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German Pages 126 [129] Year 2009
Peter Struck Lernen lernen
Peter Struck
Lernen lernen Bildung und Erziehung nach PISA
fu¨r Horst Scarbath
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulssig. Das gilt insbesondere fr Vervielfltigungen, bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. c 2009 by Primus Verlag, Darmstadt Gedruckt auf surefreiem und alterungsbestndigem Papier Redaktion: Cord Steinmeyer, Berlin Einbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt Layout und Satz: Hagedorn Kommunikation GmbH,Viernheim Printed in Germany www.primusverlag.de ISBN: 978-3-89678-297-7
Inhalt Vorwort Zur Erziehungsdebatte
Sind Vornamen nur Schall und Rauch? Kinder mu¨ssen spielen Wenn Erwachsene vergessen, dass sie mal Kinder waren Ungu¨nstige Familie – du¨stere Zukunft Jugendsprache – Stirbt die deutsche Sprache? Jugendliche lassen sich nur noch indirekt erziehen Erziehung braucht Gelassenheit und Humor Armut beeintra¨chtigt Bildung Zur Gewaltdebatte
Schuldenfalle Handy – Schuldenopfer Kind Ballerspiele und Emotionalita¨t Immer wieder neue Gewaltvarianten Gewalt potenziert Gewalt Gibt es Rezepte gegen Gewalt? Kinder, Jugendliche und Alkohol Warum greifen immer mehr Jugendliche zu Drogen? Drogen fru¨her und sta¨rker Warum verletzen sich junge Menschen selbst? Immer mehr Kinder konsumieren Pornografie Ist die Hauptschule eine Gewaltfabrik?
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Studien und das deutsche Schulsystem
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Es gibt auch du¨mmliche Studien Die Defizite der deutschen Schulen Ungerechte Schulen
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Inhalt
Die Schule hat sich schnell gewandelt IGLU und PISA in Ruhe betrachtet Das dreigliedrige System ist am Ende Regionalschule statt Hauptschule Wie wird die Gemeinschaftsschule aussehen? Gute Schulen machen Ungewo¨hnliches Haben wir schon gute Schulen? Ungerechtes Schulsystem Zur Schuldebatte
Was sagen uns die Hirnforscher u¨ber das Lernen? Schulstart mit allen Sinnen Lernen braucht Zeit Mobiles Gestu¨hl fo¨rdert Lernen Wohlfu¨hleffekt als Kriterium einer guten Schule Wer verursacht den La¨rm in der Schule? Tendenz – La¨ngere Grundschule Lernen braucht a¨ußere Ordnung und Zeitstruktur Schlafrhythmus und Lernen Im 45-Minuten-Takt ausbrennen Sind Klassenfrequenzen egal? Unmotivierte deutsche Schu¨ler? Lesenko¨nnen ist eine „Tu¨ro¨ffnerkompetenz“ Unflexibles Wissen Ist Angst ein Lernmotor? Lernen ohne Angst wandelt „Streber“ zur Elite Gut Begabte setzen sich durch Jungen lernen eher „nebenbei“ Jungen werden schlechter benotet Mit der heutigen Schule wird die Zukunft weiblich sein Kinder ko¨nnen sich auch selbst beurteilen Berichte statt Noten? Schulen beno¨tigen eine andere Fehlerkultur Nachhilfeland Deutschland
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Inhalt
Sitzenbleiben verboten? Die Bundesregierung will weniger Schulabbrecher G8 und Lehrpla¨ne Reinhold Beckmann und das Turbo-Abitur Was sagt das Abiturzeugnis aus? Die Wirtschaft fordert ein la¨ngeres Zusammenlernen der Schu¨ler Privatschulen als Alternativen Brauchen wir Pflichtelternabende? Schulbewertungen durch Eltern? Einheitliche Schulbu¨cher? Was Spaß am Lernen bringt – Beispiel Polen Das Wunder der kanadischen Schulen Ko¨nnen wir von Finnland lernen? Was machen die Schulen in Norwegen? Was machen da¨nische Schulen anders? Zur Lehrerrolle
Wer wird Lehrer? Eignungstests fu¨r Lehramtsstudenten? Haben wir die richtigen Lehrer? Eignungstests fu¨r Lehrer? Die Lehrerleistung ist großartig Motivation und Ruf der Lehrer Weltlehrerkongress definiert den modernen Lehrer Deutschland hat einen Mangel an guten Schulleitern Literatur
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Vorwort „Das deutsche Bildungssystem produziert einen Mangel an Neugier und damit einen Mangel an Intelligenz.“ Georg Schramm, Kabarettist
m Jahr 2001 gab es in Deutschland den PISA-Schock. Schon zuvor, und auch danach, haben internationale Schu¨ler- und Schulvergleichsstudien den Deutschen bescheinigt, dass sie keine guten Schulen mehr haben, so wie es einmal 200 Jahre lang gewesen war. In der Folge wurde in keinem anderen Land der Welt so viel u¨ber Erziehung und Bildung geredet wie in Deutschland, und in keinem anderen so wenig bewegt, wie der schwedische Schulexperte Mats Ekholm spa¨ter diagnostizierte. Inzwischen ist das allerdings anders: Die bisherige ideologische deutsche Bildungsdebatte zwischen den Parteien,Verba¨nden und Bundesla¨ndern hat sich deutlich entideologisiert, mit dem Resultat, dass sich etwa 5000 der gut 42 000 deutschen Schulen in Richtung von mehr Erziehungs- und Bildungseffizienz gewandelt haben. Zur einen Ha¨lfte sind das Privatschulen, zur anderen Ha¨lfte aber auch staatliche Schulen. Jedoch gilt auch: Wenn eine Schule mittlerweile gut ist, also zu den deutschen Exzellenzschulen geho¨rt, dann hat sie das eigentlich nie aufgrund einer Regierung geschafft, sondern vor allem aus sich selbst heraus. Klar ist aber ebenfalls, dass eine Schule keine „pa¨dagogische Insel“ ist, sondern dass sie sich im Umfeld des gesellschaftlichen und des familia¨ren Wandels behaupten muss; Bildung ist also nicht unabha¨ngig vom erzieherischen Rahmen zu sehen. Erziehung,
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Vorwort
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Bildung, Medien, Gesellschaft und Internationalita¨t stellen heute ein kompliziertes Netzwerk dar, in dem jeder einzelne Faktor die anderen Faktoren bedingt und umgekehrt von ihnen beeinflusst wird. Seit einiger Zeit hat die Zeitung „Schleswig-Holstein am Sonntag“ mir die Gelegenheit geboten, in einer Kolumne „Lerneffekte“ die aktuellen Trends der deutschen Erziehungs- und Bildungsdebatte zu kommentieren. Die wichtigsten davon findet der Leser im Folgenden abgedruckt. Dafu¨r danke ich sowohl dem SchleswigHolsteinischen Zeitungsverlag in Flensburg als auch dem Primus Verlag in Darmstadt. Mit den schlaglichtartig dargestellten Aspekten ergibt sich in der Gesamtschau, was die deutsche Erziehungs- und Bildungsdebatte derzeit bewegt.
Hamburg, im Januar 2009
Peter Struck
Zur Erziehungsdebatte
Sind Vornamen nur Schall und Rauch? ichts ho¨rt ein Kind ha¨ufiger als seinen Vornamen. Eltern tragen somit eine große Verantwortung bei der Namenswahl, denn ihr Kind muss damit ein ganzes Leben lang klarkommen. Kunigunde, Brunhilde, Karl-Robert und Karl-Heinz ko¨nnen auf diese Weise zu einer großen Belastung fu¨r das Kind werden. Dass Namen einer Familientradition entsprechend gegeben werden, ist heute selten, gibt es aber noch in Adelsfamilien und bei Großbauern in der zehnten Generation. Namen sind manchmal auch programmatisch gemeint wie im Fall von Maria-Theresia, Alexander, Ca¨sar oder auch Boris. Meist geht es aber um aktuelle Trends bei der Namenswahl oder auch das Gegenteil: bewusst „zeitlose“ Namen. In den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts waren Vornamen wie Mario, Ramona und Marina entsprechend der Reisewelle nach Italien „in“. Dann kam die skandinavisch-friesische Welle mit Enno, Eike, Nils und Sven, gefolgt von der angloamerikanischen Welle mit Kevin, Mike, Patrick und Frederik. Im Moment gibt es eine Renaissance der biblischen Namen mit Noah, Elias, Jonathan, Paul, Sarah, Lukas und Johannes, aber es deutet sich auch schon ein Wiederaufleben altdeutscher Namen wie Friedrich und Wilhelm an. Einige Namen sind zeitlos, dazu geho¨ren Christian, Thomas, Matthias, Susanne, Maria und Jana. Die ha¨ufigsten Namen sind zur Zeit bei den Jungen Alexander, Maximilian, David, Lukas, Daniel, Marcel und Dominik, bei den Ma¨dchen Maria, Katharina, Laura, Julia, Lisa, Sophie, Anna und Vanessa. Ginge es nach den Kin-
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Kinder mu¨ssen spielen
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dern, dann mo¨gen sie zur Zeit an Jungennamen am liebsten David, Felix, Florian, Jan, Jonas, Luka, Niklas und Tim, an Ma¨dchennamen Hannah, Johanna, Julia, Lara, Lea, Laura, Sarah und Sophie. Kinder mo¨gen gerne Vornamen mit a, i und o, nicht so gern solche mit u; sie lieben Namen, die mit M oder einem weichen V beginnen, nicht aber solche, die mit K, R oder einem scharfen S anfangen. Ma¨dchen mo¨gen Doppelnamen wie Anna-Lena oder LisaMarie, Jungen mo¨gen oft den Namen Detlef nicht, weil der als „schwul“ gilt. Eltern geben zuna¨chst den Vornamen quasi als Programm fu¨r das ganze Leben, dann korrigieren sie aber im Alltag das Klangbild: Aus Alexander wird Alex, aus Maximilian Maxi, aus Paul Paulchen, aus Peter Peterle und aus Klaus-Dieter Klausi. Einige Namen – wie Boris oder Steffi – sind kurzlebig, weil sie, wie fru¨her Adolf oder Elvis, auf konkrete Vorbilder bezogen werden. So wurden auch in bestimmten Nischen bestimmte Vornamen bevorzugt: Dennis in Trabantensta¨dten des sozialen Wohnungsbaus, Cornelia und Mark in besseren Wohngegenden. Mit einigen Namen verbinden Kinder hohe Intelligenz (Anna, Johanna, Jan und Thomas), mit einigen aber auch einen niedrigen IQ (Heike, Petra, Silvia, Mario, Olaf, Mike). Lieber Leser, seien Sie beruhigt, falls sie von einem dieser Namen perso¨nlich betroffen sind; denn im Einzelfall gelten diese „Vorurteile“ na¨mlich u¨berhaupt nicht.
Kinder mu¨ssen spielen eit bevor die Schule beginnt, sollten Kinder die Sprach-, Bewegungs- und Spielstufen ohne verfru¨hende berforderung und ohne Vernachla¨ssigung durchleben. Aber diese Entwicklungsstufen werden immer ha¨ufiger durch Unterforderungen oder durch ihr berspringen verku¨rzt, sodass Defizite und Ausfa¨lle zu Verhaltensschwierigkeiten oder gar -sto¨rungen fu¨hren.
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Zur Erziehungsdebatte
Kinder, mit denen zu selten gesprochen und denen nicht intensiv genug zugeho¨rt wird, fallen spa¨ter durch eine verzo¨gerte Sprachentwicklung und am Ende oft als Legastheniker auf. Kinder, die zu selten draußen im dreidimensionalen Raum der wirklichen Welt laufen, spielen, klettern, springen, schaukeln, rutschen, balancieren, ru¨ckwa¨rts gehen, bauen, kneten und matschen konnten, ko¨nnen ihre Sinne im Gebrauch ha¨ufig nicht entfalten. Infolgedessen ist ihre Wahrnehmung oft eingeschra¨nkt, und das kann wiederum Auswirkungen haben auf die Entwicklung des Vorstellungsvermo¨gens. Kinder, die zu selten im Greifalter mit verschiedenen Materialien, verschiedenen Farben und unterschiedlichen Zahligkeiten und Gro¨ßen umgehen konnten, neigen zu unkoordinierten Bewegungsabla¨ufen und wirken dann feinmotorisch gesto¨rt; sie stoßen immer wieder an Gegensta¨nde, kippen Gla¨ser um und neigen dann ha¨ufig mit ihren „linkisch“ anmutenden Misserfolgen zum ga¨nzlichen Vermeiden von Spielen. Spielen ist fu¨r Kinder Ernst, auch wenn es aus der Sicht von Erwachsenen eher zweckfrei ist und bezogen auf die Arbeitsziele von Erwachsenen auch sein sollte. Kinder erproben im Spiel ihre Mo¨glichkeiten und Grenzen, im Spiel entwickeln sie aber vor allem ihre Kra¨fte, sie erobern quasi spielerisch ein Weltbild, das dann hoffentlich ein stimmiges ist. In einer immer komplexer und auch komplizierter werdenden Welt werden ihre Kra¨fteentwicklung und ihr Weltbildaufbau allerdings zunehmend schwieriger und zugleich entsteht ein Defizit an Spielen durch einen Bewegungs- und Sprachanbindungsmangel in zu kleinen Wohnungen, die sich fernab von großen dreidimensionalen Spielra¨umen befinden und in kleiner werdenden Familien – eingefangen durch Begriffe wie Bezugspersonenmangel, Scheidungs-, Schlu¨ssel-, vater- und geschwisterlos aufwachsende Einzelkinder oder „Familie als Auslaufmodell“ –, erga¨nzt durch ein zunehmendes Leben in zweidimensionalen Bildschirmwelten, die lediglich konsumiert werden. Wer zu wenig und zu selten mit anderen Menschen spielt, wa¨chst benachteiligt auf, sodass sich seine Kra¨fte und viele Fertigkeiten nicht richtig entwickeln. Zu ha¨ufig
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fu¨hrt jedoch nicht nur die Vernachla¨ssigung von Kindern zu einem Spiel-Defizit, sondern auch eine berfu¨rsorge: Eltern, die ihr Kind zu fru¨h in eine ungewisse Zukunft, in Richtung Bildungskarriere mit dem eigentlich gut gemeinten Motto „das Beste ist gerade gut genug fu¨r mein Kind“ verplanen, sorgen leider oft dafu¨r, dass die so ungemein wichtigen Spielstufen nicht angemessen ausgelebt, sondern mit Hockey-,Tennis-, Klavier- und Ballettunterricht sowie fremdsprachlicher Fru¨hfo¨rderung schlichtweg u¨bersprungen werden. Kinder, die in u¨berregulierten Haushalten mit einer u¨berdosierten Reinlichkeits- und Ordnungserziehung aufwachsen, werden in ihrer freien Kreativita¨tsentwicklung schwer beeintra¨chtigt. Sie entwickeln ihre Begabungen nicht, weil sie eigentlich nie die allzu hohen Erwartungen ihrer Eltern erfu¨llen ko¨nnen. Ihre Eigenart, vor allem u¨ber Irr- und Umwege zu lernen, wird durch eine falsche Fehlerkultur behindert. Sie erleben vor allem Niederlagen, fu¨hlen sich als Versager und schließlich selbst als „falsch“ und neigen deshalb zum Zersto¨ren, zum Auseinandernehmen eines perfekt gestalteten, fertigen Spielzeugs. Kinder in Wohlstandszeiten und u¨berreichlich ausgestatteten, multimedial vernetzten Kinderzimmern wollen vor allem demontieren, wa¨hrend Kinder in Kriegsgebieten und in kaputten Tru¨mmerlandschaften sowie in gesto¨rten Familienverha¨ltnissen, aber auch solche in liberalen bzw. offenen Milieus ohne ber- und Unterforderungen zum Aufbauen, zum Konstruieren und zum kreativen Umgang mit verschiedenen Materialien, Farben, Zahligkeiten und Gro¨ßen tendieren. Es gibt Kinder, die nur allein spielen ko¨nnen, und Kinder, die nur mit anderen spielen ko¨nnen, so wie es Kinder gibt, die gar nicht spielen ko¨nnen, und solche, die in jedweder sozialen Konstellation zu spielen vermo¨gen. Es gibt Ma¨dchen, die zu bloß kommunikativen und sozialen Spielen neigen (mit Puppen, Kuscheltieren oder Haustieren sprechen, mit Kra¨merla¨den Kaufen und Verkaufen spielen, sich verkleiden, schminken und Modenschauen nachstellen), und Jungen, die bloß technisch oder konstruktiv, aber meist allein spielen (zum Beispiel mit Autos).
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Es ist ganz normal, wenn verschiedene Kinder ganz unterschiedlich spielen, denn Spiel hat etwas mit der Individualita¨t des Kindes, also mit der Eigentu¨mlichkeit seiner Perso¨nlichkeit, zu tun. Wichtig ist aber in jedem Fall, dass Kinder auch Resonanz fu¨r ihr Spielen beno¨tigen, und zwar durch andere Kinder oder durch ihre erwachsenen Bezugspersonen. Und je komplexer die Herausforderung durch ihr Spiel ist, je umfangreicher der zeitliche Aufwand auf dem Weg zum Werkziel ist, desto aufwendiger muss auch die Resonanz ausfallen, damit das Kind sich nicht la¨stig, geringwertig oder missachtet fu¨hlt. Das ist die Gefahr beim Spielen, zugleich aber auch die Gelegenheit fu¨r Eltern, zumal fu¨r Va¨ter, ihrem Kind die unabdingbare Portion an Zuwendung zu geben, die es nicht unbedingt an einem einzigen Tag, aber auf jeden Fall mindestens im Rahmen einer ganzen Woche beno¨tigt.
Wenn Erwachsene vergessen, dass sie mal Kinder waren ile´m Flusser (1920–1991) war Kommunikations- und Medienphilosoph. Er hat sich noch im hohen Alter sta¨ndig angeschaut, wie Kinder spielen und wie sie kommunizieren. Trotzdem waren sie fu¨r ihn ziemlich fremde Wesen, denn er merkte, dass die meisten Erwachsenen dazu neigen, zu vergessen, wie sie sich fru¨her als Kind von innen angefu¨hlt haben. Aber selbst denen, die auch als Erwachsene Kind geblieben sind, fa¨llt das Versta¨ndnis fu¨r ihre Kinder schwer, weil Kinder heute vo¨llig anders aufwachsen; sie haben ganz andere Lebensumsta¨nde als die Kinder vor 50 Jahren, sie spielen anders (zum Beispiel an der Playstation), sie kommunizieren anders (zum Beispiel per Handy), und sie lernen anders (zum Beispiel in ihrem multimedial vernetzten Kinderzimmer); sie essen aber auch anderes, sie bewegen sich anders und oft auch weniger, und sie wachsen oft in fertigen, geordneten und sterilsauberen Umgebungen auf, in denen alles so perfekt ist, dass sie
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mehr zum Zersto¨ren als zum konstruktiven Aufbauen auffordern. Sie ko¨nnen das Potenzial ihrer sinnlichen Wahrnehmung nicht entfalten, weil sie mit einem Mangel an Laufen, Klettern, Hu¨pfen, Springen, Schaukeln, Balancieren, Matschen, Kriechen und Ru¨ckwa¨rtsgehen aufwachsen, sodass sie Kra¨fte, Geschwindigkeiten, Entfernungen, Ho¨hen und Konsistenzen aus Mangel an Erfahrungen in der wirklichen Welt nicht mehr einscha¨tzen ko¨nnen. Und da sie oft im Zuge des Familienzerfalls mit einem Mangel an Bezugspersonen aufwachsen, fehlt es ihnen nicht nur an sozialen, sondern auch an kommunikativen Erfahrungen. Fazit: Wenn Erwachsene, zumal Eltern, doch nur bedenken wu¨rden, was Vile´m Flusser immer wieder zugespitzt formuliert hat: Bis zu seiner Geburt hat der Mensch bereits zwei Drittel seines Lebens hinter sich, was die Sinneserfahrungen anbelangt; die Zeit der Schwangerschaft ist also fu¨r den spa¨teren erzieherischen Erfolg ungemein bedeutsam. Und in den ersten zwei Lebensjahren nach der Geburt erlebt ein Mensch etwa genauso viel wie in seinen letzten 20 Lebensjahren zusammen, was die Intensita¨t der Lebenseindru¨cke anbelangt! Daraus folgt u¨brigens auch, dass zwei 68-ja¨hrige Ma¨nner ho¨chst unterschiedlich alt sind, na¨mlich je nachdem, was sie alles so erlebt oder auch nicht erlebt haben. Neben dem biologischen Alter, das dem Personalausweis zu entnehmen ist, gibt es so etwas wie ein „Erlebnisalter“, und das ist ganz etwas anderes. Fu¨r Kinder gilt: Wenn zwei Sechsja¨hrige eingeschult werden, sind sie von ihrer Entwicklung her in unterschiedlichen Altersstufen anzusiedeln, sie sind vier, fu¨nf, sechs, sieben oder acht Jahre alt, weil sie entweder vernachla¨ssigt oder fru¨h gefo¨rdert wurden. Eine bloße Stichtagsregelung fu¨r den Einschulungstermin aufgrund des biologischen Alters ist daher heute weniger sinnvoll denn je, denn die Schere geht seit Langem auseinander: Auf der einen Seite werden immer mehr Kinder schon fru¨h gefo¨rdert, auf der anderen Seite werden aber auch immer mehr Kinder unzureichend bis u¨berhaupt nicht gefo¨rdert in Bezug auf die Entfaltung ihrer Sinne sowie Begabungen.
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Ungu¨nstige Familie – du¨stere Zukunft ur in zehn Prozent aller Fa¨lle schreckt ein ungu¨nstiges Milieu die jungen Menschen ab. Zehn Prozent der Kinder von kettenrauchenden Eltern werden leidenschaftliche Nichtraucher, zehn Prozent der Kinder aus bildungsfernen Familien machen Abitur und studieren; sie wollen zielstrebig aus ihrem „Elend“ heraus und nach oben kommen. Leider fa¨rbt in 90 Prozent der Fa¨lle ein ungu¨nstiges Milieu ab, meist durch das, was wir Modelllernen nennen. Die Ergebnisse der WORLD VISION Kinderstudie des Bielefelder Universita¨tsprofessors Klaus Hurrelmann besta¨tigen im Jahr 2007, was wir eigentlich schon lange wissen: Schu¨ler aus sozial schwachen Familien kommen nur selten zu einem guten Schulabschluss, sie finden allzu oft keinen Ausbildungsplatz, sie haben riesige Existenz- und Zukunftsa¨ngste, und sie landen u¨berrepra¨sentativ oft spa¨ter in Armut. Da in unserer Gesellschaft nicht mehr so viele gering qualifizierte Arbeitnehmer beno¨tigt werden wie noch vor 50 Jahren, enden viele Menschen als Hartz-IV-Empfa¨nger, wa¨hrend es andererseits an Ingenieuren mangelt und immer ha¨ufiger hochqualifizierte Fachkra¨fte, zum Beispiel aus Asien, angeworben werden mu¨ssen. Wenn das Institut der Deutschen Wirtschaft, der Deutsche Industrie- und Handelskammertag und die Arbeitgeberverba¨nde mittlerweile sagen, dass es sich der Wirtschaftsstandort Deutschland nicht la¨nger leisten kann, begabte junge Menschen auf das Abstellgleis Hauptschule zu schieben und dann Experten im Ausland anwerben muss, dann ist das ho¨chst ungewohnter Beifall fu¨r eine la¨ngere Grundschule, die in Schleswig-Holstein und Berlin Gemeinschaftsschule heißt, fu¨r eine zusammengelegte Haupt- und Realschule (Regionalschule) und auch fu¨r die Integrierte Gesamtschule. In Hamburg erha¨lt die Initiative „Eine Schule fu¨r Alle“ mittlerweile großen Zulauf und große Zustimmung, obgleich oder weil sich in der Hansestadt sogar die SPD fu¨r ein schulisches Zwei-Sa¨ulen-Modell mit „Stadtteilschule“ und Gymnasium entschieden hat.
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Jugendsprache – Stirbt die deutsche Sprache?
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Fachleute sagen schon lange, was die WORLD VISION Kinderstudie fordert: Wir brauchen deutlich la¨ngere Grundschulzeiten (weltweit sind acht-, neun-, zehn- oder zwo¨lfja¨hrige u¨blich) und Ganztagsschulen, denn Lernen braucht Zeit, ben, Anwenden, Wiederholen und Rhythmisierung. Lernen braucht aber auch in der Schule einen Ausgleich fu¨r das, was die Familie nicht hinkriegt, na¨mlich Erziehung, Fo¨rderung und Bildung. Die 40 Jahre alte Forderung nach „Chancengleichheit“ ist na¨mlich immer noch weit von der Realita¨t entfernt, wenn wohlhabende Eltern ihrem Kind Nachhilfe ermo¨glichen ko¨nnen, mit der es zum Abitur kommt, ein gut begabter Junge aus einer armen Familie aber in der Jugendarbeitslosigkeit landet, weil seine Eltern ihn nicht fo¨rdern ko¨nnen, also weil sie keinen Nachhilfeunterricht bezahlen ko¨nnen und weil es weder eine Ganztagsschule in der Na¨he gibt noch eine Gemeinschaftsschule, die mitreißende Lerneffekte zu organisieren vermag.
Jugendsprache – Stirbt die deutsche Sprache? chon die Erwachsenen zeigen immer mehr Sprachprobleme: „Ich sach mal“, „denke ich mal“, „sozusagen“, „halt“, „oder was?“, „und so“, „nech“, „a¨h“ und „wegen dem“ sind dabei noch harmlose kommunikative Hilflosigkeiten, die sensible Sprachliebhaber – gema¨ß dem Bestsellertitel „Der Dativ ist dem Genetiv sein Tod“ – nerven. Aber was Kinder und Jugendliche da mittlerweile so von sich geben, kommt selbst sprachschwachen Erwachsenen spanisch vor, obschon immer mehr verballhornte Anglizismen u¨ber den Umweg des Anscheins einer internationalen, globalen, „weltma¨nnischen“ berlegenheit die deutschsprachige Unfa¨higkeit u¨bertu¨nchen sollen. 15 Prozent unserer 15-Ja¨hrigen, so hat PISA aufgedeckt, sind nicht mehr in der Lage, einfachste Texte zu verstehen und Sa¨tze mit dem Einschluss von Nebensa¨tzen zu formulieren. Sie besitzen in ihrem aktiven Wortschatz nur noch Verben wie „machen“, „tun“, „haben“ und „gehen“, aber nicht mehr
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Wo¨rter wie „bearbeiten“, „bewerkstelligen“, „aneignen“ oder „schlendern“. Stattdessen versuchen sie sich aufzuwerten mit jugendkulturellen Auswu¨chsen wie „Ische“ statt „Frau“, „chillen“ statt „entspannen“, „Bratze“ statt „Freundin“, „es bockt“ statt „Spaß“ oder „Lust haben“, „krass“ statt „heftig“, „u¨belst“ statt „sehr“, „Droog“ statt „Freund“, „frazen“ statt „essen“, „queezen“ statt „leihen“, „mo¨rdergeil“ statt „gut“ oder „scho¨n“ oder „chatten“ statt „plaudern“. Jugendliche wollen etwas Eigenes haben, das sie nicht mit Kindern und Erwachsenen teilen mu¨ssen; das betrifft ihre Kleidung, ihren Musikgeschmack, ihr na¨chtliches Feierverhalten, ihre Interessen und eben auch ihre Sprache. „Puberta¨t ist, wenn die Eltern schwierig werden.“ Dieser Buchtitel steht fu¨r die unausgegorene, von vielen Unsicherheiten gepra¨gte bergangszeit des Jugendalters, das Hans-Heinrich-Muchow einmal vor 50 Jahren „Flegeljahre“ nannte, indem der ku¨nftige Erwachsene mit Provokationen um seinen Platz in dieser komplexen, komplizierten, multikulturellen und weltweit vernetzten Gesellschaft ringt, indem er um seine Identita¨t ka¨mpft, wenn er mit Abgrenzungsversuchen gegenu¨ber anderen Menschen und Generationen seine Einmaligkeit sucht, zum Ausdruck bringen und verteidigen will. Zu seiner Oma „motherfucker“ zu sagen statt „das finde ich nicht gut“, „das fetzt“ statt „das ist wunderbar“ oder „kack doch ab!“ statt „lass mich bitte in Ruhe!“, steht fu¨r ein derartiges Abgrenzungsunterfangen hilfloser Art. Die deutsche Sprache umfasst etwa 350 000 Wo¨rter; ein normaler Erwachsener kommt im Alltag mit 2000 davon aus. Ein durchschnittlicher deutscher Jugendlicher benutzt aber nur noch etwa 600 Wo¨rter, von denen ein Drittel fu¨r die meisten Erwachsenen ziemlich unversta¨ndlich ist. Ein Satz von Goethe oder Heine umfasst im Schnitt 36 Wo¨rter, der Satz eines deutschen Jugendlichen heute aber nur noch fu¨nf. Haben hier wieder mal das Fernsehen und die Presse Schuld? Denn eine Vorgabe fu¨r Nachrichtensendungen ist: Kein Satz sollte mehr als 20 Wo¨rter umfassen, und Sa¨tze in deutschen Zeitungen haben im Schnitt nur noch fu¨nf bis 15 Wo¨rter.
