralische Neutralität richtet. Die Art von Liberalismus, an die sie zu diesem Zeitpunkt denkt, ist jedoch nicht der politische Liberalismus, dessen demokratische Verpflichtungen sie in späteren Schriften anerkennt, siehe z. B. Gutmann (1995, 2003).
48
2 Rawls’sche Bildung: Vorbemerkungen
Der Rest dieses Buches ist in zwei Teile unterteilt. Im ersten Teil bespreche ich im Detail zentrale Elemente des politischen Liberalismus, die für eine politischliberale Bildung relevant sind und die künftige Bürger:innen mit Hinblick auf die in diesem Kapitel identifizierten Anforderungen und Grenzen formen soll. Dieser Teil umfasst die Rolle politischer Tugenden, von Autonomie und von politischen Rechten und Freiheiten in der politischen liberalen Bildung. Der zweite Teil wird Strategien für die politisch-liberale Bildung für den Umgang mit Themen vorschlagen, die in der Bildung eine besondere Herausforderungen darstellen, wie den Platz der Religion in der Bildung, die Thematisierung gleichgeschlechtlicher Beziehungen in der Sexualerziehung und die besonderen Anforderungen, die Bildung für Immigrant:innen erfüllen muss.
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Teil I
Zentrale Elemente des politischen Liberalismus
Die nächsten drei Kapitel bilden den ersten Hauptteil dieses Buches. Dieser erste Teil konzentriert sich auf drei theoretische Elemente des politischen Liberalismus: politische Tugenden, Autonomie und Rechte. Neben den zentralen Elementen des politischen Liberalismus sind diese drei auch im Kontext von Bildung relevant. Zusammen erfassem sie die wesentlichen Anforderungen, die eine politischliberale Darstellung von Bildung an Eltern, Kinder und den Staat stellen muss, während sie gleichzeitig auch die Grenzen für solche Anforderungen festlegen. Diese Anforderungen und Erlaubnisse sind jedoch nur hinreichend robust, wenn die zentralen Elemente des politischen Liberalismus selbst bestimmte Bedingungen erfüllen: interne Kohärenz und hinreichenden anthropologischen Realismus. Interne Kohärenz scheint eine fast triviale Bedingung zu sein, und wir sollten erwarten, dass der politische Liberalismus sich als hinreichend kohärent erwiesen hat. Im Verlauf der Entwicklung einer politisch-liberalen Darstellung von Bildung werden sich jedoch Konflikte ergeben zwischen politisch-liberalen Anforderungen an Bildung und allgemeineren Aussagen zu etwa der Natur von Tugenden oder der Rolle von Autonomie. Die Kapitel im ersten Teil weisen auf diese auftretenden Konflikte hin und schlagen Möglichkeiten vor, wie sie gelöst werden können, um die interne Kohärenz des politischen Liberalismus aufrechtzuerhalten. Die Bedingung eines hinreichenden anthropologischen Realismus ist mit Rawlsʼ eigenen metatheoretischen Behauptungen über den politischen Liberalismus verbunden. Der politische Liberalismus soll eine ideale Theorie sein, d. h. nicht so sehr dadurch bestimmt werden, was unter den Bedingungen des derzeitigen realen Lebens möglich ist, sondern vielmehr darauf abzielend, politische Prinzipien zu identifizieren, die eine Gellschaft in einer idealen Welt ordnen würden. Rawls schreibt jedoch, dass seine politische Theorie die Richtlinien für eine realistische Utopie liefern soll, etwas, das von menschlichen Wesen, wie sie sind, erreicht werden kann. Um die Idee der realistischen Utopie ernst zu nehmen, muss daher die Idealisierung und Abstraktion von realen Lebensbedingungen soweit begrenzt werden, dass unsere Theorie immer noch grundlegende Parameter menschlicher Psychologie berücksichtigt. Die vom politischen L iberalismus
52
Teil I
verwendeten Modelle von Tugenden und von Autonomie sollten realistisch menschliche Fähigkeiten widerspiegeln, besonders in einem politisch-liberalen Ansatz über Bildung. Die Kapitel im ersten Teil diskutieren die Beziehung zwischen zentralen Elementen (wie Tugenden und Autonomie) und Bildung; sie zeigen, wie Anforderungen an Bildungseinrichtungen formuliert werden können, die solchen Erwartungen an die Realität gerecht werden. Die Gewichtung beider Aspekte variiert im Verlauf der nächsten drei Kapitel. Hinsichtlich der politischen Tugenden werden sowohl die interne Kohärenz der Darstellung von Tugenden im politischen Liberalismus als auch Bedenken auf der Grundlage empirischer psychologischer Forschung behandelt. Was Autonomie betrifft, liegt der Schwerpunkt auf der Frage, wie neutral der politische Liberalismus in Bezug auf die individuelle Autonomie sein kann und welche genau die Voraussetzungen für Kinder sind, um politisch autonome Bürger:innen zu werden. Das Kapitel über Rechte und Freiheiten hat hauptsächlich eine klarstellende Funktion und soll eine deutlichere Struktur für die normativen Beziehungen zwischen Eltern, Kindern und dem Staat schaffen.
Kapitel 3
Politische Tugenden
Zusammenfassung Dieses Kapitel untersucht die Konzeption politischer Tugenden, ein zentrales Element des politischen Liberalismus, und die Beziehung zwischen politischen Tugenden und der Erziehung zukünftiger Bürger:innen. Die Entwicklung politischer und staatsbürgerlicher Tugenden wird in vielen liberalen Theorien als wichtiger Schritt auf dem Weg, ein:e Staatsbürger:in zu werden, angesehen, und ein politisch-liberales Ansatz zur Bildung sollte keine Ausnahme sein. Doch Rawls’ eigene Darstellung, die in A Theory of Justice etabliert wurde und die nach seinem political turn noch immer gelten soll, steht im Widerspruch zum politisch-liberalen Ziel, politische Entscheidungen nicht auf umfassende Ansichten zu stützen, einschließlich Entscheidungen über staatsbürgerliche Bildung. Für Rawls sind politische Tugenden mit dem sogenannten Aristotelischen Grundsatz verbunden, einer Idee, die plausibel als eine solche umfassende Ansicht interpretiert werden kann. Um die erforderliche Legitimität für politisch-liberale Bildung zu gewährleisten, schlägt dieses Kapitel vor, den Aristotelischen Grundsatz durch eine Humesche Darstellung von Tugenden zu ersetzen, die bezüglich der zugrunde liegenden Mechanismen, die tugendhafte Verhaltensweisen bei Bürger:innen motivieren, agnostisch bleibt. Das Kapitel analysiert weiterhin zulässige Strategien der politischen Tugendbildung und bewertet Begründungen für indirekte Wege der Tugendbildung, wie z. B. Nudging und moralisches Bio-Enhancement. Um besser zu verstehen, in welcher Weise die politisch-liberale Konzeption von Tugenden Bildung formt, müssen wir uns genauer ansehen, welche Rolle Tugenden in Rawls'scher politischer Philosophie spielen. Im Zusammenhang mit staatsbürgerlicher Erziehung betonen Liberale oft, dass Staatsbürger:innen eine gewisse Bandbreite politischer Tugenden entwickeln und aufrechterhalten sollten (siehe z. B. Galston 1991; Callan 2010; Macedo 1990); Rawls ist hier keine Ausnahme, obwohl er sich weniger explizit über den Platz der Tugenden in der liberalen Erziehung äußert. Die minimale Darstellung der bürgerlichen Erziehung, die in Political Liberalism zu finden ist, soll jedoch die Entwicklung dieser politischen Tugenden bei zukünftigen Bürger:innen fördern (siehe Abschn. 2.2 und 2.3), wie Toleranz, gegenseitige Achtung, Vernunft, Fairness, Zivilität und vielleicht am besten bekannt, ein Gerechtigkeitssinn. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Nature Switzerland AG 2022 F. Podschwadek, Die Erziehung der Vernünftigen, https://doi.org/10.1007/978-3-031-21266-6_3
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3 Politische Tugenden
Ich werde mit einer kurzen Zusammenfassung davon beginnen, wie Rawls Tugenden versteht und welche Rolle sie in seiner Theorie spielen. Wie wir sehen werden, ist Rawls eigene Vorstellung von Tugenden zumindest ambivalent und in ihrer ursprünglichen aristotelischen Interpretation scheint sie inkonsistent zu sein mit den Zielen seines politisch-liberalen Projekts, nicht auf umfassende ethische Ansichten zu ruhen. Als nächstes werde ich zu klären versuchen, welche Rolle Tugenden in der liberalen politischen Theorie spielen sollen, indem ich einen kurzen Blick auf andere liberale Darstellungen von Tugenden werfe. Nachdem die Rolle von Tugenden im Liberalismus geklärt wurde, werde ich die Herausforderung der situationistischen Psychologie für die Tugendethik vorstellen. Obwohl diese Herausforderung Tugendethik im Allgemeinen gerichtet ist, impliziert sie auch Probleme für Darstellungen politischer Tugenden. Eine vielversprechende Strategie, um beide Probleme gleichzeitig zu lösen, wäre, eine Darstellung politischer Tugenden durch eine Darstellung von Normkonformität zu ersetzen. Eine solche Darstellung, die vor allem eine robuste Antwort auf empirische Herausforderungen sein würde, wäre mit der Rolle von Tugenden im politischen Liberalismus vereinbar (so werde ich zumindest argumentieren). Angesichts von Einwänden gegen Darstellungen von Normkonformität und der Anerkennung ungelöster empirischer Fragen, wie weit Elemente wie persönliche Charaktereigenschaften an tugendhaftem Verhalten überhaupt beteiligt sind, werde ich vorschlagen, dass der politische Liberalismus am besten mit einer Humeschen Darstellung der Tugenden funktioniert, die sich auf die Funktionalität der Tugenden in einer sozialen Umgebung konzentriert, während sie über die zugrunde liegenden Mechanismen so weit wie möglich agnostisch bleibt. Nachdem deutlich geworden ist, wie politische Tugenden aus der Perspektive politisch-liberaler Bildung am besten zu verstehen sind, werde ich einen genaueren ausführen, inwieweit die Entwicklung politischer Tugenden bei Kindern und Jugendlichen auf legitime Weise angebahnt werden können, z. B. durch die Verwendung autoritativer Bildungsstrategien statt durch Abwägung und Begründung. Ein großer Teil meines Arguments wird hier auf Michael Hands jüngster Arbeit zur moralischen Bildung (2018) und seiner Unterscheidung zwischen moralischer Formierung und moralischer Untersuchung basieren, und ich werde vorschlagen, dass die Lehre politischer Tugenden durch Methoden moralischer Formierung aus politisch-liberaler Sicht gerechtfertigt ist. Abschließend wird in diesem Kapitel auch kurz auf die indirekten Beiträge zur politischen Tugendbildung eingegangen, wie etwa Nudging-Strategien und die spekulative Anwendung von moralischem Bio-Enhancement. Im Fall von Nudging werde ich argumentieren, dass Nudging-Strategien, die die Entwicklung bestimmter politischer Tugenden fördern, für Bürger:innen einer wohlgeordneten Gesellschaft gerechtfertigt sind und daher im Zusammenhang öffentlicher Bildung eingesetzt werden können. Im Gegensatz dazu wäre die Anwendung von moralischem Bio-Enhancement in einem begrenzten, privaten Rahmen für Bürger:innen, die dies aufgrund ihrer umfassenden Werte rechtfertigen können, zulässig, jedoch nicht in einem öffentlichen Rahmen und daher aus einer politischliberalen Perspektive auch nicht in der öffentlichen Bildung.
3.1 Tugenden, Exzellenz und der Aristotelische Grundsatz
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3.1 Tugenden, Exzellenz und der Aristotelische Grundsatz Um zu verstehen, wie Rawls Tugenden definiert, müssen wir uns A Theory of Justice ansehen, in dem er den sogenannten Aristotelischen Grundsatz einführt. Dieser Grundsatz besagt folgendes: Unter sonsten gleichen Umständen genießen Menschen den Einsatz ihrer (angeborenen oder erlernten) Fähigkeiten, und ihre Befriedigung nimmt zu, je besser entwickelt oder komplexer die beanspruchte Fähigkeit ist (2005a, S. 426).
Für Rawls ist diese Art des Strebens nach Exzellenz wichtig, um Selbstachtung zu entwickeln und aufrechtzuerhalten, welche seiner Ansicht nach eines der Grundgüter ist, die jede Person unabhängig von ihren konkreten Lebensplänen benötigt. Aufgrund dieser Verbindung zwischen dem Aristotelischen Grundsatz und Selbstachtung verweist er darauf, dass jeder vernünftige Lebensplan die Ansprüche dieses Grundsatzes berücksichtigen muss (2005a, S. 428–429). Obwohl er dies nicht explizit macht, scheint es zu bedeuten, dass ein Lebensplan, der die Entwicklung und Verwirklichung anspruchsvoller Fähigkeit in einem höheren Maße umfasst, ein Leben rationaler und damit in gewissem Sinne besser macht. Rawls selbst sieht jedoch kein Problem darin. Er behauptet, dass der Aristotelische Grundsatz die menschliche Natur auf objektive, sachchliche Weise charakterisiert, daher muss dieser Grundsatz auch in einer Theorie des menschlichen Wohlergehens eine zentrale Rolle spielen. Darüber hinaus scheint der Aristotelische Grundsatz auf relevante Weise mit einer der beiden moralischen Vermögen, nämlich der Befähigung zu eine Konzeption eines guten Lebens, verbunden zu sein, wie der folgende Abschnitt nahelegt: Im Rahmen einer Theorie des Guten sagt der Aristotelischen Grundsatz eine tieferwurzelte psychologische Tatsache aus, die in Verbindung mit anderen allgemeinen Tastsachen und der Konzeption eines rationalen Plans unsere wohlüberlegten Werturteile erklärt. Was gemeinhin als menschliches Gut angesehen wird, sollte sich als identisch mit den Ziele und Tätigkeiten erweisen, die in rationalen Plänen eine wichtige Rolle spielen. Der Grundsatz gehört zu dem Rahmenbedingungen, die diese Urteile bestimmen. Vorausgesetzt, er ist richtig und führt zu Schlussfolgerungen, die unseren Überzeugungen über das Gute und das Böse entsprechen (im Überlegungsgleichgewicht), hat es einen angemessenen Platz in einer moralischen Theorie (2005a, S. 432).
Der faktische Status, der dem Grundsatz zugeschrieben wird, und seine Bedeutung für die Selbstachtung machen es zu einem Baustein für die (schwache) Theorie des Guten, die es den Parteien im Urzustand ermöglicht, die Prinzipien von Recht und Gerechtigkeit herauszufinden und die Grundgüter zu bestimmen, an denen alle Mitglieder der Gesellschaft interessiert sind. Neben diesen Dingen ist ein weiteres Ergebnis der Deliberation im Urzustand eine Definition dessen, was eine gute Person ausmacht. Rawls’ Schlussfolgerung ist, dass eine gute Person einen Satz von „breit gefächerten Eigenschaften“ hat und „[…]es rational für Personen ist, diese in anderen vorzufinden“ (2005a, S. 435). Für ihn besteht kein Zweifel daran, was für eine:n Bürger:in einer wohlgeordneten Gesellschaft zu diesen Eigenschaften gehört:
3 Politische Tugenden
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Ich weise direkt darauf hin, dass die grundlegenden moralischen Tugenden, das heißt die starken und normalerweise wirksamen Wünsche, gemäß den grundlegenden Prinzipien des Rechten zu handeln, zweifellos zu den breit gefächerten Eigenschaften gehören. […] Da die Grundstruktur [einer wohlgeordneten Gesellschaft] gerecht ist und die Verhältnisse hinsichtlich der öffentlichen Gerechtigkeitsvorstellung stabil sind, werden ihre Mitglieder im Allgemeinen einen angemessenen Gerechtigkeitssinn sowie den Wunsch haben, ihre Institutionen zu erhalten (2005a, S. 436).
Ausgehend vom Aristotelischen Grundsatz führt uns Rawls zur Idee der guten Person, die zum Teil durch bestimmte moralische Tugenden definiert wird, wovon der Gerechtigkeitssinn eine außerordentlich wichtige ist. Dennoch ist es nur rational, diese Eigenschaft aufrechtzuerhalten, solange auch andere sie haben: Ein repräsentatives Mitglied einer wohlgeordneten Gesellschaft wird also feststellen, dass es die grundlegenden Tugenden auch bei anderen vorfinden möchte, insbesondere den Gerechtigkeitssinn. Sein rationaler Lebensplan ist mit den Einschränkungen durch das Rechte vereinbar, und so wird es sicherlich auch wollen, dass andere die gleichen Einschränkungen anerkennen (2005a, S. 436).
Eine bemerkenswerte Sache, die diese Passagen deutlich machen, ist, dass der Gerechtigkeitssinn und andere grundlegende Tugenden einen seltsam ambivalenten Status zu haben scheinen. Einerseits scheinen sie menschliche Fähigkeiten zu sein, an deren Ausübung sich die Bürger:innen einer wohlgeordneten Gesellschaft aus eigenem Interesse erfreuen. Tugendhaft zu sein, scheint demnach einen intrinsischen Wert für Bürger:innen zu haben. Andererseits hängt der Wert der eigenen Tugend davon ab, dass Mitbürger:innen die diese Tugenden teilen. Der Grund dafür ist leicht zu erkennen: In Übereinstimmung mit den Prinzipien der Gerechtigkeit in einer Gesellschaft zu handeln, in der sonst niemand das tut, wäre kaum eine rationale Strategie, da sie zur Ausnutzung durch Mitbürger:innen führen würde, die sich nicht um Gerechtigkeit kümmern. Aus der Perspektive individueller Rationalität muss die bevorzugte Strategie sozialer Interaktion bedingt sein – man handelt nur politisch tugendhaft, wenn man (oder zumindest ein hinreichender Teil von ihnen) davon ausgehen kann, dass andere auf die gleiche Weise handeln. Dies scheint im Widerspruch zur Vorstellung von Tugenden als intrinsisch wertvoll zu stehen, die Rawls ebenfalls zu verwenden scheint, zumindest wenn wir annehmen, dass er die weit verbreitete Annahme teilt, dass tugendhafte Handlungen unabhängig von instrumentalen Nutzenkalkulationen sind.1 Jedoch ist Rawls zufolge, entsprechend seiner bevorzugten Auffassung von Gerechtigkeit, Gerechtigkeit als Fairness, welche aus dem Urzustand hervorgeht, „der Wunsch, das Richtige und Gerechte zu tun, für Personen die direkteste Weise, ihre Natur als freie und gleiche rationale Wesen auszudrücken“ (2005b, S. 445). Wenn ich Rawls in diesem Zusammenhang richtig verstehe, werden alle Bürger:innen, welche die Auffassung von Gerechtigkeit als Fairness akzeptieren,
1 Eine
der besonderen Eigenschaften tugendhafter Handlungen ist, dass sie als wertvoll angesehen werden, auch wenn sie nach instrumentaler Rationalität nicht zu den bestmöglichen oder auch nur guten Konsequenzen führen, siehe z. B. Adams (2013, S. 60–62).
3.1 Tugenden, Exzellenz und der Aristotelische Grundsatz
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notwendigerweise den Wunsch, richtig und gerecht zu handeln als einen Aspekt des Guten anerkennen, in dem sie sich auszeichnen sollten. Seine Schlussfolgerung bezüglich Tugenden ist, dass Tugenden Spielarten von Vortrefflichkeit sind. Sie sind gut aus unserer eigenen Sicht sowie aus der Sicht der anderen. Ihr Fehlen kann leicht sowohl unseren Selbstwert als auch den Wert untergraben, den unserer Mitmenschen in uns sehen. Daher werden Anzeichen eines Mangels [an Tugenden] unsere Selbstachtung verletzen und mit Schamgefühlen verbunden sein (2005b, S. 445).
Mit diesem Argument kann Rawls behaupten, dass es eine Kongruenz zwischen dem menschlichen Guten und dem Rechten gibt. Da er sich um politische Stabilität aus den richtigen Gründen sorgt, möchte Rawls, dass Bürger:innen sich aus Gründen der Gerechtigkeit mit den Prinzipien der Gerechtigkeit in Einklang bringen, nicht nur aus Gründen des Eigeninteresses, da letzteres sie nicht daran hindern würde, ungerecht zu handeln, wann immer möglich und gewünscht. Stattdessen muss der Gerechtigkeitssinn eine nicht-instrumentelle moralische Motivation sein. Indem er eine Beziehung zwischen einem menschlichen Gut (das als solches intrinsisch wertvoll ist) und dem Rechten (das instrumentell wertvoll ist) schafft, glaubt Rawls, dieses Ziel erreichen zu können.2 Diese duale Natur des Gerechtigkeitssinns und anderer Tugenden scheint die liberale Theorie, die in A Theory of Justice entwickelt wurde, als eine (zumindest teilweise) umfassende Form des Liberalismus zu markieren, die verwendet werden könnte, um perfektionistische politische Entscheidungen zu rechtfertigen. Wie Samuel Freeman beobachtet, „führt der Aristotelische Grundsatz durch einen Anspruch bezüglich der menschlichen Natur ein Element des Perfektionismus ein“ (2007, S. 271). Ein Lebensplan muss mit dem Aristotelischen Grundsatz in Einklang sein, um ein gutes oder „gedeihendes“ Leben über die Zeit, die es dauert, zu werden. Steven Wall macht eine ähnliche Beobachtung: „Rawls’ Akzeptanz dieses Prinzips positioniert ihn jenseits [einer] einfachen subjektivistischen Ansicht des menschlichen Guten […]. Es bietet auch eine Grundlage für eine Art von perfektionistischer Politik, die seinen ausdrücklichen Festlegungen widerspricht“ (2013, S. 579). Bemerkenswert ist, dass ein anderer zeitgenössischer Rawlsianer, Paul Weithman, diese Ansicht über den Aristotelische Grundsatz nicht zu teilen scheint. In seiner Diskussion des Grundsatzes als eine Konjunktion, die auf verschiedene Weise gelesen werden kann, versteht er ihn so: Etwas, das erklärt werden muss, ist der Wert, den wir Aktivitäten wie den Künsten, anspruchsvollen geistigen Bestrebungen und der Schönheit zumessen. Das zweite Konjunkt scheint der Teil des Grundsatzes zu sein, der diese Arbeit erledigt und uns zu verstehen hilft, warum rationale Pläne solche Aktivitäten umfassen, und dies ohne Berufung auf perfektionistische Prinzipien oder Mills Unterscheidung zwischen höheren und niedrigeren Freuden (2013, S. 100).
2 Für eine hilfreiche Diskussion der Kongruenz des Guten und des Rechten in Rawls’ Theorie siehe Freeman (2007), Kap. 6.
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3 Politische Tugenden
Es ist mir nicht völlig klar, ob Weithmans Behauptung, dass das Aristotelische Prinzip keine perfektionistischen Prinzipien enthält, nur für die zweite Behauptung (das zweite Konjunkt sagt, dass sich Menschen an komplexeren Aktivitäten mehr erfreuen als an weniger komplexen) oder ob sie für den ganzen Grundsatz gilt. Davon abgesehen scheint er den Aristotelischen Grundsatz als eine rein deskriptive Aussage zu verstehen, die keinen ethisch-evaluativen Inhalt in Form einer Behauptung über Präferenzen für komplexere Aktivitäten mit erhöhtem Wert enthält. Trotzdem wirkt seine Liste der durch den Grundsatz abgedeckten wertvollen Aktivitäten seltsam voreingenommen für solche, die traditionell insbesondere von einer gebildeten Elite als wertvoll angesehen werden. Sie beinhaltet z. B. nicht, sich im Fernsehen Schlammcatchen anzusehen, regelmäßig in die Kneipe zu gehen oder stundenlang Videospiele zu spielen. Das könnte nur ein Zufall sein, aber wahrscheinlicher ist, dass der Grundsatz stillschweigend doch noch einen evaluativen Inhalt hat. Wenn wir ihn als Maßstab für ein gutes Leben nehmen, können wir jedenfalls nicht mehr sagen, dass Stoßnadel genauso wertvoll ist wie Dichtkunst. Im Gegensatz zu Weithman und in Übereinstimmung mit Freeman und Wall scheint mir, dass der Grundsatz stillschweigend einen evaluativen Inhalt hat. Um den Wert einer Reihe von spzifischen Aktivitäten zu erklären, verwendet Rawls ein breites Prinzip,3 und je nach unseren metaethischen Überzeugungen könnte dieser Schritt problematisch sein. Alle, die an eine Version des naturalistischen Fehlschlusses glauben und somit den Übergang von einem Ist zu einem Soll ablehnen, müssen entweder annehmen, dass gültige evaluative Schlussfolgerungen doch aus Tatsachenaussagen abgeleitet werden können, oder dass der Aristotelische Grundsatz selbst bereits evaluative ethische Inhalte enthält. Ob die erste Lösung plausibel ist, ist umstritten. Die zweite Lösung würde bereits eine evaluative Grundlage voraussetzen, auf der der politische Liberalismus (teilweise) beruhen müsste, etwas, das ein der Neutralität zugewandte Rawlsianer möglichst vermeiden möchte. Nehmen wir für einen Moment ersteres an – dass es auf irgendeine Weise möglich ist, normativen Schlussfolgerungen aus rein deskriptiven Prämissen abzuleiten.4 Vielleicht ist es jetzt möglich, die aristotelische Moralpsychologie zu retten, indem man darauf hinweist, dass es sich nicht um eine bewertende ethische Sichtweise, sondern um ein „beschreibendes Prinzip der menschlichen Motivation“ handelt (2013, S. 579), welches Rawls’ Behauptung, dass das Gute und das Rechte kongruent sind, erklärende Kraft verleiht. Dieser Versuch
3 Eine
interessante Frage in diesem Zusammenhang wäre, ob die verschiedenen Arten von Aktivitäten, von denen Weithman annimmt, dass sie durch den Aristotelischen Grundsatz charakterisiert werden, wirklich alle in die Kategorie komplexer Aktivitäten fallen und alle auf diese Weise erklärt werden können. Bedauerlicherweise kann hier nicht weiter auf die Frage eingegangen werden, ob die Wertschätzung von Schönheit eine komplexe Aktivität wie Schach ist. 4 Für einen Ansatz, um den naturalitischen Fehlschluss im Sinne von David Hume zu umgehen, siehe z. B. Curry (2006).
3.1 Tugenden, Exzellenz und der Aristotelische Grundsatz
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könnte dadurch gerechtfertigt werden, dass der Aristotelische Grundsatz gut mit empirischen Beweisen über das menschliche Verhalten harmoniert, wie Rawls betont.5 Aber, wie Wall beobachtet, bleibt selbst wenn der Grundsatz eine Tatsache der menschlichen Natur akkurat beschreibt, bleibt es eine evaluative Frage, ob die davon umfassten Tätigkeiten durch politische Maßnahmen gefördert oder unterstützt werden sollen. Ein positives Urteil darüber würde in perfektionistische politischen Maßnahmen resultieren. Um diese perfektionistische Lesart weiter zu unterstützen, liefert Wall eine plausible Interpretation der berühmten Passage über das Zählen von Grashalmen, in welcher behauptet wird, dass die Person in dem Beispiel tatsächlich einen anderen Lebensweg wählen sollte, der es ihr ermöglicht, sich in komplexeren Tätigkeiten auszuzeichnen, sofern sie in der Lage ist, dies zu tun. Dies, so Wall, deutet darauf hin, dass für Rawls der Aristotelische Grundsatz eine wahre Beschreibung einer Tatsache ist und eine entscheidende Rolle in einer Darstellung des Guten für den Menschen spielen muss (2013, S. 580–582). Für Wall führt der Aristotelische Grundsatz tatsächlich zu perfektionistischen politischen Maßnahmen, die darauf abzielen, das Gute zu fördern. Während Rawls zu denken scheint, dass private Vereinigungen „und der kulturelle Markt im Allgemeinen“ ausreichende Möglichkeiten für Bürger:innen bieten werden, sich in einer Vielzahl von Talenten auszuzeichnen, argumentiert Wall für staatliche Subventionen, um die Beteiligung an wertvollen komplexen Tätigkeiten zu fördern: „Staatliche Subventionen für intrinsisch wertvolle kulturelle Projekte, sowie staatlich finanzierte Bildungsinitiative, um die Wertschätzung dafür zu fördern, können plausibel durch Berufung auf den Aristotelischen Grundsatz gerechtfertigt werden“ (2013, S. 590). Die Tatsache, dass Rawls in Political Liberalism den Aristotelischen Grundsatz nicht ablehnt, unterstützt die perfektionistische Lesart noch. Diese anhaltende Unterstützung durch Rawls ist mit dem politischen Liberalismus vereinbar, behauptet Wall; die politischen Entscheidungen über perfektionistische Maßnahmen, die durch den Grundsatz gerechtfertigt werden, betreffen weder wesentliche Verfassunginhalte noch grundlegende Gerechtigkeitsfragen und können daher angemessenerweise auf umfassenden Ansichten über Exzellenz und die menschliche Natur beruhen (2013, S. 595–596). Während wir Walls Beobachtung über die umfassende Natur des Aristotelischen Grundsatzes annehmen sollten, kann dasselbe nicht über seine Schlussfolgerung gesagt werden. Die perfektionistische Interpretation des politischen Liberalismus von Rawls, die Wall vorschlägt, erscheint aus mindestens zwei Gründen problematisch.6 Erstens sollte die in der Pflicht zur Bürgerlichkeit und in ihren Einschränkungen ausgedrückte Forderung nach Neutralität vielleicht sogar einen
5 Rawls selbst argumentiert in A Theory of Justice, dass seine Tugendtheorie durch psychologische und evolutionäre Forschung gerechtfertigt wird (2005a, S. 432–433). 6 Für die von mir hier verwendete Unterscheidung zwischen umfassenden und perfektionistischen Konzeptionen des Liberalismus siehe 1.3.
3 Politische Tugenden
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größeren Umfang haben, als Rawls es selbst verlangt. Jonathan Quong argumentiert etwa, dass wir einen weiten Anwendungsbereich für die Pflicht zur Bürgerlichkeit annehmen müssen, wenn wir öffentlichen Vernunftgebrauch ernst nehmen wollen, und dass die Hauptverteidigungen eines engen Anwendungsbereichs (der nur wesentliche Verfassungsinhalte umfasst) unzureichend sind (2011, Kap. 9). Aber selbst wenn wir Quongs Behauptung skeptisch gegenüberstehen, gibt es einen zweiten Grund, Walls Position zumindest in Bezug auf Bildung zu verwerfen: Wenn die institutionalisierte Bildung tatsächlich Teil der Grundstruktur der Gesellschaft ist, hat Perfektionismus wie der, den Wall vorschlägt, keinen Platz in den Fragen der Bildungspolitik. Wir müssen uns nach einer anderen Lösung für das Problem umsehen, welches der Aristotelische Grundsatz in diesem Zusammenhang darstellt. Bisher sieht es so aus, als ob der Aristotelische Grundsatz als eine umfassende philosophische Lehre interpretiert werden könnte (vielleicht aber nur teilweise), die eine Rechtfertigung für perfektionistische politische Maßnahmen bietet. Aber wie Rawls selbst bemerkt, wurde seine Wende zum politischen Liberalismus durch die Sorge motiviert, dass in einer vernünftig pluralistischen Gesellschaft nicht alle Bürger:innen umfassende Lehren dieser Art unterstützen werden (2005b, S. xvi–xvii). Wenn wir dieses Ziel ernstnehmen wollen, sollten wir perfektionistische Zugeständnisse wie das von Wall vorgeschlagene vermeiden. Daher sollte im Kontext des politischen Liberalismus eine andere Darstellung politischer Tugenden möglich sein, welche die Trennung der beiden moralischen Vermögen (die Fähigkeit für eine Konzeption des Guten und die Fähigkeit für ein Gerechtigkeitssinn) reflektiert und die nicht in umfassenden philosophischen Lehren begründet ist, die von vernünftigen Bürger:innen abgelehnt werden können.7 Trotzdem verwirft Rawls, wie bereits erwähnt, den Aristotelischen Grundsatz nicht. Stattdessen bekräftigt er in Political Liberalism seine Behauptung über Tugenden und deren Rolle bei der Bestimmung einer Gerechtigkeitskonzeption aus seinem früheren Werk. In einem letzten Schritt, indem wird auf den Aristotelischen Grundsatz und andere Elemente von Gerechtigkeit als Fairness zurückgreifen, legen wir dar, inwiefern die wohlgeordnete Gesellschaft von Gerechtigkeit als Fairness intrinsisch gut ist (Rawls 2005b, S. 207).
Gleichermaßen beruht die Erklärung für politische Tugenden immer noch auf dem Aristotelischen Grundsatz (2005b, S. 208, n. 41). Dies deutet darauf hin, dass, selbst nach Rawls’ political turn, vernünftige Bürger:innen einen übergreifenden Konsens unterstützen sollen, bei dem die zentrale Gerechtigkeitskonzeption teilweise und die Konzeption politischer Tugenden vollständig auf einer aristotelischen Vorstellung von Tugenden basiert. Aufgrund seiner Motalpsychologie, welche auf dem Aristotelischen Grundsatz beruht, werden sie auch die Anwendung ihrer beiden moralischen Vermögen als gut erleben, wie er behauptet (2005b, S. 202–203), etwas,
7 Und
soweit ich mich selbst als vernünftig betrachten kann, gibt es zumindest eine vernünftige Person, die den Aristotelischen Grundsatz ablehnen würde.
3.1 Tugenden, Exzellenz und der Aristotelische Grundsatz
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das aus der Perspektive vernünftiger Bürger:innen mit unterschiedlichen ethische Ansichten über Tugenden und das menschliche Gute fragwürdig erscheinen könnte. Wenn der übergreifende Konsens wirklich von allen vernünftigen Bürger:innen akzeptiert werden soll, unabhängig von ihren umfassenden Lehren, dann sollte es mehr als verdächtig erscheinen, wenn einige seiner Inhalte auf einer umfassenden philosophischen Lehre wie dem Aristotelischen Grundsatz beruht. Es sieht in der Tat so aus, als ob genau ein solcher Fall durch die Annahme des politischen Liberalismus ausgeschlossen werden sollte. Neben der Behauptung, dass keine umfassenden und/oder perfektionistische Ansichten involviert sind (Weithman), dass es sie gibt, sie aber ignoriert werden (Freeman), oder sieh zu akzeptieren und Perfektionismus zu unterstützen (Wall), scheint Rawls einen weiteren Weg zur Versöhnung des Aristotelischen Grundsatzes mit dem politischen Liberalismus in einer Fußnote zu suggerieren. Er schlägt vor, die Moralpsychologie von Gerechtigkeit als Fairness vorauszusetzen, während er gleichzeitig anregt, dass der Aristotelische Grundsatz durch äquivalente Prinzipien ersetzt werden könnte, falls erforderlich. Diese Ersatzprinzipien wären mit den verschiedenen umfassenden Ansichten, die vernünftige Bürger:innen haben, kompatibel, würden aber trotzdem zu ähnlichen Schlussfolgerungen führen (Rawls 2005a, S. 203, n. 35). Während Rawls immer noch denkt, dass irgendeine Art von Prinzip notwendig ist, um das Rechte und das Gute zu verbinden, erlaubt er eine Vielzahl von Erklärungswegen, die mit unterschiedlichen umfassenden Lehren kompatibel sind. Wie plausibel dieser Ansatz ist, um die Kongruenz zwischen diesen beiden Sphären zu erreichen, kann hier nicht diskutiert werden. Eine drängende Frage wäre jedenfalls, wie ähnlich diese alternative Erklärungsprinzipien Rawls’ eigenen sein müssen: Brauchen sie nur zu einem befriedigenden Grad an Kongruenz führen, unabhängig davon, wie sie es erreichen, oder müssen sie bestimmte Elemente mit dem Aristotelischen Grundsatz teilen, z. B. eine Darstellung on Tugendhaftigkeit? Die erste Version impliziert eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass akzeptable alternative Prinzipien keine Darstellung des intrinsischen Wertes von Tugenden liefern können, wie es der Aristotelische Grundsatz tut. Die zweite Version scheint die Zahl alternativer Darstellungen erheblich einzuschränken und könnte dazu führen, dass Ansichten, die ansonsten im weiteren Sinne des politischen Liberalismus als vollkommen vernünftig gelten würden, ausgeschlossen werden. Mit beiden Versionen würden wir eine detaillierte Erklärung dafür benötigen, wie jede umfassende Ansicht, die den Aristotelische Grundsatz nicht akzeptiert, die Idee von politischen Tugenden und ihren Bezug zu intrinsischen Werten vermittelt. Das sieht nach einer Menge wenig vielversprechender Arbeit aus – Arbeit, die wir zum Glück vermeiden können, wenn meine Argumente in den folgenden Abschnitten plausibel sind. Bisher haben wir gesehen, dass die Rolle des Aristotelischen Grundsatzes und die Natur der Tugenden in Rawls’ Moralpsychologie verworrener ist, als seine eigene oberflächliche Behandlung dieses Themas in Political Liberalism vermuten lässt. Obwohl es politischen Liberalismus nicht falsifiziert, sieht es so aus, als wäre es eine Inkonsistenz, die das Gesamtgefüge weniger robust
62
3 Politische Tugenden
erscheinen lässt, als ein:e treue Rawlsianer:in es sich wünschen würde. Für eine politisch-liberale Theorie der Bildung wird es sicher nötig sein, einen robusteren Weg zu finden, Inkonsistenzen in Bezug auf Tugenden zu vermeiden. Aber das ist nicht das einzige Problem, das die Rawls’sche Darstellung politischer Tugenden mit sich bringt. Darüber hinaus teilt sie eine gemeinsame Schwäche mit anderen Tugendtheorien – eine Verwundbarkeit gegenüber der sogenannten situationistischen Herausforderung.
3.2 Die situationistische Herausforderung Neben dem Problem, dass Rawls’ aristotelische politische Tugenden seinen political turn inkonsistent erscheinen lassen könnten, ist die Rolle der Tugenden in der Ethik und politischen Philosophie im Allgemeinen umstritten. Das Konzept der Tugenden als wünschenswerte und stabile Charaktermerkmale wird seit einiger Zeit auf der Grundlage empirischer Erkenntnisse aus der Sozialpsychologie in Frage gestellt. Allgemein werden Tugenden als Charaktermerkmale verstanden, als Dispositionen, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten und von denen angenommen wird, dass sie moralisch wertvoll sind. Julia Annas’ Darstellung von Tugenden folgend, können wir eine Tugend als eine persistente persönliche Eigenschaft verstehen, die zuverlässig und charakteristisch für die betreffende Person ist, weil sie tief in ihr verwurzelt ist – „[eine] Tugend ist eine Disposition, die grundlegend für eine Person, dafür, wie er oder sie ist, eine Art, wie wir üblicherweise über Charakter denken“ (2011, S. 9). Es ist ein relevantes Merkmal der Tugenden, dass sie sich nicht nur im Verhalten ihrer Träger äußern, sondern auch in „Gedanken und Gefühlen“ (2011, S. 9). Allerdings wurde diese Idee von der empirischen Psychologie seit den 1970er Jahren zumindest in Frage gestellt. Empirische Forschung in der sogenannten „situationistischen Psychologie“ scheint die Hypothese zu unterstützen, dass relevante Verhaltensmotivationen in weitaus größerem Umfang von situativen Faktoren als von Charaktermerkmalen abhängen. Eine radikale Interpretation situationsbezogener Experimente wäre zu behaupten, dass es überhaupt keine charakterbezogenen Merkmale von handlungsleitender Bedeutung gibt. Aber selbst unter einer moderateren Interpretation sind bestehende Charaktermerkmale, die das Verhalten eines Individuums beeinflussen, nicht über eine Reihe verschiedener Situationstypen hinweg stabil. Forschungsergebnisse zeigen z. B., dass hilfreiches Verhalten bei Testpersonen erheblich durch externe Faktoren bestimmt werden kann. Diese Faktoren sind zufällige Umstände, die sie sich „gut fühlen“ lassen, z. B. wenn sie vor einer Situation, in der sie anderen helfen können, einen Keks erhalten oder Geld finden (Isen und Levin 1972). Während diese positiven Umstände die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass die Teilnehmer anderen Hilfe anbieten, scheinen negative Faktoren wie in Eile zu sein (Darley und Batson 1973) oder Umgebungslärm, z. B. von einem Rasenmäher (Mathews und Canon
3.2 Die situationistische Herausforderung
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1975), das Gegenteil zu bewirken. In diesem Zusammenhang kann auch Stanley Milgrams „Behavioral Study of Obedience“ (1963) als Beleg dafür gesehen werden, dass Tugenden in Stresssituationen kaum handlungsleitend wirken. In Milgrams Experiment wurden die Testpersonen angewiesen, einer Person, die sie nicht sehen konnten (und die nicht wirklich mit dem Stromgenerator verbunden war), zunehmend stärkere Stromschläge zu verabreichen. Obwohl ihnen klar signalisiert wurde, dass das Leben des Empfängers der Schlags ab einem bestimmten Zeitpunkt gefährdet sein würde, erhöhte die Mehrheit der Testpersonen im Verlauf die Stromstärke auf ein tödliches Niveau. Das Experiment war so konzipiert, dass die Testpersonen durch den Leiter des Experiments, den sie als Autorität wahrnahmen, zunehmendem Druck ausgesetzt wurden. Wie in den zuvor erwähnten Experimenten hatten die situativen Umstände deutlich größeren Einfluss auf das Verhalten der Probanden als jegliche tugendhafte Charaktermerkmale. Für Gilbert Harman, einen außergewöhnlichen eifrigen Befürworter der situationistischen Hypothese, zeigen diese Forschungsergebnisse, dass die gewöhnliche Ansicht von Charaktermerkmalen als bestimmenden Faktoren des Verhaltens und ihre bisher angenommene Rolle in der Tugendethik auf einem Fehler beruht, der schließlich durch die Sozialpsychologie aufgedeckt wurde. Harmans Position ist daher, dass die Tugendethik im Hinblick auf ethische Fragen vernachlässigt werden sollte (1999, 2000). Andere Autoren, wie Owen Flanagan (1991) oder John Doris (1998), sind in ihrer Kritik zurückhaltender, argumentieren aber immer noch, dass die Tugendethik nicht allein auf Charaktermerkmale als Motivationsfaktoren verlassen kann.8 Abgesehen von der Frage, welche dieser Interpretation der situationistischen Herausforderung die plausiblere ist, scheint es offensichtlich zu sein, dass sie nicht nur eine Herausforderung für „ethische“ Darstellungen von Tugenden darstellt. Die gleichen Einwände gelten auch für Rawls’ Verwendung des Tugendbegriffs in der politischen Philosophie, wie Doris feststellt (1998, S. 513). In einem jüngsten Beitrag zu dieser Diskussion skizziert Emily McTernan, was die situationistische Herausforderung für politische Tugenden in der liberalen politischen Philosophie bedeutet. Obwohl sie in ihren Ansichten weniger radikal ist als Harman und zugibt, dass die zeitgenössische Sozialpsychologie das Verhalten sowohl durch Charaktermerkmale als auch durch situative Faktoren bestimmt sieht, sind Tugenden für McTernan keine „stabile, wirksame Möglichkeit, bestimmte Verhaltensweisen in verschiedenen Situationen sicherzustellen“ (2014, S. 87). Um sicherzustellen, dass eine Mehrheit von Bürger:innen an politisch angemessenen Verhaltensmustern festhält, sollte die politische Theorie laut McTernan nach einem Ansatz suchen, der eine auf die Entwicklung bestimmter Charaktermerkmale abzielende Tugendbildung ersetzen kann. 8 Doris schlägt beispielsweise etwas vor, das er als „Nachahmungs-“ oder „Beratungsmodell“ bezeichnet: Tugendhaftigkeit würde auch die Fähigkeit umfassen, unser Verhalten in bestimmten Situationen vorherzusagen, in denen unerwünschtes Verhalten wahrscheinlicher wird. Diese Strategie würde es uns dann ermöglichen, diese Situationen zu vermeiden, was für Doris ebenfalls als tugendhaft gilt (1998, S. 516–519).
3 Politische Tugenden
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3.3 Soziale Normen in der politischen Theorie Als Alternative zu politischen Tugenden schlägt McTernan vor, dass politische Philosophen sich stattdessen sozialen Normen zuwenden sollten, welche die Rolle von Tugenden bei der Motivation von Bürger:innen zu übernehmen, sich gemäß den liberalen Prinzipien zu verhalten (2014, Abschn. III). Eine sehr weite Definition dessen, was eine soziale Norm ist, nimmt sie von Elisabeth Anderson: „Eine soziale Norm ist ein Verhaltensstandard, der von einer sozialen Gruppe geteilt wird und von ihren Mitgliedern allgemein als autoritativ oder verpflichtend verstanden wird“ (Anderson 2000, S. 170). Diese Normen könnten die Rolle in der Verhaltensbildung übernehmen, die Autoren wie Rawls bisher den Tugenden zugeschrieben haben: Soziale Normen sind starke Kandidaten für die instrumentelle Rolle, für deren Erfüllung liberale Tugend eingeführt wurde. Forschungsergebnisse aus der Sozialpsychologie und den Wirtschaftswissenschaften deuten darauf hin, dass soziale Normen starke Determinanten von Verhaltens sind und stabile Verhaltensmuster bei den meisten Menschen sicherstellen, die eine Norm internalisieren (2014, S. 95).
Dies wäre für die liberale politische Philosophie auf jeden Fall auf zwei Arten vorteilhaft: Es wäre ein empirisch unterstützter Ansatz, der mit den aktuellen Paradigmen der Sozialpsychologie kompatibel ist, und er würde nur minimale Anforderungen an Bürger:innen stellen, weil Menschen bereits mit einem angeborenen Bedürfnis ausgestattet sind, sich den Erwartungen der anderen anzupassen (2014, S. 98–99).9 Soziale Normen bieten Menschen soziale Identitäten oder Rollen, die mit bestimmten Arten von Verhalten verbunden sind, und Bürger:in zu sein ist eine der sozialen Identitäten von Menschen in modernen Gesellschaften, einschließlich einer bestimmten Menge normativer Anforderungen. Cass Sunstein beobachtet etwa, dass Handeln in der Rolle als Bürger:in oft ein anderes Verhalten erfordert als das Handeln als Konsument:in, ein „Unterschied [der] mit der Tatsache verbunden ist, dass ein:e Bürger:in nicht nur für sich selbst urteilt, sondern für eine Kollektivität“ (1996, S. 924). Die normativen Anforderungen der Identität als Bürger:in erscheinen als geeigneter Ersatz für die politischen Tugenden, die im politischen Liberalismus erforderlich sind. Sie könnten sogar eine Verhaltensleitung bieten, wenn die Handlungen von anderen nicht beobachtet werden, z. B. Bürger:innen dazu zu motivieren, sich selbst dann der Pflicht der Bürgerlichkeit zu unterwerfen, wenn sie alleine im Wahlkabine sind, vorausgesetzt, sie haben diesen Aspekt ihrer Rolle ausreichend internalisiert.
9 Für
eine Darstellung normenbasierten Verhaltens, das diesen Ansatz unterstützt, siehe auch Brennan et al (2013, S. 198–202).
3.4 Zur Verteidigung sozialer Normen
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3.4 Zur Verteidigung sozialer Normen In einer direkten Antwort auf McTernan lehnt Eamonn Callan diese Ersetzungsstrategie ab und versucht, die Rolle von Tugenden in der liberalen Bildung zu rechtfertigen. Eine seiner zentralen Beobachtungen ist, dass die Art von Stabilität, die durch Normen aufrechterhalten werden kann, eher unzureichend erscheint. Sie würde sich in der Erhaltung des Satzes von Regimeeigenschaften erschöpfen, die liberale Staaten (zumindest minimal) von ihren vielen Alternativen unterscheiden. Sobald das Rechtssystem gilt und die grundlegenden liberalen Rechte ohne jegliche Gefahr der Subversion gesichert sind, ist diese Art von Stabilität erreicht (2015, S. 2–3).
Normen lassen Menschen nach liberalen Prinzipien handeln, aber sie machen sie nicht zu Liberalen. Die für die politische Liberalismus in Anbetracht von vernünftigen Meinungsverschiedenheiten erforderliche Stabilität benötigt auch „soziale Kritik, und die wiederum scheint Aufgeschlossenheit und verbündete intellektuelle Tugenden zu erfordern“ (2015, S. 3). Es scheint, dass dies tatsächlich ein echter Punkt der Sorge für jeden Liberalen ist, der den idealisierten liberalen Staat nicht als bloßen utopischen (oder vielleicht eher dystopischen) Status Quo, sondern als eine dynamische Struktur betrachtet, die im Laufe der Zeit Veränderungen unterliegt. Solange es eine Möglichkeit gibt, dass sich die Bedingungen, unter denen eine Gesellschaft existiert, ändern, wird es einen Bedarf an einer Neuausrichtung der Grundstruktur geben, welche diese Änderungen reflektiert. Die für soziale Kritik erforderlichen intellektuellen Tugenden sind jedoch ein andere politische Tugenden als diejenigen, die für eine stabile liberale Gesellschaft erforderlich sind. Im Gegensatz zu z. B. Toleranz und gegenseitiger Achtung, die grundlegende Anforderungen an liberale Bürger:innen sind, scheinen die für soziale Kritik erforderlichen Tugenden näher an der ursprünglichen aristotelischen Konzeption von Tugenden zu liegen und etwas zu sein, das jeder anstreben sollte, was aber nur von wenigen erreicht wird. Es ist nicht erforderlich, dass alle Bürger:innen diese Tugenden in hohem Maße verwirklicht, solange es mindestens einige gibt, die dies tun. Dies würde ermöglichen, dass einige politische Tugenden, einschließlich der für die soziale Kritik erforderlichen, hauptsächlich von Charaktereigenschaften abhängen, während Tugenden, die zur sozialen Stabilität beitragen, hauptsächlich von sozialen Normen unterstützt werden. Trotzdem bleibt die Sorge, dass Normen vielleicht nur die grundlegendste Form von Stabilität sichern könnten, was nicht ausreichend wäre. Auch wenn es sich um liberale Stabilität im minimalen Sinne handelt, könnte eine nur durch Normen stabilisierte liberale Gesellschaft eine Kultur entwickeln, „die für Meinungsfreiheit sehr ungastlich ist, selbst wenn abweichende Meinungen rechtlich toleriert werden“ (Callan 2015, S. 6). Diese Sorge, dass eine normenbasierte Version politischer Tugenden zu einer weniger als hinreichend liberalen Gesellschaft führen würde, muss ernst genommen werden. Eine zufriedenstellende Antwort muss mehr über die Unterscheidung zwischen sozialen Normen und moralischen Normen sagen, was direkt zu einem weiteren von Callans Einwänden führt.
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3 Politische Tugenden
McTernans Darstellung enthält keine explizite Unterscheidung zwischen moralischen und anderen, „lediglich“ sozialen Normen, wie Callan hervorhebt. Die relevante Unterscheidung liegt hier nicht in der Haltung, die Bürger:innen gegenüber den betreffenden Normen einnehmen: Auch wenn der Inhalt einer Norm ein moralisches Gebot sein kann (z. B. „Respektiere deine Mitbürger:innen, trotz ihrer unterschiedlichen religiösen Überzeugungen“), können die Gründe von Bürger:innen, sich an sie zu halten, pragmatischer Natur sein. Sie könnten die Norm etwa befolgen, um Strafen zu vermeiden oder weil sie hoffen, durch Befolgung der Norm soziale Vorteile zu erzielen. Wenn die Bürger:innen einer liberalen Gesellschaft nur aus pragmatischen Gründen die Normen der politischen Moral befolgen würden, würde dies bedeuten, in einen Modus Vivendi im Rawls’schen Sinne zurückzufallen, von dem wir annehmen, dass er instabil wird, sobald sich das Machtgleichgewicht ändert. Um so einen Rückfall zu vermeiden, müssten Normen der politischen Moral von Bürger:innen auf eine Weise internalisiert werden, dass sie als moralische Imperative akzeptiert werden, was bedeutet, „dass ihre Missachtung nicht durch gewöhnliche Gründe des Selbst- oder Gruppeninteresses gerechtfertigt werden kann“ (Callan 2015, S. 8). Doch wie Callan nahe legt, würde eine solche Internalisierung zur gleichen Art von Erziehung führen wie eine auf Tugenden basierende Erziehung. Wenn Callan Recht hat, bedeutet dies aus einer Erziehungsperspektive, dass nichts gewonnen wird, wenn wir den traditionellen Tugendbegriff aufgeben, der sich auf Charaktereigenschaften bezieht. Bevor ich weitermache, möchte ich auf einige bestehende Darstellungen der Internalisierung von Normen verweisen, die nach denen Normen als moralische Gründe funktionieren können. Aus der Perspektive der politischen Theorie etwa gibt Gerald Gaus eine überzeugende evolutionäre Darstellung der Vorteile der Internalisierung von Regeln für eine Gesellschaft, sowie von der Art und Weise, wie internalisierte Regeln mit einer Praxis sozialer Moral verbunden sind (2011, Kap. III). Aus der Perspektive der individuellen praktischen Vernunft bieten Geoffrey Brennan et al. eine plausible Erklärung dafür, wie wir soziale Normen internalisieren und warum es rational ist, dies zu tun (2013, Kap. 9). Wenn es um Internalisierung als notwendige Voraussetzung für die Motivation politisch tugendhaften Verhaltens geht, scheint es, dass Normen genauso gut funktionieren können wie ein Streben nach Exzellenz. Die verbleibende Frage ist daher nicht, ob Normen Tugenden ersetzen können, sondern ob es in der politischen Erziehung einen Unterschied machen würde. Callan geht davon aus, dass Normen, die hinsichtlich ihrer motivationalen Kraft tugendhaften Charaktereigenschaften hinreichend ähnlich sind, zu denselben Erziehungsanforderungen führen müssen. Um die Wirkung von Tugenden zu haben, müssen sie nicht nur bloße soziale Normen sein, sondern moralische Normen mit einer „besonderen motivationalen Schwerkraft“ (2015, S. 8). Wenn Bürger:innen einen bestimmten Satzes von Normen als moralisch ansehen, schließt er, scheint ihr Erlernen sich nicht vom Erlernen von Tugenden zu unterscheiden, „weil die Förderung von Normen letztlich mit staatsbürgerlicher Erziehung [in der Tugenden gelehrt werden] zusammenfällt“ (2015, S. 9). Wie Callan ist McTernan sich der Relevanz bewusst, zwischen sozialen und moralischen Normen zu unterscheiden (McTernan 2014, S. 96, Fn. 48), geht aber
3.4 Zur Verteidigung sozialer Normen
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in ihrem Ansatz nicht weiter darauf ein. Vielleicht nimmt sie es aber als selbstverständlich hin, dass die Verhaltensmuster, die von liberalen Bürger:innen gefordert werden, auf sozialen Normen allein beruhen können, während Callans Position zu sein scheint, dass Normen, welche die Rolle politischer Tugenden übernehmen, moralische Normen sein und als solche internalisiert werden müssen. Um mehr darüber zu sagen, ob und wie ein normenbasierter Ansatz politischer Tugenden zum politischen Liberalismus passen könnte, benötigen wir zunächst eine klare Unterscheidung zwischen sozialen und moralischen Normen. Laut Brennan et al. können diese beiden Gruppen folgendermaßen unterschieden werden: Paradigmatische Beispiele für moralische Normen sind Normen, die in den meisten Gesellschaften vorhanden sind und Mord, Vergewaltigung und Folter verbieten, Normen, die Wahrheit zu sagen und der Versprechen einzuhalten, sowie Normen der Wohltätigkeit (2013, S. 57). Paradigmatische Beispiele für soziale Normen sind Normen, die das Nacktsein an öffentlichen Orten verbieten, Normen des Geschenkemachens und Normen der Anrede (2013, S. 57).
Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass hier der Begriff „moralische Normen“ auf „eine besondere Art von akzeptierten Regeln oder normativen Prinzipien“ verweisen soll, nicht „auf objektiv gültige Regeln oder normativen Prinzipien“ (2013, S. 57). Die Kategorisierung von Normen als moralisch in diesem Zusammenhang bedeutet, dass sie eine besondere motivierende Kraft für die Individuen haben, die sie akzeptieren. Die Prinzipien, auf denen diese akzeptierten Regeln beruhen, können objektiv gültig sein, aber ob sie es sind, ändert nicht die Tatsache, dass sie in einer bestimmten Gesellschaft als akzeptierte moralische Normen gelten. Wir können uns leicht eine Gesellschaft vorstellen, in der gleichgeschlechtliche Beziehungen als moralisch falsch angesehen werden, was sich in moralischen Normen gegen gleichgeschlechtliche Beziehungen widerspiegelt. Mitglieder dieser Gesellschaft, die diese besonderen moralischen Normen unterstützen, würden behaupten, dass gleichgeschlechtliche Beziehungen nicht nur in ihrer eigenen Gesellschaft, sondern in allen Gesellschaften moralisch falsch sind. Es scheint jedoch zweifelhaft, dass diese Art von Norm wirklich auf begründbaren moralischen Prinzipien beruht. Der relevante Unterschied zwischen moralischen und sozialen Normen ist die unterschiedliche Art von Verantwortung, die sie generieren. Im Fall von moralischen Normen ist es die individuelle Verantwortung, die wir als Individuen haben; wir sind anderen Individuen gegenüber verantwortlich, unabhängig davon, ob sie Mitglieder unserer Gesellschaft sind oder nicht. Normalerweise wird diese Art der moralischen Verantwortung auf „Eigenschaften, die wir und sie als individuelle Akteure besitzen“ (2013, S. 87) gestützt. Im Fall von sozialen Normen hingegen haben wir diese Verantwortung als Mitglieder einer Gruppe, für die diese Normen gültig sind. So sind wir nur anderen Mitgliedern dieser bestimmten Gruppe gegenüber verantwortlich und können auch nur andere Mitglieder dieser Gruppe für die Verletzung von Regeln, die damit verbunden sind, zur Rechenschaft ziehen. Im Gegensatz zu dem, was Callan zu behaupten scheint, nämlich, dass Normen, die Charaktermerkmale als Grundlage für politische Tugenden ersetzen,
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3 Politische Tugenden
moralische Normen sein müssen, scheint es mir, dass die Art von tugendhaftem Verhalten, in die sich liberale Bürger:innen einzufügen haben, mit sozialen Normen verbunden ist. Sicher, wenn Bürger:innen nach Prinzipien der Gerechtigkeit handeln, respektvoll und tolerant sein sollen, dann sollen sie dies zumindest in der politisch-liberalen Theorie im Rahmen unserer Gesellschaft oder unseres Staates tun. In einigen Fällen, zum Beispiel im Fall der Pflicht zur Bürgerlichkeit, ist offensichtlich, dass eine Norm, die diese Pflicht betrifft, auf eine bestimmte politische Gemeinschaft beschränkt ist, da die Verantwortung von Bürger:innen für ihre politischen Entscheidungen nur die anderen umfasst, die selbst Bürger:innen dieser politischen Gemeinschaft sind und als solche den Zwangsmaßnahmen unterliegen, die diese politischen Entscheidungen beinhalten. Die Einschränkung des Anwendungsbereichs ist bei anderen Tugenden, z. B. der Toleranz, weniger offensichtlich, da man argumentieren könnte, dass der Anwendungsbereich von Regeln, die die Toleranz gegenüber anderen bestimmen, von Kontext zu Kontext variiert. Aber es scheint mir ganz klar, dass die politische Tugend der Toleranz die Toleranz gegenüber Mitbürger:innen und nicht die Toleranz gegenüber allen Menschen ist. Für Rawls ist tugendhaftes politisches Verhalten moralisches Verhalten in Bezug auf Rechtfertigung. Moralische Normen, welche die Handlungen der Bürger:innen in einer wohlgeordneten Gesellschaft leiten, müssen „echte“ moralische Normen sein, insofern sie durch gültige philosophische Prinzipien gerechtfertigt werden müssen. Was ihren Anwendungsbereich bezüglich Verantwortung betrifft, handelt es sich jedoch soziale Normen: Sie sind nur für eine bestimmte Gesellschaft oder einen bestimmten Staat gültig.10 Daher sehe ich keinen Grund, Callan zuzustimmen, dass sie ein bestimmtes motivationales Gewicht haben müssen. Obwohl für Philosophen wie Rawls die Rechtfertigung ihrer Grundlagen eine moralische Frage ist, scheinen sie hinsichtlich ihrer Anwendung wegen ihres begrenzten Verantwortungsbereiches soziale Normen zu sein. Trotz dieser Argumente zugunsten von Normen ist es noch bei Weitem nicht entschieden, ob Normen in der liberalen Politiktheorie eine klare Alternative zu Tugenden bieten. Mein Eindruck ist, dass die empirische Forschung nicht so überzeugend ist wie behauptet wird, aber auch nicht einfach zugunsten von Tugenden abgelehnt werden kann. An dieseer Stelle möchte ich kein endgültiges Urteil über die Frage fällen, ob der politische Liberalismus bei der traditionellen Darstellung von Tugenden als guten Charakterzügen bleiben oder McTernans Empfehlung folgen und Normen als die „neuen politischen Tugenden“ übernehmen sollte. Es könnte sein, dass Bürger:innen durch soziale Normen effektiver
10 Meines Wissens gibt es in der politisch-liberalen Theorie keinen Unterschied zwischen Gesellschaften und Staaten, abgesehen von einem Unterschied zwischen einem Volk und einer Regierung eines Volkes, den Rawls in The Law of Peoples einführt und der die Regierung als „vertretenden und wirksamen Agenten“ eines Volkes bezeichnet (S. 38). Dies erscheint mir als unglücklicher Mangel, da keineswegs offensichtlich zu sein, dass die moralischen Sphären von Staat und Gesellschaft vollständig übereinstimmen. Dieser Mangel kann hier nicht jedoch nicht behoben werden. Für die vorliegenden Zwecke gehe ich davon aus, dass Staat und Gesellschaft die relevanten Normen der politischen Moral in ausreichendem Maße teilen.
3.5 Humesche Tugenden
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dazu motiviert werden, sich auf eine Weise zu verhalten, die wir als tugendhaft bezeichnen würden, und dass dasselbe Verhalten aufgrund von Charaktereigenschaften schwieriger zu vermitteln, weniger zuverlässig und vielleicht sogar eine illiberale Praxis ist. Es könnte auch sein, dass die Tugendethik am Ende erfolgreiche Antworten auf die durch die psychologische Forschung entdeckten Herausforderungen liefern kann.11 Angesichts des unklaren Standes der Debatte über Tugenden und Normen wäre es vorzuziehen, einen Ansatz für politische Tugenden zu haben, der die für den politischen Liberalismus erforderlichen Funktionalitäten liefert, ohne sich fest an eine der möglichen Grundlagentheorien zu binden. Daher schlage ich vor, dass der politische Liberalismus eine pragmatische Humesche Tugendethik übernehmen sollte, die all die Arbeit leisten kann, die erforderlich ist, während sie in Bezug auf substantielle Behauptungen über die Art der psychologischen Grundlage, die tugendhafte bürgerliche Verhaltensweisen haben sollten, neutral bleibt.
3.5 Humesche Tugenden Bisher wurden in diesem Kapitel zwei Hauptprobleme diskutiert: der umfassende theoretische Hintergrund, den der Aristotelische Grundsatz für eine politischliberale Tugendethik bereitstellt, und der unkomfortable Status von Tugenden als robusten Charaktereigenschaften im Licht empirischer Erkenntnisse. Angesichts dieser Probleme beginnt das Konzept der Tugenden im theoretischen Rahmen ziemlich unbequem zu wirken. Bisher wurden zwei offensichtliche Antworten auf diese Herausforderungen diskutiert: Wir könnten einfach behaupten, dass der Aristotelische Grundsatz und die damit verbundene Moralpsychologie ihren Weg in den übergreifenden Konsens finden würden und dass die Beweislast dafür, dass dies nicht der Fall ist, bei denen liegt, die das Gegenteil behaupten. Wir könnten uns auch auf die Seite von Callan stellen und argumentieren, dass Tugenden weit weniger problematisch sind, als die empirische Psychologie sie erscheinen lässt, und dass es keinen Grund gibt, sich Sorgen zu machen. Trotzdem scheinen mir keine dieser Lösungen die erforderliche Robustheit zu bieten, die ein liberales Theoriegerüst haben sollte. Ich möchte darum vorschlagen, weder das eine noch das andere zu tun, sondern stattdessen auf eine andere Darstellung der Tugenden zurückzugreifen. Um die Idee der politischen Tugenden für den politischen Liberalismus zu retten, erscheint es vielversprechend, eine Humesche Auffassung von Tugenden aufzunehmen, wie sie von Maria Merritt vorgeschlagen wurde. Dies wird es uns ermöglichen, als politische Liberale weiterhin mit dem Begriff von Tugenden zu operieren,
11 John
Doris zum Beispiel schlägt vor, dass es tugendhaft ist, sich der situationalen Variabilität des eigenen Verhaltens bewusst zu sein und dies bei der Planung der eigenen Handlungen zu berücksichtigen (1998, S. 517–520).
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3 Politische Tugenden
während wir uns gleichzeitig von jeglichem metaphysischen Ballast trennen, den man mit dem Aristotelischen Grundsatz in Verbindung bringen könnten, sowie von jeglichen empirischen Einwänden gegen Tugenden. Zugegebenermaßen wird dieser Ansatz weitere Überlegungen über das Verhältnis zwischen dem Guten und dem Rechten in der Rawls’schen Theorie erfordern. Welche Vorteile hat die Humesche Auffassung von Tugenden? Für Merritt resultiert die Inkongruenz zwischen aristotelischer Tugendethik und situationistischer Psychologie aus dem starken Grad an motivationaler Autarkie, die Charakterigenschaften in der Tugendethik zugeschrieben werden (2000, S. 374–376). Diese passen nicht gut zu den empirischen Erkenntnissen. Aus diesem Grund schlägt sie vor, dass wir zu einer Humeschen Auffassung von Tugenden wechseln sollten. Diese Strategie bietet uns gleichzeitig auch eine Lösung für die Spannung zwischen dem Aristotelischen Grundsatz und dem politischen-liberalen Anspruch, nicht auf umfassenden Ansichten zu beruhen. In Merrits Hume-Interpretation sind Tugenden „sozial oder persönlich nützliche Geistesqualitäten […], die im Laufe der Zeit auf die eine oder andere Weise stabil sein sollten“ (2000, S. 378). Im Gegensatz zu aristotelischen Tugenden muss die Stabilität von Humeschen Tugenden nicht auf jenen Qualitäten beruhen, die „eine besondere, autark aufrechterhaltene psychologische Form annehmen“ (2000, S. 378). Die Stabilität von Humeschen Tugenden beruht nicht auf der motivationalen Autarkie von Eigenschaften, die persönlich oder sozial von Nutzen sind. Während die relevanten Motivationen „Regelmäßigkeit und Konstanz“ (Hume 2007, S. 260) aufweisen müssen, um als tugendhaft beurteilt zu werden, ist es für ihn nicht der Fall, dass Charaktereigenschaften eine autarke motivierende Kraft sind. Stattdessen werden unsere „Gefühle, Handlungen und Umgangsformen“ – wie Hume in seiner Diskussion über Freiheit und Notwendigkeit in Bezug auf Willensfreiheit schreibt (2007, S. 259) – durch äußere und innere Einflüsse geprägt und aufrechterhalten. Mit anderen Worten, was unsere tugendhafte Verhaltensweise unter dem Humeschen Modell stabilisieren kann, kann eine Mischung aus stabilen (oder zumindest lokal, d. h. in einem bestimmten Bereich ähnlicher Situationen, stabilen) Charakterdispositionen sowie äußerer Faktoren des sozialen Lebens sein, die zu unbeständig wären, um aus der Perspektive der klassischen aristotelischen Tugendethik als akzeptabel zu gelten. Die Annahme, dass Normen ein Teil dieser äußeren Einflüsse sind, erscheint nur plausibel. Obwohl ein Humesches Modell von Tugenden sich von der Art und Weise unterscheidet, wie Rawls Tugenden definiert, ist es vollkommen kompatibel mit der Art und Weise, wie er sie in seinem politischen Liberalismus einsetzt. Wie Merritt schreibt: [W]as das Humesche normative Ideal der tugendhaften Person uns vorführt, ist eine Person, mit der in jeglicher Art von kooperativer sozialer Beziehung zu leben vernünftig wäre – im Gegensatz zur aristotelischen Person, die eine Reihe von korrekten, rational gut begründeten Einstellungen beherrscht, welche praktische Entscheidungen regulieren (2000, S. 379).
3.5 Humesche Tugenden
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Es scheint, dass Humesche Tugenden viel mehr „politisch“ sind als aristotelische, insofern sie weniger auf ein Ideal dessen fokussiert sind, was das gute Leben für Einzelne bedeutet, was sie zu hervorragenden Kandidaten für die Modellierung der Art von politischen Tugenden macht, die der politische Liberalismus benötigt. Sie bieten eine Lösung für die Probleme der Umfassendheit und des Perfektionismus, die mit dem Aristotelischen Grundsatz verbunden sind. Durch die Verwendung einer Humeschen Konzeption von Tugenden können politische Liberalen agnostisch bleiben, welcher Komponente die relevante Arbeit bei der Motivation tugendhaften Verhaltens von Bürger:innen zukommt, psychologischen Verhaltensweisen oder dem Befolgen von Normen. Alternativ könnte es der Fall sein, dass nur eine Kombination von beidem zu den gewünschten Ergebnissen führt. In jedem Fall werden keine weiteren Annahmen über die Natur von Exzellenz oder darüber gemacht, was zum menschlichen Gedeihen beiträgt. Nehmen wir den Gerechtigkeitssinn als ein Beispiel dafür, wie Humesche Tugenden für den politischen Liberalismus funktionierenund vergleichen wir die verschiedenen Möglichkeiten, politische Tugenden zu verstehen, . In der ursprünglichen Konzeption politischer Tugenden identifizieren Bürger:innen das Handeln in Übereinstimmung mit den Prinzipien der Gerechtigkeit als eine komplexe und herausfordernde Aufgabe, die sie meistern wollen. Dies bietet, soweit es Rawls angeht, die notwendige intrinsische Motivation für gerechtes soziales Verhalten. Mit der Humeschen Darstellung stehen uns nun mehrere Erklärungsansätze für politisch tugendhaftes Verhalten zur Verfügung. Erstens könnten Bürger:innen (zumindest einige von ihnen) tatsächlich einen stabilen Charakterzug haben, der sie dazu veranlasst, hervorragend in gerechter Kooperation mit ihren Mitbürger:innen zu sein. Zweitens könnten durchschnittliche Bürger:innen selbst dann, wenn sie diese Charakterzüge nicht haben, als menschliche Wesen einen Wunsch haben, soziale Normen zu befolgen, um die Erwartungen anderer bezüglich sozialer Kooperation zu erfüllen. Daher sind sie immer noch ausreichend motiviert, um sich den Gerechtigkeitsgrundsätzen zu fügen (ich werde im Folgenden mehr darüber sagen, ob dies die richtige Art der Motivation ist). Drittens könnten Bürger:innen manchmal durch einen Wunsch nach Exzellenz in der sozialen Interaktion motiviert werden, manchmal aber könnte dieser Wunsch auch zu schwach sein, um sich gegen widersprechende egoistische Wünsche durchzusetzen. An diesen Gelegenheiten könnte ihr Wunsch, Normen zu folgen, ein Ausweichmechanismus sein, der eine allgemeine Stabilität sozialer Zusammenarbeit sicherstellt. Eine mögliche Sorge muss hier dennoch angesprochen werden. Macht diese Nicht-Festlegung, die Humesche Tugenden für den politischen Liberalismus meiner Ansicht nach attraktiv macht, sie nicht gleichzeitig unvereinbar mit den Ambitionen von Rawls’ Moralpsychologie hinsichtlich von Stabilität aus den richtigen Gründen? Eine der Erklärungen dafür, warum Bürger:innen motiviert sind, in Übereinstimmung mit den Regeln und Einschränkungen gerechter Grundsätze zu handeln, ist, dass sie diese aus zwei Arten von Gründen für gut halten. Die erste Art von Grund ist instrumentell: „Die politische Gesellschaft […] sichert
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3 Politische Tugenden
ihnen das Gut der Gerechtigkeit und die sozialen Grundlagen gegenseitiger Selbstachtung. […] In der Sicherung dieser Dinge sichert die politische Gesellschaft ihre grundlegenden Bedürfnisse“ (Rawls 2005b, S. 203). Es ist im eigenen Interesse von Bürger:innen, das Rechte zu unterstützen. Die zweite Art von Grund ist intrinsisch und um das Rechte auch intrinsisch motivierend zu machen, denkt Rawls, dass etwas wie die auf dem Aristotelischen Grundsatz beruhende Moralpsychologie notwendig ist. Auf diese Weise werden sie auch das Rechte als ihr Gutes anerkennen, und ihre intrinsische Motivation basiert auf dem intrinsischen Wert ihres Guten. Während Humesche Tugenden gut für den instrumentellen Teil funktionieren, gibt es vielleicht einen besonderen Aspekt der durch ein menschliches Gut generierten intrinsische Motivation (in diesem Fall das Streben nach Exzellenz), dass diese Darstellung vielleicht nicht einfängt. Die Humesche Darstellung bleibt agnostisch bezüglich des exakten Motivators für ein bestimmtes Verhalten – es kann ein Charakterzug, eine soziale Norm, oder eine Kombination aus beiden sein. Aber es scheint so, als ob wir mit Tugenden im klassischen Sinn enden, wenn wir erwarten, dass die relevante Motivation mit intrinsischen Werten verbunden ist. Man könnte argumentieren, dass nur eine klassische Darstellung von Tugenden die Verbindung zwischen intrinsischem Wert und intrinsisch motivierten, vorteilhaften Verhalten erfassen kann. Es ist sicherlich so, dass Bürger:innen für Rawls intrinsisch motiviert sein müssen, um auf eine politisch tugendhafte Weise zu handeln. Gäbe es für sie nur instrumentelle Gründe, tugendhaft zu handeln, etwa weil diese Art von Verhalten ihnen die Vorteile gegenseitiger Kooperation sichert, stünde es ihnen frei, in einer für andere nachteilige Weise zu handeln, wann immer sie den Eindruck hätten, dass eine solche Handlung mehr Vorteile hätte als eine politisch tugendhafte Handlung. An diesem Punkt könnte etwas Klärung bezüglich der Art und Weise nötig sein, in welcher politische Tugenden diese intrinsische Motivation generieren können. Die Anforderung, dass eine intrinsische Motivation vorliegen muss, bedeutet nicht unbedingt, dass das Handeln auf eine durch politische Tugenden unterstützte Weise mit einem Gut verbunden sein muss, dass von einem objektiven Standpunkt aus intrinsisch wertvoll ist. Es kann hinreichend sein, wenn Bürger:innen den relevanten Handlungen einen subjektiven Wert zuordnen, um stabiles, nicht-opportunistisches Verhalten sicherzustellen. Es scheint keine weitere Notwendigkeit für objektive intrinsische Wert zu geben, wie etwa durch den Exzellenz-Anspruch des Aristotelischen Grundsatzes. Solange Bürger:innen Toleranz, gegenseitigen Achtung usw. unterstützen, weil sie diese erhaltensmuster als wertvoll ansehen, ist es nicht relevant für politische Stabilität, ob diese Praktiken einen objektiven intrinsischen Wert haben. Im Fall von Normen, die zu politisch tugendhaftem Verhalten führen, geht die intrinsische Motivation mit der Internalisierung dieser Normen einher. Wie ich bereits zuvor argumentiert habe, sollten solche Normen, die politische Tugenden ersetzen könnten, als soziale Normen im Sinne von Brennan et al definiert werden. Bürger:innen nehmen diese Normen nicht lediglich als miteinander geteilte
3.6 Moralische Formierung in der Tugenderziehung
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Praxis wahr, sondern sie haben normativen Haltungen, die mit dieser Praxis korrespondiert. In ersterem Fall erkennen Bürger:innen an, dass „wir es hier so machen“, aber kein besonderer moralischer Wert auf diese Praktiken gelegt wird. In letzterem gehört zu den Gründen, diesen Normen zu folgen, die Idee, dass es in einem moralischen Sinn gut ist, dies zu tun. Sie werden also nicht-instrumentelle Gründe haben, sich gemäß den sozialen Normen zu verhalten, die gerechtes, faires, tolerantes und respektvolles Verhalten für Bürger:innen vorschreiben (Brennan et al. 2013, S. 215–217). Natürlich wird ein Teil der Bevölkerung diesen Normen nicht folgen, sondern sich ihnen nur aus instrumentellen Gründen anpassen, z. B. weil sie einen individuellen Nutzen darin sehen oder weil sie Strafen für nicht konformes Verhalten vermeiden wollen.12 Aber dies ist an sich kein Argument gegen Normen, die die Rolle von Tugenden in der politischen Theorie einnehmen, solange die Mehrheit der Bevölkerung aus der Überzeugung heraus, dass ihr Verhalten an sich wertvoll ist, gerecht handelt. Was Bildung betrifft, so sieht es so aus, als ob das Humesche Modell beide Wege offen lässt – die Einprägung von Charaktermerkmalen sowie das Erlernen von Normen. Welcher der beiden Wege im Hinblick auf Effizienz oder Neutralität den Vorzug zu geben ist, kann weiterhin diskutiert werden, abhängig von neuen empirischen Erkenntnissen oder des jeweiligen sozialen Kontexts. Unabhängig davon, welcher Weg machbar oder erfolgreicher sein wird, es wird weiterhin einen Bedarf an einer Art staatsbürgerlicher Bilidung geben, aber nicht aus den Gründen, die Callan anführt. Wenn im Fall von Tugenden das Ziel der staatsbürgerlichen Bildung darin bestehen soll, die Entwicklung der richtigen Art von Charaktermerkmalen zu erleichtern, so wird im Fall on Normen das Ziel darin bestehen, die Tendenz zu stabilisieren, der richtigen Art von Normen zu folgen. Obwohl das Bedürfnis, Normen zu folgen, sehr wahrscheinlich angeboren ist, können die konkreten Normen, denen Bürger:innen folgen, variieren. Um sicherzustellen, dass sie zumindest eher bereit sind, politisch-liberale Normen zu befolgen, wird Bildung so hilfreich sein wie bei der Entwicklung der richtigen Art von Tugenden.
3.6 Moralische Formierung in der Tugenderziehung Aus einer praktischeren Perspektive ist die Frage, welche Darstellung von Tugenden für den politischen Liberalismus und eine liberale politische Bildung ausreichend ist, eher abstrakt. Unabhängig von der zugrunde liegenden Darstelung von Tugenden, ob aristotelischer oder Humescher Art, kann man auch über die Auswirkungen für angewandte Fragen staatsbürgerlicher Bildung nachdenken.
12 Dies kann als Externalisierung von Normen bezeichnet werden, siehe Brennan et al (2013, S. 219–224).
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3 Politische Tugenden
Das Erlernen politischer Tugenden bleibt eine Art der moralischen Erziehung, selbst wenn wir glauben, dass das Befolgen von Normen eigentlich die richtige Art ist, den Tugendbegriff zu verstehen. In dieser Hinsicht könnte Callan Recht haben – es könnte keinen großen praktischen Unterschied zu einer hinreichenden Formierung solcher Tugenden in Kindern geben. Welche als legitim geltenden Mittel der Tugenderziehung können von Schulen eingesetzt werden und welche Art von Bildungsstrategien müssen aus einer politisch-liberalen Perspektive als unzulässig betrachtet werden? Für eine nützliche Trennung von legitimen und unzulässigen Formen der Einprägung politischer Tugenden können wir uns die Unterscheidung von Michael Hand zwischen moralischer Formierung und moralischer Untersuchung zunutze machen, zwei verschiedenen Bildungswegen, um die Bindung von Schüler:innen an moralische Standards zu fördern. Moralische Formierung zielt (hauptsächlich) auf Fügsamkeit auf einer „konativen, affektiven und verhaltensbezogenen“ (2018, S. 35) Ebene ab, bei der in Kinden eine Neigung, nach bestimmten moralischen Standards zu handeln, gebildet wird, was auch als Einprägung tugendhaften Verhaltens verstanden werden kann. Während Unterricht, der auf moralischer Formierung setzt, eine Reihe von direkten und indirekten pädagogischen Methoden einsetzen kann (2018, S. 30–35), ist seine Natur präskriptiv – Kinder und Jugendliche sollen lernen, nach gültigen moralischen Standards zu handeln. Moralische Untersuchung konzentriert sich hingegen auf die Begründung moralischer Standards und ist eine kognitive Form der moralischen Erziehung, die rationale Argumente, Diskussionen und Deliberation umfasst (2018, S. 37). Laut Hand erfordert vollständige moralische Bindung beide Aspekte der moralischen Erziehung, was auch im Zusammenhang politisch-liberaler staatsbürgerlicher Bildung gilt. Aus dieser Perspektive erfordert die Einprägung politischer Tugenden eine gewisse Form der moralischen Formierung, was präskriptive Erziehung bedeutet. Selbst wenn man nicht der Meinung ist, dass die Kultivierung politischer Tugenden bei Kindern „soul engineering“ ist, könnten Bedenken hinsichtlich von Grenzen legitimer präskriptiver moralischer Formierung bestehen. Schließlich ist eines der zentralen Prinzipien des politischen Liberalismus seine Neutralität gegenüber verschiedenen moralischen Weltanschauungen. Wenn der politisch-liberale Staat sich an formierender moralische Erziehung beteiligt, ist es notwendig, zwischen legitimen und unzulässigen Formen der moralischen Formierung zu unterscheiden. Hands Darstellung moralischer Erziehung bietet einige hilfreiche Richtlinien für diese Unterscheidung. Er schlägt einen dreistufigen Ansatz moralischer Erziehung vor, der die Arten der jeweils relevanten moralischen Standards unterscheidet (2018, S. 76–77): 1. Für ‚gerechtfertigte moralische Standards und solide Rechtfertigungen‘ ist die vollständige moralische Bindung der Kinder das Ziel, das durch ‚eine Kombination aus moralischer Formierung und angeleiteter moralischer Untersuchung‘ erreicht wird.
3.6 Moralische Formierung in der Tugenderziehung
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2. Standards und Begründungen, ‚deren Status und Richtigkeit Gegenstand vernünftiger Meinungsverschiedenheiten sind‘, sollten mit Hilfe von ‚nichtgeleiteter moralischer Untersuchung‘ unterrichtet werden, um Kindern zu ermöglichen, sich eigene Gedanken zu diesen Fragen zu machen. 3. Bei ungerechtfertigten Standards und fehlerhaften Rechtfertigungen sollte der Unterricht den Weg der ‚gerichteten moralischen Untersuchung‘ einschlagen, der eine Zuwendung zu solchen Standards und Argumenten verhindert. Aus der Perspektive politisch-liberaler Bildung fallen die Prinzipien der Gerechtigkeit und andere moralische Standards, die Teil eines übergreifenden Konsenses der Gesellschaft sind, in die erste Kategorie. Für eine wohlgeordnete Gesellschaft werden diese Standards aus der Perspektive jeder vernünftigen umfassenden Lehre in dieser Gesellschaft als ordnungsgemäß gerechtfertigt angenommen. Sie könnten daher legitimerweise sowohl über den Weg moralischer Formierung sowie moralischer Untersuchung unterrichtet werden. Es muss jedoch gesagt werden, dass Hand selbst wahrscheinlich mit dieser Aussage nicht einverstanden wäre. Hands Darstellung von Bildung zielt auf die Frage ab, welche Mittel und Methoden legitim sind, um eine Bindung (oder ‹subscription›, wie er es nennt) zu moralischen Standards zu fördern, die von einer Gesellschaft weitgehend geteilt werden. Seiner Ansicht nach ist dies ein umfassenderes und anspruchsvolleres Projekt als die Erziehung zukünftiger politisch-liberaler Bürger:innen, da „eine politische Auffassung von Gerechtigkeit“ kein „Moralkodex in dem Sinne ist, der uns derzeit interessiert“ (2018, S. 51). Eine kleinere Sorge könnte sein, dass Hands Darstellung, so nützlich sie ist, überhaupt nicht auf politisch-liberale Tugenderziehung zutrifft. Diese Sorge scheint unbegründet zu sein, da sich die Art der politischen Tugenden, die von Bürger:innen verlangt werden, sich in Bezug auf ihre unterliegenden psychologischen Mechanismen nicht von anderen Tugenden zu unterscheiden scheinen. Unabhängig davon, wie genau Tugenden in diesem Zusammenhang am besten zu verstehen sind, ob in einem aristotelischen oder einem Humeschen Sinne, wäre es eher seltsam, wenn die Tugend der Toleranz eine kategorisch andere Unterrichtsstrategie erfordern würde als z. B. die Tugend der Ehrlichkeit. Die oben ausgeführte Kategorisierung von Bildungsstrategien für moralische Erziehung erscheint daher für politische Tugenden ebenso nützlich. Eine größere Sorge könnte Hands Behauptung sein, dass ein übergreifender Konsens nicht für das ausreicht, was er für die moralische Erziehung erforderlich hält. In dem von Rawls verwendeten mehrstufigen Rechtfertigungsprozess, durch den eine politische Konzeption von Gerechtigkeit zu rechtfertigen, nimmt Hand den Versuch, einen übergreifenden Konsens zu generieren, als den dritten und letzten Schritt an. Im Gegensatz zu den vorherigen Schritten ist die Bildung eines übergreifenden Konsenses eine Übung in der öffentlichen Rechtfertigung, und nur wenn alle Bürger:innen zustimmen, kann ein Moralkodex auf eine ausreichend starke Weise gerechtfertigt werden, um auch moralische Formierung als Bildungsstrategie zu rechtfertigen. Das Problem jedoch, das Hand in diesem
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3 Politische Tugenden
usammenhang für seine Darstellung moralischer Erziehung sieht, ist, dass man Z in modernen liberalen Gesellschaften entweder keinen substantiellen Moralkodex finden wird, der dieses Niveau der öffentlichen Unterstützung erreicht, oder dass die Menge der moralischen Standards, zu denen ein übergreifender Konsens erreicht werden kann, zu klein ist, um eine soziale Ordnung effizient zu gestalten (2018, S. 53–55). Vielleicht ist dies wirklich der Fall für eine voll ständige soziale Moral, die mehr umfasst als eine politische Auffassung von Gerechtigkeit. Eine politischliberale Darstellung von Bildung ist jedoch mit letzterem befasst, weshalb ich nicht denke, dass die Bedenken bezüglich des übergreifenden Konsenses darauf einen Einfluss haben. Zunächst muss der übergreifende Konsens im politischen Liberalismus keine solche rechtfertigende Last tragen, wie Hand es für die Rechtfertigung eines vollständigen Moralkodexes erwartet. Eine politische Auffassung von Gerechtigkeit wie Gerechtigkeit als Fairness ist schmaler und spezifischer, so dass es für alle vernünftigen Lehren viel einfacher sein sollte, sie in ihre normativen Rahmenwerke zu integrieren. Die Chancen eines übegreifenden Konsenses werden weiter verbessert durch die Anforderung, dass umfassende Lehren, die zu berücksichtigen sind, vernünftig sein müssen, d. h. bereits einige grundlegende Merkmale großer politischer Gemeinschaften akzeptieren, wie die Bürden des Urteilens und die sich daraus ergebenden Tatsache, dass nicht alle politisch vernünftigen Bürger:innen die gleiche umfassende Lehre teilen. Angesichts dieser Tatsache kann man ziemlich sicher zu behaupten, dass der politische Liberalismus Bildungsstrategien moralischer Formierung und angeleiteter moralischer Untersuchung für die Einprägung politischer Tugenden rechtfertigt. Hands mehrschichtiger Ansatz zur moralischen Erziehung lässt sich auf politisch-liberale Bildung anwenden, da politisch-liberale Anforderungen weniger anspruchsvoll sind als die eines vollständigen Moralkodex wie Hand ihn sich vorstellt. Konkret ausgedrückt, können Schulen legitim autoritative Methoden einsetzen, um politische Tugenden zu unterrichten, idealerweise in Kombination mit einer gezielten Untersuchung, die Gründe für diese Vorgehensweise liefert und es Kinder zu verstehen ermöglicht, warum es wertvoll ist, diese Tugenden zu entwickeln. Während die zugrunde liegenden Mechanismen politischer Tugenden umstritten sein können, wie ich am Anfang dieses Kapitels ausgeführt habe, muss ihre Entwicklung im Interesse jeder umfassenden Lehre in einer politischliberalen Gesellschaft sein, die als vernünftig gilt. Auf einer späteren Bildungsstufe, wenn die Fähigkeit der Kinder zur Vernunft ausreichend entwickelt ist, können jedoch komplexere und nicht angeleitete Untersuchungen auf das Thema der politischen Tugenden angewandt werden. Dies scheint ein wichtiger Schritt, um die Rolle politischer Tugenden für die übergeordnete politische Konzeption von Gerechtigkeit transparent zu machen; so wird es Kindern als zukünftigen Bürger:innen auch möglich, selbst zu verstehen, warum es gerechtfertigt ist, von ihnen zu verlangen, diese Tugenden zu entwickeln.
3.7 Indirekte Beiträge zur Tugenderziehung
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3.7 Indirekte Beiträge zur Tugenderziehung Obwohl die Formierung politischer Tugenden prima facie legitim ist, könnte es noch bestimmte Fälle geben, über die man besorgt sein könnte. In modernen Schulen findet nicht alles, was zur Einprägung politischer Tugenden führt, durch direkten, autoritativen Unterricht in dedizierten Bürgerkunde-Stunden statt. Vielmehr kann die Entwicklung politischer Tugenden durch zusätzliche indirekte Maßnahmen gefördert werden. Schulen könnten zum Beispiel darauf abzielen, Schüler:innen unterschiedlicher sozialer und ethnischer Herkunft zu mischen, indem sie Anreize für die Teilnahme an Gruppenaktivitäten außerhalb des Unterrichts setzen. Dies würde den Kontakt zwischen Gruppen erleichtern, die ansonsten weniger oder gar keinen Kontakt hätten, und könnte so die Entwicklung von Toleranz sowie eines Gerechtigkeitssinns fördern, der sensibel für unterschiedliche sozioökonomische Hintergründe ist. Anreize für Eltern, ihre Kinder in bestimmte Schulen zu schicken, um so Kinder unterschiedlicher Herkunft in Schulen zu mischen, wären eine weitere Möglichkeit, Tugendentwicklung zu unterstützen. Maßnahmen wie diese tragen indirekt zur Vermittlung politischer Tugenden bei und würden in die breite Kategorie fallen, die allgemein als Nudging bezeichnet wird. Nudging ermöglicht eine Art von ‚libertärem Paternalismus‘ (Thaler und Sunstein 2003, 2008), der mit der Idee einer robusten individuellen Wahlfreiheit vereinbar ist. Dies liegt daran, dass die Anwendung von Nudging-Strategien einer Zielgruppe keine Wahlmöglichkeiten nimmt, auch wenn einige dieser Möglichkeiten als nachteilig oder schädlich gelten können. Stattdessen ändert sich durch solche Strategien die Wahlarchitektur so, dass es für die betroffenen Personen wahrscheinlicher wird, eine Wahl zu treffen, die mit paternalistischen Vorstellungen darüber, was gut für sie ist, übereinstimmt. Wenn politisch-liberale Bildung indirekte Mittel der Tugendbildung einsetzen soll, sollte sie auch in der Lage sein, kritischen Bedenken zu begegnen. Eine wesentliche Sorge im Zusammenhang mit Nudging ist, dass es die Autonomie von Menschen untergräbt und ihre echten Wünsche und Absichten untergräbt (siehe z. B. Schmidt und Engelen 2020). Diese Sorge scheint jedoch unbegründet zu sein, solange für eine indirekte Tugendbildung eingesetzte Nudging-Maßnahmen grundlegende Bedingungen erfüllen, wie z. B., dass sie öffentlich rechtfertigbar und in gewissem Maße transparent sind, und dass sie mit lediglich geringem Aufwand von denjenigen vermieden werden können, die sich dagegen entscheiden (siehe Mills 2015, S. 500–502). Die wichtigste Bedingung wäre jedoch, dass Nudging-Maßnahmen „mit einem authentisch bevorzugten Endziel eines kompetenten Individuums“ (Mills 2015, S. 502) übereinstimmen müssen, um inviduelle Autonomie nicht zu untergraben. Diese letzte Anforderung wirft zwei Fragen auf. Die erste betrifft die Autonomie von Kindern und ob heteronome Effekte von Nudging auf Kinder in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen – schließlich sind Kinder bis zu einem gewissen Alter nicht vollautonome Individuen und es werden regelmäßig Entscheidungen für sie und über sie getroffen. Ich werde im nächsten Kapitel mehr
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zu Fragen bezüglich Autonomie in der Bildung sagen, aber man sollte nicht vergessen, dass die Fähigkeit von Schüler:innen zur Autonomie im Laufe ihres Schullebens zunimmt. Es scheint daher moralisch erforderlich zu sein, Jugendliche in der späten Sekundarstufe bezüglich ihrer Autonomie in vielerlei Hinsicht ähnlich zu behandeln wie Erwachsene und die betreffenden Maßnahmen ihnen gegenüber zu rechtfertigen und transparent zu machen.13 Die zweite Frage wäre, ob die Entwicklung hinreichender politischer Tugenden wirklich ein authentisch bevorzugtes Endziel für die von Nudges anvisierten Individuen ist. Man kann davon ausgehen, dass diese Bedingung bei Nudges, die auf die Entscheidung von Eltern zur Schulwahl ihrer Kinder abzielen, relativ leicht zu erfüllen ist. Schließlich haben Bürger:innen in einer wohlgeordneten Gesellschaft ein echtes Interesse daran, zum weiteren, stabilen Bestehen der liberal-demokratischen Gesellschaft, in der sie leben, beizutragen, und daher ein Interesse daran, dass ihre Kinder die entsprechenden politischen Tugenden entwickeln. Im Fall von Nudges, die sich an Schüler:innen richten, ist die Sache nicht ganz so klar. Sie werden vielleicht erst später im Leben, wenn sie erwachsen sind und bereits ausreichend durch politisch-liberale Bildung geprägt wurden, ein Interesse daran entwickeln, politisch tugendhaft zu sein. In diesem Fall scheint diese Bedingung erst nachträglich erfüllbar zu sein und das nur, wenn sie im Prozess der moralischen Formierung selbst ignoriert wird. Man sollte jedoch nicht vergessen, dass Nudging zwar ursprünglich im Hinblick darauf diskutiert wurde, Menschen dabei zu unterstützen, bessere Entscheidungen in ihrem eigenen Interesse zu treffen, aber dass Nudging auch zur Lösung von Koordinationsproblemen verwendet werden kann und wird, bei denen starke Eigeninteressen einer der Faktoren sind, die koordinierte Aktivitäten erschweren (etwa beim Recycling, bei dem es aus einer kurzfristigen Perspektive rational ist, seinen Müll nicht zu sortierieren und Flaschen nicht zum öffentlichen Glascontainer zur bringen, um Zeit zu sparen, es aus einer langfristigen Perspektive aber durchaus rational ist, dies zu tun). Nudging für diese Zwecke kann nicht mit Bezug auf das unmittelbare Eigeninteresse und den Wohlergehen einer Person begründet werden, sondern vielmehr mit Bezug auf zentralen Ziele des politischen Liberalismus, nämlich Stabilität aus den richtigen Gründen und Legitimität. Im Kontext einer wohlgeordneten Gesellschaft werden alle vernünftigen Bürger:innen zustimmen, dass Kinder politische Tugenden entwickeln sollten, was ich als passende Rechtfertigung für die letzte Bedingung fürzulässiges Nudging auffasse. Aus einer leicht idealisierten Perspektive heraus sollten Nudges,
13 Mit
Transparenz meine ich nicht die vollständige Transparenz über jedes Detail der Wahlarchitektur. In der empirischen Literatur gibt es bisher keine Einigkeit darüber, ob detailliertes Wissen über eine bestimmte Wahlarchitektur, oder ggf. die Menge an Details, die beabsichtigten Auswirkungen on Nudging auf Entscheidungen aufhebt. Um die Autonomie von Menschen, die Nudging ausgesetzt sind, zu respektieren, scheint es jedoch zumindest erforderlich zu sein, deutlich zu signalisieren, dasseine Art von Nudging-Strategie angewandt wird.
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die Schüler:innen dabei unterstützen, politische Tugenden zu entwickeln, Ziele sein, die sie authentisch unterstützen. Eine ähnliche Sorge, die jedoch spekulativer ist (derzeit jedenfalls noch), betrifft tiefergehende Interventionen in die moralischen Dispositionen von Schülerinnen. Wenn ein politisch -liberales Staatswesen legitimerweise Strategien wie das Nudging einsetzen kann, um die Entwicklung politischer Tugenden zu verbessern, könnte es sie dann auch legitimerweise durch biotechnologische Mittel verbessern? Befürworter eines moralischen Bio-Enhancements argumentieren, dass die durchschnittlichen menschlichen moralischen Fähigkeiten nicht ausreichen, um mit den normativen Herausforderungen moderner Massengesellschaften und deren globalen, langfristigen Auswirkungen umzugehen, da diese weit über den unmittelbaren moralischen Horizont einzelner Individuen hinausgehen. Wenn es technologische Mittel gibt, um die menschlichen moralischen Fähigkeiten zu verbessern, so die Behauptung, erscheint es notwendig, solche aus Klugheitserwägungen sowie aus einer moralischen Perspektive einzusetzen (siehe z. B. Persson und Savulescu 2012, 2019; DeGrazia 2014). Man könnte versucht sein, hier auch politische Tugenden einzubeziehen. Eine spekulative biotechnische Verbesserung politischer Tugenden könnte zum Beispiel die Form eines Aerosols haben, das chemischen Komponenten enthält, welche die Aufnahme von Inhalten im Staatsbürgerkunde-Unterricht verbessert sowie Verhaltensanpassung von Schüler:innen unterstützt. Wenn sie speziell in im Staatsbürgerkunde-Unterricht oder in Schulen allgemein angewendet wird, könnte eine solche Intervention hypothetisch die Entwicklung politischer Tugenden unterstützen.14 Es gibt verschiedene Vorschläge, wie eine politisch-liberale Gesellschaft Fragen moralischen Bio-Enhancements behandeln sollte. Man kann argumentieren, dass die Entwicklung und Bereitstellung solcher Technologien nach Standards der öffentlichen Vernunft entschieden werden müssen, was viele potentielle Anwendungen aufgrund unterschiedlicher umfassender Ansichten darüber, was ein:e moralische:r Akteur:in zu sein bedeutet, ausschließen würde (siehe Baccarini 2015, Kap. 6). Alternativ kann man argumentieren, dass politischer Liberalismus die öffentliche Anwendung von Technologien für moralisches Enhancement ablehnt, sie jedoch nicht kategorisch in privaten Kontexten ausschließt (siehe Paulo 2016).15 Im Kontext öffentlicher Bildung scheint es ziemlich deutlich, dass Strategien für moralisches Enhancement in Schulen nicht zulässig sind, da es sehr unwahrscheinlich ist, dass alle vernünftigen
14 Soweit
mit bekannt, gibt es noch keine Technologie, die Menschen auf so eine spezielle Weise beeinflussen würde, wie ich es hier beschreibe, und es ist gut möglich, dass es sie nie geben wird. Es ist dennoch vorstellbar und ähnliche Technologien könnten in absehbarer Zukunft aufkommen. 15 Dies führt zur Frage, ob Eltern aus einer politisch-liberalen Perspektive ihr Kind moralisch em Enhancement unterziehen dürften, wenn sie die Mittel hätten und überzeugt wären, dass es sich um eine wertvolle Modifikation handelt. Die Untersuchung dieser Frage würde hier auf Abwege führen, wäre es aber wert, an einem anderen Ort angesprochen zu werden.
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umfassenden Lehren in einer wohlgeordneten Gesellschaft diese als wünschenswert und zulässig betrachten würden. Im Gegensatz zu legitimem Nudging könnten biotechnische Strategien, die in Schulen anwendbar wären, nicht ohne weiteres vermieden werden. Stattdessen wären für viele vernünftige Bürger:innen genau die Art von soul engineering, die liberale Bildung vermeiden sollte. Abschließend gesagt können manche indirekte Strategien zur Entwicklung politischer Tugenden bei Schüler:innen zulässig sein und öffentlich begründet werden, wie im Fall von Nudging, andere jedoch müssen ausgeschlossen werden, wie (bisher spekulative) Maßnahmen zu moralischem Enhancement. Dies zeigt jedoch, dass indirekte Methoden der politisch-liberalen Tugendbildung weder kategorisch ausgeschlossen noch ohne weitere Rechtfertigung unterstützt werden können.
3.8 Fazit In diesem Kapitel habe ich zu argumentieren versucht, dass es zwei erhebliche Problem mit der Vorstellung von politischen Tugenden gibt, die auf dem Aristotelischen Grundsatz beruht, den Rawls in A Theory of Justice einführt und in Political Liberalism beibehalten hat. Eines davon ist die zumindest teilweise umfassende Annahme über die menschliche Natur, die eine Rechtfertigung für perfektionistische politische Maßnahmen liefern könnte, das andere ist die allgemeine Frage, ob Tugenden ein realistischer Baustein für Stabilität in der liberalen politischen Theorie sein können, wenn sie als stabile Charaktermerkmale verstanden werden. Die Antwort auf beide diese Probleme kann eine Humesche Auffassung von Tugenden sein, die agnostisch über die genaue motivationale Quelle des Verhaltens bleibt, das Bürger:innen einer liberal-demokratischen Gesellschaft an den Tag legen sollten. Unter dieser Auffassung wird davon ausgegangen, dass Bürger:innen über die notwendigen politischen Tugenden erfügen, wenn sie nach den Prinzipien der Gerechtigkeit und anderen Anforderungen des politischen Liberalismus handeln, unabhängig davon, ob ihr Handeln von Charaktermerkmalen oder dem Befolgen von Normen motiviert wird. Um sinnvoll über eine politisch-liberale Darstellung von Bildung zu sprechen, erscheint es sinnvoll, den von Rawls ursprünglich eingeführten Aristotelische Grundsatz abzulehnen und stattdessen ein Humescher Minimalist hinsichtlich politischer Tugenden zu werden. Diese Strategie schließt keine der möglichen Erklärungen dafür aus, wie politische Tugenden tatsächlich funktionieren, und sie ermöglicht es uns immer noch, mit einer pragmatischen Auffassung von Tugenden zu operieren, die sich in einem großen Teil der Literatur zu liberaler politischer Theorie wiederfindet. Selbst nach dieser Klärung der theoretischen Grundlage politischer Tugenden bleiben jedoch Bedenken bezüglich der Neutralität und Legitimität der politischen Tugendenerziehung unter realistischen Bedingungen bestehen, da es so aussieht, als ob Tugenden zunächst auf präskriptive Weise gelehrt werden müssen, die
Literatur
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wenig Raum für autonomes Nachdenken und Abwägen lässt. Eine nähere Analyse der Mechanismen der moralischen Erziehung im Klassenzimmer zeigt jedoch, dass die präskriptive Erziehung politischer Tugenden als ein erster Schritt legitim ist, wenn Schüler:innen später in ihrer Ausbildung die Möglichkeit haben, die Werte zu diskutieren, mit denen sich politisch-liberale Bildung befasst, und über diese nachzudenken. Schließlich habe ich in diesem Kapitel auch verschiedene Arten der indirekten Tugendanerziehung in Schulkontexten bewertet, deren Legitimität stark von den genauen Maßnahmen und dem Rahmen abhängt, in denen sie angewendet werden. Während bestimmte Arten on Nudging zülässig sind, solange die Entscheidungsarchitektur für Eltern und Schüler:innen transparent ist und ein Ausstieg mit geringem Aufwand möglich ist, wären radikalere und bisher spekulativere Maßnahmen wie z. B. Bio-Enhancement-Technologien im Rahmen öffentlicher Bildung nicht zulässig, selbst wenn sie nur dazu verwendet würden, die Ausrichtung von Schüler:innen mit politisch-liberalen Werten zu unterstützen.
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Kapitel 4
Autonomie
Zusammenfassung In diesem Kapitel wird genauer auf die Rolle der Autonomie im politischen Liberalismus eingegangen und darauf, was eine Anforderung an die bürgerliche Autonomie für politisch-liberale Bildung bedeutet. Politischer Liberalismus lehnt jede Abhängigkeit von substantiellen Konzeptionen von Autonomie ab, die mit umfassenden ethischen Ansichten verbunden sind, welche nicht unbedingt von allen vernünftigen Bürger:innen geteilt werden. Stattdessen besteht politischer Liberalismus auf eine sogenannte politische Autonomie on Individuen, die sich nur auf deren Rolle als Bürger:innen bezieht. Rawls zufolge soll sich ein gerechter Staat jenweits dieser Anforderungen nicht nicht weiter um die Autonomie von Menschen kümmern. Aus einer Bildungsperspektive erscheint es jedoch schwierig, ein Konzept politischer Autonomie zu verstehen, ohne zunächst ein Konzept der persönlicher Autonomie zu haben. Daher argumentiert dieses Kapitel, dass sich der politisch-liberale Staat auch um die Entwicklung individueller Autonomie von Bürger:innen kümmern muss. Dies bedeutet jedoch nicht, dass politischer Liberalismus eine substantielle Konzeption von Autonomie unterstützen muss, da das Konzept der individuellen Autonomie, die als Vorläufer für politische Autonomie dienen kann, nur ein schwaches ist, das tiefere Verbindungen zu irgendeiner substantiellen ethischen Sichtweise hat. Im Zusammenhang mit Bildungsmaßnahmen und Schulvorschriften sind Fragen zu persönlicher Autonomie und deren Rolle im Schulcurriculum wichtig. Ein kurzer Blick auf rechtliche Entscheidungen in diesem Bereich macht deutlich, dass Autonomie nicht nur eine abstrakte Vorstellung ist, um die sich nur Philosoph:innen kümmern, sondern dass sie im Zentrum vieler angewandter Konflikte darüber steht, wie Schulen geführt werden sollten und was Schüler:innen von ihnen verlangen können. Während Autonomie selten explizit in rechtlichen Entscheidungen dieser Art erwähnt wird, sind Urteile über Schul- und Bildungsangelegenheiten häufig zumindest teilweise von Bedenken über Autonomie geprägt und haben Auswirkungen auf die Entwicklung von Autonomie bei Kindern.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Nature Switzerland AG 2022 F. Podschwadek, Die Erziehung der Vernünftigen, https://doi.org/10.1007/978-3-031-21266-6_4
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Während zwei berühmte Beispiele aus der US-Gerichtsgeschichte, Wisconsin v. Yoder und Mozert v. Hawkins County Board of Education, nicht explizit auf Autonomie verweisen, wurde argumentiert, dass die Fragen, die diesen Fällen zugrunde liegen, tatsächlich die Autonomie von Kindern und Jugendlichen betreffen, und dass die jeweiligen Urteile Auswirkungen auf die Möglichkeiten der betroffenen Schüler:innen haben, ihre Fähigkeit zur Autonomie zu entwickeln. In beiden Fällen wurden die Entscheidungen über Bildungsmaßnahmen und die Struktur des Schulcurriculums (sowie über Ausnahmen hiervon) unter Berücksichtigung von elterlichen Interessen und religiösen Gemeinschaft getroffen, und in beiden Fällen hatten diese Entscheidungen einen relevanten Einfluss auf die Möglichkeit der betroffenen Kinde, Autonomie zu entwickeln. Angesichts dieser Auwirkung sind Kritiker berechtigt zu sagen, dass die Autonomie der Kinder bei der Entscheidungsfindung nicht ausreichend berücksichtigt wurde (siehe Reich 2002, S. 455–457).1 Die Diskussion einer geeigneten Konzeption von Gerechtigkeit für eine politisch-liberale Darstellung von Bildung sollte diesen Fehler nicht machen und Autonomie aus der Perspektive von Kindern berücksichtigen, sowie die Auswirkungen, welche die Interessen anderer Parteien darauf haben können. Relevante Fragen zur Autonomie von Schüler:innen treten auch abseits des Lehrplans auf, z. B. bei Kleiderordnungen und Schuluniformen. Die Frage, ob Schüler:innen erlaubt sein sollte, bestimmte Kleidungsstücke in der Schule zu tragen, z. B. einen Hidschāb oder einen Dschilbab, sind gewissermaßen auch Fragen der Autonomie. Für einige repräsentieren diese Kleidungsstücke die Unterdrückung von (insbesondere weiblicher) Autonomie durch patriarchale religiöse Ansichten, für andere können sie jedoch auch Zeichen autonomen weiblichen Ausdrucks sein (siehe Laborde 2006; Hale’s Meinung in House of Lords 2006, Abschn. 92–96). Ein politisch-liberales Verständnis von Bildung sollte flexibel genug sein, um zu erkennen, dass Autonomie auf verschiedene Weisen verwirklicht werden kann, die immer in den sozio-kulturellen Kontext einer bestimmten Gesellschaft eingebettet sind. Wenn man sich die theoretischen Grundlagen einer politisch-liberalen Bildungsdarstellung und die darin enthaltene Idee von Autonomie ansieht, ist es wichtig, dabei auch angewandte Fragen wie diese im Auge zu behalten. Wenn dieses Verständnis auf einer starken, substantiellen Vorstellung von Autonomie beruhte, würde es wahrscheinlich starke Argumente gegen pauschale Urteile wie das in Wisconsin v. Yoder liefern und weniger, wenn überhaupt, Ausnahmen rechtfertigen, die es Eltern ermöglichen, ihre Kinder aus einem verpflichtenden Bildungssystem zurückzuziehen. Ein politisch-liberales Bildungsverständnis, das eine vor allem auf individueller Unabhängigkeit und Rationalität beruhende Vorstellung von Autonomie voraussetzt, würde wahrscheinlich Rechtfertigungen für ein französisches Politikmodell liefern, das auf der Idee der Laïcité basiert und religiös
1 Ich
werde mich in Kap. 6 aus einem anderen Blickwinkel mit diesen beiden Fällen befassen.
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motivierte Kleidungswahl für Schüler:innen an öffentlichen Schulen legitimerweise ausschließen könnte. Eine andere Sichtweise, bei der die persönliche Wahl (der Eltern oder der heranwachsenden Schüler:innen) im Mittelpunkt des Autonomieverständnisses steht, würde dagegen die Zulässigkeit des Tragens religiöser Kleidung an öffentlichen Schulen rechtfertigen. Die Idee von Autonomie, auf der ein politisch-liberales Bildungsverständnis basiert, ist daher nicht nur eine theoretische Frage für Philosoph:innen, sondern hat Auswirkungen darauf, was für politische Richtlinien ein solches Verständnis liefern kann. Im Gegensatz zum politischen Liberalismus sehen die meisten anderen liberalen Theorien persönliche Autonomie als zentralen Wert an. Generell handelt es sich hierbei um umfassende liberale Theorien (im Sinne von Rawls), deren Vertreter kein Problem darin sehen, Maßnamen zur Unterstützung und Stärkung der Autonomie von Bürger:innen zu rechtfertigen, unabhängig davon, ob einige Bürger:innen damit (zurecht) nicht einverstanden sind. Die Idee von Autonomie als zentralem Wert wird oft mit dem Liberalismus von John Stuart Mill in Verbindung gebracht und spielt in den Werken vieler zeitgenössischer Liberaler wie Joseph Raz (2009), Joel Feinberg (1989), Marina Oshana (1998, 2007), Steven Wall (2007) oder Thomas Hurka (1987) ebenfalls eine zentrale Rolle. Politischer Liberalismus versucht jedoch, jegliche Rechtfertigung politischer Zwangsmittel auf der Grundlage von Behauptungen über individuelle Autonomie zu vermeiden, die Vorstellungen über deren substanziellen Wert heranziehen. Gleichzeitig scheint politischer Liberalismus eine Vorstellung von Autonomie zu benötigen, um die Fähigkeiten von Bürger:innen zur Teilnahme an freien und gleichen politischen Entscheidungen einzufangen. Ohne sie gäbe es keine Grundlage, auf der behauptet werden könnte, dass Bürger:innen einen Anspruch auf eine Reihe von politischen Rechten und Freiheiten haben. Rawls unterscheidet daher zwischen sogenannter „ethischer“ und „politischer“ Autonomie. Ethische Konzeptionen von Autonomie sind Teil einer umfassenden Sicht des Guten und intrinsisch mit anderen umfassenden Werten verbunden, die Rawls mit den liberalen Ideen von Kant, Mill und Raz in Verbindung bringt. Politische Autonomie hingegen ist auf den öffentlichen Aspekt des Lebens von Personen beschränkt, d. h. auf ihre Rolle als Bürger:innen. Letztere Art von Autonomie sollte daher sicher in der politisch-liberalen Theorie verwendet werden. Aus einer Bildungsperspektive lässt sich jedoch noch mehr erzählen. Politische Autonomie ist ihrem Zweck nach eine Vorstellung von Autonomie, die sich auf eine sehr enge soziale Rolle bezieht, die Rolle als Bürger:in eines liberaldemokratischen Staates. Sie basiert auf Ansprüchen über die Gleichheit von Bürger:innen, die in ihrem moralischen Vermögen begründet sind, eine Fähigkeit zur Ausübung einer Konzeption des Guten zu haben (mehr Details dazu in Abschn. 4.3). Diese Vorstellung von Gleichheit impliziert, wie ich argumentieren werde, eine grundlegendere Vorstellung von Autonomie als der Idee von Individuen als selbstbestimmten Akteur:innen, die darum ein notwendiger
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Bestandteil der Grundlegung politischer Autonomie ist. Dies ist ein relevantes Kriterium im Zusammenhang mit Bildung, da es notwendig scheint, dass Kinder ein Verständnis dieser grundlegenden Vorstellung von Autonomie erwerben, bevor sie die Bedeutung politischer Autonomie verstehen können. Es ist schwer vorstellbar, wie wir verstehen könnten, dass unsere Mitbürger:innen den Status politisch autonomer Bürger:innen haben, solange wir nicht die darunter liegende Konzeption von der Autonomie eines:r selbstbestimmter:n Akteur:in verstehen. Diese zugrunde liegende Vorstellung von Autonomie ist jedoch weder politisch noch ethisch im Sinne von Rawls und ist daher mit dem politisch-liberalen Anspruch auf Neutralität vereinbar. Dieses Kapitel beginnt mit einer Übersicht über ethische Vorstellungen von Autonomie, die Rawls als umfassend ablehnt und die daher keine rechtfertigende Funktion im politischen Liberalismus haben können, gefolgt von einer kurzen Analyse seiner Definition politischer Autonomie. Nachdem die Konzeptionen von ethischer und politischer Autonomie skizziert wurden, werde ich behaupten, dass der politische Liberalismus jenseits politischer Autonomie noch eine andere Art von Autonomie erfordert, die weder politisch noch ethisch im Sinne von Rawls ist. Diese Art von „schwacher“ Vorstellung von Autonomie wird von einer der grundlegendsten Ideen des politischen Liberalismus impliziert, der Idee von Gleichheit. Insbesondere im Hinblick auf die Bildungsfragen werden politische Liberale zumindest eine Art schwacher, prozeduralistischer Konzeption individueller Autonomie akzeptieren müssen. Nachdem ich ausgeführt habe, was die Akzeptanz schwacher Autonomie für politisch-liberale Bildung bedeutet, werde ich Argumente gegen diese Art von schwacher Autonomie vorstellen, die von Meira Levinson vorgebracht wurden. Sie behauptet, dass eine prozeduralistische Konzeption zu einer intuitiv unplausiblen Idee von Autonomie führt und dass liberale Bildung eine substantielle Konzeption von Autonomie erfordert. Mein Ziel ist, zu zeigen, dass dies nicht der Fall ist und eine prozeduralistische Konzeption von Autonomie plausible Antworten auf Levinsons Kritik bieten kann.
4.1 Verschiedene Arten der Autonomie Bevor wir uns damit beschäftigen, wie der politische Liberalismus dem Thema Autonomie annähert, sollten wir uns aus zwei Gründen andere liberale Konzeptionen von Autonomie ansehen. Erstens charakterisiert Rawls selbst die Konzeption von Autonomie, auf der politischer Liberalismus beruht, weitgehend dadurch, dass er sie von umfassenden Konzeptionen von Autonomie abgrenzt. Ein klareres Verständnis solcher Konzeptionen ist daher entscheidend für das Verständnis dessen, was die Idee von Autonomie im politischen Liberalismus von umfassender Autonomie unterscheidet. Zweitens ist es möglich, dass umfassende Autonomievorstellungen gewisse Elemente gemeinsam haben, die mit dem politischen Liberalismus vereinbar sind. Ein breiterer Überblick über die Debatte
4.1 Verschiedene Arten der Autonomie
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zur Autonomie erleichtert es später in diesem Kapitel, solche Elemente zu identifizieren. Die von mir behandelten Darstellungen von Autonomie sind die von Rawls selbst als Beispiele für die Arten des umfassenden Liberalismus angeführten: die Darstellungen von Immanuel Kant, J.S. Mill und Joseph Raz, gefolgt von einer kurzen Liste von Beispielen aus anderen aktuellen Autonomiedarstellungen, die demselben Muster entsprechen würden. Ich werde mich auch auf eine Unterscheidung konzentrieren, die Rawls nicht explizit angeht, die aber für den politischen Liberalismus von Bedeutung sein wird, nämlich die Unterscheidung zwischen inhaltlichen und prozeduralistischen Darstellungen von Autonomie. Das erste Beispiel für jemanden, der eine ethische Sicht von Autonomie hat, ist Kant, der die Begriffe der Autonomie und Heteronomie im Zusammenhang mit moralischem Handeln verwendet. Kant behauptet, dass, solange unsere Handlungen auf einem bestimmten Interesse beruht, „[d]ieses mochte nun ein eigenes oder fremdes Interesse seyn. Aber alsdann mußte der Imperativ jederzeit bedingt ausfallen, und konnte zum moralischen Gebote gar nicht taugen.“ (2014, IV 433, 8–9). Ohne einen Standpunkt, von dem aus wir unsere Motive in moralischer Hinsicht bewerten können, bleiben unsere Handlungen immer noch heteronom. Der Grund dafür ist, dass die Interessen, die uns leiten, zwar „unsere“ Interessen sind, sie in gewissem Sinne weiterhin äußerlich sind, insofern sie nicht unter Kontrolle des rationalen Selbst stehen, welches Kant als charakteristisches Merkmal des Menschen annimmt. Um moralisch, und damit autonom, zu handeln, muss man „seinem eigenen, dem Naturzwecke nach aber allgemein gesetzgebenden Willen gemäß handeln“ (2014, IV 432, 30–31). Kantische moralische Akteur:innen sind rational und können aufgrund ihrer Rationalität selbst entscheiden, ob eine Handlung aus moralischen Gründen erforderlich, erlaubt oder verboten ist, indem sie den kategorischen Imperativ darauf anwenden. Diese Vorstellung der Person kann als metaphysisch substantiell und individualistisch verstanden werden: der Kompass von moralischen Akteur:innen ist ihre Rationalität, nicht bloße Neigung, Sentiment oder eine Bindung an Gewohnheiten. Obwohl Kant bewusst ist, dass gewöhnliche Personen im Alltag diesen Erwartungen nicht gerecht wird, sind seine idealen moralischen Akteur:innen rationale Einzelne, welche die Moralität ihrer Handlungen allein durch sich selbst bestimmen. Für den nächsten Befürworter einer umfassenden Konzeption on Autonomie, John Stuart Mill, ist persönliche Individualität einer der zentralen Werte einer freien Gesellschaft. Aufbauend auf den Idealen, die der deutsche Humanist Wilhelm von Humboldt populär machte, behauptet Mill, dass nur die Person, deren „Wünsche und Impulse ihre eigenen sind – die Ausdruck ihrer eigenen Natur sind, wie sie sich durch ihre eigene Kultur entwickelt und modifiziert hat – einen Charakter“ hat (2008, S. 67). Individualität, so Mill, „ist eines der wesentlichen Elemente des Wohlergehens“, sie ist nicht nur ein Teil „von Zivilisation, von Unterweisung, von Erziehung, von Kultur, sondern [sie] ist selbst ein notwendiger Teil all dieser Dinge“ (2008, S. 63). Obwohl Mill selbst es nicht explizit so benennt, wird deutlich, dass seine Behauptungen auf der Idee einer wertvollen
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Form individueller Autonomie beruhen. Im Vergleich zu Kant ist Mills Darstellung von Autonomie deutlich breiter, da es sich nicht nur auf Moralität, sondern im Grunde auf den ganzen Lebensweg eines Menschen bezieht. Welche Projekte wir auch haben, so Mill, sie werden nur dann einen wirklichen Wert haben, wenn wir sie als Ausdruck unserer selbst entwickeln und verfolgen, nicht als Teil einer Tradition oder Konvention. Die aktuellste Sicht der Autonomie, die Rawls als umfassend identifiziert, ist die von Joseph Raz. Ähnlich wie Mill glaubt Raz, dass es zwei wertvolle Formen der Aktivität gibt, die für das Projekt des „Erschaffens [seiner] eigenen moralischen Welt“ eine wichtige Rolle spielen ; eine davon ist die Pflege von menschlichen Beziehungen und die zweite „die Bildung und Verfolgung von Projekten, die dem Leben Form und Inhalt verleihen“ (2009, S. 86–87). Dadurch, dass sie diesen Aktivitäten derartigen Wert zuschreibt, wird seine Konzeption von Autonomie zu einer, die von eine starken Vorstellung von Selbstbestimmung oder Selbsturherberschaft abhängt. Bemerkenswert ist, dass nicht jede Beziehung oder jedes Projekt wertvoll ist, sondern nur die, die autonom erreicht oder verfolgt wurden (2009, S. 90–91). Und obwohl Raz hinnimmt, dass es unterschiedliche Grade der Autonomie giben kann und zugibt, dass manche Menschen es vielleicht als wertvoll erachten, sich in allen Aspekten ihres Lebens auf Autonomie zu konzentrieren, behauptet er, dass „der Wert der Autonomie eine Tatsache des Lebens ist. […] [J]ene, die in einer Kultur leben, welche die Idee von Autonomie unterstützt, können sich nur prosperieren, wenn sie autonom sind“ (2009, S. 394). Zusammengefasst sieht Raz’ Konzeption von Autonomie Selbsturherberschaft als den Schlüsselbestandteil von Autonomie an, akzeptiert Autonomie jedoch nur als wertvoll in Verbindung mit moralisch wertvollen Entscheidungen. Neben der besonderen moralischen Bewertung der eigenen Beziehungen und Aktivitäten als Voraussetzung für Autonomie wird der ethische Charakter dieses Ansatze durch Raz’ politische Schlussfolgerungen verstärkt. Für ihn muss das gute und wertvolle Leben zumindest in modernen westlichen Gesellschaften ein autonomes Leben sein. Daraus müssen politische Konsequenzen erwachsen, weil für ihn eine der Funktionen der Regierungen in der Förderung der Moral besteht (2009, S. 415): Wenn also die Regierung die Pflicht hat, die Autonomie von Menschen zu fördern, so erlaubt ihr das Schadensprinzip, Zwangsmaßnahmen einzusetzen um sowohl jemanden daran zu hindern, die Autonomie anderer Menschen zu verrringern, als auch um jemanden zu zwingen, das erforderliche zu tun, um die Möglichkeiten und Chancen von Menschen zu verbessern (2009, S. 416).
Um dies zu tun, ist es legitim und wahrscheinlich sogar wünschenswert, dass Regierungen perfektionistische Politik betreiben und paternalistische Mittel zur Förderung von Autonomie einsetzen, soweit sie seinem Verstädnnis nach mit der Achtung vor Autonomie vereinbar sind. Diese drei Autonomie-Darstellungen von Kant, Mill und Raz sind sich trotz vieler Detailunterschiede in vielerlei Hinsicht erheblich ähnlich, insofern sie
4.2 Politische Autonomie
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substantielle Darstellungen von Autonomie sind, die bestimmte Fähigkeiten oder Umstände spezifizieren, welche Personen autonom machen. Es gibt viele weitere moderne substantielle Sichtweisen zur Autonomie, deren Argumente auf gleiche Art funktionieren, obwohl sie möglicherweise unterschiedliche Bedingungen für Autonomie identifizieren. Steven Wall betont beispielsweise die Rolle äußerer Bedingungen wie Freiheit von Zwang und von Manipulation sowie „Zugang zu einem ausreichenden Angebot an Optionen“ (2007, S. 234). Marina Oshana wiederum schreibt „Autonomie einer Person [zu], wenn die Person de facto die Macht und die Befugnis hat, Angelegenheiten von elementarer Bedeutung für ihr Leben innerhalb eines von ihr selbst gesetzten Rahmens zu leiten […]“ und fasst dies mit dem Ausdruck „sich selbst treu bleiben“ zusammen (2007, S. 411). Schließlich gibt es auch Ansichten wie die von Thomas Hurka, der „Autonomie als Gut“ versteht (1987, S. 361). Diese Darstellungen im Detail zu diskutieren, würde hier nur wenig zusätzlichen Wert haben, da sie aus politisch-liberaler Perspektive alle aus den gleichen Gründen als umfassend abgelehnt werden können. Wir sollten jedoch mehr Aufmerksamkeit auf eine andere Art AutonomieDarstellungen richten. Neben den substantiellen Theorien der Autonomie gibt es auch prozeduralistische Darstellungen, welche Autonomie nicht so sehr durch die Bewertung des Inhalts von Vorhaben einer Person, ihrer Vorstellungen von einem guten Leben usw. definieren, sondern indem sie untersuchen, wie diese Vorhaben entstanden sind. Vertreter dieser Sichtweise sind z. B. Harry Frankfurt (2009, 1999), Gerald Dworkin (2001), John Christman (2009, 2011) und Ben Colburn (2013). Da Rawls meines Wissens prozeduralistische Darstellungen von Autonomie nicht ablehnt, werde ich in den folgenden Abschnitten diese Art von Autonomie im Zusammenhang mit der Art von Autonomie diskutieren, die dem politischen Liberalismus inhärent ist.
4.2 Politische Autonomie Die Konzeption von Autonomie, die dem politischen Liberalismus zugrunde liegen soll, ist politische Autonomie. Obwohl sie sich relevant von Rawls’ früherer Vorstellung der Autonomie in A Theory of Justice unterscheidet, werde ich mit seinem früheren Ansatz beginnen, da sie seinen Übergang zu einer politischen Konzeption von Autonomie transparenter machen wird. Die Darstellung von Autonomie, der Rawls in seiner frühen Phase anhing, ist recht unkompliziert: Wenn wir der kantischen Interpretation der Gerechtigkeit als Fairness folgen, können wir sagen, dass Personen, wenn sie aus [den Prinzipien der Gerechtigkeit als Fairness] handeln, autonom handeln: sie handeln aus Prinzipien, die sie unter Bedingungen anerkennen würden, die ihre Natur als freie und rationale Wesen am besten ausdrücken (2005a, S. 515).
Neben anderen Veränderungen, die mit dem politischen Liberalismus einhergehen, räumt Rawls auch ein, dass diese kantische Konzeption von Autonomie
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eine umfassende ist. Um den Umstand des vernünftigen Pluralismus zu berücksichtigen, muss sie durch eine andere ersetzt werden.2 Daher stellt Rawls in Political Liberalism zwei wichtige Unterscheidungen in Bezug auf Autonomie her, die eine zwischen rationaler und voller Autonomie, die andere zwischen ethischer und politischer Autonomie. Die Unterscheidung zwischen rationaler und voller Autonomie ist eine weitere Betrachtungsweise der Kongruenz zwischen dem Guten und dem Richtigen, einer Kongruenz, die Rawls bereits durch die Anwendung des Aristotelischen Grundsatzes im Bereich der politischen Tugenden zu erreichen versucht, wie in Kap. 3 diskutiert. Gemäß dieser Unterscheidung sind Bürger:innen auf zwei Arten rational autonom—sie sind innerhalb der Grenzen der politischen Gerechtigkeit frei, ihre (zulässigen) Vorstellungen des Guten zu verfolgen; und sie sind motiviert, ihre höherrangigen Interessen zu sichern, die im Zusammenhang mit ihren moralischen Fähigkeiten stehen […] (2005b, S. 74).
Diese Rationalität ist die Grundlage für Entscheidungen über die Grundsätze der Gerechtigkeit, die von den Parteien im Urzustand getroffen werden. Diese Parteien sind eine Verkörperung der Idee, dass Bürger:innen, wenn sie „in einem fairen Verhältnis zueinander stehen“ (2005b, S. 73), faire Bedingungen für Kooperation festlegen können, selbst wenn sie dabei ihren eigenem Vorteil im Sinn haben. Im Urzustand ist eine faire Ausgangssituation durch den Schleier des Nichtwissens gegeben, der detaillierte Informationen über die Position jeder Partei in der tatsächlichen Gesellschaft verbirgt. Gleichzeitig spiegelt der Mangel an gegenseitigem Interesse und das Interesse der Parteien an der risikolosen Maximierung ihres Anteils an Grundgütern die Tendenz von Bürger:innen wider, in erster Linie auf ihren eigenen Vorteil zu achten. Das Ergebnis dieses Verfahrens ist gerechtfertigt, insofern es die Entscheidungen repräsentiert, die autonom entscheidende, rationale Bürger:innen unter idealen Umständen treffen würden. Die Rechtfertigung (pro tanto), die durch den Urzustand für die so gefundenen Prinzipien bereitstellt, führt dann zu dem, was Rawls als vollständige Autonomie bezeichnet, die sich bei den Bürger:innen einer wohlgeordneten Gesellschaft findet: [B]ürger:innen einer ordentlichen Gesellschaft in ihrem öffentlichen Leben […] sind vollständig autonom. Das bedeutet, dass sie in ihrem Verhalten nicht nur den Grundsätzen der Gerechtigkeit folgen, sondern auch aus diesen Grundsätzen heraus handeln. Darüber hinaus erkennen sie diese Grundsätze als die an, die in der ursprünglichen Position angenommen würden. Es ist in ihrer öffentlichen Anerkennung und informierten Anwendung der Grundsätze der Gerechtigkeit in ihrem politischen Leben sowie in ihrem wirksamen Gerechtigkeitssinn, dass Bürger:innen vollständige Autonomie erreichen. Vollständige Autonomie wird also von Bürger:innen realisiert, wenn sie aus Grundsätzen der Gerechtigkeit handeln, durch welche die fairen Bedingungen von Kooperation festgelegt werden und die sie sich selbst in einer Situation geben würden, in der sie als freie und gleiche Personen fair repräsentiert wären (2005b, S. 77).
2 Ein
ausführlicher Kommentar dazu findet sich in der Einleitung zur Taschenbuchausgabe von Political Liberalism (2005b, xli, n. 8).
4.2 Politische Autonomie
91
Um in kantischen Begriffen zu sprechen, besteht das im öffentlichen Leben selbst gesetzte Gesetz in den Prinzipien der Gerechtigkeit, und das Handeln gemäß diesen Prinzipien macht Bürger:innen vollständig autonom. Die Prinzipien der Gerechtigkeit, wie Rawls sie versteht, sind das Ergebnis der den Bürger:innen eigenen Rationalität, wenn sie auf die Frage der sozialen Gerechtigkeit angewendet wird, und somit ihr deren selbst gewähltes Nomos – allerdings auf den politischen Bereich beschränkt. An dieser Stelle macht Rawls den zweiten wichtigen Unterschied zwischen politischer Autonomie und ethischer Autonomie: Hier betone ich, dass volle Autonomie von Bürger:innen verwirklicht wird: Es ist ein politischer und kein ethischer Wert. Damit meine ich, dass sie im öffentlichen Leben durch die Affirmation politischer Prinzipien der Gerechtigkeit und den Genuß von Grundrechten und Freiheiten verwirklicht wird; sie wird auch durch die Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten einer Gesellschaft und die fortlaufende Teilhabe an ihrer kollektiven Selbstbestimmung verwirklicht. Diese vollständige Autonomie des politischen Lebens muss von ethischen Werten der Autonomie und Individualität unterschieden werden, die sich auf das gesamte Leben, sowohl sozial als auch individuell, beziehen können, wie sie von den umfassenden liberalen Lehren Kants und Mills ausgedrückt werden. Die Konzeption von Gerechtigkeit als Fairness betont diesen Kontrast: Sie bejaht politische Autonomie für alle, überlässt es aber einzelnen Bürger:innen, hinsichtlich ihrer umfassenden Lehren über das Gewicht ethischer Autonomie zu entscheiden (2005b, S. 77–78).3
Es lohnt sich, diesen Abschnitt genauer zu analysieren, da einige Teile dieser Charakterisierung der politischen Autonomie ziemlich offensichtlich sind, während andere erstaunlich unklar bleiben. Die erste und klarste Bedingung ist, dass die Bürger:innen bestimmte positive Einstellungen gegenüber den Prinzipien der Gerechtigkeit haben müssen. Dies ist erforderlich, um durch die rationalen Unterstützung der Prinzipien der Gerechtigkeit volle Autonomie zu erlangen, wie zuvor beschrieben. Wenn Rawls sagt, dass die Bürger:innen in den Genuß von Freiheiten kommen, scheint er zumindest, dass er äußere Faktoren im Sinn hat: Wenn Bürger:innen durch bestimmte Umstände daran gehindert werden, auf politisch autonome Weise zu handeln (z. B. eine Politik, die ein Zusammenkommen von Bürger:innen zwecks Förderung ihrer politischen Interessen verbietet), können sie nicht wirklich autonom sein. Aber es scheint, dass der Genuß von Freiheiten auch eine Art interner Bedingung umfassen muss, wie z. B. eine Anerkennung oder ein Bewusstsein des Werts, den die politischen Freiheiten für eine:n selbst als Bürger:in haben.4 Während es von politischen Strukturen und Gesetzen abhängt,
3 Kants und Mills politische Philosophie wird auf S. 199 im Zusammenhang mit der Erziehung von Kindern erneut als Beispiel für umfassenden Liberalismus genannt, zusammen mit einer Fußnote, die die Position von Raz als aktuelles Beispiel erwähnt. 4 Dies scheint eine wichtige Bedingung dafür zu sein, dass die Grundstruktur einer Gesellschaft substantiell gerecht ist und nicht nur formal, wie Rawls in seiner Diskussion über die faire Chancengleichheit betont: ”[F]aire Chancengleichheit bedeutet, dass öffentliche Ämter und soziale Positionen nicht nur im formellen Sinn offen sein müssen, sondern dass alle eine faire
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4 Autonomie
ob die äußeren Faktoren gegeben sind, wirkt sich die Notwendigkeit, erforderliche internen Faktoren beizusteuern, auf staatsbürgerliche Bildung aus, da das Bewusstsein für die eigene Freiheit nicht unbedingt von selbst kommt. Rawls’ Verweis auf Beteiligung bleibt mehrdeutig. Er schreibt, dass volle politische Autonomie „auch durch politische Beteiligung verwirklicht“ wird, aber diese Art der Formulierung könnte zwei Dinge bedeuten. Eine Möglichkeit ist, dies als weiteren Punkt auf einer Liste notwendiger Bedingungen zu verstehen: Bürger:innen müssen sich politisch beteiligen, um vollständig autonom zu sein. Dies wäre eine beinahe republikanische Art, Rawls zu lesen,5 und vielleicht würde es auch eine binäre Konzeption der Autonomie voraussetzen: Nur wenn alle notwendigen Bedingungen erfüllt sind, können wir vollständig autonom sein, andernfalls nicht. Eine andere Möglichkeit, diesen Abschnitt zu lesen, wäre, politische Beteiligung als etwas zu verstehen, das volle Autonomie graduell erhöht. Dies würde eine graduelle Konzeption von Autonomie voraussetzen, die einigen Bürger:innen (denen, die aktiv an der Gestaltung der Zukunft ihrer Gesellschaft beteiligt sind) zu einem ein höheres Maß an voller Autonomie verhilft als denen, die lieber zu Hause vor dem Fernseher bleiben, vielleicht sogar an Wahltagen. Trotzdem wären auch letztere vollständig autonom, solange sie die Prinzipien der Gerechtigkeit unterstützen und in den Genuß ihrer Freiheiten kommen, nur zu einem geringeren Grad als ihre politisch aktiveren Mitbürger:innen. Ich überlasse die Frage, welche dieser Interpretationen Rawls’ Absichten am nächsten kommt, gerne anderen (auch wenn ich denke, dass die plausibelste Sichtweise ist, dass politische Autonomie wie andere Arten von Autonomie Abstufungen hat). Worauf ich in den nächsten Abschnitten den Fokus legen möchte, ist meine Behauptung, dass politische Autonomie nicht die einzige Konzeption der Autonomie sein kann, der politischer Liberalismus verpflichtet ist.
4.3 Schwache Autonomie Obwohl es so aussehen könnte, als ob politische Autonomie die einzige Konzeption der Autonomie ist, die für den politischen Liberalismus relevant ist, gibt es mehr zu sagen. Eine der wesentlichen Prämissen der politisch-liberalen Theorie, dass
Chance haben sollten, sie zu erreichen. […] In allen Teilen der Gesellschaft sollte für ähnliche motivierte und begabte Menschen die Aussicht auf Kultur und Errungenschaften ungefähr gleich sein“, Rawls (2001, S. 43–44). 5 Im Sinne von Autoren wie Quentin Skinner (1995); (1998), Philip Pettit (1997) oder Cass Sunstein (1993), die politische Beteiligung als Kern positiver politischer Freiheit oder sogar als Pflicht sehen.
4.3 Schwache Autonomie
93
Bürger:innen frei und gleich sind, impliziert eine andere Idee von Autonomie. Es ist nicht die Art von politischer Autonomie, die explizit als Teil des politisch-liberalen Rahmens erforderlich ist. Es ist aber auch nicht, wie ich argumentieren möchte, eine Art umfassender (oder ethischer) Konzeption von Autonomie, die mit dem Risko käme, nicht von allen vernünftigen umfassenden Lehren geteilt zu werden.6 Gleichheit beruht für Rawls auf dem Status von Bürger:innen als moralische Personen, die zwei grundlegende Eigenschaften haben, die auch als die „zwei moralischen Vermögen“ bezeichnet werden: erstens sind sie in der Lage, ein Vorstellung von ihrem eigenen Guten (im Sinne eines rationalen Lebensplan s) zu haben (und haben sie auch), und zweitens sind eines Gerechtigkeitsinns fähig (und haben ihn auch), eines normalerweise wirksamen Wunsches, die Prinzipien der Gerechtigkeit anzuwenden und nach ihnen handeln, jedenfalls in einem gewissen Mindestmaß (2005a, S. 505).7
Außerdem wird in Political Liberalism immer wieder betont, dass freie und gleiche Personen nicht nur eine Kapazität für das Gute haben, sondern „zu einem gegebenen Zeitpunkt eine bestimmte Vorstellung vom Guten haben, die im Licht einer (vernünftigen) umfassenden Sicht interpretiert wird“ (2005b, S. 81). Ich nehme an, dass diese Vorstellung von Gleichheit mit einer Art von Autonomie verbunden ist. Es ist jedoch weder die umfassende und substantielle kantische Autonomie des frühen Rawls noch die beschränkte politische des späteren. Es ist stattdessen eine Art von prozeduralistischer Autonomie. Die Art von Autonomie, die mit der angenommenen Gleichheit der Personen einhergeht, kann am besten als „eine relativ schwache und inhaltlose Idee“ beschrieben werden, wie von Gerald Dworkin (2001, S. 31), oder auch, nach Gerald Gaus , als „ultra-minimale Vorstellung von persönlicher Autonomie“ (2009, S. 293). Sie beruht nicht auf einer Vorstellung von „substantieller Unabhängigkeit“, sondern basiert vielmehr auf einer gemeinsamen Vorstellung davon, was eine Person ist. Was ein Individuum zu der besonderen Person macht, die es ist, sein Lebensplan, seine Projekte. Durch das Streben nach Autonomie formt man das eigene Leben, man konstruiert seine Bedeutung. Die autonome Person gibt ihrem Leben Bedeutung (Dworkin 2001, S. 31).
Dworkin behauptet, dass diese gemeinsame Vorstellung des Menschseins die Grundlage fur das Gebot moralischer Rechtfertigung von Zwangsgewalt ist. Dies passt gut zu der Idee der Rechtfertigung von Gesetzen und politischen Richtlinien sowie der Achtung für Personen, welche in Rawls’ politischem Liberalismus implizit ist. Rechtfertigung muss in Form von öffentlichen Gründen erfolgen, die von allen Bürger:innen akzeptiert werden können, unabhangig von ihren umfassenden Ansichten, da sich Bürger:innen als gleichberechtigt betrachten. Um dies zu tun, müssen sie eine Vorstellung davon teilen, was (in diesem Zusammenhang) eine Person, wie in obigem Zitat beschrieben, ausmacht. 6 Andere Autor:innen, wie Meira Levinson und Matthew Clayton, würden an dieser Stelle widersprechen. Ich werde ihre Ansichten später in diesem Kapitel diskutieren. 7 Siehe auch 1993, S. 19 und S. 81.