Jugendliche lassen sich nur noch indirekt erziehen
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Jedenfalls beklagte eine schleswig-holsteinische Lehrerin, dass jedes zweite Substantiv ihrer Hauptschu¨ler „Dings“ laute. Und bei meinen Lehramtsstudenten habe ich ju¨ngst in einem dreistu¨ndigen Seminar mit 80 Teilnehmern ausgeza¨hlt: 53-mal Floskeln wie „ich denke“, „denke ich mal“ und „sach ich mal so“, 37-mal wurde „a¨h“ und fu¨nfmal „wegen dem“ benutzt, 13-mal „sozusagen“, 24-mal „halt“, 15-mal „nech“, und elfmal wurde ein Satz mit „und so“ beendet.
Jugendliche lassen sich nur noch indirekt erziehen ltern, Lehrkra¨fte und die ganze Gesellschaft stehen den puberta¨ren Selbstfindungsprozessen unserer jungen Menschen u¨ber 14 oft versta¨ndnis- und ratlos gegenu¨ber. Alkoholkonsum, Drogen, Gewalt und der vo¨llig andere Tag-Nacht-Rhythmus der Jugendlichen machen ihnen Sorgen. Und dann versuchen sie, mit Schreien, Strafen, Moralpredigten oder auch mit Verweisen auf fru¨here Zeiten erzieherisch einzuwirken – weil sie glauben, das wu¨rde etwas bringen. In der Tat gelingt das manchmal mit der „Explosionsmethode“, also wenn man etwas fu¨r den Jugendlichen ho¨chst Unerwartetes tut. Das gelingt aber nur a¨ußerst selten. Wa¨hrend Kleinstkinder vielleicht noch autorita¨r gefu¨hrt werden ko¨nnen, weil sie ihren Bezugspersonen mit einem angeborenen Urvertrauen einfach nur folgen wollen, muss man Kinder zwischen vier und 13 Jahren schon autoritativ beeinflussen, also Forderungen mit Begru¨ndungen verknu¨pfen, die das Kind u¨berzeugen und denen es zuzustimmen vermag. Jugendliche kann man gar nicht mehr direkt erziehen, weil sie auf Erziehung keine Lust haben und weil sie etwas Eigenes suchen, das sie im Sinne von Jugendkult nicht mehr mit Kindern und Erwachsenen teilen wollen. Das beginnt mit dem Musikgeschmack und mit der Kleidung oder zeigt sich in der Jugendsprache. Abgrenzung auf der einen und eine ei-
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gene Identita¨t auf der anderen Seite suchen Jugendliche aber auch in den familienersetzenden, Wir-Bewusstsein und Feindbild gebenden, Freizeitinteressen vorgebenden und Sexualpartner ermo¨glichenden Jugendkultnischen (Punks, Skins, Rapper, Raver, Hippies, Skater, Stadtteilbanden, Straßencliquen, Peer-Groups), von denen u¨ber 200 verschiedene fu¨r Deutschland bekannt sind. Wilfried Ferchhoff hat dieses bunte Jugendkultmosaik als „Patchwork-Jugend“ bezeichnet. Jugendliche, die „in den Brunnen“ zu fallen oder „den Bach hinunterzugehen“ drohen – jedenfalls aus der Sicht der Erwachsenen –, kann man nur noch per massiver Konfrontation wie auf dem „Heißen Stuhl“ des Anti-Aggressivita¨ts-Trainings zu vera¨ndern versuchen, vor allem kann man es aber nur durch andere Jugendlichen, also indirekt erziehend erreichen und eben nicht mehr durch aus der Sicht von 14- bis 19-Ja¨hrigen „unmoderne“ Erwachsene, die fu¨r sie in Bezug auf Normen und Werte „vo¨llig out“ sind. Erwachsene, also vor allem Eltern, Lehrkra¨fte, Erzieher und Sozialpa¨dagogen, mu¨ssen daher dafu¨r sorgen, dass unerwu¨nschtes Verhalten von anerkannten Gleichaltrigen kritisiert und erwu¨nschtes Verhalten auf eben diese Weise beim Jugendlichen versta¨rkt wird. Erwachsene ko¨nnen na¨mlich gegenu¨ber Jugendlichen nur noch als Moderatoren einer indirekten erzieherischen Beeinflussung durch positive Effekte u¨ber die Gleichaltrigkeit effizient sein.
Erziehung braucht Gelassenheit und Humor iele Menschen glauben, Lernen und Schule mu¨ssten vor allem bitter sein. In Finnland, Schweden und Kanada fallen aber den Besuchern aus Deutschland im Vergleich die Gelassenheit und der Witz der Lehrkra¨fte, die aktiv am Lernen beteiligten Schu¨lergesichter und die Wohnlichkeit der Schulen auf. „Kuschelpa¨dagogik“ nennen bei uns bo¨se Zungen das ho¨chst angenehme Schulklima, das ja aber immerhin im Norden sowohl Europas als auch Amerikas
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Armut beeintra ¨ chtigt Bildung
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so viele positive Lernresultate zeitigt. Kinder lachen auch bei uns u¨ber den Tag hinweg im Durchschnitt etwa viermal so viel wie Erwachsene, sie machen Spa¨ße, freuen sich u¨ber Comics, u¨ber Dick und Doof, Charlie Chaplin, Buster Keaton und Mr. Bean, sie lieben Streiche, hinken auf einem Bein und schlagen Purzelba¨ume, was bei Erwachsenen entweder das eigene innere Kind aufleben la¨sst oder als „kindisch“ abgewertet wird. Eine deutsche Schu¨lerin, die zuna¨chst drei Jahre in Baden-Wu¨rttemberg zur Schule ging und dann drei Jahre in Helsinki, beschreibt den Unterschied zwischen deutschen und finnischen Schulen jedenfalls so: „Zuna¨chst dachte ich, ich ha¨tte in Deutschland mehr gelernt; jetzt weiß ich, dass ich in Finnland mehr gelernt habe, aber was ich hier in Helsinki mehr gelernt habe, wird in Deutschland gar nicht als Lernen anerkannt (sich selbst wichtige Informationen beschaffen und sie pra¨sentieren ko¨nnen; mit Anderen und von Anderen lernen usw.). Und wa¨hrend in Deutschland die Lehrer bei jeder Kleinigkeit an die Decke gehen, bleiben sie hier immer gelassen und lustig.“ Humor verbindet eben, er wirkt integrativ und fo¨rdert das Lernklima und somit auch die Lernergebnisse, und deshalb pflegt Otto Herz, der ehemalige Leiter der Bielefelder Laborschule, stets zu sagen: „Die Lehrer ko¨nnten doch, bitte sehr, etwas gelo¨ster daherkommen!“
Armut beeintra¨chtigt Bildung a¨hrend vor 30 Jahren vor allem a¨ltere Menschen unter Armut litten, betrifft sie heute laut Armutsbericht der Bundesregierung mittlerweile jedes vierte Kind unserer Gesellschaft. Das merken zunehmend auch die Schulen, zumal die Grund-, Haupt- und Gesamtschulen. Der Schulleiter der Ludwig-Windthorst-Schule, einer Haupt- und Realschule in Glandorf im Osnabru¨cker Land, Helmut Schmidt, hat deshalb eine kleine interne Studie gemacht, aus der hervorgeht, dass Kinder immer ha¨ufiger
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Zur Erziehungsdebatte
statt Trendkleidung nachgetragene Geschwisterkleidung anhaben, dass sie im Winter Sommerschuhe und T-Shirts, im Sommer aber Winterstiefel und Jacken aus Mangel an Alternativen tragen, dass ihre Eltern Arbeitsmaterialien und Klassenfahrten sowie Ausflu¨ge und auch den Schulbus nicht bezahlen ko¨nnen, dass sie keine Sportkleidung besitzen, dass sie nie mit ihren Eltern oder mit anderen Gruppen in den Urlaub fahren ko¨nnen und – was sehr ungewo¨hnlich neu ist –, dass sie weder ein Handy noch zu Hause einen Computer haben. Kinder, die so leben, scha¨men sich dafu¨r, verschweigen ihre Armut und finden – auch den Lehrkra¨ften gegenu¨ber – reichlich Ausreden, um ihre Situation zu verbergen, denn sie haben Angst, als Außenseiter eingestuft zu werden. Wenn Kinder in Armut leben, ko¨nnen ihre Eltern kaum noch die so wichtige Rolle des Erziehungsberechtigten ausfu¨llen, stellen die Lehrer fest; manche Eltern schieben sogar in Gegenwart des Kindes eine Krankheit vor, um zu begru¨nden, warum das Kind nicht an einem Bewerbungstraining oder an einer Schulabschlussfahrt teilnehmen kann. Genau diese Eltern nutzen aber auch aus Scham nicht die Angebote der sozialen Dienste oder der Arbeitsagentur, sich die Ausgaben fu¨r schulische Projekte von dort erstatten zu lassen. Der Schulleiter Schmidt fasst daher zusammen, dass „Aussehen“ und „Ansehen“ eines Kindes offenbar eng zusammen liegen und damit auch der Bildungserfolg des Kindes. Armut ist ein bedeutsamerer Faktor fu¨r die Wahl der Schullaufbahn als Intelligenz, denn in armen Familien gibt es auch keine Zeitungen, Bu¨cher, Theaterbesuche, keinen Musikunterricht, keine Sportvereinsmitgliedschaft, stattdessen aber viel Stress zwischen den Eltern und ihren unzufriedenen Kindern. Aus dieser depressiven Ausgangslage heraus werden Rauchen, Alkohol- und Drogenkonsum und schließlich „Abziehen“, Diebstahl und zuschlagende Gewalt begu¨nstigt, aber auch eine vo¨llig falsche Erna¨hrung und oft schlimme Krankheitsgeschichten. Wissen die Politiker eigentlich hinla¨nglich um diese Zusammenha¨nge? Und wenn ja, wann folgt ihr Handeln dagegen?
Zur Gewaltdebatte
Schuldenfalle Handy – Schuldenopfer Kind emand hat unla¨ngst einmal beklagt, „dem Kind droht die Vera¨nderung von einem liebenswerten Gesamtkunstwerk zu einer materiell verwo¨hnten Erziehungsruine“. Wir staunen, wenn wir auf dem Hamburger Jungfernstieg einen neunja¨hrigen Jungen mit perfekt gestyltem, gegeltem Haar, mit teuren Markenklamotten, mit modischer Sonnenbrille, mit coolem maskenhaften Gesicht und selbstbewusstem aufrechten Gang sehen, der machohaft ein gleichaltriges Ma¨dchen so umarmt, dass dabei sein Goldkettchen am Hals, sein gepierctes Ohr und sein Armreif sichtbar werden und sein Handy aus der Tommy-Hilfiger-Jacke auf die Straße fa¨llt, und fragen uns dann: „Ist das nicht alles ein wenig zu fru¨h?“ Der Hamburger Freizeitwissenschaftler Horst W. Opaschowski nennt unsere nachwachsende Generation eine „schuldenmachende Erlebnisgeneration“, die allerdings auch a¨ußerst kommunikativ sei. Sta¨ndiges Telefonieren und das Versenden und Empfangen von ziemlich substanzarmen SMS-Nachrichten ergeben manchmal eine u¨ble Mischung, die allzu oft in die Schuldenfalle fu¨hrt. Das Kreditkartenzu¨cken und die berziehung des Girokontos bei Jugendlichen, das Leihen von Geld bei Fremden und Verwandten und die Hoffnung, dass Oma irgendwann alles wieder ins Lot bringt, sind la¨ngst ebenso zum Automatismus geworden, wie es selbstversta¨ndlich geworden ist, in gefu¨llte Kaufhausregale zu greifen, ohne sofort bezahlen zu mu¨ssen. Das berangebot der Gescha¨fte, zu Konsum auffordernde Werbespots und der Sog der Jugendkulttrends mu¨nden allzu oft in Kaufsucht und Konsumzwang, und wenn zur Zeit viele Erwachsene vor dem Hintergrund der Finanz- und Wirt-
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schaftsprobleme unserer Gesellschaft den „Gu¨rtel enger schnallen“, so gilt das u¨berhaupt nicht fu¨r die Kids: Selbst Sozialhilfeempfa¨nger sind immer noch geneigt, ihren Kindern aus einem schlechten Gewissen heraus nahezu jeden Wunsch zu erfu¨llen. Kinder lernen die berho¨hung des Materiellen durchweg von den Erwachsenen, und sie glauben, dass sie mit Investitionen in ihre Außenwirkung ihren Wert und damit ihre soziale Anerkennung erho¨hen ko¨nnen. „Du bist, was du hast, nicht was du leistest“ ist leider ein weitverbreitetes Motto bei jungen Menschen, mit dem sie mittlerweile fast fu¨nf Milliarden Euro Schulden angeha¨uft haben, sodass sie gleichzeitig zunehmend bemu¨ht sind, durch Ausfu¨hren von Hunden, durch Nachhilfeunterricht, durch Austragen von Blumen oder Wochenbla¨ttern, durch Einkaufsdienste fu¨r alte Menschen, durch Rasenma¨hen oder durch Babysitting ihr Budget zu verbessern, und damit setzt dann oft ein Gefu¨hl fu¨r den Wert von Geld und fu¨r den Zusammenhang von eigener Leistung und Konsumierenko¨nnen ein; es beginnt also – wenn auch oft viel zu spa¨t – das verantwortungsvolle Haushalten. Mittlerweile verfu¨gt schon jeder zweite Sechs- bis 13-Ja¨hrige in Deutschland u¨ber ein Handy, bei u¨ber 16-Ja¨hrigen sind es gar 92 Prozent. In Finnland liegen die Zahlen noch ho¨her. In Da¨nemark wurde eigens eine Spezialklinik gegen SMS-Sucht geschaffen, denn Telefonrechnungen von bis zu 1800 Euro pro Monat und Spitzenwerte von 250 SMS-Nachrichten pro Tag schon bei 13-Ja¨hrigen sind keine Seltenheit mehr. SMS-Nachrichten scheinen das beste Mittel gegen Einsamkeit, Langeweile und Perspektivarmut zu sein und der am ha¨ufigsten beschrittene Weg des Buhlens um Freundschaften, scheinbar ein Muss auf dem Weg nach oben in den Rangordnungen der Kids. Immerhin werden allein in Deutschland pro Jahr etwa 40 Milliarden dieser stimmlosen Kurzmitteilungen, die durchweg voller orthografischer Fehler sind, verschickt. 72 Prozent unserer Zwo¨lf- bis 19-Ja¨hrigen begleichen u¨brigens ihre Handy-Gebu¨hren mit einer im voraus bezahlten (Prepaid-) Karte, die sie meist von ihren Eltern monatlich zur Verfu¨gung ge-
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stellt bekommen, um den sorgsamen Umgang mit dem gebu¨hrenfressenden Kommunikationsmittel zu schulen. Zehn Prozent nutzen ihr hochwertiges Handy bereits zum Surfen im Internet und 15 Prozent zum Hilfeanfordern bei der Bewa¨ltigung von Schulaufgaben, wie eine Studie des Medienpa¨dagogischen Forschungsverbandes Su¨dwest festgestellt hat. Wie Eltern mit diesen Tendenzen umgehen sollten, ist leichter gesagt als getan: Sie mu¨ssen den sparsamen Umgang mit Geld und Gu¨tern vorleben, sie mu¨ssen bei Taschengeld und Konsumwu¨nschen die je nach Altersstufe und Individualita¨t sinnvolle Mitte treffen, materielle Zuwendungen auf diese Weise dosieren und begru¨nden, aufgestellte Regeln konsequent einhalten. Sie mu¨ssen auch zum Neinsagenko¨nnen erziehen, was nur mit gleichzeitigen Leistungs- und sozialen Anerkennungserfolgen gelingt, und in ihrem Kind eine kritische Distanz zu allgemeinen gesellschaftlichen Tendenzen und speziellen Jugendkulttrends aufbauen. Dies wiederum setzt Selbstbewusstsein und Reden-, also Argumentierenko¨nnen des jungen Menschen voraus, nicht aber ein u¨bererwartungsvolles und niederlagenreiches Leben, das ja verfu¨hrbar macht.
Ballerspiele und Emotionalita¨t inder, die in einem multimedial vernetzten Kinderzimmer oft und lange Ballerspiele und Autorennen spielen, die viel Grausames sehen, die an der Playstation sta¨ndig auf irgendwelche Wesen schießen, fallen mit 15 Jahren mit großer Wahrscheinlichkeit durch vier Besonderheiten auf: Sie ko¨nnen erstens nicht mehr gut zuho¨ren, weil das sta¨ndig actionreiche, farbige und schnell wechselnde Bild aus einem Horrorfilm, einem Comic oder von der Spielkonsole ihre Wahrnehmungsschwelle in einer Weise „versaut“ hat, dass die Lehrerin oder der Lehrer buchsta¨blich nicht mehr geho¨rt werden bzw. durchdringen ko¨nnen. Sie haben zweitens bereits eine neue
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„Fehlerkultur“ drauf, mit der sie besonders gut u¨ber Versuch und Irrtum („trial and error“), also u¨ber Um- und Irrwege zu lernen vermo¨gen, sodass sie drittens spa¨ter beruflich gesehen besonders industriegeeignet sind und beim vorletzten „Nachbeben“ von PISA 2 auch in Mathe, Technik und Naturwissenschaften etwas besser abgeschnitten haben als wenig fernsehende und computerspielende Kinder. Aber fu¨r diesen geringen Zugewinn, den die Schule ohnehin leider nicht mit ihrer u¨berkommenen Fehlerkultur einfa¨ngt, muss ein hoher Preis bezahlt werden: Der Hirnforscher Manfred Spitzer hat festgestellt, dass viel fernsehende und an der Playstation agierende Kinder deutlich geschrumpfte emotionale Hirnzonen haben. Das wirkt sich so aus, dass sie relativ bindungsarm und schmerzempfindlich werden. Das mu¨ssen dann spa¨tere Partner und auch die Kinder dieser Kinder ausbaden!
Immer wieder neue Gewaltvarianten or vielen Jahren kamen massenhaft norwegische Jugendliche in la¨ndlichen Regionen auf die Idee, mit dem Auto ihres Vaters mo¨glichst lange frontal auf der falschen Spur auf ein entgegenkommendes Auto zuzuhalten und erst in letzter Sekunde auszuweichen. Viele verheerende Unfa¨lle waren die Folge. Es ging um den Kick, um den Reiz des Prickelnden. Unla¨ngst hatten wir die Happy-Slapping-Welle, die von Großbritannien zumal nach Niedersachsen heru¨bergeschwappt war: Jugendliche inszenierten Gewalt, nahmen sie per Handy oder Digitalkamera auf und stellten die Bilder dann ins Internet. Ein 17-Ja¨hriger in Hildesheim hat sich in sein Zimmer eingeschlossen, Feuerzeugbenzin inhaliert und verstarb dann; er wollte aus seinem grauen Alltag aussteigen, hat das aber nicht u¨berlebt, weil er sich in der Dosis verscha¨tzt hatte. In den USA gibt es jetzt eine neue Welle bei Sechs- bis 19-Ja¨hrigen: Auf Schulho¨fen und in Freizeitcliquen grassiert das „Choking Game“: Bei diesem Wu¨rgespiel dru¨cken sich Kinder oder Jugend-
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liche selbst oder gegenseitig mit bloßen Ha¨nden, einem Halstuch, einer Leine oder einem Gummiseil die Halsschlagader ab, bis es zu einer kurzen, aber berauschenden Bewusstlosigkeit kommt. 90 Prozent derjenigen, die diesen „ultimativen Kick“ suchen, sind Jungen. 84 von ihnen mussten diesen Ausflug in den Reiz des Prickelnden mittlerweile mit dem Leben bezahlen, sie erstickten wa¨hrend ihrer Rausch-Ohnmacht. Da viele Kinder inzwischen dieses Experiment ganz allein durchfu¨hren, geht die US-Gesundheitsbeho¨rde von einer hohen Dunkelziffer aus, denn in den Polizeiberichten steht oft nur „Tod durch Selbst-Strangulation“. Noch nie sind junge Menschen so vielen Reizen einer medial und real auf sie einstro¨menden Welt ausgesetzt gewesen. Offenbar la¨sst die Reizu¨berflutung sie so abstumpfen, dass sie sich auf die Suche nach noch sta¨rkeren Reizen begeben, entweder mit dem Kick, das Verbotene zu tun, oder mit einem Rauschbedu¨rfnis oder auch ganz legal mit Bungee-Springen, Wasserrafting oder Freeclimbing, wenn es schon nicht eine Atlantik-berquerung mit dem Floß oder die Besteigung des Mount Everest sein kann. Mein Gott, muss das Leben fu¨r viele Zeitgenossen langweilig sein! Vielleicht haben sich ja deshalb 17 junge Menschen innerhalb von nur 13 Monaten in der englischen Kleinstadt Bridgend erha¨ngt?
Gewalt potenziert Gewalt n Großbritannien ist es seit 1996 untersagt, Schu¨ler ko¨rperlich zu zu¨chtigen. 40 christliche Privatschulen wollen das Verbot nun gerichtlich aufheben lassen. Begru¨ndung: Die Pru¨gelstrafe geho¨re zum Glauben. In amerikanischen Schulen ist das dort „Paddling“ genannte Pru¨geln mit dem Rohrstock bzw. einer ein Meter langen und am Ende flachen Gerte weitverbreitet, vor allem in Schulen, die sich christlich nennen. In 22 US-Staaten ist das Pru¨geln der Schu¨ler immer noch erlaubt; so bekommen beispielsweise in Mississippi
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immer noch fast zehn Prozent der Schu¨ler gelegentlich den Hintern versohlt. Striemen und Blutergu¨sse werden dabei akzeptiert. In Deutschland ist es zum Glu¨ck anders. Als letztes Bundesland hat Baden-Wu¨rttemberg die Pru¨gelstrafe in Schulen 1976 abgeschafft. Man fragt sich, was das Verbot der Pru¨gelstrafe mit der Beschneidung der Religionsfreiheit zu tun hat. Die christlichen Schulen sehen jedenfalls die ko¨rperliche Zu¨chtigkeit als Gebot an, das im Alten Testament mit dem Satz „Wer sein Kind liebt, zu¨chtigt es“ verankert sei, und so wird im „Bible Belt“, dem Bibel-Gu¨rtel der USA, fro¨hlich weiter gepru¨gelt; 74 000 Schu¨ler wurden allein in Texas im letzten Jahr Opfer dieses Rituals. Immanuel Kant hat einmal gesagt: „Der Krieg ist darin schlimm, dass er mehr bo¨se Menschen macht, als er deren wegnimmt.“ Und so wundert es nicht, dass eine Forschergruppe um Lenore Walker von der University of Denver in einer Langzeitstudie ermittelt hat, dass der Mensch von Natur aus nicht gewaltta¨tig geboren wird, sondern diesbezu¨glich als „unbeschriebenes Blatt“ auf die Welt komme, dass aber Kinder, die oft geschlagen werden, mit einer um 700- bis 1000-mal gro¨ßeren Wahrscheinlichkeit spa¨ter Schla¨ger werden als Kinder, die nie geschlagen werden. Also kommt das Forscherteam umgekehrt auch zu dem sehr hoffnunggebenden Resultat: Kinder, die nicht geschlagen werden, die gut sprechen bzw. argumentieren ko¨nnen, die selbstbewusst und selbststa¨ndig sind, werden spa¨ter weder als Schla¨ger noch als Opfer in nennenswerten Zahlen auffa¨llig. Wollen wir also hoffen, dass die britischen Gerichte den Antrag der Christian Fellowship School in Liverpool, die fu¨r 40 britische Schulen spricht, auf Wiederzulassung der Pru¨gelstrafe ablehnen und dass der neue amerikanische Pra¨sident Barack Obama die Pru¨gelstrafe in allen Bundesstaaten abzuschaffen vermag.
Gibt es Rezepte gegen Gewalt?
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Gibt es Rezepte gegen Gewalt? und 43 Prozent aller schweren Gewaltdelikte in Deutschland werden von jungen Menschen unter 21 Jahren begangen, 90 Prozent davon sind ma¨nnlichen Geschlechts, die Ha¨lfte davon sind Jungen aus Migrantenfamilien. Die Jugendkriminalita¨t ist in den letzten Jahren um etwa 30 Prozent zuru¨ckgegangen, aber gleichzeitig hat sich die Zahl extremer Gewaltdelikte verdoppelt. Also beschließt die Bundes-CDU eine Verscha¨rfung der Strafmaßnahmen gegen jugendliche Gewaltta¨ter, und sie folgt dem hessischen Ministerpra¨sidenten Roland Koch, der Erziehungscamps fu¨r junge Wiederholungsta¨ter vorgeschlagen hat. Der Leiter des Niedersa¨chsischen Kriminologischen Forschungsinstituts, Christian Pfeiffer, sieht die Lo¨sung dagegen in einer besseren Bildung fu¨r junge Menschen, weil 22 Prozent der zugewanderten jungen Menschen nicht einmal den Hauptschulabschluss erreichen; und das sind vor allem wieder Jungen. Unsere Gesellschaft sucht also nach Lo¨sungen, aus der Gewaltspirale herauszukommen und reagiert damit zum Glu¨ck eher als die britische, an der wir immer ein paar Jahre vorher ablesen ko¨nnen, was auf uns zukommt. Die autoknackenden „Crash Kids“ gab es dort schon massenhaft, bevor sie bei uns Sorge bereiteten. Die Friedhofskultur betreibenden „Grufties“, die schwarzgekleidet, bleichgesichtig zur Musik der Gruppe „The Cure“ nachts um Gra¨ber tanzten und in Sa¨rgen schliefen, erreichten Itzehoe und Niederwu¨rzbach bei uns erst, als diese Welle in England schon wieder abflaute, und das Filmen von initiierter Gewalt mit Handys und Digitalkameras, das „Happy Slapping“, begann in Niedersachsen, als in Großbritannien das Zusammenschlagen und Erschießen von Jugendlichen diesen Trend schon la¨ngst u¨berholt hatte. 27 Jugendliche sind 2007 allein in London durch andere Jugendliche erschlagen oder erschossen worden. Und jetzt leiden vor allem Hamburg und Berlin unter der Zunahme des Erschlagens oder Tottretens von Menschen vor Discos, Clubs und nach Konzerten, meist
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nach Saufgelagen und oft verknu¨pft mit dem Kampf um Ma¨dchen und dem, was die Ta¨ter „Ehrverletzung“ durch „Dumm-Angucken“ nennen. Also welche Rezepte helfen? Hohe Strafen schrecken in der Regel deshalb nicht ab, weil die Ta¨ter im Moment der Tat gar nicht an die Folgen denken, sagt der Deutsche Richterbund. Erziehungscamps sind gut, wenn die Pa¨dagogen, die diese Camps leiten, charismatische Pa¨dagogen sind – wie zum Beispiel Lothar Kannenberg mit seinem Boxcamp auf einem Bauernhof bei Kassel, Kari Bjo¨rkman mit seiner Pa¨dagogischen Farm Kuttula in Finnland oder Dieter Dubbert mit seinem Bismuna-Projekt in Nicaragua. Die amerikanischen Erziehungscamps („Boot-Camps“ genannt) mit ihrem milita¨rischen Drill sind jedenfalls fehlgeschlagen, weil die jungen Menschen zwar den Tag u¨ber erscho¨pft, aber nicht vom Unrecht ihrer Taten u¨berzeugt werden, sodass hohe Ru¨ckfallquoten die Folge sind. Erziehungscamps sind also personen- und konzeptabha¨ngig. Sie funktionieren gut, wenn die Pa¨dagogen es rund um die Uhr mit den jungen Menschen aushalten. Wenn die jungen Menschen erleben, dass sie etwas ko¨nnen und gebraucht werden. Wenn sie ein neues und gutes Verha¨ltnis zu ihrem eigenen Ko¨rper gewinnen, wenn ihr vorheriges Leben im Camp „begraben“ wird (dafu¨r gibt es auf dem Bauernhof von Lothar Kannenberg eigens einen Friedhof) und wenn Lebenserfolge wie Schulabschluss und Ausbildung nachgereicht werden. Vor allem aber, wenn per Konfrontation durch Mitglieder ihrer Peergroup, die auch Schlimmes getan haben, die Gewaltdelikte verpo¨nt werden. Wenn von den Jugendlichen anerkannte Gleichaltrige ihnen ein Konfliktbewa¨ltigungsverhalten zeigen und eintrainieren, wie es beim Anti-Aggressivita¨ts-Training auf dem „Heißen Stuhl“ passiert. Jedoch muss diese Integrationsleistung gegenu¨ber der Gesellschaft noch erga¨nzt werden durch die gegenu¨ber der eigenen Herkunftsfamilie: mit einer ganz anderen Sicht, gelassen, aber abgelo¨st von der Vergangenheit und gesta¨rkt durch neue Erfolge in Sachen Selbstbewusstsein, Schulabschluss,
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sowie berufliche und soziale Perspektiven, wie es im Jugenddorf Cund der Makarenko-Schifffahrtsgesellschaft aus Arnis in Ruma¨nien mit drogenabha¨ngigen und gewalterfahrenen deutschen Kindern und Jugendlichen passiert. Am Ende hat Christian Pfeiffer recht: Ein erzieherisches Fru¨hwarnsystem in Bezug auf das familia¨re Aufwachsen und eine gute Bildung fu¨r Kinder aus Problemmilieus sind der beste Schutz gegen eine Spirale der Gewalt. Aber das ist ein „dickes Brett“, das da zu bohren ist.