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4 Autonomie
Es scheint auch diese minimale Form von Autonomie zu sein, auf die Ronald Dworkin in seiner „besonderen, aber plausiblen Theorie der philosophischen Psychologie“ (2002, S. 28) Bezug nimmt, die für jede Konzeption von Gleichheit, die auf eine Form von Gleichheit hinsichtlich von persönlichem Erfolg abzielen, erforderlich ist. Während Dworkins Theorie der Gleichheit sich von Rawls‘ unterscheidet, ist es denoch der Fall, dass Rawls‘ Vorstellung von Grundgütern und insbesondere die besondere Bedeutung von Selbstachtung den politischen Liberalismus zu einer Theorie macht, die neben anderen Dingen auf eine bestimmten Grad von Verteilungsgerechtigkeit abzielt. Ohne dass die Bürger:innen sich selbst als „handelnde Akteur:innen wahrnehmen, die zwischen Erfolg und Misserfolg ihner persönlich Entscheidungen unterscheiden“ (2002, S. 28), könnte Gerechtigkeit als Fairness keine kohärente egalitäre Theorie sein (und ich nehme an, dass dasselbe für jede andere Vorstellung von Gerechtigkeit gilt, die mit politischem Liberalismus kompatibel ist). Eine besondere Variante der eigenen Entscheidungsfähigkeit wird in der Charakterisierung des ersten moralischen Vermögens deutlich, der Fähigkeit, eine Kapazität für eine Konzeption des Guten. Individuen mit einer solchen Kapazität sind auch in der Lage, ihre Konzeption des Guten zu bilden und, falls erforderlich, zu revidieren, und während Rawls selbst, soweit ich weiß, keine explizite Verbindung zwischen den beiden moralischen Vermögen und Autonomie herstellt, wird dieser Punkt von anderen Autoren ausgearbeitet. Will Kymlicka argumentiert, dass das moralische Vermögen zur Bildung und Revision eigener Vorstellung des Guten immer noch eine Fähigkeit zur autonomen Entscheidung über die eigene Konzeption des Guten impliziert, auch wenn Bürger:innen diese Fähigkeit nicht unbedingt ausüben müssen (1996, S. 158–163). Hier wird deutlich, dass nicht nurAutonomie rein politischer Art in einer grundlegenden Konzeption von Personen involviert ist, welche auf der Idee freier und gleicher Bürger:innen beruht. Aus diesem Grund ist politischer Liberalismus, trotz Rawls’ Bemühungen, ethische und politische Autonomie voneinander zu trennen, zumindest teilweise auf einer Konzeption von Autonomie begründet, die mit der Idee der Gleichheit auf eine Weise verbunden ist, welche nicht rein politisch sein kann. Dies ist allerdings kein Grund zur Besorgnis, da die relevante Vorstellung von Autonomie nicht in dem Sinne, den Rawls vermeiten will, ethisch ist – sie setzt keine substantiellen Ideale von Individualität oder Unabhängigkeit voraus. Sie umfasst jedoch eine Idee der Gestaltung des eigenen Lebens, der Selbstbestimmung oder Selbstherrschaft, aber ohne ein substantielles Ideal davon, welche Art von Wahl oder Entscheidung als gut gelten. Stattdessen ist es eine prozeduralistische beziehungsweise formale Konzeption von Autonomie. Ich werde sie im Folgenden als schwache Konzeption von Autonomie bezeichnen. Schwache Autonomie scheint konzeptionell sowie im Zusammenhang sozialer Entwicklung grundlegender zu sein als stärkere Konzeptionen von Autonomie. Wenn Individuen im Laufe der Zeit eine Kapazität und ein Verständnis von Autonomie entwickeln, scheint es, dass sie zunächst ein Konzept schwacher Autonomie entwickeln müssen, bevor sie spezifischere oder komplexere Varianten von
4.3 Schwache Autonomie
95
utonomie verstehen können, wie z. B. politische Autonomie. Ohne zunächst A eine Idee zu haben, dass Menschen im schwachen Sinne autonom sind, kann man sich nicht sinnvoll vorstellen, dass sie z. B. auch politische autonom sind, oder autonom hinsichtlich ihrer Konzeption des Guten, welche sie ihrer Rolle als Bürger:innen haben. Selbst wenn wir Rawls zustimmen, dass die Kapazität für eine Konzeption des Guten eine rollenspezifische Kapazität von Bürger:innen ist, nicht von Individuen in ihren nicht-politischen Lebenszusammenhängen, ist es schwer vorstellbar, wie ein Individuum diese Kapazität als Bürger:in entwickeln könnte, ohne zunächst als nicht-politisches Individuum eine Konzeption schwacher Autonomie zu verstehen. Weiterhin ist schwache Autonomie ein konstitutives Element des gleichen Status von Bürger:innen. Wenn die beiden moralischen Vermögen Autonomie implizieren, und wir Menschen in ihrer Rolle als Bürger:innen gleich behandeln sollten, weil sie diese zwei moralische Vermögen haben, dann ist der eigentliche Grund für die gleiche Behandlung von Bürger:innen ihre Autonomie. Welche Art von Autonomie auch immer an der Kapazität von Bürger:innen für eine Konzeption des Guten beteiligt ist, wenn sie letztlich auf einer schwachen Konzeption von Autonomie basiert, dann ist auch Gleichheit selbst in letzter Instanz auf dieser schwache Konzeption von Autonomie begründet. Diese Interpretation einer tieferliegenden nicht-politischen Konzeption von Autonomie für den politischen Liberalismus mag kontrovers erscheinen. Einerseits wird es Einwände geben, dass die Idee der schwachen, prozeduralistischen Autonomie, die ich annehme, zu dünn ist, und dass das erste moralische Vermögen etwas viel Stärkeres impliziert, das einer Raz’schen Vorstellung von Autonomie ähnlicher ist.8 Aus dieser Perspektive wäre die Konzeption schwacher Autonomie nicht substantiell genug. An dieser Stelle interessiert mich derartige Einwände jedoch nicht, da sie Teil eines breiteren Einwands gegen das gesamte politische liberale Projekt mit seinen Neutralitätsansprüchen zu sein scheinen. Wie ich am Anfang dieses Buches sagte, nehme ich für die Analyse der Rolle der Bildung in der politischliberalen Theorie die Schlüssigkeit des politischliberalen Projekts im Allgemeinen voraus. Andererseits gibt es die mögliche Einwände, dass mein Verständnis der Rolle der Autonomie in der politischen Liberalismus der liberalen Darstellung von Raz tatsächlich zu ähnlich ist. Wie bereits erläutert, ist eine Idee der Gestaltung des eigenen Lebens ist ein zentraler Bestandteil von Raz’ Konzeption von Autonomie als auch (Abschn. 4.1), und die Annahme einer tieferliegenden Konzeption von Autonomie , wie von mir vorgeschlagen, könnte wie eine hinreichen ähnliche Entwicklung wirken, die aus politisch-liberale Sicht zu umfassend ist.9 Ich kann diese Sorge jedoch zerstreuen; der nächsten Abschnitt erklärt, in welchem Umfang
8 Ein
solcher Ansatz findet sich bei Blake (2001, S. 266–271). eine ausführliche Argumentation, warum die Raz’sche Idee von Autonomie nicht gut zusammen mit politischem Liberalismus funktioniert, siehe Quong (2011), Kap. 2. 9 Für
96
4 Autonomie
Ideen von Selbstbestimmung und Selbsturherbeschaft mit einer schwachen Konzeption von Autonomie zusammenhängen.
4.4 Selbstbestimmung Die Rede von der „Gestaltung der eigenen Leben“ im Zusammenhang mit Autonomie kann sehr unterschiedliche Bedeutungen haben. Für jemanden wie Raz, der den Begriff „Selbsturheber“ verwendet, konnotiert sie bewusste Planung, vielleicht sogar das Streben nach einer Art von Perfektion bezüglich von Lebensprojekten, sowie Ideen über das menschliche Wohlergehen und darüber, was persönliche Projekte wertvoll macht. Im Gegensatz dazu verstehen Befürworter:innen eines prozeduralistischen Ansatzes bezüglich Autonomie jenen Ausdruck lediglich im Sinne von Selbstbestimmung, die weder Deliberation oder substantielle Werte impliziert, welche autonome Akteur:innen verfolgen müssen, noch besonders wertvolle Projekte, in welche sie involviert wären. Um ein Beispiel von Gaus anzupassen, die Konzeption von Autonomie, die wir hier benötigen, schließt auch unkomplizierte, biertrinkende Fußball-Fans ein, deren Haupt -„Projekt“ ist es, zu so vielen Spielen der Glasgow Rangers wie möglich zu gehen (2009, S. 296). Schwache Autonomie muss nicht „das Ideal der freien und bewussten Selbst-Schöpfung“ (Raz 2009, S. 390) enthalen, und wir müssen auch nicht behaupten, dass Autonomie ist nur dann wertvoll ist, wenn sie mit wertvollen Aktivitäten oder Beziehungen verbunden ist (Raz 2009, S. 86–87). Wegen dieser relativ niedrigen Anforderungen gibt es keine Notwendigkeit für perfektionistischen staatlichen Handelns zur Förderung der Autonomie über das hinaus, was benötigt wird, um Bürger:innen als frei und gleich zu behandeln. Dies scheint die Mindestanforderung zu sein, die alle vernünftigen umfassenden Lehren ohnehin akzeptieren werden, was die Grundannahmen des politischen Liberalismus angeht. Eine schwacher, prozeduralistischer Ansatz bezüglich Autonomie ist ausreichend, um diese Anforderungen zu erfüllen. Dennoch sollten wir auch für eine schwachen Konzeption von Autonomie sollten den Inhalt von Begriffen wie Selbstbestimmung oder „Gestaltung des eigenen Lebens“ genauer bestimmen. Dies wird nicht nur zu einer weiteren Klärung beitragen,warum sie für den politischen Liberalismus nicht so problematisch ist wie substantieller Konzeptionen von Autonomie, sondern uns auch helfen, mehr über die Anforderungen der politisch-liberalen Bildung in Bezug auf Autonomie herauszufinden. Um eine bessere Vorstellung davon zu bekommen, was es bedeutet, über seinen eigenen Lebensweg zu entscheiden, könnte es hilfreich sein, einen Blick auf die Arbeit von Ben Colburn zum Thema Autonomie zu werfen.10 10 Interessanterweise
kann Colburns Darstellung der prozeduralistischen Autonomie und Authentizität trotz seiner Identifizierung als eine Art Raz’schem Liberalen ohne Schwierigkeiten in den politischen Liberalismus integriert werden.
4.4 Selbstbestimmung
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Während das allgemeine Autonomieniveau eines Menschenlebens „von dem Ausmaß abhängt, in dem die betreffende Akteurin während ihres gesamten Erwachsenenlebens selbst entscheidet, was wertvoll ist“, identifiziert Colburn zwei Bedingungen um zu bestimmen, ob eine Entscheidung autonom ist (2013, S. 24–25). Die erste Bedingung ist eine der Billigung und erfordert, dass eine Reflexion einer Person darüber, „was für vermutliche Werte sie in ihrem Leben verfolgen sollte“ (2013, S. 25), dazu führen würde, dass sie diese Werte für sich billigt. Diese Bedingung erfordert jedoch keine tatsächliche Reflexion, sondern ist bereits dann erfüllt, wenn das gerade beschriebene lediglich hypothetisch der Fall wäre. Die zweite Bedingung ist eine Unabhängigkeitsbedingung, die erfordert, dass diese Reflexion (tatsächlich oder hypothetisch) über die egienen Werte einer Person „frei von Faktoren ist, die ihre Unabhängigkeit untergraben“ (2013, S. 25). Diese beiden Bedingungen unterstützen eine schwache Konzeption von Autonomie wie ich sie in diesem Kapitel unterstütze. Sie ist minimal genug, um Menschen ihr Leben nach ihren eigenen umfassenden Ansichten leben zu lassen, während es gleichzeitig so aussieht, als ob jede vernünftige umfassende Lehre dies anerkennen muss – dass Personen selbstbestimmte Akteur:innen sind.11 Diese Sicht von menschlichen Individuen als Akteur:innen erscheint auf keine Weise problematisch für den politischen Liberalismus. Ganz im Gegenteil scheint es, dass jede vernünftige menschliche Weltanschauung sich entweder explizit oder implizit auf die Idee individuellen selbstbestimmten Handelns stützen muss, unabhängig von ihren konkreteren umfassenden philosophischen, ethischen oder religiösen Perspektiven. Es mag jedoch die Sorge bestehen, dass ein solches ausdrückliches Einbringen von Autonomie immer noch entweder zu umfassend ist oder zu einer Art von perfektionistischen Liberalismus führt. Um sicherzustellen, dass dies nicht der Fall ist, können wir uns die Kriterien ansehen, die Quong für eine Einordnung in die Kategorie des politischen Liberalismus (oder des politischen Anti-Perfektionismus, wie er es nennt) festgelegt hat. Um umfassend zu sein, muss Liberalismus „auf einem bestimmten Ideal davon beruhen, was ein wertvolles oder lebenswertes menschliches Leben ausmacht, oder auf anderen metaphysische Überzeugungen“ (2011, S. 15). Dies ist bei der Darstellung schwacher Autonomie nicht der Fall, die nicht den Platz eines zentrales Ideals einnimmt. Stattdessen ist sie, wie ich argumentiert habe, ein integraler Bestandteil der Annahme, dass Personen frei und gleich sind. Dies ist eine der grundlegenden Annahmen des politischen Liberalismus, die sowohl von Rawls als auch von Quong geteilt wird. Es wäre sehr seltsam,
11 Dies
bedeutet nicht, dass jede vernünftige umfassende Lehre Willensfreiheit in einem tiefen metaphysischen Sinne anerkennen muss. Eine vernünftige umfassende Lehre könnte eine deterministische Sicht menschlicher Handlungen haben; sie muss jedoch anerkennen, dass Akteur:innen in zeitgenössischen liberal-demokratischen Gesellschaften sich selbst als selbstbestimmt betrachten (auch wenn dies nichts anderes sein könnte als eine bequeme Art von Fiktionalismus über Willensfreiheit).
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4 Autonomie
wenn wir behaupten wollten, dass „Personen frei sind im Sinne von rationalen Agenten, die praktische Vernunft besitzen, mit Plänen und Projekten für ihr eigenes Leben“ (2011, S. 14), aber bestreiten würden, dass dies etwas mit Autonomie zu tun hat. Sich hier auf eine nicht-substantielle Konzeption von Autonomie zu berufen ist kein Schritt hin zu einem umfassenden Liberalismus. Auch impliziert die Konzeption schwacher Autonomie keinen liberalen Perfektionismus. Für Quong ist Perfektionismus durch die Zulässigkeit staatlicher Handlungen gekennzeichnet, die „einige Aktivitäten, Ideale oder Lebensweisen aufgrund ihres inhärenten oder intrinsischen Werts fördern , oder auf der Grundlage anderer metaphysischer Behauptungen“ (2011, S. 15). Schwache Autonomie verlangt jedoch nicht mehr Förderung als das Ideal freier und gleicher Bürger:innen. Sie wird auch nicht als Rechtfertigung für diese Art politischer Handlungen oder Einschränkungen verwendet, stattdessen respektiert der liberale Staat die Autonomie von Bürger:innen, indem er sich um ihren Status als freie und gleiche Personen bemüht. Die Annahme einer schwachen Konzeption von Autonomie, welche der Idee von freien und gleichen Personen innewohnt, ist an Quongs Kriterien für politischen Liberalismus gemessen weder umfassend noch perfektionistisch. Daher ist es bei der Diskussion über Bildung im Kontext des politischen Liberalismus unproblematisch, auch über Autonomie zu sprechen. Zunächst wird es hilfreich sein, noch einmal auf Colburns Darstellung liberaler Autonomie und ihre Beziehung zur Erziehung von Kindern zu rückzukehren. Obwohl er sich selbst als umfassenden Liberalen versteht, da er Autonomie als einen Wert versteht, der gefördert werden sollte (während er in Bezug auf andere mögliche Werte anti-perfektionistisch ist, siehe z. B. Colburn 2010), liefert Colburn eine vernünftige Liste von Anforderungen an Autonomie, die mit der von mir skizzierten Konzeption schwacher Autonomie kompatibel ist. Colburns zentraler Anspruch ist, dass der liberale Staat autonomieorientiert sollte, und während seine bevorzugte Konzeption von Autonomie Erwachsenen erlaubt, ein einer Vielzahl unterschiedlicher Lebensweisen zu folgen (solange die betreffende Person die oben genannten beiden Bedingungen erfüllt, selbst dann, wenn ihre Lebensweise von außen betrachtet nicht besonders autonom erscheint), müssen im Fall von Kindern stärkere Einschränkungen gelten: Autonomie erfordert, dass einzelne für sich selbst entscheiden, was im Leben wertvoll ist. Daher muss der autonomieorientierte Staat auch versuchen, sicherzustellen, dass Menschen solcheEntscheidungen treffen können. Unter anderem bedeutet dies, dass der Staat ein vepflichtendes Bildungssystem einrichten muss, das die Autonomie fördert. Ein solches System muss nicht die Überzeugung vermitteln, dass Autonomie wertvoll ist […]. Es scheint jedoch einige andere klare Maßnahmen zu erfordern, z. B. Kinder auf eine Vielzahl möglicher Lebensweisen aufmerksam zu machen und ihnen die konzeptionellen Werkzeuge anzubieten, um zwischen ihnen zu wählen (2013, S. 40).
Wenn wir Colburn hier folgen und verstehen, dass politischer Liberalismus im einem schwachen Sinne, wie er oben diskutiert wurde, autonomieorientiert ist, dann würde dies bedeuten, dass der politisch-liberale Staat seine Bildungspolitik tatsächlich so gestalten müsste, wie Colburn es vorschlägt. Und obwohl die
4.5 Verpflichtende Bildung
99
Schritte, die uns hierher geführt haben, plausibel erscheinen, könnte dies ein stärkerer Anspruch an liberale Bildung sein, als wir im Rahmen des politischen Liberalismus für akzeptabel halten würden, insbesondere unter Berücksichtigung dessen, was Rawls selbst darüber schreibt (siehe Abschn. 2.2). Wie kompatibel Colburns Vorschlag für liberale Bildung mit Rawls’ politischen liberalen Ideen ist, bleibt abzuwarten. Um dies zu bestimmen, ist es hilfreich, drei Fragen zu untersuchen, die sich aus Colburns Behauptung über liberale Bildung für Autonomie ergeben: Wie legitim ist ein verpflichtendes Bildungssystem, was bedeutet es, Autonomie zu fördern, ohne ihren Wert zu fördern, und welches Spektrum an möglichen Lebenswegen muss liberale Bildung berücksichtigen? Ich werde jede dieser Fragen im Folgenden näher erörtern.
4.5 Verpflichtende Bildung Obwohl es scheint, dass eine Form verpflichtender Bildung in der Regel von den meisten politischen Philosophen ohne weitere Diskussion akzeptiert wird, sollten wir dennoch in der Lage sein, eine angemessene Rechtfertigung hierfür zu liefern, da es sich um eine Form der politischen Zwangsmassnahme handelt. In liberaldemokratischen Gesellschaften erhalten Kinder eines bestimmten Alters in der Regel Schulbildung, die staatlich vorgegebenen Standards entspricht, unabhängig von ihrer eigenen Zustimmung oder der ihrer Eltern. Obwohl die verpflichtende Bildung in der Praxis häufig auch eine Schulpflicht umfasst, ist letztere keine notwendige Folge der ersteren. Zumindest was die Förderung von Autonomie betrifft, scheint es nicht strikt notwendig zu sein (trotz der Tatsache, dass eine öffentliche Schulbildung wahrscheinlich eher dazu beiträgt). Daher werde ich davon ausgehen, dass hier die notwendige Anforderung lediglich eine verpflichtende Bildung ist. Ein System der verpflichtenden Bildung scheint auch Rawls’ Standard zu sein, wenn er die Anforderungen einer politisch-liberalen Bildung skizziert, so minimal diese Anforderungen auch sein mögen. Rechtfertigung für verpflichtende Bildung kann auf unterschiedlichen Grundlagen gegeben werden. So wird z. B. argumentiert, dass sie sicherstellt, dass Kinder zu selbstbestimmten Personen heranwachsen, kompetente Mitglieder einer demokratischen Gesellschaft werden, dass sie eine Form der Verteilung wichtiger Ressourcen ist, die erforderlich sind, um von ihren Rechte und Freiheiten gebrauch machen zu können, und dass sie wichtig ist, um eine Form kommunaler oder nationaler Identität zu sowie politische Tugenden zu vermitteln. Ein oft genannter liberaler Zweck verpflichtender Bildung ist es, Kinder zu selbstbestimmten Personen zu machen, unter der Annahme, dass ihr eine ähnliche Idee der Individualität zugrunde liegt wie man sie bei John Stuart Mill findet. Aus dieser Perspektive soll erpflichtende Bildung Kinder dazu bringen, „ihre Leben rational und verantwortungsvoll zu kontrollieren“ (1981, S. 192–193) und dafür zu sorgen,
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4 Autonomie
dass sie „selbstformative und selbstbestimmte“ Bürger:innen (2014, S. 38) werden.12 Sie sichert, was Joel Feinberg das „Recht auf eine offene Zukunft“ nennt (2011, S. 113), indem sie ihre autonomiebezogenen Rechte schützt, bis sie erwachsen sind. Andernfalls könnten Kinder einem ungerechten Risiko ausgesetzt sein: „Eine Bildung, die ein Kind nur auf eine bestimmte Lebensweise vorbereitet, schließt seine anderen Optionen unwiderruflich aus“ (2011, S. 115). Feinberg behauptet, dass verpflichtende Bildung zusätzlich die zukünftige Autonomie von Kindern vor ihren eigenen, derzeitigen Entscheidungen sichert – und damit die mangelnde Fähigkeit von Kindern zu langfristiger Planung ausgleicht. Während Feinbergs konkrete Vorstellung von Autonomie bereits zu substantiell sein könnte, um als Rechtfertigung für einer politisch-liberalen Perspektive aus Bildung zu dienen, so hat sie doch einen gewissen Reiz für umfassende Theorien der liberalen Bildung. Aber es ist noch lange nicht klar, ob eine allgemeine Schulpflicht der richtige Weg ist, um diesen Anforderungen gerecht zu werden (Kleinig 1981, S. 193– 194). Aharon Aviram zum Beispiel argumentiert sogar, dass die Idee einer autonomiefördernden Bildung im Widerspruch zum Konzept der allgemeinen Schulpflicht steht. Autonomie sei, so sein Argument, inhärent mit der Rationalität einer Person verbunden. Nur in Fällen, in denen eine Person nicht rational ist, sei ein pädagogischer Eingriff gerechtfertigt. Eine häufig unausgesprochene Annahme von Liberalen ist, dass Kinder nicht, oder zumindest nicht in ausreichendem Maße, rational sind, so dass Paternalismus in Bezug auf sie gerechtfertigt ist, einschließlich der Anforderung einer allgemeinen Schulpflicht. Aviram dagegen behauptet, dass Kinder (mit Ausnahme von Säuglingen) im Allgemeinen als rational angesehen werden können und dass, wenn sie den Status rationaler Individuen haben, sie auch als autonome Personen behandelt werden müssen. Es scheint daher paradox, Paternalismus gegenüber Kindern mit der Notwendigkeit zu rechtfertigen, sie auf ein autonomes Leben vorzubereiten. Die Wertschätzung von Autonomie scheint tatsächlich entweder zu gebieten, auf paternalistische Maßnahmen zu verzichten oder eine andere Rechtfertigung für sie zu finden (1986, S. 54). Das Problem dieses Einwandes gegen die allgemeine Schulpflicht besteht in der Annahme, dass Kinder tatsächlich über hinreichen rational und damit autonom sind, um Paternalismus ihnen gegenüber nicht rechtfertigen zu können. Obwohl man Aviram zustimmen mag, dass Kinder nicht völlig unrational sind, ist es plausibel, anzunehmen, dass sie nicht hinreichend autonom sind um z. B. auf Schule zu verzichten, solange sie nicht eine bestimmtes Mindestmaß bezüglich ihrer Fähigkeit, rationale, informierte Entscheidungen zu treffen, erreicht haben.
12 Es
sollte beachtet werden, dass Hinchliffe aus einer republikanischen Perspektive argumentiert und für eine Bildung für die Freiheit in einem republikanischen Sinne plädiert. Seine Grundanforderungen an eine Bildung für selbstbestimmte Personen sind jedoch ähnlich denen vieler mehr an Rechten orientierter Liberaler.
4.5 Verpflichtende Bildung
101
Eine politisch-liberale Bildung muss sich daher nicht sorgen, dass eine allgemeine Schulpflicht aufgrund der Autonomie von Kinder illegitim sein könnte. Der Fall der allgemeinen Schulpflicht kann am besten als ein besonderer Fall dessen verstanden werden, was David Archard die „Betreuer-These“ nennt, der liberalen Auffassung, dass Kinder noch keine autonomen Akteur:innen sind und daher wichtige Entscheidungen über ihr Leben zu Recht von Erwachsenen getroffen werden, meist von ihren Eltern. Im Allgemeinen, sagt Archard, „muss ein:e pädagogische Betreuer:in wählen, was das Kind wählen würde, wenn es in der Lage wäre, Entscheidungen zu treffen, wählen auch mit Blick auf die Interessen der:s Erwachsenen, zu der:m das Kind werden wird“ (2004, S. 78). Die Standardannahme ist, dass die Betreuer selbst in diesen Angelegenheiten kompetent sind, was für Eltern hinsichtlich vieler Aspekte der Erziehung eines Kindes zutreffen kann. Aber, wie John Kleinig schreibt, „haben Eltern nicht immer das Wohl ihrer Kinder im Sinn, aber selbst wenn, können sie vielleicht manchmal nicht wissen, wie sie am besten darauf reagieren sollen, oder sie können in eine Situation geraten, in der sie gezwungen sind, die Interessen ihrer Kinder zu opfern (etwa aus wirtschaftlichen oder anderen Gründen)“ (1981, S. 194). Daher werden Bildungsaufgaben am besten an Experten für Bildung „ausgelagert“, ebenso wie Eltern zum Beispiel medizinische Experten bei Gesundheitsproblemen ihrer Kinder um Hilfe bitten würden. Die Grundschulbildung von Kindern ist entscheidend dafür, dass sie im Erwachsenenalter überhaupt eine Chance haben, sich beruflich zu entwickeln. Daher muss sie ein ausreichend breites Spektrum an Themen umfassen. Es erscheint sinnvoll, davon auszugehen, dass Schulen als professionelle Einrichtungen besser in der Lage sind als die meisten Eltern, Entscheidungen darüber zu treffen, was Kinder lernen sollen und auf welche Weise.13 Sie tragen dazu bei, den Kindern das Recht auf eine offene Zukunft zu ermöglichen, indem sie ihre Entwicklung der „Fähigkeit zum Nachdenken, Abwägen und Argumentieren sowie der Fähigkeit, Wissen über sich selbst und ihre Welt zu erwerben“ (Archard 2004, S. 82) fördern. Wenn Kinder älter werden, werden sie allmählich selbstständiger und können eigenständig Entscheidungen in ihrem eigenen Interesse treffen. Das Ende der Pflichtschulzeit kann als Ausdruck dieser Tatsache verstanden werden.14
13 Besonders
die letzte Behauptung ist umstritten: Es ist weit davon entfernt, dass Schulen für alle Kinder optimale Lernumgebungen bieten. Eine Möglichkeit, diesen Zustand zu verbessern, könnte die Privatisierung von Schulen sein, die dann unterschiedliche Lehrmethoden/umgebungen anbieten könnten, von denen einige wahrscheinlich effektiver sein würden als andere, siehe z. B. Tooley (2005). Trotzdem scheint es eine sichere Annahme, dass Schulen im Durchschnitt besser in der Lage sind, Kinder zu erziehen, als dies die Eltern selbst in einer wohlgeordneten Gesellschaft sind.
14 In
der Regel endet die Pflichtschulzeit mit 16 Jahren in den meisten europäischen Ländern, obwohl einige Länder eine zusätzliche, teilweise verpflichtende Bildung bis zum 18. Lebensjahr vorsehen, siehe Europäische Kommission (2015).
102
4 Autonomie
Im Kontext des politischen Liberalismus bietet Autonomie eine Möglichkeit, verpflichtende Bildung zu rechtfertigen. Kinder in einer liberalen Gesellschaft müssen während ihrer Schulzeit die für ihre staatsbürgerlichen Pflichten erforderliche Art von Autonomie entwickeln – dies umfasst die politische Autonomie im Sinne Rawls’ sowie die von mir zuvor in diesem Kapitel skizzierte Art von schwacher Autonomie. Natürlich ist es möglich, dass ein anderes, nicht-verpflichtendes Schulsystem die liberale Sorge um Autonomie ebenso wirksam oder sogar besser beantworten könnte. Ob solche Formen des Unterrichts praktikabel sind, kann ich nicht beantworten. Für eine wohlgeordnete liberale Gesellschaft, die nach heutigen westlichen Demokratien modelliert ist, erscheint jedoch ein autonomiebasierter Argumentationsansatz für verpflichtende Bildung am plausibelsten. Trotzdem könnten wir selbst dann, wenn wir uns darauf einigen, dass es einen Fall für eine verpflichtende Bildung gibt, immer noch uneins über ihren Umfang sein. Einige Liberale könnten argumentieren, dass nur die Grundschulbildung obligatorisch sein sollte, während andere die Notwendigkeit einer umfassenderen Schulpflicht sehen. Mir scheint, dass es bei diesen Detailfragen nicht mehr um allgemeingültige Prinzipien für mögliche wohlgeordneten Gesellschaften geht, sondern dass die richtige Entscheidung hier eher vom jeweiligen gesellschaftspolitischen Kontext abhängt. In einer Gesellschaft mit sehr unterschiedlichen religiösen, aber vernünftigen und umfassenden Lehren, die viel Wert auf das Leben in der religiösen Gemeinschaft legen, könnte die Schulpflicht auf die Grundschulbildung beschränkt werden. In einer stärker marktorientierten, durch Wettbewerb geprägten Gesellschaft oder in einer Gesellschaft, die ein umfassendes politisches Engagement von Bürger:innen erfordert, könnte es aus Klugheitserwägungen und moralisch geboten sein, die Schulpflicht auch auf die Sekundarstufe auszudehnen. Generell lässt sich jedoch sagen, dass es vernünftige liberale Argumente für die Schulpflicht als solche gibt.
4.6 Förderung von Autonomie Prozeduralistische Darstellungen von Autonomie, wie die von Dworkin und Colburn, für die es nicht nötig ist, zu vermitteln, dass Autonomie ein substantieller Wert ist, scheinen gut zur Tendenz des politischen Liberalismus zu passen, eine ethische Konzeption von Autonomie zu vermeiden. Aber selbst wenn Autonomie nicht als etwas in die Bildung eingeht, das an sich selbst gut und wertvoll ist, ist es nahezu unmöglich (und vielleicht auch nicht wünschenswert), schwache Autonomie vollständig zu vermeiden. Die besonders interessante Frage für den Rawl’schen politischen Liberalen ist in diesem Zusammenhang, ob und wie Autonomie unterrichtet werden kann, ohne eine neutrale Position gegenüber vernünftigen umfassenden Lehren aufzugeben und zu perfektionistisch zu werden. Eine autonomieorientierte Bildung, so argumentiert Colburn, müsste zumindest darauf verpflichtet sein, „jedem eine Vielfalt an Lebensweisen bewusst zu machen, die konzeptionellen Werkzeuge zu bieten, zwischen diesen zu wählen,
4.6 Förderung von Autonomie
103
und sicherzustellen, dass jeder eine faire Chance hat, erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten zu erwerben, um in ihnen zu bestehen“ (2008, S. 624). Während dieser Anspruch neutraler ist als der einer Bildung, die Autonomie als intrinsisch wertvoll fördert, bemerkt Colburn, dass so immer noch eine gewisse Reihe von umfassenden Lehren ausgeschlossen werden: Der autonomieorientierte Liberalismus ist darauf verpflichtet zu sagen, dass bestimmte Lebensweisen jenseits aller Grenzen liegen, weil sie den Bildungsprozess, den der autonomieorientierte Liberalismus erfordert, nicht überleben können. Zum Beispiel wird jede Lebensweise de facto ausgeschlossen, wenn sie erfordert, dass Kinder in Unkenntnis möglicher Lebenswege aufgezogen werden, die von ihren Eltern nicht befürwortet werden […] (2008, S. 624).
Während Colburn eine Form des Liberalismus im Sinn hat, die der von Raz ähnelt, wenn er über einen autonomieorientierten Liberalismus spricht, beobachtet er, dass diese Zugeständnisse auch für politische Liberale akzeptabel sind. Wenn wir uns an Rawls’ Haltung zur minimalen politisch-liberalen Bildung ins Gedächtnis rufen, erinnern wir uns an sein Zugeständnis, dass die Auswirkungen der politisch-liberalen Bildung manchmal denen einer umfassenderen ähneln, trotz der unterschiedlichen Rechtfertigungen für beide. Rawls räumt auch ein, dass dies manchmal zu Veränderungen traditioneller Lebensweisen führen kann, die mit entsprechenden Anforderungen in Konflikt stehen, und dass solche Veränderungen akzeptiert werden müssen (Rawls 2005b, S. 200). Bis hierhin scheint Colburns Argument, obwohl es hauptsächlich für einen umfassenderen, auf Autonomie ausgerichteten Liberalismus entwickelt wurde, für den politischen Liberalismus zu funktionieren. Eine ähnliche Idee findet sich in dem von Harry Brighouse unterstützten Konzept der „autonomiefördernden“ Bildung (2003). Für ein besseres Verständnis davon, was Autonomie im Kontext von Bildung bedeuten soll, definiert Brighouse Autonomie, indem er Beispiele für nicht-autonome Präferenzbildung gibt: Präferenzen, die unter stark eingeschränkten Alternativen gebildet werden, sind nicht-autonom, ebenso wie solche, die unter Bedingungen der Täuschung oder Fehlinformation gebildet werden, angepasste Präferenzen von der Art „sauerer Trauben“ und sogar bewusste Anpassung der eigenen Präferenzen an zwangsweise oder anderweitig wahlbeschränkende Umstände (2003, S. 66). Für Brighouse haben Kinder ein Interesse daran, als Erwachsene autonome zu sein, und haben daher Anspruch auf eine Bildung, die es ihnen ermöglicht, dies auf die bestmögliche Weise zu werden. Autonomie, so sein Anspruch, ist instrumentell wertvoll für die Bewertung und Nutzung verfügbarer Möglichkeiten, um ein gutes Leben zu führen. Es ist möglich, die erforderliche Kenntnisse und Fähigkeiten hierfür bereitzustellen, daher gebieten Gerechtigkeitsüberlegungen, dass der Staat nicht nur die für ein gutes Leben erforderlichen „externen Ressourcen und Bedingungen“ bereitstellt, sondern auch „die grundlegenden Methoden der rationalen Bewertung [,die] zuverlässige Hilfsmittel darstellen, um herauszufinden, wie man gut leben kann“ (2003, S. 69). Methoden des kritischen Denkens ermöglichen es Kindern, als Erwachsene autonom zu leben, soweit sie es ihnen ermöglichen, besser nicht-autonome Präferenzbildung zu vermeiden und
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4 Autonomie
Präferenzen im Lichte einer kritischen Bewertung zu überarbeiten. Autonomiefördernde Bildung stellt Kindern „ein Gefühl dafür zur Verfügung, was ein gutes Leben ausmacht“ (2003, S. 69). Ein möglicher Einwand aus der Perspektive einiger umfassender Lehren kännte sein, dass das gute Leben genau darin besteht, etwa die eigenen religiösen Überzeugungen oder die eigenen äußeren Bedingungen kritischen Prüfungen zu unterziehen, sondern sie anzunehmen oder sie zumindest so zu akzeptieren, wie sie sind. Brighouses Antwort ist, dass die Förderung von Autonomie nicht die Förderung eines intrinsischen Werts von Autonomie beinhaltet, sondern Kinder mit Werkzeugen versorgt, für die sie entscheiden können, ob sie diese verwenden oder nicht. In diesem Zusammenhang legt er nahe, dass es wie das Unterrichten von Latein oder Französisch ist – während es Kindern die Möglichkeit gibt, später in diesen Sprachen zu lesen oder zu kommunizieren, wird nicht versucht, sie wirklich dazu zu bringen (siehe 2003, S. 80, 94–95). Ist Brighouses Entwurf für eine autonomie-fördernde Bildung damit auch eine geeignete Vorlage für die politische Bildung? Teile davon sind es. Die konkreten Unterrichtsvorschläge, die Brighouse macht, erscheinen weitgehend mit der schwachen Konzeption von Autonomie vereinbar, die in diesem Kapitel vorgestellt wurde, und geeignet für die Aufnahme in politisch-liberale Lehrpläne. Es ist jedoch Brighouses Rechtfertigungsstrategie, die mit einer politisch-liberalen Herangehensweise meines Erachtens nicht harmoniert. Das Hauptproblem hier ist, dass Brighouse eine Raz’sche Konzeption von Autonomie (2003, S. 68-69) unterstützt, die bei konsequenter Umsetzung perfektionistische Bildungsmaßnahmen zur Folge hätte (siehe Abschn. 4.1). Während Brighouse über solche Implikationen eher schweigt, deutet seine Idee, dass es einen Sinn davon gibt, „was das gute Leben ausmacht“, auf die perfektionistischen Grundlagen seines Ansatzes hin. Es ist auch nicht ganz klar (mir jedenfalls nicht), ob der Vergleich mit Sprachunterricht so unbedenklich ist, wie er auf den ersten Blick erscheint. Brighouse hat sicher Recht, dass hier nicht gefördert wird, sich zum Beispiel in mittelalterliche Texte oder römische Geschichte zu vertiefen, solange ein Lateinkurs eine freiwillige Wahl ist und die Abmeldung vom Unterricht keine Nachteile hat. Bildung für Autonomie unterscheidet sich meiner Ansicht nach dadurch, dass sie nicht nur ein einzelner Kurs oder ein Modul ist, das Schüler:innen wählen oder nicht wählen können, sondern ein Aspekt, der in den Inhalten verschiedener Kurse und Lehrpläne im Allgemeinen umgesetzt werden soll. Sobald dies der Fall ist, ändert sich jedoch die Motivation für diese Umsetzung, sowie die Botschaft, die sie Schüler:innen und Eltern vermittelt. Plötzlich ist das nicht mehr ein Angebot für diejenigen, die an bestimmten Ideen des guten Lebens interessiert sind, sondern es handelt sich um ein Signal, dass es sich hier um eine offiziell geförderte, intrinsisch wertvolle Sichtweise handelt, dies es ermöglichen soll, gute Lebensentscheidungen zu treffen. Einige Aspekte der von Brighouse favorisierten Bildung zur Förderung der Autonomie können weiterhin nützlich und mit einer politisch-liberalen Bildung vereinbar sein, z. B. beim Gestalten des Lehrplans, um ein breiteres Verständnis für die Geschichte und Kulturen jenseits der eigenen Gemeinschaft zu entwickeln,
4.7 Der Umfang möglicher Lebensoptionen
105
da solche Dinge im Kontext der Entwicklung bestimmter politischer Tugenden gerechtfertigt werden können.15 Sein komplettes Paket an Maßnahmen zur Förderung von Autonomie wird jedoch weiterhin durch zu viele perfektionistische Annahmen belastet, um im Rahmen einer politisch-liberalen Bildung so eingesetzt zu werden, wie er sie sich vorstellt. Man könnte über die in diesem Abschnitt beschriebene Anforderung an Autonomie beklagen, dass sie noch zu streng ist und zu Maßnahmen führt, die gegenüber Lebensweisen unfair sind, die zu viel Wissen über die Welt außerhalb ihres Einflussbereichs als gefährdend betrachten. Es scheint mir jedoch, dass die Konzeptionen schwacher Autonomie und politischer Autonomie, die den Inhalt einer politisch-liberalen Bildung prägen, eine grundlegende Rechtfertigung dieser Anforderungen ermöglichen. Kinder in einer wohlgeordneten Gesellschaft müssen sich selbst und andere als selbstbestimmte Akteur:innen verstehen. Dies bedeutet nicht unbedingt, dass die Ziele und Werte anderer umfassender Lehren in gleicher Weise wesentlich wertvoll sind wie die eigenen, aber es impliziert die Vermittlung einer Akzeptanz von vernünftigen umfassenden Lehren anderer Bürger:innen als auf politischer Ebene gleichermaßen respektabel. In Bezug auf politische Autonomie werden Kinder auch die in Abschn. 2.2 erwähnten Fähigkeiten und Kenntnisse erwerben müssen. Dies sind alles Anforderungen, die zur Stabilität und Kontinuität einer freien und gleichen politisch-liberalen Gesellschaft beitragen. Vernünftige Bürger:innen können sich daher nicht zu Recht darüber beschweren.
4.7 Der Umfang möglicher Lebensoptionen Was bedeutet es, Kinder auf eine Vielzahl möglicher Lebensweisen aufmerksam zu machen? Wir können versuchen, auf diese Frage durch Quantifizierungen entlang folgender Dimensionen zu antworten: Wie viele verschiedene Lebensweisen müssen Kinder kennenlernen, und wie sehr detailliert sollten die Informationen über mögliche Lebensweisen sein, um zukünftige Leben autonom gestalten zu können? Aus einer naiven Perspektive mag es scheinen, dass mehr Optionen besser sind. Wie bei anderen Gütern wird der Grenznutzen der Kenntnis über mögliche Lebensweisen abnehmen, aber solange er auf Null oder darunter fällt, werden wir immer noch geneigt sein zu sagen: Je mehr Optionen, desto besser. Natür-
15 Wenn
ich Brighouse richtig verstehe, wird Tugendbildung überflüssig, wenn Bildung sich stattdessen auf Autonomie konzentriert und eine rationelle Wahl zwischen verschiedenen Lebensweisen hervorhebt, da eine autonome Person normalerweise keine in dieser Hinsicht wertlose oder schlechte Entscheidungen treffen würde. Diese Interpretation würde zu Raz’ Idee passen, dass Autonomie mit bestimmten wertvollen Aktivitäten verbunden ist. Ich werde diese Idee hier nicht weiter verfolgen, interessant, wie sie ist, aber ich denke, diese Sichtweise beruht auf einer zu optimistischen und rationalistischen philosophischen Anthropologie.
106
4 Autonomie
lich sind die Dinge nicht so einfach. Informationen über Lebensweisen kommen mit Kosten, und diese Kosten steigen mit jeder Option, über die wir Bescheid wissen wollen. Bis zu einem gewissen Grad reduzieren Schulen diese Kosten für Kinder, indem sie ihnen die Mühe ersparen, relevante Informationen zu suchen und (idealerweise) nur Informationen von ausreichender Qualität bereitstellen. Trotzdem werden Kinder Zeit und Aufnahmefähigkeit für neue Informationen benötigen, beides Ressourcen, die begrenzt sind und außerdem zwischen verschiedenen Bildungszielen verteilt werden müssen. Es gibt praktische Einschränkungen dafür, wie viel über unterschiedliche Lebensweisen unterrichtet werden kann. Es scheint jedoch wichtig zu sein, dass Kinder im Kontext ihrer Schulbildung auf eine relevante Anzahl an vernünftigen Weltanschauungen und Lebensweisen aufmerksam gemacht werden, die in ihrer Gesellschaft existieren.16 Angesichts dieser Ziele und der praktischen Einschränkungen wird jemand entscheiden müssen, auf welche Weise diese Art von Bewusstsein erreicht werden soll, welche Lebensweisen eingeschlossen sein sollen und in welchem Umfang. Ein Beispiel hierfür ist die Darstellung von LGBT17-Beziehungen als normativ gleichwertig zu heterosexuellen Beziehungen, obwohl und gerade weil letztere immer noch von einer Mehrheit in bestehenden liberal-demokratischen Gesellschaften als die Norm angesehen werden. Der wahrgenommene Ungleichgewicht zwischen z. B. homo- und heterosexuellen Lebensweisen führt in vielen Fällen zu sozialem Druck auf Kinder und Jugendliche, weil entweder ihre Eltern oder sie selbst in die Kategorie LGBT fallen (während das erste bereits während der Grundschule ein Problem sein kann, tritt das zweite meist während der Sekundarstufe auf). Dieser Druck ist weniger das Ergebnis formaler Diskriminierung, sondern informeller, alltäglicher Diskriminierung aufgrund von Vorurteilen und Stereotypen, die von Schulkamerad:innen und Lehrer:innen aufrechterhalten werden. Die Beseitigung solcher informeller Diskriminierung in tatsächlichen Gesellschaften und ihre Vermeid ung in moderat idealisierten Gesellschaften ist eine Frage der Gerechtigkeit und als solche muss eine Darstellung politisch-liberaler Bildungs sensibel dafür sein. Die Darstellung von LGBT-Lebensweisen als mögliche und gleichermaßen wertvolle Optionen neben traditionelleren sieht nach einem
16 Indem
ich es so vage formuliere, lasse ich absichtlich offen, welche Weltanschauungen und Lebensweisen Teil des Schulcurriculums sein sollten. Dies sind Entscheidungen, die in einem bestimmten sozialen Kontext getroffen werden müssen. In einer bestimmten wohlgeordneten Gesellschaft könnte es die beste Option sein, die wichtigsten umfassenden Lehren darzustellen, während es in einer anderen wichtig wäre, auf kleinere vernünftige Weltanschauungen aufmerksam zu machen, die sonst durch Marginalisierung bedroht wären. 17 Heutzutage werden verschiedene Erweiterungen dieses Akronyms verwendet, z. B. LGBTQ, LGBTI, LGBTIQ und LGBT+. Aus Gründen der Einfachheit verwende ich LGBT mit der Absicht, auch Geschlechtsidentitäten einzuschließen, die von keinem dieser vier Buchstaben repräsentiert werden.
4.7 Der Umfang möglicher Lebensoptionen
107
wesentlichen Schritt bei der Bewältigung dieser besonderen Art von Ungerechtigkeit aus.18 Rawls’ eigene minimale Darstellung politisch-liberaler Bildung sagt uns nicht viel über das Bewusstsein für und das Verständnis von unterschiedlichen Lebensweisen. Dennoch rechtfertigt die Idee von Gleichheit in seiner liberalen politischen Philosophie und darin enthaltene Konzeption schwacher Autonomie, die Hinzunahme einer Anforderung, ein Bewusstsein für solche Fragen zu wecken. Zunächst können Kinder (und Personen im weiteren Sinne) durch das Lernen über verschiedene Lebensweisen erkennen, dass es sich um sinnvolle Wahlmöglichkeiten handelt, die ihnen grundsätzlich offen stehen (selbst wenn sie ihre Lebensweise nie radikal ändern können, indem sie beispielsweise zu einem bestimmten Zeitpunkt eine völlig andere Vorstellung von Gut und Böse annehmen). Wie Gerald Dworkin schreibt: Was intrinsischen Wert hat, ist nicht die Wahlmöglichkeit, sondern als die Art von Wesen anerkannt zu werden, das in der Lage ist, eine Wahl zu treffen. Diese Fähigkeit begründet unsere Vorstellung davon, was es bedeutet, eine Person und ein:e moralischer Akteur:in zu sein und gleichermaßen von allen respektiert zu werden (2001, S. 80).
Ähnliche Vorstellungen davon, was eine Person aus einer moralischen Perspektive ausmacht, finden sich auch in den Werken verschiedener anderer Autoren (oft in Kombination mit Darstellungen moralischer Verantwortung), wie Peter Strawson (2008), Stanley Benn (1990) und Gerald Gaus (2009, 2011). Zweitens kann das Präsentieren der eigenen umfassenden Lehre als eine von einer Reihe vernünftiger erwägenswerter Alternativen in einer pluralistischen Gesellschaft als eine Art verstanden werden, gleiche Anerkennung von Bürger:innen zu signalisieren. Charles Larmore zufolge schulden sich Bürger:innen gegenseitig, „als Wesen, die in der Lage sind, eine Vision des guten Lebens zu bejahen“ (1996, S. 136), gleiche Anerkennung. Ein Bildungsprogramm, das verschiedene Lebensweisen umfasst, fördert nicht nur die Achtung gegenüber Anhängern dieser Lebensweisen, sondern bietet auch die Gewissheit, dass sie alle einen gleichwertigen Status haben. Dieser Aspekt wird noch wichtiger, wenn wir von der Anwendung politischer Prinzipien auf das Modell einer wohlgeordneten Gesellschaft zu einem alles in Betracht ziehenden Ansatz für reale Gesellschaften wechseln wollen. Für die moderat idealisierte wohlgeordnete (und geschlossene) Gesellschaft scheint vielleicht kein besonderer Bedarf zu bestehen, andere umfassende Lehren
18 In
bestehenden liberal-demokratischen Staaten besteht eine Tendenz, dieses Thema zu einer politischen Frage zu machen, da es es ein ineffektiver oder zumindest sehr langsamer Prozess zu sein scheint, diese Art der Gleichheit an Schulen allein durch die Bemühungen von Lehrer:innen und Schulerwaltungen zu erreichen. Ein Grund hierfür sind Vorurteile von Lehrer:innen selbst oder Vorurteile, die in den grundlegenden religiösen Weltanschauung eingebettet sind, die einige Schulen vermitteln möchten. Aus diesem Grund fordert etwa die National Union of Teachers in Großbritannien ihre Mitglieder auf, den Druck auf die Regierung auszuüben, um „eine positive Darstellung gleichgeschlechtlicher Beziehungen“ (NUT General Secretary Christine Blower, zitiert in Espinoza (2015)) in verpflichtenden Sexualkunde-Kursen aufzunehmen.
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4 Autonomie
z ugänglicher zu machen. In Rawls’ Vision teilen sie eine einzige politische Identität und, wie Onora O’Neill bemerkt, werden sie daher „unvermeidlich bereit sein, gemeinsame Prinzipien und Standards für die grundlegenden Regelungen des Lebens anzustreben und einzuhalten, wenn dies möglich ist. Das ist mehr oder weniger das, was es bedeutet, Bürger:in einer demokratischen Gesellschaft zu sein“ (1997, S. 421). Bisher haben reale liberale Gesellschaften dieses Niveau der Homogenität in ihrer politischen Kultur noch nicht erreicht. Wie Victoria Costa beobachtet, ignoriert diese Art der Modellierung der wohlgeordneten Gesellschaft „Dinge wie die Tatsache, dass nicht alle Mitglieder die gleiche Sprache sprechen, dass einige kürzlich eingewandert sind, oder dass es tiefe soziale Spaltungen entlang ethnischer oder kultureller oder ethnischer Linien geben kann“ (2004, S. 11). Um diesen Umständen gerecht zu werden, kann die politisch-liberale Bildung nicht (wie Rawls vorschlägt) minimal sein, sondern muss einen weiteren Ansatz fördern, der „den Dialog und das gegenseitige Verständnis unter Bürger:innen“ fördert (2004, S. 11). Ein wichtiger Teil dieses Ansatzes ist es, Kinder darauf aufmerksam zu machen, dass es Lebensweisen gibt, die sich von ihren eigenen unterscheiden, und ihnen zumindest eine ausreichende Menge an Details über diese Lebensweisen zur Verfügung zu stellen, um zu verstehen, warum Menschen, die diese Art von Leben führen, möglicherweise nicht die eigenen Ansichten teilen. Diese Vielfalt an Überlegungen spricht dafür, Wissen über eine Reihe von möglichen Lebensoweisen bereitzustellen, nicht nur aus Gründen persönlicher Autonomie, sondern auch, um Bürger:innen gegenseitigen Respekt für ihre Lebensweisen zu vermitteln und so zu sozialer Kohäsion und Stabilität beizutragen. Damit endet die Diskussion der drei von Colburn aufgestellten Anforderungen für eine auf autonomieorientierte liberale Bildung, die demonstrieren haben sollte, was eine politisch-liberale Bildung bereitstellen muss, die sich sowohl einer Konzeption schwacher Autonomie als auch einer Konzeption politischer Autonomie verpflichtet fühlt. Was noch zu tun bleibt, Einwände gegen prozeduralistische Autonomie-Konzeptionen zu untersuchen, die behaupten, dass solche Konzeptionen für eine ausgearbeitete liberale Bildungstheorie zu schwach sind,
4.8 Einwände gegen schwache Autonomie Obwohl es offensichtlich scheint, dass die moralischen Vermögen von Bürger:innen eine Art Autonomie implizieren, würde nicht jeder zustimmen, dass es sich nur um eine schwache Form von Autonomie handelt, wie ich vorschlage. Meira Levinson hat insbesondere im Zusammenhang mit liberaler Bildung argumentiert, dass eine prozeduralistische Auffassung von Autonomie für eine robuste liberale Theorie nicht ausreicht. Stattdessen müsste selbst der politische Liberalismus eine stärker substantielle Auffassung von Autonomie annehmen, die dazu führen würde, dass er zu dem wird, was sie einen „schwach perfektionistischen“ Liberalismus nennt. Levinsons
4.8 Einwände gegen schwache Autonomie
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Ideal persönlicher Autonomie ist eine substantielle Vorstellung von höherwertiger Präferenzbildung innerhalb eines Kontexts kultureller Kohärenz, pluraler konstituierender persönlicher Werte und Überzeugungen, Offenheit gegenüber der Evaluation anderer über sich selbst und einer ausreichend entwickelten moralischen, spirituellen oder ästhetischen, intellektuellen und emotionalen Persönlichkeit (2004, S. 35).
Es ist schwer vorstellbar, wie ein Bildungsprogramm auf der Grundlage eines solchen Ideals aus der Perspektive der beteiligten umfassenden Lehren gerechtfertigt werden könnte, da die Entwicklung einer spirituellen, ästhetischen und emotionalen Persönlichkeit genau das ist, worüber sie sich zu einem weiten Teil vernünftig streiten werden. Levinson sieht die Kapazität von Bürger:innen für eine Konzeption des Guten, d. h. „zur Bildung, Überarbeitung und [zu] dem rationalen Streben nach einer solchen Konzeption“ (Rawls 2005b, S. 302) als ein wesentliches Merkmal der Theorie von Rawls, das auch „die Kapaziät für Autonomie umfasst“ (Levinson 2004, S. 19). Statt sich mit Rawls’ Erklärung zufriedenzugeben, dass es sich hierbei nur um eine Charakterisierung davon handelt, wie die Bürger:innen über sich selbst (als Bürger:innen) denken sollten, anstatt um ein moralisches Ideal (Rawls 2005b, S. 300), beharrt Levinson darauf, dass die Rechtfertigung liberaler Institutionen „auf dem Wert von Autonomie“ (2004, S. 19, meine Hervorhebung) beruht. Die Tatsache, dass diese Fähigkeit in der politischen Vorstellung der Person eine wichtige Rolle spielt, zeigt laut Levinson, dass wir ihr einen besonderen Wert zuschreiben. In Anlehnung an Ronald Dworkin schließt sie, dass die Kapazität für Autonomie „einen substantielles Gut “ (2004, S. 20, Hervorhebung im Original) darstellt, und dass wir sie nicht nur nutzen wollen, weil sie da ist, sondern weil wir sie für wertvoll halten. Die einzige Möglichkeit, liberale Institutionen angemessen und vollständig zu rechtfertigen, besteht für sie darin, „ein Ideal individueller liberaler Autonomie anzunehmen“ (2004, S. 21). Der schwache Autonomiebegriff von Gerald Dworkin, „die dünnste mögliche Vorstellung von Autonomie“, ist in diesem Zusammenhang für Levinson nicht nützlich (2004, S. 26). Dies liegt an der formalen Natur von Dworkins Konzeption der Autonomie: Um autonom zu sein, müssen Individuen fähig sein, sich mit Gründen, aus denen sie handeln, zu identifizieren oder sie andernfalls zu verwerfen (Dworkin 2001, S. 15),19 aber diese Konzeption bewertet keine Gründe zweiter Ordnung, welche für diese Identifizierung oder Ablehnung eine Rolle spielen. Dies ist es nach Ansicht von Levinson aus zumindest zwei Gründen ausgeschlossen, dass es sich um eine akzeptable Konzeption von Autonomie handelt. Sie sagt zunächst, dass das Dworkinsche schwache Konzept von Autonomie uns keine guten Kriterien bietet, „um zwischen heteronom und autonom
19 Um
Frankfurts Terminologie zu verwenden, müssen autonome Akteur:innen die Fähigkeit haben, Wünsche zweiter Ordnung zu bilden, um aufgrund von Wünschen erster Ordnung zu handeln, mit denen sie sich identifizieren, und Wünsche erster Ordnung zu verwerfen, mit denen sie sich nicht identifizieren. Nach Frankfurts Ansicht ist dies sogar für die Definition einer Person unerlässlich, siehe Frankfurt (2009).
110
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handelnden Individuen angemessen zu unterscheiden“ (Levinson 2004, S. 27), da wir diese Unterscheidung nicht auf der Grundlage von Gründen zweiter Ordnung vornehmen können, welche Individuen haben. Levinsons Beispiel vergleicht Harry, der ungeacht der Konsequenzen tun wird, was seine Mutter ihm sagt, und Abner, der zwar auch tun wird, was seine Mutter ihm sagt, dies aber, weil sie weiser ist als er und ihm helfen wird, ein bestimmtes Ziel X zu erreichen (2004, S. 27). Beide artikulieren „Wünsche zweiter Ordnung, zu denen [sie] gelangen, nachdem [sie] über ihre Wünsche erster Ordnung nachgedacht haben“ (2004, S. 27), wenn sie diese Pläne darlegen. Daher ist Levinson der Ansicht, dass eine prozeduralistische Konzeption von Autonomie beide als autonom identifiziert, was „unter jedem vernünftigen Verständnis von Autonomie im Fall von Harry unangemessen erscheint“ (2004, S. 27). Ihr Grund dafür ist der folgende: […] Harry könnte zu Recht beurteilt haben, dass er psychologisch stark abhängig von der Zustimmung seiner Mutter ist und deshalb entschieden haben, dem Rat seiner Mutter zu folgen, ungeachtet der Konsequenzen […] Harrys Urteile zweiter Ordnung werden in einem Kontext der Heteronomie gefällt – d. h. als Ergebnis einer unveränderlichen psychologischen Abhängigkeit von seiner Mutter, die er nicht in Frage gestellt oder geändert hat (2004, S. 27).
Um diesen Einwand besser zu verstehen, ist es wichtig, hier verschiedene Arten von Wünschen und zugehörigen Entscheidungen klar zu unterscheiden. Wenn man eine Frankfurtsche Sichtweise einnimmt, wie es sowohl Dworkin als auch Levinson zu tun scheinen, kann man Harrys Wünsche bzw. Entscheidungen wie folgt abbilden: (D1) Harry wünscht, seiner Mutter zu folgen, ungeachtet der Konsequenzen. Dies ist ein Wunsch erster Ordnung. (D2) Harry entscheidet sich, D1 nachzugeben, weil er erkennt, dass er psychologisch stark von seiner Mutter abhängig ist. Levinson behauptet, D2 sei eine heteronome Entscheidung, weil sie aus der Abhängigkeit von seiner Mutter resultiere, aber das scheint falsch zu sein. Es ist sicherlich richtig, dass D1 aus dieser Abhängigkeit resultiert, aber weniger klar für D2. Levinsons Beschreibung von D2 als eine Entscheidung über D1 klingt vielmehr danach, als wäre Harry sich der Tatsache seiner psychologischen Abhängigkeit bewusst, ebenso der Tatsache, dass sie zu D1 führt. Wenn Harry über die Natur von D1 nachdenkt, sich seiner starken psychologischen Abhängigkeit bewusst ist und sich dannentscheidet, diesen Wunsch erster Ordnung trotzdem zu unterstützen, scheint das nicht unbedingt ein Problem zu sein. Er könnte erkannt haben, dass die Kosten, seine psychologische Abhängigkeit zu überwinden, sehr hoch sind, und entschieden haben, sie nicht auf sich zu nehmen. Wenn Harry in der Tat über D1 nachdenkt, sich der Abhängigkeit, mit der es verbunden ist, bewusst ist und entscheidet, damit weiterzumachen, scheint D2 eine autonome Entscheidung zu sein. Unter dieser Interpretation zeigt das obige Beispiel also nicht, dass ein schwacher Autonomiebegriff uns dazu veranlasst, tatsächliche Fälle heteronomer Entscheidungen als unproblematisch einzustufen.
4.8 Einwände gegen schwache Autonomie
111
Das wird plausibler, wenn wir Harry als das betrachten, was Suzy Killmister eine:n „Woody-Allen-Akteur:in“ nennt, eine Sorte von Akteur:innen, die ihre neurotischen Wünsche erster Ordnung als konstitutiv für ihre Identität anerkennen und sie als validen Grund für sein Handeln betrachten (2015). Harry kann sich durchaus bewusst sein, dass der Wunsch, alles zu tun, was seine Mutter sagt, unvernünftig ist, ihn aber trotzdem als einen zentralen Teil seiner selbst akzeptieren und als solchen sich selbst gegenüber rechtfertigen. Solange wir davon ausgehen, dass es bei „Autonomie darum geht, was wir für uns selbst als vernünftig erachten“ (2015, S. 742), ist es „eine Form des Selbstausdrucks oder der Selbstverwirklichung“ (2015, S. 739) aus diesen Gründen zu handeln und daher gerechtfertigt. Selbst wenn wir den Gründen einer Person nicht zustimmen, sind es doch ihre Gründe und ihre Entscheidung, diesen Gründen gemäß zu handeln, ist eine autonome. Aber vielleicht wirkt sich die bösartige psychologische Einfluss von Harrys Mutter auch auf die Gründe zweiter Ordnung aus, auf die D2 sich stützt – die strenge Überwachung und der repressive Einfluss seiner Mutter hat in Harry den Glauben verfestigt, dass er nur eine wertvolle Person sein kann, wenn er immer das tut, was seine Mutter will. Dies könnte ein Fall von Einfluss auf die reflektiven Fähigkeiten einer Person sein, die die persönliche Selbstbestimmung untergräbt (Dworkin 2001, S. 18). Wenn Levinson über seine Entscheidung spricht, die „das Ergebnis einer unveränderlichen psychologischen Abhängigkeit [sind], die er nicht in Frage gestellt oder geändert hat“, scheint sie die zweite Möglichkeit im Sinn zu haben.20 Ob D2 in diesem Fall autonom ist, hängt von einer genaueren Beschreibung seiner Situation ab, als wir sie in diesem Fall erhalten. Es könnte so sein, wie Levinson sagt, und Harrys Disposition ist im wörtlichen Sinne unveränderlich, oder nur unter unrealistisch hohen psychologischen Kosten veränderbar. In diesem Fall kann D2 als ein Fall von angepassten Präferenzen, um Jon Elsters Terminologie zu verwenden, bezeichnet werden, in dem Harry die einzige realisierbare Option als die optimale Wahl für sich selbst erklärt hat, in einer Reaktion auf den psychologischen Druck, der seine Entscheidung gestaltet (Elster 2001, Kap. 3). Dies sind Fälle, die aus Sicht einer Darstellung prozeduralistischer Autonomie ausgeschlossen sind, was Standards erfordert, um Fälle von angepassten Präferenzen und Manipulation davon abzuhalten, als autonom zu gelten (Dworkin 2001, S. 18). Es gibt jedoch eine Klasse von Fällen, in denen man sagen wollen würde, dass Harry in einem wichtigen Sinne Autonomie fehlt, selbst wenn der ein WoodyAllen-Akteur ist. Dies sind Fälle, in denen seine Mutter ihn absichtlich psychisch abhängig macht, so dass seine starke Neigung zur Unterwürfigkeit ein Ergebnis ist,
20 Ich
werde die Frage, ob wir ernsthaft von Harry verlangen sollten, eine Abhängigkeit zu ändern oder zu hinterfragen, die wir im gleichen Satz als unveränderlich beschreiben, außer Acht lassen. Stattdessen werde ich davon ausgehen, dass „unveränderlich“ hier hyperbolisch für „sehr schwer zu ändern“ von Levinson verwendet wird.
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4 Autonomie
das sie mehr oder weniger explizit angestrebt hat. Zwischen diesem Fall und Fällen, in denen die mentale Verfassung von Harry und das Verhalten seiner Mutter zu seiner Abhängigkeit führen (ohne dass sie beabsichtigt, ihn abhängig zu machen), einen relevanten Unterschied zu geben. Fälle ersterer Art würden als Gehirnwäsche gelten und die Anforderungen für eine schwache Autonomie nicht erfüllen. 21 Ein zweiter Grund für Besorgnis ist für Levinson, dass die schwache Konzeption von Autonomie „die Möglichkeit eröffnet, dass Menschen sich selbst versklaven, aber weiterhin als autonom betrachtet werden“ (2004, S. 28). Harry tut dies, behauptet sie, indem er seiner Mutter effektiv die Kontrolle über sein Leben gibt, aber aus Dworkinscher bzw. Frankfurtscher Perspektive würde er immer noch als autonom betrachtet, weil seine Entscheidung auf einem Urteil zweiter Ordnung beruht. Im dem von Levinson beschriebenen Fall scheint D2 auf angepasste Präferenzen zu beruhen, somit war Harrys Entscheidung war von Anfang an nicht autonom, und es muss nichts weiter gesagt werden. Nach dieser Lesart müssen wir uns nicht darum sorgen, ob eine schwache Konzeption von Autonomie willentliche Versklavung erlaubt, weil bereits klar ist, dass Harry ein Kriterium für Autonomie nicht erfüllt. Aber was, wenn Harrys Fall ein bisschen anders wäre, und D2 nun doch das Ergebnis eines autonomen Prozesses wäre? Weder Harrys spezifische Entscheidung, seiner Mutter die Kontrolle über sein Leben zu überlassen, noch eine Entscheidung im Allgemeinen für ein Leben, das zu großen Teilen von anderen bestimmt wird, sind gleichbedeutend mit der Versklavung. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Menschen solche Lebensbedingungen wählen. ”[Eine] Person, die sich in verschiedener Weise einschränken möchte, ob durch die Disziplin eines Klosters, die Reglementierung der Armee oder sogar durch Zwang, ist nicht aufgrund dieser Tatsache allein weniger autonom“, wie Dworkin sagt (2001, S. 18). Die Person, die einen Langzeitvertrag mit der Armee unterschrieben hat, könnte in ihren Lebensentscheidungen während der Zeit, in der sie unter diesem Vertrag steht, eingeschränkt sein, aber da die Entscheidung, ihn zu unterschreiben, ihre eigene war, würden wir sagen, dass ihr Leben im Großen und Ganzen autonom ist, obwohl dies für einige Teile davon vielleicht weitaus weniger gilt als für andere. Während ihr Leben in einem globalen Sinn als autonom bewertet werden kann, ist ihr Leben für die Dauer des Vertrags in einem lokalen Sinn weniger autonom. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass Harry beabsichtigt, seiner Mutter bis zum Ende seines Lebens (oder vielleicht eher ihres Lebens) zu gehorchen, ändert dies nichts Wesentliches. Selbst wenn seine Mutter von ihm verlangen sollte, dass er sich selbst tötet, würde dies den autonomen Status seiner ursprünglichen Entscheidung nicht ändern, vorausgesetzt, es war wirklich eine autonome Entscheidung (wie bereits im Zusammenhang mit Levinsons erstem Bedenken
21 Ich
danke Matthew Clayton für die Hervorhebung dieses Punktes in unserer Diskussion darüber.
4.9 Fazit
113
diskutiert wurde). Wahrscheinlich würden die meisten von uns Harrys Entscheidung nicht zustimmen, aber ähnlich viele Menschen würden auch die Entscheidung, Soldat oder Mönch zu werden, ablehnen. Trotzdem möchte ich behaupten, dass in beiden Fällen die Ablehnung nicht an der mangelnden Autonomie der Entscheidung liegt, sondern auf unserer Bewertung der Gründe der entscheidenden Person. Dadruch, dass ich mich an dieser Stelle mit Levinsons Bedenken über die Mängel von Dworkins Darstellung prozeduralistischer Autonomie befasst habe, hoffe ich gezeigt zu haben, dass schwache Autonomie ausreicht, um die Idee der Freiheit und Gleichheit zu stützen, die grundlegend für den politischen Liberalismus sind. Um diese Konzepte verstehen zu können, benötigen wir mehr als nur die politische Autonomie, auf die Rawls verweist, aber nicht so viel substantielle Autonomie, wie Levinson annimmt. Tatsächlich ist eine schwache Konzeption von Autonomie, wie sie in diesem Kapitel vorgeschlagen wird, bereits in der Annahme von Personen als frei und gleich enthalten und eine Prämisse, die von allen vernünftigen Bürger:innen akzeptiert werden muss. Sie ist daher absolut mit einer Interpretation des politischen Liberalismus kompatibel, die so wenig perfektionistisch wie möglich sein soll. Gleichzeitig ermöglicht sie eine konsistente Rawls’sche Position in der Debatte um Autonomie in der Bildung.
4.9 Fazit Ich habe in diesem Kapitel argumentiert, dass der politische Liberalismus nicht nur ein Ideal politischer Autonomie, sondern auch in seinen grundlegenden Annahmen eine Form der individueller Autonomie impliziert, die grundlegende liberale Werte wie Freiheit und Gleichheit erklären kann. Trotzdem bedeutet dies nicht, dass der politische Liberalismus stillschweigend auf eine substantielle ethische Version der Autonomie zurückgreift, sondern nur, dass eine sehr schwache Vorstellung von Autonomie in seinen grundlegendsten Verpflichtungen implizit ist. Eine Darstellung prozeduralistischer Autonomie, wie sie von Gerald Dworkin ausgeführt wird, kann diesen Platz einnehmen, ohne den politischen Liberalismus mit Annahmen über den Wert von Autonomie zu belasten. Da diese schwache Idee von Autonomie bereits in die Annahme von Personen als frei und gleich enthalten ist, eine Prämisse, die von allen vernünftigen Bürger:innen akzeptiert werden muss, ist sie perfekt mit einer Interpretation des politischen Liberalismus kompatibel, die so wenig perfektionistisch wie möglich sein soll. Gleichzeitig ermöglicht sie eine konsistente Rawls’sche Position in der Debatte um Autonomie in der Bildung.
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4 Autonomie
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Kapitel 5
Rechte
Zusammenfassung Dieses Kapitel beleuchtet die Rolle von Bürgerrechten in der politisch-liberalen Theorie und zeigt, wie ein klar definiertes Rechtskonzept dazu beitragen kann, die Autoritätsbeziehungen bei der Erziehung von Kindern zu klären. Obwohl Rawls in seiner politischen Theorie immer wieder auf Rechte verweist, bleibt das zugrunde liegende Rechtsverständnis, das er im Sinn hat, undeutlich und ist daher nicht sehr hilfreich, um Konflikte zwischen Eltern und Staat über die Erziehung von Kindern zu lösen. Daher wird eine Hohfeldsche Perspektive von Rechten und Freiheiten angewendet, um die Rechte und Freiheiten von Kindern, Eltern und dem politisch-liberalen Staat transparenter zu machen. Diese Strategie ermöglicht es nicht nur, die Akteure zu identifizieren, die eine Befugnis haben, Entscheidungen über bestimmte Bildungsfragen zu treffen, sondern auch, einen Kompromiss zwischen Positionen zu finden, die entweder radikale Neutralität in der Erziehung von Kindern vorschlagen, wie bei Matthew Clayton zu finden, oder die politischen Liberalismus kritisieren, weil dieser zu sehr auf Neutralität fokussiert ist, um Kinder wirksam vor dem Einfluss schädlicher umfassender Ansichten zu schützen, wie z. B. Tim Fowler argumentiert. Es wird Zeit, einen genaueren Blick auf die Art von Rechten zu werfen, welche die Bildung in einer nach den Prinzipien der Gerechtigkeit als Fairness strukturierten Gesellschaft regeln. Die Analyse der Natur von Rechten im politischen Liberalismus und davon, wie sie die Beziehungen verschiedener Akteur:innen bei Bildungsentscheidungen, erscheint für eine Darstellung politischliberaler Bildung erforderlich, da unterschiedliche Akteur:innen, die an der Umsetzung eines politisch-liberalen Bildungsprogramms beteiligt sind, bei der konkreten Umsetzung unterschiedliche Interessen vertreten können. Im Fall der Bildung von Kindern sind diese Akteur:innen die Kinder selbst, ihre Eltern und der Staat. Man kann sagen, dass die Kinder selbst ein Interesse an Bildung haben, obwohl diese Art von Interesse essentiell eines ihrer zukünftigen Identitäten ist, welche
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Nature Switzerland AG 2022 F. Podschwadek, Die Erziehung der Vernünftigen, https://doi.org/10.1007/978-3-031-21266-6_5
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5 Rechte
einmal Bürger:innen sein werden. Eltern haben sehr wahrscheinlich auch ein Interesse an der Bildung ihrer Kinder, und Aspekte dieses Interesses können mit den Werten in Konflikt geraten, denen die Kinder an der Schule ausgesetzt sind (oder vielleicht auch gerade nicht). Dies kann zu einem weiteren Interesse von Eltern an privaten Schulen oder häuslichem Unterricht führen. Dann gibt es noch den Staat selbst, der ein Interesse an Stabilität und Kontinuität hat, welches auf verschiedene Weise davon beeinflusst, wie Bildungsmaßnahmen umgesetzt werden, und die verfügbaren Optionen einschränken. Die Frage, wie man diese verschiedenen Interessen am besten ausbalanciert, kann zumindest teilweise als Frage von Rechten, Pflichten und Freiheiten formuliert werden. Wir müssen uns jedoch daran erinnern, dass die in diesem Kapitel diskutierten Rechte und Freiheiten nicht lexikalisch vor dem oder unabhängig vom bereits besprochenen inhaltlichen Kern des politischen Liberalismus stehen, den politischen Tugenden und der Autonomie. Stattdessen sind die Rechte und Freiheiten von Bürger:innen die politischen Mittel, mit denen sie ihre beiden moralischen Vermögen als Mitglieder einer wohlgeordneten Gesellschaft ausüben können – sie ermöglichen es Bürger:innen, ihr Leben gemäß ihrer Vorstellung vom Guten zu gestalten und auf fairen Grundlagen mit anderen zu kooperieren. Wie sich im Laufe des Kapitels herausstellen wird, bedeutet dies, dass das Ausmaß der Freiheiten von Bürger:innen durch Bezugnahme auf grundlegende inhaltliche Prämissen des politischen Liberalismus bestimmt werden kann, einschließlich der erforderlichen politischen Tugenden und von Autonomie. Der Vorteil, hier von von Rechten und Freiheiten zu sprechen, ist, dass es uns hilft zu sehen, welche Art von Freiheit jede der beteiligten Parteien hat und wo diese Freiheit zu Recht eingeschränkt wird. Die Frage, wer bezüglich Bildungsentscheidungen welche Art von Rechten hat, ist insbesondere dann relevant, wenn es um Schulwahl geht, ein Thema, das im Mittelpunkt der angewandten Debatten über die liberale Bildung steht. Es wird daher hilflreich sein, ein besseres Bild über die Rechte der verschiedenen Akteur:innen zu bekommen, die aus einer politisch-liberalen Perspektive an Bildungsentscheidungen beteiligt sind, um zwischen Fällen zu unterscheiden, in denen die Eltern eine bestimmte Art von Schule für ihre Kinder wählen können, und Fällen, in denen die Wahl der Eltern durch den liberalen Staat überstimmt werden kann – entweder um grundlegende politisch-liberale Prinzipien zu schützen, die alle vernünftigen Bürger:innen teilen, oder um die Rechte von Kindern selbst zu schützen.
5.1 Konzeptionen von Rechten im politischen Liberalismus Um ihre zwei moralischen Vermögen, nämlich ihre Kapazitäten für eine Vorstellung von Gutem und für einen Gerechtigkeitssinn zu entwickeln und auszuüben, werden Bürger:innen bestimmte institutionelle Rahmenbedingungen
5.1 Konzeptionen von Rechten im politischen Liberalismus
119
benötigen, die durch eine Reihe von Rechten und Freiheiten spezifiziert werden. Rechte (und, wie wir sehen werden, Freiheiten, wenn wir hier eine Hohfeldsche Terminologie verwenden) sind Teil der Liste der Grundgüter, für die sich die Parteien im Ursuztand entscheiden und die auf eine Weise zu verteilen sind, dass alle Bürger:innen unabhängig von ihrer Position in der Gesellschaft maximal von diesen Gütern profitieren. Wir können diese Rechte und Freiheiten als durch „rollenbasierte Wünsche“ (Wünsche, die durch den Besitz der beiden moralischen Vermögen hervorgerufen werden) generiert verstehen, wie z. B. Leif Wenar vorschlägt – Bürger:innen werden diese Wünsche aufgrund ihrer politischen Rolle als Staatsbürger:innen haben (2013, S. 221). Aus dieser Perspektive sind Rechte in einem politisch -liberalen Rahmen nicht nur gesetzliche Rechte (obwohl sie in einer wohlgeordneten Gesellschaft durch entsprechende gesetzliche Rechte unterstützt werden), sondern moralische Rechte, die im politischen Kontext gelten (Martin 1985, S. 31–41).1 Während Rechte und Freiheiten also in der politisch-liberalen Theorie eine wichtige Rolle spielen, werden sie in Rawls’ ursprünglicher Darstellung nur in sehr groben Zügen umrissen. Die Liste der Grundfreiheiten, auf welche sich die Parteien in der ursprünglichen Position einigen (wie Meinnugsfreiheit und die Gewissensfreiheit), gibt uns keinen Hinweis darauf, wie wir in Fällen vorgehen sollen, in denen sich verschiedene Freiheiten gegenseitig widersprechen. Stattdessen wird das Ausarbeiten dieser Details auf spätere, weniger ideale Stufen verschoben. Rawls’ eigenes Beispiel dafür, wie dieser Prozess funktionieren soll, ist die Meinungsfreiheit. Hier finden wir einige weitere Details über die Einschränkungen und das Verhältnis von Rechten und Freiheiten. Aus diesem Grund werde ich, obwohl es nicht genau das Thema Bildung betrifft, dieses Beispiel der Meinungsfreiheit im Folgenden genauer untersuchen. Eine Art von Einschränkung, die auf Meinungsfreiheit (und vermutlich auf alle anderen Freiheiten) zutrifft, ist eine Machbarkeitsbeschränkung. Obwohl unbegrenzte Zugangsrechte zu öffentlichen Orten und sozialen Ressourcen unsere Freiheit, unsere Ansichten zu äußern, unterstützen würden, scheint es unmöglich, allen Bürger:innen solche erweiterten Rechte einzuräumen. Dies wäre „so undurchführbar und gesellschaftlich spaltend, dass es die wirksame Reichweite der Meinungsfreiheit tatsächlich reduzieren“ würde (Rawls 2005b, S. 341). Darüber hinaus behauptet Rawls, dass Freiheiten auch „selbstbeschränkend“ sein können. Selbst fundamentale Freiheiten wie die Gewissensfreiheit können so
1 Die in diesem Kapitel behandelten moralischen Rechte finden ihre gesetzlichen Entsprechungen in den Verfassungsrechten. Darüber hinaus wird es eine viel größere Anzahl von gesetzlichen Rechten geben, die entweder mehr detaillierte Aspekte dieser Grundrechte abdecken oder mit Angelegenheiten verbunden sind, die Grund-/Verfassungsrechte überhaupt nicht betreffen. Beispiele für den ersten Typ sind verschiedene gesetzliche Regelungen zu Verbraucherrechten, während Umweltgesetze ein Beispiel für den zweiten Typ sein könnten (zumindest für Rawls, der nicht denkt, dass Umweltpolitik Grundrechte und Freiheiten beinhaltet, obwohl dies umstritten ist).
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5 Rechte
reguliert werden, dass die Beschränkung in den meisten Situationen nicht (oder nur mit geringer Kraft) gilt, während sie in anderen wesentliches argumentatives Gewicht erhält: [A]ngemessene Regelungen [würden] akzeptiert [werden], um den zentralen Geltungsbereich dieser Freiheit unbeeinträchtigt zu lassen, der die Freiheit und Unverletzlichkeit dessen, was in religiösen Vereinigungen geschieht, ebenso einschließt wie die Freiheit von Personen, ihre religiöse Zugehörigkeit unter freiheitlichen gesellschaftlichen Bedingungen selbst. (2005b, S. 341).
In einer politisch-liberalen Gesellschaft würde es z. B. einen starken Schutz der Gewissensfreiheit in Fällen geben, in denen Bürger:innen versuchen, eine kritische öffentliche Diskussion über ihre Bedenken gegen die Regierung zu führen. Im Gegensatz dazu könnte die öffentliche Kampagne für Rassentrennung nicht mit einem Verweis auf Gewissensfreiheit gerechtfertig werden (selbst wenn einige Bürger:innen behaupteten, dass sie auf ihren tiefsten religiösen oder ethischen Überzeugungen basierte). Um diese Einschränkungen genauer zu definieren, kann Meinungsfreiheit (und Freiheiten im Allgemeinen) in „mehrere spezifische Freiheiten zerlegt werden, um ihr zentrales Anliegen zu schützen“ (2005b, S. 341–342). Rawls’ Vorgehensweise bei diesem Beispiel besteht darin, durch eine Untersuchung historischer Debatten über die Verfassung der Vereinigten Staaten etwas zu finden, was er als „feste Punkte innerhalb des zentralen Anliegens“ (2005b, S. 342) der Meinungsfreiheit bezeichnet. Die Ergebnisse dieses Prozesses können dann in spezifische gesetzliche Rechte für eine wohlgeordnete Gesellschaft umgewandelt werden. Ich folge Rawls an dieser Stelle nicht. Die Methode, sich die Geschichte bestimmter Staaten anzuschauen, um „Fixpunkte“ zu finden, die man zur theoretischen Abstraktion verwenden kann, erscheint als ein reichlich kontingenter Ansatz. Es ist zum Beispiel nicht klar, ob eine weitreichende Meinungsfreiheit, wie sie in den Vereinigten Staaten gesetzlich gewährt wird, nicht relevante negative Nebenwirkungen auf das Wohlergehen von Bürger:innen (insbesondere aus ethnischen und gesellschaftlichen Minderheiten) und die soziale Stabilität haben könnte.2 Rechtsentscheidungen über ähnliche Fragen kommen in liberalen Demokratien zu unterschiedlichen Ergebnissen. Die Betrachtung der Geschichte
2 Ein
klassisches Beispiel für einen solchen Fall in den USA wäre National Socialist Party of America v. Village of Skokie, in dem der US Supreme Court eine Demonstration der National Socialist Party of America inlusive Nazi-Symbolen in Skokie genehmigte, einem Dorf mit einer bedeutenden jüdischen Gemeinde, von denen einige auch Überlebende des Holocausts waren, siehe United States Supreme Court (1977). Wenn man den Rawls’schen Weg geht, markiert das Urteil des Supreme Court einen „Fixpunkt“, um die rechtlichen Aspekte von Meinungsfreiheit festzulegen. Aus europäischer Perspektive erscheint dies jedoch kaum ein „fester Bezugspunkt“, um rechtliche Details von Meinungsfreiheit festzulegen, insbesondere in Ländern, in denen rechtliche Hindernisse insbesondere für die Förderung von nationalsozialistischer Ideologie bestehen (z. B. in der Gesetzgebung von Österreich, Belgien, Tschechien, Frankreich, Deutschland, Liechtenstein, Litauen, den Niederlanden, Polen, Rumänien, der Slowakei, Spanien und der Schweiz, siehe Bazyler (2019)).
5.1 Konzeptionen von Rechten im politischen Liberalismus
121
eines bestimmten Staates wird daher bestenfalls Richtlinien für einen bestimmten Kontext liefern. Darüber hinaus möchte ich an dieser Stelle keine isolierten Rechte, sondern Ge- und Verbote der politischen Moral bei Entscheidungen über die Erziehung von Kindern festlegen. Diese können im rechtlichen Kontext als Rechtfertigung für bestimmte Gesetze und Richtlinien in Bezug auf Bildung dienen, aber im Moment nehme ich die in diesem Kapitel besprochenen Rechte, Freiheiten und Pflichten als moralische, nicht als gesetzliche an. Ich werde daher versuchen, die Analyse dieses Problems anhand Wesley Hohfelds Schema von Rechten darzustellen. Hohfeld bietet einen analytischen Rahmen, der die formalen Beziehungen zwischen Rechteträger:innen und ihrer sozialen Umgebung spezifiziert und der ursprünglich für gesetzliche Rechte entwickelt wurde, aber seitdem auch für moralische Rechte und Pflichten angewendet werden kann.3 In der allgemeinen Verwendung (und in weiten Teilen des juristischen Diskurses) bezieht sich der Begriff „Rechte“ auf verschiedene Arten von Rechten, die Hohfeld in „Rechte“, „Privilegien“, „Befugnisse“ und „Immunitäten“ unterscheidet. Jede dieser Arten von Rechten hat ein Korrelat, wovon „Pflichten“ am bekanntesten und am häufigsten verwendet werden; die anderen drei von Hohfeld identifizierten sind „ Nicht-Rechte“, „Verantwortungen“ und „Entkräftungen“. Die folgende Tabelle der Korrelate könnte das Verhältnis zwischen diesen Begriffen klarer machen (siehe Hohfeld 1966a, S. 36, b, S. 65): Recht Pflicht
Privileg Nicht-Recht
Befugnis Verantwortung
Immunität Entkräftung
Während die erste Zeile verschiedene Arten von rechtlichen (oder moralischen) Positionen definiert, die jemand gemeinhin als Träger:in eines Rechts innehat, bestimmt die zweite Zeile, welche korrespondierende pflicht-artigen Position von anderen gehalten wird, die mit der:m Rechtsinhaber:in interagieren. • Wenn A ein Recht hat, bedeutet dies, dass A entweder Anspruch auf eine Gut oder eine Dienstleistung X hat oder eine Handlung Y durchführen darf. B als Pflichtträger:in hätte eine Pflicht, das Gut an X zu liefern oder die Handlung Y nicht zu behindern. • Wenn A ein Privileg (oft als „Freiheit“ von zeitgenössischen Hohfeldianern bezeichnet) hat, Y zu tun, hat B kein Recht zu beanspruchen, dass A nicht Y tun sollte, und B trägt somit ein Nicht-Recht. Dies bedeutet nicht, dass B in keinem Fall in der Lage wäre, A daran zu hindern, Y zu tun, solange B dadurch nur keine Rechte von A verletzt.
3 Eine
ausführliche Diskussion findet sich zum Beispiel bei Kramer (1998).
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5 Rechte
• Für Person A eine Befugnis zu haben, bedeutet, dass A Ansprüche, die auf ihren Rechten (oder denen von jemand anderem, wenn A diese Befugnis über die Ansprüche einer andere Person hat) beruhen, ändern kann. Wenn A zum Beispiel ein Recht auf die ausschließliche Nutzung eines Grundstücks hat und B darum im Prinzip eine Pflicht hat, dieses Grundstück nicht zu nutzen, hat A die Befugnis, die eigenen Ansprüche so zu modifizieren, dass B das Land nutzen kann. B trägt auf der anderen Seite eine Veranwortung, wenn es um Ansprüche geht, die durch die Befugnis von A gewährt werden – B ist hat eine Verantwortung bezüglich jeder Änderung, die A an Bs Ansprüchen vornehmen könnte, das Grundstück zu nutzen. • Eine Immunität zu haben bedeutet dagegen, dass A nicht einer von B ausgeübten Befugnis ausgesetzt ist, während dies gleichzeitig bedeutet, dass B einer Entkräftung unterliegt, ihre Befugnis bezüglich bestimmter Rechte auszuüben. Ein Beispiel dafür wäre, wenn A eine Wohnung an B vermietet und Bs Anspruch, die Immobilie zu nutzen, später widerruft. Wenn B in diesem Fall keinen Zugang zu einer alternativen Wohnung hätte und dadurch obdachlos werden würde, könnte man denken, dass diese Umstände B mit einer Immunität gegenüber der (sonst legitimen) Befugnis von A, ihr eigentum von B zurückzufordern, ausstatten.4 Das Hohfeldsche Schema bietet eine klare Struktur und Terminologie, um die Beziehungen zwischen verschiedenen Parteien in einem normativen Konflikt zu bestimmen. Daher kann eine Neufassung politisch-liberaler Rechte in Hohfeldschen Begriffen den Interessenkonflikt von Kindern, Eltern und Staat hinsichtlich Bildung klären und vielleicht sogar lösen. An dieser Stelle ist es wichtig zu beachten, dass Rawls’ Verwendung der Begriffe „Rechte“ und „Freiheiten“ sich von der Art und Weise unterscheidet, wie Hohfeld und seine Nachfolger diese Begriffe benutzen. Um terminologische Verwirrung zu vermeiden, werde ich die Begriffe „Rechte“ und „Freiheiten“ in der von Rawls verwendeten Weise verwenden, während ich den Begriff „Anspruchsrechte“ verwende, um Hohfeldsche Rechte zu bezeichnen, die Pflichten entgegenstehen, und den Begriff „Privilegienrechte“ für das, was Hohfeld „Privilegien“ nennt. Es erscheint mir, dass Rawls den Begriff „Pflicht“ in einem Sinne verwendet, der dem von Hohfeld entspricht, so dass in diesem Fall keine unterscheidende Terminologie erforderlich ist – im weiteren Verlauf sind Rawls’schen Pflichten und Hohfeldianischen Pflichten equivalent. Wenn Rawls über Menschen schreibt, die ihre Rechte ausüben und daran gehindert werden, sie auszuüben, verwendet er den Begriff „Rechte“ in einem weiten Sinn (siehe z. B. Rawls 2005b, S. 325). Die im Zentrum des politischen Liberalismus stehenden Freiheiten (so zumindest von ihm bezeichnet), können,
4 Dies
bedeutet nicht, dass jeder zu demselben Ergebnis kommen würde. Die moralischen Intuitionen darüber, ob die Bedrohung durch Obdachlosigkeit eine solche Immunität für B bereitstellt, werden sich zum Beispiel zwischen Libertären und egalitären Liberalen erheblich unterscheiden.
5.1 Konzeptionen von Rechten im politischen Liberalismus
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wie wir sehen werden, in vielen Fällen als Privilegienrechte verstanden werden, obwohl sie in einzelnen Fällen als Anspruchsrechte sein könnten. Eine quasiformale Definition der staatsbürgerlicher Freiheiten (DF) findet sich in A Theory of Justice. Freiheiten „können immer durch einen Verweis auf drei Elemente erklärt werden“, so Rawls (2005a, S. 202)5 : (DF) „ Die allgemeine Beschreibung der Freiheit hat daher die folgende Form: Diese oder jene Person (oder Personen) ist (oder ist nicht) frei von dieser oder jener Einschränkung (oder einem Satz von Einschränkungen), um dieses oder jenes zu tun (oder nicht zu tun)“ (2005a, S. 202).6 Akteur:innen, die diese Freiheiten haben können, sind natürliche Personen, Vereinigungen und Staaten; die erwähnten Einschränkungen „reichen von Pflichten und Verboten, die durch das Gesetz definiert sind, bis zum zwingenden Einfluss, der aus der öffentlichen Meinung und gesellschaftlichem Druck entstehen kann“ (2005a, S. 202). Rawls selbst ist hauptsächlich an politischen und rechtlichen Einschränkungen von Freiheiten interessiert, weshalb er Freiheiten als „eine bestimmte Struktur von Institutionen, ein bestimmtes System öffentlicher Regeln, das Rechte und Pflichten definiert“ (2005a, S. 202) ansieht. In seiner Diskussion über bestimmte politische Freiheiten verwendet Rawls auch die Unterscheidung zwischen positiver und negativer Freiheit (2005a, S. 201). Auf den ersten Blick könnte dies verwirrend sein, da der Kontext, in dem diese Unterscheidung normalerweise angewendet wird, sich von dem unterscheidet, in dem hier über die Freiheiten gesprochen wird.7 Betrachtet man jedoch die entsprechenden Ausführungen zu Freiheit und Freiheiten von Rawls, wird klar, dass er Freiheiten (d. h. partikulare Freiheiten, z. B. freie Meinungsäußerung, Vereinigungsreiheit usw.) als Bestandteile einer übergeordneten Freiheitskonzeption ansieht, und dass die Unterscheidung zwischen positiver und negativer Freiheit verwendet werden kann, um einzelne Freiheiten zu kategorisieren.8 Obwohl Rawls beide Arten von Freiheit für bedeutend hält, bekräftigt er, dass negative Freiheit (oder im Falle spezifischer Freiheiten etwas, das vielleicht als
5 Wie häufig, beruhen die Ansprüche, die Rawls in Political Liberalism macht, auf Ansprüchen, die er zuvor in A Theory of Justice gemacht hat, wie im Fall der Freiheiten (2005b, S. 325), Fn. 33. Ich werde daher die Gültigkeit dessen, was Rawls über Rechte und Freiheiten in A Theory of Justice schreibt, auch für eine Theorie des politischen Liberalismus voraussetzen, es sei denn, es wird anderweitig angegeben. 6 Rawls übernimmt diese Definition der Freiheit von Gerald MacCallum, siehe MacCallum (1967, S. 314). 7 Insbesondere, da Rawls diese Unterscheidung von Berlin (2008) übernimmt, dessen Freiheitsvorstellung sich von der Freiheitsvorstellung unterscheidet, die Rawls in A Theory of Justice verwendet. 8 Dies wird klar, wenn man den Anfang seines Abschnitts über den Begriff der Freiheit betrachtet, siehe Rawls (2005a, S. 201–203).
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negative Freiheiten bezeichnet werden kann) mehr Gewicht hat und nicht für die positive Freiheit politischer Teilhabe (oder andere positive Freiheiten) geopfert werden sollte. Dieser Schwerpunkt auf negativen Freiheiten wird später wichtig, da diese eine weitere Schutzschicht gegen perfektionistische Bildungsmaßnahmen erzeugen können. Rawls gibt keine direkte Antwort auf eine weitere bedeutsame Frage bezüglich Rechten und Freiheiten, nämlich ob sie die Interessen oder die Wahl von Akteur:innen schützen. Es lässt sich jedoch annehmen, dass der politische Liberalismus eine Darstellung von Rechten und Freiheiten voraussetzt, die auf Interessen beruht, und ich werde im nächsten Abschnitt über Kinder mehr dazu sagen. Für den Moment müssen wir zur Definition DF zurückkehren, die auf den ersten Blick wie die Beschreibung einer Hohfeldschen Freiheit aussieht. Ein genauerer Blick auf Rawls’ Beschreibung von Freiheiten scheint diesen einfachen Ansatz jedoch auszuschließen: Ein ziemlich komplexes Geflecht aus Rechten und Pflichten kennzeichnet jede bestimmte Freiheit. Nicht nur muss es für Individuen zulässig sein, etwas zu tun oder nicht zu tun, sondern die Regierung und andere Personen müssen eine zudem eine gesetzliche Pflicht haben, nicht zu behindern. Ich werde diese Rechte und Pflichten hier nicht im Detail skizzieren, sondern annehmen, dass wir ihre Natur gut genug für unsere Zwecke verstehen (2005a, S. 203).
Eine kürzere, aber ähnliche Beschreibung aus Political Liberalism bestätigt diese Ansicht: ”Die Grundfreiheiten werden durch institutionelle Rechte und Pflichten spezifiziert, die es Bürger:innen ermöglichen, verschiedene Dinge zu tun, wenn sie es wünschen, und die anderen verbieten, sich einzumischen“ (2005b, S. 325). Es zeigt, dass Freiheiten im Kontext von Rawls’ politischem Liberalismus etwas sind, was durch eine Einschränkung charakterisiert wird, welche die Rechte von Akteur:innen andere Akteur:innen auferlegt. Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie Hohfelds Schema auf den politischen Liberalismus angewendet werden kann, werden wir uns einige Beispiele für Freiheiten ansehen, wie sie von DF definiert werden. Ich werde A für eine:n Akteur:in verwenden, die:der Freiheiten haben kann, C für eine Einschränkung oder einen Satz von Einschränkungen und P für eine Aktivität, die diese:r Akteur:in ausführen könnte: A ist frei von C hinsichtlich der Ausführung von P Auf den ersten Blick sieht dies wie ein einfaches Privilegienrecht aus. A hat keine Pflicht, P nicht zu tun, und andere Akteur:innen haben ein sogenanntes „ NichtRecht“ darauf, d. h. A hat keine Pflicht, P nicht zu tun, und keine Pflicht, mit P aufzuhören, weil andere Akteur:innen es vielleicht wünschen. Bei näherer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass die Sachlage komplizierter ist. Wir können uns erneut eine der Grundfreiheiten des politischen Liberalismus, die Freiheit zur Meinungsäußerung, als Beispiel ansehen. Eine Person A darf auf einer Kiste stehen und eine Rede über die Gefahren von Wirtschaftsmigranten halten. Wir können sagen, dass A ein Privilegienrecht
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hat, dies zu tun. Dies bedeutet jedoch, dass eine Person B immer noch versuchen könnte, A daran zu hindern, P durchzuführen, indem sie Mittel einsetzt, die keines der Anspruchsrechte von A verletzen. Es ist wichtig, diese letzte Bedingung zu beachten – während die Freiheit von A keine Pflicht der Nichteinmischung impliziert, schützen andere Rechte, die sie trägt, ihre Freiheit. B kann A nicht körperlich daran hindern, zu sprechen, da B eine Pflicht hat, nicht in As Anspruchsrecht freie Bewegung zu beeinträchtigen. So kann B, während sie eine Pflicht hat, A nicht zu schaden oder körperliche Gewalt anzuwenden, A dennoch durch Ablenkung oder durch das Erzeugen von ausreichend Lärm daran hindern, ihre Rede zu halten.9 Es scheint, dass die Freiheit zur Meinungsäußerung im engeren Sinne als Privilegienrecht verstanden werden kann. Sehr oft beziehen wir uns jedoch nicht nur auf dieses Privilegienrecht allein, wenn wir im alltäglichen Sprachgebrauch die Phrase vom „Recht auf freie Meinungsäußerung“ verwenden, sondern auch auf die darin enthaltenen Anspruchsrechte und die damit verbundenen Pflichten. Rawls tut dies ebenso, wenn er über Rechte und Freiheiten spricht,10 und es scheint ziemlich sicher, dass die meisten, wenn nicht alle, Rawls’schen Freiheiten und Rechte komplexe Verbindungen aus Privilegienrechten und Anspruchsrechten sind.11 Was er als das Recht auf das Eigentum bezeichnet, beinhaltet beispielsweise ein Anspruchsrecht, das mit der Pflicht anderer korreliert, persönliches Eigentum anderer nicht ohne Erlaubnis zu verwenden, aber auch Privilegienrechte wie die Verwendung eigenen persönlichen Eigentums nach eigenem Ermessen (es sei denn, auch dies wird wieder durch Pflichten gegenüber anderen eingeschränkt). Auf diese Weise können Grundfreiheiten und andere aus ihnen abgeleitete Freiheiten nach dem Hohfeld-Schemas beschrieben werden, obwohl die meisten von ihnen nicht aus einem einzigen Anspruchsrecht oder Privilegienrecht, sondern aus mehreren dieser Rechte bestehen werden. Dies wird hilfreich sein, dies im Hinterkopf zu behalten, wenn die nächsten Abschnitte zu klären versuchen, welche Ansprüche und Privilegien es in bezüglich Bildung gibt und welche Arten von Grundfreiheiten involviert sind. Dazu können wir drei Parteien unterscheiden, deren Interessen und Rechte für die Diskussion von Rechte im Zusammenhang mit Bildung relevant sind: Kinder, Eltern und der Staat. Letztere beiden sind zweifellos Akteur:innen, die Anspruchs- und Privilegienrechte nutzen können, bei Kindern ist dies etwas weniger offensichtlich. Im folgenden Abschnitt werde ich detaillierter erläutern, welche Art
9 Dieses
Beispiel stammt aus Kramer (1998, S. 13). wird deutlich, wenn er schreibt: „Ein ziemlich komplexes Geflecht aus Rechten und Pflichten kennzeichnet jede bestimmte Freiheit“ (2005a, S. 61). 11 Eine Liste der Grundfreiheiten findet sich bei Rawls (2005a, S. 61). 10 Dies
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5 Rechte
von Rechten der Staat und Eltern haben, und auch argumentieren, dass Kinder bestimmte Rechte haben und in welcher Weise diese hier relevant sind.
5.2 Kinder Aus einer vortheoretischen Perspektive sehen wir Kinder häufig als Träger von Rechten. Ein sehr prominentes Beispiel hierfür ist die UN-Kinderrechtskonvention (1990), die verschiedene Kinderrechte deklariert, wie das Recht auf Leben, das Recht auf Erwerb einer Staatsangehörigkeit und das Recht auf Meinungsfreiheit, um nur einige zu nennen. Die politisch-liberale Theorie bietet jedoch keine expliziten Ressourcen, um diese Praxis einzufangen. Stattdessen beschäftigt sie sich mit den Rechten Bürger:innen, die aus deren beiden moralischen Vermögen abgeleitet werden, und es erscheint unplausibel anzunehmen, dass Kinder vollen Staatsbürgerstatus haben. Zumindest bis zu einem gewissen Alter fehlen Kindern die erforderlichen Fähigkeiten, um sich als Bürger:innen zu qualifizieren, und selbst nachdem sie diese Fähigkeiten entwickelt haben, könnte es Zeit in Anspruch nehmen, die erforderlichen Wünsche zu entwickeln, um sie auszuüben. Kinder können daher keine Rechte qua ihres Status als Bürger:innen haben.12 Trotzdem sollte eine politisch-liberale Darstellung von Bildung in der Lage sein, eine vortheoretische Vorstellung von Kinderrechten zu verankern, insbesondere da sie die Gegebenheiten in bestehenden liberal-demokratischen Gesellschaften widerspiegeln soll. Ein Blick auf die allgemeine Diskussion über Kinderrechte könnte helfen, eine Position zu bestimmen, die gut zum politischen Liberalismus passt, und ein geeigneter Ausgangspunkt ist die Unterscheidung zwischen Willens – oder Wahltheorien und Interessens – oder Nutzen-Theorien von Rechten, die beide sehr unterschiedliche Strategien verfolgen, um die Rechte von Kindern zu erklären. Willens- bzw. Wahltheoretiker nehmen an, dass Anspruchsrechte klare Grenzen festlegen, innerhalb derer die Entscheidungen eines Individuums legitimerweise nicht behindert werden dürfen. Diese Grenzen gelten unabhängig vom Inhalt der Entscheidungen des Individuums, so dass andere selbst dann, wenn sie der Meinung sind, dass es sich um eine unglaublich schlechte Entscheidung handelt, eine Pflicht haben, nicht einzugreifen, solange die Entscheidung die Rechte anderer nicht verletzt (siehe z. B. Hart 2011; Wellman 1995; Steiner 1998). Aus der Perspektive einer Willenstheorie der Rechte müssen Akteur:innen in der Lage sein, einen Anspruch geltend zu machen, um überhaupt als Rechtsinhaber in Betracht zu kommen, was die Gruppe von Rechtsinhabern auf vernünftige
12 Hier
ist zu bedenken, dass sich dies auf den normativen Bürgerbegriff aus der Sicht der politischen Liberalismus bezieht. Kinder erwerben in der Regel gesetzlich die Staatsangehörigkeit ihres Geburtslandes, obwohl ihre gesetzlichen Staatsbürgerrechte und -pflichten erheblich eingeschränkt sind, bis sie das Erwachsenenalter erreichen.
5.2 Kinder
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Erwachsene beschränkt. Eine enge Auslegung dieser Position bedeutet, dass Kinder keine Rechte haben, zumindest nicht in sehr jungem Alter, weil sie nicht in der Lage sind, vernünftige Ansprüche auf ihre Rechte zu stellen. Interessensoder Nutzen-Theoretiker denken im Gegensatz dazu, dass die Funktion von Rechten darin besteht, die Interessen von Akteur:innen zu sichern. Aus sich einer Interessenstheorie sind Rechte daher nicht von der Fähigkeit on Akteur:innen abhängig, einen Anspruch geltend zu machen (siehe z. B. MacCormick 1977; Raz 1992; Kramer 2001). Aus dieser Perspektive haben Akteur:innen, die keine Ansprüche geltend machen können wie bewusstlose oder schwerstbehinderte Menschen dennoch bestimmte Rechte, da wir plausiblerweise annehmen können, dass sie eine Reihe grundlegender Interessen haben. Für viele Interessenstheoretiker gilt dasselbe auch für Tiere. Wenn politisch-liberale Theorie sinnvolle Aussagen über Kinderrechte machen will, scheint sie eine Interessenstheorie von Rechten annehmen zu müssen, da zumindest Säuglinge offensichtlicherweise keine Ansprüche machen können, auf denen Rechte begründet werden könnten. Für einige mag dies sogar eines der entscheidenden Argument für eine Interessenstheorie der Rechte sein – die Annahme, dass unsere vortehoretischen Intuitionen, dass Kinder Rechte haben, als korrekt anzunehmen. Neil MacCormick argumentiert zum Beispiel, dass nur Interessenstheorien diese Intuitionen widerspiegeln können und daher nur diese Theorien verteidigungsfähig sind (1976). Die Annahme eines interessenstheoretischen Ansatzes würde jedoch auch bedeuten, sich mit den Bedenken gegen die Interessenstheorien auseinanderzusetzen, welche von den Verteidigern von Willenstheorien vorgebracht werden. Interessenstheorien, so ein Einwand, führt zu einer Inflation von Rechten, da nicht nur vernünftigen Menschen, sondern auch Tieren und vielleicht auch andere Entitäten wie Ökosystemen Rechte zugesprochen werden könnten. Der besondere Status von Rechte als eine besondere Art von „moralischem Mobiliar“ (Feinberg 1970, S. 252), das gut für seinen charakteristischen Einsatz in moralischen Debatten geeignet ist, würde mit Interessenstheorien verloren gehen, ebenso wie der „analytische Scharfblick“ (Steiner 1998, S. 261–262), die für Diskussionen über die Natur von Rechte so sehr erforderlich ist. Im Zusammenhang des politischen Liberalismus mag dies nicht unbedingt die dringendste Sorge sein. Der Bereich der hier bedeutsamen Rechte beinhaltet nur politische Rechte,13 und der Bereich der Rechteträger:innen ist ebenfalls begrenzt, ursprünglich auf (erwachsene) Bürger:innen und den Staat. Der Hauptgrund, Kinder in die Gruppe der Rechteträger:innen aufzunehmen, ist, dass sie zukünftige Bürger:innen sind, ohne die eine über die Zeit hinweg stabile und gerechte Gesellschaft nicht erreicht werden kann. Kindern Rechte zuzusprechen berücksichtigt den moralischen Status, den sie als zukünftige Personen haben werden, sowie das übergeordnete sozio-politische Ziel der Stabilität. Obwohl weder die Annahme einer Willens- noch einer Interessenstheorie der Rechte nicht
13 Das
beinhaltet auch Rechte, die aus Prinzipien der Gerechtigkeit abgeleitet werden können.
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5 Rechte
unbedingt n otwendig ist, würde es einem politisch-liberalen Ansatz zu Rechten mehr Substanz geben und ihn insgesamt robuster machen. Ich skizziere kurz zwei mögliche Wege, um dies zu erreichen. Bei der Integration einer Darstellung von Rechteträger:innen, welche die Sorgen von Willenstheoretikern ernst nimmt, könnten wir etwa annehmen, dass die Rechte derjenigen, die nicht in der Lage sind, angemessene Ansprüche zu stellen, auf ihren (angenommenen) Interessen beruhen, während für diejenigen, die Entscheidungen treffen können, eine Willens-Konzeption von Rechten gilt, die schwerer wiegt als die Erwägung von Interessen. Für Säuglinge würde somit eine reine InteressensKonzeption von Rechten gelten, die allmählich in eine Wahl-Konzeption übergehen würde, während sie älter und rationaler werden (Brennan 2002). Ein anderer Weg, interessensbasierte und willensbasierte Rechte zu miteinander zu vereinbaren, wäre, eine entsprechende Unterscheidung zwischen Wohlfahrts- und Handlungsrechten vorzunehmen, wie Harry Brighouse tut. In diesem Modell haben Handlungsrechte ein besonderes Gewicht, weil wir annehmen, dass das Interesse von Akteur:innen an ihrer Handlungsfähigkeit in den meisten Fällen gegenüber ihren Wohlfahrtsinteressen überwiegen wird. Bei jungen Kinder, die noch nicht über die notwendigen rationalen und deliberativen Fähigkeiten verfügen, werden nur ihre Wohlfahrtsrechte berücksichtigt (Brighouse 2002). Unabhängig davon, welchen dieser Wege wir bevorzugen, muss der politische Liberalismus eine Position zu den Rechten und Freiheiten von Kindern finden, um eine Darstellung von Bildung zu entwickeln. Wenn wir die von Rawls in seiner Diskussion über die Freiheiten gegebene Liste als erschöpfend annehmen, sollten Kinder den Status von Personen haben, einschließlich der Rechte, die Personen zugesprochen werden. Und zumindest im Kontext der Grundstuktur einer gerechten Gesellschaft gibt es gute Gründe, Kinder als Personen anzuerkennen. Wenn wir die Interessen der Parteien im Urzustand berücksichtigen, scheint es mir dass die Entscheidung, Kinder als Träger von Rechten zu behandeln, rational zu sein, und dies unabhängig davon, ob sie Personen in irgendeinem metaphysischen Sinne sind, solange wir davon ausgehen, dass die Parteien sowohl an ihrem eigenen Wohlergehen als auch dem ihrer direkten Nachkommen interessiert sind. Hier sind die gleichen Überlegungen am Werk, die Rawls davon ausgehen lassen, dass die Parteien hinter dem Schleier des Nichtwissens darauf bestehen, dass jede Generation einen Betrag an gerechtem Erspartem für weitere Generationen zurücklässt – die Parteien können nicht wissen, zu welcher Generation sie gehören, d. h., ob sie in ihrer Gesellschaft die Position eines Kindes einnehmen könnten (Rawls 2005a, Abschn. 44).14 14 Dieses
Argument impliziert eine weitere Frage nach dem Grund, warum die Parteien im Urzustand an der Stellung von Kindern in der Gesellschaft, aber nicht an der Stellung von Embryonen oder Feten interessiert sein sollten. Wenn wir keinen prinzipiellen Grund dafür finden können, die Grenze bei der Geburt zu ziehen, würde es darauf hinauslaufen, dass die Parteien in der ursprünglichen Position auch als ungeborene Kinder geschützt werden sollten, was zu strikten Gesetzen gegen Abtreibung führen würde. Leider habe ich hier keinen Raum, dieses Problem im Detail zu diskutieren, obwohl ich denke, dass es gute Gründe gibt, die Grenze bei der Geburt zu ziehen. Ich bin Areti Theofilopoulou dankbar, dass sie mich auf dieses besondere Problem aufmerksam gemacht hat.
5.2 Kinder
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Die hier vorgestellte Sicht auf die Rechte von Kindern ähnelt in vielerlei Hinsicht James Dwyers Argument für starke Kinderrechte (siehe insbesondere 2006, S. 153, für sein Argument bezüglich der Abwägung im Urzustand). Es gibt jedoch einige wichtige Unterschiede zu beachten. Dwyer entwickelt ein Argument die Zusprechung starker (gesetzlicher) Rechte an Kinder auf der Grundlage zweier unterschiedlicher moralischer Überlegungen, einer auf dem Wohlergehen beruhenden, die er selbst als utilitaristisch versteht, und einer auf Autonomie beruhenden, von der er annimt, dass sie mit einem kantischen Verständnis von Autonomie und mit Rawls’ Konzeption von Gerechtigkeit als Fairness vereinbar ist (siehe 2006, Kap. 5). Politischer Liberalismus ist natürlich keine utilitaristische Theorie und er muss keine utilitaristische Sichtweise zur Maximierung von Glück oder der Minimierung von Schaden annehmen, um eine Darstellung der Kinderrechte zu enthalten. Die Idee, dass Kinder Rechte haben, ist in der zeitgenössischen politischen Kultur weit verbreitet und kann auf andere Ansätze der moralischer Patientenschaft basieren. Interessanter in diesem Zusammenhang ist die von Dwyer verwendete Idee der Autonomie, um starke Kinderrechte zu rechtfertigen. Im Lichte der Diskussion über verschiedene Arten von Autonomie im Kap. 4 ist Dwyers Interpretation der Rolle von Autonomie in Rawls politischer Theorie sicherlich eine substantielle, die starke Vorstellungen von Rationalität und Selbstbestimmung impliziert, welche den Ideen von Kant und Raz ähneln. Während diese Interpretation möglicherweise noch angemessen ist mit Rawls Position in A Theory of Justice, erscheint sie mir als unangemessen als Modell der Autonomie von Bürger:innen im Zusammenhang politisch-liberaler Theorie (aus den im vorherigen Kapitel dargelegten Gründen).15 Dies bedeutet, dass der politische Liberalismus im Allgemeinen und eine politisch-liberale Darstellung von Bildung im Besonderen nicht verpflichtet ist, „das grundlegende Interesse von Kindern an Autonomie“ (2006, S. 146) im Sinne einer substantiellen Konzeption von Gerechtigkeit zu schützen. Der politische Liberalismus hat jedoch Raum für Kinderrechte, wie ich hier zeigen möchte, und während diese Rechte möglicherweise nicht alle privaten Schulen und religiöse Bildung kategorisch ausschließen, denke ich, dass viele derzeitige Fälle, die Dwyer immer wieder in seiner Arbeit kritisiert (1998, 2002, 2005), auch aus der politisch-liberalen Perspektive, die in diesem Buch entwickelt wird, unannehmbar sind. Ausreichend starke Kinderrechte können stattdessen auf der Notwendigkeit einer späteren Vefügbarkeit von Grundgütern sowie auf der Zugänglichkeit einer Reihe von sogenannten Gütern der Kindheit begründet werden. 15 Dwyer räumt ein, dass Rawls politische Theorie mit seinem politischen Liberalismus eine Wendung nimmt, argumentiert aber, dass die kantische Konzeption von Autonomie weiterhin relevant ist (siehe 2006, S. 110, n. 37). Ich stimme zu, soweit dies die weitere Verwendung des Mechanismus der ursprünglichen Position als ersten Schritt der Rechtfertigung betrifft, der die kantischen Ideen von Universalität und Unparteilichkeit operationalisiert. Was die Autonomie von Bürger:innen in einer wohlgeordneten Gesellschaft betrifft, denke ich jedoch, dass Dwyers substantielle Verständnis von Autonomie für politische Liberale nicht mehr verfügbar ist, um die Gestaltung von Bildungseinrichtungen und -maßnahmen zu rechtfertigen.
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5 Rechte
Im Kontext des politischen Liberalismus sollen die Prinzipien der Gerechtigkeit allen Bürger:innen unter anderem eine ausreichende Menge an Grundgütern zur Verfügung stellen, um ein gedeihliches Leben zu führen (Rawls 2005a, S. 62–63). Rechte und Freiheiten (im Sinne Rawls’) sind Teil dieser Güter, und wir gehen davon aus, dass Kinder bereits zu Beginn ihres Lebens einige davon haben (z. B. wesentliche Rechte gegen Schaden), während sie andere zu einem bestimmten Zeitpunkt erwerben werden (z. B. Rechte der politischen Teilhabe). Zu den weiteren Grundgütern gehören Chancen und Wohlstand. Weder erwerben Kinder diese in einer liberalen Gesellschaft durch Geburt, noch erwerben sie sie automatisch, wenn sie ein bestimmtes Alter erreichen. Stattdessen müssen sie zunächst bestimmte Kenntnisse und Fähigkeiten erwerben, die entweder selbst zu Chancen werden (so könnte das Erlernen eines Handwerks eine lebenslange Liebe für diesen Beruf entfachen und so selbst zu einer erfüllenden Lebenschance werden) oder es Personen ermöglichen, Chancen zu nutzen, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt ergeben (z. B. Jobangebote, die bestimmte Arten von Kenntnissen oder Fähigkeiten erfordern). Darüber hinaus erlangt man in einem marktwirtschaftlich orientierten Umfeld Zugang zu Wohlstand zumindest teilweise durch das Erwerben von Wissen und Fähigkeiten, die für den Markt von Wert sind. Obwohl diese letztere Gruppe von Grundgütern selbst keine Rechte und Freiheiten sind, kann man argumentieren, dass ein Bündel von Rechten und Freiheiten, z. B. die freie Berufswahl und Zugangsrechte zu bestimmten Arten von öffentlichen Ressourcen, eine notwendige Voraussetzung dafür ist, diese Güter zu nutzen. Eine weitere notwendige Voraussetzung für die Nutzung von Gütern wie Rechten und Freiheiten sowie für das Nutzen von Chancen und für Wohlstand im späteren Leben als vollwertige Bürger:innen ist angemessene Bildung. Daher benötigen Kinder ein zumindest hinreichendes Bildungsniveau, und aufgrund der zentralen Rolle dieser Grundgüter nach den Prinzipien von Gerechtigkeit als Fairness scheint man plausibel behaupten zu können, dass es tatsächlich ein Recht auf Bildung gibt. Wir könnten sogar noch einen Schritt weiter gehen und mit Matthew Clayton argumentieren, dass die Entwicklung grundlegender Kapazitäten liberaler Bürger:innen zumindest teilweise auf Bildung beruht. Clayton meint, dass Kinder ein Anspruchsrecht auf das haben, was ich kurz als angemessene Erziehung bezeichnen werde (nicht die beste Erziehung oder optimale Eltern), die es ihnen ermöglicht, ein Gerechtigkeitssinn und eine Konzeption des Guten zu entwickeln. Andere moralische Akteur:innen sind haben eine moralische Pflicht, Kindern diese Art von Erziehung zur Verfügung zu stellen (2006, S. 76 und 78). Primäre Träger dieser Pflicht werden nicht spezifiziert, aber die Annahme scheint vernünftig, dass sowohl die Eltern als auch der Staat diese Pflicht tragen. Dies bedeutet, dass Eltern die Verantwortung dafür tragen, dem Kind die Mittel zur Verfügung zu stellen (nicht nur materielle Mittel, sondern auch Bildung), um bestimmte grundlegende Fähigkeiten zu entwickeln, während der Staat andere Mittel bereitstellen wird, indem er die erforderlichen Anforderungen für Schul- und Bildungseinrichtungen festlegt.
5.2 Kinder
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Vielleicht können wir sogar sagen, dass Kinder Anrecht auf einige sogenannte „Güter der Kindheit“ haben, die zuerst als relevante Indikatoren für das Wohlergehen von Kindern von Colin MacLeod (2010) eingeführt wurden. MacLeod argumentiert für die Anerkennung einer Reihe von Chancen und Umweltbedingungen, die für Kinder (und nur für sie) vermeintlich von intrinsischem Wert sind, und definiert sie wie folgt: [W]ir sollten die Güter als Ergebnis verschiedener Formen der kreativen Stimulation unterschiedlicher menschlicher Fähigkeiten betrachten. Um die Güter zu verwirklichen, engagieren wir und aktivieren die körperlichen, emotionalen, ästhetischen, kognitiven und moralischen Fähigkeiten von Kindern, indem wir sie in Situationen aussetzen, in denen sie ihre Fähigkeiten erleben und ausdrücken können. So lesen Eltern ihren Kinder vor und spielen ihnen Musik vor, integrieren sie in kulturelle Traditionen und schicken sie zum Spielen mit Freunden raus. Aber diese Formen der Beteiligung müssen nicht zu Zufriedenheit führen noch müssen sie zur Entwicklung von Handlungsfähigkeit beitragen, um sinnvoll zu sein. (MacLeod 2010, S. 187)
Diese Darstellung der Güter der Kindheit wird mit einer Kritik an Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit kombiniert, die sich auf die Grundgüter als Standard für die Verteilungsgerechtigkeit konzentriert. Kinder, die keinen Zugang zu den Gütern der Kindheit haben, sind laut MacLeod in einem erheblichen Sinne benachteiligt, selbst wenn sie davon abgesehen eine Ausbildung erhalten würden, die ihnen als Erwachsene eine optimales Menge von Grundgütern zur Verfügung stellt. Ein Nachteil dieser Art würde jedoch in der normalen Rawls’schen Sichtweise auf Gerechtigkeit (siehe 2010, S. 175–183) nicht auffallen. Die Behauptung, dass bestimmte Arten von Aktivitäten und Beziehungen für Kinder wertvoll sind und für Erwachsene nicht so sehr (oder überhaupt nicht), erscheint realistisch. Was genau diese Güter der Kindheit sind, könnte jedoch teilweise kontextabhängig sein – die Möglichkeit, sich im Spiel zu engagieren und mit Freunden seines Alters zu interagieren, sind plausible Kandidaten für universell wertvolle Güter der Kindheit, während das Engagement in bestimmten kreativen Aktivitäten möglicherweise spezifisch für bestimmte Gesellschaften ist, in denen dies mit den Wertsystemen aller vernünftigen Bürger:innen vereinbar ist.16 Wenn es Güter der Kindheit gibt, dann begründen sie auch Rechte von Kinder, auf sie zuzugreifen, ähnlich wie auf Grundgüter oder auf die Mittel, die es ihnen ermöglichen werden, später im Leben Grundgüter zu nutzen. Güter der Kindheit sollten als Güter verstanden werden, mit denen sich die Bildungsgerechtigkeit
16 Ich
bin zögerlich, mich einer endgültigen Liste wertvoller Güter der Kindheit anzuschließen, da es mir so erscheint, als könnten sich leicht Güter einschleichen, die nur aus der eigenen kulturell geprägten und sozial eingebetteten Perspektive heraus intrinsisch wertvoll erscheinen – was für einen weißen Mittelklasse-Akademiker intuitiv ein Gut der Kindheit sein könnte, erscheint aus der Perspektive einer Person aus der Arbeiterklasse oder von jemandem aus einer anderen ethnischen Gruppe weniger wertvoll, selbst wenn sie alle in derselben liberaldemokratischen Gesellschaft leben. Trotzdem scheint es unstrittig zu sein, dass es zumindest eine kleine Menge von Gütern gibt, die für Kinder wertvoll sind, unabhängig vom sozialen Kontext und aufgrund der biologisch bestimmten Art und Weise, wie Kinder sich von ihrer Geburt an bis hin zum Erwachsenenalter entwickeln.
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befassen muss, und es gehört zu der Aufgabe von Schulen, Kindern den Zugang zu diesen Gütern zu ermöglichen, insbesondere jenen Kindern, deren Zugang aufgrund ihrer sozialen Herkunftsbedingungen, z. B. Armut, eingeschränkt ist (siehe MacLeod 2018). Darüber hinaus ist es möglich, dass einige dieser Güter am besten oder sogar nur in sozialen Kontexten außerhalb der Familie bereitgestellt werden können, vielleicht sogar nur in institutionell bereitgestellten Kontexten, wie z. B. Anca Ghaeus argumentiert (2018). Diese Überlegungen können rechtfertigen, dass der politisch-liberale Staat z. B. Heimunterricht von jungen Kindern zu verbieten oder Schulen zu verpflichten, notwendigen Bedingungen zu schaffen, damit Kinder bestimmte Güter des Kindesalters genießen können. Inwiefern dies nötig ist, hängt sehr von den konkreten gesellschaftlichen Bedingungen ab, die in einer Gesellschaft herrschen, aber im Wesentlichen können Kinderrechte auf Zugang zu Gütern der Kindheit bestimmte Formen des Heimunterrichts und bestimmte Formen von religiösen Schulen verbieten, wenn diese Arten der Bildung den Zugang zu diesen Gütern nicht ausreichend ermöglichen. Zusammenfassend gibt es gute Gründe, Kindern im Rahmen des politischen Liberalismus zumindest ein begrenztes Spektrum an Rechten und Freiheiten zuzusprechen. Wir können davon ausgehen, dass Kinder ein Interesse daran haben, später im Leben auf Grundgüter zugreifen zu können, woraus wir ein Recht auf eine Bildung ableiten können, welche zukünftige Bürger:innen mit den relevanten Fähigkeiten ausstattet, um in einer wolhgeordneten Gesellschaft zu gedeihen. Darüber hinaus können wir, wenn es Güter der Kindheit gibt, davon ausgehen, dass Kinder auch ein Recht auf Zugang zu diesen Gütern haben, welches die Möglichkeiten von Eltern und Schulen, diesen Zugang zu kontrollieren, einschränken können. Im nächsten Schritt werden wir uns ansehen, welche Rechte und Freiheiten sowie Pflichten auf der Seite von Eltern bestehen.
5.3 Eltern Anders als im Fall von Kindern ist es nicht notwendig, zu hinterfragen, ob Eltern im Allgemeinen staatsbürgerliche Rechte und Freiheiten haben. Die relevante Frage ist hier, welche Art von Hohfeldschen Rechten sie haben, um den Inhalt und Umfang der Bildung ihrer Kinder zu bestimmen. Interessant in diesem Zusammenhang ist zum Beispiel, ob Eltern ein Privilegien- oder sogar ein Anspruchsrecht haben, für ihre Kinder eine private Schulbildung zu wählen, sie in religiöse Schulen zu schicken oder ob sie sogar ein Recht haben, die Bildung ihrer Kinder nach einer gewissen Zeit zu beenden. Kurz gesagt, wie viel legitimen Autorität haben Eltern, wenn es um die Bildung ihrer Kinder geht? In The Idea of Public Reason Revisited, Rawls selbst „nimmt an, dass wir als Kinder in einer kleinen, intimen Gruppe aufwachsen, in der die Älteren (normalerweise Eltern) eine gewisse moralische und soziale Autorität haben“ (2002, S. 158). Dennoch ist ihre Autorität begrenzt: Da die Familie von Rawls als Teil
5.3 Eltern
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der Grundstruktur gesehen wird, gelten die Prinzipien der Gerechtigkeit für die Familie als eine der Hauptinstitutionen der Gesellschaft. Wie Rawls uns über die Familie sagt: [Die] politischen Grundsätze gelten nicht unmittelbar für die internen Angelegenheiten der Familie, aber sie legen der Familie als Institution wesentliche Beschränkungen auf und garantieren so die Grundrechte und -freiheiten sowie die Freiheit und die Möglichkeiten aller ihrer Mitglieder. Dies geschieht, wie ich sagte, durch die Festlegung der Grundrechte gleichberechtigter Bürger:innen, die Mitglieder von Familien sind (2002, p. 159).
Im Anschluss an den zitierten Abschnitt konzentriert sich Rawls dann auf die Gleichheit der Ehefrauen, die durch ihre grundlegenden Bürgerrechte gewährleistet wird, während er betont, dass die „internen Angelegenheiten“ der Familie in keiner Weise durch andere politische Prinzipien, z. B. Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit, beeinflusst wird. Obwohl er uns nichts weiter über den Umfang und die Grenzen elterlicher Autorität erzählt, kann dieser kurze Abschnitt als Ausgangspunkt für eine weiterführende Untersuchung dienen. Auch wenn Kinder nicht in vollem Sinne gleichberechtigte Bürger:innen sind, haben wir im vorherigen Abschnitt gesehen, dass sie im Rahmen Rawls’scher politischer Theorie einige Anspruchsrechte haben (obwohl sie diese selbst nicht geltend machen können), und dass ihr zukünftiger Zugang zu Grundgütern gewährleistet werden muss. Diese Rechte und Ansprüche von Kindern begrenzen elterliche Autorität mit Sicherheit, obwohl unterschiedliche Ansichten darüber bestehen, wie diese Grenzen definiert werden. Ein Vergleich dieser Ansichten wird uns helfen, klarer darüber zu werden, welche Anspruchs- und Privilegienrechte von Eltern wir vertreten können. Rawls folgend, aber strenger in der Einschränkung elterlicher Autorität, ist Matthew Claytons Ansatz. Obwohl er einem (eingeschränkten) Recht von Eltern zustimmt, ein Kind aufzuziehen, schließt dies ein Recht auf Schulwahl (2006, S. 59) aus. Er geht davon aus, dass die Parteien in einer hypothetischen Entscheidungssituation erkennen würden, dass es, falls sie Kinder wären, nicht in ihrem Interesse liegen wäre, wenn das Recht, den Inhalt ihrer Bildung zu bestimmen, ausschließlich bei ihren Eltern liegt (2006, S. 76–81). Stattdessen würde die Autorität über die Erziehung von Kindern hauptsächlich bei Akteur:innen außerhalb der Familie liegen, d. h. beim Staat. Die Entscheidungssituation, die eine solche Annahme rechtfertigt, ähnelt Clayton zufolge Ronald Dworkins hypothetischem Versicherungsschema, in dem Parteien, die Mitglieder der Gesellschaft vertreten, Rechte und Pflichten für Bürger:innen gemäß deren Interessen und Ressourcen begrenzen (Dworkin 2002, Kap. 9, Abschn. V). In Anbetracht der erheblichen Einschränkungen, die das Interesse aller als freie und gleichberechtigte Personen an der Freiheit anderer bei der Erziehung von Kindern mit sich bringt, und des Bestrebens, eine gute Erziehung für die eigene Kindheit zu gewährleisten, ist es wahrscheinlich, dass sich die Parteien dafür entscheiden würden, entsprechend qualifizierten Nicht-Eltern eine gewisse, vielleicht sogar beträchtliche Autorität in Fragen der Bildung zuzugestehen (Clayton 2006, S. 80).
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Anstatt freie Wahl in Bezug auf Bildung zu haben, sind Eltern verpflichtet, ihren Kinder Formen von Bildung zu ermöglichen, welche den Ansprüchen der Kinder auf ein Gerechtigkeitssinn und ein autonomes Leben gerecht werden. Sie sind jedoch nicht die einzigen Träger dieser Pflichten, da auch der Staat als Akteur verpflichtet ist, erforderliche Ressourcen (materiell und anderweitig) bereitzustellen, welche Eltern nicht bereitstellen können oder wollen. In dem er eine Analogie zwischen der Beziehung zwischen Eltern und Kindern einerseits und der Beziehung zwischen Bürger:innen und Staat andererseits herstellt, leitet Clayton daraus ab, dass die Beschränkungen des öffentlichen Vernunftgebrauchs für die Familie in einer ähnlichen Weise gelten wie für politische Aktivitäten in der Gesellschaft – und diese Beschränkungen erfordern, dass Eltern eine „umfassende Einschreibung [enrolment]“, wie er es nennt, vermeiden. Dies würde bedeuten, dass Eltern jede Praxis vermeiden müssen, „in der Kinder [unfreiwillig] in eine bestimmte umfassende Lehre eingeschrieben werden“ (2006, S. 88). Diese Einschränkung umfassender Einschreibung würde nicht nur auf religiöse Lehren beziehen, mit der Taufpraxis als einem prominenten Beispiel, sondern auch auf säkulare umfassende Lehren – wie dem Utilitarismus,17 oder, als ein alltäglicheres Beispiel, dem Veganismus.18 Der Fairness halber sollte ich hinzufügen, dass Clayton keine absolute Neutralität von Eltern fordert, wenn sie ihre Kinder erziehen, und es durchaus erlaubt, „Kinder mit umfassenden Lehren in Kontakt zu bringen, solange das Ziel dabei nicht ist, sie zu Teilnehmern oder Gläubigen zu machen“ (2006, S. 110). Der moralische Status des Heranführens von Kindern an umfassende Lehren hängt von den Absichten der Eltern ab. Nur wenn ihr Ziel ist „dass die Kinder Teil einer umfassenden Praxis werden oder die umfassenden Überzeugungen annehmen, um die es dabei geht“, zählt dies als illegitime Einschreibung (2006, S. 110). Ein legitimer Fall dagegen ist für Clayton einer, in dem die Eltern „ihre Kinder in die Kirche nehmen, um ihnen die Traditionen und Praxen der Kirche erleben zu lassen, [aber] ihren Kindern auch ermöglichen, sich wirklich mit anderen religiösen und irreligiösen Traditionen vertraut zu machen“ (2006, S. 110). Claytons Interpretation des öffentlichen Vernunftgebrauchs in Kombination mit den Pflichten von Eltern führt zu einer starken Einschränkung umfassender Einflüsse auf die Erziehung und Bildung von Kindern und beschränkt die Autorität der Eltern in sehr viel größerem Maße, als Rawls’ kurze Darstellung der Familie es tut. Die Einschränkungen der öffentlichen Vernunft, die auf die Erziehung von
17 Marilyn
Friedman, z. B., argumentiert, dass überzeugte Utilitaristen unter dem politischen Liberalismus als unvernünftig eingestuft werden könnten, falls sie auf der Wahrheit ihrer Überzeugungen in Bezug auf den politischen Bereich beharren würden, siehe Friedman (2000). Im Gegensatz zu ihr (und im Gegensatz zu Rawls selbst) werde ich jedoch annehmen, dass zumindest einige Formen des Utilitarismus als vernünftige umfassende Lehren in einer politischliberalen Gesellschaft existieren können. 18 Vielleicht klassifiziert sich Veganismus nur als teilweise umfassende Lehre. Dann wiederum umfasst die vollständige Unterstützung von Veganismus so viele Aspekte des Lebens, dass es sogar den Status einer vollständigen umfassenden Lehre erreichen könnte.
5.3 Eltern
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Kindern angewendet werden, würden z. B. nur sehr begrenzte Privilegienrechte für Eltern lassen, um die Schule ihrer Kinder auszuwählen – religiöse Schulen etwa wären keine legitimen Optionen, da sie die Nicht-Indoktrinationsbedingung von Clayton nicht erfüllen würden. Diese strenge Einschränkung der Privilegienrechte von Eltern beruht auf Claytons Annahme, dass dem politischen Liberalismus eine viel substantiellere Konzeption von individueller Autonomie zugrunde liegt, als Rawls es tut, die aber gleichzeitig immer noch mit dem Anspruch vereinbar sein soll, nicht umfassend zu sein (Clayton 2006, S. 24–27). Das scheint allerdings weder notwendig noch machbar zu sein. Wie ich in Kap. 4 argumentiert habe, funktioniert der politische Liberalismus sehr gut mit einer viel schwächeren Konzeption von Autonomie, als Clayton sie im Sinn hat, was wiederum weit weniger von Eltern in Bezug auf Wertneutralität erfordert. Während sie immer noch die Pflicht haben werden, sicherzustellen, dass die Bildung ihrer Kinder sie auf ein Leben als Bürger:innen vorbereitet, welche die Fähigkeit haben, Grundgüter (einschließlich ihrer Rechte und Freiheiten) zu erwerben und zu nutzen, werden sie bei der Wahl umfassender Bildungsformen mehr Freiheit haben als Clayton es ihnen erlauben würde. Religiöse Schulen würden weiterhin eine Option sein, so lange ihr Lehrplan zumindest eine schwache Idee der Autonomie anerkennt.19 Für eine Einschränkung der ihre Kinder betreffenden Wahlmöglichkeiten von Eltern auf der Grundlage einer substantielleren Konzeption von Autonomie zu argumentieren, ist es also nicht notwendig. Trotzdem, selbst wenn wir annehmen, dass es nicht nötig ist, Claytons Darstellung von Autonomie zu befürworten, könnte sein Argument immer noch aufgrund der vernünftigen Ablehnbarkeit umfassender Einschreibung begründet sein.20 Vielleicht kann argumentiert werden, dass es allgemeine moralische Gründe gibt, die Erziehung und Bildung von Kindern im Rahmen einer umfassenden Tradition aus der Perspektive von Kindern selbst zu ablehnen. Schließlich ist es eine plausible Annahme, dass rationale Akteur:innen in der Position von Kindern tatsächlich Einwände gegen die Aufnahme in das Wertesystem ihrer Eltern und die Einschränkung ihrer zukünftigen Optionen zur eigenen Wahl einer umfassenden Weltanschauungen erheben würden. Sie würden ein elterliches Anspruchsprinzip ablehnen, das möglich machen würde, die Bildung der eigenen Kinder z.B. durch die Wahl einer religiösen Schule bestimmen. Politische Liberale, die der Idee der vernünftigen Ablehnbarkeit ein rechtfertigendes Vermögen zuschreiben, könnten geneigt sein, Elternrechte bezüglich der Schulwahl (und Erziehung im Allgemeinen) aus diesen Gründen einzuschränken.
19 Auf
diese Weise ausgedrückt bleibt es eine sehr vage Anforderung. Wir werden in Kap. 6 sehen, was das für konkrete Fragen des Unterrichts bedeutet.
20 Der
Begriff der vernünftigen Ablehnung als Test für die Begründbarkeit wurde von T.M. Scanlon (1998) am deutlichsten verteidigt. Während es von Rawls selbst nicht eingesetzt wird, ist es ein liberales Rechtfertigungsverfahren, das mit dem politischen Liberalismus kompatibel zu sein scheint, siehe z. B. Estlund (1996).
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5 Rechte
Es gibt mehrere Einwände gegen dieses Argument. Wir könnten argumentieren, dass es keineswegs eindeutig ist, dass vernünftige Akteur:innen in der Position von Kindern im Allgemeinen sich gegen eine elterliche Freiheit der Schulwahl aussprechen würden.21 Dies könnte insbesondere der Fall sein, wenn sie der Ansicht sind, dass die Integration in die Weltsicht der Eltern ein wichtiger erster Schritt ist, bevor Kinder ethische und religiöse Positionen bewerten und ihre eigenen Entscheidungen in dieser Hinsicht treffen können (ich werde diese Annahme im nächsten besprechen). Weiterhin könnte eine Einschränkung elterlicher Freiheit, eine umfassende Erziehung einschließlich entsprechender Schulen für ihre Kinder zu wählen, selbst aus dem durchaus vernünftigen Grund abgelehnt werden, dass die gemeinsame Vermittlung einer Weltsicht an ihre Kinder als zentralen Wert der Erziehung betrachten werden kann22 Vielleicht kann das Argument gegen Claytons Ansatz sogar noch stärker gemacht werden, wenn wir annehmen, dass eine Erziehung von Kindern ohne jede umfassende Einschreibung möglicherweise nicht einmal durchführbar ist. In einer Kritik an Claytons Darstellung gibt Johannes Giesinger zwei überzeugende Gründe dafür, (vernünftige) Formen umfassender Erziehung und Bildung anzunehmen, die beide auf „allgemeinen Bedingungen der menschlichen Erziehung“ (2013, S. 273) beruhen. Der erste Grund ist, dass Kinder eine bestimmte liebevolle Art von persönlicher Beziehung zu ihren Eltern benötigen, die als notwendig angesehen wird, um ein Selbstwertgefühl zu entwickeln. Das Selbstwertgefühl kann als Teil des komplexeren Grundgutes der Selbstachtung verstanden werden, auf das Kinder als zukünftige Bürger:innen einen Anspruch haben. Darüber hinaus kann es auch als „Voraussetzung für autonomes Handeln“ (2013, S. 273) verstanden werden, was eine grundlegende Anforderung des politischen Liberalismus ist. Laut Giesinger ist diese spezielle Beziehung zwischen Eltern und Kindern notwendigerweise umfassend. Die Familie sollte Kindern Strategien für alle möglichen Herausforderungen bieten, denen sie im Leben begegnen und für die es einfach keine „politischen“ oder nicht-umfassenden Ansätze gibt. Darüber hinaus bedeutet das Aufziehen eines Kindes, dass es den umfassenden Praktiken seiner Familie nicht nur ausgesetzt ist, sondern darin einbezogen wird, selbst wenn Eltern nicht aktiv versuchen, es in ihr Wertesystem „einzuschreiben“ (2013, S. 274–275). Es ist also schwer zu vermeiden, dass Kinder umfassend e ingeschrieben 21 Dies
scheint dennoch Claytons Annahme zu sein: Ein Vormund, der anstelle des Kindes urteilt, müsste aufgrund der „Möglichkeit zukünftiger vernünftiger Ablehnung“ der Ansichten der Eltern durch die:den Erwachsene:n, die:der das Kind werden wird, das Aufdrängen einer umfassenden Lehre ablehnen (2006, S. 99). Der Vormund würde dies aus Sorge um die politische Autonomie der Person tun, die das Kind werden wird. Ich teile diese Ansicht nicht und sehe daher dies nicht als vernünftige Ablehnung an.
22 In
einem von Scanlon angeführten Beispiel für potentiell ablehnbare Prinzipien behauptet er, dass „ein Prinzip, das eine strenge Neutralität zwischen Freundenund Fremden erfordert, aufgrund seiner Inkompatibilität mit den Einstellungen und Werten der Freundschaft unannehmbar wäre“ ( 1998 , S. 219). Es erscheintmir, dass der Wert, seine Kinder in der ethischen und/ oder religiösen Tradition aufzuziehen, die man selbst für wahr hält, eine Ablehnung auf ähnliche Weiserechtfertigen kann.
5.3 Eltern
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werden, während gleichzeitig eine Erziehung sichergestellt werden soll, die eine ausreichende Grundlage für die Entwicklung eines Selbstwertgefühls bietet. Der zweite Grund ist, dass keineswegs klar ist, wie Kinder sich selbst als Personen erschaffen, ohne Zugang zu einem bestehenden evaluativen System zu haben, auf das sie sich beziehen können. Um eine moralische Persönlichkeit zu bilden, werden Kinder ein „anfängliches Set an evaluativen Kriterien“ (2013, S. 273; siehe auch Noggle 2002, S. 213) benötigen, das sie in der Regel aus der „Familienkultur“ erhalten, in der sie aufwachsen. Selbst wenn es möglich wäre, Kinder nicht in umfassende Praktiken einzubeziehen und sie davon zu überzeugen, dass es einen vernünftigen Dissens über die Werte ihrer Eltern gibt, würde dieser Bemühung sie mit einem Normdefizit zurücklassen, das anderweitig weniger wahrscheinlich wäre: „Kinder, die nicht auf umfassende Weise erzogen werden, könnten zum Beispiel besonders anfällig dafür sein, Wertvorstellungen aus den Massenmedien, von Gleichaltrigen oder von religiösen Fanatikern anzunehmen“ (2013, S. 275). Es ist tatsächlich schwer vorstellbar, wie Kinder allein nach den Standards öffentlicher Vernunft erzogen werden und dann ab einem bestimmten Alter die religiöse oder ethische Lebensanschauung wählen, die ihnen am meisten zusagt. Doch auch nachdem all dies gesagt wurde, kann Rawls und Clayton immer noch der Vorwurf gemacht werden, dass sie in Bezug auf elterliche Autorität noch nicht restriktiv genug sind. Timothy Fowler macht genau das, wenn er argumentiert, dass weder Rawls’ noch Claytons Darstellung elterlicher Autorität die nicht-politischen Aspekte umfassender Lehren berücksichtigt. Seine Gründe, elterlichen Rechte und Freiheiten im Hinblick auf Erziehung einzuschränken, unterscheiden sich von den bisher gesehenen und sind einen genaueren Blick wert. Das Problem politischen liberaler Grenzen von elterlicher Kontrolle über die Bildung von Kindern, besteht nach Fowler darin, dass wegen einer Sorge um die Stabilität aus den richtigen Gründen unvernünftige Aspekte umfassender Lehren vom politischen Liberalismus ignoriert werden, solange diese Lehren aus einer politischen Perspektive vernünftig sind. Wenn sie den Inhalt des überlappenden Konsenses als normativ bindend akzeptiert, wird der Staat es Eltern erlauben, ihre besonderen umfassenden Überzeugungen an ihre Kinder weiterzugeben. Fowler behauptet, dass dies notwendigerweise so sein muss, weil die Förderung von nicht-politischen Werten erfordert, dass der Staat zu genau den kontroversen Fragen Stellung bezieht, die Rawls vermeiden wollte. Indem er Eltern die Führung überlässt, ist der liberale Staat scheinbar in der Lage, dieses Problem durch eine Weigerung zu umgehen, eine bestimmte Gruppe von elterlichen Ansichten gegenüber den anderen zu bevorzugen. […] Der Staat duldet oder verurteilt keine dieser verschiedenen Arten der Kindererziehung und kann somit eine neutrale Haltung einnehmen. (2010, p. 370).