Kinder, Jugendliche und Alkohol equila, Wodka, Alcopops und Bier – immer o¨fter werden immer ju¨ngere Menschen volltrunken in Kliniken eingeliefert. Die Drogenbeauftragte des Deutschen Bundestages schla¨gt Alarm. „Kampfsaufen“, „Komasaufen“ und „Flatrate-Trinken“ werden in ffentlichkeit und Politik als schlimme Pha¨nomene problematisiert. Jugendliche selbst sprechen von „Vorglu¨hen“, wenn sie sich im Supermarkt Alkohol besorgen, um vor der Party, der Disco, der Jam, dem Fußball-Event, dem Konzert oder dem Club billig einen hohen „Alk-Level“ zu erreichen, weil die spa¨ter angebotenen Getra¨nke zu teuer sind. 13-, 14- und 15-Ja¨hrige werden mit u¨ber vier Promille bewusstlos aufgefunden, liegen danach lange im Koma oder sterben sogar. Manchmal liegt es an mangelnder Erfahrung, denn viele Kinder wollen nur den Alkoholrausch ausprobieren und ahnen nicht, dass mit dem Leeren der Wodka-Flasche auch die Vergiftung im Ko¨rper voranschreitet, zumal die Wirkung an der frischen Luft durch viel Sauerstoff potenziert wird. Andere Kids haben sich seit dem elften Lebensjahr zunehmend nicht nur an Schnu¨ffeln, Rauchen und Haschen gewo¨hnt, sondern steigern auch stetig die Schluckfrequenz. In Berlin wurde ein 15-ja¨hriges Ma¨dchen nach etwa dreißig 40-prozentigen Schna¨psen bewusstlos in die Charite´ eingeliefert; sie hatte laut ihrer Freundin in der
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5. Klasse mit dem regelma¨ßigen Trinken angefangen, „weil es so gemu¨tlich ist“. Immer mehr Kinder wachsen mit einem bermaß an Reizen, an Verdruss und an Niederlagen auf; die Menge der ta¨glichen Einflu¨sse durch Familie, Freunde, Medien, Schule und Straße nimmt dabei oft in einer Weise zu, dass jeder Einzelreiz nur noch oberfla¨chlich wahrgenommen und nicht mehr richtig verarbeitet wird. Also wa¨chst das Außengelenktsein, schrumpft der innere Halt. Obwohl solche jungen Menschen unglaublich viel erleben, bleiben sie innerlich leer, ihr Gefu¨hlsleben verarmt, sie werden bindungsarm bis bindungsunfa¨hig und relativ unempfindlich, denn Niederlagen in der Gleichaltrigkeit, in der Familie und in der Schule haben sie so reichlich, dass die einzelne ihnen nicht mehr viel ausmacht. Sie begeben sich daher auf die Suche nach ha¨rteren Kicks, damit sie u¨berhaupt noch etwas erleben, und sie wollen damit zugleich den grauen Alltag vergessen, ihm im Rausch entfliehen, aber auf der Suche nach dem Traum, nach dem virtuellen Glu¨ck jenseits der Realita¨t. Durch den Rausch wird ihr Lebensgefu¨hl voru¨bergehend erho¨ht. Ohne Rausch nehmen sie kaum noch etwas wahr, auch weil sie meinen, dass sie von Niemandem so richtig wahrgenommen werden. Ihre Bilanz im Sinne einer Lebensbalance stimmte nie; sie wurden nie richtig gefordert und gesta¨rkt, sie bekamen nie die ihnen angemessene Resonanz, als sie klein waren. Immer mehr junge Menschen kommen mit sich allein nicht mehr klar, ko¨nnen mit sich allein nichts mehr anfangen. Sie mu¨ssen immer unter Leuten sein, inmitten von Events und mit „stofflicher“ Ersatzbefriedigung. Sie haben ihre Mitte, ihre Identita¨t und ihre Zukunft nicht gefunden, also wollen sie wenigstens fu¨r einige Stunden aussteigen, mit dem Rausch, den sie dann wenigstens als solchen spu¨ren. Das ist furchtbar arm, es ist aber auch ein Spiegelbild unserer gesamten Gesellschaftssituation: Konsum statt Sinn, das goldene Kalb statt des Go¨ttlichen; der Papst hat das bei seinem Besuch in Brasilien angeprangert. Allzu viele Jugendliche leben immer an der Grenze, ohne ganz abzugleiten; sie versuchen mit dem sta¨ndi-
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gen Wechsel von Stimulation und Da¨mpfung irgendwie u¨ber die 24 Stunden eines Tages zu kommen, mit Kaffee, Nikotin, Zucker, Energy-Drinks, Kopfschmerztabletten, Schlaf- und Beruhigungsmitteln, Cola, Joints, Alkohol, Schokolade und viel Essen; mit lauter Musik, Menschenansammlungen, Events und mit total ausgebranntem Einpennen und am na¨chsten Morgen Verschlafen, bevor es dann wieder mit Espresso, Zigaretten und Kopfschmerztabletten in das Gewusel des na¨chsten Tages geht, der bereits voller Erwartungen durch andere Menschen, voller Niederlagen und unerfu¨llter Tra¨ume ist. Das kann weder fu¨r den Einzelnen noch fu¨r die ganze Gesellschaft auf Dauer gut gehen!
Warum greifen immer mehr Jugendliche zu Drogen? rystal Meth“ heißt die neue Modedroge, die aus Osteuropa nach Deutschland dra¨ngt, weil hier ein Markt dafu¨r entstanden ist. Sie fu¨hrt zu einem kurzen Rausch, la¨sst auf Dauer die Za¨hne faulen und birgt die Gefahr von Hirnblutungen und – in Verbindung mit viel Alkohol – von Herzstillstand. Zuvor war es Yaba, davor Crack, davor Ecstasy, und alles ist immer noch neben Hasch, Kokain, Heroin, Speed, LSD usw. im Angebot, erga¨nzt durch Aufputsch- und Beruhigungsmittel, Kopfschmerztabletten, Alcopops, Power-Drinks, Kaffee, Nikotin und ganz viel Zucker. Bereits 85 Prozent der 14-Ja¨hrigen konsumieren o¨fter mal Alkohol, 63 Prozent tun es regelma¨ßig, 73 Prozent rauchen gelegentlich und 63 Prozent regelma¨ßig; 39 Prozent nehmen gelegentlich Cannabis-Produkte, 17 Prozent tun es regelma¨ßig, 12 Prozent nehmen ha¨rtere Drogen manchmal, fu¨nf Prozent regelma¨ßig. Das sind erschreckende Zahlen. Illegale Drogen werden von Jugendlichen in einem Umfang konsumiert, wie fru¨her nur Alkohol und Nikotin. Ungewollt tragen gerade Eltern aus „besseren Kreisen“ zu dieser Entwicklung bei: Sie haben ihren Kindern fru¨h erfolgreich bei-
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gebracht, dass man nicht schlagen und zersto¨ren darf und dass Fa¨kaliensprache zu vermeiden ist. Und sie haben ihnen daru¨ber hinaus klargemacht, dass Aggressionen verbaler Art, Zuschlagen und Zersto¨ren bestraft werden. Das aggressive Ventil, um nach einem Frust wieder ins Gleichgewicht zu kommen, ist also „erziehungsbewusst“ effizient verbaut worden, sodass den Kindern nur noch das bleibt, was zuna¨chst nicht bestraft wird, na¨mlich die Gewalt gegen sich selbst. Psychosomatische Erkrankungen, Selbstverletzungen, Depressionen, Suizidversuche, Esssucht, Magersucht, nervo¨se Tics, Na¨gelkauen und a¨hnliche Ausstiege sind dann vermeintlich der eine Ausweg; der andere ist der stoffliche Ausstieg per Rausch aus den vielen berforderungen des grauen Alltags mit seinen Niederlagen sozialer und leistungsma¨ßiger Art. Erst wenn Eltern verstanden haben, dass sie schon bei Vierja¨hrigen beginnen mu¨ssen, Verhaltensalternativen fu¨r kritische Situationen aufzuzeigen, vorzuleben und einzutrainieren, ko¨nnen die Jugendlichen in der Puberta¨t wieder so auf Alltagsprobleme direkt zugehen, dass sie nicht mehr stofflich, mit Rausch und Gewalt gegen den eigenen Ko¨rper ausweichen mu¨ssen, weil sie nicht gelernt haben, was sie denn sinnvollerweise, also angemessen, tun ko¨nnen, wenn sie ein Problem haben!
Drogen fru¨her, ha¨ufiger und sta¨rker ie Deutsche Gesellschaft fu¨r Suchtforschung und Suchttherapie kommt zu einem erschreckenden Befund: Schon Zehnja¨hrige rauchen in Deutschland Joints und gewo¨hnen sich rasch daran. Bei Zehn- und Elfja¨hrigen ist das Nervensystem aber noch so empfindlich, dass sich schwere Dauerscha¨den einstellen (zum Beispiel ngste, Depressionen und Geda¨chtnissto¨rungen). Wenn Frauen wa¨hrend der Schwangerschaft kiffen, steigt das Risiko, dass ihr Kind spa¨ter auch kifft, um das 2,5-Fache. Etwa 90 Prozent der Jugendlichen, die Cannabis rauchen, tun das, um Spaß zu haben, um
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Warum verletzen sich junge Menschen selbst?
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gegen die Eltern und den grauen schulischen Alltag zu rebellieren und um nicht Außenseiter in ihrer Clique zu werden. Denn wenn alle anderen in der Gruppe high sind, ist es nicht so witzig, als einziger nicht high zu sein! Besonders erschreckend ist aber, dass sich die Konzentration von THC, dem Hauptwirkstoff in Cannabis-Produkten, in den letzten Jahren verfu¨nf- bis -siebenfacht hat, was Eltern verharmlosend unterscha¨tzen, wenn sie vor 20 Jahren selbst mal gehascht haben. Eine Steigerung dieser Konzentration sorgt na¨mlich nicht nur fu¨r schlimmere ko¨rperliche Sto¨rungen, sondern auch fu¨r eine deutliche Zunahme der Abha¨ngigkeit. So ka¨mpft Rainer Thomasius, der Leiter der Kinder- und Jugend-Suchtklinik im Hamburger Universita¨ts-Krankenhaus seit Jahren gegen die Verharmlosung von Cannabis-Drogen mit dem Argument: „Man muss schon sehr lange und viel Alkohol trinken, um in einer Klinik zu landen, beim intensiven Haschen geht es um ein Vielfaches schneller, denn vor allem sind es massive Perso¨nlichkeitsvera¨nderungen, wenn ein junger Mensch heutzutage die u¨berstarken Cannabis-Produkte raucht, nicht so sehr der Haarausfall und die Hautaustrocknung, die die Eltern meist zuerst diagnostizieren. Im Jahr 2007 wurden im Hamburger Universita¨ts-Krankenhaus bereits u¨ber 700 Jugendliche wegen exzessiven Cannabis-Konsums behandelt. Und die Hamburger Gesundheitsbeho¨rde hat jetzt dort zwo¨lf weitere stationa¨re Pla¨tze fu¨r Su¨chtige eingerichtet, ein Indiz fu¨r die Zunahme dieses gesellschaftlichen Problems.“
Warum verletzen sich junge Menschen selbst? twa 14 Prozent aller 14-Ja¨hrigen in Deutschland ritzen sich selbst mit Messern oder Rasierklingen an den Armen, den Beinen oder im Gesicht an, trinken Sa¨ure, um sich innerlich zu vera¨tzen, schlagen ihren Kopf gegen Wa¨nde oder dru¨cken sich Heftzwecken in die Hand. Fru¨her waren 90 Prozent dieser auto-
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destruktiven Jugendlichen Ma¨dchen, aber inzwischen nimmt auch der Anteil der Jungen deutlich zu. Warum sind immer mehr junge Menschen autoaggressiv? Offiziell heißt es, dass sie sich mit der Gewalt gegen sich selbst gegen Einsamkeit, ngste, Perspektivarmut oder Frust wehren. Aber in Wirklichkeit ist es dramatischer: Selbstverletzendes Verhalten (SVV), wie es in der Medizin heißt, ist eine nur sehr schwierig zu therapierende Krankheit, die auf schlimme Gewalterfahrungen zuru¨ckzufu¨hren ist; das kann sexueller Missbrauch sein oder Benachteiligung im Rahmen der Geschwisterreihe in einer Familie oder sta¨ndiges Verpru¨geln. Gru¨nde ko¨nnen aber auch schulische Niederlagen sein, geringe Anerkennung in der Peergroup oder auch, dass der junge Mensch sich selbst nicht mag, weil er subjektiv mit seinem Ko¨rper nicht einverstanden ist, sich beispielsweise fu¨r zu fett ha¨lt, was objektiv betrachtet gar nicht der Fall sein muss, wie wir von Magersu¨chtigen wissen. Ein permanent hoher Grundschmerz belastet so sehr, dass unbewusst das Bedu¨rfnis wa¨chst, ihn gelegentlich mit einem noch gro¨ßeren Schmerz anderer Art zu unterbrechen, und das geht zum Beispiel, indem man sich Speisero¨hre und Magenmund mit Sa¨ure vera¨tzt oder sich mit einem Messer verletzt. Der Mensch gera¨t dann in einen „dissoziativen Zustand“, wie der Experte fu¨r SVV am Landeskrankenhaus Go¨ttingen, Ulrich Sachsse, formuliert, den man sich so vorstellen kann, wie beim Aufwachen nach einem Traum: Man lebt kurzzeitig in zwei Welten zugleich, noch in der Traumwelt und schon in der Realita¨t; das ist fu¨r viele Menschen so bea¨ngstigend, dass sie sich dann selbst in den Arm kneifen. Mit dem Selbstverletzen kann man das Leiden in der Vergangenheit und in der Gegenwart durch das Eintauchen in eine dritte Welt, na¨mlich in die des ko¨rperlichen Schmerzes, verdra¨ngen. Deshalb passieren solche „bersprunghandlungen“. Selbstverletzer sind nur sehr aufwendig zu heilen, was Zuwendung und Zeit anbelangt. Man muss ein gutes Verha¨ltnis zum eigenen Ko¨rper herstellen, soziale Erfolge und solche schulischer und beruflicher Art organisieren und Freude auf die eigene Zukunft aufbauen.
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Immer mehr Kinder konsumieren Pornografie mmer mehr Kinder wachsen mit einem Mangel an Bewegungserfahrungen in der realen dreidimensionalen Welt auf. Sie ko¨nnen spa¨ter ha¨ufig nicht gut Kra¨fte, Geschwindigkeiten und Entfernungen einscha¨tzen, sind unsicher in Bezug auf ihre Muskelkoordination, ihren Haut- sowie ihren Gleichgewichtssinn, und sie haben ein hohes Risiko, links und rechts nicht unterscheiden zu ko¨nnen, denn sie sind im Wesentlichen in der virtuellen zweidimensionalen Bildschirmwelt aufgewachsen. Sie wachsen aber auch im Hinblick auf ihre Sexualita¨t oft in der virtuellen Welt der Bildschirmpornos auf. Eine Hamburger Grundschullehrerin berichtet, dass sie nicht selten bei Hausbesuchen erlebt, dass dort der Fernseher und der DVD-Player rund um die Uhr laufen, selbst wenn sie gerade mit den Eltern spricht. Gelegentlich gucken der Vater oder der a¨ltere Bruder nicht nur heftige Gewaltvideos, wa¨hrend das fu¨nfja¨hrige Kind gleichzeitig im Raum ist, sondern auch die denkbar ha¨rtesten Pornos. Die sexuelle Entwicklung der deutschen Kinder macht Lehrern, Sozialpa¨dagogen und Psychologen zunehmend Sorge, weil sie immer ha¨ufiger von der Einbettung in Emotionalita¨t und soziale Bindungen abgekoppelt wird. So sehen schon kleine Kinder sehr oft Pornos, ohne dass ihre Eltern je mit ihnen u¨ber Sexualita¨t, Freundschaft oder verbindende Liebe gesprochen haben. Sex wird per Bildschirm bloß konsumiert, er wird nicht in ein stimmiges Weltbild eingeordnet. Kinder wachsen fast ohne Za¨rtlichkeit auf; Kuscheln, Schmusen oder Ku¨ssen kennen sie aus eigener Erfahrung nicht als in eine allumfassende Liebe eingebunden, es hat nichts mehr mit Wir-Gefu¨hl zu tun, sondern nur noch mit „Ich“ und „Die da“. So prahlen schon kleine Ma¨dchen mit der Anzahl von Partnern, mit dem Statussymbol Bru¨ste, mit aufreizendem Outfit, mit Sexspielen und Stellungen; sie nutzen Sexualita¨t so, wie andere Leute mit ihren Autos oder Aktien prahlen. Tragisch ist dabei, dass
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sie Sex als Mittel der Beachtung, der Anerkennung und des Rangordnungsaufstiegs in Ansehensskalen nutzen. Wenn Elf- und Zwo¨lfja¨hrige mittags schon Pornos gucken und danach u¨ber eine Achtja¨hrige herfallen, wenn ein Zwo¨lfja¨hriger wa¨hrend des Unterrichts in der Schule onaniert, sich aber gleichzeitig von keinem Menschen anfassen la¨sst, weil er – aus Mangel an Erfahrungen – nie lernen konnte, mit vielen feinen Nuancen auf die vielen Varianten von Na¨he, Emotionalita¨t und Ko¨rperkontakt angemessen zu reagieren, dann steht das fu¨r die emotionale Vereinsamung von immer mehr Kindern unserer Gesellschaft, die als hilflosen Ausweg dann ihr Gleichgewicht u¨ber die Arten von Ko¨rperkontakt suchen, die keine Nuancen brauchen: Zuschlagende, pornografische und sexistische Ko¨rperkontaktbedu¨rfnisse. Es ist klar, was Eltern tun mu¨ssen: Sie sollten ihrem Kind eine allumfassende Liebe geben, Na¨he und Emotionalita¨t in all ihren positiven Nuancen vorleben und ihrem Kind gegenu¨ber gestalten, sie sollten ihre Kinder von Anfang an der Altersstufe entsprechend aufkla¨ren, sie sollten den Bildschirmkonsum kontrollieren und dosieren, mit Gespra¨chen begleiten und selbstversta¨ndlich keine Porno-DVDs besitzen oder in Gegenwart der Kinder anschauen. Wenn es dennoch Sorgen u¨ber die sexuelle Entwicklung eines Kindes gibt, bekommen Kinder, Eltern und Pa¨dagogen vertraulich Hilfe unter der Telefonnummer 0800–1110333, montags bis freitags von 15 bis 19 Uhr, bei der bundesweit ta¨tigen Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz.
Ist die Hauptschule eine Gewaltfabrik? hristian Pfeiffer, der Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, hat einen „Atlas der Gewalt“ fu¨r die Stadt Hannover vorgelegt. Zuna¨chst war der Oberbu¨rgermeister, Stephan Weil, auf der gemeinsamen Pressekonferenz daru¨ber pikiert: denn er heiße es nicht gut, dass die Stadtteile mit besonders viel Jugendgewalt und mit besonders vielen Rechtsradikalen auf
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diese Weise stigmatisiert wu¨rden. Aber Pfeiffer konnte darlegen, dass genau in diesen Stadtteilen die Gewalt deutlich abgenommen hatte. In Stadtteilen mit hohen Gewaltquoten habe man na¨mlich besonders viel gegen Gewalt getan, und das stimmt hoffnungsfroh. Offenbar gibt es Mo¨glichkeiten, die Gewaltspirale zu bremsen und zuru¨ckzuschrauben. So konnten mit schulischen Pra¨ventionsmaßnahmen Raub, Erpressung, Ko¨rperverletzung und sexuelle Gewalt um ein Viertel reduziert werden. Schulschwa¨nzen, bislang das Einstiegsdelikt Nr. 1 in Richtung Gewaltkarriere, konnte sogar um die Ha¨lfte verringert werden. Und die Gruppe der ma¨nnlichen tu¨rkischen Jugendlichen, die mehrfach straffa¨llig werden, konnte deutlich sta¨rker verkleinert werden als die der entsprechenden deutschen Jugendlichen. Warum? Immer mehr tu¨rkische Eltern entscheiden sich gegen die Hauptschulempfehlung der Grundschule und fu¨r eine Anmeldung ihres Sohnes an einem Gymnasium oder an einer Integrierten Gesamtschule. Damit gibt Pfeiffer ein klares Urteil gegen das Angebot von Hauptschulen ab. Die Hauptschule mit ihrer „Restkonzentration an Verlierern“ sei heutzutage, wo nicht mehr 30 oder 40 Prozent der Schu¨ler eines Geburtsjahrganges hier bleiben, sondern nur noch vier bis elf Prozent, zum Versta¨rkungsfaktor Nr. 1 der Jugendgewalt geworden! Jedenfalls besuchen in Hannover nur noch vier Prozent aller Schu¨ler eine Hauptschule, das ist der niedrigste Anteil aller deutschen Regionen, in denen es noch Hauptschulen gibt. In Mu¨nchen hingegen mu¨ssen die Eltern der Schullaufbahnentscheidung der Grundschule folgen, sodass es dort sta¨ndig steigende Gewaltdeliktzahlen insbesondere bei ma¨nnlichen Tu¨rken gibt, zumal wenn die Hauptschule gleichzeitig keine Ganztagsschule ist. Pfeiffers „Atlas der Gewalt“ sollte Pflichtlektu¨re fu¨r alle deutschen Bildungspolitiker werden, damit sie endlich begreifen: Hauptschulen darf es nicht mehr geben. Schulen mu¨ssen Ganztagsschulen sein, weil Ganztagsschulen, wie viele andere Studien belegen, die Familien deutlich erzieherisch sta¨rken.
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Es gibt auch du¨mmliche Studien anche Studien sind wirklich blo¨d, aber mit ihnen ko¨nnen sich Wissenschaftler irgendwie profilieren, und zugleich ist keine Studie blo¨d genug, als dass die Presse nicht daru¨ber berichtet. So gab es vor einiger Zeit eine kanadische Studie, die glauben machen wollte, dass Linksha¨nder im Schnitt sieben Jahre fru¨her sterben als Rechtsha¨nder. Eine Studie der Universita¨t Boston entblo¨det sich nicht, zu dem Ergebnis zu kommen, dass Ohrfeigen dick machen. Und Psychologen der britischen Universita¨t Warwick kommen zu dem Schluss, dass hochbegabte junge Menschen mit einem IQ u¨ber 130 zwischen elf und 19 Jahren Heavy-Metal-Musik bevorzugen. Zwar wird in den Studien immer zugleich relativiert, dass kein direkter Stoffwechsel-, neuroelektrischer oder gar genetischer Zusammenhang zwischen Linksha¨ndigkeit und Lebenserwartung, zwischen Fettleibigkeit und Geschlagenwerden sowie zwischen Intelligenzho¨he und Musikgeschmack nachweisbar ist, aber der hergestellte indirekte Zusammenhang tro¨stet auch nicht: So wird gewaltsam ein Zusammenhang zwischen Linksha¨ndigkeit, dadurch bewirkten ha¨ufigeren Niederlagen im Lebensvollzug des Alltags, zwischen „Spaddeligkeit“ und Geha¨nseltwerden sowie erho¨htem Frustpotenzial und Lebensverdruss hergestellt. So wird behauptet, dicke Kinder haben oft autorita¨re Eltern, die ihre Kinder zwingen, die Teller leer zu essen, sodass sie lernen, ihr Sa¨ttigungsgefu¨hl zu ignorieren und u¨ber den Hunger oder Appetit weit hinaus weiterzuessen, bis sich eine Gewo¨hnung an den Zusammenhang zwischen viel Essen, Wohlverhalten und Zufriedenheit der sozialen Umwelt einstellt. Und bei den IQ-starken Heavy-Metal-Fans wird
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geschlussfolgert, dass Hochbegabte einen Mangel an sozialen Kontakten unter Gleichaltrigen haben, durch den sie zu gemobbten Außenseitern mit geringem Selbstwertgefu¨hl werden, sodass sie aggressiv werden und in der Heavy-Metal-Musik ein Ventil suchen, um Aggressionen abzubauen. Zur Beruhigung direkt betroffener Leser, also der Linksha¨ndigen, bergewichtigen und Hochbegabten, sei gesagt: Keine Studie ist dumm – oder sagen wir besser – falsch genug, als dass sie nicht noch ihre Leser finden wird. Offenbar gilt auch hier ein u¨ber das Knie gebrochener Zusammenhang: Wer sich als Wissenschaftler nicht erfolgreich genug fu¨hlt, muss eine besonders absurde Studie erstellen, um wenigstens einmal Aufmerksamkeit zu erzielen. Denn welcher Wissenschaftler will schon irgendwann sterben, ohne dass ein Kollege gemerkt hat, dass es ihn u¨berhaupt gab?