Auf den ersten Blick scheint dies eine plausible Interpretation von Rawls’ Auffassung von Erziehung und Bildung zu sein. Das Problem, das Fowler hier sieht, ist, dass umfassende Lehren zwar politisch vernünftig sein können, aber Überzeugungen über nicht-staatsbürgerliche Aspekte des Lebens enthalten können, die “inkohärent sind oder dem zukünftigen Gedeihen von Kinder abträglich sein können“ (2010, p. 371). Er befürchtet, dass Eltern, die umfassenden Lehren anhängen, die in einem, wie er es nennt, “metaphysischen Sinne“ unvernünftig sind, ihren Kindern unvernünftige und potentiell schädliche nicht-politische
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5 Rechte
berzeugungen vermitteln können. Oberflächlich betrachtet scheint es in der Tat Ü so zu sein, als hätten sie ein Privilegienrecht, dies zu tun. Ein Beispiel hierfür wäre der Fall homosexueller Kinder, die in einer religiösen Tradition erzogen werden, die den Glauben vermittelt, “dass alle Homosexuellen in die Hölle kommen. Eine solche Erziehung würde vermutlich zu ernsthaften Problemen bei Kindern führen, die später homosexuell werden.“ (2010, p. 375). Dennoch, so Fowler, müsse diese Tradition als politisch vernünftig und daher für politische Liberale akzeptabel angesehen werden. Selbst wenn Eltern nicht moralisch legitimiert wären, ihre Überzeugungen in Form umfassender Einschreibung an ihre Kinder weiterzugeben, wie Clayton argumentiert, so bleiben sie nach Fowlers Ansicht „wichtige Vorbilder für Kinder, sodass wir erwarten können, dass Kinder ähnliche Ansichten wie die ihrer Eltern haben“ (2010, S. 378)., Dies ist ein Effekt, der durch das Leben in einer Gemeinschaft verstärkt wird, deren Mitglieder einer bestimmten umfassenden Lehre folgen und in der die sozialen Erfahrungen von Kindern durch einen bestimmten Satz umfassender Überzeugungen geprägt werden. Selbst wenn Clayton versucht, eine bewusste umfassende Einschreibung auszuschließen, argumentiert Fowler, werden Kinder immer noch „widersprüchliche, falsche oder gefährliche Überzeugungen“ (Fowler 2010, S. 378) aufschnappen, und weder Familien noch der Staat könnten Richtlinien anbieten, um die Auswirkungen dieser Überzeugungen zu kompensieren, da dies „einen Fall darstellen würde, in dem Erwachsene bewusst die nicht-politischen Ansichten von Kindern formen, was explizit von Claytons Verständnis des Legitimitätsprinzips verboten wird“ (2010, S. 378). Um dieses grundlegende Problem bei der Erziehung von Kindern zu beheben, scheint es, dass der politische Liberalismus höhere Standards dafür setzen müsste, was als vernünftig gilt, einschließlich solcher, welche die Validität von nichtpolitischen Überzeugungen bewerten. Dies wäre ein ziemlich großer Schritt weg von der (relativ) neutralen Position, die der politische Liberalismus einzuhalten versucht, wie Fowler zugibt. Fowlers Einwand gegen den politischen Liberalismus basiert wesentlich auf der Unterscheidung zwischen politischen und nicht-politischen unvernünftigen Ansichten. Zugegebenermaßen ziehen Rawls und andere politische Liberalen, soweit mir bekannt, keine sehr klare Grenze zwischen Politischem und NichtPolitischem. Ich kann hier keine vollständige Darstellung davon geben, wie man das tun sollte (vielleicht ist es am Ende kontextabhängig, ob eine Ansicht politisch oder nicht ist). Dennoch denke ich, dass es im Prinzip möglich ist zu argumentieren, dass viele der unvernünftigen Ansichten, die Fowler beschäftigen, bei näherer Betrachtung, nicht nicht-politisch sind und durch einen politischen liberalen Staat legitimerweise eingeschränkt werden können. Nehmen wir als Beispiel Fowlers Fall von Eltern, die eine Schule wünschen, die ihren Überzeugungen ermittelt, dass Homosexuelle in der Hölle enden werden. Haben diese Eltern ein Privilegienrecht auf diese Art der Schulwahl? Wenn zwei Hauptaufgaben der politisch-liberalen Bildung die Vermittlung von staatsbürgerlichen Tugenden und eine Fähigkeit zur schwachen Autonomie sind, scheint dies unwahrscheinlich. Besonders wenn es um die politischen Tugenden der Toleranz und der gegenseitigen Achtung geht, scheint es, dass eine Person, die fest von der moralischen
5.3 Eltern
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Verwerflichkeit bestimmter sexueller Orientierungen überzeugt ist, kaum in der Lage sein wird, Bürger:innen zu respektieren, die sie aus ebendiesem Grund als moralisch minderwertig betrachtet. Es ist anzunehmen, dass Bildungsinhalte, die zu Einstellungen führen, die politischen Tugenden widersprechen, nicht vernünftig sein können und daher nicht durch das elterliche Privilegienrecht, die eigenen Kinder zu erziehen, geschützt werden können. Dies würde Fälle wie „Homosexuelle gehen in die Hölle“ ausschließen, aber immer noch andere Fälle erlauben, die Fowler als schädlich einstufen könnte – diejenigen, die nur Kinder selbst betreffen. Nehmen wir zum Beispiel eine Person, die so dogmatisch dahingehend erzogen wurde, einen strikt frutarischen Lebensstil zu verfolgen, dass sie sich auch dann daran halten wird, wenn sich herausstellt, dass er zu relevanten Einbußen ihrer Lebensqualität führt (z. B. wenn sich herausstellt, dass sie unter einer schweren Fruktosemalabsorptionserkrankung leidet). Unter Berücksichtigung der Anforderungen schwacher Autonomie können zumindest grundsätzlich elterliche Entscheidungen zur Kindererziehung ausgeschlossen werden, welche die Billigungs-Bedingung und die Unabhängigkeitsbedingung (siehe Abschn. 4.4) von zukünftigen erwachsenen Bürger:innen verletzen würden, die Kinder einmal werden. Zu einem Zeitpunkt, an dem eine Person als autonom betrachtet wird, sollte sie in der Lage sein, die Werte, nach denen sie strebt, zu billigen, und diese Billigung muss frei von Faktoren sein, die ihre Unabhängigkeit untergraben. Bildungsentscheidungen, welche die Reflexionen über die Werte dieser Person untergraben, z. B. abweichende Ansichten aus ihrem Heimunterrichtsprogramm auszuklammern oder sie in eine dogmatische fruktarianische Schule zu schicken (falls es so etwas geben sollte), würden sehr wahrscheinlich als untergrabende Einflüsse gelten und für den politischen Liberalen nicht zulässig sein. Obwohl ich denke, dass der politische Liberalismus berechtigterweise schwerwiegende Schäden verhindern kann, die sich aus einer Erziehung nach unvernünftigen umfassenden Ansichten ergeben, schließt meine Position möglicherweise nicht alle schädlichen umfassenden Ansichten aus. Obwohl meine Interpretation von Rechten und Freiheiten effektiv alle Arten von schwerwiegenden Schäden ausschließt, bleiben viele Arten von weniger ernsthaften Schäden, die durch metaphysisch unvernünftige Lehren verursacht werden, unbeeinträchtigt. Ich möchte jedoch nahelegen, dass dies ist etwas ist, was der politische Liberalismus sowie jede andere liberale Theorie akzeptieren müssen. Das Ziel, alle Arten von Schäden auf ein minimaler Risiko zu begrenzen, erscheint schwierig wenn nicht sogar unmöglich zu erreichen, da in vielen Fällen vernünftige Meinungsverschiedenheiten darüber bestehen, ob etwas als schädlich oder nicht eingestuft werden sollte. Weiterhin würde es bedeuten, Schadensvermeidung über Praktiken und Aktivitäten zu priorisieren, die wir als wertvoll erachten, die aber dennoch manchmal zu schädlichen Ergebnissen führen können, einschließlich des elterlichen Rechts, über die Erziehung ihrer Kinder zu bestimmen. Liberalismus jeglicher Art wird immer zwischen konkurrierenden (und manchmal unvereinbaren) Werten abwägen und Kompromisse eingehen
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müssen, in diesem Fall zwischen den Werten, die ein wichtiges Privilegienrecht von Eltern und ein wichtiges Anspruchsrecht von Kinder begründen. Bisher waren die Ansätze zur Erziehung und Bildung von Kindern im Zusammenhang mit politischem Liberalismus, die hier besprochen wurden, darüber besorgt, dass Eltern möglicherweise zu viel Freiheit bei der Ausübung von Autorität über ihre Kinder haben. Vor dem Hintergrund der in den vorherigen Kapiteln vorgestellten Sichtweisen zu politischen Tugenden und Autonomie gibt es plausible Argumente gegen Claytons ziemlich anspruchsvolle Einschränkungen der elterlichen Autorität sowie gegen Fowlers Bedenken, dass der politische Liberalismus keine Mittel hätte, um mit politisch vernünftigen, aber ansonsten unvernünftigen Ansichten über die Erziehung von Kindern umzugehen. Ich möchte diese stark einschränkenden Positionen mit einer Ansicht kontrastieren, die den Status der Eltern auf eine Weise beschreibt, die besser für eine politisch-liberale Darstellung von Bildung geeignet ist. Eine politischliberale Haltung zu elterlichen Rechten, wie ich sehe, hat viel gemeinsam mit dem Ansatz, den Harry Brighouse und Adam Swift verfolgen. Im Gegensatz zu Clayton und Fowler argumentieren sie, dass Eltern tatsächlich erhebliche Rechte haben, das Leben ihrer Kinder zu gestalten, basierend auf dem Wert der einzigartigen Art von „spontaner, liebevoller, intimer Lebensgemeinschaft“ (2014, S. 142), die eine Beziehung zwischen Eltern und Kindern ist. Während ihr Fokus mehr auf dem intrinsischen Wert der Eltern-Kind-Beziehung liegt, umfasst diese Ansicht auch die Vermittlung der Weltanschauung oder Religion von Eltern an ihre Kinder. Es bestätigt einen Punkt, den ich bereits früher in der Diskussion über Claytons Ansatz und die Argumente dagegen erwähnt habe: dass die Einbettung in eine Familienstruktur23 und die Teilnahme an den Werten der Eltern für Kinder bis zu einem gewissen Alter ein bedeutsames Element von Erziehung ist. Ein wichtiger Aspekt der Eltern-Kind-Beziehung ist für Brighouse und Swift der Wert, den das Aufziehen eines Kindes für die Eltern hat, und ein wichtiger Teil dieses wertvollen Projekts ist die Weitergabe von Werten von Eltern an ihre Kinder (2014, Kap. 6; siehe auch 2006). Aus einer politisch-liberalen Perspektive kann dieser „Familienwert“ als wichtiges Element des Grundgutes des Selbstachtung verstanden werden. Während es sicherlich nicht für alle Bürger:innen der Fall ist, sind doch für viele Bürger:innen ihre Familie und die Erziehung ihrer Kindern ein wesentliches Projekt ihres Lebens, das ihre Identität prägt und erheblich zu ihrer Selbstachtung beiträgt. Zu starke Einschränkungen elterlicher Autorität könnten Bürger:innen leicht dieses wichtige Element berauben und dem Ideal einer gerechten Verteilung eines Grundgutes zuwiderlaufen. Die Freiheit, die Eltern nach Ansicht von Brighouse und Swift haben sollten, erscheint daher aus einer politisch liberalen Perspektive gerechtfertigt, solange sie es Kindern immer noch ermöglicht, zu politisch tugendhaften, autonomen Bürger:innen aufzuwachsen.
23 Nicht unbedingt eine traditionelle Kernfamilienstruktur, die von einem heterosexuellen elterlichen Paar definiert wird.
5.3 Eltern
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Wenn die Behauptung stimmt, dass das Aufziehen von Kindern gemäß der eigenen umfassenden Lehre ein wichtiger Bestandteil der Selbstachtung von Bürger:innen ist, dann ist es plausibel, Eltern ein Privilegienecht zuzusprechen, dies zu tun. Selbst jene, die denken, dass die elterliche Entscheidungen bezüglich Erziehung und Schulbildung weitgehend eingeschränkt werden sollten, können hier zunächst zustimmen, obwohl sie darauf beharren könnten, dass die Diskussion an diesem Punkt nicht endet. Das Recht auf umfassende Erziehung könnte durch die Anspruchsrechte von Kindern auf Schutz vor erheblich schädlichen Auswirkungen elterlicher Entscheidungen ausgehebelt werden. Befürworter strengerer Grenzen für elterliche Entscheidungen wie Clayton oder Fowler könnten behaupten, dass Anspruchsrechte von Kindern auf eine neutrale und schadenfreie Erziehung die relevanten Privilegienrechte von Eltern überwiegen.24 Als Antwort müssen wir auf einen Punkt zurückgreifen, den ich zuvor in diesem Kapitel gemacht habe – dass die Werte, die diesen Rechten zugrunde liegen, miteinander konkurrieren oder sogar inkommensurabel sein können. Es erscheint nicht vernünftig, einigen von ihnen absolute Gewichtung zuzuschreiben, und auch keine der Anspruchs- und Privilegienrechte, die mit diesen Werten verbunden sind, sollten als absolut angesehen werden. Während das Anspruchsrecht gegen erhebliche Schäden einer umfassenden Erziehung offensichtlich die Privilegeinrechte der Eltern aushebeln sollte, ist es weniger klar, ob ähnliche Wägungen in Bezug auf geringfügige, vorübergehende und lediglich potentielle Schäden angemessen sind. Die Tatsache, dass jemand, der in einer religiösen Tradition X aufgewachsen ist, z. B. als Erwachsener eine Phobie gegenüber Y (in, sagen wir, weniger als 2 % aller Fälle) entwickeln könnte, erscheint als unzureichend, um Eltern zu verweigern, ihre Kinder in ihre umfassenden Ansicht X einzuschreiben. Eine Möglichkeit, dies in der Terminologie von Rechten auszudrücken, wäre, anzuerkennen, dass Eltern ein Anspruchsrecht gegen unverhältnismäßige Ansprüche anderer haben, welche ihre elterlichen Privilegienrechte auf eine umfassende Erziehung schützt. Ein anderer Typ von Einwänden hinsichtlich Gerechtigkeitsfragen besteht jedoch weiterhin in Bezug auf die Bildung von Kindern. Trotz weitreichender Elternprivilegien sehen Brighouse und Swift einen Bedarf zur Einschränkgung elterlicher Rechte, wenn es um Chancengleichheit geht. Während Eltern natürlich ein Interesse daran haben, zum Wohlergehen ihrer Kinder beizutragen, kann dies leicht zu Ungleichheiten der Ergebnisse führen, da Kinder wohlhabender Eltern Zugang zu Formen von Bildung haben werden, die jenen aus ärmeren Schichten verwehrt bleiben. Brighouse und Swift schließen jedoch „Vererbung von Häusern oder anderem Eigentum oder die Wahl elitärer Privatschulen“ (2014, S. 142–143) aufgrund einer Spontaneitätsbedingung aus, die nach ihrer Auffassung mit den
24 Ich wurde auf diesen Einwand von Matthew Clayton hingewiesen, wofür ich dankbar bin (wie auch für die vielen anderen vernünftigen Einwände, die er bezüglich meiner Darstellung politisch-liberaler Erziehung hatte).
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besonderen Werten familiärer Beziehungen verbunden ist, so dass einige politische Einschränkungen hier zulässig sein könnten. Ihr allgemeiner Anspruch bleibt jedoch bestehen: „Einfach ausgedrückt sind die Güter einer familiären Beziehung wichtiger als faire Chancengleichheit“ (2014, S. 143). Dies schließt nicht aus, dass im Konflikt mit anderen Rechten und Pflichten etwa Pflichten zur Hilfe für die Armen in der Gesellschaft gewichtiger als diese familienbezogenen Rechte sein könnten. Brighouse und Swift betrachten solche weiterführenden Fragen jedoch als jenseits des Themas ihres Werks. Man könnte argumentieren, dass das Recht von Eltern, die Bildung ihrer Kinder durch die Wahl von Schulen oder anderen bildungsbezogenen Aktivitäten zu beeinflussen, im Widerspruch zu Anforderungen der Verteilungsgerechtigkeit steht. Chancengleichheit wird untergraben, wenn Eltern mit mehr finanziellem, kulturellem oder sozialem Kapital in der Lage sind, ihren Kindern eine bessere Bildung zukommen zu lassen als weniger wohlhabende Eltern. Die Kinder der ersteren werden wahrscheinlich bessere Chancen haben als die der letzteren (Brighouse und Swift 2014, S. 127–128). Unter der Annahme von Gerechtigkeit als Fairness als angenommener Auffassung von Gerechtigkeit für eine politisch-liberale Gesellschaft ist dies an sich kein Problem. Ungleichheiten sind akzeptabel, solange die Anforderungen des Differenzprinzips erfüllt sind, d. h. solange die am wenigsten Wohlhabenden in der Gesellschaft von diesen Ungleichheiten profitieren. Sobald dies nicht mehr der Fall ist, müsste die Hoheit von Eltern über die Bildung ihrer Kinder jedoch begrenzt werden. Es ist plausibel anzunehmen, dass das Recht, die Bildung der eigenen Kinder zu kontrollieren, ein Anspruchsrecht gegenüber anderen Bürger:innen ist, da andere Bürger:innen vernünftigerweise dazu verpflichtet sind, sich nicht in die Bildung der Kinder anderer Leute einzumischen. Gegenüber dem Staat hingegen halten die Eltern nur ein Privilegienrecht, das es dem Staat ermöglicht, in ihre Hoheit über die Bildung einzugreifen, wenn dies von der Pflicht des Staates für eine gerechte Verteilung on Grundgütern gefordert wird (mehr dazu im nächsten Abschnitt dieses Kapitels). Um es zusammenzufassen: Meine Aussage ist, dass aus politisch-liberaler Sicht Eltern nicht so stark in ihren Rechten auf die Erziehung ihrer Kinder eingeschränkt werden müssen, wie Clayton denkt, und dass der politische Liberalismus auch weniger Probleme hat, sich mit nicht-politischer Unvernunft auseinanderzusetzen, als Fowler behauptet. Die Art und Weise, wie Kinder ihre ersten evaluativen Überzeugungen erwerben und sich zu Bürger:innen mit einem gesunden Selbstwertgefühl entwickeln, erlauben ein gewisses Maß an elterlichem Einfluss auf ihre Entwicklung, einschließlich der Aufnahme in elterliche umfassende Lehren und Entscheidungen über die Schulbildung von Kindern auf der Grundlage umfassender Weltanschauungen. Dies ist nicht nur unter Berücksichtigung des Wohls der Kinder gerechtfertigt, sondern auch dann, wenn man die erheblichen Beiträge zu ihrer Selbstachtung berücksichtigt, die viele Eltern durch die Erziehung ihrer Kinder nach ihren eigenen Werten erfahren. Grenzen für elterliche Entscheidungen über die Erziehung ihrer Kinder werden, wie wir bisher
5.4 Der Staat
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gesehen haben, durch die zentralen Ziele der politisch-liberalen Erziehung gesetzt, etwa die Vermittlung politischer Tugenden und von Autonomie. Unter Berücksichtigung dieser Faktoren muss eine politisch-liberale Darstellung von Erziehung ein Prima-Facie-Recht der Schulwahl für Eltern anerkennen. Wenn sie ihre Kinder in eine private Schule schicken möchten, die besser mit den Perspektiven ihrer umfassenden Lehre übereinstimmt als die zur Verfügung stehenden öffentlichen Schulen, so sind sie grundsätzlich dazu berechtigt. Wie bei Freiheiten im Allgemeinen kann diese Freiheit der Schulwahl jedoch eingeschränkt werden. Wenn zum Beispiel eine Schule, für die die Eltern sich entscheiden könnten, bestimmte Mindeststandards bei der Bereitstellung der erforderlichen Bildung nicht erfüllen würde, so wäre es das Recht (und tatsächlich die Pflicht) des politisch liberalen Staates, das Recht auf freie Schulwahl von Eltern in diesem Fall einzuschränken. Dennoch, auch wenn die Wahl einer privaten Schule, die mit den Überzeugungen der Eltern übereinstimmt, in einer optimalen Ordnung der Dinge prima facie zulässig ist, könnte es Kontexte geben, in denen private Schulen aufgrund bestimmter gesellschaftlicher und historischer Kontexte die soziale Stabilität gefährden könnten (ich werde im Kap. 6 mehr über kontextabhängige Einschränkungen für religiöse Schulen sagen). Die Rechte von Eltern in Bezug auf die Erziehung und Entscheidungen über die Bildung ihrer Kinder sind zudem zwar gegenüber den meisten anderen Personen Anspruchsrechte, wenn es aber um die Beziehung zwischen Eltern und Staat geht, scheint es am plausibelsten zu sein, sie nur als Privilegienrechte zu verstehen, da der Staat auch distributive Gerechtigkeit aufrechterhalten muss. Welche Rechte und vor allem welche Pflichten der Staat gegenüber Eltern (und auch Kindern) hat, wird das Thema des nächsten Abschnitts sein.
5.4 Der Staat Auf den ersten Blick könnte es seltsam erscheinen, in einem liberalen Rahmen über die Rechte des Staates zu sprechen. Schließlich ist aus liberaler Perspektive eine wichtige Funktion von Rechten, Bürger:innen vor ungerechtfertigter Einmischung durch den Staat zu schützen. Trotzdem gibt es gute Gründe für den politischen Liberalismus, auch dem Staat Rechte und Freiheiten zuzuschreiben. Ein Grund dafür, dem Staat Aspruchsrechte zuzuschreiben, liegt in der Pflicht des Staates gegenüber seinen Bürger:innen, Ressourcen gemäß dem Differenzprinzip umzuverteilen, zumindest nach der Konzeption von Gerechtigkeit als Fairness.25 Um diese Pflicht erfüllen zu können, muss der Staat Anspruchsrechte haben, die es ihm ermöglichen, die Besitz über einige der Ressourcen von Bürger:innen zu 25 Wir
müssen uns daran erinnern, dass es andere Vorstellungen von Gerechtigkeit gibt und dass sie in einer politisch-liberalen Gesellschaft zulässig sind, aber es scheint plausibel anzunehmen, dass alle von ihnen einen egalitären Bestandteil haben werden, der für Umverteilungsschemata irgendeiner Art verantwortlich ist.
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5 Rechte
beanspruchen und sie umzuverteilen. Bürger:innen haben daher entsprechende Pflichten, ihren gerechten Anteil an Ressourcen für die Umverteilung aufzugeben, üblicherweise in Form von Steuern. Zusätzlich zu diesen Umverteilungspflichten hat der politisch-liberale Staat die Pflicht, Bildungsmöglichkeiten zu schaffen, die es Kindern ermöglicht, später als Bürger:innen die Grundgüter zu nutzen, auf die sie einen Anspruch haben. Wir könnten diese Aufgabe, Möglichkeiten für Bildung zu schaffen, anstatt als eine eigene Kategorie auch als Teil der staatlichen Umverteilungspflichten verstehen – erwachsene Bürger:innen haben bereits die Kapazitäten, um ihre Rechte, Möglichkeiten usw. zu nutzen, so dass der Staat in ihrem Fall ein ordnungsgemäßes institutionelles Rahmenwerk zur Verfügung stellen muss, um ihnen de facto zu ermöglichen, diese Fähigkeiten zu nutzen. Kinder, die diese Fähigkeiten entwickeln, können diese Institutionen nicht nutzen, sondern müssen zunächst die richtigen Vorbereitungsschritte durchlaufen. Die Vorbereitung auf die Nutzung von Grundgütern kann als ein integraler Bestandteil eines fairen Verteilungsmusters verstanden werden. Doch unabhängig davon, ob die staatliche Pflicht, ausreichende Bildungsmöglichkeiten zu bieten, Teil eines Pakets von Umverteilungspflichten ist oder zu einer eigenen Kategorie gehört, hat der politischliberale Staat in jedem Fall eine Art Pflicht, sich um Bildung zu kümmern. Hier sollte auch ein alltäglicher, aber nicht weniger wichtiger Aspekt der Bereitstellung hinreichender Bildungsmöglichkeiten erwähnt werden. Während Güter wie Nahrung und Unterkunft nicht explizit Teil der Liste der Grundgüter von Gerechtigkeit als Fairness sind, besteht kein Zweifel, dass sie die Grundbedürfnisse der Bürger:innen in einer wohlgeordneten Gesellschaft sind. Es ist vernünftig anzunehmen, dass, wie zum Beispiel Robert Noggle beobachtet, „voll entwickelte moralische Akteur:innen in einer moralischen Gemeinschaft die Grundgüter von Einkommen und Vermögen verwenden können, um diese Güter [d. h. Nahrung und Unterkunft] für sich selbst zu bereitstellen“ (2002, S. 108). Hier, wie auch im Falle der Grundgüter, ist Bildung zumindest teilweise Teil der Vorbereitung von Kindern auf die Beschaffung von notwendigen Mitteln, um die Grundbedürfnisse zu bezahlen. Die Pflicht des Staates, Bildung anzubieten, kann daher auch aus seiner Pflicht abgeleitet werden, Grundgüter für seine Bürger:innen bereitzustellen bzw. diese zu verteilen. Wenn es um die gerechte Verteilung von Bildung geht, hat der Staat nicht nur ein Anspruchsrecht auf die Aneignung von Ressourcen seiner Bürger:innen für diese Aufgabe (vor allem durch Steuern). Um Kindern eine angemessene Bildung zu ermöglichen, scheint es notwendig, dass der Staat auch ein Recht darauf hat, die Teilnahme von Kindern an Bildungsprozessen zu verlangen, zumindest bis sie in der Lage sind, minimal von ihrem Anteil an primären Gütern zu profitieren und an der Gesellschaft teilzunehmen. Auf den ersten Blick scheint die zugehörige Pflicht, an dieser Art von Bildung teilzunehmen, bei den Kindern selbst zu liegen, aber das ist kein zufriedenstellendes Ergebnis. Wenn wir annehmen, dass Kinder bis zu einem gewissen Alter Vertreter:innen benötigen, die ihre Rechte für sie geltend macht (was in den meisten Fällen ihre Eltern sind), dann sollten wir auch annehmen, dass Pflichten im Zusammenhang mit der Bildung von Kindern auf
5.5 Fazit
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die Eltern und andere Vertreter:innen in gleicher Weise angewendet werden. Mit anderen Worten, eine Pflicht, sicherzustellen, dass ein Kind eine ausreichende Bildung erhält, liegt bei seinen Eltern oder anderen Vertreter:innen, wobei letztere in einigen Fällen auch den Staat oder seine Beauftragen sein können.26 Neben Anforderungen der Verteilungsgerechtigkeit kann die Pflicht eines Staates, Bildung zu bieten, plausibel aus der Anforderung an Stabilität und Kontinuität abgeleitet werden. Zusammen mit Gerechtigkeit sind Stabilität und Kontinuität zentrale Ziele des politischen Liberalismus (siehe Abschn. 2.1), so dass sie bei der Bestimmung der Anspruchsrechte und Pflichten im Zusammenhang mit der Bildung eine wichtige Rolle spielen müssen. Bürger:innen, die eine gerechte und friedliche Gesellschaft genießen, werden ein Interesse an ihrer Stabilität und Kontinuität haben, so dass es vernünftig ist, anzunehmen, dass eine Pflicht des Staates besteht, dieses Ziel zu verwirklichen. Wir haben bereits in in den Kap. 3 und 4 gesehen, wie Bildung zur Stabilität und Kontinuität beitragen kann, indem sie Kinder mit den richtigen politischen Tugenden und Autonomie ausstattet, damit sie zu Bürger:innen heranwachsen, die durch ihre beiden moralischen Vermögen definiert sind und entsprechend der Prinzipien der Gerechtigkeit handeln. Wenn also eine Pflicht besteht, Stabilität und Kontinuität aufrechtzuerhalten, ergibt sich daraus eine Pflicht, die erforderliche Bildung zu bieten, und in gleicher Weise wie oben beschrieben ein Recht, an dieser Bildung teilzuhaben. Zusammenfassend lässt sich argumentieren, dass der Staat gegenüber Kindern und deren Eltern als ihre Vertreter:innen einen klar bestimmten (im Hinblick auf die zahlreichen Wege, eine Pflicht zur Bereitstellung von Bildung abzuleiten wahrscheinlich sogar überbestimmten) Anspruch auf deren Teilnahme Bildungprozessen hat, und dass Kinder daher eine Pflicht zur Teilnahme haben, bzw. ihre Eltern die Pflicht, sicherzustellen, dass ihre Kinder teilnehmen. Dieser Anspruch ergibt sich aus zwei Pflichten, die der politische liberale Staat hat, einerseit aus der Pflicht, Ressourcen auf gerechte Weise zu verteilen, andererseits aus der Pflicht, Stabilität und Kontinuität aufrechtzuerhalten. Beide Pflichten sollen von vernünftigen Bürger:innen befürwortet werden, so dass vernünftige Bürger:innen auch die Pflichten annehmen werden, die sich darauf bezüglich der Bildung von Kindern ergeben.
5.5 Fazit Wie wir gesehen haben, kann Bildung als Gegenstand von Anspruchsrechten, Privilegienrechten und Pflichten betrachtet werden. Kinder haben ein Anspruchsrecht auf Bildung (in ausreichendem Umfang), der auf ihrem Anspruch auf 26 Zum
Beispiel im Fall von Kinderbetreuern oder anderen Regierungsvertreter:innen, die in Ausnahmefällen die Rechte und Freiheiten der Eltern in Bezug auf die Bildung ihrer Kinder außer Kraft setzen können.
146
5 Rechte
Grundgüter beruht, die nur durch eine angemessene Bildung zugänglich sind. Gleichzeitig haben sie die Pflicht, an entsprechenden Bildungsprozessen teilzunehmen – obwohl sie diese Pflicht ihren Eltern schulden, wenn sie noch jung sind. Eltern haben als Treuhänder ihrer Kinder eine doppelte Verantwortung. Sie sind verantwortlich für die Wahrung der Rechte ihrer Kinder, bis diese selbst dazu in der Lage sind, und sie müssen sicherstellen, dass die Pflichten ihrer Kinder, an einer politischen liberalen Bildung teilzunehmen, erfüllt werden. Gleichzeitig haben Eltern Privilegienrechte, wenn es darum geht, zu entscheiden, unter welchen Sitten und Traditionen oder umfassenden Lehren, um Rawls’ Terminologie zu verwenden, ihre Kinder aufwachsen. Dies umfasst unter anderem die Wahl der Schule, solange diese bestimmte Kriterien der Vernunft und Gerechtigkeit erfüllt. Die Klärung dieser Konfiguration von Rechten und Pflichten ist ein wichtiger Schritt bei der Bestimmung dessen, was eine politisch-liberale Bildung von Bürger:innen verlangen kann und welche Freiheiten Eltern bezüglich der Erziehung ihrer Kinder haben. Sie sind jedoch nur grobe Richtlinien, da die in diesem Kapitel identifizierten Anspruchs- und Privilegienrechte auf den Grundrechten und Freiheiten von Gerechtigkeit als Fairness basieren, welche weitreichende Prinzipien und keine konkrete Regeln sind. Sie korrelieren mit Verfassungsrechten, die zwar wichtig sind, aber weit davon entfernt sind, viele Situationen des täglichen Lebens zu regulieren. Um herauszufinden, welche konkreten Regelungen aus diesen allgemeinen Prinzipien abgeleitet werden können, wird der zweite Teil des Buches drei weitere konkrete Einflüsse auf Bildung untersuchen: den von Religion, von gleichgeschlechtlichen Beziehungen und von Einwanderung. Wir werden sehen, dass unterschiedliche Regeln verwendet werden können, um den Einfluss von Religion auf die Bildung von Kindern zu regulieren, die mit den in diesem Kapitel identifizierten Rechten und Pflichten vereinbar sind. Wir werden auch sehen, dass die sehr unterschiedlichen Regeln davon abhängen, wie weit die Anforderungen grundlegender Gerechtigkeit in die konkrete Gesetzgebung reichen soll.
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Teil II
Anwendungsfälle
In den vorherigen drei Kapiteln habe ich die wichtigsten Aspekte politischliberaler Theorie besprochen, die für eine politisch-liberale Bildung von zentraler Bedeutung sind – die Rolle von politischen Tugenden von Bürger:innen in einer wohlgeordneten Gesellschaft, die Bedeutung ihrer Kapazität für bestimmte Arten von Autonomie und die Legitimität politischer Rechte und Pflichten, die sowohl die Bürger:innen als auch der Staat gegeneinander halten. Ich habe die pädagogischen Ziele skizziert, die sich aus den zentralen Elementen der politisch-liberalen Theorie ergeben, und die Einschränkungen, die sie der Bildung auferlegen. Nennen wir sie für den Moment die Grundprinzipien politischliberale Bildung. Wenn, wie politische Liberalen annehmen, die im ersten Teil besprochenen Aspekte des politischen Liberalismus zum Kernbestand des übergreifenden Konsenses einer gut geordneten Gesellschaft gehören, den alle vernünftigen Bürger:innen unterstützen, dann müssen auch die Grundprinzipien der politisch-liberalen Bildung für vernünftige Bürger:innen akzeptabel sein. Trotz der ausführlichen Erörterung in den vorherigen Kapiteln bleiben diese grundlegenden Prinzipien der Bildung insofern abstrakt, als nur wenig darüber gesagt wurde, wie sie sich in den konkreten politischen und gesellschaftlichen Institutionen einer wohlgeordneten Gesellschaft manifestieren. Was noch zu zeigen bleibt, ist, welche Implikationen diese zentralen, aber abstrakten Elemente für konkretere Bildungsmaßnahmen haben. Die nächsten drei Kapitel, die den zweiten Hauptteil dieses Buches bilden, sollen daher veranschaulichen, wie die grundlegenden Prinzipien politisch-liberaler Bildung als Richtlinien für praktischere Fragen dienen können. Diese Kapitel behandeln Religion, gleichgeschlechtliche Ehe und Migration im Kontext von Bildung. Alle drei sind zu unterschiedlichen Graden Themen der aktuellen politischen Debatten in westlichen liberal-demokratischen Gesellschaften, und tiefe Uneinigkeit prägt oft die öffentliche Diskurs darüber. Gleichzeitig sind diese drei Themen auch für die Realpolitik der Bildung von Bedeutung. Ein politisch-liberales Bildungskonzept sollte daher einen grundlegenden Ansatz für diese Anwendungsbereiche vorschlagen.
150
Teil II
Die Kapitel des zweiten Teils dieses Buches werden unter Bezugnahme auf die Grundprinzipien politisch-liberaler Bildung Rechtfertigungen für Einschränkungen der Wahlfreiheit von Eltern (und Kindern) in Bildungsangelegenheiten anbieten. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass, sobald wir die groben Konturen dieser Einschränkungen und dessen, was (im Prinzip) zulässig ist, bestimmt haben, noch viel Raum für eine Vielzahl unterschiedlicher Realisierungen von Bildungsmaßnahmen bleibt – von denen einige in bestimmten Kontexten besser funktionieren könnten als andere. Regionale und lokale Bildungsmaßnahmen können je nach ethnischen Zusammensetzung und wirtschaftlichen Umständen ihres Einzugsgebiets erheblich variieren und trotzdem innerhalb der Grenzen liegen, die wir aus politisch-liberalen Prinzipien ableiten können. Dies führt zu noch kleinteiligeren Fragen darüber, wie Bildung zu strukturieren ist, die jedoch den Rahmen dieses Buches sprengen würden, genauso wie ethische Fragen der alltäglichen Bildungspraxis. Die im Folgenden behandelten Beispielfälle sind jedoch konkret genug, um eine Vorstellung davon zu vermitteln, welche Implikationen ein politisch-liberales Bildungskonzept für die tatsächliche Politik auf staatlicher Ebene haben könnte und wie es grundlegende Richtlinien für die Realpolitik liefern kann.
Kapitel 6
Religion
Zusammenfassung Dieses Kapitel wendet die Ergebnisse des ersten Teils dieses Buches auf die Frage an, wie viel Freiheit es für religiöse Weltanschauungen in der politisch-liberalen Bildung geben muss. Die Rolle der öffentlichen Vernunft ist in diesem Zusammenhang besonders wichtig, da viele politische Liberale eine Tendenz zu haben scheinen, die Bedenken religiöser Eltern über die Auswirkungen bestimmter Arten der öffentlichen Bildung als auf umfassenden Gründen beruhend und daher ungeeignet für rechtfertigende Argumente über die Gestaltung von Bildungseinrichtungen abzutun. Einige Liberale, allen voran Kevin Vallier, haben dagegen argumentiert, dass ein Liberalismus öffentlicher Vernunft, richtig verstanden, überhaupt keine Rechtfertigungen für irgendeine Art von durch Steuergelder finanzierte öffentliche Bildung liefert und auf ein vollständig privatisiertes Bildungssystem hinauslaufen würde. Dieses Kapitel versucht, eine politischliberale Position zu skizzieren, die einerseits die Bedenken religiöser Eltern anerkennt und versucht, sie so weit wie möglich zu berücksichtigen, andererseits aber die Verpflichtungen zu egalitärer Gerechtigkeit und sozialer Kohäsion ernst nimmt, die Teil des politisch-liberalen Projekts sind. Die Beziehung zwischen Liberalismus und Religion erscheint oft etwas unbehaglich. Es gibt Spannungen zwischen liberalen Werten wie Autonomie und Gleichheit und den Werten religiöser Traditionen, deren heilige Schriften z. B. Ungleichheiten zwischen Geschlechtern oder die Überlegenheit von Mitglieder der eigenen religiösen Gemeinschaft gegenüber anderen Mitgliedern der Gesellschaft proklamieren. Diese Spannungen werden manchmal im Kontext von Bildung besonders deutlich, wie die Gerichtsfälle Yoder v. Wisconsin und Mozert v. Hawkins zeigen.1
1 Siehe Abschn.
2.2 für eine detaillierte Beschreibung dieser Fälle.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Nature Switzerland AG 2022 F. Podschwadek, Die Erziehung der Vernünftigen, https://doi.org/10.1007/978-3-031-21266-6_6
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6 Religion
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Besonders interessant im Zusammenhang mit politisch-liberaler Bildung sind die Beiträge zu dieser Diskussion, die sich auf die Rolle der Religion im öffentlichen Vernunftgebrauch konzentrieren.2 Nicht nur ist die öffentliche Vernunft eines der zentralen Merkmale, die den politischen Liberalismus von seinen umfassenderen Geschwistern unterscheidet, sondern die meisten Probleme, die bei der Beziehung zwischen religiösen Bürger:innen und einem liberal-demokratischen Bildungssystem auftreten, sind auch Anwendungsfälle des öffentlichen Vernunftgebrauchs. Religiöse Bürger:innen können vernünftig sein und dem Umstand zustimmen, dass Anforderungen für eine systematische Bildung von Kindern durch die Prinzipien der Gerechtigkeit abgedeckt werden, aber immer noch mit säkularen Bürger:innen (und sogar untereinander) über die Legitimität von Interpretationen der Prinzipien der Gerechtigkeit streiten, darüber, welcher Satz von Gesetzen und Richtlinien bezüglich Bildung öffentlich rechtfertigbar ist. Trotzdem bleibt es oft ziemlich undeutlich, was ein rechtfertigbarer Satz von Bildungsmaßnahmen in einem gegebenen Fall enthält. Die genauen Anwendungsstandards der öffentlichen Vernunft sind umstritten, und je nachdem, welche Variante des öffentlichen Vernunftgebrauchs wir wählen, enden wir mit sehr unterschiedlichen Sätzen von Maßnahmen. Im Folgenden versuche ich, eine plausible, wenn auch kurze, Darstellung des öffentlichen Vernunftgebrauchs bei Fragen der Bildungspolitik zu geben. Sie basiert auf den grundlegenden politisch-liberalen Anforderungen bezüglich Bildung, die in den Kapiteln des ersten Teils erläutert wurden, und legt grenzt damit den Bereich gültiger Gründe ab, die vernünftige Bürger:innen verwenden können, um ihre bevorzugten politischen Maßnahmen zu rechtfertigen. Diese Grenzen sind weniger eng als die, die von vielen anderen Liberalen aufgestellt werden, die sich mit Bildung befassen. Während die politische-liberale Bildung diese Grenzen anhand ihrer grundlegenden Anforderungen an Autonomie und politische Tugenden von Bürger:innen festlegt, sind die von mir in den vorherigen Kapiteln vertretenen Anforderungen im Vergleich zu denen anderer Autoren wie Levinson, Callan oder Clayton relativ bescheiden. Um eine gerechtfertigte Position hinsichtlich der Rolle von Religion im Zusammenhang mit politisch-liberaler Bildung zu finden, wird in diesem Kapitel ein genauerer Blick auf die Debatte zwischen Befürwortern von Darstellungen der öffentlichen Vernunft und Autor:inneen, welche politische Standpunkte religiöser Bürger:innen verteidigen. Vielen Liberalen der öffentlichen Vernunft zufolge müssen explizit religiöse Gründe von Bürger:innen als gültige Rechtfertigung ihrer politischen Entscheidungen ausgeschlossen werden. Im Gegensatz dazu argumentieren diejenigen, die sich um die religiöse Integrität von Bürger:innen befassen, dass die meisten liberalen Interpretationen von Einschränkungen des öffentlichen Vernunftgebrauchs eine ungerechte Belastung für religiöse Bürger:innen darstellen. Auf diese Debatte aufbauend, werde ich argumentieren,
2 Siehe Abschn.
1.1 für die öffentliche Vernunft in der politischen Liberalismus.
6.1 Öffentliche und private Gründe
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dass der politische Liberalismus religiösen Bürger:innen prima facie in gewissem Umfang entgegenkommen kann, z. B. durch die Genehmigung von privaten Schulen, die neben dem erforderlichen Standard-Lehrplan eine religiöse Erziehung anbieten. Ich werde jedoch die radikalere Behauptung ablehnen, dass ein politischer Liberalismus, der sich der öffentlichen Vernunft verpflichtet fühlt, ein öffentlichen Schulsystem ganz abschaffen müsste – eine Aussage, die von Kevin Vallier (2014) gemacht wurde. Obwohl ein Bildungssystem, das aus einer Mischung von öffentlichen und privaten Schulen besteht, aus einer politisch-liberalen Perspektive heraus grundsätzlich gerechtfertigt werden kann, sind weitere Faktoren zu berücksichtigen. Je nach den jeweiligen Umständen in einer bestimmten Gesellschaft können private Schulen negative Auswirkungen auf die politische Entwicklung von Bürger:innen haben. Unter anderen sozialen Bedingungen wiederum könnten private Schulen jedoch die einzige Alternative zu einem politischen Klima in der Bildung sein, das religiöse Eltern von der Mainstream-Politik entfremden würde. Nachdem die Probleme der privaten Bildung besprochen wurden, schließt dieses Kapitel mit einem Abschnitt über die Vorgehensweise des politischliberalen Staates mit unvernünftigen religiösen Eltern, die nicht in das Bildungssystem integriert werden können, ohne dabei die grundlegenden Prinzipien politisch-liberaler Bildung aufzugeben.
6.1 Öffentliche und private Gründe Um zu veranschaulichen, wie die öffentliche Vernunft einen Satz gerechtfertigter Bildungsmaßnahmen formt, ist es notwendig, die Einschränkungen zu erläutern, die Rawls’ Konzept der öffentlichen Vernunft den Bürger:innen einer wohlgeordneten Gesellschaft auferlegt. Der öffentliche Vernunftgebrauch verlangt von den Teilnehmern an politischen Entscheidungsprozessen, dass sie Rawls’ „Pflicht zur Bürgerlichkeit“ erfüllen: Sie sollen ihre politischen Entscheidungen ausschließlich auf Gründen treffen, welche öffentlich sind, was bedeutet, dass sie von allen geteilt werden oder zumindest hypothetisch für andere Bürger:innen zugänglich sind. Wenn Gründe auf einer bestimmten umfassenden Lehre beruhen und daher für Bürger:innen, die dieser Lehre nicht anhängen, nicht zugänglich sind, sollten diese Gründe nicht zur Begründung politischer Entscheidungen verwendet werden. Weil politische Entscheidungen in der Regel zu politischer Zwangsgewalt führen, wären Entscheidungen, die auf umfassenden Gründen beruhen, gegenüber Bürger:innen, die nicht bestimmten umfassenden Lehren anhängen, nicht hinreichend gerechtfertigt. Diese Version der Einschränkungen durch die öffentliche Vernunft, wie sie ursprünglich in Political Liberalism erscheint, scheint darauf hinzudeuten, dass Bürger:innen mit tiefen religiösen Verpflichtungen nicht auf religiöse Gründe (allein) zurückgreifen können, um ihre politischen Entscheidungen zu
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6 Religion
legitimieren, weil diese Gründe für ihre nicht-religiösen Mitbürger:innen nicht zugänglich sind – und oft auch nicht für diejenigen, die eine andere religiöse Ansicht vertreten. Später stellt Rawls das vor, was er als „weite Sicht der öffentlichen politischen Kultur“ bezeichnet. Es ermöglicht die Verwendung von Gründen im politischen Diskurs, die auf den Werten vernünftiger umfassender Lehren beruhen, „vorausgesetzt, dass zu gegebener Zeit angemessene politische Gründe […] vorgelegt werden, die ausreichen, um das zu unterstützen, was die eingeführten umfassenden Lehren unterstützen sollen“ (2002, S. 152). Um Rawls‘ eigenes Beispiel zu verwenden, müssen die Parteien in einer Debatte über die öffentliche Unterstützung von Kirchenschulen nicht mit öffentlichen Gründen allein beginnen, sondern dürfen sich auf Gründe berufen, die in ihren umfassenden Lehren verwurzelt sind. Dies ermöglicht es allen Teilnehmern, zu erklären, wie ihre vernünftige Ansicht die grundlegenden politischen Werte ihrer Gesellschaft unterstützt, vorausgesetzt, sie werden in der Lage sein, sie später in öffentliche Gründe umzuwandeln (2002, S. 153–155). Die Einschränkung der Pflicht zur Bürgerlichkeit bleibt so jedoch in verzögerter Form bestehen. Während Gründe, die fest in ihrer umfassenden Lehre verwurzelt sind, für diese Bürger:innen ein Hauptmotiv für eine bestimmte Entscheidung sein können, wären sie moralisch dazu verpflichtet, eine andere Entscheidung zu treffen, wenn sie diese am Ende nicht in öffentliche Gründe umwandeln könnten. Rawls selbst gibt, wie zuvor erwähnt, gibt keine weiteren Einzelheiten darüber, wie religiöse Gründe genau behandelt werden sollen. Eine bequeme Möglichkeit, diese Lücke zu schließen, wäre es, sich anderen Vertretern öffentlicher Rechtfertigungstheorien und Liberalen der öffentlichen Vernunft anzuschließen und anzunehmen, dass eine Praxis des öffentlichen Vernunftgebrauchs eine strenge Einschränkung der Verwendung religiöser Gründe in der öffentlichen Sphäre bedeutet. Ein Beispiel wäre Robert Audi, der zwei Prinzipien demokratischer Staatsbürgerschaft annimmt, ein Prinzip der säkularen Rationalität und ein Prinzip der säkularen Motivation, welche von Bürger:innen fordern, angemessene säkulare Gründe anzubieten, um ihre politischen Entscheidungen zu rechtfertigen, und sich von säkularen Gründen motivieren zu lassen (2000, S. 86–100).3 Ein weiterer strikter Liberaler der öffentlichen Vernunft, der sich selbst als politischer Liberaler in Rawls’scher Tradition beschreibt, ist Stephen Macedo, der zumindest anerkennt, dass die Bürden der öffentlichen Vernunft für religiöse Bürger:innen (so viel wie für andere umfassende Überzeugungen, viele weltliche eingeschlossen) tatsächlich existieren. Doch selbst in diesem Fall denkt Macedo nicht, dass diese Bürden die Anforderungen der öffentlichen Vernunft wenigstens zu einem gewissen Grad aufwiegen und antwortet auf diesbezügliche Bedenken folgerndermaßen: „Wenn einige Menschen sich trotzdem ‚zum Schweigen gebracht‘ oder ‚marginalisiert‘ fühlen, weil einige von uns glauben, dass es falsch
3 Wie
Rawls akzeptiert Audi religiöse Gründe im politischen Diskurs, solange diese schließlich durch öffentliche Gründe ersetzt werden können.
6.2 Die Bürde der Religiosität
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ist, Grundfreiheiten auf der Grundlage religiöser oder metaphysischer Ansprüche zu gestalten, kann ich nur sagen: ‚Werdet erwachsen!‘ “ (2000, S. 35).4 Das Problem dieser scheinbar einfachen und bequemen Antwort auf die Frage nach ungerechten religiösen Bürden ist, dass sie nicht besonders konstruktiv mit religiösen Positionen umgeht. Die Beharrlichkeit auf säkularen Gründen und der Anspruch, dass dies die Art von Gründen sei, die demokratische Bürger:innen offensichtlich akzeptieren müssen, ähneln verdächtig den Strategien umfassender Liberalen. Daher ist es sinnvoll, einen weiteren Blick auf weitere politischliberale Antworten auf die Bedenken hinsichtlich ungerechter Bürden für religiöse Bürger:innen zu werfen.
6.2 Die Bürde der Religiosität Verteidiger religiöser Verpflichtungen haben verschiedene Gegenargumente vorgebracht, um die Behauptung zu widerlegen, dass religiöse Bürger:innen ihre politischen Entscheidungen letztlich aufgrund von nicht-religiösen Gründen rechtfertigen müssen. Christopher Eberle argumentiert, dass diese Zurückhaltungsanforderung für religiöse Bürger:innen eine zu große Bürde darstellt und daher bereits in der deliberativen Phase des Urzustands zurückgewiesen würde (2002, S. 140–150).5 Unter der Annahme, dass die Parteien im Urzustand Informationen über die psychologischen Kosten haben, die für tief religiöse Bürger:innen entstünden, würden sie gegen eine solche Anforderung entscheiden, da sie selbst eine:r dieser Bürger:innen sein könnten. Dies wäre ein Beispiel für die allgemeinere Annahme, dass die Parteien im Urzustand keine Prinzipien wählen würden, für die die „Belastung durch Verpflichtungen“ (Rawls 2005a, S. 176) zu hoch sind. Wie sich herausstellt, so Eberle, kann die Pflicht zur Bürgerlichkeit nicht mit einer Entscheidung im Urzustand begründet werden.
4 Dieser Satz wird in der Literatur über die öffentliche Vernunft und die Religion häufig zitiert. Was beim Zitieren dieses Satzes in der Regel übergangen wird, ist der relevante ursprüngliche Kontext – ein Argument gegen die Idee, dass öffentliche Vernunft eine undemokratische Einschränkung der Meinungsfreiheit sei. Es ist genau diese bestimmte Sichtweise, die Macedo so entschieden ablehnt. Davon abgesehen räumt er ein, dass religiöse Gründe tatsächlich einen Platz in der politischen Debatte haben, obwohl die entscheidenden Gründe in einer Debatte diejenigen sein müssen, die öffentlich sind und von allen vernünftigen Bürger:innen geteilt werden können, siehe auch Macedo (1998, S. 71). In dieser Hinsicht stimmt er mit Rawls’ späterer Darstellung religiöser Gründe in der politischen Deliberation überein. Dies bedeutet jedoch, dass religiöse Gründe durch öffentliche, d. h. nicht-religiöse ersetzt werden müssen, damit die Bürger:innen eine öffentliche Rechtfertigung geben können. 5 Eberle geht zu Recht davon aus, dass die Pflicht zur Bürgerlichkeit eng mit Rawls’ Prinzip liberaler Legitimation verbunden (oder sogar identisch damit) ist, das selbst eines der Prinzipien ist, die die Parteien im Urzustand wählen würden.
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6 Religion
Es ist jedoch alles andere als offensichtlich, dass die Einschränkungen der öffentlichen Vernunft für religiöse Bürger:innen tatsächlich eine zu große Bürde darstellen, wie Eberle behauptet. Rawls’ Pflicht zur Bürgerlichkeit ist nicht zwangsläufig für alle religiösen Bürger:innen untragbar, sondern nur für einen Teil von ihnen. Um eine von Macedos Metaphern zu verwenden: Die psychologische Besteuerung religiöser Bürger:innen kann je nach Inhalt ihrer Überzeugungen variieren. Während die Kosten für Bürger:innen mit toleranten und ökumenischen religiösen Ansichten gering oder nichtexistent sein können, müssen Bürger:innen mit fundamentalistischeren Standpunkten (z. B. der Überzeugung, dass Abweichler ewige Verdammnis erleiden oder das Nichtgläubige eine geringere moralische Stellung haben) einen höheren Preis zahlen und ihre umfassenden Überzeugungen stärker abteilen (Macedo 1998, S. 72). In Situationen, in denen Bürger:innen öffentliche Gründe als ihre Motivation angeben müssen, haben letztere Zugang zu einer geringeren Zahl von Gründen und können daher weniger legitimen politischen Entscheidungen treffen. In Bezug auf Bildungsmaßnahmen bedeutet dies, dass Eltern, deren umfassende Ansichten nur wenige Elemente mit dem übergreifenden Konsens in einer liberal-demokratischen Gesellschaft teilen, manchmal Gesetze und Vorschriften auferlegt werden, die ihnen gegenüber nicht legitimiert wurden und auch nicht legitimiert werden können. Sie könnten sich zum Beispiel nicht mit dem Inhalt von Lehrplänen anfreunden, die sie als inkompatibel mit ihren religiösen Ansichten wahrnehmen, obwohl die Inhalte durch politisch-liberale Prinzipien gerechtfertigt sind, auf die sich alle vernünftigen religiösen Ansichten einigen würden. Während dies vielleicht eine unglückliche Tatsache des modernen Lebens ist, besteht kein Grund zur Besorgnis für politische Liberalen. Die Ausübung politischer Macht muss zwar vernünftigen Bürger:innen gegenüber legitimiert werden, aber es besteht keine moralische Verpflichtung, sie auch gegenüber jenen zu legitimieren, die unvernünftig sind (oder einfach nicht vernünftig genug) und grundlegende Werte und Prinzipien einer politisch-liberalen Gesellschaft nicht teilen (siehe z. B. Dreben 2003, S. 323, 328–329; Quong 2011, S. 181). Die Art von religiösen Bürger:innen, die bedeutend höhere psychologische Kosten tragen, sind diejenigen, deren Lehren ohnehin nicht viele Werte und Tugenden mit dem politischen Liberalismus teilen, wie etwa Toleranz und Achtung für Personen. In Bezug auf politische Vernunft können wir diese fundamentalistischeren Varianten religiöser Sichtweisen als weniger vernünftig bezeichnen als die ökumenischen und toleranten. Dies bedeutet, dass für Bürger:innen mit weniger politisch vernünftigen umfassenden Überzeugungen umso höhere psychologische Kosten in einer liberal-demokratischen Gesellschaft entstehen. Sie teilen wenigere ihrer Gründe mit offeneren Mitbürger:innen, oder anders ausgedrückt, wenigere ihrer Gründe sind für diejenigen unter ihren Mitbürger:innen zugänglich, die andere umfassende Ansichten haben.
6.3 Religiöse Gründe als öffentliche Gründe
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6.3 Religiöse Gründe als öffentliche Gründe Politische Liberalen haben gute Gründe, Eberles vorgeschlagene Lösung für das Problem religiöser Bürden nicht zu folgen. Die Ablehnung der Pflicht zur Bürgerlichkeit würde die Praxis der öffentlichen Rechtfertigung in einer wohlgeordneten Gesellschaft in einem solchen Ausmaß schwächen, dass sie nahezu irrelevant würde. Wir können annehmen, dass eine wohlgeordnete Gesellschaft dieser Art hätte weniger Stabilität aus den richtigen Gründen hätte als eine, die Standards des öffentlichen Vernunftgebrauchs setzt. Wenn wir jedoch nicht Eberles Ansatz folgen und davon ausgehen, dass die Parteien im Urzustand tatsächlich Prinzipien wählen würden, die gewisse Einschränkungen auf der Grundlage öffentlicher Vernunft verlangen, sind wir mit dem Problem konfrontiert, dass religiöse Bürger:innen gezwungen werden, das zu privatisieren, was für viele von ihnen eines ihrer wichtigsten Lebensprojekte sein könnte. Kevin Vallier nennt diesen Einwand gegen den Liberalismus die „Integritätskritik“: „Privatisierung bedeutet, dass gläubige Bürger:innen gezwungen sind, ihre grundlegenden Verpflichtungen zu verdrängen, wenn sie sich an der Politik beteiligen, was zu einer Verletzung ihrer Integrität führt“ (2012, S. 149). Im Gegensatz zu Eberle versucht Vallier dieses Problem nicht dadurch zu lösen, dass er die Pflicht zur Bürgerlichkeit ablehnt, sondern schlägt vor, die Bandbreite von Gründen zu erweitern, die als öffentliche Gründe gelten können. Sein Ansatz besteht darin, die Zugänglichkeitsanforderung (weitere Details dazu weiter unten) durch eine bloße „Verständlichkeitsanforderung“ zu ersetzen. Diese Strategie hat weitreichende Auswirkungen auf Bildung – eine der praktischen Konsequenzen solch einer Neugestaltung öffentlicher Rechtfertigungsstandards ist, dass öffentliche Schulen nach Vallier nicht für alle vernünftigen Bürger:innen gerechtfertigt werden können und daher nur ein Bildungssystem, das aus privaten Schulen besteht, legitim sein würde. Um Valliers Strategie und ihre Auswirkungen auf die liberale Bildung besser zu verstehen, sollten wir uns genauer ansehen, welche Art von Gründen öffentliche Gründe für politische Liberale sind und daher politische Entscheidungen legitimieren können. Sobald ich seine Behauptung über die Unrechtfertigbarkeit öffentlicher Schulen untersucht habe, werde ich argumentieren, dass liberale Bildung ein öffentliches Bildungssystem tatsächlich rechtfertigen kann und muss. Zunächst ist es notwendig, die verschiedenen Interpretationen öffentlicher Rechtfertigungsstandards zu verstehen. Nach einer verbreiteten Interpretation Rawls’scher öffentlicher Rechtfertigung müssen vernünftige Bürger:innen Gründe vorbringen, die von ihren Mitbürger:innen (zumindest hypothetisch) geteilt werden. Erst dann haben diese Gründe eine rechtfertigende Kraft, welche die Ausübung politischer Macht legitimiert. Was genau es bedeutet, geteilte Gründe zu haben, ist jedoch umstritten. Es wurde argumentiert, dass dies erfordern würde, dass alle Bürger:innen die gleichen Rechtfertigungen für eine politische Entscheidung anerkennen (Bohman 1996, S. 80–83; Dryzek 2000, S. 15). In Valliers Terminologie würde dies bedeuten, dass rechtfertigende Gründe „für jedes Mitglied der
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Öffentlichkeit epistemisch gerechtfertigt“ (2014, S. 110) sein müssen. Unter diese engen Interpretation können rechtfertigende Gründe nur dann gültig sein, „wenn beim richtigen Grad von Idealisierung jede:r Bürger:in den Grund als seinen:ihren eigenen anerkennt“ (2014, S. 109). Diese Anforderung an geteilte Gründe könnte auf zwei Arten erfüllt werden, von denen keine vielversprechend aussieht. Zunächst könnten wir annehmen, dass die Rechtfertigungsprozesse von Bürger:innen auf individueller Ebene ausreichend ähnlich sind, so dass die Ergebnisse ihrer „internen Deliberation“ in allen relevanten Aspekten identisch sind. Angesichts der Tatsache, dass diese Bürger:innen in einer Gesellschaft leben, die durch Wertepluralismus gekennzeichnet ist, wäre dies eine unplausibel hohe Erwartung. Zweitens könnte die Interpretation der gemeinsamen Gründe die Notwendigkeit eines Deliberationsprozesses erfordern, der nur dann legitimerweise zu einem Ende kommen kann, wenn eine allgemeine Anerkennung der richtigen Rechtfertigung erreicht wurde. Diese Einschränkung sieht jedoch auf der Idealisierungsebene, auf der politische Liberale eine wohlgeordnete Gesellschaft normalerweise lokalisieren, hochgradig unrealistisch aus. Die Bürden des Urteilens (siehe Abschn. 1.1), von denen ausgegangen wird, dass sie Bestandteil einer vernünftigen pluralistischen Gesellschaft sind, machen diese Interpretation unmöglich. Es ist ermutlich plausibler, die Rede von gemeinsamen Gründen im Sinne des von Jonathan Quong vorgeschlagenen „Prinzips der rechtfertigenden Aufrichtigkeit“ zu interpretieren: Alle Bürger:innen dürfen sich nur auf Erwägungen berufen, von denen sie ernsthaft annehmen, dass andere vernünftige Bürger:innen sie billigen können, aber verschiedene Bürger:innen können trotzdem aus denselben Gründen (oder aus verschiedenen Gründen) die gleiche Entscheidung (oder verschiedene Entscheidungen) treffen (2011, S. 263).
Vallier hat eine ähnliche Interpretation der gemeinsamen Gründe, obwohl er sie als „Zugänglichkeitsanforderung“ bezeichnet und er annimmt an, dass Rawls öffentliche Rechtfertigung in dieser Weise versteht. Die Anforderung besagt, dass, obwohl nicht alle Bürger:innen die gleichen Gründe teilen, sie immer noch einen gemeinsamen Bewertungsmaßstab teilen, den sie auf unterschiedliche rechtfertigende Gründe anwenden. Gründe, die diesen gemeinsamen Standards entsprechen, gelten als öffentlich zugänglich (2014, S. 108; auch 2011, S. 367). Ein Einwand von Gerald Gaus gegen diese Zugänglichkeitsinterpretation öffentlicher Rechtfertigung ist allerdings, dass diese Anforderungen immer noch zu hoch sind, um die Idee gegenseitiger Achtung unter Bürger:innen angemessen zu berücksichtigen. Laut Gaus sind rechtfertigende Gründe pfadabhängig. Bedingt durch verschiedene interne und externe Umständen können Bürger:innen daher unterschiedliche und manchmal widersprüchliche Überzeugungen über politische (und moralische) Situationen entwickeln. Aufgrund ihrer Pfadabhängigkeit sollten alle diese unterschiedlichen Ergebnisse jedoch als gültige öffentliche Gründe für oder gegen politische Entscheidungen gelten, vorausgesetzt, der deliberative Prozess dahinter ist epistemisch einwandfrei. Die pfadabhängige Natur menschlichen Denkens würde auch bedeuten, das Bürger:innen (selbst wenn sie moderat idealisiert sind) nicht notwendigerweise
6.3 Religiöse Gründe als öffentliche Gründe
159
die gleichen Bewertungsmaßstäbe teilen müssen, wie sie von der Zugänglichkeitsanforderung verlangt wird, selbst wenn sie hinreichend gute Denker sind. Die Behauptung, dass eine öffentliche Rechtfertigung auf einer zugänglichen Begründung beruhen muss, würde bedeuten, (einigen) Bürger:innen die Achtung zu verweigern, die sie als vernünftige und rationale, d .h. kompetente moralische Akteur:innen verdienen (Gaus 2011, S. 288–292). Vallier greift Gauss’ Einwand auf, um seine Behauptung zu stützen, dass die angemessenen Standards für öffentliche Rechtfertigung deutlich schwächer sein müssen als jene der Zugänglichkeitsanforderung, und schlägt stattdessen Verständlichkeit vor. Gründe gelten als verständlich und damit als potentiell rechtfertigend, wenn sie epistemisch gemäß den Bewertungsmaßstäben des vernünftigen Individuums gerechtfertigt sind, dessen Gründe sie sind – selbst wenn nicht alle vernünftigen Bürger:innen diese Maßstäbe teilen. Religiöse Bürger:innen können zum Beispiel ihre Entscheidungen für Politik und Gesetze auf ihren heiligen Texten begründen, die nach ihren Bewertungsmaßstäben als Gründe gelten, obwohl säkulare Bürger:innen diese Maßstäbe möglicherweise nicht teilen. Obwohl dies eine zulässige Interpretation des öffentlichen Vernunftgebrauchs ist, bedeutet dies nicht, dass jeder subjektive epistemische Bewertungsmaßstab automatisch als verständlich gilt: Bürger:innen müssen die von ihnen als rechtfertigend angesehenen Gründe immer noch „entweder vernünftig berechtigt … oder vernünftig erforderlich“ (Vallier 2014, S. 106) befürworten. Vernünftig erforderliche Maßstäbe sind solche der ausreichenden Information und der Schlussfolgerung; religiöse Texte wie die Bibel oder der Koran gelten für Vallier als Quellen von Maßstäben, denen Bürger:innen vernünftig zustimmen dürfen (2014, S. 107).6 Die Verständlichkeits-Lesart der öffentlichen Vernunft ist zentral für Valliers Behauptung, dass es keinen Bedarf an einem Konsens über Gründe gibt, um politische Entscheidungen zu legitimieren, für den Bürger:innen die gleichen Bewertungsmaßstäbe teilen müssen. Stattdessen ist eine Konvergenz von Gründe ausreichend, was bedeutet, dass weder die rechtfertigenden Gründe von Bürger:innen noch ihre Bewertungsmaßstäbe von allen geteilt werden oder für alle zugänglich sein müssen. Entscheidend ist, dass Bürger:innen Maßstäbe haben, die zwar auf Akteur:innen bezogen sind, aber bestimmte Schwellenbedingungen der Rationalität erfüllen, und dass Mitbürger:innen die Gültigkeit dieser Maßstäbe erkennen können, auch wenn sie diese nicht unbedingt teilen (2012, 2014, S. 106– 107, 2016, S. 608–609).7 Vallier zufolge würde der politische Liberalismus, richtig verstanden in seinem Streben nach Neutralität und seiner Achtung für den Wertepluralismus, eine Anforderung an die Verständlichkeit öffentlicher Rechtfertigung implizieren; nur diese Konzeption öffentlicher Vernunft könnte ein Maximum an
6 Valliers Argument dafür, dass religiöse Überzeugungen die gleiche epistemische Stellung wie nicht-religiöse moralische Überzeugungen einnehmen, findet sich in seinem Werk Liberalism, Religion And Integrity (2012). Ich werde es hier nicht wiedergeben, da nichts, was ich sagen werde, davon abhängt, ob es plausibel ist. 7 Für eine frühere Darstellung von verständlichen rechtfertigenden Gründen siehe Bird (1996).
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6 Religion
Integrität und individueller Freiheit für Bürger:innen gewährleisten (2016, S. 601– 602). Diese Argumentationslinie ist auch für die öffentliche Rechtfertigung von Bildungsmaßnahmen relevant, und öffentliche Bildung ist in der Tat Valliers Anwendungsfall, um zu demonstrieren, welchen Unterschied die Verständlichkeitsanforderung für die Rechtfertigung tatsächlicher politischer Maßnahmen macht. Unter der Konsens-Interpretation eines Liberalismus der öffentlichen Vernunft bedeutet die Anforderung, wenigstens zugängliche Gründe zu haben, eine bestimmte Art staatsbürgerlicher Bildung, die zukünftige Bürger:innen auf eine solche Art demokratischer Deliberation vorbereitet. Vallier identifiziert drei Ziele von auf Konsens ausgerichteter liberaler Bildung: […] liberale Konsens-Bürger:innen müssen (i) raffinierte und faire Deliberatoren sein, die (ii) in gemeinsam geteilten Begrifflichkeiten deliberieren und (iii) die dem Ziel, eine gemeinsam geteilte öffentliche Kultur zu schaffen, eine übergeordneter Bedeutung gegenüber ihren religiösen Überzeugungen, die sich auf das politische Leben auswirken, zuweisen (2014, S. 230).8
Keine dieser Anforderungen ist für eine Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung erforderlich, die sich nur auf verständliche Gründe stützt. Ein öffentlich gerechtfertigtes Bildungssystem im Rahmen eines Konvergenzliberalismus würde dementsprechend ganz anders aussehen als eines, das die oben genannten Ziele verwirklichen muss. Statt öffentliche Schulen zu unterstützen, würde ein Bildungssystem im Rahmen eines Konvergenzliberalismus ausschließlich aus privaten Schulen bestehen, die z. B. über ein Gutscheinsystem zugänglich wären. Eltern könnten ihre Kinder auf die Schule schicken, die am besten zu ihren umfassenden Ansichten passt, ob säkular oder religiös, so behauptet Vallier zumindest. Um zu veranschaulichen, wie Bildungsmaßnahmen im Rahmen des Konvergenzliberalismus begründet werden müssten, vergleicht Vallier beispielhaft die Positionen zweier Eltern: Alvin, der an eine umfassende religiöse Lehre glaubt, und Daniel, der ein umfassender Säkularist ist (2014, S. 232–242). Die Inkompatibilität ihrer Ansichten soll sich dann offenbaren, wenn wir uns zwei Lehrplankomponenten ansehen, hinsichtlich derer sie sich zutiefst uneinig sind – das Unterrichten von Intelligent Design und Sexualerziehung. Indem Vallier diese sehr verschiedenen Themen als Gründe für die Uneinigkeit auswählt, will er veranschaulichen, wie die Uneinigkeit sich über eine ganze Reihe von Lehrplankomponenten ausbreitet. Wenn Eltern sich über mehrere, oft unzusammenhängende Lehrplankomponenten uneinig sind, würde dies die Schlussfolgerung unterstützen, dass nur private Schulen öffentlich rechtfertigbar sind. Ich werde später in diesem Kapitel argumentieren, dass dies nur der Fall ist, wenn man auf einem bestimmten Aggregationsniveau von Elternpräferenzen operiert, und
8 Vallier
sieht diese Anforderungen als zentral für die Arbeiten von Macedo und Gutmann zur politischen Bildung.
6.3 Religiöse Gründe als öffentliche Gründe
161
dass politische Liberale gute Gründe haben, sich für eine etwas feinkörnigere Präferenzaggregation zu entscheiden. Zunächst wird es jedoch hilfreich sein, eine detailliertere Beschreibung der Uneinigkeit zwischen religiösen und säkularen Eltern zu geben, die Vallier im Sinn hat. Alvin wünscht sich einen Lehrplan, der Intelligent Design als mögliche Alternative zu Evolutionstheorie unterrichtet, und er denkt auch, dass Sexualerziehung den Schwerpunkt auf Enthaltsamkeit, Zeugung und die Auffassung von Sex als heiliger Handlung legen sollte. Daniel hingegen denkt, dass Kinder Evolutionstheorie „unbelastet von nicht-wissenschaftlichen Fragen“ (2014, S. 239) lernen sollten und dass Sexualerziehung sie rechtzeitig auf mögliche Folgen sexueller Aktivität vorbereiten sollte. Offensichtlich haben sowohl Alvin als auch Daniel starke Gründe, sich gegenseitig die bevorzugten Lehrpläne zu verweigern, und in einem System öffentlicher Schulbildung wird es in Fällen wie diesen oft keine legitimen Möglichkeiten geben, voranzukommen (aus der Perspektive verständlicher Maßstäbe öffentlichen Vernunftgebrauchs jedenfalls). Obwohl sowohl Alvin als auch Daniel es vorziehen würden, dass ihre Kinder in Schulen unterrichtet werden, anstatt sie selbst zu unterrichten, würden sie es immer noch vorziehen, sie selbst zu unterrichten, wenn es um die oben genannten Themen geht, anstatt ihre Kinder einem Lehrplan folgen zu lassen, der nach den Präferenzen entgegengesetzter umfassender Lehren entworfen wurde. Laut Vallier können öffentliche Schulen die unterschiedlichen und widersprüchlichen Anforderungen von Alvin und Daniel nicht gleichzeitig erfüllen; würden sie es versuchen würden, müssten sie kontroverse Elemente aus dem Lehrplan entfernen. Solche Maßnahmen würden nur zu einer verwässerten Schulbildung führen, eine Alternative, die für alle unannehmbar wäre. Vallier untersucht auch kurz ein Modell, das es Eltern ermöglicht, ihre Kinder von den umstrittenen Teilen des Lehrplans auszuschließen. Sie könnten sie dann entweder selbst unterrichten oder sie für diese Klassen in Privatschulen schicken. Wie er selbst jedoch feststellt, ist dies ein ungewöhnlicher Vorschlag und würde bedeuten, dass religiöse Eltern zusätzliche Kosten für die alternative Unterricht (in Zeit oder Geld) tragen müssten, während sie immer noch für öffentliche Schulen zahlen müssten (2014, S. 243).9 Auch können öffentlichen Schulen sich nicht lediglich für eine der oben genannten Optionen (konservative Religion oder säkulare Wissenschaft) zu entscheiden. Dies würde ungerechtgertigte Zwangsgewalt gegenüber Alvin beziehungsweise Daniel bedeuten, die beide sogenannte Defeater-Gründe gegen
9 Vallier
denkt im Zusammenhand mit Intelligent Design auch kurz die Möglichkeit nach, Kinder von einzelnen Blöcken abzumelden, die nicht erfordern, dass die Lektionen in einer alternative Form unterrichtet werden. Die Sorgen betroffener Eltern wären, wie er denkt, dass ihre Kinder „die sozialen Folgen für die Trennung von der Klasse zu zahlen haben würden“ und von ihren Mitschüler:innen verspottet werden würden (2014, S. 239). Während dies sicherlich möglich ist, bedeutet es nicht unbedingt, dass ein Teilabmeldung oder separate Klassen zu bestimmten Themen nicht umsetzbar sind. Ich denke, dass es eher darauf hindeutet, wie wichtig es für Kinder ist, schon früh etwas über religiöse Vielfalt zu lernen.
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die von ihnen abgelehnten Bildungsmaßnahmen haben. Diese Defeater-Gründe basieren auf ihren jeweiligen umfassenden Ansichten und Bewertungsmaßstäben, die für ihre Mitbürger:innen verständlich sind; sie übertrumpfen alle Gründe, die für eine bestimmte politische Zwangsmaßnahme sprechen würden, wodurch deren Durchführung effektiv unzulässig wird.10 Valliers Schlussfolgerung ist, dass, unter der Annahme einer Grundposition gegen Zwang durch Gesetze und Institutionen, ein öffentlich finanziertes Schulsystem nicht konsequent umgesetzt werden kann wenn Bedingungen des öffentlichen Vernunftgebrauchs wie im gerade beschriebenen Sinne erfüllt werden soll.11 Es gibt Einwände gegen verschiedene Teile des Vallierschen Arguments. Man kann argumentieren, dass nicht die erzwungenen Maßnahmen selbst, sondern die Gründe für die entsprechenden Entscheidungen zu rechtfertigen sind (Lister 2013), oder dass Konvergenz (und mit ihr der Verständlichkeitsstandard) auf umstrittenen epistemologischen Annahmen beruht (Quong 2011, S. 265–273). Ich werde versuchen, diese tiefgreifenden Diskussionen über grundlegende Meinungsverschiedenheiten im öffentlichen Vernunftgebrauch zu vermeiden. Was sich im Zusammenhang mit der Diskussion über Bildungsmaßnahmen jedoch als hilfreich erweisen könnte, sind Andrew Listers Gedanken über Präferenzaggregation beim öffentlichen Vernunftgebrauch. Ich werde seine Diskussion über das „Aggregationsproblem“ als Ausgangspunkt nehmen, ohne dabei unbedingt auch die von ihm gezogenen Schlussfolgerungen zu übernehmen (2013, S. 87–101). Die von Vallier im Zusammenhang mit öffentlicher Bildung vorgeschlagenen Optionen erfordern bereits eine Aggregation von Präferenzen – während wir verschiedene Positionen bezüglich verschiedener Teile des Lehrplans (Intelligent Design/Evolution, Sexualerziehung) identifizieren können, sind die Optionen, über die Alvin und Daniel entscheiden, Pakete aus feiner gegliederten Unterrichtsmaßnahmen. Die Reihenfolge ihrer Präferenzen würde wie folgt aussehen (Tab. 6.1). Die numerischen Werte repräsentieren die relativen Präferenzordnungen von Alvin und Daniel in Bezug auf die zur Diskussion stehenden Lehrpläne. Ein Wert von 0 bedeutet, dass die betreffende Person Gründe hat, eine Maßnahme nicht zu unterstützen, und tatsächlich lieber kein Angebot zu diesem bestimmten Themenfeld hätte als die verfügbaren Optionen. Es gibt Fälle, in denen eine oder mehrere beteiligte Parteien Defeater-Gründe haben.
10 Es
ist erwähnenswert, dass das Konzept von Defeater-Gründen eine Prämisse zugunsten der Freiheit voraussetzt, d .h. dass jede Zwangsgewalt durch politische Maßnahmen denjenigen gegenüber, die ihr unterworfen sind, gerechtfertigt werden muss, siehe z. B. Benn (1990), Kap. 5; Gaus (2011), Kap. VI; Vallier (2014, S. 30–31). Selbst wenn dies oft nicht explizit gemacht wird, beruht jede politische Theorie, welche die Rechtfertigung politischer Zwangsgewalt für wichtig hält, auf einer Prämisse zugunsten der Freiheit als einer ihrer Grundlagen, so auch der politische Liberalismus. 11 Valliers Auffassung über Entscheidungsverfahren im öffentlichen Vernunftgebrauch ist in diesem Zusammenhang ähnlich der in Gaus (1996) und späteren Publikationen vertretenen Auffassung.
6.4 Disaggregation religiöser Gründe
163
Tab. 6.1 Präferenzordnung bezüglich des Lehrplaninhalts nach Vallier Intelligent Design als Thema zulassen Unterricht auf Evolutionstheorie beschränken Offene Sexualerziehung Konservative Sexualerziehung
Alvin 1 0 (Defeater) 0 (Defeater) 1
Daniel 0 (Defeater) 1 1 0 (Defeater)
Angenommen, diese beiden Lehrpläne wären ausreichend, um die Position jedes Einzelnen in Bezug auf die Frage zu bestimmen, wie ein legitimes Schulsystem gestaltet sein sollte, dann erscheint Valliers Wahl der Aggregation zulässig. Es wirkt jedoch etwas abenteuerlich, die Legitimität des öffentlichen Schulwesens anhand von lediglich zwei umstrittenen Fragen zu entscheiden. In den nächsten beiden Abschnitten werde ich einen genaueren Blick darauf werfen, wie Valliers Wahl der Maßnahmenaggregation die Ergebnisse beeinflusst, und dann eine andere Disaggregation der einzelnen Positionen vorschlagen, indem ich eine dritte Position mit den Positionen von Alvin und Daniel vergleiche. Mein Punkt wird sein, dass, während politisch-liberale Bildung versuchen sollte, diese Positionen zu berücksichtigen, sie auch nicht zur Geisel extremer Standpunkte werden darf.
6.4 Disaggregation religiöser Gründe Im Licht dessen, was ich in den Kap. 3, 4 und 5 gesagt habe, bin ich skeptisch, dass die Gründe, die Alvin und Daniel haben, um Bildungsmaßnahmen ab zulehnen, die nich mit ihren umfassenden Ansichten im Einklang stehen, wirklich Defeater-Gründe sind. Obwohl die Anforderungen politisch-liberaler Bildung nicht so hoch sind, wie Vallier denkt, gibt es einige zentrale Anforderungen, die vernünftige Bürger:innen (und vernünftige umfassende Lehren) anerkennen sollten. Die Anforderungen politisch-liberaler Bildung, die ich im ersten Teil des Buches bezüglich politischer Tugenden, Autonomie und Rechten identifiziert habe, gehören zum normativen Kern des politischen Liberalismus; vernünftige Bürger:innen müssen sich auf diese Werte und die daraus abgeleiteten Anforderungen als Teil des übergreifenden Konsenses einigen. Wenn dies nicht der Fall wäre, hätten wir eine Theorie, die nicht mehr als (mehr oder weniger Rawls’scher) politischer Liberalismus identifizierbar wäre.12 Es mag ausreichen, dass der übergreifende Konsens Raum für verschiedene, sich gegenseitig ausschließende Interpretationen der enhaltenen Prinzipien lässt, aber es muss sich
12 Das
bedeutet nicht, dass dies keine plausible oder vielleicht sogar plausiblere Auffassung von Liberalismus wäre. Es wäre nur außerhalb des Umfangs dieses Buches, diese Frage zu erörtern.
164
6 Religion
um einen Konsens über die Prinzipien (und andere zentrale normativen Elemente) handeln. Eine politisch-liberale Gesellschaft, die nur Konvergenz und keinen Konsens über Grundprinzipien der Bildung hat, kann kaum über die Zeit hinweg stabil sein, zumindest nicht aus den Gründen, die politische Liberale für wichtig halten. Rawls selbst beschreibt eine politische Auffassung von Gerechtigkeit als aus zwei Teilen bestehend, zum Ersten den sachlichen Prinzipien der Gerechtigkeit selbst und zum Zweiten „Untersuchungsrichtlinien“, um „zu entscheiden, ob sachliche Prinzipien angemessen angewendet werden können und um Gesetze und Richtlinien zu identifizieren, die sie am besten erfüllen“ (2005b, S. 224). Zwei Arten von politischen Werten, die sich auf diese beiden Teile beziehen, sind Werte der politischen Gerechtigkeit und Werte der öffentlichen Vernunft. Werte der politischen Gerechtigkeit sind die der politischen Gleichheit, der Chancengleichheit und so weiter, während Werte der öffentlichen Vernunft die politischen Tugenden wie „Vernunft und Bereitschaft, die (moralische) Pflicht zur Bürgerlichkeit anzuerkennen“ umfassen (2005b, S. 224). Wie ich bereits zuvor argumentiert habe, müssen diese Werte und die dafür notwendigen Kapazitäten, sie für sich selbst zu verwirklichen, künftigen Bürger:innen beigebracht werden. Darüber hinaus sind diese Werte Teil einer gemeinsamen Grundlage, die vernünftige Bürger:innen einer politisch-liberalen Gesellschaft teilen (Quong 2012, S. 52–53). Bürger:innen, die diese Werte oder politische Konsequenzen, die direkt aus diesen Werten folgen, ablehnen, können nicht behaupten, dass sie Opfer ungerechter politischer Machtausübung wurden. Sie würden aus der Perspektive des politischen Liberalismus als unvernünftig eingestuft.13 Wenn wir die Anforderungen einer politisch-liberalen Bildung betrachten, sollten wir jede der zuvor genannten umstrittenen Unterrichtsmaßnahmen überprüfen, um zu sehen, ob Alvin oder Daniel wirklich Defeater-Gründe dagegen haben, sie umzusetzen, oder ob eine Umsetzung allein durch die Tatsache legitimiert ist, dass diese Teile des Lehrplans zu substantiellen politisch-liberalen Anforderungen beitragen.
13 Das
ist zumindest Quongs Interpretation des politischen Liberalismus, siehe Quong (2011, 2012). Liberale der öffentlichen Vernunft können mit dieser Ansicht widersprechen; Gaus hat das ausdrücklich getan und denkt, dass das Ergebnis eine Art von politisch-liberalem Sektierertum ist, das sich nicht wesentlich von Perfektionismus unterscheidet (2012, S. 8–9). Ich werde hier davon ausgehen, dass Quongs Sichtweise näher an der Rawls’schen Idee des politischen Liberalismus näher ist als Gaus’ und mich daher auf die Prämisse stützen, dass vernünftige Bürger:innen die zentralen Werte des politischen Liberalismus per Definition teilen. Trotzdem gibt es andere Möglichkeiten, die Anforderungen des politischen Liberalismus und der öffentlichen Rechtfertigung miteinander in Einklang zu bringen; zum Beispiel könnten wir die öffentliche Vernunft als einen von mehreren Werten betrachten, die alle hinreichende, aber nicht notwendige Bedingungen für Legitimität darstellen würden. Dies würde den politischen Liberalismus zu einer Art Hybridform zwischen einem Liberalismus der öffentlichen Vernunft und Perfektionismus machen, siehe Wendt (2019). Ich denke nicht, dass die grundlegenden Anforderungen für diese Interpretation des politischen Liberalismus viel anders aussehen würden als die, die ich auf der Grundlage von Quongs entwickle.
6.4 Disaggregation religiöser Gründe
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Intelligent Design als Thema zulassen Für diesen Fall ist es wichtig zu bestimmen, wie Intelligent Design in den Lehrplan eingeführt wird. Wenn es Kindern (oder eher ihren Eltern) ermöglicht, eine exklusive Entscheidung zu treffen, ob sie an Intelligent-Design-Stunden oder an Evolutionstheorie-Stunden teilnehmen möchten, würden Daniels Gründe gegen diesen Fall nicht gelten – seine Kinder könnten die „rein wissenschaftlichen“ Stunden besuchen und müssten sich nicht mit Intelligent-Design-Theorien auseinandersetzen. Vallier räumt jedoch ein, dass ein solcher Lehrplan zu anderen, problematischeren Einwänden führen könnte. Sein Vorschlag ist daher nur, Intelligent Design als Beispiel für die Grenzen wissenschaftlicher Theorien und dafür, was sie erklären können, zu unterrichten. Intelligent Design könnte „als Teil eines Theologie- oder Philosophie-Teils im Rahmen der Sekundarstufe, der legitim vorgeschrieben werden könnte“ unterrichtet werden (2014, S. 237). Dies ist eine relativ schwache Form von Intelligent-Design-Unterricht, die Daniel jedoch ablehnt. Wir müssen bestimmen, warum Daniels Gründe, selbst diesen „bescheidenen“ Vorschlag abzulehnen, als Rechtfertigungen gelten. Seine Gründe können nicht mit einem ernsthaften Risiko (welcher Art auch immer) in Verbindung gebracht werden, dem seine Kinder durch diesen Lehrplan ausgesetzt werden: Weder wird seinen Kindern die Evolutionstheorie vorenthalten, noch wird Intelligent Design im Kontext von Biologie-Unterricht als eine gleichermaßen plausible Theorie präsentiert.14 Der einzige Grund, auf dem Daniel hier einen Defeater-Grund präsentieren könnte, wäre, dass diese Art von (aus seiner Perspektive) anstößigem Lehrplan durch Steuern finanziert wird – er würde politisch dazu gezwungen, dafür zu bezahlen, auch wenn indirekt. Unterricht auf Evolutionstheorie beschränken Diese Art von Lehrplan wird von Alvin abgelehnt, der entschlossen zu sein scheint, Intelligent Design als Teil des Lehrplans eingeführt zu sehen, um einen rein wissenschaftlichen evolutionären Ansatz zu konterkarieren, der keinen Raum für Gott lässt. Wenn es auch dazu beitragen könnte, ein gegenseitiges Verständnis zu fördern und vielleicht sogar die gesellschaftliche Stabilität zu verbessern, wenn Bürger:innen mit unterschiedlichen religiösen oder weltlichen Ansichten einen Einblick in die umfassenden Lehren anderer erhalten (ich werde im nächsten Abschnitt dieses Kapitels mehr dazu sagen), so scheint es mir doch nicht, dass Alvins Kinder durch den Lehrplan einer öffentlichen Schule, der zwar Evolutionstheorie, aber keine Erwähnung von Intelligent Design enthält, einem ernsthaften Risiko ausgesetzt sind. Alvins Kinder könnten zu Hause, in der Sonntagsschule oder auf andere Weise über Intelligent Design unterrichtet werden. Wie im Fall von Daniel ist hier die einzige relevante Zwangslage, dass diese Art von Schule auch durch Alins 14 Valliers
Beispiel vermeidet den offensichtlichen Slogan „Evolution ist nur eine von vielen Theorien“ und erkennt an, dass Theorien besser oder schlechter sein können; er räumt auch ein, dass Theorien des Intelligent Design sicherlich schlechte Wissenschaft sind (2014, S. 234–237).
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Steuern finanziert wird – obwohl er, wenn möglich, seine Kinder lieber in eine Schule schicken würde, die auch Intelligent Design unterrichtet. Offene Sexualerziehung Das Argument für eine offenen Sexualerziehung, die von Daniel bevorzugt wird, scheint stärker zu sein als das Argument für einen Lehrplan en, in dem „nur“ Evolutionstheorie vorkommt. Um festzustellen, ob dies der Fall ist, benötigen wir mehr Details darüber, welchen Inhalt eine offene Sexualerziehung haben könnte. Angenommen, die vernünftigen minimalen Ziele der Sexualerziehung sollten die Verhinderung ungewollter Schwangerschaften und Infektionen mit sexuell übertragbaren Krankheiten sein, dann sollte jede Form von Sexualerziehung, die diesen Namen verdient, Heranwachsende befähigen, solche Beeinträchtigungen zu vermeiden. Jede Art von Sexualerziehung, die sich als stark unzureichend erweist, um diese Ziele zu erreichen, kann als unpassende Wahl ausgeschlossen werden. Sexualerziehungsprogramme, die empirisch als wirksam bestätigt wurden, umfassen Lektionen über die Verwendung von Verhütungsmitteln und vermitteln Wissen über sexuelles Risikoverhalten, das zur Infektionen mit übertragbaren Krankheiten oder zu ungewollten Schwangerschaften führen kann. Darüber hinaus ist für die Wirksamkeit solcher Programme wichtig, dass sie auf sozialen Lerntheorien basieren. Diese Theorien können wirksame Unterrichtsstrategien bereitstellen, wie etwa die Personalisierung von Informationen über risikoreiches Verhalten durch Präsentation in einem für Jugendliche zugänglichen Kontext, und durch Berücksichtigung sozialer und medialer Einflüsse (Kirby et al. 1994; Ähnliche Ergebnisse finden sich auch bei Cvetkovich et al. 1975; Eisen und Zellman 1986; Eisen et al. 1990). Wenn es das ist, was Daniel bevorzugt, dann will er vorrangig eine effiziente Sexualerziehung, was etwas ist, das von den öffentlichen Schulen erwartet werden sollte. Vielleicht ist er aber unglücklich mit einigen der gelehrten Maßnahmen, die er als unaufrichtig oder veraltet einstufen könnte, z. B. Strategien der Enthaltsamkeit. Trotzdem scheint es gute Evidenz dafür zu geben, dass es Teil einer effektiven Sexualerziehung sein kann, Jugendlichen sogenannten „Widerstandsfähigkeiten“ zu vermitteln, um erste sexuelle Aktivitäten zu verzögern, solange dies mit anderen Inhalten kombiniert wird, wie der Informationen über Krankheiten, Schwangerschaft und Verhütungsmittel (Ku et al. 1992, 1993). Sollte sich herausstellen, dass ein Sexualerziehungsprogramm, das keine Enthaltsamkeitsstrategie enthält, bedeutend weniger effizient ist als andere, stünden Daniels Präferenzen sogar im Widerspruch zum primären Ziel von Sexualerziehung, effizient zu sein. Daher möchte ich bestreiten, dass Daniels Gründe, auf ein Unterrichtsprogramm ohne Bezug zu Enthaltsamkeitsstrategien zu bestehen, als Defeater-Grund gilt, da dies die Wirksamkeit der Sexualerziehung für seine Kinder untergraben könnte.15 15 Es
ist möglich, dass zukünftige empirische Forschung zeigt, dass die Beziehung zwischen dem Lehren von Widerstandsfähigkeit und einer effektiven Sexualerziehung nicht kausal ist. In diesem Fall gäbe es keinen Grund, Enthaltsamkeit zu lehren, um ein Sexualerziehungsprogramm erfolgreich zu machen, und Daniels Grund wäre als Defeater-Grund geeignet.
6.4 Disaggregation religiöser Gründe
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Konservative Sexualerziehung Die Argumente gegen Daniels Behauptungen funktionieren in ähnlicher Weise auch gegen Alvins Position, falls seiner ideale Version von Sexualerziehung einige der für ihre effizient relevanten Teile fehlen würden. Wenn Alvin z. B. davon überzeugt wäre, dass Lektionen über die Verwendung von Verhütungsmitteln Jugendliche dazu veranlassen würden, vor der Ehe Sex zu haben, und Sexualerziehung deshalb keine Informationen über die Verwendung von Verhütungsmitteln enthalten sollte, würde dies zu einem weniger effizienten Bildungsprogramm führen. Wenn Alvins Gründe, ähnlich wie bei Daniels Fall, zu einer deutlich weniger effizienten Sexualerziehung führen würden, sollten seine Gründe nicht als Defeater-Gründe gelten. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ein Vergleich von Alvins und Daniels Standpunkten bezüglich Evolutionstheorie und Sexualerziehung als Teil des Lehrplans zeigen, dass beide Themen eine unterschiedliche Bedeutung für Legitimität in der öffentlichen Bildung haben. Man hätte erwarten können, dass die Sexualerziehung das relevantere Thema ist, aber dies ist nicht der Fall. Tatsächlich können Alvin und Daniel sich in Bezug auf einige der wesentlichen Maßstäbe, die eine effektive Sexualerziehung ausmachen, nicht zu sehr voneinander unterscheiden. Wenn sie zu große Teile des relevanten Inhalts der Sexualerziehung ablehnen, entspricht die Art von Lehrplan, die sie tolerieren würden, einer Position, die bewusst eine schlechte oder sogar keine Sexualerziehung bevorzugt. Dies ist aus einer Gerechtigkeitsperspektive keine zulässige Option, da Jugendliche als zukünftige Bürger:innen Zugang zu einer Bildung benötigen, die es ihnen ermöglicht, eine Vielzahl von Lebensprojekten zu verfolgen. Es kann angenommen werden, dass vernünftige Bürger:innen akzeptieren, dass eine ausreichend effektive Sexualerziehung Teil einer solchen Bildung sein muss – zumindest unter einer Auffassung von öffentlicher Vernunft, die Zugänglichkeitsmaßstäbe verwendet. In Gegensatz dazu könnten die Meinungsverschiedenheit über Evolutionstheorie und Intelligent Design hier zu einer echten Defeater-Gründe erzeugen. Während politischer Zwang im Falle einer effektiven Sexualerziehung durch das Recht von Kinder (als zukünftige Bürger:innen) auf ein selbstbestimmtes Leben gerechtfertigt werden, kann in Bezug auf die Evolutionstheorie kein überzeugender Grund einer solchen Art gegeben werden. Es ist schwer vorstellbar, wie Alvins oder Daniels Kinder in Bezug auf politisch-liberale Werte schlechter dran sein werden, wenn sie entweder über Evolutionstheorie oder Intelligent Design unterrichtet werden. Allerdings, wie Vallier aufzeigt, werden beide zur Zahlung von Steuern gezwungen, die ein öffentliches Schulcurriculum finanzieren, das sie als hochgradig mangelhaft einstufen. Es sieht daher so aus, als ob Alvins und Daniels Gründe, einen Lehrplan abzulehnen, der versucht, ihre beiden Ansichten über die Evolution zu berücksichtigen, und die potentielle Defeater-Gründe sind, nicht durch Überlegungen über das Wohl ihrer Kinder überstimmt werden. In der nächsten Sektion werde ich diskutieren, ob diese Defeater-Gründe ausreichen, um die Rechtfertigung öffentlicher Bildung in ihrer Gänze aufzuheben.
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6.5 Öffentliche und private Schulen Eines der Ziele öffentlichen Vernunftgebrauchs ist es, die öffentliche Deliberation über politische Maßnahmen zu strukturieren, die nicht direkt von den Prinzipien der Gerechtigkeit abgedeckt werden, und während die Anforderung einer effektiven Sexualerziehung aus diesen Prinzipien abgeleitet werden kann, ist eine Antwort auf die Frage, wie die Evolutionsbiologie und Intelligent Design unterrichtet werden sollten, nicht ableitbar. Alvin und Daniel werden als vernünftige Bürger zustimmen, dass die Umverteilung von Ressourcen zur Bereitstellung von Bildung für Kinder eine Forderung der Gerechtigkeit ist, aber sie können sich über die weitere Verteilung der Ressourcen für die Bildung in einem bestimmten, detaillierten Kontext uneinig sein. Aber selbst wenn dieser Streit vernünftig ist, führt er nicht unweigerlich dazu, dass staatlich e öffentliche Schulen abgeschafft werden müssen und ein rein privatisiertes Bildungssystem etabliert werden muss, wie Vallier behauptet. Dies wird deutlich, wenn wir Alvins und Daniels Positionen mit einer dritten Position vergleichen. Nehmen eine dritte Partei an, Pauline, der es gleichgültig ist, ob der Theologie- oder Philosophieunterricht auch Intelligent Design abhandelt oder nicht, oder ob der Biologieunterricht nur Evolutionstheorie lehrt (Tab. 6.2). Ihr ist jedoch wichtig, dass der Staat ein öffentliches Bildungssystem anbietet. Sie ist der Ansicht, dass nur öffentliche Schulen ihren Kindern die Vielfalt und Multikulturalität einer modernen, progressiven Gesellschaft ermöglichen werden. Während sie ein vollständig privatisiertes Bildungssystem akzeptieren würde, wäre sie mit Heimunterricht nicht einverstanden. Wie viele moderne Bürger:innen hat sie Verpflichtungen und Interessen, die über die Erziehung ihrer Kinder hinausgehen. Je nachdem, wie stark Alvins und Daniels Bedenken hinsichtlich öffentlicher Schulen sind, könnte die Tabelle der zulässigen Optionen eine der folgenden Formen annehmen: Entweder bevorzugen sie beide weiterhin ein öffentliches Bildungssystem gegenüber Heimunterricht, obwohl es in ihren Augen mangelhaft ist (Tab. 6.3), oder sie würden ihre Kinder lieber zu Hause unterrichten, als sie in öffentlichen Schulen zu schicken (Tab. 6.4). Tab. 6.2 Präferenzordnung bezüglich des Lehrplaninhalts mit einer zusätzlichen, neutralen Partei Intelligent Design als Thema zulassen Unterricht auf Evolutionstheorie beschränken
Alvin 2 0 (Defeater)
Daniel 0 (Defeater) 2
Pauline 1 1
Tab. 6.3 Präferenzordnung bezüglich der verfügbaren Bildungsmöglichkeiten (egalitärer Liberalismus) Öffentliches Bildungssystem Privatisiertes Bildungssystem Heimunterricht
Alvin 1 2 0 (Defeater)
Daniel 1 2 0 (Defeater)
Pauline 2 1 0 (Defeater)
6.5 Öffentliche und private Schulen
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Tab. 6.4 Präferenzordnung bezüglich der verfügbaren Bildungsmöglichkeiten (reiner Liberalismus der öffentlichen Vernunft) Öffentliches Bildungssystem Privatisiertes Bildungssystem Heimunterricht
Alvin 0 (Defeater) 2 1
Daniel 0 (Defeater) 2 1
Pauline 2 1 0 (Defeater)
Nur das zweite Szenario in Tab. 6.4 würde zu einem vollständig privatisierten Bildungssystem als einziger legitimer Option führen, während das erste Szenario entweder ein öffentliches oder ein privatisiertes System oder ein gemischtes System aus öffentlichen und privaten Schulen erlauben würde. Zunächst scheint es, dass nur private Schulen eine legitime Wahl sind; in beiden Szenarien sind private Schulen die einzige Option, gegen die keine Partei irgendwelche Defeater-Gründe hat. Nach einer reinen liberalen Theorie öffentlicher Vernunft, die nicht auf zusätzlichen Prinzipien der Gerechtigkeit beruht, wäre dies tatsächlich der Fall. Allerdings beruht der politische Liberalismus auf egalitären Hintergrundannahmen, daher können substantielle Gerechtigkeitserwägungen die Auswirkung von Defeater-Gründe verändern, wie oben dargestellt. Es gibt gute Gründe zu erwarten, dass professionell geführte Schulen im Vergleich zur Heimunterricht eine umfassendere Bildung von besserer Qualität anbieten können, zumindest in den meisten Fällen (siehe hierzu auch Abschn. 4.5). Daher kann der Anspruch von Kindern auf eine angemessene Bildung, der aus den Prinzipien der Gerechtigkeit als Fairness abgeleitet wird, Tab. 6.4 in einem anderen Licht erscheinen lassen.16 Die Präferenzen von Alvin und Daniel könnten aus einer politisch-liberalen Perspektive unvernünftig sein, weil ihre jeweilige zweite Präferenz (Heimunterricht) mit einigen Erfordernissen der Gerechtigkeit unvereinbar wären. Aus einer Perspektive des politischen Liberalismus im engeren Sinne, im Gegensatz zu einer Perspektive der öffentlichen Vernunft, die auf einer erständlichkeitsinterpretation beruht, könnte Tab. 6.4 aufgrund der unvernünftigen Standpunkte von Alvin und Daniel ausgeschlossen werden. Wir landen dann bei Tab. 6.3, in der „moderate“ Versionen von Alvin und Daniel immer noch die Präferenz für private Schulen und ihre zweite Präferenz für öffentliche Schulen hätten, während Pauline immer noch öffentliche Schulen bevorzugen würde. Beide Szenarien wären aus der Perspektive politisch-liberaler Bildung zulässig. Keine der im vorherigen Kapitel identifizierten Anforderungen schließt die Möglichkeit eines vollständig privatisierten Schulsystems aus, solange Kinder die relevanten politischen Tugenden, eine Kapazität für schwache Autonomie und später für politische Autonomie entwickeln und die Voraussetzungen für die Nutzung von Grundütern haben werden. Während ein solches System
16 Wie
ich in Abschn. 1.1 festgestellt habe, sind Varianten des politischen Liberalismus in Kombination mit anderen Konzeptionen der Gerechtigkeit möglich. Während sie sich in Details unterscheiden können, ist es wahrscheinlich, dass aus jeder dieser Konzeptionen ausreichend ähnliche Bildungsanforderungen abgeleitet werden können.
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Bürger:innen mit Gründen gegen eine öffentliche Schulbildung wie die Versionen von Alvin und Daniel in Tab. 6.4 zufriedenstellen würde, würde es Bürger:innen wie Pauline sicher enttäuschen. Ein Bildungssystem, das Bürger:innen wie Alvin und Daniel sowie Pauline unterbringt, könnte neben den öffentlichen Anbietern auch private Anbieter zulassen. Eine Verteilung von Bildungsressourcen könnte auf verschiedene Weisen erreicht werden, z. B. durch ein Gutscheinsystem. Unabhängig von den Details des Systems müssen die Kosten für private und öffentliche Schulbildung von Kindern jedoch durch die Umverteilung von Ressourcen durch den Staat finanziert werden,17 und die Anforderungen politisch-liberaler Bildung zu erfüllen. Bisher sieht es so aus, als ob die Prinzipien der Gerechtigkeit und die Maßstäbe der öffentlichen Vernunft ein Bildungssystem zulassen, das entweder vollständig privatisiert ist oder aus zwei Gleisen, einem privaten und einem öffentlichen, besteht. Diese Auswahl aus möglichen Bildungssysteme ist mit den wenigen Kommentaren über Bildung durch Rawls selbst vereinbar. Weder ein privates noch ein öffentliches Schulsystem wird durch die Konzeption von Gerechtigkeit als Fairness ausgeschlossen. Eine systematische Bildung von Kindern wird in einer gerechten Gesellschaft durch Gewährleistung „gleicher Chancen auf Bildung und Kultur für Personen mit ähnlichen Gaben und Motivationen durch Subventionierung von privaten Schulen oder Einrichtung eines öffentlichen Schulsystems“ sichergestellt (Rawls 2005a, S. 275). Auch wenn Rawls dieses Thema nicht weiter diskutiert, erscheint es richtig, dass keine dieser Optionen ausgeschlossen werden darf, eine ordnungsgemäße Umsetzung vorausgesetzt. In Bezug auf den Status von Bildungsanbietern, ob privat oder öffentlich, agnostisch zu bleiben, ist vernünftig. Der Transfer von Fähigkeiten, Wissen und Einstellungen, die für das Leben in einer gerechten Gesellschaft erforderlich sind, ist weitestgehend unabhängig vom Status des Anbieters, solange die Maßstäbe, die erreicht werden sollen, von einem gerechten Staat gesetzt werden. Aus praktischer Perspektive könnte eine Reihe von öffentlichen und privaten Schulen, aus denen Kinder wählen können, ihnen im Vergleich zu einem rein staatlich betriebenen System eine bessere Chance auf eine angemessene Bildung bieten, vorausgesetzt, die grundlegenden Erfordernisse einer politisch-liberalen Bildung werden erfüllt.18 Zur Erinnerung: Dazu gehören die ausreichende Entwicklung politischer Tugenden bei Kindern, die es ihnen ermöglichen, Reziprozität wertzuschätzen, tolerant zu sein, Achtung gegenüber ihren Mitbürger:innen zu haben usw. Schulen müssen auch die Art von schwacher Autonomie ermöglichen, die für die Entwicklung politischer Autonomie erforderlich ist. Darüber hinaus müssen Kinder etwas über die politischen Rechte (und Pflichten) in ihrer Gesellschaft lernen, und
17 Für
ein Argument gegen ein vollständig von Eltern selbst bezahltes privates Schulsystem (außer von den sehr Armen) auf der Grundlage gegenseitiger Achtung und Chancengleichheit siehe z. B. Brighouse (1998). 18 Für ähnliche Ansichten, wenn auch nicht speziell im Bezug auf den politischen Liberalismus, siehe z. B. Gutmann (2002, S. 41–43).
6.5 Öffentliche und private Schulen
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sich auch die erforderlichen Fähigkeiten und Kompetenzen zur ordnungsgemäßen Nutzung dieser Rechte aneignen können. Alle diese Anforderungen können (theoretisch) von privaten Schulanbietern erfüllt werden, selbst wenn sie von einer bestimmten umfassenden Lehre unterstützt werden. Wir müssen berücksichtigen, dass ein wichtiger Teil fast aller ethischen und religiösen Ansichten darin besteht, Kindern beizubringen, was aus ihrer jeweiligen Perspektive wahr und wichtig erscheint. Ein Teil fast jeder Vorstellung des Guten ist seine eigene Reproduktion durch das Überzeuen anderer, dass es die richtige und wahre Lehre ist. Dies ist bei religiösen Lehren offensichtlicher, scheint aber auch für philosophische Lehren zu gelten – Millsche Philosoph:innen, die denken, dass Individualismus für ein gutes Leben wichtig ist, möchten oft auch andere davon überzeugen, insbesondere wenn sie auch denken, dass diese Lebenseinstellung zum allgemeinen Wohlergehen beiträgt. Einschränkungen für religiöse Schulen aufgrund von umfassenden Lehren würden sich auch auf Schulen erstrecken, die andere, eher philosophische oder explizit säkulare Ansichten verbreiten. Solange Schulen Bildungsmaßstäben gemäß den politisch-liberalen Anforder ungen genügen, scheint es prinzipiell keinen Grund zu geben, private oder religiöse Anbieter von der Bildungssektor eines politisch-liberalen Staates auszuschließen. Mit diesen Bedingungen als ‚Leitplanken‘ gibt es keinen guten politisch-liberalen Grund, Bildung nicht in einer Vielzahl von umfassenden Kontexten anzubieten.19 Eine ähnliche Erlaubnis kann für die Schulwahl der Eltern gemacht werden. Immer vorausgesetzt, die von ihnen gewählte Bildung erfüllt politisch-liberale Anforderungen hinsichtlich Tugenden, Autonomie und so weiter, gibt es keinen Grund, warum sie ihre Kinder in eine Schule schicken sollten, die offen säkular oder offen religiös ist. Wenn wir denken, dass die Beziehung zwischen Eltern und Kindern tatsächlich eine besonders wertvolle ist (Brighouse und Swift 2006, 2014), oder dass sie als Mittel zur Selbstachtung verstanden werden kann und sich damit als ein Aspekt dieses besondere Grundguts der Gerechtigkeit qualifiziert (wie im vorherigen Kapitel vorgeschlagen), wäre es sogar ungerecht, den Eltern diese Option zu verweigern. Diese ausgedehnte Untersuchung von religiösen Gründe als öffentlichen Gründe sollte die Grenzen veranschaulichen, die politisch-liberale Bildung religiösen Ansprüchen auferlegen muss. Die politisch-liberale Bildung kann private religiöse Schulen erlauben, obwohl sie nicht auf den öffentlichen Zweig der Bildung verzichten muss, wie Vallier behauptet. Die grundsätzliche Zulässigkeit von Privatschulen muss jedoch gegen Einwände verteidigt werden, die auf konkretere Auswirkungen beruhen, die sie auf die Gesellschaft haben
19 Ein
ähnlicher Anspruch findet sich bei Malenfant-Veilleux (2017), die die letzte Bildungsreform in Quebec unter andem auch unter dem Aspekt Rawls’scher Gerechtigkeit analysiert. Ich stimme Malenfant-Veilleux zu, dass ein gemischtes System von öffentlichen und privaten Schulen durch integrative Maßnahmen (siehe auch Abschn. 6.3) und eine ausreichende Kontrolle über unterrichtete Fächer, den Schulplan, Bewertungsstandards usw. begleitet werden muss, um Gerechtigkeitsanforderungen zu erfüllen.
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6 Religion
könnten. Obwohl nicht illegitim, könnten religiöse Privatschulen zu einer Art konfessioneller Segregation der Gesellschaft beitragen und sich so als schädlich für liberale Stabilität erweisen. Auf der anderen Seite könnten private Schulen unter offiziellen politisch-liberalen Richtlinien immer noch die beste Möglichkeit sein, religiöse Eltern zu berücksichtigen, die ansonsten die Dienste von nichtoffiziellen, möglicherweise fundamentalistischeren, Institutionen in Anspruch nehmen würden, um die von ihnen gewünschte religiöse Bildung für ihre Kinder zu erhalten. Ich werde diese Probleme im nächsten Abschnitt besprechen.
6.6 Probleme der privaten Bildung Trotz der prima facie Zulässigkeit von Privatschulen müssen noch zwei weitere Probleme besprochen werden. Das erste ist die Sorge, dass ein Bildungssystem, während es alle Arten von vernünftigen Lehren unterbringt, nicht ausreichend Interaktion zwischen Kindern aus unterschiedlichen umfassenden Hintergründen fördern könnte. Diese „liberale Stille“ kann zu Segregation und auf lange Sicht zu einer weniger stabilen Gesellschaft führen. Das Problem der liberalen Stille wird von Kenneth Strike diskutiert, der sich auf die Art und Weise konzentriert, wie Religion in einem öffentlichen Schulungsprogramm unterrichtet werden kann (2007). Der Versuch, sich zu religiösen Ansichten neutral zu verhalten, kann dazu führen, dass religiöse Inhalte aus der Schulbildung ausgeklammert werden und diese sich ausschließlich auf die politischen (und moralischen) Werte des politischen Liberalismus konzentriert, was möglicherweise selbst schon zu internen Problemen führen kann. Diese Praxis kann aber auch zu einer entscheidenden mangelnden Kommunikation zwischen religiösen und säkularen Bürger:innen führen, da erwartet wird, dass religiöse Gründe außerhalb des öffentlichen Kommunikationsraums bleiben sollen, was zur Folge haben kann, dass religiöse Werte in öffentlichen Schulen nicht ausführlich diskutiert werden. Unter solchen Bedingungen ist es wahrscheinlich, dass Kinder mit einem religiösen Hintergrund sich von denen mit säkularem Hintergrund in Bezug auf Werte und den Umfang moralischer Überzeugungen getrennt fühlen. Die Kommunikation zwischen säkularen und religiösen Kindern und letztendlich zwischen Bürger:innen wird daher die für das Funktionieren des politischen Liberalismus erforderlichen Qualitäten vermissen lassen, wie Strike ausführt: Wenn die Schlussfolgerungen sichtbar sind und die Gründe dafür nicht, sind die Menschen weniger gut in der Lage, eine Frage aus der Perspektive ihres Gegenübers zu betrachten. Die Menschen auf der einen Seite werden ihr Gegenüber als gottlos sehen. Die Menschen auf der anderen Seite werden ihr Gegenüber als ignorant und unvernünftig betrachten. Die gegenseitige Achtung, die von guten Bürger:innen erwartet wird, wird nicht gefördert (2007, S. 696).
Es ist möglich, dass dieses Problem durch die Zulassung privater Schulen, die sich auf bestimmte umfassende Ansichten konzentrieren, sogar noch verstärkt wird. Religiöse Kinder würden sich nicht nur von säkularen Kindern, sondern auch von
6.6 Probleme der privaten Bildung
173
religiösen Kindern anderer Glaubensrichtungen segregieren. Wenn dies der Fall wäre, könnten diese religiösen Gruppen die gleichen nachteiligen Auswirkungen erleiden wie z. B. segregierte Einwanderer, wie später in Kap. 8 beschrieben wird. Die von Strike für öffentliche Schulen empfohlene Behandlung wäre ein „religiöser Dialog auf eine Weise, die keine Religion unterstützt“ (2007, S. 701), während sie die zentralen Normen des liberalen Demokratiemodells weiterhin fördert. Beispiele dafür, wie die Integration von Kreationismus, Rechten für Homosexuelle und Bibelstudien in die allgemeine Schulbildung erfolgen kann, veranschaulichen dies (2007, S. 701–708). Dieser Ansatz erscheint für öffentliche Schulen, ohne ein umfassendes Programm, das sie unterstützt, plausibel. Dagegen scheint er in einem Umfeld, in dem es auch private Schulen gibt, problematischer zu sein, da diese fast ausschließlich Kinder unterrichten werden, deren Eltern einer bestimmten religiösen Gruppe angehören. Selbst wenn der Staat private religiöse Schulen verpflichtet, Schüler:innen aus anderen religiösen oder weltlichen Kreisen aufzunehmen, erscheint es unwahrscheinlich, dass mehr als eine Handvoll Kinder mit unterschiedlichen religiösen Überzeugungen eine Schule einer bestimmten Konfession besuchen würden. Die Möglichkeit, die religiöse Vielfalt auf die von Strike vorgeschlagene Weise zu erleben, würde an diesen Schulen nicht gegeben sein. Wenn die Existenz von privaten Schulen, selbst in einem gemischten Bildungssystem mit öffentlichen und privaten Schulen, zu liberalen Schweigeeffekten beiträgt, kann dies ein erheblicher Nachteil sein, wenn es darum geht, die für zukünftige Bürger:innen erforderlichen politischen Tugenden oder Normen zu vermitteln. Auch wenn es nicht der einzige Weg ist, Toleranz und gegenseitige Achtung zu erlernen, ist der Kontakt mit Kindern aus unterschiedlichen sozialen Hintergründen in einer offenen, unterstützenden Umgebung sicherlich wertvoll. Öffentliche Schulen ohne ein Programm, das von einer umfassenden Lehre geprägt ist, scheinen besser geeignet zu sein, eine solche Umgebung zu schaffen als religiöse Privatschulen. Selbst wenn religiöse Privatschulen durch die erforderlichen rechtlichen Regelungen gezwungen wären, auch Kinder aus anderen religiösen Kreisen aufzunehmen, können wir stark davon ausgehen, dass eine Mehrheit der Eltern diese Möglichkeit nicht wahrnehmen würde. Trotz dieses scheinbar großen Nachteils eines teilweise privatisierten Bildungssystems wäre es voreilig zu behaupten, dass private Schulen deshalb als unzulässig gelten müssen. Je nach den in einer bestimmten Gesellschaft vorhandenen sozialen Bedingungen könnte die Durchsetzung eines ausschließlich öffentlichen Bildungssystems überraschenderweise zu einem Rückgang der sozialen Stabilität führen. Ein wichtiger Grund, die Freiheit der Schulwahl nicht einzuschränken, wäre die wahrgenommene Legitimität des politischen liberalen Staates, wie John Tomasi argumentiert. Wenn politische Liberale wirklich an der Legitimierung des Staates gegenüber vernünftigen Bürger:innen interessiert sind, sollten sie sensibel dafür sein, wie liberale Maßnahmen diejenigen einschränken könnten, die am Rande der gesellschaftlichen Gruppe vernünftiger Bürger:innen stehen, aber immer noch als ausreichend vernünftig betrachtet werden können. Maßnahmen zur weiteren Förderung liberaler Ziele zu ergreifen, ohne deren Auswirkungen auf das zu
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beachten, was die „marginal Vernünftigen“ als wertvoll erachten, wird sie von der liberalen Gesellschaft entfremden und die wahrgenommene Legitimität des politischen liberalen Staates verringern. Unausgeglichene, grobeschlächtige politische Maßnahmen, die denen des umfassenden Liberalismus zu sehr ähneln, könnten vernünftige Bürger:innen tatsächlich in unvernünftige verwandeln (Tomasi 2002). Es muss betont werden, dass Tomasi mit der wahrgenommenen Legitimität befasst ist. Es könnte sein, dass der politisch-liberale Staat für seine moderat idealisierten Bürger:innen völlig legitim und rechtfertigbar ist, obwohl eine Mehrheit der tatsächlichen Bürger:innen, während sie im Sinne Rawls’ vernünftig sind, dies aufgrund verschiedener Verzerrungen, die auf ihr Denken einwirken, nicht sehen. Dennoch, solange ein politisch-liberales Rahmenwerk für Bildung nicht nur eine akademische Übung, sondern auch einen praktischen Wert haben soll, sollte man Erwägungen wie die von Tomasi ernst nehmen. Darum könnte es ein kluger sowie ein toleranter Schritt sein, denjenigen an den Rändern der Vernunft entgegenzukommen, damit sie den liberalen Staat und seine Politik akzeptieren. In ähnlicher Weise schlägt Harry Brighouse vor, dass Bürger:innen, für die dies wichtig erscheint, Zugang zu religösen Schulen zu verweigern, Spannungen zwischen diesen Bürger:innen und dem Staat erhöhen und so einen ein negativen Effekt auf die gesellschaftliche Stabilität haben könnte. Im Gegensatz zu Tomasi ist Brighouse außerdem besorgt über die Auswirkungen von konfessionellen Segregation sowie liberaler Stille und schlägt daher vor, diese Auswirkungen durch eine aktive Beteiligung des Staates an der Finanzierung von religiösen Schulen zu bekämpfen (Brighouse 2005, 2006, Kap. 5). Während Brighouses Vorschlag sich auf Autonomie als zentralen Bildungswert konzentriert und er argumentiert, dass dies die Chance erhöhen würde, „autonomiefördernde Schulen“ zu etablieren (2005, S. 87), könnte ähnliches aufgrund der Erfordernisse der politisch-liberalen Bildung erwartet werden. Darüber hinaus schlägt er eine Verpflichtung für religiöse Schulen vor, Kinder aus anderen religiösen oder aus säkularen Hintergründen aufzunehmen, was dem Risiko der liberalen Stille in einem segregierten Bildungssystem entgegenwirken würde. Die erwarteten Auswirkungen von Brighouses Vorschlägen würden meiner Ansicht nach variieren. Eine direkte Beteiligung des Staates an der Finanzierung religiöser Schulen würde wahrscheinlich auch deren Einhaltung von verpflichtenden Lehrplänen und anderen Regulierungen kontrollierent und könnte eine effektive Möglichkeit sein, sicherzustellen, dass die grundlegenden Anforderungen einer politisch-liberalen Bildung erfüllt werden. Die Verpflichtung für religiöse Schulen, Kinder aus unterschiedlichen Hintergründen aufzunehmen, wäre im Gegensatz dazu mehr eine symbolische Geste. Es scheint unwahrscheinlich, dass viele religiöse Eltern ihre Kinder in Schulen schicken würden, die von anderen Konfessionen betrieben werden, und auch nicht viel wahrscheinlicher, dass säkulare Eltern ihre Kinder in religiöse Schulen schicken würden. Trotzdem bleibt die Antwort auf die Frage, ob private Schulen aufgrund konfessioneller Segregation und liberaler Stille vermieden werden sollten oder ob sie toleriert werden sollten, um marginal vernünftigen religiösen Bürger:innen entgegenzukommen, kontextabhängig. In einer Gesellschaft, die stabil genug ist
6.7 Bildung und das Unvernünftige
175
und nur eine kleine Minderheit von marginal vernünftigen religiösen Bürger:innen hat, könnten die Vorteile, die durch das Vermeiden der liberalen Stille entstehen, indem keine religiösen Privatschulen gegründet werden, größer sein. Wir können uns aber auch eine Gesellschaft vorstellen, in der eine große Gruppe von marginal vernünftigen religiösen Bürger:innen einem politisch-liberalen Wertkonsens den Rücken zukehren könnte, wenn sie das Gefühl haben, dass ihre religiösen Werte systematisch ignoriert werden. In diesem Fall könnte die betreffende Gesellschaft mehr von einer Vielzahl von privaten Schulen profitieren, die neben einem religiösen Lehrplan eine vernünftige staatsbürgerliche Bildung anbieten.20 Obwohl private Schulen prima facie aus einer politisch-liberalen Perspektive zulässig sind, werden konkrete politische Entscheidungen über ihre Rolle in einem Bildungssystem auch auf konkreten Fakten über die tatsächliche sozio-politische Umgebung basieren müssen. Während Eltern, die eine private Bildung bevorzugen, möglicherweise tief in ihren umfassenden Lehren verwurzelt sind und einige von ihnen gegebenenfalls aus einer politisch-liberalen Sichtweise als nur marginal vernünftig charakterisiert werden können, sind sie immer noch vernünftige Bürger:innen. Was noch besprochen werden muss ist die Beziehung zwischen dem politisch-liberalen Staat und unvernünftigen Bürger:innen im Zusammenhang mit Bildung.
6.7 Bildung und das Unvernünftige Solange der Staat eine Art Qualitätskontrolle bereitstellt, um zu prüfen, ob die Anforderungen politisch-liberaler Bildung von privaten Schulen erfüllt werden (falls diese in einem konkreten Fall zugelassen werden), gibt es keine Gründe gegen die Entscheidung der Eltern, ihre Kinder in privaten Schulen zu schicken, die durch vernünftige umfassende Lehren unterstützt werden. Das Gleiche kann nicht gesagt werden, wenn unvernünftige Lehren oder Entscheidungen beteiligt sind, entweder auf der Seite der Schulen oder auf der Seite der Eltern. Wenn es um eine allgemeine Strategie für die Behandlung von unvernünftigen umfassenden Lehren geht, spricht Rawls über „Eindämmung“ (2005b, S. 64, Anm. 19). Leider gibt er keine weiteren Hinweise darauf, was Eindämmung als politische Maßnahme in seiner Sicht bedeutet, was eine Vielzahl von Interpretationen ermöglicht. Marilyn Friedman zum Beispiel sieht in der Rede über Eindämmung die potentielle Billigung einer Entmündigung oder eines ‚Silencing‘
20 Auch
die Frage kultureller Traditionen könnte eine wichtige Rolle spielen. In Gesellschaften, in denen religiöse Schulen zum Beispiel eine mehrere Jahrhunderte zurückreichende Tradition haben und oft einen guten Ruf genießen, scheint es wahrscheinlich, dass ihre plötzliche Abschaffung nicht nur die religiöse Bevölkerung, sondern auch die nicht-religiösen Bürger:innen empören würde, die solche traditionellen Institutionen aus einem mehr symbolischen Grund wichtig finden könnten.
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von Gruppen in der Gesellschaft, die gemäß eines Standards als unvernünftig eingestuft werden, der ihnen gegenüber nicht gerechtfertigt ist (2000). Diese Gruppen würden nicht nur extremistische Minderheiten umfassen, sondern auch Gruppen, die einfach nur zufällig über deutlich unterschiedliche, aber meist moderate Ansichten über die politische Moral verfügen, wie zum Beispiel Utilitaristen. Im Vergleich dazu bietet Jonathan Quong eine großzügigere Interpretation der Eindämmung durch den politischen Liberalismus an, wonach unvernünftige Bürger:innen nicht mit einem pauschalen Entzug politischer Rechte oder Freiheiten rechnen müssen. Selbst unvernünftige Personen haben ein Recht auf die Vorteile der Staatsbürgerschaft. Stattdessen werden bestimmte Rechte und Freiheiten nur im Zusammenhang mit einer Handlung ausgesetzt, die als unvernünftig und bedrohlich für den politische-liberalen Staat gilt. Dies wäre eine Unterstützung für jede Politik, deren primäre Absicht es ist, die Verbreitung von Ideen zu untergraben oder einzuschränken, welche grundlegende politische Werte ablehnen, nämlich (a) dass die politische Gesellschaft ein faires System der sozialen Kooperation zum gegenseitigen Nutzen sein sollte, (b) dass Bürger:innen frei und gleich sind, und (c) die Tatsache des vernünftigen Pluralismus (2011, S. 299).
Insgesamt scheint es sinnvoller zu sein, über (im politisch-liberalen Sinn) unvernünftige Entscheidungen in Bezug auf die Bildung von Kindern zu sprechen als über unvernünftige Eltern. Matthew Clayton und David Stevens nennen als Beispiel eine Einschränkung der Freiheit der Eltern, ihre Religion frei auszuüben, falls die von ihnen als angemessen angesehene Bildung ihrer Kinder nicht den Anforderungen des politischen Liberalismus entspricht (2014, S. 73). Um den Unterschied zwischen diesen beiden Standards weiter zu veranschaulichen, können wir uns Eltern vorstellen, deren religiösen Überzeugungen beinhalten, dass die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern auch im politischen Leben widergespiegelt werden soll, etwa durch eine Einschränkung oder komplette Abschaffung des Frauenwahlrechts. In einem politisch-liberalen Staat würden diese Eltern natürlich alle Rechte und Freiheiten von Bürger:innen haben, einschließlich der Freiheit, aus einer Reihe von vernünftigen Optionen für die Bildung ihrer Kinder zu wählen. Er könnte jedoch zu Recht die Anfrage nach einer Schule ablehnen, die ihre Kindern gemäß ihrer unvernünftigen Überzeugungen über Ungleichheit unterrichtet. Es wird sicherlich Eltern mit starken umfassenden Ansichten dieser Art geben, die dennoch vernünftig genug sind, um an der politisch-liberalen Gesellschaft teilzunehmen und die gegebenen Anforderungen zu akzeptieren. Vielleicht kompartmentalisieren sie einige ihrer Überzeugungen und sind mit einigen Bedingungen in ihrer Gesellschaft, zum Beispiel der öffentlichen Schulbildung, unzufrieden. Diese Eltern würden wahrscheinlich ein Bildungssystem bevorzugen, das aus privaten Schulen besteht, in denen Kinder gemäß den religiösen Überzeugungen ihrer Gemeinschaft unterrichtet werden (und weil sie vernünftig sind, würden sie auch zugestehen, dass andere religiöse Gemeinschaften ihre eigenen Schulen haben können).
6.7 Bildung und das Unvernünftige
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Ich denke nicht, dass dies unbedingt Fälle sind, mit denen sich der politische Liberalismus befassen muss. Vorausgesetzt, die Bildung von Kindern mit unvernünftigen Hintergründen respektiert die umfassenden Ansichten ihrer Eltern angemessen und diskriminiert sie nicht, erscheint es vernünftig und legitim, ihnen den Zugang zu privaten Schulen zu verweigern, welche unvernünftige und illiberale Interpretationen bestimmter Weltanschauungen lehren. Obwohl der Konsens über die Prinzipien der Gerechtigkeit in einer politisch-liberalen Gesellschaft und damit über die Struktur ihrer grundlegenden Institutionen mehr als ein Kompromiss ist, wie Rawls betont, können wir uns leicht vorstellen, dass vernünftige Bürger:innen ein gegebenes Bildungssystem als legitim ansehen, während sie gleichzeitig denken, dass ein System, das ihre umfassenden Ansichten besser berücksichtigen würde, besser wäre. Die Verpflichtung zur gegenseitigen Kooperation in einer gerechten Gesellschaft muss nicht immer Spaß machen und wird für manche Bürger:innen sicherlich auch Enttäuschungen bereithalten.21 Welche Maßnahmen müsste ein politisch-liberales Bildungssystem ergreifen, um unvernünftige Praktiken zu bekämpfen, wenn es zum Beispiel neben säkularen öffentlichen Schulen auch religiöse Schulen erlaubt? Es würde zumindest eine robuste staatliche Kontrolle erfordern, die für jede Schule gilt, unabhängig davon, ob sie vollständig oder teilweise staatlich gefördert wird oder ob sie vollständig privat finanziert wird. Regelmäßige Bewertungen der akademischen Leistungen solcher Schulen sowie der Tatsache, wie gut sie liberale und demokratische Werte vermitteln, wären notwendig, um Bildungsstrategien ausschließen zu können, die als unvernünftig gelten würden. Ähnliche Bewertungen wären bei Heimunterricht erforderlich. Dies könnte zu einem ziemlich hohen Maß an staatlicher Kontrolle führen, insbesondere für eine Gesellschaft, die liberal sein und die Freiheit ihrer Bürger:innen respektieren möchte. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass der politisch-liberale Staat einen Weg finden muss, sein Engagement für eine Pluralität umfassender Lehren, individuelle Freiheit und politische Stabilität auszubalancieren. Wenn wir uns die Erfolge und Misserfolge zeitgenössischer religiöser Schulen ansehen, lässt sich erkennen, dass religiöse Traditionen mit liberal-demokratischen Werten vereinbar sein und Schüler:innen, die in säkularen öffentlichen Schulsystemen Schwierigkeiten haben, eine sichere Lernumgebung bieten können (siehe z. B. Merry und Driessen 2009; verschiedene Beiträge in McLaughlin et al. 2005). Religiöse Schulen können sich jedoch auch auf eine Erziehung zu unverhältnismäßigen Gehorsamkeit gegenüber religiösen Werten konzentrieren, was die Entwicklung politischer Werte oder politische Autonomie behindern oder sogar aktiv die liberal-demokratische Bildung untergraben würde und eindeutig als unvernünftig gelten kann. Um effektiv vernünftige von unvernünftigen religiösen Schulen zu unterscheiden, wäre eine ausreichend fein abgestufte staatliche Kontrolle erforderlich.
21 Für
ein Beispiel dafür, wie eine komprehensive Ansicht vernünftige soziale Arrangements akzeptieren kann, obwohl sie für ihre Anhänger suboptimal erscheinen, siehe Lomasky (1998). Lomaskys Argument zielt auf Libertäre ab, funktioniert aber für religiöse Ansichten genauso.
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6 Religion
Eine solche Überwachung und, falls erforderlich, Eingriffe in private Schulen können mit Bezug auf grundlegende liberale und demokratische Prinzipien und die Werte, die eine wohlgeordnete Gesellschaft aufrechterhalten muss (und die in Teil I besprochen wurden) gerechtfertigt werden. Für Rawls ist klar, dass, wenn zum Beispiel bestehende Familienstrukturen „die Fähigkeit von Kindern untergraben, die für zukünftige Bürger:innen in einem tragfähigen demokratischen Regime erforderlichen politischen Tugenden zu erwerben“ (2001, S. 166), die Prinzipien der Gerechtigkeit eine Reform der sozialen Institution der Familie rechtfertigen, obwohl er insgesamt ein sehr zurückhaltender Befürworter staatlicher Eingriffe in Familienstrukturen ist. Wenn diese Art von Eingriff jedoch auf der Ebene der Familie gerechtfertigt werden kann, dann ist eine Kontrolle von Schulen und Eingriffe in deren Programme aus ähnlichen Gründen gerechtfertigt. Wenn wir uns die wesentlichen Aspekte der politisch-liberalen Bildung ansehen, die in den vorherigen Kapiteln besprochen wurden, wie die Entwicklung bestimmer politischer Tugenden, politischer Autonomie und eines Verständnisses eigener liberaler und demokratischer Rechte, so erscheint es gerechtfertigt, dass der Staat ein Kontroll- und Eingriffsrecht gegenüber Schulen hat, um sicherzustellen, dass Schulbildung Kinder dazu befähigt, diese Attribute zu entwickeln. Es ist daher aus einer politisch-liberalen Perspektive gerechtfertigt, unvernünftigen Bildungsstrategien, die dieses Ziel untergraben, durch Regulierungen oder Schließungen von Privatschulen entgegenzuwirken, falls erforderlich.
6.8 Fazit In diesem Kapitel wurde der Status religiöser Gründe in einer politisch-liberalen Gesellschaft analysiert und eine Bewertung wichtiger Grenzen durchgeführt, die abstecken, was für eine Art Bildung religiöse Eltern für ihre Kinder beanspruchen können. Es wurde gezeigt, welche Art von Belastungen religiöse Bürger:innen in einem politisch-liberalen Bildungssystem tragen müssen, und auch inwieweit der politisch-liberale Staat ihre Präferenzen bezüglich der Erziehung ihrer Kinder berücksichtigen kann (und sollte). Politische Liberale, die Sichtweisen öffentlicher Rechtfertigung unterstützen, die denen von Audi und Macedo ähneln, würden wahrscheinlich mit meiner Analyse unzufrieden sein, und das gleiche gilt wahrscheinlich auch für Befürworter einer starken Religionsfreiheit nach den Richtlinien von Eberle und Vallier. Wenn ja, hoffe ich, dass dies darauf hindeutet, dass meine Skizze der Grenzen der Religionsfreiheit bei Bildungsentscheidungen einen plausiblen Mittelweg gefunden hat. Das nächste Kapitel wechselt den Fokus von religiösen Gründen hin zur Sexualerziehung und Geschlechterbildung. Dennoch spielen die religiösen Ansichten von Bürger:innen auch hier eine wichtige Rolle, da viele Argumente gegen eine offene und umfassende Sexualerziehung auf religiösen Überzeugungen begründet zu sein scheinen.
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Kapitel 7
Gleichgeschlechtliche Beziehungen in der Bildung
Zusammenfassung Dieses Kapitel beschäftigt sich mit dem Thema gleichgeschlechtlicher Beziehungen in der politisch-liberalen Bildung. Nachdem es sich mit Fragen der Religionsfreiheit im Rahmen des politischen Liberalismus befasst hat, erscheint es, dass religiöse Einwände gegen bestimmte Inhalte von Lehrplänen immer noch möglich sind, selbst wenn vernünftige religiöse Ansichten Bildungseinrichtungen unterstützen würden, die von dem Staat reguliert werden. Insbesondere gleichgeschlechtliche Beziehungen scheinen für einige religiöse Ansichten Grund zur Besorgnis zu sein und wurden von verschiedenen Befürwortern des Naturrechts angegriffen, mit John Finnis als einem der prominentesten unter ihnen. Nach einer Bewertung mehrerer Argumente gegen etwas, das oft als Förderung gleichgeschlechtlicher Beziehungen in der Sexualerziehung bezeichnet wird, argumentiert dieses Kapitel, dass politisch-liberale Bildung dieses Thema in Sexualerziehungs-Lehrplänen aufgrund von Gleichheitserwägungen und für die Selbstachtung von Bürger:innen behandeln sollte, wobei es auf die Werke von feministischen Autorinnen wie Elizabeth Brake und Clare Chambers zurückgreift, um dieses Argument zu unterstützen. Der politische Liberalismus erlaubt grundsätzlich eine Vielzahl von Schulformen. Dies gibt den Anhängern religiöser Lehren die Möglichkeit, eine Schule auszuwählen, deren Lehrplan auch religiöse Inhalte umfasst, wenn sie dies wünschen, während kompromisslose Atheisten eine Schule wählen könnten, die frei von den von ihnen so verabscheuten religiösen Ansichten ist. Trotz der zulässigen Einbeziehung religiöser Inhalte in die politisch-liberale Bildung bleibt es jedoch notwendig, Grenzen für die Forderungen zu setzen, die eine religiöse Lehre im Hinblick auf die Details der Bildungspolitik stellen kann. Wie bereits in der kurzen Diskussion über Sexualerziehung im vorherigen Kapitel deutlich wurde, gibt es Gründe, welche die Präferenzen von Eltern überwiegen können. Solche Gründe basieren auf dem notwendigen zentralen Inhalten einer politisch-liberalen Bildung: ein Spektrum politischer Tugenden, eine
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Nature Switzerland AG 2022 F. Podschwadek, Die Erziehung der Vernünftigen, https://doi.org/10.1007/978-3-031-21266-6_7
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Kapazität für schwache Autonomie und das Wissen und die Fähigkeit, Grundgüter für Bürger:innen zu nutzen. Aufgrund dieser Anforderungen, so habe ich argumentiert, muss politisch-liberale Bildung eine ausreichend effiziente Sexualaufklärung als Teil ihres Lehrplans bezüglich Themen wie sexuell übertragbare Erkrankungen und Schwangerschaft bereitstellen. Es kann jedoch argumentiert werden, dass Unterricht zur Sexualerziehung mehr umfassen und auch Themen wie gleichgeschlechtliche Beziehungen und Ehe umfassen sollte. Dieses Kapitel wird sich auf die Frage konzentrieren, ob und aus welchen Gründen gleichgeschlechtliche Beziehungen und gleichgeschlechtliche Eheschließung im Rahmen der politisch-liberalen Bildung behandelt werden sollten. Obwohl ich im vorherigen Kapitel festgestellt habe, dass vernünftige Bürger:innen keine Defeater-Gründe gegen eine ausreichend effiziente Sexualerziehung durch Schulen haben, könnten religiöse oder konservative Eltern immer noch gegen die Einbeziehung des Themas gleichgeschlechtlicher Beziehungen argumentieren. Es lohnt sich zu untersuchen, ob es plausible Argumente für eine Beschränkung des Inhalts von Sexualerziehung auf dieser granulareren Ebene geben könnte. Die interessantesten Argumente in diesem Zusammenhang sind sogenannte Naturrechtsargumente. Während sie genau im Einklang mit konservativen christlichen Vorstellungen von Homosexualität und gleichgeschlechtlichen Beziehungen stehen, behaupten ihre Befürworter, dass diese Argumente ihre Kraft allein aus der Rationalität ableiten, ohne dass weitere religiöse Hintergrundargumente erforderlich sind. Wenn das der Fall wäre, müsste n politisch Liberale vielleicht nachgeben. Wie wir jedoch sehen werden, sind Naturrechtsargumente weit davon entfernt, allein auf rationalen Gründen beruhen und daher als Richtlinien für politisch-liberale Politik geeignet sind. Dieses Kapitels beginnt mit einer kurzen Beurteilung der Rolle tiefer religiöser Überzeugungen in der Debatte über gleichgeschlechtliche Beziehungen. Während sich herausstellt, dass umfassende Überzeugungen keine ausreichende Rechtfertigung für Gesetze bieten, die das Thema gleichgeschlechtlicher Beziehungen von einem Sexualerziehungs-Lehrplan ausschließen, veranschaulicht der zweite Abschnitt dieses Kapitels, wie die Naturrechtstheorie versucht, dieses Ziel zu erreichen, indem sie behauptet, dass die Forderung nach einem Ausschluss gleichgeschlechtlicher Beziehungen als Thema rational ist. Der dritte Abschnitt stellt fest, dass die Naturrechtstheorie, trotz ihrer Eigendarstellung als rein rationale Theorie, als umfassende Lehre einzuordnen ist und keine Rechtfertigung für den Ausschluss gleichgeschlechtlicher Beziehungen von der Sexualerziehung bieten kann. Nach der Erörterung des Naturrechts werde ich politisch-liberale Argumente dafür anführen, warum die Institution der Ehe, wie sie derzeit in den meisten liberal-demokratischen Staaten besteht, als ungerecht verstanden werden muss und wie Sexualerziehung ein Schritt sein kann, um dies zu ändern. Ich argumentiere, dass Toleranz und Autonomie zwar eine Rolle bei der Rechtfertigung der Aufnahme gleichgeschlechtlicher Beziehungen in den Sexualerziehungslehrplan spielen, ihre rechtfertigende Kraft jedoch begrenzt bleibt.
7.1 Die Spannung mit tiefen religiösen Überzeugungen
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Die letzten beiden Abschnitte dieses Kapitels fassen die Bedeutung gleichgeschlechtlicher Beziehungen als Thema in der sexuellen Aufklärung für homosexuelle Jugendliche hinsichtlich Selbstwertachtung näher zusammen und bieten einen kurzen Überblick über relevante Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei der Einbeziehung von Transgender-Schüler:innen.
7.1 Die Spannung mit tiefen religiösen Überzeugungen Vielleicht können tief verwurzelte religiöse Überzeugungen von Eltern ein Grund sein, bestimmte Aspekte der Geschlechter- und Gendergleichheit in einem Lehrplan auszusparen. Während sie gegebenenfalls akzeptieren müssen, dass eine hinreichende Form sexueller Aufklärung aus einer politisch-liberalen Perspektive erforderlich ist, könnte die Einbeziehung des Themas gleichgeschlechtlicher Beziehungen, die als gleichwertig mit heterosexuellen Beziehungen oder sogar Ehe1 dargestellt werden, für tief religiöse Bürger:innen als eine zu große Belastung erscheinen. Darüber hinaus könnte der Anspruch, dass gleichgeschlechtliche Beziehungen oder Ehe die gleiche Bedeutung wie heterosexuelle Beziehungen haben, als eine Indoktrination von Werten verstanden werden, die im Widerspruch zu denen bestimmter Gruppen religiöser Eltern stehen.2 Nach dieser Lesart würde der liberale Staat, entgegen seinen eigenen Behauptungen, nicht neutral gegenüber vernünftigen Weltanschauungen sein, stattdessen seine Macht nutzen, um Kindern Ansichten und Werte beizubringen, die mit ihren religiösen Überzeugungen (oder zumindest denen ihrer Eltern) unvereinbar sind. Die Ablehnung gleichgeschlechtlicher Ehe durch religiöse Bürger:innen wird in der Regel auf einem Aspekt ihrer religiösen Tradition beruhen, der gleichgeschlechtliche Beziehungen als moralisch schlecht oder unterlegen darstellt. Weil diese Einwände direkt auf umfassenden Ansichten basieren, die nicht von allen vernünftigen Bürger:innen geteilt werden, sind sie jedoch ungeeignet, um die Gesetzgebung gegen gleichgeschlechtliche Beziehungen zu rechtfertigen, wie zum Beispiel ein Verbot öffentlicher Liebesbekundungen oder andere Einschränkungen. Die Frage in diesem Fall ist jedoch, ob diese umfassenden Ansichten irgendwelche Richtlinien zugunsten von gleichgeschlechtliche Beziehungen blockieren können. Besorgte religiöse Bürger:innen könnten argumentieren, dass die Einbeziehung gleichgeschlechtlicher Beziehungen in den Sexualerziehungsunterricht ein Versuch ist, sie als wertvolle Lebensentscheidung zu fördern.
1 Ich werde die Begriffe ‚heterosexuell‘ und ‚verschiedengeschlechtlich‘ in diesem Kapitel häufig synonym verwenden, genauso wie ‚homosexuell‘ und ‚gleichgeschlechtlich‘. 2 Weit entfernt davon, nur eine theoretische Position zu sein, ist dies ein Argument, das sich in realen Debatten über Geschlechter- und Gendergleichheit in der Bildung findet, siehe z. B. DePalma und Jennett (2007).
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Das Argument, dass Sexualerziehung Homosexualität fördern würde, ergibt allerdings nur dann Sinn, wenn gleichgeschlechtliche Beziehungen selbst auf umfassenden Überzeugungen basieren. Dies ist nicht unmöglich und wir können uns eine umfassende Lehre vorstellen, die auf der Überzeugung beruht, dass gleichgeschlechtliche Beziehungen gegenüber heterosexuellen Beziehungen moralisch überlegen sind und daher von allen angestrebt werden sollten. Aber während umfassende Überzeugungen dieser Art vielleicht existieren und vielleicht sogar einige Bürger:innen dazu motivieren, eine moralische Tugend gleichgeschlechtlicher Beziehungen zu fördern, könnte keine solche Weltsicht eine politisch-liberale Rechtfertigung für irgendwelche Maßnahmen zur Förderung gleichgeschlechtlicher Beziehungen liefern. Eine solche Ansicht wäre kaum Teil des übergreifenden Konsenses zwischen vernünftigen umfassenden Lehren und könnte daher keine Gründe liefern, die für alle vernünftigen Bürger:innen akzeptabel sind. Stattdessen beruhen die Gründe für die eine Angleichung des institutionellen Status von gleichgeschlechtliche und heterosexuelle Beziehungen auf Prinzipien, die alle vernünftigen Bürger:innen in einer politisch-liberalen Gesellschaft akzeptieren. Das relevante Prinzip in diesem Fall ist die Gleichheit von Bürger:innen in Bezug auf Rechte und Freiheiten. Im Gegensatz zu möglichen Behauptungen einiger religiöser Bürger:innen, dass der politische Liberalismus Homosexualität fördern würde, erfordern grundlegende Prinzipien der Gerechtigkeit die gleiche Behandlung von gleichgeschlechtlichen und heterosexuellen Beziehungen. In einer Gesellschaft, die sich auf eine Vorstellung von Gerechtigkeit als Fairness einigt, können diese Prinzipien nicht durch die religiösen Gefühle einiger Bürger:innen überstimmt werden. Naturrechtstheoretiker:innen versuchen jedoch zu argumentieren, dass Maßnahmen, welche die Gleichheit von gleichgeschlechtlichen Beziehungen sichern, z. B. durch die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Ehen, eine Strategie unzulässiger Förderung wären. Wenn dies der Fall wäre, gäbe es tatsächlich ein Problem für den politischen Liberalismus. Wie überzeugend diese Ansätze sind, wird das Thema der nächsten beiden Abschnitte sein.
7.2 Die angenommene moralische Überlegenheit heterosexueller Beziehungen Nicht alle Argumente gegen gleichgeschlechtliche Beziehungen und ihre institutionelle Anerkennung basieren auf explizit religiösen Prämissen. Insbesondere versuchen sogenannte neue Naturrechtstheoretiker:innen, Argumente vorzustellen, die nicht auf theologischen Behauptungen beruhen. Obwohl ihre Motivation in vielen Fällen eindeutig religiös ist, versuchen sie Gründe vorzulegen, von denen sie annehmen, dass sie aus einer rationalen Sicht attraktiv sind, unabhängig von irgendwelchen religiösen Hintergrundüberzeugungen.
7.2 Die angenommene moralische Überlegenheit heterosexueller Beziehungen
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Der zentrale Konsens unter Naturrechtler:innen ist, dass nur ehelicher, heterosexueller Geschlechtsverkehr moralisch gut ist, während andere Formen des Geschlechtsverkehrs (außerehelicher, homosexueller, etc.) intrinsisch schlecht sind. Sie gehen davon aus, dass die einzigartige moralische Güte der traditionellen, gleichgeschlechtlichen Ehe, deren telos immer die Reproduktion zu sein scheint, eine natürliche Tatsache und als solche offensichtlich für die menschliche Vernunft ist. Um das Gute zu fördern und seine Bürger:innen vor moralischen Übeln zu schützen, darf der Staat daher keine gleichgeschlechtlichen Beziehungen fördern oder die gleichgeschlechtliche Ehe einführen. Naturrechtstheoretiker:innen akzeptieren zwar, dass der Staat nicht legitimerweise in das Privatleben von Bürger:innen eingreifen kann, indem er gleichgeschlechtliche Beziehungen kriminalisiert, doch scheinen sie davon überzeugt zu sein, dass gleichgeschlechtliche Beziehungen zumindest nicht dadurch gefördert werden sollten, dass sie nicht mit heterosexuellen Beziehungen gleichstellt werden. Um den politischen Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Beziehungen zu rechtfertigen, werden verschiedene Argumentationslinien verwendet. John Finnis etwa spricht die wahrgenommene moralische Sünde der Homosexualität sehr direkt an. Der Staat, dessen Verantwortung es nach Finnis’ Ansicht ist, seine Bürger:innen vor moralischem Schaden zu bewahren, hat ein legitimes Interesse an der öffentlichen Moral und der Erziehung von Kindern und Jugendlichen hin zu wirklich wertvollen Lebensweisen und weg von anziehenden, aber schlechten Lebensweisen. […] [Ein] Leben, das homosexuelles Verhalten beinhaltet, ist selbst für jemanden, der unglücklicherweise angeborene oder quasi-angeborene homosexuelle Neigungen hat, schlecht (1994, S. 1052).