Die Defizite der deutschen Schulen weimal drei Ru¨cksta¨nde werden von der PISA-Kommission der OECD den deutschen Unterrichtsanstalten vorgeworfen: Eine u¨bertriebene Belehrung, eine ineffiziente Fehlerkultur und eine u¨berstarke Bescha¨mungskultur einerseits und eine zu geringe Kooperation zwischen Schule und Elternhaus sowie zwischen Schule und Arbeitswelt und daru¨ber hinaus eine massive Unkenntnis in Bezug auf die Erkenntnisse der Hirnforschung u¨ber Lernen andererseits. „Bescha¨mung“ ist ein Wort, das wir herko¨mmlich kaum benutzen, aber es hat durch die bersetzung des entsprechenden Wortes aus dem Finnischen plo¨tzlich Bedeutung in der deutschen Bildungsdebatte gewonnen: Die Finnen haben als oberstes „Gebot“ den Satz: „Kinder niemals beim Lernen bescha¨men“, oder anders ausgedru¨ckt: „Erst muss der Lehrer Respekt vor dem Schu¨ler haben, dann bekommt er auch Respekt von ihm zuru¨ck.“ Sitzenlassen, Ru¨cklaufenlassen, Abschlussverweigern, Kursabstieg, fru¨her Beginn von roter Tinte und schlechten Noten und
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Hu¨rden am Ende der Grundschule, um auf weiterfu¨hrende Schulen zu gelangen, das ist Bescha¨mungskultur. Ein deutscher Gymnasiallehrer weiß immer, dass er Karl-Heinz jederzeit wieder loswerden kann; er muss sich also gar nicht auf seine Besonderheiten einstellen. Ein finnischer Lehrer weiß dagegen immer, dass er Janne nie wieder los wird, denn es gibt in Finnland kein Sitzenbleiben, kein gegliedertes Schulsystem, keine fru¨h einsetzende Benotung und kaum noch Sonderschulen; er wird sich also auf die „unebene Lernlandschaft“ von Janne einstellen und ihn in seiner Individualita¨t zu fo¨rdern versuchen. Integration in einer neun Jahre wa¨hrenden Grundschule ist eben keine Gleichmacherei, sondern eine Art, Gemeinschaft zu schaffen. Gleichmacherei ist aber das Unterrichten in einer 8. Realschulklasse; eine Lehrerin, die da unterrichtet, muss davon ausgehen, dass alle vor ihr sitzenden Schu¨ler gleich leistungsfa¨hig sind, denn sie sitzen weder in der 9. noch in der 7. Realschulklasse, weder im Gymnasium noch in der Hauptschule.
Ungerechte Schulen utta Allmendinger leitet Europas gro¨ßtes Sozialforschungsinstitut, das Wissenschaftszentrum Berlin (WZB). Sie hat den Begriff „Bildungsarmut“ geschaffen, und sie will damit sagen, dass die Armen zwar wenig Geld haben, dass deren gro¨ßtes Problem aber sei, dass ihre Kinder zu geringe Aussichten auf eine gute Bildung haben. „Deutschland la¨sst seine Talente verkommen“ ist ihr sta¨ndig wiederholter Satz. Und PISA hat uns diesbezu¨glich den Spiegel vorgehalten: Mehr als jeder fu¨nfte 15-Ja¨hrige in Deutschland ist nicht u¨ber die minimalsten Kompetenzen hinausgekommen; in vergleichbaren OECD-La¨ndern ist es nur jeder zwanzigste. Jeder dritte Viertkla¨ssler lernt in Sachen Leseversta¨ndnis bis zur Klasse 9 kaum noch etwas hinzu, was heißt, er kann zwar Wo¨rter vorlesen, weiß aber nicht, was sie im Zusammenhang mit anderen Wo¨rtern bedeuten. Arme Kinder werden in Deutschland zu fru¨h von mitreißenden
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Effekten guter Schu¨ler abgekoppelt. Deshalb schla¨gt die Familienerziehung in deutschen Schulen sta¨rker durch als die Begabung bzw. Intelligenz der Schu¨ler. Der Erziehungsauftrag der Schulen muss also gesta¨rkt werden, damit die Bildung wieder gelingt. Deshalb brauchen wir fla¨chendeckend Ganztagsschulen, wie sie in anderen La¨ndern selbstversta¨ndlich sind; deshalb brauchen wir erziehungsstarke Klassenlehrer in Erga¨nzung zu Fachlehrern, die den Eltern durch „aufsuchende“ Pa¨dagogik bei der Erziehung zu helfen vermo¨gen, und deshalb brauchen wir la¨ngere Grundschulen, neun oder zehn Jahre umfassend, damit Schu¨ler voneinander, durch Aussprechen, Handeln, Erkla¨ren, Pra¨sentieren und Fehlermachendu¨rfen, lernen ko¨nnen; deshalb mu¨ssen Schulen nicht erst bei Sechsja¨hrigen beginnen, sondern schon in Form von Vorschulen bei Drei- oder Vierja¨hrigen, damit erzieherische Defizite rechtzeitig ausgeglichen werden ko¨nnen. Denn so spa¨t, wie Schulen jetzt beginnen, sind sie zu teuer, weil Arbeitslosigkeit, Kriminalita¨t und Krankheit bei Kindern armer Leute einen riesigen Kostenfaktor fu¨r das Gesamtsystem Gesellschaft ausmachen, wenn wir nicht den Satz der Finnen beachten: „Auf den Anfang kommt es an!“
Die Schule hat sich schnell gewandelt anche Zeitgenossen behaupten, fru¨her sei an deutschen Schulen alles besser gewesen. Wieder andere sagen, es habe sich viel zu wenig in deutschen Klassenzimmern vera¨ndert. Und einige behaupten dagegen, die Wandlung der deutschen Schule ginge viel zu rasch voran. Es ist ja noch gar nicht so lange her, dass man in Schulprotokollen sehr Merkwu¨rdiges, aus heutiger Sicht betrachtet, lesen konnte. So finden sich in den Konferenzniederschriften der Hamburger Schule Curslack-Neuengamme folgende Eintra¨ge: (1911) „Beim Hinausgehen aus der Klasse gehen die Kinder in bestimmter Ordnung leise hinaus, und zwar die Knaben zuerst, weil die am schnellsten von der Klassentu¨r wegkommen.“ (1913) „Die
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geistige Begabung des Ma¨dchens ist gering. Die Natur scheint bei ihr alles auf die Entwicklung des Ko¨rpers (166 Pfund!) verwendet zu haben.“ (1925) „Bei den Knaben soll das Turnen mit entblo¨ßten Oberko¨rper nach und nach durchgefu¨hrt werden, bei den Ma¨dchen soll davon Abstand genommen werden.“ (1927) „Die Umschulung des Knaben wird abgelehnt, weil alle vom Vater angefu¨hrten Gru¨nde wurmstichig sind.“ (1927) „Die Kleidung des Knaben war zerrissen und schmutzig, am schmutzigsten das Hemd, widerlicher Geruch entquoll dem Burschen.“ (1931) „Die Knaben gru¨ßen durch Hutabnehmen, die Ma¨dchen mit einem Knicks“. (1932) „Die Lehrerin gibt kund, dass sie nicht aufgrund der derzeit ausgebrochenen Geisteskrankheit pensioniert worden sei, sondern aufgrund des Intrigenspiels ihres Schulleiters.“ Neujahrsbetrachtung 1933: „Der Landschulmeister rettet sich abseits vom Debattensturm und fern von der Ideenjagd in die Einsamkeit, um in Ruhe und Gesundheit seinen Kohl anzubauen. Wie einst die seligen Go¨tter des Olymps qua¨lt er sich nicht um das Treiben der Menschenkinder außerhalb des Go¨ttersitzes, sondern er lebt ein ho¨chst bequemes und beschauliches Leben; er lebt idyllisch in seinem Dorf, baut seinen Kohl in Ruhe an und verzehrt ihn in Gesundheit, pflegt seine Blumen, geht spazieren …“ Dieser letzte Eintrag wurde vor 76 Jahren verfasst, also vor nur einer Menschen-Lebensspanne: Mein Gott, hat sich die Schule vera¨ndert, zum Glu¨ck!
IGLU und PISA in Ruhe betrachtet rstaunliche 58 Prozent der deutschen Jugendlichen bekunden, dass sie selten oder nie ein Buch lesen, zwei Drittel davon sind Jungen. Damit steht Deutschland in Europa auf dem vorletzten Platz vor Belgien. Ganz oben stehen Island, Finnland und Russland, wenn es um das Lesen geht. Kein Wunder ist es daher, dass die 15-ja¨hrigen Deutschen bei PISA 2003 in der Lesekompetenz nicht besser geworden sind. In Mathe allerdings auch nicht. Der Abstand
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zu den Spitzenla¨ndern wie Finnland, Su¨dkorea und Kanada ist sogar noch gro¨ßer geworden, als er schon 2003 war. Nur in den Naturwissenschaften hat Deutschland zugelegt, und nur dort geho¨rt Deutschland zum oberen Drittel. Allerdings gelang das auch nur, weil Deutschland Druck auf die PISA-Kommission gemacht hat, Umweltthemen in den Aufgabenkatalog aufzunehmen. Deutsche Schu¨ler sind na¨mlich international gesehen in Sachen Umweltschutz außerordentlich stark interessiert und motiviert. Bei der IGLU-Studie (Internationale Grundschul-Leseuntersuchung) stehen die deutschen Viertkla¨ssler nun aber endlich im oberen Viertel, nachdem sie zuvor nur zum oberen Drittel geho¨rten. Mit der Lesekompetenz der deutschen Grundschu¨ler ist es also besser geworden, dank erho¨hter Fo¨rdermaßnahmen im Vorschulbereich, dank des integrierenden Systems der Grundschulen, die immer mehr zu Lernwerksta¨tten gewandelt wurden, was wunderbaren Grundschullehrerinnen zu verdanken ist. Das Beste im deutschen Schulsystem sind tatsa¨chlich seit Langem unsere Grundschulen. Schlimm ist allerdings, dass viele deutsche Schu¨ler zwischen Klasse 4 und Klasse 9 kaum noch etwas dazulernen, wenn es um die Lesekompetenz geht; denn Deutschland la¨sst seine schwachen und schwierigen Schu¨ler, die meist nicht aufgrund ihrer Intelligenz zuru¨ck sind, sondern infolge ihrer aus Familie und Nachbarschaft mitgebrachten Defizite, schon mit elf Jahren in Hauptschulklassen „im eigenen Saft schmoren“. Dass es noch Hauptschulen in Deutschland gibt, liegt an den meist ho¨chst engagierten Hauptschullehrern. Die guten Hauptschullehrer haben also fu¨r das berleben der Hauptschule gesorgt, wa¨hrend die bei PISA erfolgreichen La¨nder so etwas nicht kennen. Weltweit u¨blich sind acht-, neunoder zehnja¨hrige Grundschulen, und weltweit u¨blich sind verbindliche Ganztagsschulen. Die deutsche Halbtagsschule taugt nicht fu¨r die berwindung der von zu Hause mitgebrachten sozialen Defizite der schwachen Schu¨ler. Lernen braucht Zeit, ben, Anwenden und Rhythmisierung, und das ko¨nnen Halbtagsschulen mit den dicksten Lehrpla¨nen der Welt, die Deutschland hat, nicht bieten.
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Also ist klar, was wir tun mu¨ssen: Wir mu¨ssen unsere guten Grundschulen bis zur neunten Klasse verla¨ngern und wir brauchen fla¨chendeckend Ganztagsschulen, auch weil sie nachweisbar die Familie sta¨rken und den klassischen Bildungsauftrag der Schule mit einem breiteren erzieherischem Rahmen gegenu¨ber Kindern aus sozial schwachen Familien anreichern. Weil aber genau das der Koordinator der PISA-Kommission, Andreas Schleicher, den Deutschen immer wieder ra¨t, haben einige deutsche Kultusminister seine Entlassung gefordert. Sonderbar! Das erinnert an fru¨here Jahrzehnte: Deutschland hatte bei den allerersten internationalen Schu¨lerleistungsvergleichen schlecht abgeschnitten und deshalb viele Jahre an keiner solchen Studie mehr teilgenommen. Dem ehemaligen niedersa¨chsischen Kultusminister Busemann (CDU) schwebt eine a¨hnliche „Vogel-Strauß-Taktik“ vor. Er will nach dem schlechten Abschneiden seines Bundeslandes die Konsequenz ziehen und fortan an solchen Studien wie IGLU und PISA gar nicht mehr teilnehmen. Immerhin ist das einfacher, als in den Schulen etwas zu verbessern.
Das dreigliedrige System ist am Ende ach dem PISA-Schock des Jahres 2001 tut sich was in den deutschen Schulen. Das dreigliedrige Schulsystem mit Hauptschule, Realschule und Gymnasium, das lange als ideologisches Gegenmodell gegen die Integrierte Gesamtschule ins Feld gefu¨hrt wurde, scheint am Ende zu sein. Und das haben wir den vielen internationalen Schu¨lerleistungsvergleichsstudien, wie zum Beispiel TIMMS, PISA, IGLU, DESI und DELPHI, zu verdanken. Der Blick der Politiker und der Journalisten richtete sich endlich einmal auch versta¨rkt auf die Bildungseinrichtungen, immer mehr Eltern fragten, wieso wir eigentlich keine schwedischen (TIMSSund IGLU-Weltmeister) oder finnischen (dreimal PISA-Weltmeister) Schulverha¨ltnisse haben, und die deutsche Industrie, die
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im internationalen Wettbewerb bestehen muss, verlangt zunehmend Schlu¨sselqualifikationen wie Selbststa¨ndigkeit, Teamfa¨higkeit, Handlungskompetenz, Kreativita¨t und vernetztes Denken. Vor allem aber die Hirnforscher sagen uns, dass wir in Deutschland das Lernen falsch organisieren, denn Schu¨ler lernen besser durch Handeln, Aussprechen des zu Lernenden, durch Erkla¨ren, Fehlermachendu¨rfen, Pra¨sentieren und voneinander als durch Zuho¨ren bei einem frontal und lehrerzentrierten Stundengeber in 45-Minuten-Takten. Die Vera¨nderungen in der deutschen Schullandschaft gingen schneller voran, als wir 2001 noch glauben wollten. Mittlerweile sind viele deutsche Schulen in der Zukunft angekommen; ein hoher Prozentsatz davon sind Privatschulen; aber auch etliche staatliche Schulen geho¨ren dazu. Gute Schulen haben in der Regel starke Schulleiterperso¨nlichkeiten; sie haben einen Konsens im Lehrerkollegium und einen Schwerpunkt im Sinne eines Schulprogramms oder Profils, sie arbeiten eng mit den Eltern zusammen, sind meist Ganztagsschulen, vertreten ein rhythmisiertes Lernen im Sinne eines Wechsels von Anspannung und Entspannung. Gute Schulen messen Noten weniger bzw. eine andere Bedeutung zu, selbst wenn sie Noten geben; sie haben den Schritt von der Belehrungsanstalt zur Lernwerkstatt geschafft, und sie haben das Programm der Kultusministerkonferenz und der Lehrerverba¨nde „Fo¨rdern und Fordern“ mit dem Balanceakt zwischen „Individualisierung“ und „Gemeinschaft schaffen“ schon la¨nger umgesetzt. Seit den gewaltreichen Ereignissen um die Ru¨tli-Hauptschule in Berlin-Neuko¨lln haben auch die Politiker verstanden: Gesellschaftliche Integration gelingt u¨ber Schulen, oder sie misslingt mit den Schulen. Gute Schulen haben also ein ho¨heres Maß an Integration als Integrierte Gesamtschulen, als la¨nger wa¨hrende Grundschulen, mit jahrgangsu¨bergreifenden Lernfamilien, mit einem Migrantenanteil u¨ber null Prozent, aber unter 30 Prozent, und mit dem gemeinsamen Lernen von Nichtbehinderten und Behinderten wie an der Montessori-Gesamtschule in Potsdam.
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Viele Bundesla¨nder haben die Hauptschule, deren Absolventen kaum noch Ausbildungspla¨tze finden, abgeschafft. Das Saarland hat sie mit der Realschule zur Sekundarschule zusammengelegt, in Bremen und Sachsen-Anhalt heißt das auch so. In Thu¨ringen gibt es Gymnasien und Realschulen, in Sachsen nur Gymnasien und Mittelschulen, Mecklenburg-Vorpommern hat die Hauptschule ganz wie Rheinland-Pfalz nur teilweise in die Regionale Schule einmu¨nden lassen, in Brandenburg, wo es nie Hauptschulen gab, hat man Real- und Gesamtschulen zu Oberschulen zusammengelegt, aber das Gymnasium nach der sechsja¨hrigen Grundschule weiter bestehen lassen. Hamburg hat in einem Konsens von CDU und SPD die Haupt-, Real- und Gesamtschulen zu Stadtteilschulen gebu¨ndelt, aber das Gymnasium will selbst die SPD nicht antasten, weil sie ein „Abstrafen“ durch die Wa¨hler befu¨rchtet. Mutig war Schleswig-Holstein, und das im Rahmen der dortigen Großen Koalition mit Zustimmung der CDU: Ein neues Schulgesetz wurde verabschiedet, in dem die neunja¨hrige Grundschule, „Gemeinschaftsschule“ genannt, zur Regelschule neben Gymnasium und Regionalschulen institutionalisiert wird. Berlin hat das auch beschlossen, und die oppositionelle SPD in Nordrhein-Westfalen ebenfalls. Die Gemeinschaftsschule durfte 2007 starten, und 19 Gemeinden haben damit begonnen. Interessant ist dabei das Maß der Entideologisierung der jahrzehntelangen deutschen Schuldebatte: Mehrere CDU-Bu¨rgermeister wollen in Schleswig-Holstein rasch die Gemeinschaftsschule haben, weil sie in ihren Gemeinden infolge des demografischen Ru¨ckgangs und des vom Elternwahlrecht begu¨nstigten Runs auf das Gymnasium mittlerweile weder ihre Hauptschul- noch ihre Realschulklassen voll bekommen, aber ihren jungen Menschen ein langes Schulbusfahren in die na¨chste Stadt ersparen wollen! Die Hauptschule ergibt keinen Sinn mehr, wenn nur noch zehn Prozent eines Schu¨lerjahrgangs oder sogar noch weniger auf ihr bleiben.
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Regionalschule statt Hauptschule en beiden Regierungsparteien CDU und SPD in Kiel ist ein mutiger Schritt gelungen, denn die vorhandenen Hauptund Realschulklassen sind zusammengelegt worden; mit Klasse 5 beginnend, gibt es eine gemeinsame Orientierungsstufe fu¨r die bisherigen Haupt- und Realschu¨ler, der eine Regionalschule folgt, in der mit Klasse 9 der Hauptschulabschluss und mit Klasse 10 der Realschulabschluss erreichbar ist. Schleswig-Holstein folgt damit dem Saarland, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Thu¨ringen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Bremen. Was anderswo Sekundarschule (Bremen, Saarland, Sachsen-Anhalt), Oberschule (Brandenburg), Regelschule (Thu¨ringen), Mittelschule (Sachsen), Stadtteilschule (Hamburg) oder Regionale Schule (Rheinland-Pfalz, Mecklenburg-Vorpommern) heißt und nun in Schleswig-Holstein Regionalschule, besiegelt das Ende der von Erich Frister einmal als „Blaujackenschule“ und von anderen Menschen als „Restschule“ bezeichneten Minderheitsschule, die nicht mehr den Namen Hauptschule verdient; denn wer heutzutage mit einem Hauptschulabschluss einen Ausbildungsplatz sucht, hat schlechte Karten. Schon lange werden fu¨r Lehrstellen, die den Hauptschulabschluss voraussetzen, Realschulabsolventen und Abiturienten vorgezogen, zumal in Sta¨dten wie Darmstadt, Hannover, Wiesbaden, Go¨ttingen, Hildesheim, Bremen, Bonn und Hamburg, in denen nur noch weniger als zehn Prozent aller Schu¨ler eines Jahrgangs zur Hauptschule gehen. Und der na¨chste Schritt mit der Gemeinschaftsschule als neunja¨hriger Grundschule ist in Schleswig-Holstein und Berlin auch schon eingeleitet, sodass die Regionalschule nur einen Zwischenschritt zu diesem großen Ziel, das international gesehen eigentlich schon lange u¨berfa¨llig ist, darstellt. Eigentlich sind es die TIMSS-, IGLU- und PISA-Studien, die die deutschen Kultusministerien zu diesem Umbau zwingen, den die Schweden bereits 1962 vollzogen haben und Finnland schon 1972.
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Logisch ist, dass der kleine Realschullehrerverband dagegen ist, denn er verliert seine Existenzberechtigung. Dass er aber Tausende von Realschu¨lern, die von der Reform gar nicht mehr betroffen sind, mobilisiert, um in mehreren schleswig-holsteinischen Sta¨dten und vor dem Landeshaus mit Transparenten zu demonstrieren, auf denen zu lesen ist, dass man „nicht mit dem Typ des Hauptschu¨lers in einer Klasse sitzen mo¨chte“, ist schlicht diskriminierend.
Wie wird die Gemeinschaftsschule aussehen? ie Gemeinschaftsschule, die so etwas wie eine neunja¨hrige Grundschule ist, ist an 19 Standorten in Schleswig-Holstein eingerichtet. Sie steht als Regelschule aufgrund einer Vereinbarung der Großen Koalition von CDU und SPD im Schulgesetz. In einer „Landesverordnung“ ist geregelt, wie sie im Detail gestaltet sein soll. Sie verpflichtet die Lehrkra¨fte zur „individuellen Fo¨rderung der Schu¨lerinnen und Schu¨ler“; so etwas hat es bislang in Deutschland noch nicht gegeben, und deshalb besteht bundesweit große Spannung, wie dieses Ziel wohl umgesetzt wird. Individualisierung zwingt beispielsweise zum Abschied von der Einstufung der Kinder nach Geburtsjahrga¨ngen; sie sollen stattdessen jeweils in der Stufe lernen, die ihrem Entwicklungsstand entspricht. „Flexible Unterbringung“ nennt man das, und das schließt so etwas wie Sitzenbleiben aus, zwingt aber auch zur intensiven deutschsprachigen Fo¨rderung von Schu¨lern mit Sprachdefiziten. Bis zur Klasse 6 gibt es keine Leistungsdifferenzierung mehr, ab Klasse 7 werden Leistungskurse in Mathe und erster Fremdsprache eingerichtet, ab Klasse 8 auch in Deutsch und ab Klasse 9 in den Naturwissenschaften. Im Widerspruch zur Idee des gemeinsamen und zugleich individualisierenden Unterrichts bleibt auf Wunsch der CDU aber leider ein uralter deutscher Zopf, den man in keinem anderen Land der Welt mehr mit sich herumtra¨gt, bestehen: Es gibt auch an der Gemeinschaftsschule nach Klasse 9 einen Hauptschulabschluss und
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nach Klasse 10 einen Realschulabschluss sowie die Versetzung in die gymnasiale Oberstufe. Das war schon ein Anachronismus der deutschen Gesamtschulen. Hauptschulabschlu¨sse braucht man na¨mlich gar nicht mehr, sondern nur noch entweder eine Ausbildungsreife nach Klasse 10 oder eine Studienreife nach Klasse 12. Lernen braucht Zeit und Individualisierung. Also sollen Gemeinschaftsschulen als Offene Ganztagsschulen gefu¨hrt werden, die man mittags verlassen, in denen man aber auch bis 16 Uhr bleiben kann. Eine Offene Ganztagsschule hat im Unterschied zur verpflichtenden Ganztagsschule jedoch den großen Nachteil, dass sie das Lernen nicht zu rhythmisieren vermag. Sie muss die fu¨r alle Schu¨ler verbindlichen Fa¨cher auf den Vormittag legen und alle Erga¨nzungen auf den Nachmittag, sodass im Auge des Schu¨lers alles, was nachmittags stattfindet, als eher unwichtig abgewertet wird, und der von Hirnforschern fu¨r das Lernen so wichtige Wechsel von Anspannung und Entspannung ist dann auch nicht mo¨glich. Schade!
Gute Schulen machen Ungewo¨hnliches ie Grundschule Kleine Kielstraße in Dortmund hat u¨ber ein Jahr lang Besucher aus der ganzen Welt empfangen, seitdem Bundespra¨sident Horst Ko¨hler sie Ende 2006 ausgezeichnet hat. Jetzt gibt es kaum noch Besucher, denn die Schule will kein Museum sein, sondern ein optimaler Lernort fu¨r Kinder. Natu¨rlich wird die Schule von einer Frau geleitet, so wie die meisten besonders guten deutschen Schulen. Es ist Gisela Schultebraucks, eine starke Perso¨nlichkeit wie Enja Riegel von der Helene-Lange-Schule in Wiesbaden oder Ulrike Kegler von der Montessori-Oberschule in Potsdam. Ihre Lehrer ziehen alle an einem Strang, helfen sich gegenseitig. Sie planen den Unterricht gemeinsam, und diese Teamfa¨higkeit fa¨rbt auch auf die Schu¨ler ab. Sie entwickeln fu¨r jedes einzelne Kind ein separates Fo¨rderprogramm, sie integrieren Erziehung und Bildung, Schule, Elternhaus und Stadtteil, indem die Mu¨tter
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Deutsch lernen und die Va¨ter Hilfe erhalten, wenn es Probleme mit Beho¨rdenga¨ngen gibt. Und wenn die Familie eines Schu¨lers sehr arm ist, sorgen die Schu¨ler dafu¨r, dass das Kind in der Schule Anerkennung bekommt und Erfolge im Lernen erzielt. Die Folge ist, dass diese Grundschule, die in einem problematischen Viertel liegt, genauso viele Kinder zum Gymnasium bringt wie Grundschulen in „besseren“ Wohnquartieren. Allerdings ist „nicht alles Gold, was gla¨nzt“: Die Schule beklagt, dass dieses wunderbare gemeinsame Lernen mit großen individuellen Erfolgen bereits mit der Klassenstufe 4 beendet ist. Aber das kann die Schule nicht a¨ndern, denn das System wird in der Landeshauptstadt Du¨sseldorf entschieden, daru¨ber du¨rfen sich die Lehrer nicht hinwegsetzen. Wiewohl doch ein Merkmal einer guten deutschen Schule neben neun anderen immer auch ist, dass sie ganz viel macht, was eigentlich nicht erlaubt ist: Die Jenaplan-Schule in Jena steht bei vielen Rankings (in Bezug auf Leistung, Integration, Schulklima und Verknu¨pfung mit der Arbeitswelt) ganz oben. Zehn Jahre lang wurde vieles, was sie beantragt hatte, vom zusta¨ndigen Schulamt als nicht den Richtlinien entsprechend abgelehnt, und die Schule hat es trotzdem gemacht. Heute stellt sich der Kultusminister des Freistaates Thu¨ringen stolz vor die Kamera und lobt seine so großartige Jenaplan-Schule. Aber die wird ja auch von einer Frau geleitet!
Haben wir schon gute Schulen? ls nach dem PISA-Schock 2001 die Journalisten fragten, wie lange es wohl dauern wird, bis Deutschland mit seinen Schulen von einem internationalen Mittelplatz wieder nach oben kommt, wo Finnland, Schweden, Kanada, die Niederlande, Su¨dkorea, Japan und Hongkong stehen und wo Deutschland fru¨her 200 Jahre lang stand, sagte unsereins: „Schweden hat 40 Jahre gebraucht, um bei Viert- und Zwo¨lfkla¨sslern auf Platz 1 zu landen, und Finnland 30 Jahre, um bei 15-Ja¨hrigen den Spitzenplatz zu erreichen.“
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Da heute alles etwas schnelllebiger geworden ist, antworteten wir: „Wu¨rden wir wirklich morgen anfangen, wu¨rde es wohl etwa 15 Jahre dauern.“ Nun hat es bis in das Jahr 2008 nur sieben Jahre gedauert, und ungefa¨hr 5000 der circa 42 000 deutschen Schulen sind in der Zukunft angekommen; das sind zur Ha¨lfte Privatschulen, zur Ha¨lfte aber auch staatliche Schulen. Jedenfalls gibt es keine einzige Schule, die aufgrund einer Regierung gut ist. Wenn eine Schule gut ist, ist sie es immer aus sich selbst heraus, denn die Sonne geht immer von unten auf! Eine Schule ist gut, wenn die Viertkla¨ssler bei der IGLU-Studie hervorragend abschneiden, wenn die 15-Ja¨hrigen bei PISA und die Zwo¨lftkla¨ssler bei TIMSS (Dritte Internationale Mathematikund Naturwissenschaftsstudie) gla¨nzen. Bei IGLU und TIMSS stehen die Schweden vor den Niederla¨ndern, bei PISA ist Finnland dreimal Weltmeister geworden.