Finnis begründet seine Position, die aus den folgenden drei Behauptungen besteht, unter anderem damit, dass Sokrates, Plato, Aristoteles und Thomas von Aquin von homosexuellem Verhalten als moralisch schlecht sprechen: 1. Die Verbindung zweier heterosexueller Partner in der „sexuellen Vereinigung der Ehe“ ist intrinsisch gut (und inkompatibel mit außerehelichen sexuellen Beziehungen). 2. Homosexuelle Handlungen sind „radikal unehlich“ (und daher „unnatürlich“). 3. Homosexuelle Handlungen sind aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit Masturbation „des Menschen unwürdig“ (1994, S. 1062). Dieser Ansicht zufolge ist es offensichtlich, dass die Ehe zwischen Personen des unterschiedlichen Geschlechts intrinsisch gut ist und jede Person, die ihre Fähigkeiten der praktischen Vernunft einsetzt, dies unweigerlich sehen muss. Daher ist „eine Wahl gegen das eheliche Gut unvernünftig“ (2008, S. 393). Die Erklärung für den intrinsischen Wert der Ehe bleibt jedoch im über Finnis’ Arbeiten hinweg unzureichend vage. Sie wird als eines von mehreren „grundlegenden menschlichen Gütern“ postuliert, zusammen mit Leben, Gesundheit, Wissen, Freundschaft und anderen. Da diese Güter intrinsisch wertvoll sind, wird angenommen, dass sie jeder Person, die ihr Gewissen bemüht, offensichtlich ist. Im Wesentlichen soll es sich hierbei um auf moralischen Urteilen
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beruhendes Wissen handeln, das von allen, die anstreben, rational und vernünftig zu sein, erlangt werden kann (2008, S. 389). Die Verwendung der Begriffe rational und vernünftig durch Finnis klingt hier fast wie bei Rawls, jedoch mit wichtigen Unterschieden. Für Personen, die rational und vernünftig im Kontext ihrer moralischen Urteile sind, bedeutet dies für Finnis, dass sie sich dafür entscheiden, tugendhaft zu handeln, wann immer sie eine Wahl haben (Finnis 1983, S. 29–30). Rationale Personen können erkennen, welche Handlungen aufgrund ihrer Beziehung zu den bereits erwähnten grundlegenden menschlichen Gütern tugendhaft und welche nicht sind. Grundlegende menschliche Güter scheinen demnach die grundlegendste Bausteine moralischer Handlungen im Naturrechtsansatz von Finnis zu sein (siehe Finnis 2011, Kap. 4; 1983, 50–53). Aus dieser Perspektive gibt es eine klare Trennung zwischen „Ehe für Homosexuelle“, die nur eine „fiktive“ Ehe bleiben kann, und der „echten“ Ehe. Letztere wird durch „die eheliche Handlung [charakterisiert], die in der Art von Aktivität – ekstatischer genitaler Gabe und genitaler Aufnahme von Sperma – gipfelt, die manchmal zur Generation führt“ (Finnis 2008, S. 396). Finnis behauptet, dass der intrinsische Wert der Ehe in der Kombination aus gegenseitiger Liebe und/oder Vertrauen und der Möglichkeit der Fortpflanzung begründet ist.3 Während das Gut der „echten“ Ehe förderungswürdig ist, ist die „fiktive“ Ehe und jede nichteheliche Beziehung etwas, vor dem die Bürger:innen gerettet werden müssen – und schließlich hat der Staat die Pflicht, sie zu retten. Diese Idee, dass der Staat die Befugnis hat, homosexuelles Verhalten zu unterbinden, basiert auf einer aristotelischen Vorstellung einer politischen Gesellschaft, die das fördern muss, was „wirklich lohnenswert ist (einschließlich der moralischen Tugend)“, während sie „das Schädliche und Böse verhindern“ muss. Es folgt daraus, dass der Staat „den Menschen mit elterlichen Verantwortungen helfen, Kinder und Jugendliche in Tugenden zu erziehen und ihre Laster zu unterbinden“ muss (1994, S. 1076). Andere Naturrechtstheoretiker, wie Sherif Girgis, Robert George und Ryan Anderson, unterstützen Finnis’ Behauptungen über den Wert der Ehe, obwohl sie sich weniger auf das moralische Übel gleichgeschlechtlicher Beziehungen, sondern mehr auf den einzigartigen Wert von Fortpflanzung und Erziehung konzentrieren. Nach ihrer Ansicht ist „echte“ Ehe ebenfalls durch eine umfassende Union zwischen Ehemann und Ehefrau gekennzeichnet, die sich während des Geschlechtsverkehrs gegenseitig vervollständigen und so eine reproduktive Einheit bilden, die einen einzigartigen intrinsischen Wert hat (2011, S. 253–255). Darüber hinaus soll die Ehe die Art von Beziehung sein, „die am besten für eine
3 Es
ist erwähnenswert, dass selbst wenn ein heterosexuelles Paar keine Kinder hat oder aus biologischen Gründen überhaupt nicht in der Lage ist, Kinder zu bekommen, es immer noch die Bedingungen für eine ordnungsgemäße Ehe erfüllen würde. Der Grund dafür bleibt mir unklar (vielleicht, weil in benachbarten möglichen Welten Kinder haben könnten). Ich werde diese faszinierende Frage hier nicht weiter verfolgen, da sie für mein Argument gegen Finnis’ Position irrelevant ist.
7.2 Die angenommene moralische Überlegenheit heterosexueller Beziehungen
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ehrenhafte Elternschaft geeignet ist – Elternschaft, die unter anderem dauerhaft und exklusiv ist“ (2011, S. 256). Girgis et al. sorgen sich, dass, wenn gleichgeschlechtlichen Beziehungen der Status der Ehe verliehen würde, „die Eheschließungen instabil machen würde“, da sie die grundlegende Bedeutung der Einrichtung der Ehe änderte. Die Öffnung der Einrichtung der Ehe für gleichgeschlechtliche Partner würde ihren Fokus , „fundamental [auf] die emotionalen Unionen von Erwachsenen“ verlagern und weg von der scheinbar notwendigen biologischen-funktionellen Union (2011, S. 260–261). Der gleiche Status von gleichgeschlechtlichen Beziehungen würde auch „den davon zu unterscheidenden Wert der Freundschaft verschwimmen lassen, der eine Union von Herzen und Gedanken ist“ (2011, S. 261), im Gegensatz zur Ehe. Die Anerkennung von gleichgeschlechtlicher Ehe würde „das Verständnis von Menschen darüber verzerren, was für eine Art von Beziehung Ehegatten eingehen und aufrechterhalten sollen“ (2011, S. 261). Es wäre auch schädlich für eine gute Praxis der Kindererziehung, da keine staatliche Einrichtung mehr die Vorstellung unterstützen würde, dass Kinder Mutter und Vater brauchen; dass Männer und Frauen im Durchschnitt unterschiedliche Gaben in ein Erziehungsprojekt einbringen; und dass Jungen und Mädchen von Vätern und Müttern auf unterschiedliche Weise profitieren sollen und auch tun (2011, S. 263).
Auf politischer Ebene sind gleichgeschlechtliche Ehe und Sexualerziehung, welche die Vorstellung eines gleichen Werts von gleichgeschlechtlichen und verschiedengeschlechtlichen Beziehungen unterstützen, für Girgis et al das gleiche Problem. Beide werden von ihnen als Bedrohung für die moralische und religiöse Freiheit angesehen (2011, S. 263–265). Ihr Schluss ist daher, dass die Ehe „zum Wohle aller reguliert werden sollte“, weil sie „essentielle Bedürfnisse“ von Fortpflanzung und Kindererziehung „einzigartig erfüllt“, auf eine Weise, wie es keine andere Form von Beziehung tut (2011, S. 287). Das Phänomen des „Einswerdens“ und die Einheit des heterosexuellen Koitus hinsichtlich seiner reproduktiven Funktion, wie sie von Finnis hervorgehoben wird, wird auch von Patrick Lee als das hervorhebende und wertvolle Merkmal einer „echten“ Ehe betont. Aber mehr als nur funktionell soll das Geschlechtsverkehr laut ihm die Gemeinschaft der verheirateten Partner „verkörpern“ oder „verwirklichen“, wodurch die grundlegende menschliche Tugend der Eheunion verkörpert wird (2008, S. 422–423). Es scheint, dass für Lee jeder Geschlechtsverkehr, der nicht die biologischen Kriterien einer Beteiligung eines männlichen Partners und einer weiblichen Partnerin erfüllt, die Gemeinschaft zwischen den Teilnehmern nicht verwirklichen kann und bestenfalls „eine illusorische Erfahrung einer Union“ bleibt (2008, S. 424). Lee denkt, dass es mindestens zwei Gründe gibt, warum die gesamte politische Gemeinschaft diese enge Definition der Ehe akzeptieren sollte. Der erste ist der Anspruch, dass Kinder von ihren biologischen Eltern die bestmögliche Pflege erhalten und dass Kinder „ein natürliches Bedürfnis nach Liebe und Fürsorge“ ihrer biologischen Eltern haben (2008, S. 424). Der zweite Anspruch ist, dass
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„die sexuellen Leidenschaften und Energien von Menschen […] auf ein verständliches Gut gelenkt werden“ (2008, S. 425). Die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Ehe würde, laut Lee, die Ansicht von Menschen über das Gut in der Ehe (die biologische Einheit und die Ausrichtung auf die Familiengründung) verzerren und stattdessen „die Botschaft vermitteln, dass es in einer Ehe vor allem um die romantische Beziehung und die sexuelle Beziehung erwachsener Menschen geht“ (2008, S. 425). Wie bei anderen Vertretern des neuen Naturrechtsdenkens ist der zentrale Teil von Lees Argument für eine Ehe zwischen Personen unterschiedlichen Geschlechts die Annahme über die Natur der Ehe als „mehrstufige, (körperliche, emotionale, spirituelle) persönliche Union, die durch Ausweitung auf die Familie erfüllt wird“ (2008, S. 429), zusätzlich zu Behauptungen über die vorteilhaften Auswirkungen verschiedengeschlechtlicher Paaren auf den Prozess der Kindererziehung. Während diese Beispiele weit davon entfernt sind, eine einen vollständigen Überblick über die naturrechtstheoretische Literatur zu geben, etablieren sie dennoch einige der wichtigsten Argumente der Bewegung: eine funktionale Definition der Ehe in Kombination mit einer kantischen Vorstellung von der Anerkennung anderer Zwecke an sich, was hinsichtlich sexueller Aktivitäten nur in einer Ehe zwischen Personen unterschiedlichen Geschlechts möglich ist. In der Sicht der neuen Naturrechtstheoretiker:innen scheint die Ehe sexuelle Handlungen, die an sich instrumentell und unwürdig sind, in etwas intrinsisch Wertvolles zu verwandeln. Letztendlich ist es dieser zentrale Teil ihres Arguments, der die Naturrechtslehre für Fragen über die politisch-liberale Legitimität von gleichgeschlechtlichen Beziehungen irrelevant macht, wie der nächste Abschnitt zeigen wird.
7.3 Naturrechtslehre: Eine umfassende Lehre Politische Liberale müssen keine naturrechtlichen Argumente in Betracht ziehen, die sich letztlich gegen eine Eheschließung von Personen des gleichen Geschlechts richten und auf dem (angenommenen) intrinsischen Wert der Ehe zwischen Personen unterschiedlichen Geschlechts beruhen. Die Frage, ob dieVertreter:innen neuer Naturrechtstheorien ein „ausgeklügeltes intellektuelles Argumentationsschema für die Unterscheidung zwischen homosexueller und heterosexueller Aktivität“ (Macedo 2003, S. 101) anbieten oder sich „auf schlechte Theologie sowie schlechte Philosophie“ (Koppelman 1997, S. 53) stützen (oder sogar beides), ist in diesem Zusammenhang kein Grund zur Besorgnis. Obwohl Naturrechtstheorien offensichtliche religiöse Argumente vermeiden, sind sie dennoch umfassende Lehren. Ihre Darstellungen der Ehe sind tiefgreifend ethisch im Sinne von Rawls und es können daher durchaus unterschiedliche Auffassungen darüber bestehen, dass es „echte“ Ehen nur für heterosexuelle Paare geben kann, die nie darüber nachdenken, Sex mit jemandem anderem als ihrer:m Ehepartner:in zu haben.
7.3 Naturrechtslehre: Eine umfassende Lehre
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Eine der wesentlichen Prämissen des Naturrechts-Arguments für den einzigartigen Status der verschiedengeschlechtlichen Ehe zwischen liegt in substantiell umfassenden metaphysischen Auffassungen über die besondere vereinigende Natur des sexuellen Aktes in der Ehe.4 Unabhängig davon, ob diese Argumente religiöser oder nicht-religiöser Natur sind, ist es offensichtlich, dass nicht alle vernünftigen Bürger:innen damit einverstanden sein werden. Weder die kantische Auffassung, dass sexuelle Handlungen, in denen wir uns gegenseitig als bloße Mittel zu einem Zweck betrachten, moralisch falsch sind, noch die Ansicht, dass die biologische Funktion des sexuellen Aktes an Wert gewinnt, wenn er unter Bedingungen der Ehe vollzogen wird, werden notwendigerweise von allen vernünftigen Bürger:innenn einer wohlgeordneten Gesellschaft geteilt. Ein anderes Argument aus dem Repertoire der Naturrechtstheorie, das auf dem Anspruch beruht, dass gute Elternschaft die Ehe zwischen Personen unterschiedlichen Geschlechts erfordert, könnte für politisch-liberale Richtlinien relevanter sein. Wenn es tatsächlich der Fall wäre, dass Kinder am besten in heterosexuellen Kernfamilien aufgezogen werden, wäre es fahrlässig seitens des politisch-liberalen Staates, diese Bedingungen für Kinder nicht zu unterstützen. Doch ist es keineswegs klar, dass dies wirklich die beste Art ist, Kinder aufzuziehen, oder dass es neben dem Wohlergehen der Kinder keine anderen Faktoren zu berücksichtigen gibt. Es gibt umfangreiche empirische Forschungsergebnisse zu den Auswirkungen von Alleinerziehung, Stiefelternschaft, Zusammenleben von nicht verheirateten Eltern usw., die zeigen, dass solche Familienkonstellationen im Durchschnitt das Wohlergehen von Kinder verringern, z. B. auch, was ihren Bildungserfolg betrifft. Diese Studien stellen fest, dass es Kindern, die in einer Kernfamilie aufwachsen, im Vergleich besser geht, und zwar hauptsächlich aufgrund wirtschaftlicher Stabilität, der von Eltern für die Bildung ihrer Kinder aufgewendeten Zeit und der Erwartungen von Eltern an ihre Kinder. Es ist jedoch wichtig zu bemerken, dass dies kaum die vereinfachende Aussage rechtfertigt, dass verschiedengeschlechtliche Kernfamilien „gut“ sind, während andere Familienstrukturen „schlecht“ sind (ich werde gleich darauf zurückkommen), sondern vielmehr, dass Kernfamilien unter den gegebenen sozioökonomischen Strukturen im Durchschnitt die besten Bedingungen bieten, unter denen für Kinder aufzuwachsen können (siehe z. B. McLanahan 1985; Astone und McLanahan 1991; Blum et al. 2000; Manning und Lamb 2003; Brown 2004; Brown et al. 2015). Ähnliche Forschungen zur gleichgeschlechtlichen Elternschaft sind weit weniger eindeutig, und die verfügbaren Daten werden von einigen positiv und von anderen kritisch interpretiert. So führt eine Überprüfung der empirischen Forschungsliteratur zur gleichgeschlechtlichen Elternschaft aus dem Jahr 2005 zu dem Ergebnis, dass die in diesen Studien untersuchten Kinder in Bezug auf das
4 Eine gleichermaßen substantielle Verteidigung dieses Arguments gegen Kritiker findet sich in Finnis (1997).
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Wohlergehen keine signifikanten Unterschiede zu Kindern unter heterosexueller Elternschaft aufwiesen. Darüber hinaus scheint die Ehe die gleichen positiven Auswirkungen auf Kinder von gleichgeschlechtlichen Paaren zu haben wie auf Kinder von heterosexuellen Paaren, was zu einer Verbesserung des finanziellen Wohlergehens und der Stabilität führt (Meezan und Rauch 2005). Eine kritischere Überprüfung aus dem Jahr 2012 argumentiert jedoch, dass die Forschung zur gleichgeschlechtlichen Elternschaft weit davon entfernt ist, eindeutig zu sein, da die Stichprobengruppen klein sind und hauptsächlich aus weißen, meist weiblichen Eltern aus der gesellschaftlichen Mittel- und Oberschicht bestehen (Marks 2012). Jede Behauptung von Naturrechtstheoretiker:innen über den Vorteil von heterosexuellen Familien kann daher nur vermutend sein, obwohl dasselbe für das Gegenteil gilt. Sollte sich herausstellen, dass Kinder im Durchschnitt unter gleichgeschlechtlicher Elternschaft weniger gut dran sind, wäre es plausibel anzunehmen, dass die dabei beteiligten Faktoren die gleichen wie in Fällen von Alleinerziehenden und anderen Familienstrukturen sind: sozio-ökonomische Umstände, in denen alternative Familienstrukturen eine größere finanzielle und wahrscheinlich zusätzliche auch soziale Belastung tragen: Kinder von gleichgeschlechtlichen Paaren könnten es aufgrund sozialer Vorurteile schwerer haben, sich gesellschaftlich zu integrieren, ähnlich wie Kinder von Alleinerziehenden. Selbst unter politischen Bedingungen, in denen offizielle kein Unterschied mehr zwischen verheirateten und nicht verheirateten Eltern gemacht wird, behalten Bürger im Alltag oft normativen Haltungen bei, durch die sie traditionelle Familien vorteilhafter bewerten als andere Formen von Elternschaft, was wiederum die Interaktion mit Kindern und Eltern beeinflussen wird, die jenen Normen nicht entsprechen.5 Entgegen der Forderungen von Naturrechtstheoretiker:innen sollte das Ziel des politisch-libertären Staates in solchen Fällen darum nicht die Förderung von verschiedengeschlechtlichen Familienkonstellationen bei gleichzeitiger Diskriminierung oder Benachteiligung von nicht-traditionellen Familienstrukturen sein, einschließlich gleichgeschlechtlicher Elternschaft. Vielmehr wäre die Verantwortung des Staates darin zu sehen, soziale Bedingungen zu schaffen, die gleichgeschlechtlichen Eltern (sowie Eltern in anderen alternativen Familienkonstellationen) ein ähnliches Maß an wirtschaftlicher Stabilität und Chancengleichheit bieten wie verschiedengeschlechtlichen Kernfamilien. Ähnlich verhält es sich bei Bildungsmaßnahmen: Der politisch-liberale Staat hat keine legitimen Befugnisse, Unterricht zum Thema von gleichgeschlechtlichen (und anderen) Beziehungen zu verbieten.6 Es scheint eindeutig, dass Schulunterricht zu nichtheterosexuellen Lebensweisen erlaubt ist. Darüber hinaus scheint die Aufnahme
5 Für
die Internalisierung von Homophobie in Bezug auf das Elternsein siehe Pacilli et al. (2011). historischer Fall wäre Artikel 28 des Local Government Act 1988 im Vereinigten Königreich: „Verbot der Förderung von Homosexualität durch Lehre oder Veröffentlichung von Materialien“, Parliament of the United Kingdom (1988), zitiert in Finnis (1994) als Beispiel für staatliche Maßnahmen zur Sicherung und Förderung moralischer Werte. Artikel 28 wurde zwischen 2000 und 2003 im Vereinigten Königreich aufgehoben.
6 Ein
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gleichgeschlechtlicher Beziehungen in ein Sexualerziehungslehrplan sogar aufgrund grundlegender politisch-liberaler Prinzipien geboten zu sein. Zwei Gründe dafür sind der ungerechte Zustand der Institution der Ehe, wie sie traditionell verstanden wird, und die Selbstachtung zukünftiger LGBT-Bürger:innen, beides Fälle, die in den kommenden Abschnitten näher erläutert werden.
7.4 Ehe als ungerechte Institution Wenn man über gleichgeschlechtliche Beziehungen im Kontext von Bildung spricht, lohnt es sich auch kurz über die Institution der Ehe in dem größeren Kontext einer politisch-liberalen Gesellschaft nachzudenken, da sich hierbei weitere Gründe für die Aufnahme gleichgeschlechtlicher Beziehungen in die Sexualerziehung offenbaren. Die Institution der Ehe, wie sie derzeit politisch und rechtlich in bestehenden liberal-demokratischen Gesellschaften anerkannt wird, ist aus liberaler Perspektive problematisch. Verheiratete Paare erhalten häufig wirtschaftliche Vorteile wie z.B. Steuervergünstigungen, die unverheirateten Bürger:innen nicht zugestanden werden, aber die Ehe fördert oft auch eine wirtschaftliche Asymmetrie zwischen Ehepartnern, die zu Abhängigkeit und Einschränkung der Möglichkeiten der jeweils wirtschaftlich schwächeren Partner:innen (in verschiedengeschlechtlichen Ehen zumeist Frauen) führen kann. Trotzdem werden diese Ungleichheiten durch die Anerkennung und sogar Förderung der Ehe in ihrer traditionellen Form als politisch legitim unterstützt. Eine gerechte und faire Gesellschaft müsste die offizielle Institution der Ehe in erheblichem Umfang überarbeiten, um die Ungerechtigkeiten loszuwerden, die derzeit damit verbunden sind. Eine überzeugende politisch-liberale Position zur Ehe wurde von Elizabeth Brake entwickelt. Neben einer gründlichen Analyse der Ehe (mit Schwerpunkt auf den USA und Großbritannien) argumentiert sie für eine Änderung der sozialen Institution der Ehe, die auf einem politisch-liberalen Rahmen der Neutralität gegenüber Vorstellungen eines guten Lebens basiert: Unter den Beschränkungen der öffentlichen Vernunft müssen Gründe für das Eherecht einem bestimmten Standard entsprechen. Der politische Liberalismus schließt den Erlass von die Ehe betreffenden Gesetzen oder Richtlinien auf der Grundlage umfassender religiöser, philosophischer oder moralischer Ansichten aus (2012, S. 138).
Da die Institution der Familie und damit auch die Institution der Ehe Teil der Grundstruktur der Gesellschaft sind, müssen diese Standards auch für das Eherecht gelten. Es ist bei weit em nicht geklärt, wie diese Anforderung am besten umgesetzt werden sollte. Einige Autoren argumentieren, dass die Institution der Ehe an sich problematisch ist, da sie Konformität mit einer Reihe bestimmter Einschränkungen impliziert, welche die Vielfalt menschlicher Beziehungen ignorieren
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und unerwünschte Nebenwirkungen haben können, wie etwa einen Anstieg häuslicher Gewalt.7 Aus dieser Perspektive sollte die Institution der Ehe in einer politisch-liberalen Gesellschaft überhaupt keinen legitimen Platz haben, und entsprechende rechtliche Rahmenwerke sollten am besten aufgegeben werden. Alternativ könnte die Institution der Ehe durch geeignetere Beziehungsmodelle ersetzt oder entlang verschiedener Linien neu definiert werden. Clare Chambers argumentiert zum Beispiel für ein modulares Modell von Beziehungsregulierung, das auf Rechten und Pflichten beruht, die auf unterschiedliche Aspekte von Beziehungen anwendbar sind, in einigen Fällen gegebenenfalls automatisch auf Personen , die in einer geeigneten Beziehung zueinander stehen. Separate Regelungen würden für, z. B. Erziehung, Vermögensaufteilung und so weiter gelten (2013, 2017). Brake selbst bevorzugt hingegen ein Modell des sogenannten „minimalen Ehe”. Wie die traditionelle verschiedengeschlechtliche Ehe würde die minimale Ehe eine bestimmte Art von Beziehung zwischen Menschen definieren, aber die Partner könnten Rechte und Pflichten auswählen, die auf ihre Beziehung anwendbar sind. Darüber hinaus würde es alle Arten von Beziehungen als akzeptabel anerkennen, soweit sie eine Form einer fürsorglichen Beziehung sind (Brake 2012, Kap. 7). Unabhängig von den unterschiedlichen Details darüber, wie die Institution der Ehe am besten reformiert (oder abgeschafft) werden sollte, stimmen Brake, Chambers und andere darin überein, dass die Institution der Ehe, wie sie in den traditionellen westlichen Gesellschaften konzipiert ist, bestimmte Probleme hat. Die diese Diskussion hier in mehr Breite zu entwickeln oder ein Versuch, eine endgültige politisch-liberale Position zur Ehe zu finden, würden hier zu weit führen, aber hinsichtlich Bildung ist es notwendig, die inhärenten Probleme der Ehe als konkrete politische und soziale Institution zu berücksichtigen. Man könnte natürlich argumentieren, dass die idealisierte wohlgeordnete Gesellschaft, die verwendet wird, um politisch-liberale Politik zu modellieren, eine gerechtere Form der Ehe realisiert. In diesem Fall würde der Status der Institution der Ehe keine weitere Rechtfertigung für die Aufnahme gleichgeschlechtlicher Beziehungen in die Sexualerziehung liefern. Wenn wir jedoch erwarten, dass politisch-liberale Theorie und ein politisch-liberaler Bildungsansatz Richtlinien dafür liefern, wie die Politik im wirklichen Leben gestaltet werden soll, dann ist es sinnvoll, auch an eine wohlgeordnete (oder vielleicht annähernd wohlgeordnete) Gesellschaft zu denken, die diesen Punkt noch nicht erreicht hat. In dieser voridealen politischen Phase hat Bildung eine entscheidende Rolle zu spielen. Die politisch-liberale Idee einer gerechteren Institution der Ehe wird vielen durchschnittlichen Bürger:innen aufgrund ihrer Neuheit als abwegig und kontraintuitiv erscheinen. Eine Änderung gesellschaftlicher Einstellungen gegenüber gleichgeschlechtlichen Beziehungen im Allgemeinen und
7 Für Gegenargumente
gegen die Institution der Ehe (jedoch nicht unbedingt auf politischliberalen Grundlagen) siehe z. B. Card (1996), Ettelbrick (1997).
7.5 Einschränkungen von politischen Tugenden und Autonomieanforderungen
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gleichgeschlechtlicher Ehe im Besonderen, die für eine Verwirklichung gerechterer Institutionen erforderlich ist, kann weitgehend durch schulische Bildung erleichtert werden. Wenn Menschen in frühen Lebensphasen auf die Vielfalt menschlicher Sexualität und Beziehungen aufmerksam gemacht werden, werden sie eher bereit sein, die Ungerechtigkeit bestehender Institutionen und die Notwendigkeit einer Änderung zugunsten des Besseren anzuerkennen. Die Notwendigkeit institutioneller Veränderungen ist daher eine weitere Rechtfertigung für eine politisch-liberale Sexualerziehung in einer noch nicht idealen Gesellschaft. Neben dieser aus dem Zustand nicht-idealer Institutionen abgeleiteten Rechtfertigung könnte man denken, dass die Forderung nach einer Bildung, die, unter anderem, politische Tugenden sowie Autonomie fördert, welche zuvor besprochen wurden, eine bereits an sich eine Rechtfertigung bieten. Allerdings haben diese Anforderungen nur eine begrenzte rechtfertigende Kraft. Im Gegensatz dazu gibt es weitere rechtfertigende Gründe, die aus dem Anspruch von Bürger:innen auf Grundgüter, insbesondere auf Selbstachtung, abgeleitet werden können.
7.5 Einschränkungen von politischen Tugenden und Autonomieanforderungen Man könnte denken, dass sich aus den Kernelementen politisch-liberaler Bildung, die in Teil I besprochen wurden, klare Anforderungen für die Einbeziehung gleichgeschlechtlicher Themen in die Sexualerziehung ergeben. Auf den ersten Blick erscheint es plausibel, gleichgeschlechtlichen Beziehungen zu einem obligatorischen Bestandteil des Lehrplans zu machen. Obwohl es stimmt, dass wir auf den Anspruch von Bürger:innen (und zukünftigen Bürger:innen) auf das Grundgut der Selbstachtung zurückgreifen können, gibt es Einschränkungen dessen, was der politisch-liberale Staat in Bezug auf politische Tugenden und Autonomie verlangen kann. Bevor ich die Rechtfertigung aufgrund des Anspruchs auf Selbstachtung skizziere, möchte ich erläutern, warum, unter meiner Interpreation der zentralen Werte des politischen Liberalismus, weder eine auf politische Tugenden noch eine auf Autonomie abzielende Bildung so viel rechtfertigenden Rückhalt bieten können, wie man vermuten könnte. Politische Tugendbildung (unabhängig davon, ob wir denken, dass Tugenden in Bezug auf Charaktermerkmale oder normgeleitete Tendenzen definiert werden sollten) sollte sich auf Tugenden konzentrieren, die für die politischen Sphäre relevant sind. Die Tugend der Toleranz, die bei der Beurteilung gleichgeschlechtlicher Beziehungen besonders relevant erscheint, soll Toleranz gegenüber anderen in ihrer Rolle als Mitbürger:innen fördern. Dies erfordert das Verständnis der kulturellen Hintergründe anderer Menschen sowie ihrer ethischen und religiösen Interessen, aber nur bis zu einem gewissem Maße. Um zu lernen, wie man zum Beispiel unterschiedliche Religionen toleriert, scheint es notwendig zu sein, ein grundlegendes Verständnis ihrer allgemeinen Weltanschauung und einiger ihrer
194
7 Gleichgeschlechtliche Beziehungen in der Bildung
wichtigsten Traditionen zu haben. Ein tiefgreifendes Wissen über die feinen Details religiöser Praktiken oder intrareligiöser metaphysischer Streitigkeiten hingegen ist nicht erforderlich.8 Ähnliches könnte auch über gleichgeschlechtliche Beziehungen gesagt werden: Während es für Bürger:innen notwendig erscheint, über Existenz und die politische Legitimität gleichgeschlechtlicher Beziehungen bescheidzuwissen, ist unklar, wie viel detailliertes Wissen hier erforderlich ist. Bürger:innen, die gleichgeschlechtlichen Beziehungen aus ethischen Gründen widersprechen, sie aber auf politischer Basis akzeptieren, könnten argumentieren, dass alles, was über die Anerkennung dieser grundlegenden Fakten im Lehrplan hinausgeht, ihren (vernünftigen) umfassenden Überzeugungen zuwiderläuft, und wenn keine weitere Einführung gleichgeschlechtlicher Beziehungen erforderlich ist, um ein ausreichendes Maß an Toleranz in (zukünftigen) Bürger:innen zu fördern, scheint dies ein gültiger Grund zu sein, der das politische Tugendbildungsargument entkräftet. Während ein rechtfertigendes Argument auf der Grundlage politischer Tugendbildung letztendlich auf der unbestimmten (und vielleicht nicht bestimmbaren) Antwort auf die Frage beruht, wie detailliert gleichgeschlechtliche Beziehungen in einen Lehrplan integriert werden müssen, gibt es bezüglich Autonomie noch weniger robuste Rechtfertigung. Die für die politisch-liberale Bildung relevante Vorstellung von Autonomie, wie sie in Kap. 4 dargelegt wird, ist bewusst schwach und neutral gehalten, was bedeutet, dass sie keine substantielle Unterstützung für die Aufnahme gleichgeschlechtlicher Beziehungen in Lehrpläne bieten kann. Schließlich ist die schwache Vorstellung von Autonomie darauf ausgerichtet, Menschen als selbstbestimmte Akteur:innen zu betrachten, nicht darauf, ihre Handlungsfreiheit für Dinge einzusetzen, die aus ethischer Perspektive als wertvoll angesehen werden. Natürlich könnten wir uns von der schwachen Konzeption von Autonomie zu einer substantielleren Behauptung vorarbeiten, die auf ihr aufbaut, nämlich dass autonome Bürger:innen die Kapazität für eine Konzeption eines guten Lebens haben, die möglicherweise das Leben in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung umfassen könnte. Es wäre sicherlich nicht legitim für den politische-liberalen Staat, seine Bürger:innen von dieser Lebensweise abzuhalten, aber die Frage ist hier, inwieweit der politisch-liberale Staat Jugendliche über die Details eines Lebens in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung aufklären muss. Können wir auf der Grundlage der von mir in dieser Darstellung politisch-liberaler Bildung angenommenen Konzeption von Autonomie eine robuste Rechtfertigung dafür finden, gleichgeschlechtliche Beziehungen zu einem regelmäßigen Bestandteil
8 Ausgehend
von einer pluralistischen Gesellschaft, die nach dem Vorbild zeitgenössischer westlicher liberaler Demokratien modelliert ist. Dies schließt Kontexte aus, in denen ein tiefergehendes Wissen über zum Beispiel religiöse Metaphysik erforderlich sein könnte. Für eine Gesellschaft, in der alle Bürger:innen Buddhisten sind, aber zu unterschiedlichen Sekten gehören, könnte es tatsächlich relevant sein, die feineren Unterschiede zwischen Theravada-, Mahayanaund Vajrayana-Varianten des Buddhismus zu verstehen, um bürgerliche Toleranz zu fördern.
7.6 Gleichgeschlechtliche Beziehungen, Sexualerziehung und Selbstachtung
195
der Sexualerziehung an Schulen zu machen, selbst wenn dies dem Wesen einiger umfassender Lehren widerspricht? Wie im Fall politischer Tugenden sehe ich nicht, dass es hier eine robuste Rechtfertigung gibt. Nachdem ich nun kurz erörtert habe, wie gleichgeschlechtliche Beziehungen als Teil der Sexualerziehung aufgrund der Entwicklung politischer Tugenden und Autonomie zu rechtfertigen sind, befürchte ich, dass keiner dieser Wege uns mit starken rechtfertigenden Argumenten versorgt. Dies wird insbesondere dann relevant, wenn man die Ablehnung durch mögliche Einwände vernünftiger Bürger:innen in Betracht zieht, die zwar die Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Beziehungen an sich nicht ablehnen, aber zu argumentieren versuchen könnten, dass mehr Informationen über diese Lebensweise aus ihrer umfassenden Perspektive ethisch problematisch sind und zugleich nicht von den Kernprinzipien des politischen Liberalismus gefordert werden. Im nächsten Abschnitt werde ich jedoch versuchen, eine robustere Rechtfertigung für die Einbeziehung von gleichgeschlechtlichen Beziehungen in die Sexualerziehung aus dem Recht von Bürger:innen auf das Grundgut der Selbstachtung zu generieren.
7.6 Gleichgeschlechtliche Beziehungen, Sexualerziehung und Selbstachtung In bestehenden liberal-demokratischen Gesellschaften gibt es heutzutage Antidiskriminierungsgesetze und andere Regelungen, um Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt und vor dem Gesetz für die meisten LGBT-Bürger:innen sicherzustellen. Trotzdem gibt es im Bereich der Bildung noch Verbesserungspotenzial, insbesondere in der Sexualerziehung. Die Mängel liegen hier weniger in der expliziten Diskriminierung von Homosexualität und anderen sexuellen Orientierungen durch Lehrer:innen und Schulbücher, sondern im informellen Inhalt des Sexualerziehungsunterrichts und der sozialen Umgebung von Jugendlichen. Die Analyse der Mängel der Sexualerziehung unter bereits großzügigen politischen Bedingungen hebt hervor, welche Art von Mängeln der politischliberalen Bildung zu berücksichtigen sind. Neben dem offiziellen Inhalt der Sexualerziehung gibt es ein sogenanntes „verstecktes Curriculum“ – Einstellungen und soziale Normen, die ohne explizite Erwähnung im Unterricht vermittelt werden. Ein Teil des versteckten Curriculums ist seit langem eine Standardisierung von Heteronormativität zusammen mit traditionellen Geschlechterrollen (siehe z. B. Jones 1993; Kehily 2002, Kap. 3). Dazu gehört die Praxis, in der Sexualerziehung gleichgeschlechtlichen Beziehungen nicht anzusprechen und stattdessen sehr enge Definitionen dessen, was sexuelle Beziehungen sind (oder laut vorherrschenden sozialen Normen sein sollten), in den Vordergrund zu stellen. Solche Praktiken führen zu einer Marginalisierung von Kindern und Jugendlichen, die entweder Eltern oder nahe Verwandte in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung haben oder selbst Teil des LGBT-Spektrums sind. Diese Marginalisierung, insbesondere in dem Alter, in dem
196
7 Gleichgeschlechtliche Beziehungen in der Bildung
Sexualerziehung stattfindet, wird oft zu Gefühlen der Unsicherheit, der Machtlosigkeit (siehe z. B. Fine und McClelland 2006; Gowen und Winges-Yanez 2014), und dem Gefühl, so etwas wie „Freaks … wie Außerirdische oder so“ zu sein, wie es ein:e Teilnehmer:in an einer Studie über LGBT-Themen in der Sexualerziehung beschrieb (Gowen und Winges-Yanez 2014, S. 791, zitierte Aussage einer:s Forschungsteilnehmerin:s). Für eine Gesellschaft, die eine Konzeption wie Gerechtigkeit als Fairness ernst nimmt, scheint es entscheidend zu sein, Fragen gleichgeschlechtlicher Beziehungen in die Sexualerziehung einzubeziehen. Um ihre Fähigkeit zur Selbstachtung zu entwickeln, die ein Grundgut ist, auf das Bürger:innen einer wohlgeordneten Gesellschaft Anspruch haben, ist es wichtig für Jugendliche, tief verwurzelte Aspekte ihrer sich entwickelnden Identität in der Öffentlichkeit vertreten zu sehen. Wie sich Menschen durch ihr Geschlecht und ihre sexuellen Beziehungen identifizieren, ist einer dieser Aspekte. Es scheint daher eine Frage der Gerechtigkeit zu sein, gleichgeschlechtliche Beziehungen im Kontext der Sexualerziehung als gleichberechtigt zu heterosexuellen Beziehungen darzustellen. Darüber hinaus bauen Jugendliche ihre sexuellen Identitäten auf, indem sie beschreibende und normativ-informative Versatzstücke aus verschiedenen Quellen zusammensetzen, einschließlich ihrer eigenen Familie, ihrer Peer Group und unterschiedlicher Medien. Vor allem bei männlichen Jugendlichen führt dies oft zu einer übertriebenen (heteronormativen) Ausdrucksform von Männlichkeit in Kombination mit einer homophoben Haltung (siehe z. B. Kehily 2002, Kap. 6). Wenn diese Einstellungen sich auch weiterhin in Formen heteronormativen Verhaltens bei Jugendlichen fortsetzen, bis sie erwachsen werden, resultieren daraus Probleme für eine liberal-demokratische Gesellschaft. Bürger:innen könnten offiziell in ihren Rollen, zum Beispiel als Arbeitgeber oder Regierungsbeamte, durch Gesetze daran gehindert werden, aufgrund homophober Tendenzen zu entscheid. Trotzdem wird es Auswirkungen auf Personen haben, die heterosexuellen Standards nicht entsprechen, wenn ein ausreichend großer Teil der Bevölkerung solche Tendenzen äußert, sei es auch nur in nicht-öffentlichen Kontexten. Homophobie und (informelle) Diskriminierung werden, wenn sie in der Gesellschaft ausreichend weit verbreitet sind, eine relevante Beeinträchtigung für den Erwerb von Selbstachtung bei LGBT-Bürger:innen bedeuten. Ein Teil der Bemühungen eines Staates zur Verwirklichung einer gerechten Gesellschaft muss daher auch darin bestehen, die sozialen Tendenzen zu Homophobie und ähnlichen Phänomenen zu verringern, wobei ein geeignetes Mittel die Gestaltung von Bildungsmaßnahmen ist, die diese Tendenzen bei Kindern und Jugendlichen nicht verstärken. Während die konkreten Details von Maßnahmen zur Änderung dieser informellen Aspekte von Bildung am besten Bildungsexpert:innen und nicht politischen Philosoph:innen überlassen werden sollten, scheint es ziemlich sicher, dass dies unbedingt klare Aussagen über die Gleichheit von heterosexuellen und gleichgeschlechtlichen Beziehungen sowie eine ebenso klare Botschaft gegen Diskriminierung in diesem Kontext umfassen muss. Die Grundlage hierfür ist nicht, wie es Bürger:innen mit bestimmten umfassenden Ansichten erscheinen könnte, die illegitime Förderung eines homo-
7.7 Transgender-Schüler:innen
197
sexuellen Lebensstils, sondern die Bereitstellung einer sozialen Umgebung, in der Bürger:innen unabhängig von ihren sexuellen Orientierung gleich behandelt werden. Diese soziale Umgebung trägt zu einem großen Teil dazu bei, dass Bürger:innen ihre Grundrechte in erheblichem Umfang nutzen können. Gleichheit für Bürger:innen aus dem LGBT-Spektrum muss ebenso das Ziel eines politischliberalen Staates sein, wie die Gleichheit von Bürger:innenn mit unterschiedlichen religiösen Hintergründen. Bürger:innen, die diesem Punkt nicht zustimmen, können aus einer politischliberalen Perspektive als (teilweise) unvernünftig eingestuft werden, zumindest was Sexualerziehung betrifft. Dies würde dem politisch-liberalen Staat ermöglichen, ihre Ansprüche auf Ungleichbehandlung oder Ungerechtigkeit zu übergehen. Gleichzeitig bedeutet es jedoch nicht, dass in dieser Hinsicht uneinsichtige Bürger:innen ihren rechtlichen oder moralischen Status als Bürger:innen verlieren, sondern dass ihre Ablehnung einer auf Gleichheit ausgerichteten Sexualerziehung unvernünftig ist (siehe auch Abschn. 6.7). Daher erfordert die politische Moral keine weiteren rechtfertigenden Bemühungen, um diesen Bürger:innen entgegenzukommen, und der Staat kann ihre Ansprüche aufgrund politisch-liberaler Prinzipien ignorieren.
7.7 Transgender-Schüler:innen In vielerlei Hinsicht ist die Position von Transgender-Schüler:innen ähnlich wie die von homosexuellen Schüler:innen, sie haben aber natürlich auch eine Reihe von sehr spezifischen Merkmalen, die ich hier kurz betrachten möchte. Gemeinsamkeiten bestehen hinsichtlich der meisten Aspekte von Inklusion und Selbstachtung, die in den vorherigen Abschnitten bezüglich Menschen in gleichgeschlechtlichen Beziehungen besprochen wurden. Bildungsmaßnahmen die sich heteronormativen Vorstellungen von Beziehungen und Männlichkeit entgegenstellen, können und sollten auch dazu verwendet werden, TransgenderSchüler:innen die Möglichkeit zu geben, ihre Fähigkeit zur Selbstachtung zu entwickeln und im Laufe der Zeit eine tolerante Gesellschaft zu fördern. Trotzdem gibt es Unterschiede zwischen transsexuellen Personen und anderen Gruppen im LGBT-Spektrum, die zu spezifischen Herausforderungen in Bildungskontexten führen können.9 Zwei von ihnen, die im öffentlichen Diskurs über
9 Natürlich gibt es zwischen allen Gruppen dieses Spektrums Unterschiede. Doch im Zusammenhang mit diesem Kapitel werden die Unterschiede zwischen, sagen wir, schwulen Männern und lesbischen Frauen nicht spezifisch angesprochen, weil sie für das hier behandelte Thema nicht relevant erscheinen. Das ist nicht zu sagen, dass diese Unterschiede in bestimmten Situationen (z. B. Toleranz gegenüber einer bestimmten Gruppe, aber nicht gegenüber einer anderen, Probleme, die aus Homonormativität resultieren, usw.) nicht von Bedeutung wären und durch geeignete Bildungsmaßnahmen angegangen werden müssten.
198
7 Gleichgeschlechtliche Beziehungen in der Bildung
Transgender-Identitäten in den ersten beiden Jahrzehnten dieses Jahrhunderts immer wieder aufgetaucht sind, sind Fragen zur Toilettennutzung und zum Sport. Wie sollte eine politisch-liberale Bildungspolitik mit diesen beiden Fällen umgehen, in denen der Status von Transgender-Schüler:innen (und auch nichtbinären Schüler:innen) als Herausforderung für bestehende Strukturen einer noch sehr stark geschlechtsspezifischen Bildungsumgebung wahrgenommen werden kann? Bevor diese Frage beantwortet werden kann (zumindest in groben Zügen), muss der Standpunkt ermittelt werden, den eine politisch-liberale Bildungspolitik in Bezug auf Transgender-Fragen einnehmen sollte. Aus einer medizinisch informierten Perspektive scheint es auf den ersten Blick vernünftig zu sein, dass Personen, die offiziell mit Geschlechtsdysphorie diagnostiziert wurden, entsprechend ihrem identifizierten Geschlecht behandelt werden sollten. Doch dies scheint wichtige Gesichtspunkte zu transsexuellen Personen außer Acht zu lassen. Erstens ist die Diagnose von Geschlechtsdysphorie ein komplexer Prozess (für einen Eindruck der damit verbundenen Komplexität und Fragen zu Paternalismus und Patientenautonomie, siehe z. B. Gerritse et al. 2021), und es besteht ein realistisches Risiko, dass Personen, die von Geschlechtsdysphorie betroffen sind, falsch diagnostiziert werden. Abgesehen von Fragen der genauen Diagnose kann man jedoch gegen die Einstufung von transsexuellen Personen als von einer medizinischen Bedingung betroffenen Personen Einwände erheben. Darüber hinaus kann die medizinische Herangehensweise aus der Perspektive einiger vernünftiger umfassender Lehren ebenso unannehmbar sein, nicht so sehr wegen ihrer Medikalisierung, sondern wegen eines anderen metaphysischen Verständnisses von Sexualität und Geschlecht (siehe z. B. Moschella 2019). Politisch-liberale Bildungsmaßnahmen sollten ihre Anerkennung von Transgender-Identitäten daher nicht auf die Personen beschränken, die eine medizinische Diagnose vorlegen können. Stattdessen sollte die Selbstidentifikation von Schüler:innen ausreichen, um ihr Geschlecht zu bestimmen (dies würde auch Hindernisse für Schüler:innen beseitigen, die nicht im klassischen Sinne transsexuell sind, sondern auf andere Weise geschlechts- oder gendernonkonform). Was bedeutet das für eine politisch-liberale Bildungspolitik, wenn es um Schultoiletten und um Schulsport geht? In Bezug auf Toiletten erscheint eine geschlechtsneutrale Lösung am besten, um Transgender-Schüler:innen entgegenzukommen. Unisex-Schultoiletten zwingen sie nicht, eine Wahl zu treffen, die mit ihrer Geschlechtsidentität unvereinbar sein könnte, sondern behandeln sie gleichberechtigt wie alle anderen Schüler:innen, da geschlechtsspezifische Unterschiede schlicht kein Anwendungskriterium sind.10 Weiterhin sind Unisex-Toiletten in Schulen einfach umzusetzen und sind in vielen liberal -demokratischen Gesellschaften tatsächlich bereits Realität geworden (siehe
10 Vielleicht
muss betont werden, dass diese Strategie in anderen Bereichen des sozialen Lebens möglicherweise nicht angemessen ist, wo sie Frauen benachteiligen oder „Levelling-downEffekte“ haben könnte. In Bezug auf Schultoiletten sehe ich jedoch nicht, wie dies zu solchen unerwünschten Effekten führen könnte.
7.7 Transgender-Schüler:innen
199
z. B. Hendricks 2018, für Beispiele zur Umzetzung von Unisex-Toiletten sowie für verwaltungstechnische Widerstände, die einfachen Maßnahmen wie diesen begegnen). Für Transgender-Schülerinnen kann die Freiheit, sich nicht für eine von zwei möglichen Toiletten entscheiden und damit eine Geschlechtsidentität ausdrücken zu müssen, einen positiven Effekt auf ihre Selbstwertachtung haben. Nicht in die Toiletten für Männer gehen zu müssen, obwohl man sich als Frau identifiziert (und dies vielleicht noch nicht einmal öffentlich), oder obwohl man sich derzeit unsicher ist, welche eigene Geschlechtsidentität man hat, kann die Bedeutung der eigenen Festlegung dieser Identität unterstreichen. Es erscheint besonders wichtig für Jugendliche, die sich in einem Prozess befinden, in dem sie nicht nur ihre Geschlechtsidentität, sondern auch in vielen anderen Aspekten ihres Lebens festzulegen beginnen. Während es vielleicht eine Übertreibung wäre zu sagen, dass Unisex-Toiletten ihre Selbstachtung verbessern können, können Unisex-Toiletten sicherlich Erosionen dieser Kapazität vermeiden, die durch die Notwendigkeit entstehen könnten, Entscheidungen zu treffen, die man (noch) nicht treffen will. Ein weiterer Bereich, in dem Geschlechtertrennung in der Schule vorkommt (wenn auch in einer anderen Weise), ist der Schulsport. In den aktuellen Lehrplänen in liberal-demokratischen Gesellschaften neigen Schulen immer noch in gewissem Maße zur Geschlechtertrennung. Im besten Fall konfrontiert dies Transgender-Schüler:innen mit einer ähnlichen unangenehmen Wahl wie im Fall von Toiletten: sich öffentlich als männlich oder weiblich zu identifizieren. Eine häufigere Reaktion auf Transgender-Schüler:innen, die nicht in die Standardkategorien des Sportunterrichts passen, wird vermutlich Diskriminierung durch Lehrer:innen oder Mitschüler:innen sein. Angesichts der bereits existierender, starker Argumente gegen Geschlechtertrennung im Sport und für die Mischung von männlichen und weiblichen Athlet:innen in Teams (siehe z. B. George 2002, Foddy und Savulescu 2011, Leong 2018), kann eine Darstellung politisch-liberaler Bildung hier nur noch wenig hinzufügen. Geschlechtertrennung im Schulsport hat die Tendenz, geschlechtsbezogene Stereotypen zu verfestigen, die zu sozialen Ungleichheiten beitragen (siehe z. B. Brown und Stone 2016). Angesichts der Tatsache, dass solche Stereotypen nicht nur für heterosexuelle Schüler:innen, sondern in der Regel auch für LGBT-Schüler:innen problematisch sind, sollte politisch-liberale Unterstützung für letztere Gruppe auch Maßnahmen wie Unisex-Sportunterricht umfassen. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die hier beschriebenen Strategien zur Einbeziehung von Transgender- und anderen geschlechts- und gendernon konformen Schüler:innen in Schulen aus Ideen über Freiheit und Gleichheit abgeleitet werden können, die sich auf die politisch -liberale Bildung im Allgemeinen beziehen. Wie bei der Einbeziehung homosexueller Schüler:innen können diese Maßnahmen einerseits aufgrund des politischen Ziels der Verringerung der Diskriminierung in der Gesellschaft und der Unterstützung sozialer Gleichheit gerechtfertigt werden, andererseits aber auch aufgrund der Tatsache, dass sie Transgender-Schüler:innen ermöglichen, eine Fähigkeit zur Selbstachtung in ihrem
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7 Gleichgeschlechtliche Beziehungen in der Bildung
Bildungsumfeld zu entwickeln. Aus einer politisch-liberalen Perspektive sind diese Maßnahmen weder außergewöhnlich noch anderweitig besonders, sondern Teil einer gleichberechtigten Behandlung von Schüler:innen unabhängig von Geschlecht und Gender in einem Kontext, in dem diese keine Rolle spielen sollten.
7.8 Fazit In diesem Kapitel wurden einige der Grenzen identifiziert, die vernünftige religiöse Bürger:innen akzeptieren müssen. Ich habe argumentiert, dass religiöse Ansprüche gegen die „Förderung“ von Homosexualität durch den politischliberalen Staat fehlschlagen, da die politisch-liberale Rechtfertigung für die Aufnahme dieses Themas in den Lehrplan für die Sexualerziehung nicht auf umfassenden Weltanschauungen über gleichgeschlechtliche Beziehungen beruht. Darüber hinaus hat eine kurze Diskussion der Herangehensweise der Naturrechtstheoretiker an dieses Thema gezeigt, dass Naturrechtsargumente trotz ihrer Vermeidung religiöser Rechtfertigungen auf einer umfassenden Lehre beruhen, die ähnlich wie religiöse umfassende Lehren ist. Neben der Verteidigung gegen Behauptungen, dass gleichgeschlechtliche Beziehungen einen ungerechten Eingriff in die Weltanschauungen einiger Bürger:innen darstellen würden, hat dieses Kapitel auch zwei positive Gründe für die Aufnahme von gleichgeschlechtlichen Beziehungen in die Sexualerziehung vorgestellt, insbesondere in liberalen Gesellschaften, die nicht ideal sind. Einer von ihnen ist die wirtschaftliche und soziale Ungerechtigkeit, die durch traditionelle Vorstellungen von Ehe perpetuiert wird, der andere die Einschränkung von LGBT-Bürger:innen, ihre Grundgüter in einer Gesellschaft zu entwickeln und zu nutzen, in der sie noch von Ablehnung und Diskriminierung betroffen sind. Ablehnung und Diskriminierung werden auch für das folgende Kapitel relevant sein, wenn auch in einem etwas anderen Kontext. Bisher habe ich die „intrinsischen“ Probleme einer politisch-liberalen Gesellschaft besprochen, die unabhängig davon auftreten können, ob die Gesellschaft eine geschlossene Gesellschaft ist oder nicht. Im nächsten Abschnitt werde ich das Rawls’sche Modell der geschlossenen Gesellschaft hinter mir lassen und einige der Probleme in der Bildung diskutieren, die sich entwickeln, wenn Individuen nicht nur durch Geburt, sondern auch durch Immigration ein eine Gesellschaft eintreten.
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Kapitel 8
Immigration und Integration
Zusammenfassung Immigration gehört nicht zu den Themen, die normalerweise im Zusammenhang mit politischem Liberalismus diskutiert werden, nicht zuletzt aufgrund seines Augenmerks auf Gerechtigkeit und vernünftigen Pluralismus in einer spezifischen politischen Gemeinschaft, die oft als geschlossene Gesellschaft modelliert wird. Trotzdem findet Immigration in zeitgenössischen liberalen Demokratien statt, und mit ihr kommt die Aufgabe der Integration von Kinder von Immigrant:innen. Der politische Liberalismus sollte daher auch normative Richtlinien für die Behandlung von Kinden mit Migrationshintergrund vorgeben können. In diesem Kapitel wird argumentiert, dass trotz Rawls’ Vernachlässigung von Immigration in seiner politisch-liberalen Theorie und der liberal-nationalistischen Position, die er in seiner späten Theorie internationaler Beziehungen ausdrückt, der politische Liberalismus etwas über die Integration von Immigrant:innen in einer gerechten Gesellschaft sagen sollte. Daraufhin werden die Anforderungen an die Integration von Kinden mit Migrationshintergrund in Schulen auf der Grundlage von Integrationstheorien von Autoren wie Elizabeth Anderson skizziert, aber auch entgegengesetzte Positionen, wie sie von Michael Merry entwickelt wurden, der sich unter nichtidealen Umständen für eine freiwillige Trennung in Schulen ausspricht. Einwanderung stellt derzeit eine der wichtigsten Herausforderungen für die zeitgenössische Politik in westlichen Demokratien dar. Damit gehen auch Fragen einher, wie Bildungsmaßnahmen zur Integration beitragen können (oder vielleicht sogar müssen). Es scheint daher, dass eine politisch-liberale Theorie der Bildung, die Richtlinien für die Lösung von Problemen in der realen Welt anstrebt, etwas darüber sagen sollte, wie die Integration von Immigrant:innen und deren Kindern in die Gesellschaft unterstützt werden kann. Allerdings bietet der politische Liberalismus keine Darstellung von Migration, da Rawls das Thema der Einwanderung beinahe vollständig in seiner politischen Theorie ausklammert. Für die moderat idealisierte, wohlgeordnete Gesellschaft behauptet er bekanntermaßen: „[dass] Geburt und Tod die einzigen Formen des Eintritts und Austritts sind“ (2005, S. 40). Einer Theorie der Gerechtigkeit mit der Prämisse einer geschlossenen Gesellschaft zu beginnen, soll es angeblich © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Nature Switzerland AG 2022 F. Podschwadek, Die Erziehung der Vernünftigen, https://doi.org/10.1007/978-3-031-21266-6_8
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8 Immigration und Integration
erleichtern, so zumindest Rawls’ Idee, die relevanten Details einer Auffassung von sozialer Gerechtigkeit zu ermitteln. Während dies sicher eine nützliche Strategie ist, um grundlegende Fragen zur fairen Verteilung von Ressourcen und zur Legitimität staatlicher Zwangsgewalt gegenüber Bürger:innen zu beantworten, bleiben andere Fragen unbeantwortet, die sich als drängende Probleme für die zeitgenössische Politik erweisen – zum Beispiel, wie eine politisch-liberale Gesellschaft mit Immigrant:innen umgehen soll. Die von Rawls konzipierte wohlgeordnete Gesellschaft wurde modelliert, um andere Probleme zu lösen, und bietet keine direkten Richtlinien fzu diesen Fragen für reale Gesellschaften. In nicht-idealen Gesellschaften ist der Pluralismus im Gegensatz dazu untrennbar mit der Tatsache der Migration verbunden und stellt eine eigene Reihe von Herausforderungen für die Bildung dar, wie z. B. Victoria Costa richtig beobachtet (2004). Im Gegensatz zu Rawls’ Annahme, dass Tugenden und Fähigkeiten der Staatsbürgerschaft einfach durch das Aufwachsen in einer liberalen Gesellschaft angeregt und gefördert werden, argumentiert sie, dass diese Sicht zu idealistisch ist und dass wir zumindest dann, wenn wir Erkenntnisse aus der politischliberalen Theorie auf realistischere Szenarien übertragen wollen, die Rolle von Schulen in diesem Prozess berücksichtigen müssen: Ein zentrales Ziel von Bildungseinrichtungen in nicht-idealen Kontexten ist es, die weit verbreitete Akzeptanz gemeinsamer Normen, Prinzipien und Verfahren zu fördern, die dem gemeinschaftlichen Leben zu einer gewissen Kohärenz und Durchführbarkeit verhelfen und es verschiedenen Mitgliedern und Gruppen der Gesellschaft ermöglichen, sich auf demokratische Weise zu verständigen (2004, S. 6).
Selbst wenn wir zugestehen, dass Kinder einheimischer Bürger:innen die notwendigen politischen Tugenden, Fähigkeiten und Kenntnisse mit nur minimaler Unterstützung durch Bildungseinrichtungen erwerben können (was, wie ich in den vorherigen Kapiteln dieses Buches argumentiert habe, unwahrscheinlich ist), ist es dennoch plausibel anzunehmen, dass Kinder von Immigrant:innen nicht so leicht in ihre Rolle als liberal-demokratische Bürger:innen wachsen. Zumindest in Fällen, in denen ihr kultureller Hintergrund bestimmte illiberale Tendenzen etablieren oder verstärken würde (z. B. Überzeugungen, dass Menschen aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer Religion als untergeordnet behandelt werden können, oder Resentiments gegen grundlegende politische Freiheiten wie zum Beispiel die Meinungsfreiheit), wäre es Aufgabe des Bildungssystems, solchen kulturellen Auswirkungen entgegenzuwirken (Costa 2004, S. 10–11). Mein Ziel für dieses Kapitel ist es, Anforderungen von Kindern mit Migrationshintergrund an die staatsbürgerliche Bildung darzustellen, die eine politischliberale Gesellschaft erfüllen muss. Einige dieser Herausforderungen überschneiden sich mit den Themen vorheriger Kapitel, der Religions- und der Sexualerziehung. Andere sind eindeutig mit Immigration selbst verbunden und erfordern andere Antworten als eine politisch-liberale Theorie der Bildung auf „heimische“ Herausforderungen dieser Art gibt. Bevor ich fortfahre, ist es wichtig zu betonen, dass ich versuche, vom konservativsten Standpunkt aus zu argumentieren, was die Geschlossenheit
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von Grenzen und Immigration betrifft, die ich für vertretbar halte, ohne zentrale Ideen des politischen Liberalismus aus den Augen zu verlieren. Der Grund dafür ist nicht so sehr, dass ich denke, dass dieser Standpunkt richtig ist (das denke ich absolut nicht). Vielmehr möchte ich zeigen, dass, selbst wenn politischer Liberalismus zu weitgehend geschlossenen Grenzen und strengen Einwanderungsbeschränkungen führen sollte, ein gewisses Maß an Migration dennoch stattfinden würde und der Staat einige besondere Verpflichtungen gegenüber den Kindern von Immigrant:innen hätte. Wenn meine Darstellung, wie politischer Liberalismus die Bildung solcher Kinder angehen sollte, für einige Leser übermäßig kompliziert erscheint, müssen sie sich ins Gedächtnis rufen, dass es mir darum geht, gegen den am wenig kosmopolitischen Standpunkt zu argumentieren, die ein politischliberal-nationalistisches Individuum vernünftigerweise einnehmen kann.1 Ich werde zunächst eine Zusammenfassung dessen geben, was man vernünftigerweise über den moralischen Status von Immigrant:innen in einer politisch-liberalen Gesellschaft sagen kann, wobei ich mich auf Rawls’ eigene Arbeit über die Beziehungen zwischen Gesellschaften in The Law of Peoples beziehe. Obwohl Rawls offenbar davon ausgeht, dass Migration in einer realistischen globalen Utopie, die hauptsächlich aus wohlgeordneten liberalen Gesellschaften besteht, kein relevantes Thema mehr sein wird, werde ich im zweiten Abschnitt dieses Kapitels argumentieren, dass eine solche Annahme unrealistisch ist. Aus verschiedenen Gründen würde Migration auch unter moderat idealisierten Bedingungen weiterhin stattfinden. Wichtiger ist, dass eine politisch-liberale Theorie der Bildung darauf abzielt, eine Orientierung für die politische Praxis bezüglich z. B. Immigration und Integration zu bieten. Aus diesem Grund wird im dritten Abschnitt zwischen Kindern mit Migrationshintergrund und Kindern, die in einer wohlgeordneten Gesellschaft geboren wurden, unterschieden, und die zusätzlichen Anforderungen an politisch-liberale Bildung dargestellt, die sich aus diesen Unterschieden ergeben – ein Schwerpunkt auf die Förderung von Integration. Im vierten Abschnitt werde ich erläutern, welche Art von Integration den Schwerpunkt politisch-liberaler Bildung ausmachen sollte. Nach der Einführung der Unterscheidung zwischen staatsbürgerlicher, sozialer und kultureller Integration werde ich argumentieren, dass der wichtigste Integrationsaspekt die soziale Integration sein sollte. Während die staatsbürgerliche Integration ausreichend durch die bereits auch für die einheimischen Kinder bereitgestellten
1 Wie ein:e Rezensent:in für dieses Buchmanuskript anmerkte, wirk die damit verbundene Charakterisierung von Immigrant:innen aus nicht-wohlgeordneten Gesellschaften in gewisser Weise heikel. Ich stimme zu und denke, dass dies hauptsächlich auf der zugrunde liegenden Auffassung über die Beziehung zwischen Nationalstaaten beruht, die Rawls in The Law of Peoples entwickelt und die ich hier als Grundlage für eine politisch-liberale Position zur Migration verwende. Dennoch sollten die Konsequenzen dieser Ansicht nicht einfach abgelehnt werden, weil sie moralisch fragwürdig sind (wie auch die vieler anderer Ansätze, die für geschlossene Grenzen in der politischen Theorie sowie in der realen Politik plädieren), sondern wir sollten uns mit ihnen auseinandersetzen.
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Bürgerbildungslehrpläne abgedeckt werden sollte, und die kulturelle Integration so gut wie keine Rolle für politisch-liberale Bildung spielen sollte (mit einigen geringfügigen Ausnahmen), sollte die soziale Integration mehr Aufmerksamkeit und vielleicht zusätzliche Ressourcen im Kontext von Bildung erhalten.
8.1 Grenzen in der realistischen Utopie Rawls’ Schriften über den politischen Liberalismus können aufgrund der Art und Weise, wie er die politisch-liberale ursprünglich konzipiert hat, keine direkten Richtlinien dafür liefern, wie sie mit Immigrant:innen umgehen sollte: Die wohlgeordnete Gesellschaft ist eine geschlossene Gesellschaft, in der Immigration nirgendwo als drängende Fragen der Gerechtigkeit auftaucht. Selbst Rawls’ späte Arbeit über internationale Gerechtigkeit, The Law of Peoples, ist hier weniger hilfreich, als man erwarten könnte. Es diskutiert ausführlich die gerechten internationalen Beziehungen zwischen Gesellschaften, sagt aber fast nichts über den Platz von Einzelnen in seiner Darstellung internationaler Beziehungen.2 Es ist wichtig zu beachten, dass es in der utopische internationale Welt laut Rawls Grenzen geben muss. Nach seiner Ansicht sind Staatsgrenzen nicht kontingent, sondern notwendig, da sie das Territorium definieren, welches er als das Eigentum eines Volkes versteht (2002b, S. 8 und S. 30–38). Unabhängig davon, ob diese Behauptung überzeugend ist oder nicht, genügt es für den Moment, zu akzeptieren, dass abgegrenzte Nationalstaaten auch unter der Idealisierung der politisch-liberalen Theorie vorausgesetzt werden. Gleichzeitig bietet sie keine Darstellung von Immigration oder Migration im Allgemeinen an, da behauptet wird, dass Migration in dem von ihr angenommenen internationalen Umfeld nicht stattfindet. Rawls selbst gibt offen zu, dass seine Theorie internationaler Gerechtigkeit aus gutem Grund nichts über Migration zu sagen hat: „Das Problem der Migration wird nicht einfach beiseitegelassen, sondern es wird als ernstes Problem in einer realistischen Utopie verschwinden“ (2002b, S. 9). Alle politischen Gründe für Migration, wie religiöse Unterdrückung, Verweigerung grundlegender Rechte, aber auch humanitäre Katastrophen wie Hungersnöte (wie Rawls argumentiert, sind sie hauptsächlich durch politisches Versagen verursacht) werden in einer realistischen Utopie, die aus wohlgeordneten und anständigen Gesellschaften besteht, nicht auftreten – anständige Gesellschaften sind solche, die nicht nach einer liberalen Theorie der Gerechtigkeit geordnet sind, die aber dennoch tolerierbar sind, da sie bestimmte Anforderungen erfüllen (2002b, S. 59–60).
2 Die
nahezu ausschließliche Konzentration auf Nationalstaaten und der Mangel an Kommentaren zum moralischen Status von Individuen in The Law of Peoples ist, nicht überraschend, der Gegenstand zahlreicher kritischer Betrachungen, siehe z.B., Tan (1998), Beitz (2000), Caney (2002), Benhabib (2004), Glover (2011).
8.2 Utopische Migration
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Der nächste Abschnitt wird jedoch zeigen, dass Migration für eine „Gesellschaft von Völkern“ ein relevantes moralisches Problem darstellt, da es Gründe für Migration gibt, die das Rahmenwerk von Rawls selbst für die internationalen Beziehungen anerkennt.
8.2 Utopische Migration Es ist sinnvoll, über Migration im Kontext politisch-liberaler Theorie zu sprechen, weil auch in einer realistischen Utopie verschiedene Ursachen für Migration bestehen. Selbst in einer internationalen Gemeinschaft, die nur aus wohlgeordneten und anständigen Gesellschaften besteht, würden einige Individuen aus persönlichen Gründen migrieren – Religion, Kultur, Klima, Liebe, um nur einige zu nennen. Rawls kann Migration als politischen Faktor nicht verschwinden lassen, selbst unter idealisierten Bedingungen. Darüber hinaus besteht Rawls „Gesellschaft von Völkern“ nicht nur aus diesen beiden Arten von Völkern. Es gibt auch, was er „Outlaw-Staaten“, „belastete Gesellschaften“ und „gutmütige Absolutismen“ nennt (2002b, S. 63). Die Politik, die die Nationalstaaten solcher Völker definiert, basiert nicht auf liberalen Prinzipien. Die Mitglieder von belasteten Gesellschaften könnten nur beschränkte oder keine politischen und persönlichen Rechte haben und unter einer ungerechte Verteilung von Ressourcen leiden. Diese Art von Unterdrückung und wirtschaftlicher Not in solchen Staaten bietet hervorragende Gründe für ihre Bürger:innen, in wohlgeordnete Gesellschaften mit besseren Lebensbedingungen umzusiedeln, und sie könnte zu einer erheblichen Menge an Migration führen, genau wie bestehende liberal-demokratischen Staaten sie derzeit erleben. Selbst ein idealisierter politisch-liberaler Staat würde sich daher um Immigrant:innen kümmern müssen, insbesondere um solche aus belasteten Gesellschaften, und wir können einige indirekte Annahmen darüber machen, wie eine wohlgeordnete politisch-liberale Gesellschaft mit Immigrant:innen umgehen könnte. Eine Behauptung von The Law of Peoples ist, dass alle liberal-demokratischen Gesellschaften Menschenrechte respektieren werden (2002b, S. 37). Wir können davon ausgehen, dass Rawls hier Rechte im Sinn hat, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Universal Declaration of Human Rights, UDHR) der Generalversammlung der Vereinten Nationen (1948) festgelegt wurden – manchmal schreibt er über sie als normativen Prinzipien, die aus abstrakten Rechtfertigungen abgeleitet wurden, manchmal bezieht er sich auf Menschenrechte als eine langjährige internationale Praxis. Was auch immer seine ursprünglichen Gedanken zu diesem Thema gewesen sein mögen, so erscheint es doch plausibel, dass ähnliche Menschenrechte, wie sie in der UDHR formuliert sind, für Rawls’ ideale politische Theorie relevant sind. Wichtig in der Diskussion über Einwanderung sind Artikel 13 bis 15 der UDHR, die das Recht jeder einzelnen Person auf Verlassen ihres Landes (13.2), auf Asyl vor ungerechter Verfolgung (14) und in gewissem Umfang auch das Recht auf Staatsangehörigkeit
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(15) deklarieren. Diese Artikel implizieren, dass zumindest politische Flüchtlinge ein Recht auf Einwanderung haben, wenn auch nur vorübergehend als Asylsuchende. Manchmal gibt es jedoch ganz offensichtlich keinen Ort, an den diese Immigrant:innen zurückkehren könnten. In diesen Fällen werden sie de facto zu langfristigen Einwohnern. Angenommen, dass Prinzipien, die ähnlich den in der UDHR erklärten Rechten sind, für eine wohlgeordnete Gesellschaft relevant sind, so erscheint es plausibel, dass eine solche Gesellschaft einen Anteil an Einwanderung haben wird. Selbst mit strikten Richtlinien für Einwanderungskontrolle muss eine wohlgeordnete Gesellschaft, die Menschenrechte respektiert (wie Rawls es in internationalen Kontexten vorschlägt), Immigrant:innen aus Outlaw-Staaten oder belasteten Gesellschaften zulassen, von denen einige wahrscheinlich dauerhaft bleiben werden. Dies bedeutet, dass die Einwanderung tatsächlich ein relevantes Thema für eine politisch-liberale Gesellschaft ist. Selbst für eine utopische „Gesellschaft der Völker“ müssen wir bestimmen, inwieweit die Rechte und Pflichten bezüglich Bildung auf die Beziehung zwischen dem politisch-liberalen Staat und Immigrant:innen anwendbar sind. Ich werde versuchen, dies im nächsten Abschnitt zu tun.
8.3 Der politische Status von Immigrant:innen Inwieweit unterscheiden sich Immigrant:innen von Bürger:innen hinsichtlich der Anforderungen an sie und der Freiheiten, die ihnen zustehen, wenn es um die Erziehung ihrer Kinder geht? In einem ersten Schritt erscheint es sinnvoll, Immigrant:innen im moderat idealisierten Kontext einer politisch-liberalen Theorie in zwei Kategorien zu unterscheiden – jene aus anderen wohlgeordneten und aus anständigen Gesellschaften und jene aus belasteten Gesellschaften und Outlaw-Staaten. Der relevante Unterschied zwischen diesen beiden Gruppen liegt in der Entwicklung von Einstellungen und Wissen über ihre politische Autonomie, ihre politischen Tugenden und über ihre Rechte und Pflichten in einer wohlgeordneten Gesellschaft. Ich gehe davon aus, dass die Einstellungen und das Wissen von Menschen, die aus einer wohlgeordneten Gesellschaft in eine andere wohlgeordnete Gesellschaft oder aus einer anständigen Gesellschaft in eine wohlgeordnete Gesellschaft migrieren, denen einheimischer Bürger:innen der Gastgesellschaft ausreichend ähnlich sein werden. Hinsichtlich staatsbügerlicher Bildung sind diese Immigrant:innen einheimischen Bürger:innen ähnlich genug, sodass dem, was bereits in den vorherigen Kapiteln gesagt wurde, nicht mehr hinzugefügt werden braucht. Im Gegensatz dazu werden Immigrant:innen aus belasteten Gesellschaften und Outlaw-Staaten wahrscheinlich in ihren relevanten politischen Einstellungen von einheimischen Bürger:innen einer wohlgeordneten Gesellschaft abweichen. Aufgrund der Tatsache, dass sie in einem politischen System aufgewachsen sind und gelebt haben, das nicht auf liberal-demokratischen Prinzipien basiert,
8.3 Der politische Status von Immigrant:innen
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kann man plausibel annehmen, dass ihre staatsbürgerliche Bildung (falls überhaupt vorhanden) sich von liberaler staatsbürgerlicher Bildung unterscheidet. Es ist wahrscheinlich, dass sie in ihrem Herkunftsland nur über begrenzte oder keine Grundrechte verfügten, die in einer wohlgeordneten Gesellschaft als selbstverständlich angesehen werden, und dass ihr politisches Umfeld weder liberale Gerechtigkeit erforderte noch bereitstellte. Durch solche ungünstigen Bedingungen geprägt, kann man von Immigrant:innen aus belasteten Gesellschaften erwarten, dass sie in ihren politischen Überzeugungen und Einstellungen bedeutend von einheimischen Bürger:innen wohlgeordneter und anständiger Gesellschaften abweichen. An dieser Stelle muss betont werden, dass immer dann, wenn ich in der folgenden Diskussion auf Immigrant:innen (oder einheimische Bürger:innen) Bezug nehme, ich damit keine Aussagen über tatsächliche Immigrant:innen in tatsächlichen Gesellschaften mache. Vielmehr sind die Immigrant:innen, über die ich hier nachdenke, auf die gleiche Weise abstrahiert wie die Bürger:innen einer wohlgeordneten Gesellschaft im Kontext politisch-liberaler Theorie. Meine Annahme ist, dass idealisierte Immigrant:innen aus belasteten Gesellschaften und Outlaw-Staaten (in der Rawls’schen Definition) einen ausreichend unterschiedlichen kulturellen und politischen Hintergrund von Bürger:innen einer wohlgeordneten Gesellschaft haben. Wie diese Bürger:innen ähneln idealisierte Immigrant:innen immer noch ihren realen Gegenstücken in Bezug auf ihre grundlegenden motivationalen und epistemischen Merkmale. Allerdings ist genau wie die moderate Idealisierung von Bürger:innen selbst die Idealisierung von Immigrant:innen ein analytisches Werkzeug und bestimmt nicht als allgemeingültige Aussage über Immigrant:innen im wirklichen Leben gedacht. Es gibt einen einfachen Grund für diese Strategie: Wenn man zeigen kann, welche Bildungsmaßnahmen ein politisch-liberaler Staat für Immigrant:innen bereitstellen sollte, die einheimischen Bürger:innen in ihrem politischen Hintergrund am unähnlichsten sind, wird dies weniger anspruchsvollen Fälle ebenfalls abdecken. Wie bereits zuvor erwähnt, zielt dieses Kapitel darauf ab zu zeigen, dass selbst die konservativste, nationalistischste Interpretation des politischen Liberalismus über die Bildung von Kinder mit Migrationshintergrund nachdenken muss. Durch die Verwendung ein solche stark vereinfachten Charakterisierung von Immigrant:innen wendet es die gleiche Strategie an, um zu beschreiben, was insbesondere für Kinder der am wenigsten liberale und demokratisch eingestellten Elterngruppen zu tun ist, Kinder, die zu Hause keiner liberal-demokratischen Hintergrundkultur ausgesetzt sind. Es ist ein Versuch, das weiteste Netz zu spannen, um so vielen Kindern mit Migrationshintergrund wie möglich Bildungsmaßnahmen zugute kommen zu lassen. In diesem abstrakten Kontext ist es eine nützlich, die Unterschiede zwischen Immigrant:innen aus belasteten Gesellschaften und Kindern aus wohlgeordneten Gesellschaften bezüglich ihres Wissens und ihrer Unterstützung zentraler Ideen des politischen Liberalismus zu vergleichen. Auf diese Weise lassen sich einige vernünftige Vermutungen über die Anforderungen an die Bildung von Kinder mit Migrationshintergrund anstellen. Im Folgenden werde ich das Verhältnis von
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Immigrant:innen zu politischen Tugenden, Autonomie und Rechten erörtern und die möglichen Unterschiede zu einheimischen Bürger:innen aufzeigen. Durch diesen Vergleich wird es leichter zu bestimmen, ob und wie sich eine politisch-liberale Bildung die unterschiedlichen Hintergründe von Migrationsfamilien anpassen sollte.
8.3.1 Politische Tugenden Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Immigrant:innen (wie oben beschrieben) nicht über das Spektrum an politischen Tugenden verfügen, die ein politischliberales Staatswesen erfordert, zumindest nicht in dem Maße, wie es die einheimischen liberalen Staatsbürger:innen tun. Das wird auch für ihre Kinder gelten, und selbst wenn diese in einer wohlgeordneten Gesellschaft aufwachsen, wird dies in einer Familie geschehen, die möglicherweise nicht dasselbe Erziehungsniveau in Bezug auf politische Tugenden bietet wie Familien „einheimischer Liberaler“. Der größte moralische Mangel von Immigrant:innen einer politisch-liberalen Gesellschaft wäre das Fehlen eines Gerechtigkeitssinns oder ein zwar entwickelter Gerechtigkeitssinn, der sich jedoch auf wesentlich andere Gerechtigkeitsnormen bezieht als denen, die in der Gastgesellschaft vorherrschen. Wenn der Gerechtigkeitssinn eines der wesentlichen definierenden Kriterien liberaler Staatsbürger:innen ist, könnten Immigrant:innen mit einem divergenten Gerechtigkeitssinn erhebliche Schwierigkeiten haben, Teil des reziproken politischen Projektes ihrer neuen Gesellschaft zu werden. Darüber hinaus könnte es sein, dass einheimische Bürger:innen Immigrant:innen nicht als vollständig gleichberechtigte Teilnehmer an einem gemeinsamen Projekt sozialer Kooperation akzeptieren, nicht nur aufgrund kultureller Unterschiede, sondern auch aufgrund von Unterschieden in jeweils internalisierten Vorstellungen von Gerechtigkeit.3 Es erscheint plausibel anzunehmen, dass Menschen, die aus unterschiedlichen Gesellschaften kommen, eine solche Vielfalt an Gerechtigkeitsvorstellungen mit sich bringen. Fairnessnormen variieren kulturell, und obwohl es scheint, dass es Variationsgrenzen gibt, sind Menschen aus unterschiedlichen Kulturen an unterschiedliche Standards dafür gewöhnt, was als fair gilt und was nicht (Bicchieri 2006, insbesondere Kap. 3). Obwohl es zweifellos einen Unterschied zwischen
3 An
dieser Stelle möchte ich Leser:innen noch einmal daran erinnern, dass es sich hierbei um eine absichtlich ungünstige Abstraktion von Immigrant:innen aus bestimmten Gesellschaftstypen handelt, wie Rawls sie in seinem späteren Werk charakterisiert. Trotzdem erscheint es plausibel anzunehmen, dass Immigrant:innen unter realistischen Umständen auch mit Unterschieden zwischen den sozialen Normen ihrer Herkunfts- und Aufnahmeländer umgehen müssen. Wie schnell und erfolgreich sie dabei sind, hängt wahrscheinlich von einer Reihe von Faktoren ab, z. B. ihrem Bildungsniveau und der Ähnlichkeit der Hintergrundkulturen in beiden Gesellschaften. Unter viel differenzierteren realen Bedingungen ist es jedoch weiterhin plausibel, anzunehmen, dass Aufnahmeländer darauf abzielen sollten, die Integration von Kindern von Immigrant:innen in Bildungskontexten zu erleichtern.
8.3 Der politische Status von Immigrant:innen
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Gerechtigkeitskonzeptionen und Farinessnormen gibt, nehme ich an, dass beide eng genug miteinander verbunden sind, so dass auch Gerechtigkeitskonzeptionen selbst zwischen Gesellschaften entlang eines gewissen Spektrums variieren können. Eine solche Vielfalt an Gerechtigkeitskonzeptionen spiegelt sich auch in Rawls’ Behauptung wider, dass der Inhalt der liberalen Idee öffentlicher Vernunft durch eine Reihe unterschiedlicher Gerechtigkeitskonzeptionen bestimmt werden kann, solange diese einige grundlegende Bedingungen erfüllen (2002a, S. 140– 148). Die Gerechtigkeitskonzeptionen, die für Immigrant:innen aus belasteten oder Outlaw-Staaten normal erscheint, könnten aus der Perspektive einer wohlgeordneten Gesellschaft jedoch nur zum Teil akzeptabel sein. In Bezug Bildung ist der Sinn für Gerechtigkeit als politische Tugend besonders relevant (siehe Kap. 3). Einerseits ist dies auf die zentrale Bedeutung dieser politischen Tugend für das politisch-liberale Ideal einer gerechten und fairen Gesellschaft zurückzuführen. Andererseits soll der Gerechtigkeitssinn eine Tugend sein, die sich von Kindheit an und zunächst im familiären Kontext entwickelt. Wenn dies zutrifft, könnten Kinder von Immigrant:innen zumindest teilweise einen geeigneten privaten Hintergrund vermissen, um den Gerechtigkeitsinn zu entwickeln, den die politisch-liberale Gesellschaft erfordert. Folglich müsste die staatsbürgerliche Bildung von Kindern mit Migrationshintergrund mehr in die Förderung ihres Gerechtigkeitssinns investieren als für die Kinder einheimischer Bürger:innen.
8.3.2 Autonomie Politische Liberale sollten, wie ich in Kap. 4 argumentiert habe, an zwei verschiedenen Autonomiekonzeptionen interessiert sein. Die erste ist eine Konzeption politischer Autonomie, die das Wissen über den eigenen Status als Bürger:in und über die damit verbundenen Rechte sowie das Wissen um deren Nutzung umfasst. Die zweite ist eine schwache, prozeduralistische Autonomiekonzeption. Schwache Autonomie spielt eine wichtige Rolle in der politisch-liberalen Bildung, da sie die Grundlage für eine umfassende Ausübung des ersten moralischen Vermögens von Bürger:innen ist, um ihre ethische Vorstellung des Guten aufrechtzuerhalten und, falls erforderlich, zu ändern. Es ist auch ein erstes notwendiges Bauelement für spezifischere Autonomiekonzeptionen wie etwa politische Autonomie. Die Vorstellung von schwacher Autonomie, die eine allgemeine Ansicht von menschlichen Akteur:innen als Ursachen von Ereignissen voraussetzt, ist wahrscheinlich universell genug, dass kein:e Immigrant:in sie als völlig fremdartig ansieht. Ich gehe davon aus, dass diese Auffassung sozusagen epistemisch leicht verfügbar ist, selbst für Menschen, die nicht in einer wohlgeordneten Gesellschaft sozialisiert wurden. Die damit verbundenen Anforderungen, andere aufgrund ihrer Stellung als autonome Akteur:innen auf bestimmte Weise zu behandeln, sind jedoch nicht so allgemein akzeptiert. Noch weniger gilt das vermutlich für eine noch komplexere und spezifischere Auffassung von politischer Autonomie, die
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8 Immigration und Integration
eng mit Vorstellungen von individuellen Rechten verbunden ist. Am wichtigsten in Bezug auf individuelle Autonomie sind jene Rechte, die die Position eines Individuums gegen ungerechtfertigte Forderungen anderer Akteur:innen – Individuen sowie Vereinigungen und der Staat – sichern. Zu diesen Rechten (viele von denen einige technisch gesehen Freiheiten sind, wie in Kap. 5 diskutiert) gehören persönliche Freiheitsrechte, z. B. das Recht auf Religions- und Gewissensfreiheit, das Recht auf Meinungs- und Redefreiheit oder das Recht auf Vereinigungsfreiheit. Aber zu den Rechten, die mit politischer Autonomie verbunden sind, gehören auch politische Rechte, wie etwa gleiche Rechte und Freiheiten, am politischen Prozess teilzunehmen und an der Gestaltung der Politik einer Gesellschaft mitzuwirken. Immigrant:innen aus Outlaw-Staaten oder gutmütigen Absolutismen sind wahrscheinlich nicht daran gewöhnt, ein solches Sprektrum an Rechten zu haben, und werden diese Rechte daher vielleicht auch nicht anerkennen, wenn es um ihre Mitbürger:innen geht. Sowohl Kinder inländischer Bürger:innen als auch Kinder von Immigrant:innen müssen etwas über politische Autonomie lernen. Dennoch gibt es Unterschiede zwischen diesen beiden Gruppen. Die Implikationen schwacher Autonomie, wie die Freiheit, seine Vorstellungen vom guten Leben zu ändern, könnten für Kinder inländischer Bürger:innen in einer wohlgeordneten Gesellschaft bereits etwas Vertrautes sein, auch ohne zusätzliche Unterstützung durch Bildungseinrichtungen. Selbst Kinder inländischer Bürger:innen aus sehr religiösen oder kulturell segregierten Milieus bekommen in der Regel genügend Informationen über die Welt außerhalb der epistemischen Blase ihrer umfassenden Lehre, um zu erkennen, dass diese Ideen in der breiten Gesellschaft vorhanden sind und allgemein geschätzt werden.4 Im Gegensatz dazu könnten Immigrant:innen mit einem anderen sozio-kulturellen Hintergrund, in dem die Verbindung zwischen dem ersten moralischen Vermögen und dem Status als autonome:r Akteur:in nicht so deutlich formuliert und/oder geschätzt wird, diese Sichtweise als fremd empfinden. Es besteht die deutliche Möglichkeit, dass Kinder mit Migrationshintergrund in ihrer Familienumgebung ein Element solcher mit Autonomie verbundener Wertschätzung vermissen und selbst nicht entwickeln, auch wenn ihre Eltern sie in ihre neuen Gesellschaft integrieren wollen. Um eine solche Entwicklung zu verhindern, sollte die Bildung von Kindern aus Migrationsfamilien den Schwerpunkt auf einer schwachen Konzeption der Autonomie (siehe Abschn. 4.3) legen, die eine Bedingung für die Entwicklung des ersten moralischen Vermögens ist, eine der Kapazitäten durch die Bürger:innen definiert werden. Aus diesen Gründen muss die politisch-liberale Bildung vielleicht etwas mehr Aufwand in die Erziehung für schwache Autonomie investieren – vielleicht sogar noch mehr, da es bei Kindern mit Migrationshintergrund Tendenzen geben
4 Stark
abgesonderte Gruppen wie die Old Order Amish in den USA könnten ein Grenzfall sein. Obwohl die Amish sicherlich aus rechtlicher Sicht Staatsbürger:innen sind, scheint mir, dass sie aus einer politisch-liberalen Perspektive, die bestimmte Annahmen über politische Tugenden und Autonomie macht, vielleicht nicht als vollwertige Staatsbürger:innen gelten könnten.
8.3 Der politische Status von Immigrant:innen
213
könnte, in der Kultur ihrer Eltern nach Quellen für eine eigene Identität zu suchen, was zu wesentlichen Missverständnissen und manchmal sogar zu kulturellen oder religiösen Extremismen führen kann. Darum scheint es wichtig, dass der politisch-liberale Staat eine Art Brücke zwischen der ursprünglichen Kultur von Immigrant:innen und der Kultur der wohlgeordneten Gesellschaft bereitstellt, die es Immigrant:innen ermöglicht, • wertvolle Elemente ihrer ursprünglichen Kultur als sinnvolle Teile ihrer Identität und als wertvollen Kontext für autonome Entscheidungen5 zu bewahren und • sich mit der Kultur der aufnehmenden Gesellschaft wohl genug zu fühlen, um nicht in eine extreme Identifikation mit ihrer ursprünglichen Kultur zu verfallen und dadurch Auswirkungen sozialer Segregation zu erhöhen (siehe z. B. Skrobanek 2009). Das bedeutet jedoch, dass Bildung für Kinder mit Migrationshintergrund im Gegensatz zur Bildung für Kinder einheimischer Bürger:innen ein größeres Gewicht auf wertvolle Aspekte deren kulturellen Erbes legen muss, soweit diese mit grundlegenden liberalen Prinzipien vereinbar sind. Sie muss deutlich signalisieren, dass die Identifikation mit der Kultur und den Traditionen der Eltern nicht nur toleriert, sondern auch als Teil der Entwicklung einer Kapazität für verschiedene Formen von Autonomie unterstützt wird. Die Erziehung zur Autonomie könnte daher im Falle von Kindern aus Migrationsfamilien aus legitimen Gründen mehr Ressourcen erfordern.
8.3.3 Rechte Was Rechte angeht, sind die Unterschiede zwischen Immigrant:innen und einheimischen Bürger:innen am offensichtlichsten – Immigrant:innen haben nicht unbedingt die gleichen Rechte wie Bürger:innen, auf gesetzlicher wie auch auf moralischer Ebene. Wie genau sich die spezifischen Rechte von Immigrant:innen von denen einheimischer Bürger:innen unterscheiden, hängt einer Vielzahl verschiedener Faktoren ab, die wiederum von der betreffenden Gesellschaft zusammenhängen. Aus gesetzlicher Perspektive fehlen Immigrant:innen in der realen Welt in der Regel eine ganze Reihe von Rechten, die Bürger:innen haben, zumindest für eine gewisse Zeitspanne nach ihrer Immigration, wie ewa das Recht zu wählen. Solche Rechte werden in der Regel durch den Erwerb der Staatsbürgerschaft erworben, die für Immigrant:innen nach einer gewissen Aufenthaltsdauer im Land und durch die Erfüllung bestimmter Mindestbedingungen erfügbar sein kann.6 Es gibt jedoch einige Rechte, z. B. das Recht auf Leben oder Freiheit von 5 Für die Relevanz von Kultur as Kontext für Autonomie siehe z. B. Kymlicka, Ch. 5 (1996) und Quong (2006). 6 Beispiele
sind Staatsbürgerschaftstests für Ausländer:innen, die bestanden werden müssen, um die vollständige Staatsbürgerschaft zu erwerben, wie zum Beispiel in Großbritannien, der Schweiz oder Dänemark. Kriterien dieser Art gelten jedoch nur für reguläre Immigrant:innen. Der moralische Status von irregulären Immigrant:innen ist sicherlich komplexer und kann hier nicht diskutiert werden.
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8 Immigration und Integration
Folter, die auch als Menschenrechte gelten und die Immigrant:innen natürlich zustehen, sobald sie in den politisch-liberalen Staat einreisen. Wie ist es mit moralischen Rechten? Da viele staatsbürgerliche Rechte den Rechten entsprechen, die von der politischen Moral definiert werden, könnten wir hier eine gewisse Analogie finden. Wir erinnern uns daran, dass das System der moralischen Rechte, das Urzustand gewählt wird, Bürger:innen in die Lage versetzen soll, ihre beiden moralischen Vermögen auszuüben (siehe Abschn. 5.1). Angenommen, Immigrant:innen haben auch diese beiden moralischen Vermögen oder zumindest eine Kapazität dazu, und sie beabsichtigen, voll funktionierende Mitglieder der aufnehmenden Gesellschaft zu werden, so scheint die politische Moral Immigrant:innen (zumindest reguläre) in gleiche Weise wie einheimische Bürger:innen behandeln zu müssen. Eine zeitliche Verzögerung, wie z. B. bei Rechten auf Teilhabe am politischen Prozess als Wähler oder politischer Kandidat, könnte gerechtfertigt sein, da Immigrant:innen möglicherweise etwas Zeit benötigen, um sich in ihre neue Gesellschaft zu integrieren. Nach einer angemessenen Zeitspanne scheint es jedoch eine legitime Anforderung für eine wohlgeordnete Gesellschaft zu sein, Immigrant:innen die gleichen Rechte und Pflichten zuzusprechen wie einheimischen Bürger:innen. Dies bedeutet, dass Immigrant:innen als Eltern prima facie ähnliche Privilegienrechte wie einheimische Bürger:innen haben, wenn es um die Erziehung ihrer Kinder in ihren kulturellen und religiösen Traditionen geht, solange diese nicht grundlegendere Rechte verletzen. Gleichzeitig teilen sich die immigrierte Eltern die gleichen Verantwortlichkeiten, ihre Kinder als Treuhänder zu vertreten, da ihre Kinder Anspruchsrechte auf Bildung haben werden, genau wie die Kinder von einheimischen Bürger:innen (siehe Abschn. 5.3). Sie werden auch die gleichen Freiheiten in Bezug auf eine religiöse (oder sonstige besondere) Bildung ihrer Kinder haben (siehe auch Kap. 6). Im Fall der Kinder von mit Migrationshintergrund ist es jedoch möglich, dass der Staat zusätzliche Bildungsmaßnahmen ergreifen kann, um diese Kinder und vielleicht auch die erwachsenen Immigrant:innen selbst in die wohlgeordnete Gesellschaft zu integrieren.7 Diese zusätzlichen Anforderungen ergeben sich aus der Pflicht des Staates, eine gerechte Verteilung von Ressourcen sowie Stabilität und Kontinuität sicherzustellen. Im Fall von Immigrant:innen, die wahrscheinlich weniger in die Gesellschaft integriert sind als einheimische Bürger:innen, muss möglicherweise ein zusätzlicher Aufwand unternommen werden, um ihnen die von der politische-liberalen Gesellschaft angebotenen Grundgüter zugute
7 In
diesem Buch werde ich das Thema der Erwachsenenbildung jedoch nicht behandeln. Dennoch scheint es ein hoch relevantes Thema aus zwei Gründen zu sein. Erstens gelten die gleichen Gründe, aus denen der politisch-liberale Staat den Kindern von Immigrant:innen helfen würde, sich gut in die Gesellschaft zu integrieren, auch für Erwachsene. Zweitens werden bei jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund Integrationsmaßnahmen indirekt Auswirkungen auf die Kinder haben, die sie später im Leben haben könnten, indem sie bereits ein „besser geordnetes“ Familienumfeld schaffen und damit die Chancen einer erfolgreichen Integration ihrer Kinder erhöhen.
8.4 Integration
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kommen zu lassen, während es ihnen gleichzeitig auch ermöglicht werden muss, die zentralen Werte des übergreifenden Konsenses zu akzeptieren. Was Integration in konkreteren Begriffen bedeutet und welche Art von Maßnahmen der politischliberale Staat ergreifen kann, um die Integration von Kindern mit Migrationshintergrund zu fördern, sind Thema des folgenden Abschnitts.
8.4 Integration Die Integration von Immigrant:innen in eine wohlgeordnete Gesellschaft ist aus einer politisch-liberalen Perspektive von großer Bedeutung. Genau wie der Staat Ansprüche gegen seine Bürger:innen geltend machen kann, kann (und sollte, wie wir sehen werden) er gegenüber Immigrant:innen ähnliche Ansprüche geltend machen. Gleichzeitig muss der politisch-liberale Staat auch ausreichende Möglichkeiten für Immigrant:innen und ihre Kinder bieten, sich zu integrieren. Teil dieser Integration sind über Bildungseinrichtungen bereitgestellte Möglichkeiten. Der erste Grund, warum der politisch-liberale Staat sich um Integration kümmern muss, ist, dass er Stabilität und Kontinuität sicherstellen soll. Dies bedeutet unter anderem auch, sich auf die Bildung von Kindern mit Migrationshintergrund zu konzentrieren. Aus einer Perspektive liberaler Stabilität erfordert Integration, dass diese Kinder lernen, wie sie Mitglieder einer politisch-liberalen Gesellschaft werden, ganz ähnlich wie einheimische Kinder. Daher muss ihre staatsbürgerliche Bildung die in den vorherigen Abschnitten besprochenen Punkte umfassen: politische Tugenden, Autonomie und staatsbürgerliche Rechte. Erfolgreiche Integration erfordert jedoch mehr als nur (politische) Assimilation von Kindern mit Migrationshintergrund. Sie verlangt auch, dass die einheimischen Bürger:innen und deren Kinder Immigrant:innen als neue Partner in dem Projekt sozialer Kooperation akzeptieren, von dem sie selbst bereits teil sind. Der zweite Grund für die Bedeutung von Integration liegt in einer gerechten Verteilung von Ressourcen. Bei der Bereitstellung von materiellen Ressourcen oder Geld mag die Integration von Immigrant:innen zwar nicht so relevant sein – der Staat könnte zum Beispiel Migrationsfamilien mit einer Art Grundeinkommen subventionieren. Trotzdem könnten Immigrant:innen weiterhin in stark segregierten Gebieten mit schlechtem Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen und wirtschaftlichen Chancen leben, was ebenfalls in den Bereich der distributiven Gerechtigkeit fällt. „Weiche“ Güter wie Zugang zu wirtschaftlichen und sozialen Chancen können vom Staat ohne ein gewisses Maß and integration nur schwer bereitgestellt werden, da sie in erheblichem Maße von einem Entgegenkommen von Bürger:innen und deren Einstellungen zu Immigrant:innen abhängen. Die Chancen für Kinder von Einwanderern, etwa einen geeigneten Arbeitsplatz zu finden, hängen nicht nur von ihrer Berufsausbildung ab, sondern auch von ihrer Fähigkeit, sich auf sozialer Ebene auf eine akzeptierte Weise mit potentiellen Arbeitgeber:innen zu verständigen, sowie von den Einstellungen von Arbeitgeber:innen gegenüber Personen mit Migrationshintergrund. Beide Faktoren
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können durch eine angemessen integrative Schulausbildung positiv beeinflusst werden. Der verbleibende Teil dieses Abschnitts wird die Bedeutung der Integration für eine politisch-liberale Gesellschaft unter Berücksichtigung der bisher genannten Gründe dafür, warum sich der politisch-liberale Staat darum kümmern sollte, näher erläutert. Es wird keine erschöpfende Antwort auf die Frage geben, wie die Integration von Kindern mitMigrationshintergrund unter realistischen, wenn auch moderat idealisierten politischen Bedingungen am besten unterstützt werden kann. Dies würde viel mehr Zeit und Raum erfordern, als in diesem Buch zur Verfügung steht, und eine gewisse fachliche Kompetenz im Bildungsbereich, die mir fehlt. Ich werde jedoch versuchen, einige grobe Anhaltspunkte dafür zu liefern, wonach integrative Bildung in einer politisch-liberalen Gesellschaft streben sollte. Zunächst müssen wir anerkennen, dass die Integration in eine neue Gesellschaft auf vielen Ebenen stattfindet, die für Immigrant:innen und den Staat jeweils unterschiedliche Herausforderungen darstellen. Für die folgende Diskussion über Integration wird eine Unterscheidung zwischen drei verschiedenen Integrationsstufen nützlich sein, die David Miller macht. Miller unterscheidet zwischen sozialer, bürgerlicher und kultureller Integration. Soziale Integration umfasst Verhaltensmuster in der regelmäßigen alltäglichen Interaktion mit Mitgliedern der Gesellschaft. Bürgerliche Integration umfasst das Verständnis und die Anpassung an Prinzipien und Normen, die für die Mitgliedschaft in der relevanten politischen Gemeinschaft unerlässlich sind. Kulturelle Integration ist die am wenigsten eindeutige der drei Ebenen, die entweder auf gemeinsame Werte, gemeinsame Erfahrungen, eine gemeinsame Religion, ein gemeinsames geographisches Erbe oder auf eine andere Form gemeinsamer kultureller Identität verweisen können (2016, S. 132–133).8 Für Kinder von Einwanderern hat Bildung auf allen drei Ebenen Auswirkungen auf ihren Integrationsprozess, obwohl nicht jede Ebene aus einer politischliberalen Perspektive die gleiche Bedeutung hat. Aus der strikt Rawls’schen politisch-liberalen Perspektive scheint die staatsbürgerliche Integration das zu sein, worum wir uns am meisten kümmern sollten, weil sie die Unterstützung politischer Normen und die Entwicklung politischer Tugenden sowie das Wissen um und die Achtung vor politischen Rechten umfasst – nach Rawls’ eigener Minimaledefinition staatsbürgerlichen Bildung die grundlegenden Fähigkeiten funktionaler Bürger:innen (siehe Abschn. 2.2). Ein großer Teil der Integration von Kindern wird bereits durch die Anforderungen und Einschränkungen staatsbürgerlicher Bildung abgedeckt, die in den vorherigen Kapiteln besprochen wurden. Wir haben bereits festgestellt, dass das Einprägung politischer Tugenden und ein Wissen über die Rechte und Pflichten von Bürger:innen in der wohlgeordneten Gesellschaft bereits ein wesent-
8 Miller
denkt, dass nur soziale und bürgerliche Integration von Seiten des Staates gefördert werden kann (oder in gewissem Maße auch gefordert werden kann, vor allem in Bezug auf die staatsbürgerliche Integration), aber nicht die kulturelle Integration.
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licher Bestandteil staatsbürgerlichen Bildung für einheimische Kinder ist (siehe Kap. 3 und 5). Inwieweit Kinder mit Migrationshintergrund aufgrund des Fehlens politisch-liberaler Grundhaltungen zu Hause in ihrer Familie einen erhöhten Bedarf an dieser Art von Bildung haben, ist eine Frage der konkreten politischen und sozialen Umstände, und zu spezifisch hier beantwortet zu werden. Mein Eindruck ist jedoch, dass der Teil der politisch-liberalen Bildung, der sich auf die Entstehung politischer Tugenden bei zukünftigen Bürger:innen und die Vermittlung grundlegender Kenntnisse über politisch Institutionen, Rechte, Pflichten usw. richtet, möglicherweise bereits ausreichend zur staatsbürgerlichen Integration von Kindern mit Migrationshintergrund beiträgt. Was soziale und kulturelle Integration betrifft, ist es nicht unwahrscheinlich, dass Rawls selbst diese Arten der Integration hauptsächlich als eine Angelegenheit der Hintergrundkultur einer Gesellschaft betrachten und nicht als ein Aufgabe betrachten würde, die in die politische Sphäre gehört. Dies wäre jedoch eine irreführende Annahme. Zumindest die soziale Integration ist für den politischliberalen Staat von Bedeutung, und vielleicht sogar einige Aspekte der kulturellen Integration. Wenn wir uns tatsächliche Gesellschaften ansehen, können wir beobachten, dass eine gescheiterte soziale Integration zu ungerechter Verteilung führt, ohne dass Bürger:innen und Immigrant:innen bewusst zum Mangel an integrativen Erfolgen beitragen. Hindernisse bei der Integration sind nicht immer ungerechte politische Systeme und Gesetze, sondern können auch aus Faktoren entstehen, die scheinbar nichts mit Gerechtigkeit zu tun haben. Ein Beispiel für die Risiken, die mit einem Mangel an sozialer Integration verbunden sind, ist das Risiko der sozioökonomischen Segregation durch räumliche Segregation (Anderson 2010, S. 46–47 und 72–73).9 Während das eine nicht unbedingt gleich auch das andere bedeutet, treten beide Arten von Segregation oft zusammen auf. Ein Beispiel dafür sind Gesellschaften, in denen es erheblich an sozialer Integration mangelt und in denen Immigrant:innen sich eher in Stadtteilen konzentrieren, in denen nur wenige Einheimische leben. Gründe dafür sind oft günstigen Wohnkosten und die Tatsache, dass Unterkünfte in Gegenden, die von Einheimischen gemieden werden, leichter verfügbar sind, was zu einer räumlichen Segregation zwischen Migrationsgemeinschaften und einheimischen Gemeinschaften führt. Diese räumliche Segregation verstärkt in Folge die soziale Segregation und führt in der Regel auch zu wirtschaftlicher Segregation. Eine der Ursachen, die zur räumlichen Segregation führen, kann ein Phänomen sein, das an sich moralisch neutral ist: Gruppen-Vorurteile oder Ethnozentris-
9 Anderson konzentriert sich auf die Beziehung zwischen den schwarzen und weißen Bevölkerungsanteilen in nordamerikanischen Städten. Ähnliche Muster der räumlichen Segregation von Migrationsgemeinschaften können jedoch auch in Europa beobachtet werden, siehe z. B. Musterd und Winter (1998); Arbaci (2007); Tammaru et al. (2016). Während die sozioökonomischen Details der europäischen Fälle von ihren US-amerikanischen Gegenstücken und untereinander differieren, gilt das breite normative Skizzenbild dieses Abschnitts für Segregation im Allgemeinen, solange sie in ungerechtfertigter politischer und distributiver Ungleichheit resultiert.
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mus. Diese Einstellungen werden nicht als Feindseligkeit gegenüber anderen Gruppen in der Gesellschaft ausgedrückt, sondern resultieren in einer Präferenz für die Mitglieder der eigenen Gruppe, wobei die Gruppenzugehörigkeit durch Religion, Ethnizität, Herkunft, Bildung oder andere Faktoren definiert werden kann (Brewer 1999). Einheimische Bürger:innen können die Nähe und soziale Interaktion mit anderen einheimischen Bürger:innen bevorzugen, selbst wenn sie keine diskriminierenden Einstellungen gegenüber Immigrant:innen haben. Gleichzeitig können Immigrant:innen die Gemeinschaft mit anderen Immigrant:innen bevorzugen, die ihren kulturelle Hintergrund, ihre Traditionen und ihre Sprache teilen. So können selbst in einer wohlgeordneten Gesellschaft segregierte Gemeinschaften entstehen.10 Die Absonderung von Migrationsgemeinschaften erhöht das Risiko von ungünstigen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen. Der Zugang zu Beschäftigungsmöglichkeiten für Immigrant:innen wird schwieriger, entweder aufgrund der rohen Tatsache räumlicher Diskrepanz (geeignete Jobs sind weiter entfernt und erfordern Pendelzeiten, die in Bezug auf Zeit und Geld teuer sind) oder aufgrund des Fehlens von kulturellem und sozialem Kapital, das den Zugang zu Beschäftigungsmöglichkeiten erleichtert (Anderson 2010, Kap. 2). Insofern die Segregation von Migrationsgemeinschaften auch zu einem Defizit an Sprachkenntnissen im Vergleich mit einheimischen Bürger:innen führt, hat dies auch negative Auswirkungen auf die wirtschaftlichen Möglichkeiten von Immigrant:innen (siehe z. B. Chiswick und Miller 2002). Die durch solche Bedingungen entstehenden Verteilungsunterschiede können in einer politische-liberalen Gesellschaft kaum gerechtfertigt sein. Angemessene politisch-liberale Bildungsmaßnahmen müssen solchen ungünstigen Auswirkungen von Segregation entgegenwirken. Eine direkte Maßnahme wäre die Bereitstellung geeigneter Schulen, die leicht von abgesonderten Gemeinschaften aus erreichbar sind, so dass der Schulweg von Kindern weder zu hinsichtlich Geld noch hinsichtlich Geld zu kostspielig wird oder Eltern anderweitig belastet. Wenn Schulen in diesen Gebieten nicht leicht verfügbar sind, müsste der Staat alternativ Transportmöglichkeiten für Kinder aus segregierten Migrationsgemeinschaften bereitstellen, um verfügbare Schulen zu erreichen.11 Vielleicht wäre dies
10 In
gewissem Maße werden auch einheimische Bürger:innen von Voreingenommenheit gegenüber ihren eigenen Gruppen motiviert. Mitglieder religiöser Gemeinschaften können beispielsweise Menschen mit ähnlichen religiösen Überzeugungen bevorzugen. Trotzdem teilen die Mitglieder einer Gruppe eine gemeinsame politische Kultur und zumindest in gewissem Umfang eine gesellschaftliche Hintergrundkultur mit Mitbürger:innen außerhalb ihrer Gruppe, was bei neuen Immigrant:innen nicht der Fall ist. 11 Welche Maßnahmen in einem gegebenen Kontext wirksam sind, ist eine empirische Frage, die jenseits der Möglichkeiten der normativen Philosophie liegt und deren Antwort wahrscheinlich aufgrund von historischen und aktuellen soziopolitischen Umständen unterschiedlich ausfallen kann. Um ein Beispiel zu geben: Laut einigen empirischen Studien ist Schultransport vielleicht nur die zweitschlechteste Lösung. Forschungen zu Praktiken des „Desegregation Busing“ (Schultransporte von schwarzen Kinden zu vornehmlich weißen Schulen mit dem Ziel von weniger Segregation im Schulunterricht) in den USA fanden verschiedene ungünstige
8.4 Integration
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sogar der bevorzugte Weg, da er eine multikulturelle Schulbildung ermöglicht – was die Integration fördern und einer weiteren Reihe von ungünstigen Auswirkungen von Segregation entgegenwirken könnte. Neben wirtschaftlichen Nachteilen kann die Segregation von Immigrant:innen auch einen negativen Einfluss auf die gesellschaftliche Kohäsion haben. Anhaltende Segregation kann zur Entwicklung von Stereotypen und ethnozentrischen Attributionsfehlern führen, welche eine soziale Kooperation zwischen Migrationsgemeinschaften und einheimischen Gemeinschaften untergraben. Einheimische Bürger:innen könnten eine stereotypische Wahrnehmung von Immigrant:innen entwickeln, die auf einem Mangel an Erfahrung mit deren Lebensbedingungen beruht. Sie könnten die schlechten sozioökonomischen Bedingungen von Immigrant:innen fälschlicherweise auf allgemein wahrgenommene Charaktermerkmale zurückführen, anstatt auf Segregation und institutionelle Fehler (Anderson 2010, S. 46).12 Solche psychologischen Mechanismen sind mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit mit nachteiligen Auswirkungen auf das Vertrauen zwischen verschiedenen Gemeinschaften verbunden und werden es daher erschweren, ein stabiles reziprokes Kooperationsprojekt aufrechtzuerhalten, das auf der Annahme von Gleichheit beruht.13 Bürger:innen könnten weniger bereit sein, an gerechten Umverteilungsprojekten teilzunehmen, da sie die Legitimität der Ansprüche von Immigrant:innen in einem solchen Projekt anzweifeln würden. Um diesen negativen Auswirkungen der Segregation auf die gesellschaftliche Kohäsion entgegenzuwirken, könnten politisch-liberale Bildungspolitiken ethnisch vielfältige Schulen und Klassen fördern, die den Austausch zwischen den Kindern von Immigrant:innen und einheimischen Bürger:innen ermöglichen. Die Details
Auswirkungen: Verpflichtende Schultransporte in den USA verursachte Unzufriedenheit und führte zu kompensatorischen Strategien ihrer Gegner, wie zum Beispiel umzuziehen oder Kinder auf anderen Schulen zu schicken (siehe z. B. Lord und Catau 1976). Man könnte jedoch argumentieren, dass die Probleme mit dem Schultransport, insbesondere in den USA, auf ein tiefer liegendes, allgemeines Problem mit Rassismus zurückzuführen sind (siehe z. B. McConahay 1982, Orfield 1995). Abgesehen von Widerstand von bestimmten sozialen Gruppen gibt es Hinweise drauf, dass von dieser Politik betroffenen Schüler:innen in eine schlechtere Position gebracht worden sein könnten. Schüler:innen, die Schultransporte nutzen müssen, haben zum Beispiel ein verringertes Gefühl der Zugehörigkeit (siehe Anderman 2002). Diese Beobachtung könnte in Einklang stehen mit dem zuvor erwähnten Bedürfnis, das kulturelle Erbe von Immigrant:innen zu bestätigen (Abschn. 8.3.2), da die Erfahrung mit dem Busfahren einen Eindruck von Vertreibung und erzwungener Integration vermitteln könnte. Kurz gesagt, selbst scheinbar harmlose Themen wie Schulbusnutzung können ein Bündel an normativen und administrativen Herausforderungen bieten, die in den konkreten Kontexten, in denen sie auftreten, gelöst werden müssen. 12 Ähnliche psychologische Mechanismen können auch die soziale Wahrnehmung von Migrant:innen verzerren. Siehe Weber (1994) für die Funktion der ethnozentrischen Attribution in Bezug auf den Schutz und die Verbesserung des Selbstbildes von Gruppen. 13 Für die Bedeutung des Vertrauens für egalitäre Wohlfahrtsstaaten siehe z. B. Gibney (1999), Pevnick (2009).
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solcher multikulturellen Schulformen hängen sehr von den konkreten Umständen ab, doch scheint es unwahrscheinlich, dass allein durch das Mischen von ethnisch vielfältigen Kindern in der gleiche Schule viel erreicht werden kann. Empirische Studien über interethnische Kontakte in Schulkontexten zeigen, dass eine tatsächliche multikulturelle Bildung Integration fördert, ebenso wie übergreifende Klassen- und Schulidentitäten, die ethnische Unterschiede von Schüler:innen überbrücken können. Bildungseinrichtungen müssen dafür aber nicht nur für eine Vielfalt an Schüler:innen offen sein, sondern auch aktiv einen Rahmen bereitstellen, in dem Kinder Toleranz und Achtung für verschiedene Weltanschauungen entwickeln können.14 Grundvoraussetzungen für einen solchen Rahmen sind zum Beispiel, dass • Schulen ausreichende Möglichkeiten bieten, sich gegenseitig kennenzulernen, • einen Kontext bereitstellen, in dem verschiedene ethnische Gruppen einen gleichen sozialen Status haben, • dass dieser Kontext einer von Zusammenarbeit und nicht von Wettbewerb ist, • und dass der Kontakt zwischen den ethnischen Gruppen von Lehrer:innen und Schulverwaltung aktiv unterstützt wird (Allport 1954). Es gibt eine umfassende Literatur zur Integration in Schulen, die spezifischere Richtlinien auf der Grundlage empirischer Daten bereitstellt, die auch im Kontext politisch-liberaler Bildung angemessen sein sollten (siehe z. B. Breton 1964; Angrist und Lang 2004; Mouw und Entwisle 2006; Hortas 2008; Kristen 2008; Crul und Holdaway 2009; Söderström und Uusitalo 2010; Alba et al. 2011; Alba und Holdaway 2013; ten Teije et al. 2013).15 Politisch-liberale Bildung erfüllt die Anforderungen zur Integration in Schulen teilweise bereits aufgrund ihrer Verantwortung, zur Stabilität einer pluralistischen Gesellschaft beizutragen, wie die vorherigen Kapitel gezeigt haben. Bei Immigrant:innen, die noch nicht mit den zentralen Werten einer wohlgeordneten Gesellschaft vertraut sind oder deren umfassende Ansichten sich relevant von denen einer wohlgeordneten Gesellschaft unterscheiden, könnten jedoch größere Anstrengungen erforderlich sein. Natürlich wird es weiterhin schwierige Fälle geben, in denen es prima facie unklar ist, ob Immigrant:innen sich bestimmten Anforderungen anpassen müssen oder nicht. Manchmal gibt es gute Gründe, auf einen oder mehrere Integrationsaspekte zu verzichten, obwohl die Forderungen des Staates berechtigt wären. Dies kann auf historische Umstände oder darauf zurückzuführen sein, dass die
14 Für
eine Metastudie der zeitgenössischen Literatur zu diesem Thema siehe Thijs und Verkuyten (2014). 15 Aus der Literatur zur Integration in Schulen geht hervor, dass der Erfolg integrativer Maßnahmen über unterschiedliche Kontexte hinweg variiert. Es hängt von Faktoren wie den Merkmalen der beteiligten ethnischen Gruppen ab, aber auch von strukturellen Faktoren wie der Vertrautheit der Eltern mit dem Schulsystem und den verfügbaren Schulwahlmöglichkeiten.
8.4 Integration
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Aufgabe bestimmter sozio-kultureller Haltungen für eine bestimmte Gruppe von Immigrant:innen eine außergewöhnliche Belastung darstellen würde.16 Ich werde hier keine fein abgestuften Diskussion solcher Fälle anbieten, aber sie würde der bereits stattfinden Diskussion über rechtliche Ausnahmen für Anhänger verschiedener kultureller und religiöser Traditionen in westlichen Einwanderungsgesellschaften sehr ähnlich sein.17 Viele der dort vorgebrachten Argumente wären für Diskussionen über die Einwanderung in eine politisch-liberale Gesellschaft relevant. Was wir bisher gesehen haben, ist, dass der politisch-liberale Staat die Pflicht hat, sich um soziale Integration zu kümmern und sie durch geeignete Infrastruktur- und Bildungsmaßnahmen aktiv zu fördern. Ähnliche Verpflichtungen bestehen jedoch nicht, wenn es um kulturelle Integration geht, die letzte und nur sehr vage definierte Art von Integration, die hier diskutiert wird. Vielleicht ist es sogar moralisch unzulässig, zu viel kulturelle Integration zu verlangt, und ich stimme Miller zu, dass der hier Staat nicht viele Forderungen stellen kann. Aus einer politisch-liberalen Perspektive gibt es zumindest zwei Gründe, sich nicht in Fragen kultureller Integration einzumischen. Erstens gibt es keine Aspekte der kulturellen Integration, die aus einer Perspektive der politischen Moral relevant erscheinen. Zweifellos muss der politisch-liberale Staat von Immigrant:innen verlangen, dass sie ihre Haltung bezüglich Vorstellungen von Gleichheit anpassen, wenn ihre kulturellen Traditionen die ungleiche Behandlung von Frauen, Homosexuellen oder bestimmten Kulturgruppen gutheißen. Ich sehe dies jedoch als Aspekte der sozialen Integration, die durch integrative Maßnahmen im Bildungsbereich und in anderen Bereichen angegangen werden müssen. Darüber hinaus gibt es keine Rechtfertigung für den politisch-liberalen Staat, zu verlangen, dass Immigrant:innen auf Formen der Ernährung, Kleidung oder Unterhaltung verzichtet, die von ihren kulturellen Traditionen der Immigrant:innen bestimmt werden. Es scheint keinen Grund zu geben, vom politisch-liberalen Staat zu verlangen, sich hier einzumischen. Zweitens sieht es durch das Fehlen dringender Gründe wie etwa Gerechtigkeitsanforderungen sehr danach aus, als wäre es für den politisch-liberalen Staat tatsächlich unzulässig, in Kultur und Traditionen von Immigrant:innen einzugreifen. Genauso wie es vom Staat erwartet wird, neutral gegenüber den Konzeptionen des Guten seiner Bürger:innen zu sein, so muss das gleiche auch für Immigrant:innen gelten, von denen erwartet wird, dass sie (oder zumindest
16 Dies
scheint vor allem eine hypothetische Überlegung zu sein, da ich keine Beispiele aus dem wirklichen Leben für solche Fälle habe. Trotzdem sind sie möglich und stellen daher eine potentielle Herausforderung für die Einwanderungspolitik einer wohlgeordneten Gesellschaft dar. 17 Für verschiedene Argumente für und gegen Ausnahmen von Gesetzen, die auf kulturellen und religiösen Traditionen von Bürger:innen beruhen, siehe z. B. Kymlicka (2001), Kymlicka (1996), Barry (2001), Quong (2006), Billingham (2017).
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ihre Kinder) vollwertige Staatsbürger:innen werden sollen. Kultur und Tradition sind das Gerüst für die Konzeptionen des Guten von Immigrant:innen, welche, sofern sie vernünftig sind, einen legitimen Kontext für die Entwicklung ihrer Konzeption für eine Vorstellung vom Guten, d. h. ihre Autonomie, darstellt (siehe Abschn. 8.3.2). Es wäre fast widersprüchlich, würde der politisch-liberale Staat, der für eine Gesellschaft gedacht ist, die durch Wertpluralismus gekennzeichnet ist, Immigrant:innen, die sich angeblich integrieren und selbst Bürger:innen werden sollen, die Freiheit verweigern, ihrer eigenen Konzeption des Guten zu folgen, solange diese als vernünftig gelten kann. In diesem Abschnitt wurde in einer groben Skizze dargelegt, wie eine wohlgeordnete Gesellschaft die Integration durch Bildungseinrichtungen unterstützen sollte. Dennoch wurden auch Gründe hervorgehoben, die bestimmte Anforderungen des Staates hinsichtlich politischer und sozialer Aspekte von Integration rechtfertigen. Es wurden auch Gründe dafür angeführt, dass der Staat ausreichende Möglichkeiten für Immigrant:innen bereitstellen sollte, um aus politisch-liberaler Sicht erforderliche Fähigkeiten, Kenntnisse und Einstellungen zu erwerben. Darüber hinaus wurde in diesem Abschnitt klar, dass der politisch-liberale Staat keine Anforderungen an kulturelle Integration stellen kann, zumindest nicht, wenn wir den Unterschied zwischen sozialer und kultureller Integration im Sinne von Miller verstehen.
8.5 Absonderung Im Gegensatz zur allgemeinen Ansicht, dass Integration für eine stabile egalitäre Gesellschaft sowie zum Nutzen der Immigrant:innen selbst erforderlich ist, könnte man allerdings auch denken, dass manchmal die Absonderung von Immigrant:innen (oder anderen Minderheitengruppen) nicht nur zulässig ist, sondern auch zu besseren Lebensweisen für sie führen kann. Diese Ansicht wird vor allem von Michael Merry (2013) vertreten. Auf den ersten Blick scheint diese Behauptung meiner Argumentation über Integration im vorherigen Abschnitt zu widersprechen, aber ein genauerer Blick darauf, um welche Art von Absonderung es sich handelt, zeigt, dass ein gewisses Maß an Trennung zwischen Immigrant:innen und einheimischen Bürger:innenaus politisch-liberaler Perspektive sicherlich zulässig ist. Es ist wichtig zu betonen, dass die Art der Absonderung, an die Merry denkt und auf die dieser Abschnitt fokussiert, freiwillig ist. Beruhend auf dem, was ich in Kap. 4 über Autonomie und Entscheidungen gesagt habe, können wir das auf Folgende Art präziser formulieren: Eine freiwillige Gruppenabsonderung könnte zulässig sein, wenn sie das Ergebnis echter Präferenzen der Mitglieder der betreffenden Minderheit ist. Eine Migrationsgemeinschaften aufgezwungene Absonderung und Segregation durch den Staat, etwa durch Wohnungsprogramme,
8.5 Absonderung
223
die sie effektiv von der Mehrheitsbevölkerung isolieren, würde offensichtlich nicht in diese Kategorie der freiwilligen Absonderung fallen.18 Merry’s Argument für freiwillige Absonderung, wurde zudem für einen nichtidealen soziopolitischen Kontext entwickelt (siehe 2013, S. 68–69). Zumindest aus Rawl’scher Perspektive ist leicht zu verstehen, warum: In einer idealisierten wohlgeordneten Gesellschaft würden Bürger:innen übereinstimmend mit den Prinzipien der Gerechtigkeit handeln, was zu einer Gesellschaft führen würde, in der Immigrant:innen akzeptiert und erforderliche Integrationmaßnahmen bereitstellt würden, wie sie etwa im vorherigen Abschnitt bezüglich Bildungszusammenhängen dargelegt wurden. Unter weniger idealen Umständen sind Immigrant:innen jedoch häufig mit ungünstigen Bedingungen konfrontiert, welche ihre Ursachen in der wirtschaftlichen Lage sowie der besonderen politischen und Verwaltungsgeschichte eines Aufnahmelandes haben, aber auch in Voreingenommenheiten einheimischer Bürger:innen (und manchmal auch in schlichtem Rassismus). In so einem nicht-idealen Kontext kann freiwillige Absonderung einen positiven Effekt auf Immigrant:innen haben und sollte daher nicht ignoriert werden. Laut Merry kann freiwillige Absonderung in der Bildung Kindern mit Minderheitenhintergrund Möglichkeiten zur Entwicklung von Selbstachung bieten, die sie in integrierten Schulen aufgrund einer Stigmatisierung von Minderheiten möglicherweise nicht finden würden. In getrennten Unterrichtsumgebungen, so die Annahme, gäbe es für solche Kinder eine bessere Chance, „ein fürsorgliches Ethos, gemeinsame Werte, kulturelle Anerkennung und ein Zusammengehörigkeitsgefühl“ sowie „positive Vorbildfunktion, Kameradschaft unter ethnischen Gleichaltrigen, familiäre Nähe und Beteiligung sowie kollektive Unterstützung“ zu erfahren (2013, S. 71). Unter ungünstigen Umständen, wenn die Integration von Minderheiten nicht so funktioniert, wie sie idealerweise sollte, könnten getrennte Bildungseinrichtungen sogar die einzige Möglichkeit sein, Selbstachtung zu entwickeln, die Merry als Grundlage für Gleichheit hält und die, aus einer Rawls’schen Perspektive, ein wesentliches Grundgut darstellt. Die Entwicklung bürgerlicher Tugenden könnte unter Bedingungen freiwilliger Absonderung verbessert werden, da eine Gemeinschaft mit gemeinsamer kultureller und/oder ethnischer Herkunft es Kindern und Jugendlichen möglicherweise erleichtert, positive Dispositionen zu entwickeln, die sich auf andere
18 Vielleicht
könnte behauptet werden, dass staatliche Wohnprogramme nur dann zu unfreiwilliger Absonderung führen würden, wenn Immigrant:innen absichtlich in abgeschotteten Gemeinschaften oder entfernten Gebieten untergebracht werden. Dies erscheint mir jedoch, zumindest in den meisten Fällen, unglaubwürdig. Eine Regierung kann entscheiden, in bestimmten Gebieten einer Stadt Wohnungen für Migrationsgemeinschaften zu bauen, weil es die billigste Option ist und keine anderen Absichten haben, als wirtschaftlich effizient zu sein. Wenn dies jedoch zur Segregation von Immigrant:innen führt, scheint es, dass die Regierung sie falsch behandelt hat, ungeachtet dessen, ob dies die ursprüngliche Absicht war (vorausgesetzt, alternative Wohnungsprojekte wären nicht unverhältnismäßig teuer oder physisch unmöglich gewesen).
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beziehen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die bürgerlichen Tugenden, die Mitglieder einer Minderheit unter den Bedingungen abgesonderter Bildung erwerben, nur auf die Interaktion mit ihrer Gruppe beschränkt sein werden. Während die Entwicklung bürgerlicher Tugenden durch „Bindung“ mit der eigenen Minderheit unterstützt wird, wird es immer noch möglich sein so die Idee, die soziale Kluft mit anderen Gruppen oder der gesellschaftlichen Mehrheit zu überbrücken und die eigenen Tugenden in der Interaktion mit Personen auszuüben, die nicht Teil der eigenen Minderheit sind (siehe Merry 2013, S. 73–76). Wir sollten allerdings berücksichtigen, dass Merry in diesem Zusammenhang zwischen bürgerlichen (civic) und politischen (political) Tugenden unterscheidet. Derart verstandene bürgerliche Tugenden zielen hauptsächlich auf das Wohlergehen einer Gemeinschaft ab, was „Lobbying, Stadtratssitzungen und Abstimmungen umfassen kann, aber nicht muss“; stattdessen könnten sie auch nur nicht-politische Ziele haben, z. B. „die Betreung von Baseball-Teams für Kinder, gute Elternschaft, freiwillig in einem Obdachlosenheim auszuhelfen oder das Pflanzen von Bäumen“ (2013, S. 74). Es scheint aber sicher, dass in einer Gesellschaft, die sich durch politischliberale Ideale geprägt ist, bürgerliche Tugenden auch politische Tugenden umfassen würden, wie sie in Kap. 3 diskutiert werden. Die Idee, dass eine freiwillige Absonderung nicht nur zulässig ist, sondern tatsächlich für eine Minderheit wie z.B. Immigrant:innen vorteilhaft sein könnte, mag scheinbar im Widerspruch zu den zuvor gemachten Behauptungen über die Integration in einer politisch-liberalen Gesellschaft stehen. Dies muss jedoch nicht zwangsläufig der Fall sein. Ein ähnliches Argument wie im Kap. 6, das behauptet, dass religiöse Schulen im Prinzip aus einer politisch-liberalen Perspektive zulässig sind, kann für Schulen für Immigrant:innen-Minderheiten gemacht werden. Solange die Kernanforderungen an eine politisch-liberale Bildung von Schulen für Kinder mit Migrationshintergrund erfüllt werden, gibt es prima facie keine Gründe dagegen.19 Wie bei religiösen Schulen können jedoch kontextabhängige Gründe dagegen sprechen, Minderheitenschulen zu erlauben. Wie bereits in Abschn. 8.3 erwähnt, können die relevanten politischen Einstellungen und Gerechtigkeitsvorstellungen einer bestimmten Gruppe von Immigrant:innen von denen einer politisch-liberalen Gesellschaft abweichen. In einem solchen Fall ist es wahrscheinlich nicht zulässig, dass direkte Immigrant:innen, die den zentralen Werten einer politisch-liberalen Aufnahmegesellschaft nicht zustimmen, ihre eigenen Minderheitenschulen betreiben. Dies könnte sich jedoch mit der ersten Generation ihrer Nachkommen, die in der betreffenden politisch-liberalen Gesellschaft aufgewachsen ist, ändern. Unter der
19 Um die Einfachheit willen gehe ich hier davon aus, dass es Minderheiten mit Migrationshintergrund geben könnte, deren Absonderung von der Mehrheit ausschließlich auf ethnischen oder kulturellen, aber nicht auf religiösen Gründen beruht. Es ist möglich, dass bestimmte Migrationsgemeinschaften auch religiöse Minderheitengruppen darstellen. In diesem Fall gilt für sie alles, was im Kap. 6 gesagt wurde.
8.6 Fazit
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Annahme, dass diese Generation20 einen passenden Gerechtigkeitssinn und andere politische Tugenden entwickelt haben, die vom politischen Liberalismus erfordert werden, wären ihre Mitglieder (mit entsprechender beruflicher Qualifizierung natürlich) geeignete Lehrer:innen für nachfolgende Generationen ihrer Minderheit. Auch dann hängt jedoch viel vom jeweiligen sozialen, politischen und historischen Kontext der Aufnahmegesellschaft ab. In einem Fall könnten getrennte Schulen die Akzeptanz einer Immigrant:innen-Minderheit untergraben und sollten daher vermieden werden, während in einem anderen Fall die Akzeptanz durch die Mehrheit so stabil sein könnte, dass getrennte Schulen keine negativen Auswirkungen haben. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass politisch-liberale Bildung zwar integrative Schulen anstreben sollte, getrennte Schulen für Einwanderer-Minderheiten jedoch prima facie unter ähnlichen Bedingungen wie religiöse Schulen zulässig sind. Für einzelne politisch-liberale Gesellschaften wäre es je nach ihrem jeweiligen sozialen und politischen Kontext möglich, dass die Gründe für Integration in der Bildung insgesamt stärker sind als die Gründe für getrennte Schulen, was einen politisch-liberales Staats berechtigen würde, die Errichtung getrennter Schulen für Minderheiten abzulehnen. Aber selbst wenn Integration die bevorzugte Option wäre, so müssen Argumente für freiwillige Absonderung wie die von Merry in einem politisch-liberalen Bildungskonzept Berücksichtigung finden, insbesondere wenn wir wollen, dass dieses Konzept realistisch genug ist, um vielleicht als normatives Richtlinienwerkzeug für die Anwendung im wirklichen Leben zu dienen.
8.6 Fazit In Rawls’ ursprünglicher Vision der realistischen Utopie ist kein Platz für Immigrant:innen, oder so erscheint es zumindest. Aber selbst in einer Welt, die hauptsächlich aus liberal-demokratischen Gesellschaften besteht, werden Menschen migrieren. Noch wichtiger ist, dass sich ein politischer Liberalismus der als Richtlinie für die aktuelle Politik von Nutzen sein will, auch aktuellen politischen Herausforderungen stellen muss, zu denen Immigration und Integration gehören. In diesem Kapitel wurde ein kurzer Überblick über Bildung und Integration von Kindern mit Migrationshintergrund in einer wohlgeordneten Gesellschaft unter Verwendung von Abstraktion und moderater Idealisierung gegeben. Ich habe die potentiellen Defizite bezüglich politischer Tugenden, Autonomie und dem Wissen über politische Rechte und Freiheiten erläutert, die Kinder von
20 Ich verwende den Begriff ‚erste Generation‘, um auf die erste Generation von Kindern zu verweisen, die in einem Aufnahmeland geboren wurden und deren Eltern in einem anderen Land geboren wurden.
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Immigrant:innen haben könnten. Darüber hinaus habe ich argumentiert, dass diese Defizite durch politisch-liberale Bildung angegangen werden sollten, um erfolgreiche Integration zu erreichen. Die wichtigste Dimension der Integration scheint die der sozialen Integration zu sein. Die Anforderungen an staatsbürgerliche Integration werden mehr oder weniger durch die normalen Standards politisch-liberaler Bildung abgedeckt, und kulturelle Integration hat nur sehr begrenzte Bedeutung für den politisch-liberalen Staat. Wesentliche Unterschiede zwischen Kinden mit Migrationshintergrund und einheimischen Kindern in einer wohlgeordneten Gesellschaft, die sowohl aus der Perspektive der Stabilität als auch aus der Perspektive der Verteilungsgerechtigkeit relevant sind, sind vor allem eine Frage sozialer Integration. Hier wird die politisch-liberale Bildung zusätzliche Strategien und Ressourcen einsetzen müssen, um die langfristige Integration von Immigrant:innen in eine liberal- demokratische Gesellschaft zu unterstützen. Unter weniger als idealen Umständen kann politisch-liberale Bildung jedoch getrennte Schulen für Minderheiten mit Migrationshintergrund zulassen, wenn diese unter den gegebenen Umständen deren Selbstachtung und die Entwicklung politischer Tugenden besser fördern können als integrative Schulen.
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Kapitel 9
Fazit
Zusammenfassung Dieses Kapitel fasst die theoretischen Argumente der Kapitel in Teil I und die praktischen Argumente aus den Kapiteln in Teil II dieses Buches zusammen und kommt zu dem Schluss, dass Darstellung politisch-liberaler Bildung in diesem Buch zwar nicht die einzige mögliche, aber zumindest eine plausible und robuste ist. Wir haben das Ende dieses Buches erreicht, ich möchte daher eine kurze Zusammenfassung seiner wichtigsten Erkenntnisse und Schlussfolgerungen geben. Ich habe mit einer vorläufigen Bewertung davon begonnen, wie viel Rawls selbst über Bildung in seinen verschiedenen Werken schreibt und welche Aspekte seiner politischen Theorie eine bestimmte Art der Bildung von Bürger:innen voraussetzen. Obwohl Rawls Bildung in seinen Schriften nur selten direkt erwähnt, erfordern die zentralen Elemente seiner politischen liberalen Theorie bestimmte Grundlagen, die durch Bildung gelegt werden. Teil I, der erste der beiden großen Teilen des Buches, hat einen Blick auf die relevanten zentralen Begriffe des politischen Liberalismus geworfen, um herauszufinden, in welcher Weise und warum diese Begriffe für Bildung relevant sind. Hier wurden auch die möglichen Implikationen einer Verpflichtung auf diese zentralen Begriffen für eine Theorie politisch-liberaler Bildung hervorgehoben. In den Kapiteln des Teils I habe ich argumentiert, dass das Verhältnis zwischen politischem Liberalismus und Bildung nicht einseitig ist. Zentrale Begriffe des politischen Liberalismus, wie Tugenden, Autonomie und Rechte, müssen interpretiert und vielleicht sogar neu ausgestaltet werden, um auf nützliche Weise zu einer politisch-liberalen Darstellung von Bildungs beizutragen. In Bezug auf politische Tugenden habe ich zwei Probleme identifiziert, eines davon ein internes für die politisch-liberale Theorie, das andere ein externes. Das interne Problem resultiert aus der Begründung politischer Tugenden im Aristotelischen Grundsatz, der als eine umfassende Sicht verstanden werden kann, die nicht unbedingt von allen vernünftigen Bürger:innen geteilt wird. Darüber hinaus kann der Aristotelische Grundsatz als Rechtfertigung für perfektionistische politische Maßnahmen verstanden werden, was der politische Liberalismus © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Nature Switzerland AG 2022 F. Podschwadek, Die Erziehung der Vernünftigen, https://doi.org/10.1007/978-3-031-21266-6_9
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9 Fazit
v ermeiden sollte. Das externe Problem ist mit der Idee verbunden, dass politische Tugenden stabile Charaktermerkmale sind. Diese Sicht von Tugenden ist im Licht empirischer Forschungen, die darauf hindeuten, dass das ethische Verhalten von Personen weniger auf Charaktermerkmalen, sondern mehr auf kontextabhängigen Faktoren beruht, umstritten. Eine politisch-liberale Bildungsheorie sollte in der Lage sein, auf diese situationistische Herausforderung zu antworten. Meine vorgeschlagene Lösung für beide Probleme besteht darin, den Aristotelische Grundsatz aufzugeben und stattdessen eine Humesche Auffassung von Tugenden zu unterstützen, die hauptsächlich agnostisch in Bezug auf die motivationalen Kräfte hinter tugendhaftem Verhalten ist. Somit können sowohl Charaktermerkmale als auch externe motivierende Gründe, wie sozialen Normen, als Motivation dafür dienen, ein:e gute:r Bürger:in zu sein, ohne auf fragwürdige Behauptungen über die genauen psychologischen Mechanismen, die hier involviert sein könnten, zurückgreifen zu müssen. Diese Neufassung bietet für die politisch-liberalen Bildung eine natürlichere und gleichzeitig weniger umstrittene Darstellung politischer Tugenden als die ursprünglich von Rawls verwendete. Meine Untersuchung der Rolle von Autonomie in der Bildung hat auch einen Bedarf an der Überarbeitung von Rawls’ Behauptungen über Autonomie im politischen Liberalismus offenbart. Auch wenn sich politisch-liberale Bildung hauptsächlich auf die politische Autonomie von Bürger:innen konzentrieren mag, hängt politische Autonomie von einer weiteren, grundlegenderen Vorstellung von Autonomie ab, die nicht rein politisch im Sinne von Rawls ist. Diese zugrunde liegende Vorstellung von Autonomie ist eine, die in der Kapazität von Personen, Akteur:innen zu sein, verwurzelt ist. Obwohl nicht rein politisch, ist diese tieferliegende Konzeption von Autonomie mit dem Anspruch des politischen Liberalismus auf Neutralität kompatibel, so habe ich zumindest argumentiert. Es ist eine schwache, prozeduralistische Vorstellung von Autonomie, die so allgemein ist, dass sie kein Bestandteil einer bestimmten umfassenden Lehre ist, sondern eine notwendige Bedingung für eine moderne Auffassung von Personen, welche Teil einer liberal-demokratischen politischen Theorie sein muss. Daher kann diese Autonomiekonzeption als eine grundlegende Komponente von politischen Autonomie verstanden werden, ohne dass dies den politischen Liberalismus in eine umfassendere Richtung zu verschieben droht. Die Einführung einer solchen Konzeption schwacher Autonomie ermöglicht uns ein besseres Verständnis davon, wie politische Autonomie unterrichtet werden kann, da sie sich tatsächlich aus einer grundlegenderen Konzeption von Autonomie entwickelt. Im Vergleich zu den Kapiteln über politische Tugenden und über Autonomie ist die Begutachtung der Rolle von Rechte im Kontext politisch-liberaler Bildung der am wenigsten revisionistische Schritt. Statt Änderungen oder Ergänzungen zu Rawls’ Theorie vorzunehmen, habe ich lediglich Rawls’ Vorstellung von Rechten (und ihre Implikationen) im Kontext politisch-liberaler Bildung skizziert, um eine Bestimmungder Arten von Verpflichtungen und Rechten des Staates, von Eltern und von Kinder zu erleichtern. Zu diesem Zweck habe ich relevante Aussagen über Rechte und Freiheiten, die in A Theory of Justice und Political Liberalism
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zu finden sind, Anhand eines Hohfeldschen Schemas von Rechten und Freiheiten umformuliert. Teil II, der zweite Hauptteil des Buches, wendet die Ergebnisse aus dem ersten Teil auf das an, was als zeitgenössische angewandte Probleme der politischliberalen Theorie bezeichnet werden kann. Religion, gleichgeschlechtliche Beziehungen und Migration bieten Testfälle, an denen ich gezeigt habe, was eine politisch-liberale Bildungstheorie zur weniger abstrakten Herausforderungen für die Bildung sagen kann. In Bezug auf Religion habe ich mich mit der Behauptung auseinandergesetzt, dass eine wirklich neutrale politisch-liberale Gesellschaft öffentliche Bildung aus Gründen der Fairness und der persönlichen Freiheit abschaffen müsste. Obwohl ich dieser starken Behauptung widersprochen und gezeigt habe, dass dies nicht der Fall ist, hat die sich daraus ergebende Diskussion auch die Grenzen der entgegengesetzten Behauptung, dass private und religiöse Schulen in einer liberalen egalitären Gesellschaft nicht zulässig seien, offenbart. In diesem Zusammenhang stellte sich heraus, dass die politisch-liberale Bildung großzügiger sein kann, als viele Liberale einräumen. Eine politisch-liberale Darstellung von Bildung muss private Schulen oder religiöse Schulen nicht prinzipiell verbieten – obwohl diese vorläufige Zulässigkeit von z.B. privater Schulbildung durch bestimmte sozio-politische Kontexte begrenzt oder aufgehoben werden kann, zum Beispiel unter Bedingungen, unter denen private religiöse Schulen zur gesellschaftlichen Polarisierung beitragen würden. Die Rolle gleichgeschlechtlicher Beziehungen in der Bildung wurde als weiteres Beispiel aus dem wirklichen Leben im Kap. 7 untersucht. Aus einer politisch-liberalen Perspektive müssen gleichgeschlechtliche Beziehungen Teil eines Sexualerziehungslehrplans sein. Ich habe diesen Standpunkt gegen die Behauptung verteidigt, dass er allgemeinen menschliche Werten zuwiderlaufen würde, sowie gegen den Einwand, dass die Aufnahme von gleichgeschlechtlichen Beziehungen in den Lehrplan einer Förderung einer bestimmten Lebensweise gleichkäme, beides Behauptungen, die von Naturrechtstheoretiker:innen vorgebracht wurden. Vielmehr ist meine Position, dass die Aufnahme von gleichgeschlechtlichen Beziehungen in eine politisch-liberale Sexualerziehung bedeutet, Grundgüter für zukünftige Bürger:innen diverser sexueller Orientierungen bereitzustellen. Gegen die Konvention, die Gesellschaft des politischen Liberalismus als geschlossen zu betrachten, habe ich im letzten Kapitel von Teil II argumentiert und behauptet, dass wir dieses Modell ändern müssen, wenn wir nützliche Richtlinien für die reale Politik erhalten wollen. Indem ich mich mit der Frage befasst habe, wie die politisch-liberale Bildung mit Immigration umgehen könnte und sollte (wenn auch auf ziemlich abstrakter Ebene), habe ich gezeigt, dass der politische Liberalismus die Ressourcen hat, um eine sinnvolle Position zu diesem Thema zu entwickeln. In der Diskussion der verschiedenen Aspekte des politischen Liberalismus und der verschiedenen Herausforderungen politisch-liberaler Bildung hoffe ich, Leser:innen eine glaubwürdige Darstellung politisch-liberaler Bildung liefern zu können. Während es sicherlich nicht alle möglichen Fragen darüber abdeckt, wie
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9 Fazit
ein politisch-liberales Staatswesen seine Bildungspolitik gestalten sollte, liefert es Richtlinien und Beispiele, aus denen weitere und konkretere Antworten abgeleitet werden können. Dies war das Hauptziel dieses Buches. Über dieses Ziel hinaus glaube ich, dass dieses Buch noch etwas mehr gezeigt hat. Die von mir in der ersten Hälfte vorgeschlagenen Änderungen und Ergänzungen sind nicht willkürlich, sondern als Reaktion auf Probleme eines bestimmten Anwendungskontexts entstanden, nämlich Bildung. Um eine glaubwürdige politisch-liberale Darstellung von Bildung zu ermöglichen, schien es nötig, bestimmte Anpassungen an der politisch -liberalen Theorie vorzunehmen, zumindest war dies mein Eindruck, als ich das Projekt begann, und dieser Eindruck bleibt bestehen. Der politische Liberalismus gilt als ideale politische Theorie und soll abstrakte Prinzipien generieren, aus denen wir konkretere Regeln und Lösungen für moralische Herausforderungen ableiten können. Es erscheint mir jedoch irreführend, ideale politische Theorie so zu betrachten, als sei sie ein unveränderlicher Fixpunkt, von dem aus wir versuchen müssen, Lösungen für pluralistische Gesellschaften zu entwickeln. Auf diese Weise würden wir bei inkonsistenten oder schlicht unrealistischen Lösungen für konkrete politische Probleme landen. Wie die Argumentationslinie in diesem Buch nahelegt, sollten wir uns eher auf das konzentrieren, was wir als eine spezielle Form von Überlegungsleichgewicht verstehen könnten. Statt aller Aspekte unserer Theorie als gegeben zu betrachten, sollten wir versuchen, die abstrakten Bausteine unserer idealen Theorie mit den Einschränkungen und Anforderungen der konkreteren Anwendungsfelder zu verknüpfen. Manchmal werden wir, wie ich es im ersten Teil getan habe, feststellen, dass es gute Gründe gibt, Teile der Theorie zu ändern, um den Anforderungen des Anwendungsfalls gerecht zu werden. Dieser Ansatz wird nicht jeden überzeugen. Diejenigen, die denken, dass die politische Philosophie bestimmen muss, was gerecht oder richtig ist, unabhängig von der Machbarkeit, werden mit meiner Ansicht nicht übereinstimmen. Es scheint jedoch fair zu sein, davon auszugehen, dass dies nicht die Idee hinter dem politischen Liberalismus ist. Während Rawls offensichtlich sich selbst der idealen politischen Theorie verpflichtet fühlte, zielten seine Arbeit und die Arbeit der politischen Liberalen, die ihm folgten, immer auf etwas, das eine realistische Utopie sein soll. Wenn politische Liberalen ihre Verpflichtung zu diesem Realismus, so fern er auch liegen mag, aufrechterhalten wollen, müssen sie manchmal Änderungen an ihrer Theorie vornehmen, so wie ich es für die Bildung getan habe.