Ungerechtes Schulsystem ie Schule ist nicht fu¨r Lehrer da, sondern fu¨r Schu¨ler. Und Schule ist nicht dafu¨r da, unser Gesellschaftssystem mit Gewinnern und Verlieren einfach nur zu reproduzieren. Schon in den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde der Begriff „Chancengerechtigkeit“ im Anschluss an den utopischen der „Chancengleichheit“ gepra¨gt. Aber mehr als 40 Jahre spa¨ter wirkt unser Schulsystem immer noch so wie eh und je. Damals war es das „katholische Arbeiterma¨dchen vom Lande“, das endlich bildungsma¨ßig emanzipiert werden sollte, weil Statistiker Benachteiligungen bei Katholiken, Frauen, Arbeiterkindern und der la¨ndlichen Bevo¨lkerung diagnostiziert hatten. Heute sind es arme Kinder aus „bildungsfernen Kreisen“, die selten zu Abitur und Studienabschluss kommen. Warum halten wir immer noch am dreigliedrigen Schulsystem mit einer viel zu fru¨hen Aufteilung in Hauptschu¨ler, Realschu¨ler und Gymnasiasten fest?
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Geht es um den Erhalt von Privilegien? Haben Eltern von Gymnasiasten Angst, dass ihr Kind seine Zukunftschancen im Wettbewerb mit gut gefo¨rderten „Schmuddelkindern“ teilen mu¨ssen? Liegt es daran, dass Schu¨ler, die Integrierte Gesamtschulen besucht haben, spa¨ter mehrheitlich links wa¨hlen? Wieso sind unter den von unserem Bundespra¨sidenten allja¨hrlich ausgezeichneten Exzellenzschulen so viele Gesamtschulen und so wenige Gymnasien? Zwei Bu¨cher geben mittlerweile Antworten und ziehen Bilanz nach 40 Jahren voller „Bildungsoffensiven“: Bruno Preisendo¨rfer hat 2008 sein Opus „Das Bildungsprivileg – Warum Chancengleichheit unerwu¨nscht ist“ vorgelegt. „Unser Bildungssystem ist ungerecht und daher grundgesetzwidrig, denn es sortiert, klassifiziert und pra¨miert Kinder nach Maßgabe ihrer Herkunft“, lautet sein Kernsatz. Und Sven Sauter hat ebenfalls 2008 sein Buch „Schule, Macht, Ungleichheit“ herausgebracht. Sein Leitgedanke: „Die Crux ist, dass auffa¨llige Kinder ohne jede Steuerung durch Fo¨rdermaßnahmen geschleust werden, also ohne Vernetzung aller am Kind Beteiligten wie Lehrer, Therapeuten, Sozialpa¨dagogen und Eltern.“ Genau diese Vernetzung gelingt aber den Ganztagsgesamtschulen, die von allen denkbaren Schulformen am ha¨ufigsten von ihrem Herkunftsmilieu her benachteiligte Kinder zu hochwertigen Bildungsschlu¨ssen bringen, auch weil sie ein Jahr mehr Zeit auf dem Weg zum Abitur bieten als die Gymnasien. Das Abitur nach Klasse 12, das „G8“, scheint also im Moment das ungerechte deutsche Schulsystem noch ungerechter zu machen!
Zur Schuldebatte
Was sagen uns Hirnforscher u¨ber das Lernen? anfred Spitzer, einer der bekanntesten deutschen Hirnforscher aus Ulm, war unla¨ngst auf einem Kongress fu¨r Neurobiologen in Atlanta/USA. Dort waren 22 000 Hirnforscher aus der ganzen Welt, aber nur zwei Pa¨dagogen. Sein Resu¨mee dazu: „Die Hirnforscher wissen inzwischen, wie Kinder gut lernen, aber die Lehrer wollen es nicht wissen.“ Am besten lernen Schu¨ler voneinander, durch Aussprechen des zu Lernenden, indem sie anderen erkla¨ren, was diese lernen sollen, durch Handeln, durch Pra¨sentieren des Gelernten, durch Wiederholen und durch ungestraftes Fehlermachen beim Lernen. ber eine Langzeitstudie hat Spitzer erkannt: Angst und Kreativita¨t schließen sich beim Lernen aus, und insofern liegen die Schweden und Norweger mit ihrer Notenfreiheit in den ersten acht Schuljahren richtiger als Bayern, Baden-Wu¨rttemberg, Sachsen, Thu¨ringen, Hessen und Nordrhein-Westfalen, die die Noten in Klasse 2 wieder eingefu¨hrt haben, mit denen vor allem die kleinen Jungen beim Lernen benachteiligt werden, denn ihre Art zu lernen ist die u¨ber Um- und Irrwege und durch Ausprobieren, wa¨hrend kleine Ma¨dchen mit einem leicht erho¨hten Anpassungspotenzial geneigt sind, vor allem die Erwartungen ihrer Hauptbezugspersonen (Mama, Papa, Erzieherin, Grundschullehrerin) zu erfu¨llen. Im Bundesdurchschnitt spricht ein deutscher Schu¨ler zur Zeit in einer 45-Minuten-Einheit eine Minute, und noch heute spricht eine Lehrerin in 45 Minuten mehr als alle vor ihr sitzenden Schu¨ler zusammen. Ein deutscher Schu¨ler lernt zur Zeit in 45 Minuten zwei
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Minuten etwas Neues, und das ist das, was die Lehrerin auch an Lernen haben will, denn er lernt daru¨ber hinaus noch vier Minuten pro Unterrichtsstunde etwas sinnvolles Neues, was die Lehrerin gar nicht beabsichtigt hat. Wir sehen daran, dass wir die Bedeutung des Lehrers fu¨r das Lernen u¨berscha¨tzen! In Finnland spricht ein Schu¨ler in nur 40 Minuten im Schnitt acht Minuten, das ist etwa das Neunfache. So oft, wie es geht, sprechen die Schu¨ler dort im Chor (zum Beispiel im Fremdsprachenunterricht), und so oft, wie es geht, lo¨sen sie zu zweit Aufgaben und kommunizieren dabei. Bei uns ist es aber eigentlich noch schlimmer: Die zwei Minuten, die ein deutscher Schu¨ler im Schnitt in 45 Minuten bezogen auf das Beabsichtigte des Lehrers lernt, sind in Wirklichkeit sechs Minuten in der Mitte der Leistungsbandbreite einer Klasse, denn die Schu¨ler des oberen Drittels lernen kaum was, weil sie das alles la¨ngst wissen, und die des unteren Drittels lernen auch nichts, weil sie das alles sowieso nicht verstehen. Etwa zehn Prozent der Menschen sind in der Lage, gut durch Zuho¨ren zu lernen, aber diese zehn Prozent ko¨nnen das ziemlich unabha¨ngig von ihrem Intelligenzquotienten: Jeweils zehn Prozent der Gutbegabten, der Normalbegabten, der Hauptschu¨ler und sogar der Lernbehinderten vermo¨gen durch Ho¨ren gut zu lernen. Unsere Schulen vertrauen vor allem auf das Zuho¨renko¨nnen beim Lernen, von dem Geho¨rten bleiben aber im Schnitt nur 20 Prozent auf Dauer haften. Die Folge ist, dass deutschlandweit nur 32 Prozent eines Schu¨lerjahrgangs zum Abitur kommen, in Hamburg sind es 37 Prozent, in Bayern aber nur 19 Prozent; damit ist Bayern fast Schlusslicht in Europa. Als ich mit Edmund Stoiber vor einigen Jahren zufa¨llig in einer Ka¨rntner Sauna ins Gespra¨ch kam, sagte er mir: „Mit den Hamburger Schulen ist ja nicht viel los, denn da kommen ja 37 Prozent zum Abitur.“ Er wollte sagen: Je mehr junge Menschen zum Abitur kommen, desto mehr Niveauverlust muss damit hingenommen werden. In Schweden kommen 75 Prozent eines Jahrgangs zum Abitur und in Finnland 70 Prozent. Wo und wie la¨sst sich aber in
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Schweden Niveauverlust ausmachen, wenn seine Zwo¨lftkla¨ssler bei der TIMSS-Studie 2003 weltweit auf Platz 1 gelandet sind?
Schulstart mit allen Sinnen aben Sie noch mit einer Fibel Lesen und Schreiben gelernt? Oder mit der Ganzwort- oder sogar Ganzsatzmethode mit spa¨terem Ausgliedern von Buchstaben? Oder mit Fu? Das waren alles Vorla¨ufer dessen, was heute no¨tig ist. Seit 2003 gibt es in Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein und wahrscheinlich bald in ganz Deutschland etwas la¨ngst u¨berfa¨llig Besseres: Myrtel, eine Raupe, die spa¨ter zum Schmetterling wird, Bo, der Zaubervogel, die kluge Eule Mira und Quips, der Frosch, fu¨hren heutige Grundschu¨ler ganzheitlich zugleich in Lesen, Schreiben, Rechnen und in die vier Elemente Wasser, Luft, Erde und Feuer im Sachunterricht ein, mit allen Sinnen, mit Schwungu¨bungen, Ganzko¨rperbewegungen, mit Rhythmus, Reim, Taktilem und Takt, Minitrampolin, Hopsplatten und Springseilen, verschiedensten Materialien, bis hin zu Sandfla¨chen und Musik, und natu¨rlich zugleich in die europa¨ischen Fremdsprachen. Drei Hamburger Lehrerinnen haben das Myrtelteam gegru¨ndet (www.myrtel.de, Osterstraße 58, 20259 Hamburg), und sie fu¨hren mit ihren wunderbaren, zur Handlung, zum Fehlermachendu¨rfen und zur Partnerarbeit auffordernden preiswerten Materialien, u¨ber die alle Sinne zugleich angesprochen werden, unsere Kleinen in ein ergiebiges integrierendes Lernen hinein. Sie verringern damit Leistungsunterschiede in Klassen, und sie verwandeln die alte Belehrungsschule in eine fo¨rdernde Lernwerkstatt, in der Kinder selbst und voneinander lernen ko¨nnen. Alles, was uns die Hirnforscher u¨ber Lernen sagen, la¨sst sich mit diesem Programm so umsetzen, dass die bisherigen Unterschiede in den Leistungen von Haupt- und Realschu¨lern sowie von Jungen und Ma¨dchen reduziert werden. Die Myrtel-Verlags- und Vertriebs-
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gesellschaft sitzt nicht nur im „Haus der Zukunft“ in der Hamburger Osterstraße, sie tra¨gt auch zu Mut und Hoffnung bei, endlich die deutsche Schule nach vorn zu bringen und die la¨ngere Grundschule in Hamburg sowie die Gemeinschaftsschule in SchleswigHolstein und Berlin zum Erfolg werden zu lassen. Myrtel und Bo entwickeln waldorfpa¨dagogisch und montessorima¨ßig bewa¨hrte Ansa¨tze weiter und bringen finnisch-schwedische Schulverha¨ltnisse nach Deutschland – und hoffentlich auch die IGLU-, TIMSS- und PISA-Erfolge dieser La¨nder –, denn Kinder merken im Umgang mit diesen Materialien gar nicht, dass sie lernen. Ihr Lernen gewinnt eine spielerische Dimension, in der Lust und Leistung zu einer effizienten Synthese geraten.
Lernen braucht Zeit inen durchschnittlichen Reiz muss ein durchschnittlicher Mensch etwa sechsmal wahrnehmen, damit er auf Dauer im Hirn verankert wird. Das hat einen biologischen Sinn; denn wu¨rden wir jeden noch so schwachen Reiz in unserem Kopf speichern, wa¨re die „Festplatte“ bald voll. Wer also mit der flachen Hand auf eine glu¨hende Herdplatte fasst, muss das nur einmal tun; das wird er nie mehr vergessen, weil das keineswegs ein durchschnittlicher Reiz ist. Aber der Sinussatz im Mathe-Unterricht ist fu¨r die meisten 16-Ja¨hrigen ebenso von der Art eines durchschnittlichen Reizes wie das Hebelgesetz im Physik-Unterricht einer 7. Klasse oder die Mendel’schen Regeln im Bio-Unterricht einer 8. Klasse. Einmal eingefu¨hrt, mu¨ssen diese Themen mehrfach wiederholt werden, damit der Schu¨ler sie auf Dauer im Kopf speichert. Lernen braucht Zeit, Anwendung, Wiederholen und ben und einen Wechsel von Anspannung und Entspannung. Hirnforscher haben bei einer großen Anzahl von Schu¨lern gemessen, wie lange eine einmal eingefu¨hrte und benutzte Vokabel
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im Lateinunterricht durchschnittlich behalten wird: Sechs Wochen war das Resultat, wenn das Wort nur einmal gelesen, geho¨rt oder ausgesprochen wurde, wenn also nur ein einziger Sinn beim Lernen eingesetzt wurde. Umgekehrt kann man dafu¨r sorgen, dass eine einmal eingefu¨hrte Vokabel sechsmal so lange, also durchschnittlich 36 Wochen behalten wird und dass in der gleichen Zeit sechsmal so viele Vokabeln gelernt werden, wenn bei ihrem Wahrnehmen sechs Sinne zugleich aktiv sind: Die Vokabel wird gelesen, geho¨rt und ausgesprochen, sie wird im Chor der Klasse gesprochen und mit Rhythmus, Reim, Takt und Bewegung verknu¨pft. „Szenisches Lernen“ heißt diese Methode, die die Hirnforscher aus Ulm an vielen Schulen Bayerns und Baden-Wu¨rttemberg ausprobiert haben. Wenn ein Mensch etwas lernt, „lernt“ er immer zugleich auch die Atmospha¨re mit, in der er lernt. Wenn etwas unter Angst gelernt wird und man fragt es nach la¨ngerer Zeit wieder ab, fragt man auch die Angst ab. Wird hingegen etwas mit Lust und Fro¨hlichkeit gelernt, fragt man spa¨ter mit dem Stoff auch die Freude wieder ab. Eine Halbtagsschule mit u¨bervollen Lehrpla¨nen, mit Hu¨rden vor den weiterfu¨hrenden Schulen bereits am Ende der Klasse 4 und mit zentralen Abschlusspru¨fungen hat keine Zeit, jeden Lernstoff fu¨nfmal zu wiederholen, wie es fru¨her in den einklassigen Landschulen mit du¨nnen Stoffpla¨nen mo¨glich und der Altersdifferenzierung der Schu¨ler wegen notwendig war; sie hat aber auch keine Zeit fu¨r rhythmisiertes Lernen. Dem Hirn wird man erst gerecht, wenn nach der Mathestunde Bewegung folgt, wenn dann nach der Deutschstunde Musikmachen angesagt ist und nach der anschließenden Physikstunde Rollen- oder Theaterspiel kommt. Mit einem derartigen Wechsel von Anspannung und Entspannung kann der Schu¨ler dann auch nachmittags zwischen 14.30 Uhr und 16.30 Uhr einen Leistungskurs Chemie verkraften, denn in der Zeit liegt die zweite Hochleistungslernphase eines Tages bei Jugendlichen. Die heutige Halbtagsschule mit ihrer Anha¨ufung von Lernfa¨chern ist also – nicht zuletzt auch aus volkswirtschaftlichen Gru¨nden – ein Auslaufmodell, sie ist jedoch auch mit ihren 45-Mi-
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nuten-Unterrichtstakten vo¨llig u¨berholt, denn Fremdsprachen lernt ein junger Mensch am besten in Zehn-Minuten-Portionen, Naturwissenschaften aber am besten in zweistu¨ndigen Abschnitten.
Mobiles Gestu¨hl fo¨rdert Lernen chulgeba¨ude muten nicht nur oft von außen wie Unterrichtsvollzugsanstalten an, sie sind auch innen vielfach so gestaltet, als ha¨tten preußische Milita¨rs sie entworfen. Vor 20 Jahren gab es in Hamburg einen umfangreichen Schulmo¨belerlass, in dem sehr genau angeordnet war, wie hoch Stu¨hle und Tische je nach Klassenstufe zu sein haben. Noch vor 60 Jahren gab es integrierte einheitliche Schulba¨nke, bei denen der Sitz unbeweglich mit der Schreibfla¨che verbunden war, die allerdings eine Klappe hatte, mit deren Hilfe sich zwei Schu¨ler gemeinsam zwischen Bank und Tisch, in dem noch ein Loch fu¨r das Tintenfass eingelassen war, fu¨r 45 Minuten weitgehend unbeweglich einzwa¨ngen konnten, und an beiden Seiten dieser Doppelsitzer-Bank war jeweils ein Haken fu¨r den Turnbeutel. Heute sieht das ganz anders aus, allerdings nur gelegentlich: Bewegung wa¨hrend des Unterrichts ist ausdru¨cklich erwu¨nscht, weil sie das Lernen begu¨nstigt. Die Grundschule Am Hagen in Ahrensburg experimentierte schon vor vielen Jahren mit Sitzba¨llen; viele Lehrer haben einen Teppich in die Klasse gelegt, damit ihre Schu¨ler auch im Liegen lesen und bauen ko¨nnen; das Ernst-August-Gymnasium im bayerischen Oettingen hat dreidimensional in jede Richtung verstellbare Sitz-Steh-Pulte; und die Schu¨ler der Hamburger Schule Ludwigstraße du¨rfen sich mittlerweile u¨ber orthopa¨disch gesehen optimale „Schlau-Stu¨hle“ freuen, die absichtsvoll das fru¨her verpo¨nte Kippeln begu¨nstigen. Solche Stu¨hle sollen den Mobilita¨tsdrang von Kindern beim Lernen begu¨nstigen, nicht etwa verhindern. Selbstversta¨ndlich sind alle Stuhlteile in der Ho¨he und in den Winkeln verstellbar,
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und sie passen sich hydraulisch den Gewichtsverlagerungen des Kindes an. Drei Effekte beobachten die Lehrkra¨fte: Die Ko¨rperhaltung der Schu¨ler wird besser, Ru¨ckenbeschwerden bleiben aus, und es wird mehr gelernt. Und La¨rm, wie ihn du¨nne Metallfu¨ße bislang auf Holzbo¨den erzeugten, kommt auch nicht mehr auf, denn die Stu¨hle stehen auf fu¨nf Kugelrollen aus Gummi: Und wer hat fu¨r diese Revolution gesorgt? Es waren die Hirnforscher, die uns sagen, dass Kinder bis etwa zum elften Lebensjahr viel mehr lernen, wenn sie ihre Ko¨rperposition wa¨hrend des Unterrichts jederzeit variieren du¨rfen (mal auf dem Stuhl, mal auf dem Teppich liegend, mal auf dem Sitzball thronend, mal im Schneidersitz auf der Empore hockend und mal auf den Knien liegend, ein Buch lesend). Jugendliche u¨ber 14 lernen allerdings mehr, wenn sie auf einem Stuhl sitzen, als wenn sie sich auf einer Couch lu¨mmeln.
Wohlfu¨hleffekt als Kriterium einer guten Schule nfang Dezember 2006 hat Bundespra¨sident Horst Ko¨hler die fu¨nf besten deutschen Schulen mit Preisen der Robert-BoschStiftung ausgezeichnet. Und dabei ging es nicht,wie bei den TIMSS-, PISA-, IGLU- und DESI-Studien (Studie zur Erfassung der sprachlichen Leistungen in Deutsch und Englisch), um mathematische und naturwissenschaftliche Fa¨higkeiten oder Lesekompetenz, sondern um so etwas wie Integrationsleistung und Schulklima. Auf Platz 1 landete die Grundschule Kleine Kielstraße aus der Dortmunder Nordstadt, gefolgt von der Gesamtschule Franzsches Feld in Braunschweig, der Hamburger Max-Brauer-Gesamtschule, der Jenaplan-Schule in Jena und der Offenen Schule in Kassel-Waldau. Die Lehrkra¨fte dieser Schulen wurden von unserem Staatsoberhaupt mit Balsam gestreichelt, indem er sie als „Helden des Alltags“ beschrieb, was sich schon mal ganz anders anfu¨hlt als Gerhard
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Schro¨ders bekannter Kommentar zu einer Schu¨lerzeitungsredaktion: „Ihr wisst doch, was das fu¨r faule Sa¨cke sind.“ Lehrer ko¨nnen nur gut sein, wenn man auch gut mit ihnen umgeht, und Schu¨ler ko¨nnen nur leistungsfa¨hig sein, wenn sie sich in ihrer Schule wohlfu¨hlen. In Finnland haben Lehrer ein sehr hohes Ansehen, obwohl sie etwa ein Drittel schlechter bezahlt werden als ihre deutschen Kollegen, und in Finnland wollen immer die besten Abiturienten Lehrer werden, von denen man aber nur wiederum die allerbesten ins Studium aufnimmt. In Deutschland ist das ganz anders. Schulen lassen sich nicht wie Fußballvereine im Ranking von Bundesligatabellen vermessen. Das sieht man vor allem am kleinen Bundesland Bremen, das grundsa¨tzlich Schlusslicht im Vergleich der 16 deutschen La¨nder ist, aber in den letzten fu¨nf Jahren den gro¨ßten Zugewinn an Leistungsfa¨higkeit und Wohlfu¨hlen seiner Schu¨ler verzeichnete, obwohl es trotzdem weiter Schlusslicht bleiben wird. Eine Stadt mit großen Wirtschaftsproblemen, einem hohen Migrantenanteil, einer enormen Arbeitslosigkeit sowie ohne das no¨tige Geld fu¨r die Behebung des Renovierungsstaus der Geba¨ude la¨sst sich eben nicht ohne Weiteres direkt mit einem prosperierenden Fla¨chenland wie Baden-Wu¨rttemberg vergleichen, aber schon eher mit Sta¨dten wie Mannheim, Cottbus, Wilhelmshaven oder Flensburg, nur so etwas wird nicht verglichen.
Wer verursacht den La¨rm in der Schule? a¨rm ist eine Form der Umweltbelastung. Die Europa¨ische Union hat gerade Hamburg vorgeworfen, eine besonders la¨rmende Stadt zu sein, und zwar infolge des dichten Autoverkehrs. Jeder, der mal zur Schule ging, weiß, wie nicht nur Lehrer unter dem La¨rm in Klassen leiden, sondern auch viele Schu¨ler. Eine Studie des Instituts fu¨r Interdisziplina¨re Schulforschung in Bremen (ISF) hat herausgefunden, dass La¨rm der Hauptsto¨rfaktor im Unterricht
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Wer verursacht den La ¨ rm in der Schule?
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ist. 80 Prozent von 1200 befragten Pa¨dagogen gaben an, erheblich unter Krach im Klassenraum zu leiden. Gleichzeitig gaben sie als Ursache das zunehmend schwieriger werdende Schu¨lerverhalten an, das von erzieherischen Defiziten in Familie und Nachbarschaft, durch Medieneinflu¨sse, durch falsche Erna¨hrung und allgemein durch das Pha¨nomen „vera¨nderte Kindheit“ gespeist werde. Falsch, sagt das ISF: Schuld seien nicht die Schu¨ler, sondern die Architekten und die Schultra¨ger, die mit Sparzwa¨ngen unkindgema¨ßes Gestu¨hl in lernbehindernden Ra¨umlichkeiten zur Verfu¨gung stellen. Die Fußbo¨den und die darauf stehenden Stuhlbeine aus Metall oder Holz, die viereckigen Ra¨ume mit einer Tu¨r und die rechteckigen Tische schaffen ein ho¨chst sto¨ranfa¨lliges Lernklima, sie zwingen die Schu¨ler durch Bewegungs- und Sauerstoffmangel, zu kleine Ra¨ume und zu hohe Klassenfrequenzen und den Mangel an Lernnischen und Ausweichra¨umen zu einem unno¨tig hohen Gera¨uschpegel. Allerdings haben auch die Lehrer Schuld, die nicht das Entfernen von Wa¨nden und einen Teppichboden verlangen, die es nicht schaffen, zwei Ra¨ume mit Durchbruch fu¨r ihre Klasse zu organisieren und die am lehrerzentrierten Frontalunterricht festhalten, denn beispielsweise ist die Phonsta¨rke im Raum bei Partner- und Gruppenarbeit mehr als 13 Dezibel niedriger als bei einer frontalen Vorgehensweise. Außerdem gibt es auch noch zwei andere Zusammenha¨nge: Lehrer erscho¨pfen sich selbst und ihre Schu¨ler dadurch, dass sie zu laut sprechen, was ihrer Stimme nicht gut tut und die Schu¨ler zum Lauterwerden animiert. Die Herzfrequenz ist bei der heutigen Schularchitektur zehn Schla¨ge pro Minute ho¨her als in schallsanierten Ra¨umlichkeiten. Die meisten Lehrer gewo¨hnen sich u¨brigens nach drei Berufsjahren an ein fu¨r ihren Ko¨rper und das Ohr des Schu¨lers zu lautes Sprechen, und zwar infolge der Architektur und des Frontalunterrichts, sodass sie eher zum Burn-outSyndrom neigen und die Schu¨ler eher zum La¨rmen. Nun ja, wenn man irgendwo auf den Seychellen, im Bayerischen Wald oder auf Sylt einen Menschen trifft, der viel zu laut spricht, dann ist das meist ein Lehrer …
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Tendenz – La¨ngere Grundschule lbvertiefung gegen la¨ngere Grundschule, das ist der Deal der Hamburger schwarz-gru¨nen Koalition. Die Gru¨nen waren aus o¨kologischen Gru¨nden gegen die Elbvertiefung, wollten aber die neunja¨hrige Grundschule, nun ist dabei herausgekommen, dass die Kinder sieben Jahre zusammenbleiben, von der Vorschulklasse, die die Eltern keine Gebu¨hren kostet, bis zum Ende der 6. Klasse. Primarschule heißt dieses Modell, das es unter derselben Bezeichnung auch in 20 von 26 Kantonen der Schweiz gibt. Danach haben die Eidgenossen ein zweigliedriges Schulsystem mit „Oberschule“ und „Sekundarschule“, das in die „Fachmittelschulen“, die unseren Berufsschulen entsprechen, und die „Maturita¨tsschulen“ einmu¨ndet, die am Schluss der Klasse 12 die „Matura“, also unser Abitur, verleihen. Die Hamburger Regierung hat sich, wie die oppositionelle SPD, fu¨r ein zweigliedriges System nach der Primarschule entschieden, das dann „Stadtteilschule“ (mit Abitur nach Klasse 13) und „Gymnasium“ (mit Abitur nach Klasse 12) heißt. Wenn die Gymnasien erst mit Klasse 7 beginnen, gibt es Probleme mit den alten Sprachen Latein und Altgriechisch, deshalb hat der Senat entschieden, dass es ku¨nftig eigensta¨ndige Primarschulen, Primarschulen an Stadtteilschulen und Primarschulen an Gymnasien gibt. Am Ende der Klasse 6 entscheiden allein die Lehrer, ob ein Kind zum Gymnasium oder zur Stadtteilschule muss, das war aber bislang auch schon so. Problematisch ist, dass die Eltern, die bislang schon viel zu fru¨h, na¨mlich wa¨hrend der Klasse 4, entscheiden mussten, ob sie ihr Kind zum Gymnasium, zur Integrierten Gesamtschule oder zur Hauptund Realschule anmelden – was vor allem bei Spa¨tentwicklern schwierig war –, ku¨nftig bereits vor der 1. Klasse zwischen einer eigensta¨ndigen Primarschule, einer solchen an einer Stadtteilschule und einer solchen an einem Gymnasium entscheiden mu¨ssen. Vor Beginn der Klasse 4 ko¨nnen sie sich allerdings noch einmal umentscheiden.
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Klar ist, was dabei herauskommt: In einem so jungen Alter der Kinder wird es zu Milieuentscheidungen kommen, sodass die Kinder weniger nach Begabungen bzw. Intelligenz auf die beiden Schulformen aufgeteilt werden, sondern eher nach dem Gesichtspunkt „Kind aus besseren Kreisen“ oder „Schmuddelkind“. Ein Stu¨ck weit wird damit gesellschaftliche Spaltung im Sinne des Wallraff’schen Spruchs „die da oben und die da unten“ betrieben. Zehnja¨hrige Grundschulen, als Gemeinschaftsschulen untergliedert in solche mit musischen, technischen, sportlichen, altsprachlichen, neusprachlichen, mathematischen oder naturwissenschaftlichen Profilen wa¨ren da wohl sinnvoller gewesen. Man sieht: Eine Bildungspolitik in Form von Kompromissen fu¨hrt nicht unbedingt weiter.
Lernen braucht a¨ußere Ordnung und Zeitstruktur laus Hurrelmann von der Universita¨t Bielefeld hat in seiner WORLD VISION Studie festgestellt, dass 35 Prozent der Kinder von berufsta¨tigen Alleinerziehenden angeben, dass es ihnen an Zuwendung mangele. Wenn beide Eltern arbeitslos sind, sinkt der Anteil auf 28 Prozent; wenn aber beide Eltern da und beide berufsta¨tig sind, fu¨hlen sich nur 17 Prozent vernachla¨ssigt. Eltern von Ganztagsschu¨lern geben sich u¨brigens am Abend und am Wochenende sehr viel mehr Mu¨he mit ihren Kindern als Eltern von Halbtagsschu¨lern, sodass die Ganztagsschule kein Eingriff in das Familienleben ist, sondern die Familie sogar sta¨rkt! Deutschland geho¨rt zu den La¨ndern, in denen die Familiensozialisation sta¨rker auf die Leistungsfa¨higkeit der 15-Ja¨hrigen durchschla¨gt als deren Intelligenz, und das liegt mit großer Wahrscheinlichkeit an der Halbtagsschule, die keine Zeit fu¨r erzieherische Kompensationen von familia¨ren Defiziten bietet. Das wichtigste Ergebnis ist aber, dass Kinder unbedingt eine feste, sich stets wiederholende Tagesstruktur brauchen, also zum Bei-
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spiel feste Zeiten fu¨r die Schulaufgaben. Das besta¨tigen auch die Hirnforscher: Die grauen Zellen verlangen nach Struktur, Ordnung und nach fein komponierten Pausen, also einer Rhythmisierung der Tage. Wir wissen das schon lange von geistig Behinderten: Wehe, wenn der heutige Tag ganz anders verla¨uft als die vorherigen, dann ist Angst, Panik und Stress, vor allem aber Orientierungslosigkeit, also Chaos, angesagt. Mehr oder weniger gilt das ebenso fu¨r gut begabte Menschen. Ordnung auf dem Schreibtisch, eine Tagesplanung und perspektivische Strukturen fu¨r eine Woche, einen Monat und ein ganzes Jahr erho¨hen Leistungserfolge. Beim Lernen ordnen sich die grauen Zellen im Hirn, und zwar spiegelbildlich zur a¨ußeren Ordnung in den Arbeitsunterlagen. Mindmapping, also das Erstellen von Gedankenkarten auf großen Papierbo¨gen, Merkzettel und Skizzen sowie Stoffsammlungen erleichtern die Ordnung im Hirn. Also ist der Ausruf so mancher Mutter richtig, wenn sie zu ihrem Sohn sagt: „Um Himmels willen, hoffentlich sieht es in deinem Kopf nicht so aus wie in deinem Zimmer!“
Schlafrhythmus und Lernen n Da¨nemark gibt es jetzt versuchsweise eine „Spa¨tbeginnklasse“, man ko¨nnte sie auch Langschla¨ferklasse nennen. Sie startet mit dem Unterricht fu¨r Jugendliche um 12.30 Uhr und endet gegen 20 Uhr. „Chronobiologen“, die man fru¨her „Biorhythmiker“ nannte, sagen uns na¨mlich, dass Kinder und Erwachsene ein a¨hnliches Schlafbedu¨rfnis haben: Sie wollen abends fru¨h ins Bett und am na¨chsten Tag fru¨h aufstehen. Das ist praktisch, weil Kinder ja nun mal auf Erwachsene angewiesen sind. Jugendliche u¨ber 14 Jahren hingegen wollten schon immer abends spa¨t ins Bett und am na¨chsten Tag lange schlafen. Das kann man noch heute bei den Ureinwohnern auf Borneo so beobachten. Dafu¨r ko¨nnen sie nichts, der andere Tag-Nacht-Rhythmus ist bei ihnen hormongesteuert. Diesen Rhythmus haben sie etwa
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vom 14. bis zum 22. Lebensjahr, und der hat einen biologischen Sinn: Jugendliche brauchen ein paar Stunden am Tag, an denen sie sich auf dem Weg in ihre spa¨teren Partnerschaften miteinander erproben ko¨nnen, ohne dass sta¨ndig Erwachsene dabei sind! Also fordert Klaus Hurrelmann von der Universita¨t Bielefeld seit zwo¨lf Jahren, dass wir bei uns endlich kanadische Schulverha¨ltnisse einfu¨hren: An mehreren Schulen dort mu¨ssen Kinder bis etwa zum 13. Lebensjahr von 8 bis 15 Uhr und Jugendliche ab dem 14. Lebensjahr entweder um 9.30 oder um 10 Uhr kommen und bis 17 Uhr bleiben. Mit Charakter- oder Erziehungsfehlern hat der andere Schlafrhythmus der Jugendlichen also nichts zu tun, denn sie sind nicht nur Langschla¨fer, sondern auch Vielschla¨fer. Sie brauchen mit 17 Jahren mehr Schlaf als 13-Ja¨hrige, de facto haben sie aber weniger, was nicht nur am Spa¨t-zu-Bett-Gehen und Fru¨h-Aufstehen liegt, sondern auch am na¨chtlichen Wochenendtreiben dieser Altersgruppe. Da die 200 bis 600 Tra¨ume aber, die ein Mensch pro Nacht hat, dem Transport der eingegangenen Reize zwischen Hypocampus und den entsprechenden Stelle der Großhirnrinde dienen – was wir Lernen nennen –, ko¨nnen viele 17- bis 19-Ja¨hrige in unserer Gesellschaft nicht so gut lernen wie Zehn- bis Zwo¨lfja¨hrige. Jugendliche, die um 8 Uhr in der Schule sein mu¨ssen, schieben u¨ber die Woche hinweg ein immer gro¨ßeres Schlafdefizit vor sich her, sie leben mit einer Art Jetlag, so als wu¨rden sie in der Woche und am Wochenende zwischen verschiedenen Zeitzonen hin- und herreisen. Kein Wunder also, dass die Chronobiologen feststellen: Jugendliche vom 14. Lebensjahr an ko¨nnen dienstags in den deutschen Schulen mehr und besser lernen als freitags.
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Im 45-Minuten-Takt ausbrennen ie Zu¨rcher „Weltwoche“ schrieb unla¨ngst: „Der heutige Lehrer hat die Aufgabe, eine Wandergruppe bestehend aus Spitzensportlern und Schwerstbehinderten bei Nacht und Nebel in nordwestlicher und su¨do¨stlicher Richtung zugleich zu fu¨hren, und zwar so, dass alle bei bester Laune und mo¨glichst gleichzeitig an drei verschiedenen Zielorten von ihren Eltern, Ausbildungsleitern und Hochschullehrern in Empfang genommen werden ko¨nnen.“ Ich sage das etwas anders: „Der heutige Lehrer kommt mir vor wie ein Schiffbru¨chiger, der in tosender See auf einem Floß sitzend versucht, um ihn herumschwimmenden Delfinen beizubringen, wie Computer funktionieren.“ Lehrer sitzen heute zwischen allen Stu¨hlen: ihrem eigenen lterwerden, einer Ausbildung fu¨r Kinder, die es heute nicht mehr gibt, Sparmaßnahmen, dem Pha¨nomen der vera¨nderten Kindheit, ho¨chst unterschiedlichen Erwartungen an das, was sie zu leisten haben, und dem „Burn-out-Syndrom“. Lehrersein ist schwer. Mehr als 50 Prozent der deutschen Lehrkra¨fte scheiden wegen Dienstunfa¨higkeit vorzeitig mithilfe der Personala¨rztlichen Dienste aus ihrem Beruf aus. Das ist mehr als bei allen anderen Beamtengruppen. Der Psychotherapeut Peter Vogt, Chefarzt in Bad To¨lz, berichtet, dass in psychosomatischen Kliniken die am ha¨ufigsten vertretene Berufsgruppe die der Lehrer sei. Viele von ihnen beginnen zu schwitzen und zu zittern, wenn sie in Therapiesitzungen gebeten werden, um zu erza¨hlen, wie das denn ist, wenn sie vor der Klasse stehen. Es gibt noch heute Lehrer in Deutschland, die pro Woche 280 Schu¨ler in sechs verschiedenen Jahrga¨ngen zu unterrichten haben und am Ende des Schuljahres nicht einmal die Namen all dieser Schu¨ler kennen, geschweige denn ihre ha¨uslichen Verha¨ltnisse. Deutsche Lehrer mu¨ssen im europa¨ischen Vergleich gesehen besonders viele Wochenstunden unterrichten. Und was sie zu leisten haben, wird in 45-Minuten-Portionen zerhackt; fu¨r die erzieherische
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Zuwendung zum einzelnen Schu¨ler und seiner Familie bleibt kaum Zeit, denn die ist in der Lehrerarbeitsplatzbeschreibung gar nicht vorgesehen. Die Folge ist, dass sich mehr als 30 Prozent aller Lehrkra¨fte ausgebrannt fu¨hlen, viele schon mit dem 30. Lebensjahr. Das ist ein Riesenproblem nicht nur fu¨r die Pa¨dagogen und Schu¨ler, sondern auch fu¨r den Wirtschaftsstandort Deutschland. Eine erscho¨pfte Lehrerin fasst das in der Praxis von Peter Vogt so zusammen: „Es gibt Tage, an denen man nach Hause geht und sich fragt, wozu man u¨berhaupt aufgestanden ist; und wenn man dann um 17 Uhr vo¨llig erledigt im Liegestuhl im Garten daru¨ber nachdenkt, was man heute alles wieder nicht geschafft hat, sagen die Nachbarn: ,Guck mal, die Lehrer haben es gut mit ihrer kleinen Morgenstelle, ihrer guten Bezahlung und den vielen Ferien!‘“
Sind Klassenfrequenzen egal? ls ich 1949 in Hamburg eingeschult wurde, saß ich dicht gedra¨ngt mit 50 Jungen in einem viel zu kleinen Klassenraum. Trotzdem ist aus mir etwas geworden; ich habe also in der Schule viel gelernt. Die deutschen Kultusminister verweisen im Zuge der Umsetzung von Sparmaßnahmen im Bildungsbereich gern darauf, dass es viele internationale Studien gebe, die zum Schluss kommen, dass es keine Auswirkung auf die Lernergebnisse des einzelnen Schu¨lers im Landesdurchschnitt habe, ob 25, 30 oder 35 Schu¨ler in einer Klasse sitzen. Das stimmt sogar, wenn Lehrer belehren, wenn sie frontal vorgehend darauf vertrauen, dass die Schu¨ler durch Zuho¨ren, durch Demonstrieren und durch Chorsprechen lernen. Nun hat aber die letzte PISA-Studie aus dem Jahr 2003 ergeben, dass bei Schu¨lerzahlen u¨ber 25 in einer Klasse der Unterrichtserfolg mit zunehmender Klassengro¨ße deutlich abnimmt. Warum? Wenn ein Mensch in einem Ho¨rsaal einen Vortrag ha¨lt, ist es fu¨r das Resultat vo¨llig unerheblich, ob dort 150 der 280 Leute zugeho¨rt haben, denn alle werden in gleicher Weise mit den Worten und
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Bildern des Vortragenden berieselt. Fru¨her waren die Kinder auf dem Lande mehr oder weniger alle gleich. Alle hatten Vater und Mutter, viele Geschwister, vier Großeltern, alle gingen sonntags in die Kirche, jeder hatte zu Hause Schweine, Rinder, Pferde, Hu¨hner und einen Gemu¨segarten. Alle konnten sprechen, wenn sie in die Schule kamen, aber nicht lesen, schreiben und rechnen; alle konnten beten und singen, alle kannten Hochzeits-, Konfirmationsfeiern und solche zu Silberhochzeiten, alle spielten gemeinsam draußen, und niemand kannte ein Fernsehgera¨t, und Migranten gab es schon gar keine. Gut, bei dem einen oder anderen Kind war irgendein Lebensfaktor ein wenig anders als bei den u¨brigen Kindern, aber man konnte davon ausgehen, dass die Schu¨ler auf die Unterweisungen des Lehrers a¨hnlich reagierten, von einem Klassenclown, einem u¨bergewichtigen Außenseiter und einem vaterlosen Kind einmal abgesehen. Als ich in Hamburg Anfang der 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts als Lehrer begann, hatten nur zwei Schu¨ler ein Telefon zu Hause, nur drei Schu¨ler hatten einen Vater mit Auto und nur zwei besaßen daheim einen Fernseher. Heute ist das alles anders: Es gibt schon in der 1. Klasse Kinder, die lesen, schreiben und rechnen ko¨nnen, die meisten leben nicht mehr mit beiden leiblichen Eltern zusammen, einige wurden fru¨h gefo¨rdert, andere erheblich vernachla¨ssigt; viele Migranten, die kaum Deutsch sprechen ko¨nnen, erfordern viel Aufmerksamkeit durch die Lehrer, kaum ein Kind geht noch in die Kirche, aber viele besuchen Moscheen. Heutige Kinder sind also in einer noch nie gekannten Weise verschieden und in ihrer Entwicklung ho¨chst unterschiedlich gefo¨rdert oder vernachla¨ssigt. Und anders als fru¨her ko¨nnen viele Schu¨ler in vielen Lebensbereichen viel mehr als ihre Lehrer, sodass sich heutige Lehrer durchweg auf die Mitte der Leistungsbandbreite ihrer Klasse einstellen, mit dem Resultat, dass ein Drittel der Klasse sich langweilt und ein Drittel nichts versteht. Deshalb ist es zwangsla¨ufig gewesen, dass sich die 16 deutschen Kultusminister und fast alle Leh-
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rerverba¨nde Ende 2006 unter Federfu¨hrung des schleswig-holsteinischen Bildungsministeriums auf ein Konsenspapier mit der berschrift „Fo¨rdern und Fordern“ geeinigt haben, mit dem ein neues Prinzip in die deutschen Schulen eingefu¨hrt wurde, das es noch nie gab: Jeder Schu¨ler braucht eine andere Art von pa¨dagogischer Zuwendung als der na¨chste. Und damit ist nun immerhin klar, dass ein Lehrer mit 18 Schu¨lern in seiner Klasse diesen individuell erzieherischen, kompensatorischen, bildenden, fo¨rdernden und fordernden Auftrag eher umsetzen kann als ein Lehrer, der 30 Schu¨ler in seiner Klasse hat. Viele Schu¨ler mu¨ssen heute in der Schule „nacherzogen“ werden, weil die fru¨her bewa¨hrte Arbeitsteilung, bei der die Familie erzieht und die Schule bildet, heute bei etwa 60 Prozent der Schu¨ler nicht mehr funktioniert. Lehrer beno¨tigen auch Zeit fu¨r Hausbesuche, fu¨r Elternstammtische und fu¨r die Zuwendung zum einzelnen Kind. Und anders als fru¨her steht Schule vor einem ganz neuen Problem: Fru¨her wussten Lehrer, auf was fu¨r eine Gesellschaft sie ihre Schu¨ler einstellen mussten, denn die Gesellschaft vera¨nderte sich nur langsam; Hartmut von Hentig weist darauf hin, dass das nun zum ersten Mal in der menschlichen Geschichte anders ist. Lehrer stehen heute vor der Aufgabe, Schu¨ler auf eine Welt vorzubereiten, die in weiten Teilen noch vo¨llig unbekannt ist. Das ist eine schwierige Aufgabe gegenu¨ber Karl-Heinz, der aggressiv und hyperaktiv ist, schwa¨nzt, Drogen nimmt und Eltern hat, die sich fu¨r ihn und seine Zukunft u¨berhaupt nicht interessieren.
Unmotivierte deutsche Schu¨ler? ei den internationalen Rangordnungen, bei denen es nicht um Schu¨lerleistungen geht, sondern um etwas ganz anderes, schneidet Deutschland immer schlecht ab. In der Bereitschaft der OECD-La¨nder, in Bildung zu investieren, steht Deutschland auf dem vorletzten Platz vor Tschechien, obgleich doch unsere Politiker
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in Sonntagsreden permanent verku¨nden, Bildung sei die wichtigste Zukunftsinvestition im rohstoffarmen Wirtschaftsstandort Deutschland. In puncto Bereitschaft der jungen Menschen, spa¨ter ein Studium zu absolvieren, steht Deutschland gemeinsam mit sterreich und der Schweiz ganz unten auf den letzten Pla¨tzen; ganz oben stehen Korea, die Tu¨rkei, Polen, Griechenland, die USA, Portugal und Ungarn. Nicht einmal jeder fu¨nfte deutsche 15-Ja¨hrige hat Lust, spa¨ter zu studieren, bei La¨ndern, die die Liste anfu¨hren, will das aber mindestens jeder dritte. Und wenn es um den Anteil der jungen Menschen geht, die einen Hochschulabschluss erfolgreich absolvieren, stehen Tschechien, sterreich, Deutschland und die Schweiz ebenfalls auf den allerletzten Pla¨tzen. In Deutschland schafft das nur jeder Sechste, auf Island aber jeder zweite, gefolgt von Finnland, in dem nicht nur 70 Prozent eines Schu¨lerjahrgangs Abitur machen (in Deutschland nur 39 Prozent), sondern auch 38 Prozent einen Hochschulabschluss erwerben. Wir haben also in unserem Land ein Motivationsproblem mit unseren Schu¨lern, wenn es um das Lernen geht. Beim Lesen der Kinder und Jugendlichen steht Deutschland na¨mlich auch ganz unten vor Belgien: 42 Prozent der deutschen Jugendlichen geben an, keine Lust zu haben, ein Buch zu lesen; zwei Drittel davon sind u¨brigens Jungen. Leseweltmeister sind hingegen die Isla¨nder, Finnen und Russen. Warum ist das so in einem der reichsten La¨nder der Welt, das wir ja sind? Die PISA-Kommission sagt es uns: So wie wir in Deutschland Unterricht machen, sagen viele gute Abiturienten nach dem Abschluss: „Ich habe jetzt Naturwissenschaften gehabt, aber damit will ich nie wieder in meinem Leben etwas zu tun haben.“ Eine Folge davon ist der enorme Ingenieurmangel. So wie wir Unterricht machen, kann das erlernte Wissen spa¨ter eventuell auf gleiche Weise abgefragt werden, wie es gelehrt wurde; aber sobald das Leben spa¨ter etwas anderes verlangt, ko¨nnen die deutschen Schu¨ler kaum noch etwas mit diesem Wissen anfangen, weil es unflexibel erlernt wurde und nicht zu der Fa¨higkeit fu¨hrt, vernetzt zu denken.
Lesenko¨nnen ist eine „Tu¨ro¨ffnerkompetenz“
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Lesenko¨nnen ist eine „Tu¨ro¨ffnerkompetenz“ on dem, was ein junger Mensch einmal liest, bleiben im Durchschnitt nur zehn Prozent auf Dauer haften. Lesen bringt also einerseits fu¨r das Lernen nicht so viel wie Aussprechen, Erkla¨ren, Handeln und Pra¨sentieren; andererseits ist Lesen aber eine „Tu¨ro¨ffnerkompetenz“, wie das Max-Planck-Institut fu¨r Bildungsforschung in Berlin formuliert. Denn wer nicht lesen kann, kann auch nicht gut Geschichte oder Biologie lernen und spa¨ter keinen berweisungsauftrag ausfu¨llen oder einen Mietvertrag verstehen. Lesekompetenz wird also zu recht bei fast allen Schu¨lerleistungsvergleichen wie TIMSS, PISA, IGLU oder DESI gemessen. Doch mit dem Lesen von Bu¨chern und Zeitungen sieht es bei jungen Menschen in Deutschland nicht gerade gut aus. Deutschland steht bei einer internationalen Lesestudie der OECD-Staaten aus dem Jahr 2006 vor Belgien auf dem vorletzten Platz. Spitzenreiter ist Island vor Finnland, Norwegen und Schweden. Die Tendenz weist sogar immer noch weiter nach unten: Wa¨hrend 1992 noch 16 Prozent der deutschen Kinder und Jugendlichen regelma¨ßig Bu¨cher und Zeitungen lasen, sind es 2008 nur noch fu¨nf Prozent. Umgekehrt hat der Anteil der „Nieleser“ in diesen Altersgruppen im selben Zeitraum von 20 Prozent auf 29 Prozent zugenommen. Jungen lesen u¨brigens nur halb so ha¨ufig wie Ma¨dchen. Konsequenzen werden in Deutschland bislang kaum aus dieser Entwicklung gezogen. Man nimmt einfach hin, dass junge Menschen heute lieber ihre Zeit vorm Fernseher, vor dem DVD-Player, der Spielkonsole oder in der Fußga¨ngerzone und in Discos sowie auf Partys verbringen, als in Ruhe und mit Muße ein Buch zu lesen. Nur einige wenige Schulen machen mit Lesena¨chten oder Leseund Schreibwerksta¨tten Mut; denn zum Lesen lassen sich Kinder relativ rasch motivieren. Da¨nemark hat da besser reagiert. Wa¨hrend alle anderen skandinavischen La¨nder beim Lesen ganz oben liegen, schnitt Da¨nemark
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nur auf dem drittletzten Platz, also direkt vor Deutschland ab. Fu¨r die da¨nischen Lehrer war das ein unerwarteter Schock, sodass sie sofort begannen, ihre Schu¨ler so oft es ging, an Bu¨cher und Zeitungen heranzufu¨hren, mit großem Erfolg!
Unflexibles Wissen ndreas Schleicher, der PISA-Koordinator der OECD in Paris, wirft den deutschen Schulen zu viel Belehrung (mit der die Schu¨ler durch Zuho¨ren lernen sollen), zu viele Bescha¨mungen (Sitzenbleiben, Hu¨rden am Ende der Grundschule, Verweigern eines Abschlusses, schlechte Noten, Angst beim Lernen und Ru¨ckla¨uferpha¨nomen) und eine ineffiziente Fehlerkultur vor, aber auch, dass das erworbene Wissen nur unflexibel zur Verfu¨gung steht, also nicht auf Situationen angewendet werden kann, die vom schulischen Vorgehen abweichen. „Wir ko¨nnten fast jeden Hauptschu¨ler zum Abitur bringen, wenn wir nur wu¨ssten, wie das geht“, sagt der Hirnforscher Manfred Spitzer dazu. Bei der LAU-Studie (Lernausgangsuntersuchung) fu¨r Hamburger Abiturienten gab es eine Matheaufgabe, die der Landesschulrat Peter Daschner als schwierig bezeichnet. Sie ist schwierig, wenn man eine deutsche Schule besucht hat. Aber ist sie auch außerhalb der Schule schwierig? Pru¨fen Sie sich selbst, lieber Leser: „Wie viele Mo¨glichkeiten gibt es, auf einem Bu¨cherbord fu¨nf dicke, vier mitteldicke und drei du¨nne Bu¨cher so anzuordnen, dass Bu¨cher gleicher Dicke nebeneinander stehen?“ Die Antwort lautet: Es gibt sechs Mo¨glichkeiten, denn Bu¨cher gleicher Dicke bleiben ja nebeneinander. Es handelt sich um die Kombination dreier Elemente: dick, mittel und du¨nn; also ha¨tte da auch stehen ko¨nnen: 750 dicke, 632 mittlere und 221 du¨nne Bu¨cher. Die Antwort lautet immer: Sechs Mo¨glichkeiten gibt es!
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Ist Angst ein Lernmotor?
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Ist Angst ein Lernmotor? ngste schu¨tzen uns; mit ihnen laufen wir nicht so leicht Gefahr, Opfer zu werden. Angstfreie Menschen leben also mit einem ho¨heren Risiko, werden leicht von Lo¨wen gefressen. Zu viele ngste ko¨nnen allerdings krank und relativ lebensuntu¨chtig machen. Motivation ist beim Lernen besser als Angst. Wenn aber keine Motivation da ist, kann Angst dennoch, wenn in geringerem Umfang, das Lernen befo¨rdern. Nun hat der italienische Forscher Renzo Rocca in einer großen Langzeitstudie festgestellt, dass acht Prozent aller Ma¨nner und 14 Prozent aller Frauen rascher Karriere machen, wenn sie mit einem erho¨hten Angstpotenzial leben, allerdings mu¨ssen sie ihre ngste gezielt in ihre berufliche Arbeit kanalisieren. Angst spornt den Ko¨rper voru¨bergehend zu Ho¨chstleistungen an, zwingt ihn zu Umsicht, Aufmerksamkeit und Konzentration. Unter Angst arbeitet das Gehirn schneller. Der biologische Sinn ist, dass dadurch rascher Auswege aus bedrohlichen Lebenssituationen gefunden werden. Angstvolle Menschen erkennt man zum Beispiel daran, dass sie sich nicht gleich setzen, wenn sie in ihrem Bu¨ro Besuch bekommen, wa¨hrend der Gast schon la¨ngst sitzt. Sodann fa¨llt auf, dass sie stets sehr selbstkritisch sind und bei sich Fehler suchen. Sie sind nie zufrieden mit dem, was sie erreicht haben, und wenn sie auch etwas Großartiges erreicht haben, genießen sie es weniger, als dass sie sich sofort auf die Suche nach noch Großartigerem begeben; sie leben also mehr in der Zukunft als in der Gegenwart. ngstlichen Menschen fa¨llt es schwer, passiv eine Situation zu verfolgen, sie suchen sta¨ndig den passenden Moment, um selbst einzugreifen. Deshalb neigen sie auch dazu, bereits zu antworten und zu kommentieren, bevor die andere Person ihren Satz zu Ende gesprochen hat. ngstliche Menschen sind schließlich in unu¨berschaubaren Situationen im Vorteil, weil sie im Unterschied zu angstarmen Menschen, die den berblick verlieren, angespornt werden, sofort einen gangbaren Ausweg zu finden. Menschen, die aufgrund ihrer ngste rasch Karriere machen, denken
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oft mehr an sich als an ihre Mitarbeiter, deren Schicksal ihnen ziemlich egal ist. Ganz anders sieht es bei Menschen aus, die aufgrund ihrer Motivation Karriere machen. Wohlgemerkt, hier geht es um leicht u¨berdosierte ngste. Permanent u¨bersteigerte ngste la¨hmen hingegen. Jedenfalls haben Schu¨ler mit einem leicht erho¨hten Angstpotenzial bessere Chancen, zu einem guten Bildungsabschluss zu kommen als intelligente phlegmatische. Erst wenn die Motivation beim Lernen bedeutsamer wird als die Angst, haben gleich intelligente Schu¨ler auch gleiche Schulabschlusschancen. In der Geschichte finden wir einige beru¨hmte Menschen, die aufgrund ihrer großen Lebensa¨ngste sehr erfolgreich wurden: Ludwig van Beethoven, Antonio Vivaldi und Samuel Beckett haben ihre Erfolge auch ihren ngsten zu verdanken.
Lernen ohne Angst wandelt „Streber“ zur Elite ie deutschen Schulen haben drei Besonderheiten, die es so in Skandinavien nicht gibt: Schwache Schu¨ler haben Angst vor schlechten Noten, gute Schu¨ler haben Angst, als „Streber“ von Mitschu¨lern gemobbt zu werden, und der Lehrer entspricht oft einem Feindbild aus der Sicht von Schu¨lern und Eltern. Deutschland hat auch deshalb bei PISA relativ schwach abgeschnitten, weil es so wenig besonders leistungsstarke Schu¨ler aufweist, denn gute Schu¨ler bemu¨hen sich hierzulande allzu oft, keine guten Leistungen zu zeigen. Streber sind Schu¨ler, die die Durchschnittsnote einer Klasse „versauen“. So etwas gibt es in Schweden und Norwegen schon deshalb nicht, weil Schu¨ler dort bis zur Klasse 8 u¨berhaupt keine Noten bekommen! Wir haben ein Schulsystem, in dem Lernen immer noch u¨ber Angst und Selektion statt u¨ber Motivation und Integration organisiert wird. Das belastet das Schulklima. Viele Deutsche glauben immer noch, Lernen mu¨sste bitter und Lehrer ha¨tten vor allem streng zu sein.
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Gut Begabte setzen sich durch
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Der Unterschied zwischen deutschen und schwedischen Schule la¨sst sich – leicht u¨bertrieben akzentuiert – so zusammenfassen: In Deutschland wirken Lehrer ha¨ufig wie benotende Stundengeber in einer Unterrichtsvollzugsanstalt, in Schweden aber mehrheitlich – wie auch an der Bodenseeschule St. Martin in Friedrichshafen – wie gastgebende Lernberater in einem kundenorientierten Dienstleistungsbetrieb, der eher wie eine Lernwerkstatt als wie eine Belehrungsanstalt anmutet. Reinhard Kahl hat das einmal folgendermaßen kritisiert: „Warum gehen in Deutschland viele Kinder so zur Schule, als mu¨ssten sie zum Zahnarzt? Warum erinnert ihr Lernen zuweilen an Bulimie: Informationen sammeln, Pru¨fungen bedienen und sich wieder entlasten? Ko¨nnte es sein, dass deutsche Schu¨ler ha¨ufig deshalb so widerwillig lernen, weil das Lernen ihnen eher als eine Art Fronarbeit erscheint und nicht etwa als das faszinierende Projekt des eigenen Lebens? ... Lernen wird bei uns ha¨ufig zum Mittel fu¨rs bloße berleben entwertet. Welche Noten brauche ich, um aufs Gymnasium zu kommen? ... Wer das No¨tigste geschafft hat, lehnt sich dann zuru¨ck, stellt nur noch seinen Ko¨rper in der ungeliebten Anstalt ab und geht mit seiner Phantasie spazieren.“ Erst wenn es den deutschen Lehrern gelingt, Lernen aus dem Gefu¨hl eines sta¨ndigen Abstiegskampfes heraus durch ein Lernen zu ersetzen, das Vorfreude auf die Entfaltung der eigenen Mo¨glichkeiten in einer eigenen guten Zukunft weckt, dann haben wir auch wieder mehr leistungsstarke Schu¨ler und bessere PISA-Ergebnisse.
Gut Begabte setzen sich durch DS-Kinder haben das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom. Einige von ihnen sind zugleich ADHS-Kinder, haben also das Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivita¨ts-Syndrom. Etwa 350 000 Kinder und Jugendliche mit ADS und/oder ADHS gibt es in Deutschland, im Durchschnitt also in jeder Klasse eines. ADS und ADHS sind keine „Charakterschwa¨che“ und auch nicht die
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Folge von Erziehungsfehlern der Eltern, sondern eine Besonderheit im Hirnstoffwechsel. Wenn Eltern die Diagnose ADS oder ADHS ho¨ren, bekommen sie zuna¨chst einen Schreck, weil sie u¨ber das D fu¨r Defizit stolpern, und sie denken dann, ihr Kind habe etwas zu wenig, dabei hat es etwas zu viel, es nimmt na¨mlich zu viel wahr, bekommt zum Beispiel wa¨hrend des Unterrichts mit, dass weit entfernt ein Auto bremst oder eine Amsel singt. Deshalb fa¨llt ihm die Konzentration auf das Wort der Lehrerin oder des Lehrers schwer. ADS-Kinder und Hochbegabte, von denen es auch etwa 350 000 gibt, scheitern besonders ha¨ufig in der Mehrheit der deutschen Schulen. Die Hochbegabten sind oft hyperaktiv, und die Mehrheit der ADS-Kinder ist u¨berdurchschnittlich begabt. Zu beiden passt das vorherrschend sitzende Lernen nicht, und sie lernen langsam, weil sie beim Lernen so viel zu bedenken haben. Aber sie setzen sich im Leben meist durch, denn im Leben geht es mehr um Ko¨nnen als um Wissen. Wenn ein hochbegabter Schu¨ler keinen Schulabschluss erreicht, weil er die Lernform, das Mobbing der Mitschu¨ler und die Langeweile, die durch die Schulstoffe bei ihm ausgelo¨st wird, nicht gut auszuhalten vermag, setzt er sich dennoch oft im Leben durch, als Schriftsteller, als selbststa¨ndiger Kaufmann, als Computerexperte oder vielleicht sogar als Bundeskanzler. Berufserfolg hat na¨mlich nicht nur etwas mit guten Schulnoten zu tun. Also schmunzeln wir, wenn wir lesen, dass der Altkanzler Helmut Schmidt seine Frau Loki bereits im Alter von zehn Jahren in der Grundschule kennengelernt hat und dass Loki fu¨r ihn immer die Mathe-Hausaufgaben gelo¨st hat, weil ihn Mathe nie sonderlich interessierte. Die Lehrer haben das jedenfalls nie gemerkt.
Jungen lernen eher „nebenbei“ n Tu¨bingen gibt es eine Sonderschule fu¨r Erziehungshilfe. Von 115 Schu¨lern sind dort 100 Jungen, die Lehrkra¨fte sind aber ausschließlich Frauen. Diese sagen, dass vielen der Jungen zu Hause ein
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Jungen lernen eher „nebenbei“
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ma¨nnliches Vorbild fehlt, also mu¨ssten sie als Frauen ihre ma¨nnlichen Anteile zeigen, sie seien aber keine „realen Alltagsma¨nnervorbilder“ und ko¨nnten keineswegs liebevolle Va¨terlichkeit repra¨sentieren. Also haben sie sich einen Arbeitskreis fu¨r Jungen- und Ma¨nnerarbeit in die Schule geholt, der sich „Pfundskerle“ nennt. Diese Ma¨nner trainieren mit den Jungen ein gutes Gefu¨hl gegenu¨ber dem eigenen Ko¨rper, sie lassen sie Mut und Feigheit spielen, stellen ihnen Aufgaben, die man nicht allein, sondern nur im Team lo¨sen kann, lassen die Jungen Liebesbriefe schreiben und Situationen bewa¨ltigen, in denen es um Vertrauen geht. Vor allem aber lassen sie die Jungen Theaterstu¨cke schreiben, in denen es um Ma¨nnlichkeit geht, und von der Bu¨hne aus spielen. Das Ergebnis: Zwei 13-ja¨hrige Jungen sagen, dass Jungen sich nicht gut konzentrieren ko¨nnten und wenn sie nicht nachdenken, eigentlich nur um Kampf, Mut, Macht und Wettbewerb bemu¨ht seien, aber nun, da sie sich selbstkritisch analysiert ha¨tten, wu¨ssten sie, dass es im Leben auch um anderes geht als um Macho-Posen und Rangordnungen. „Jungen sind abgelenkt, sie lernen nur durch Um- und Irrwege, durch Ausprobieren und u¨berhaupt nur nebenbei“, sagt ihre Lehrerin. Jungen ko¨nnen also nicht gut „hauptsa¨chlich“ lernen. Nur zehn Prozent von ihnen ko¨nnen durch Zuho¨ren lernen, aber 40 Prozent der Ma¨dchen ko¨nnen das. Eine Schule, die auf Lernen durch Zuho¨ren vertraut, begu¨nstigt also die Ma¨dchen und benachteiligt die Jungen. Ha¨tten wir Schulen, in denen Lernen durch Fehlermachen erwu¨nscht ist, ga¨be es vielleicht kein derartiges Gefa¨lle zwischen Ma¨dchen und Jungen. In der Hamburger Produktionsschule, in der Jungen fu¨r umliegende Betriebe etwas produzieren, was diese brauchen, und in der Bremer Klasse fu¨r „Schulvermeider“, in der Jungen Treibha¨user bauen und Gemu¨se und Blumen zu¨chten, kommen die Jungen mu¨helos zum Schulabschluss, weil sie durch Handeln und Fehlermachen und eben „nebenbei“ lernen du¨rfen. Und so stellt die Sonderschule fu¨r Erziehungshilfe in Tu¨bingen fest: Wenn schwierige Jungen Theaterstu¨cke u¨ber sich selbst schrei-
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ben und auffu¨hren, sind sie nach kurzer Zeit kaum noch schwierig. Denn durch Theaterspielen lernen Menschen etwa neunmal so viel wie durch Zuho¨ren, erga¨nzen die Hirnforscher vom Zentrum fu¨r neurowissenschaftliches Lernen der Universita¨t Ulm.
Jungen werden schlechter benotet ungen ko¨nnen in der Schule genauso gut sein wie Ma¨dchen – wenn sie durch Handeln, Aussprechen, Pra¨sentieren und gegenseitiges Erkla¨ren lernen ko¨nnen. Jungen lernen durch Ausprobieren, Ma¨dchen auch; aber Ma¨dchen ko¨nnen auch und besser durch Zuho¨ren lernen, was bei Jungen nicht so gut funktioniert. Die deutsche Schule bevorzugt das Lernen durch Zuho¨ren, und sie erwartet angepasste Schu¨ler. Ma¨dchen passen sich ha¨ufiger an Lehrererwartungen an als Jungen, und so ist es kein Wunder, dass bereits 56 Prozent der deutschen Abiturienten Ma¨dchen sind, nur noch 44 Prozent Jungen, dass zwei Drittel der deutschen „Sitzenbleiber“ und „Ru¨ckla¨ufer“ Jungen sind, und sie stellen auch 72 Prozent der Schu¨ler ohne Schulabschluss. 56 Prozent der deutschen Hauptschu¨ler sind Jungen, aber nur 46 Prozent der deutschen Gymnasiasten. Wenn Jungen durch Ausprobieren lernen ko¨nnen, die Schulen diese Art des Lernens aber nicht fo¨rdern, dann hat der Wirtschaftsstandort Deutschland ein Problem. Die Art, wie wir schulisches Lernen organisieren, hat also durchaus o¨konomische Nachteile, das hat mittlerweile sogar der Deutsche Industrieund Handelskammertag (DIHT) mit seinem Pra¨sidenten Braun erkannt, sodass er wie auch die Deutschen Arbeitgeberverba¨nde etwas Ungewo¨hnliches fordern, na¨mlich die Abschaffung der Hauptschule. Das allein wird aber nicht viel bringen, wenn wir nicht gleichzeitig eine andere Fehlerkultur beim Lernen entwickeln, und das wu¨rde wiederum eine ganz andere Lehrerausbildung voraussetzen. Wir halten in Deutschland Fehler fu¨r ein bel. Das haben wir offenbar dem preußischen Beamten- und Soldatenstaat zu ver-
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danken. In Kanada ist das oberste Motto der Schulgestaltung: „Fehler und Probleme sind Freunde beim Lernen.“ Wie stark die Vorstellung vom Fehler als bel in den Ko¨pfen deutscher Lehrer verankert ist und wie wenig deutsche Lehrer dem Lernen durch Ausprobieren trauen, zeigt sich auch an einem Bericht des Bundesbildungsministeriums aus dem Jahr 2008: Jungen bekommen bei gleichen Leistungen schlechtere Noten als Ma¨dchen, steht da zu lesen. Liegt es daran, dass die meisten Lehrkra¨fte in Deutschland Frauen sind? Nein! Denn auch bei ma¨nnlichen Lehrern schneiden Jungen schlechter ab als Ma¨dchen, selbst wenn die Leistungen identisch sind.
Mit der heutigen Schule wird die Zukunft weiblich sein ann die Schule von der Hirnforschung lernen? Im „Transferzentrum fu¨r Neurowissenschaften und Lernen“ (ZNL) der Universita¨t Ulm forscht Manfred Spitzer. Er ist kein Pa¨dagoge, sondern Mediziner, und dennoch ist er der meistgefragte Redner auf Lehrertagungen. Mit seinen Forschungen besta¨tigt er manches, was wir schon immer wussten, und manches zwingt uns zur Vera¨nderung der Schulen. „Die Erziehungswissenschaft befindet sich heute auf dem Stand, auf dem die Medizin schon vor 200 Jahren war“, behauptet Spitzer. Er erga¨nzt: „Die Schule macht es mit dem Lernen umgekehrt, als das Hirn gebaut ist“; und „Die meisten Lehrer sind einmal fu¨r Kinder ausgebildet worden, die es heute gar nicht mehr gibt“. So lernen Kinder heute durch Aussprechen, Erkla¨ren, Pra¨sentieren, Handeln, Fehlermachen und zu zweit mehr als durch Zuho¨ren. Was in positiver Atmospha¨re gelernt wird, wird in einer anderen Hirnpartie gespeichert als das unter Angst oder Stress Gelernte. Konzentration wird durch gleichzeitige Bewegung gefo¨rdert, Musikmachen reduziert die Gefahr, Legastheniker zu werden. Und je intelligenter ein Schu¨ler ist, umso langsamer, aber
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umso genauer und vernetzter lernt er. Je a¨lter die Jugendlichen werden, umso mehr wollen sie vernetzt begreifen, parallel zu ihrer Ablo¨sung vom Elternhaus, ihrer Suche nach neuen Lebenspartnern, dem Einstieg in Beruf oder Studium, der Gru¨ndung eines eigenen Haushalts und dem Ero¨ffnen eines stets knapp gefu¨llten oder defizita¨ren Girokontos. Da macht es keinen Sinn mehr, in der Schule Biologie, Physik und Chemie getrennt zu unterrichten, zumal sehr viel mehr junge Menschen inzwischen Biophysik und Biochemie studieren als Biologie. So wie wir heute Schule machen, begu¨nstigen wir die Ma¨dchen, die sich leichter auf Vera¨nderungen und komplexe Lebenszusammenha¨nge einzustellen vermo¨gen als Jungen. Ma¨dchen haben zwar kein „Plaudergen“, aber in dem Maße, in dem Mu¨tter mit ihnen mehr sprechen als mit Jungen, in dem Maße, in dem sie mehr mit ihren Puppen und Kuscheltieren sprechen als die Jungen mit ihren Autos, wird das Kommunikative, Kreative und Soziale in ihrer rechten Hirnha¨lfte besser gefo¨rdert als bei Jungen. Schon im Alter von zwei Jahren beherrschen Ma¨dchen im Schnitt 52 Wo¨rter, Jungen aber nur 44. Ma¨dchen haben also einen besseren Sprachstart in ihr Leben; damit sind sie in einer Zuho¨rschule, die heute bei uns noch vorherrscht, besser dran als die Jungen, die eher durch Ausprobieren und „nebenbei“ lernen, was heute noch kaum erlaubt ist.
Kinder ko¨nnen sich auch selbst beurteilen ut 60 Prozent der deutschen Kinder kommen heute nicht mehr hinla¨nglich erzogen in die Schule, sodass die lange bewa¨hrte Arbeitsteilung, dass die Familie erzieht und die Schule bildet, bei der Mehrheit der Kinder nicht mehr funktioniert. Der schulische Bildungsauftrag braucht also einen sta¨rkeren erzieherischen Rahmen, damit die Bildung u¨berhaupt noch funktioniert. Deutschland produziert im europa¨ischen Vergleich zu wenige Abiturienten;
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Kinder ko¨nnen sich auch selbst beurteilen
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nur jeder fu¨nfte deutsche Jugendliche hat Lust, ein Studium zu absolvieren. In Korea, Portugal oder Griechenland sind es dreimal so viele. Eine fru¨here Einschulung mit fu¨nf Jahren, eine obligatorische Vorschule und die gebundene Ganztagsschule sind Mo¨glichkeiten des erzieherischen Ausgleichs einer defizita¨ren familia¨ren Sozialisation, die bei den PISA-Studien in Deutschland besonders stark durchschla¨gt, wenn es um die Leistungsfa¨higkeit von 15-Ja¨hrigen geht. Lehrkra¨fte mu¨ssen auch gute Erzieher sein, um in ihrem Fachunterricht tatsa¨chlich Lernerfolge zu erzielen. Die Skandinavier haben das la¨ngst verstanden, denn 80 Prozent aller Lehrer dort lassen sich bei Jesper Juul in Aarhus fortbilden. Jesper Juul gilt als bester da¨nischer Erziehungsexperte und Familienberater. So vermittelt er Eltern, schon kleine Kinder so viel wie mo¨glich selbst entscheiden zu lassen, damit sie selbststa¨ndig werden. In Skandinavien lernen schon Vorschu¨ler, Gefu¨hle ada¨quat zum Ausdruck zu bringen, Gelerntes zu pra¨sentieren und sich selbst angemessen einscha¨tzen zu ko¨nnen. Die Betonung liegt auf dem Wort „angemessen“, denn sie sollen sich weder u¨ber- noch unterscha¨tzen. Wahrscheinlich ist es einer Demokratie unwu¨rdig, junge Menschen per Noten zu bewerten, statt ihnen zu helfen, sich selbst richtig einscha¨tzen zu ko¨nnen, was – wie Rechnen ko¨nnen – Jahre dauert. Wenn in Norwegen und Schweden die Noten in der Schule erst mit Klasse 9 beginnen und in Da¨nemark in Klasse 8, und diese La¨nder gleichzeitig besser dastehen als Deutschland, dann muss man Zweifel hegen, ob es gut ist, dass Bayern, Baden-Wu¨rttemberg, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Thu¨ringen und Mecklenburg-Vorpommern die Noten in Klasse 2 wieder eingefu¨hrt haben. Jesper Juul meint jedenfalls, wenn schon kleine Kinder lernen, ihr Taschengeld selbst einteilen, sparen und ausgeben zu ko¨nnen, ihre Kleidung, ihre Freunde und ihr Spielzeug selbst auswa¨hlen zu ko¨nnen, dann ko¨nnen sie auch in der Schule eher in der Lage sein, ihre Leistungen zu beurteilen. Aber natu¨rlich brauchen sie dabei Hilfe durch Eltern, Lehrer und Freunde – so wie beim Rechnen lernen.
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Berichte statt Noten? as war ja nun von der CDU gar nicht zu erwarten: Die ehemalige Hamburger Bildungssenatorin Alexandra DingesDierig wollte allen Schulen, die das wu¨nschen, erlauben, statt der Notenzeugnisse ku¨nftig „Kompetenzberichte“ zu erstellen. Mit solchen „Kompetenzrastern“ soll als Text fu¨r jedes Fach aufgefu¨hrt werden, was der Schu¨ler im Laufe des Schuljahres gelernt hat und was er eigentlich ha¨tte lernen sollen. Bedingung: Die Kompetenzraster mu¨ssen den gleichen Informationswert besitzen wie die bisherigen Notenzeugnisse. Ja, die Kulturhoheit der La¨nder ist vor allem eine Spielwiese fu¨r die Kultusminister, die auf diese Weise zu einem immer gro¨ßeren Auseinanderdriften der La¨nder beitragen. In Bremen ko¨nnen die Eltern der Drittkla¨ssler wa¨hlen, ob sie Noten- oder Berichtszeugnisse haben wollen, und in der neuen Gemeinschaftsschule Schleswig-Holsteins und Berlins soll erst sehr viel spa¨ter mit Noten begonnen werden. In Sachsen gibt es „Kopfnoten“ fu¨r Fleiß, Mitarbeit, Ordnung und Betragen, in Brandenburg aber fu¨r Kooperationskompetenz, Selbststa¨ndigkeit und Kreativita¨t. Eine 17-ja¨hrige Hamburger Schu¨lerin spricht sich in einem Leserbrief gegen die Kompetenzraster aus, und zwar mit dem Argument, Noten seien eindeutiger, justiziabler und objektiver; Texte wu¨rden hingegen die Gefahr der subjektiven Auf- oder Abwertung durch die Lehrer bergen. In einem anderen Leserbrief a¨ußert eine Mutter aus dem Sachsenwald Bedenken mit dem Wortlaut: „Und was sagen die Unternehmer dazu? Schließlich mu¨ssen sich die Schu¨ler mit diesem Zeugnis fu¨r eine Lehrstelle bewerben; ein schneller Vergleich im Bewerbungsverfahren wird dann schwierig.“ Nun ist ein schneller Vergleich sowieso immer ungut, denn Betriebe stellen ja nicht Menschen mit Noten ein, sondern Perso¨nlichkeiten. Und diesbezu¨glich hat sich la¨ngst einiges gea¨ndert:
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Kleine Handwerksbetriebe beklagen jedes halbe Jahr, die Bewerber um einen Ausbildungsplatz ko¨nnten immer schlechter Lesen, Schreiben und Rechnen. Mittlere Betriebe wie Groß- und Außenhandelsfirmen mit 20 Mitarbeitern und drei Auszubildenden sagen etwas anderes: „Was nu¨tzt uns ein Bewerber mit einer 2 in Biologie und einer 2 in Geschichte, im Zeugnis steht aber nicht, ob er neun Stunden und neun Monate bei uns durchhalten kann; also lassen wir ihn drei Monate eine Probelehre machen, um festzustellen, ob er auch u¨ber Durchhalte- und Konzentrationsvermo¨gen verfu¨gt.“ Großbetriebe wie VW, Daimler, Siemens, Bosch, BASF und Henkel sehen sich in den Abschlusszeugnissen der Bewerber nur noch die Noten fu¨r Deutsch, Mathe sowie Physik oder Englisch an und fu¨hren dann dreita¨gige Aufnahmepru¨fungen durch. Wieder andere Betriebe legen mehr Wert auf Umgangsformen, Stil, Ton, Takt und Geschmack als auf Abschlussnoten mit dem Argument: „Was die Auszubildenden im Fachlichen beno¨tigen, bringen wir ihnen selbst bei.“ Neuerdings gibt es Firmen wie die Salzgitter AG, die bevorzugt junge Menschen u¨bernehmen, die nach 200 Bewerbungen 150-mal keine Antwort und 50 Absagen bekamen, denn die Ausbildungsinvestition lohnt sich bei diesen Bewerbern: Sie sind dankbar, nach anderthalb Jahren endlich eine Ausbildung ergattert zu haben, und sie wollen beweisen, dass sie arbeiten ko¨nnen und wollen, obgleich sie keinen guten Schulabschluss erreicht haben.
Schulen beno¨tigen eine andere Fehlerkultur chule vera¨ndert sich nicht nur, weil Deutschland immer ha¨ufiger u¨ber den eigenen Tellerrand blickt und nachfragt, wie es Finnland, Schweden, Kanada und die Niederlande mit ihren Erfolgsmodellen machen. Schule vera¨ndert sich nicht nur, weil immer
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mehr Eltern andere Schulen wollen und deshalb pro Jahr etwa 50 neue Privatschulen ero¨ffnet werden. Schule vera¨ndert sich nicht nur, weil uns die Hirnforscher sagen, dass wir es mit dem Lernen falsch anfangen. Schule vera¨ndert sich auch, weil immer mehr Betriebe in Deutschland, zumal Großbetriebe, anders qualifizierte Bewerber haben wollen. Sie schauen bei den Schulabsolventen nicht mehr auf die Noten in den Abschlusszeugnissen, sondern fu¨hren Aufnahmeverfahren u¨ber zwei bis drei Tage durch, um festzustellen, ob die Kandidaten selbststa¨ndig, teamfa¨hig, kreativ, flexibel, kommunikationsstark, erkundungsstark, handlungskompetent, konfliktfa¨hig sind und vernetzt denken ko¨nnen. Schlu¨sselqualifikationen, Kernkompetenzen oder Soft Skills nennt man diese Qualita¨ten junger Menschen, mit denen der Wirtschaftsstandort Deutschland ku¨nftig seine Wettbewerbsfa¨higkeit bis hin zum Aspekt „Exportweltmeister“ erhalten will. „Wir mu¨ssen immer etwas besser sein als China, Japan, Indien, und die USA“, sagt der Pra¨sident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, Braun, „um den Lebensstandard in unserem Land erhalten zu ko¨nnen“. Deutsche Schu¨ler lernen mehrheitlich noch so, dass sie bestenfalls das Wissen so reproduzieren ko¨nnen, in genau der Art und Weise, wie sie es gelernt haben. Es gelingt ihnen nicht, das Gelernte in a¨hnlichen oder anderen Situationen und Kontexten anzuwenden. Oder anders gesagt: Sie ko¨nnen den dazu no¨tigen Transfer nicht leisten. Das Emotionale, Musische, Kreative, Kommunikative und Soziale liegt in der rechten Hirnha¨lfte des Menschen, die Schule fo¨rdert aber weitgehend nur die linke Hirnha¨lfte mit dem Kognitiven, dem Rationalen, dem Zahlenversta¨ndnis und den technischen Anteilen von Sprache wie Wortschatz, Grammatik und Fremdsprachenkompetenz. Musik geho¨rt in die rechte Hirnha¨lfte, wird aber in unseren Schulen weitgehend noch u¨ber die linke unterrichtet. Wenn nur zehn Prozent der deutschen Sechzehnja¨hrigen das Hebelgesetz („Kraft mal Kraftarm ist gleich Last mal Lastarm“) nennen ko¨nnen und nur die Ha¨lfte davon auch zeigen kann, wie dieses Gesetz auf einen Nussknacker und eine Walnuss anzuwenden ist, dann
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stimmt irgend etwas nicht mit dem Unterricht in unseren Schulen. Kinder lernen am besten u¨ber Um- und Irrwege, behaupten die Hirnforscher. Erstkla¨ssler mu¨ssen von Anfang lernen, sich selbst einscha¨tzen zu ko¨nnen, sagen die Finnen. Es ist einer Demokratie unwu¨rdig, junge Menschen von außen zu bewerten, statt ihnen dabei zu helfen, sich selbst angemessen zu bewerten; das braucht aber viele Jahre, bis es gelingt. Kinder wollen sich in der Resonanz anderer Menschen spiegeln, und da wollen sie mehr ho¨ren als „das ist eine Drei“. Eine Fu¨nf unter einem Aufsatz bescha¨mt sie und la¨sst sie eher resignieren, als dass sie zu neuen Leistungen anspornt. Langer Rede kurzer Sinn: Wir brauchen eine andere Fehlerkultur beim Lernen, wenn junge Menschen leistungsfa¨hig werden sollen. Was jedoch kontraproduktiv ist, ist Fehlermachen bloß mit roter Tinte und schlechten Noten zu verfolgen.
Nachhilfeland Deutschland ie 16 deutsche Kultusminister und fast alle deutschen Lehrerverba¨nde haben sich im Oktober 2006 auf ein Papier mit der berschrift „Fo¨rdern und Fordern“ geeinigt, in dem es um die individuelle Fo¨rderung des Schu¨lers geht. So etwas hat es als Leitgedanken in Deutschland noch nie gegeben! Es handelt sich dabei im Wesentlichen um eine Verabschiedung des Bemu¨hens um Gleichmacherei. Eine 8. Realschulklasse ist in Deutschland ein Symbol fu¨r das Bemu¨hen um Gleichmacherei, denn die Klassenlehrerin muss quasi davon ausgehen, dass alle vor ihr sitzenden 28 Schu¨ler leistungsgleich sind, denn sie sitzen nicht in der 7. Klasse, nicht in der 9. Klasse, nicht in der Hauptschule und nicht im Gymnasium. Sie sind, was Leistungserwartungen anbelangt, von vier Seiten her eingemauert. In der Klasse einer Integrierten Gesamtschule und in Jahrgangsu¨bergreifenden Lernfamilien kommt hingegen eine Lehrerin nie und nimmer auf die Idee, dass alle vor ihr sitzenden Schu¨ler leistungsgleich seien.
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Eine deutsche Halbtagsschule schafft Raum fu¨r eine Besonderheit, die nirgendwo auf der Welt so stark gepflegt wird wie in Deutschland, na¨mlich fu¨r den Nachhilfeunterricht. Und der individualisiert auf missliche Weise: Rund zwei Milliarden Euro geben deutsche Eltern pro Jahr fu¨r Nachhilfe aus. Nur 20 Prozent aller Nachhilfeschu¨ler sind Haupt- und Gesamtschu¨ler, die meisten sind Gymnasiasten. In den alten Bundesla¨ndern haben viel mehr Schu¨ler Nachhilfe als in den neuen. Wohlhabende Eltern nutzen die Nachhilfe viel ha¨ufiger als sozial schwache Familien. Nachhilfe ist eine Ersatzleistung der Familie fu¨r das, was die Schule nicht hinbekommen hat, und Nachhilfe fo¨rdert gesellschaftliche Selektion, denn schwache Kinder „besserer Kreise“ kommen eher zu einem hochwertigen Schulabschluss als intelligente Kinder von Sozialhilfeempfa¨ngern. Von Chancengerechtigkeit, vor u¨ber 40 Jahren von der Aktion Gemeinsinn mit dem Slogan „Schick deine Kinder la¨nger auf bessere Schulen!“ propagiert, kann in Deutschland nach wie vor keine Rede sein, was vor allem an der Existenz von Halbtagsschulen und Hauptschulen liegt. La¨nder mit langen ungegliederten Grundschulen und mit Ganztagsschulen kennen diese gesellschaftliche Selektion u¨ber das Schulsystem so nicht, und deshalb schla¨gt in Polen, in Portugal, in den USA, in Kanada und in den Niederlanden die finanzielle Situation der Familie nicht so auf den Schulerfolg durch wie in Deutschland. „Gesellschaftliche Integration gelingt durch Schulen, oder sie misslingt durch Schulen“ haben Spitzenpolitiker aller Parteien nach den Ereignissen an der Ru¨tli-Hauptschule in Berlin-Neuko¨lln vor u¨ber zwei Jahren in die Mikrofone von Redakteuren gerufen. Aber wann setzen sie diese richtige Erkenntnis endlich in eine zeitgema¨ße Schulgestaltung um? Schleswig-Holstein ist zumindest mit den Ideen Regionalschule, Gemeinschaftsschule und dem Verhindern von Sitzenbleiben auf einem guten Weg. Denn dass mit einer Studie der Universita¨t Bielefeld gerade ermittelt wurde, dass 69 Prozent aller Nachhilfeschu¨ler ihre Leistungen infolge des Nachhilfeunterrichts verbessert haben, nu¨tzt denjenigen Schu¨lern gar nichts, deren Eltern sich keinen
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Nachhilfeunterricht leisten ko¨nnen. Denen bleibt aber immerhin ein dicker Trost: Wenn ein schwacher Schu¨ler gemeinsam mit einem guten Mitschu¨ler Hausaufgaben macht, profitiert er mehr davon, als wenn er ein teures Nachhilfeinstitut besucht! Und noch ein Wermutstropfen fu¨r die Eltern, deren Kinder Nachhilfe bekommen: Laut dem Dortmunder Institut fu¨r Schulentwicklungsforschung fu¨hrt ein Nachhilfeunterricht, der u¨ber neun Monate lang anha¨lt, eher zur Unselbststa¨ndigkeit des Schu¨lers, weil er sich daran gewo¨hnt, dass ihm immer bei der Lo¨sung von Aufgaben geholfen wird.
Sitzenbleiben verboten? n Deutschland bleiben pro Jahr mehr als 250 000 Schu¨ler sitzen, zu zwei Dritteln sind es Jungen. Schleswig-Holstein war Spitzenreiter unter den 16 Bundesla¨ndern, wenn es um das Wiederholen einer Klasse ging. Hamburg gibt ja¨hrlich 25 Millionen Euro fu¨r seine 3000 Sitzenbleiber aus, sodass schon lange gefragt wird, ob man dieses viele Geld nicht besser in die Fo¨rderung schwacher Schu¨ler investieren sollte, statt ihnen mit „Ehrenrunden“ ein Jahr ihrer Biografie zu stehlen. In der Bevo¨lkerungsmehrheit herrscht immer noch der Eindruck vor, Sitzenbleiber wu¨rden mit dem Wiederholen Zeit geschenkt bekommen, um ihre Lu¨cken zu schließen. Meist ist jedoch das Gegenteil der Fall: In etwa 80 Prozent der Fa¨lle verschlimmert sich die Situation der Klassenwiederholer, wie viele internationale Studien belegen. Die meisten Klassenwiederholer resignieren, sie fu¨hlen sich bescha¨mt, sie leiden darunter, plo¨tzlich viel a¨lter als ihre Mitschu¨ler zu sein, von denen sie teilweise sogar ob ihres Versagens geha¨nselt werden, und manche geben sich ganz auf, sodass sie nicht nur sitzenbleiben, sondern auch danach noch als Ru¨ckla¨ufer vom Gymnasium in die Realschule und von da in die Hauptschule wechseln, die sie dann schließlich ohne Abschluss verlassen mu¨ssen; sie wer-
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den geradezu nach unten durchgereicht und fu¨hlen sich selbst als „Loser“, ein Gefu¨hl, das in seltenen Extremfa¨llen sogar bis zu einem Amoklauf wie dem von Robert Steinha¨user am GutenbergGymnasium zu Erfurt fu¨hren kann. Studien u¨ber das Sitzenbleiben besagen, dass es nur in den Fa¨llen zu einer positiven Entwicklung des Schu¨lers beitra¨gt, in denen er das Wiederholen der Klasse selbst akzeptiert, was eigentlich nur dann geschieht, wenn er la¨ngere Zeit wegen Krankheit den Unterricht versa¨umen musste oder wenn er ohnehin im Vergleich zu den Mitschu¨lern zu klein war, sodass er sich freut, endlich eine a¨hnliche Ko¨rpergro¨ße wie seine Mitschu¨ler zu haben. Schleswig-Holstein hat also das „Sitzenlassen“ zu Recht verboten, denn mit Fo¨rderkursen la¨sst sich eindeutig ein ho¨herer Bildungsertrag erzielen als mit strafend-bescha¨menden Warteschleifen. Die Hamburger Hauptschule Ehestorfer Weg weist mit ihrer Teilnahme an dem bundesweiten Projekt „Individuelle Fo¨rderung statt Klassenwiederholung“ jedenfalls eindrucksvoll nach, dass die Investition in die Kompensation von Defiziten, die meist Verhaltens- und nicht Begabungsdefizite sind, dreimal so viel bringt wie das „Backenbleiben“, von dem manch ein Zeitgenosse leider immer noch selbstrechtfertigend behauptet, es habe ihm „nicht geschadet“.
Die Bundesregierung will weniger Schulabbrecher ie ehemalige baden-wu¨rttembergische Kultusministerin und jetzige Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) mo¨chte die Schulabbrecherquote in Deutschland von zur Zeit 8,2 Prozent, von denen etwa zwei Drittel Jungen sind, bis zum Jahr 2012 halbieren. Da fragt man sich: „Wie will sie denn das hinkriegen?“ Denn die Bundesregierung ist gar nicht fu¨r die Schulen zusta¨ndig; infolge der „Kulturhoheit“, zumal nach der Fo¨rderalismusreform, sind es allein die La¨nder. Alle vergleichbaren Staaten,
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also auch schulisch gesehen besonders gute wie Schweden und Finnland, haben etwa zehn Prozent „drop outs“: Schu¨ler, die keinen Schulabschluss erreichen. Offenbar handelt es hierbei um eine ganz normale „Schallgrenze“, die kaum zu unterbieten ist, die Deutschland aber durchaus schon jetzt unterschreitet. Etwa zehn Prozent der jungen Menschen scheinen nicht fu¨r die Schule geboren zu sein, aber durchaus fu¨r das Leben und eventuell auch fu¨r berufliche Erfolge, wie wir von den hochbegabten Schu¨lern mit einem Intelligenzquotienten (IQ) u¨ber 130 wissen. 350 000 haben wir davon in Deutschland. Und sie kommen besonders selten bei einem Schulabschluss an, weil sie spa¨testens nach der siebten Schule – denn sie wechseln sta¨ndig wegen Langeweile, Unterforderung und Mobbing durch Mitschu¨ler – meist in Klasse 8 oder 9, zu ihrer Mutter sagen: „Da gehe ich nie wieder hin, da kannst du machen, was du willst.“ In Bremen gibt es eine Klasse fu¨r „Schulvermeider“, in Hamburg eine „Produktionsschule“, zwei Einrichtungen, in denen Schu¨ler, die nicht mehr in gewo¨hnliche Schulen wollten, u¨ber konkrete produktive Arbeit (Gewa¨chsha¨user bauen, Gemu¨se und Blumen zu¨chten, Teile fu¨r den Airbus fertigen) und mit einem Stundenlohn so ganz nebenbei auch viel lernen und so locker zumindest bis zum Hauptschulabschluss kommen. Wenn man also mehr junge Menschen zu einem Schulabschluss bringen will, muss man das Lernen anders organisieren, und man muss es dann mit einem Hochmaß an Motivation verbinden, frei nach dem Motto des Hirnforschers Manfred Spitzer: „Das Gehirn will immer lernen, man kann es nicht am Lernen hindern; wir ko¨nnten jeden Hauptschu¨ler zum Abitur bringen, wenn wir nur wu¨ssten, wie das geht.“
G8 und Lehrpla¨ne un sollen also bundesweit die Lehrpla¨ne entru¨mpelt werden. Das Abitur an Gymnasien ein Jahr vorzuverlegen und es bei den 265 Wochenstunden von Klasse 5 bis zum Abitur zu belassen,
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war bildungspolitisch naiv, zumal Deutschland die umfangreichsten Lehrpla¨ne der Welt hat und zudem vorherrschend eine Halbtagsschule. Die meisten Gymnasien haben deshalb eine verla¨ngerte Halbtagsschule geschaffen, mit der schon Elfja¨hrige oft Unterricht bis 15.30 Uhr haben. Nun sollen nach Beschluss der Kultusministerkonferenz Wissenschaftler damit betraut werden, die Lehrpla¨ne du¨nner zu machen, ausgerechnet Wissenschaftler, nicht etwa Eltern und Schu¨ler. Merkwu¨rdig! Im brigen soll es bei Lehrpla¨nen bleiben, die ja nichts anderes als Stoffverteilungspla¨ne sind. Sinnvoll wa¨ren Arbeitspla¨ne, mit denen Schu¨ler die Chance beka¨men, nicht nur Wissen aufzubauen, sondern vor allem auch Ko¨nnen, mit denen sie nicht nur Noten wie „Biologie 2“ oder „Geschichte 2“ erreichen, sondern selbststa¨ndig, teamfa¨hig, erkundungsstark, handlungskompetent, kreativ und vernetzt denkend werden. Lernen braucht Einfu¨hrungen (Unterricht), Anleiten (Beratung), Arbeitsmaterialien, Recherchemo¨glichkeiten und ganz viel Zeit. Lernen muss dazu fu¨hren, dass Lust zum Weiterlernen und eine Anstrengungskultur entstehen und dass Lebensperspektiven wachsen, damit Schu¨ler nicht nach dem Abitur sagen: „Ich hab’ jetzt Naturwissenschaften gehabt, und damit will ich nie wieder etwas zu tun haben.“ Es gibt in Deutschland noch Schulen, da werden Biologie, Physik und Chemie getrennt voneinander unterrichtet, obwohl an den Universita¨ten wesentlich mehr Studierende Biochemie, Biophysik oder Biotechnologie studieren als nur Biologie. Jugendliche lernen langsamer, genauer und vernetzter als Kinder, weil sie begreifen wollen, wie der Hase hier auf Erden la¨uft. Sie wollen die Komplexita¨t des Lebens verstehen lernen, wa¨hrend sie sich gleichzeitig vom Elternhaus lo¨sen, Partnerschaften aufbauen, eine Berufsausbildung anstreben, eine Wohnung suchen, ein Girokonto einrichten, einen Gebrauchtwagen kaufen, verreisen wollen und ein Kind bekommen. Das ist ein sehr vernetztes Lebensgefu¨ge, das man nur langsam im Detail zu beherrschen beginnt. Kleine Kinder lernen schnell, aber ungenau, und das klappt nur bei Einzelheiten. Deshalb mu¨ssen wir bei Schulanfa¨ngern das Lerntempo erho¨hen und bei a¨lteren
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Schu¨lern sehr vernetzte Lernbereiche schaffen, damit sie lebenstu¨chtig werden. Der Tu¨binger Pa¨dagogikforscher Ulrich Hermann wirft daher den bisherigen Schulen vor: „Die Hauptaufgabe einer Lehrkraft darf nicht darin bestehen, sta¨ndig Unterricht zu erteilen, das sto¨rt die Schu¨ler nur bei der Arbeit; sie muss vielmehr die sein, Arbeitsmaterial vorzubereiten, Arbeitspla¨ne entwickeln zu helfen und auf thematische Vernetzungen zu achten.“ Lehrpla¨ne mu¨ssen also nicht entru¨mpelt, sondern ganz entsorgt werden!
Reinhold Beckmann und das Turbo-Abitur nde Januar 2008 ist Reinhold Beckmann erstmals in seiner TalkSendung ausgerastet. Im Gespra¨ch mit dem ehemaligen sa¨chsischen Ministerpra¨sidenten Kurt Biedenkopf fluchte er u¨ber die 34 Wochenstunden, die seine zehnja¨hrige Tochter und sein 14-ja¨hriger Sohn in der Folge der Vorverlegung des Abiturs von Klasse 13 auf Klasse 12 pro Woche in der Schule verbringen mu¨ssten. Die „drei Fs“ „Freizeit, Freunde, Faulenzen“ ka¨men zu kurz, die Kinder seien nicht nur, wenn sie nach der 8. Stunde nach Hause kommen, sondern vor allem auch am Wochenende vo¨llig erledigt. „G 8“ heißt ja das neue Gymnasium, das nun auch in Schleswig-Holstein umgesetzt wird. Kurt Biedenkopf meinte, das habe sich in Sachsen und Thu¨ringen, die schon immer das Abi nach Klasse 12 ha¨tten, bewa¨hrt. Das Problem ist: Die Kultusministerkonferenz hat sich schon vor vielen Jahren darauf geeinigt, dass die Schu¨ler von Klasse 5 bis zum Abitur 265 Wochenstunden haben mu¨ssen, egal ob die Hochschulreife nach Klasse 12 – wie nun an allen deutschen Gymnasien – oder Klasse 13 – wie weiterhin an den Gesamtschulen – verliehen wird. Ein gewaltiger Medienrummel, vor allem in den Leserbriefsparten, war die Folge von Beckmanns Wutanfall, und fast alle Eltern von Gymnasiasten stimmten ihm zu. Die Hamburger Schulsenatorin Alexandra Dinges-Dierig geriet darob ins Wanken und schlug
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zuna¨chst vor, die Stoffpla¨ne zu reduzieren, was aber mit einem Hamburger Alleingang dazu fu¨hren wu¨rde, dass das Hamburger Abi bundesweit nicht mehr anerkannt werden wu¨rde; danach schlug sie vor, die 34 Wochenstunden zu strecken, indem Unterricht auch wieder am Sonnabend eingefu¨hrt werden sollte, was eine noch gro¨ßere Empo¨rung bei den Eltern bewirkte und ein Zuru¨ckpfeifen durch Bu¨rgermeister Ole von Beust sowie die Oppositionsforderung nach ihrem Ru¨cktritt vom Amt. Deutschland hat zur Zeit die „dicksten“ Lehrpla¨ne der ganzen Welt. La¨nder, die bei den internationalen Schu¨lerleistungsvergleichsstudien IGLU, TIMSS und PISA sehr gut abgeschnitten haben, haben aber du¨nne Lehrpla¨ne. Das gilt zumal fu¨r Finnland, Schweden und die Niederlande. Was Politiker noch nicht verstanden haben, ist jedoch etwas anderes: Lernen braucht Zeit, ben, Anwenden, Wiederholen und Rhythmisierung. Wenn etwas gelernt werden soll, muss es im Schnitt sechsmal wiederholt bzw. angewendet werden; und Lernen beno¨tigt einen fein komponierten Wechsel von Anspannung und Entspannung und darf dabei nicht nur auf Zuho¨ren und auf eine sitzende Lebensweise vertrauen. Fremdsprachen lernen Schu¨ler am besten in Zehn-Minuten-Portionen, Naturwissenschaften am besten in Zwei-Stunden-Einheiten, und wenn es eine Stunde Mathe gibt, muss darauf etwa eine Stunde Bewegung oder Sport folgen. Die deutsche Halbtagsschule nutzt im Moment noch nicht die zweite Hochleistungslernphase zwischen 14 und 16 Uhr bei ju¨ngeren Schu¨lern und zwischen 15 und 17 Uhr bei a¨lteren. Gut wa¨re also eine rhythmisierte Ganztagsschule statt einer verla¨ngerten Halbtagsschule, denn Ganztagsschulen sta¨rken auch die Familien, die sich dann abends und am Wochenende mehr Mu¨he mit ihren Kindern geben, wie alle Studien belegen. Und gelernt wird auch mehr. Allerdings wa¨re es dennoch no¨tig, die deutschen Lehrpla¨ne deutlich zu entru¨mpeln, weil dann weniger Stoff besser gelernt werden ko¨nnte, aber das mu¨sste bundesweit geschehen.
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Was sagt das Abiturzeugnis aus? edes Jahr im Nachrichten-Sommerloch, das es ja angeblich gar nicht gibt, kommen a¨hnliche Themen in Sachen Schule hoch: Schuluniformen, Benimm-Unterricht, Kopfnoten, einheitliche Schulbu¨cher fu¨r ganz Deutschland und ein la¨nderu¨bergreifendes Zentralabitur. Selbstversta¨ndlich bringt das jeweils Meinungsmehrheiten an „Stammtischen“, und das nu¨tzt dann dem Proklamator in seinem Wahlkreis. Nicht so gut kommen die Vorschla¨ge „Fortbildung im Urlaub“ der Bundesbildungsministerin Annette Schavan und „Wiedereinfu¨hrung des Unterrichts an Sonnabenden in achtstufigen Gymnasien“ der nordrhein-westfa¨lischen Kultusministerin Barbara Sommer an. Eltern, also Wa¨hler, beurteilen Schule meist nach dem, was sie aus ihrer eigenen Schulzeit kennen. Aber ist das noch zeitgema¨ß? Eltern ko¨nnen sich nicht vorstellen, dass Schweden die besten Schulen der Welt hat, obwohl es bis zur 8. Klasse keine Noten gibt und keine Leistungskurse anbietet. Eltern schimpfen, dass ihr „kluger“ Sohn sich vier Jahre in der Grundschule langweilen musste, weil die Lehrerin so viel Ru¨cksicht auf die „Schmuddelkinder“ nahm, und verstehen nun nicht, wie das in der ku¨nftigen neunja¨hrigen Grundschule, der Gemeinschaftsschule, gehen soll. Sie haben Recht, wenn man Unterricht so macht wie bisher, aber sie haben nicht Recht, wenn Schu¨ler voneinander lernen. Nun haben wir wieder eine solche Debatte: Erst schla¨gt die Bundesbildungsministerin Annette Schavan einheitliche Schulbu¨cher fu¨r ganz Deutschland vor, was sofort beim „Mann auf der Straße“ gut ankommt, dann schlagen mehrere CDU-Kultusminister ein Zentralabitur fu¨r die gesamte Bundesrepublik vor, was ebenfalls Zustimmung bei den Wa¨hlern erreicht. Beides widerspricht aber der weltweiten Tendenz und dem Beschluss der Kultusministerkonferenz und der großen Lehrerverba¨nde aus dem Jahr 2007, mit dem Konsenspapier „Fo¨rdern und Fordern“, das unter der Federfu¨hrung Schleswig-Holsteins erstellt wurde, mehr Individualisie-
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rung beim Lernen der Schu¨ler erreichen zu wollen. „Kinder sind und haben unebene Lernlandschaften“, sagen die Finnen mit Recht, man darf sie in Bezug auf ihr einmaliges Begabungs- und Motivationsprofil und die dahinterstehenden ho¨chst unterschiedlichen Elternerwartungen nicht u¨ber einen Kamm scheren, also braucht man musische, technische, sportliche, fremdsprachliche, altsprachliche, mathematische, naturwissenschaftliche und wirtschaftskundliche Schulen und viele andere mehr. 2007 hat die Kultusministerkonferenz ein Ranking der durchschnittlichen Abi-Noten der 16 deutschen La¨nder vorgelegt, und da stehen, wie so oft, Thu¨ringen und Baden-Wu¨rttemberg mit den Durchschnittsnoten 2,3 und 2,33 ganz oben, gefolgt von Sachsen-Anhalt (2,36) und Mecklenburg-Vorpommern (2,41). Bayern erreicht, ganz ungewo¨hnlich, erst den 5. Platz mit 2,43. Hamburg steht auf Platz 11 mit 2,55, Schleswig-Holstein auf Platz 13 mit 2,63 und Schlusslicht ist Niedersachsen mit 2,72. Was sagt uns diese Tabelle? Sind die Schulen in Schleswig-Holstein und Niedersachsen so schlecht? Sind dort die Anspru¨che ho¨her? Schneiden Berlin und Hamburg schlechter ab, weil in Sta¨dten weitaus mehr Schu¨ler auf das Gymnasium wechseln als in la¨ndlichen Regionen? Sta¨dte sind oft ziemlich pleite und ko¨nnen ihre Schulgeba¨ude nicht mehr optimal ausstatten; Sta¨dte haben hohe Migrantenanteile, viele Arbeitslose und oft Wirtschaftsstrukturprobleme. Die Schweden sagen: „Die Bildung eines Volkes entscheidet sich nicht in der Spitze, sondern in der Breite.“ Also ist es doch gut, wenn 40 Prozent eines Schu¨lerjahrgangs auf das Gymnasium wechseln, wenn viele davon zum Abi gelangen, aber zum Beispiel mit 3,2 abschneiden! Vielleicht schneidet ja Niedersachsen mit 2,72 auf dem letzten Platz ab, weil die niedersa¨chsischen Lehrer ein so hohes Anspruchsniveau mit gleichzeitig hohen Lernergebnissen pflegen? Selbst wenn man Bildungspla¨ne vereinheitlichen wu¨rde, selbst wenn es ein bundeseinheitliches Zentralabitur mit Abschlussklausurthemen, die von der Kultusministerkonferenz kommen, geben
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wu¨rde, ko¨nnte es immer noch sein, dass ein strenger und ho¨chst anspruchsvoller Lehrer fu¨r seinen Kurs eine schlechtere AbschlussDurchschnittsnote erzielt als ein sanfter Lehrer, obwohl in dem Kurs mit der schlechteren Note sehr viel mehr gelernt wurde, aber nicht genau das, was im Zentralabitur mit Aufgaben aus dem Bund gefragt wurde. Berlin hat u¨brigens mit 2,71 den vorletzten Platz erreicht, hat aber mit 8,1 Prozent die ho¨chste Durchfallquote beim Abi von allen 16 Bundesla¨ndern. Was sagt uns das? Berlin ist pleite, hat einen sehr hohen Migrantenanteil, hat sehr hohe bergangsquoten von der Grundschule zum Gymnasium, und es ist vo¨llig unklar, ob seine Abiturienten nicht spa¨ter außerordentlich lebenstu¨chtig und ho¨chst erfolgreich sein werden, sowohl wissenschaftlich und kulturell als auch wirtschaftlich gesehen ... In einem Punkt la¨sst sich allerdings die Argumentation der Befu¨rworter eines bundeseinheitlichen Abiturs nachvollziehen: Wenn ein und dieselbe Leistung von Abiturienten je nach Schule und Land unterschiedlich benotet wird, besteht die Gefahr japanischer Verha¨ltnisse. Dort za¨hlen Stufen- und Schulabschlu¨sse nicht viel, denn die Hochschulen wa¨hlen ihre Studenten per Aufnahmepru¨fung aus. „Abitur plus“ wu¨rde so etwas in Deutschland heißen. Die deutschen Privathochschulen nehmen nur junge Menschen auf, die ihre Auswahlverfahren bestehen; das wertet allerdings das Abitur und seine Durchschnittsnote ab. Vielleicht haben ja die deutschen Kultusminister Angst davor, dass die autonomen deutschen Universita¨ten ku¨nftig mehr dem eigenen Eindruck als dem Abi-Zeugnis trauen, wenn sie Studierende rekrutieren?
Die Wirtschaft fordert ein la¨ngeres Zusammenlernen der Schu¨ler heinland-Pfalz, das Saarland, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein, aber auch Brandenburg, Hamburg, Bremen und Berlin haben die Hauptschule schon weitgehend oder
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ganz abgeschafft. In NRW, Hessen und Niedersachsen haben das auch die SPD und die Gru¨nen beschlossen, aber sie sind nicht in der Regierung. Regionalschule (Schleswig-Holstein), Regionale Schule (Mecklenburg-Vorpommern und Rheinland-Pfalz), Sekundarschule (Saarland, Bremen und Sachsen-Anhalt), Stadtteilschule (Hamburg) oder Gemeinsame Schule (Niedersachsen) soll dann diese zusammengelegte Haupt- und Realschule heißen, u¨ber die dann nach aller Erfahrung viele hauptschulempfohlene Schu¨ler, zumal Jungen, auch zum Realschulabschluss kommen, ohne dass die Realschulempfohlenen einen Niveauverlust erleben. Was die Abschaffung der Hauptschule anbelangt, gibt es mittlerweile einen relativ großen parteiu¨bergreifenden Konsens, wenn man mal von der CDU/CSU in Bayern, Baden-Wu¨rttemberg, Hessen und NRW absieht. Streit gibt es nur noch, wenn es um das Gymnasium geht. SPD, Gru¨ne, Linke und SSW wollen es in eine Gemeinschaftsschule einmu¨nden lassen. Im Bu¨rgerschaftswahlkampf Hamburgs 2007 will die SPD aber mehrheitlich ein Zwei-Sa¨ulen-Modell; sie mo¨chte das Gymnasium neben der Stadtteilschule – in die Haupt-, Real- und Gesamtschule einmu¨nden – erhalten, weil sie realpolitisch wa¨hnt, sonst die Wahlen nicht gewinnen zu ko¨nnen. Die SPD legt großen Wert auf das Weiterbestehen des Gymnasiums, was die CDU nicht davon abha¨lt, mit Plakaten der SPD zu unterstellen, sie wolle „Dein Gymnasium abschaffen“, obwohl das keineswegs die SPD, sondern nur ein Elternverein will, der in der ganzen Stadt den Spruch „eine Schule fu¨r alle“ plakatiert hat. Aber in Niedersachsen bewegt sich auch etwas in die Richtung Schleswig-Holsteins: Der ehemalige Kultusminister Bernd Busemann (CDU) u¨berlegt, die Haupt- und Realschu¨ler – wie bislang in Hamburg der Fall – in den Klassen 5 und 6 noch zusammenzulassen, und er wollte wieder neue Gesamtschulen erlauben, wenn die Nachfrage das herga¨be. Ungewo¨hnlich ist, dass es neuerdings ungewohnten Beifall fu¨r ein la¨ngeres Zusammenbleiben der Schu¨ler ausgerechnet von den Industrie- und Handelskammern, von den Arbeitgeberverba¨nden und Unternehmerverba¨nden fu¨r Schleswig-Holstein und Hamburg
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gibt und sogar vom Institut der Bayerischen Wirtschaft. Sie fordern ein la¨ngeres Zusammenbleiben der Schu¨ler u¨ber die Klasse 4 hinaus, halten Gemeinschaftsschulen „nicht generell fu¨r Teufelszeug“, wie es der Pra¨sident des Unternehmerverbandes Nord, Hans Heinrich Driftmann, formuliert, und sie fordern eine um ein Jahr vorgezogene Einschulung der Kinder, weil das bisherige Schuleintrittsalter von durchschnittlich 6,7 Jahren viel zu spa¨t ist, um familia¨r bedingte Erziehungsdefizite noch rechtzeitig kompensieren zu ko¨nnen.
Privatschulen als Alternativen n den letzten 20 Jahren hat sich die Zahl der Privatschulen allein in den alten Bundesla¨ndern verdoppelt. Wa¨hrend die Gesamtzahl aller Schu¨ler dort von etwa neun Millionen auf ungefa¨hr sieben Millionen zuru¨ckging, wuchs die Zahl der Schu¨ler an den mehr als 2800 allgemeinbildenden Privatschulen zugleich von 283 000 auf 435 000 an. Allein die Zahl der Waldorfschulen ist in ganz Deutschland seit 1970 von 30 auf u¨ber 180 gestiegen, und in den neuen Bundesla¨ndern sind seit der Wende schon rund 130 Privatschulen gegru¨ndet worden. Zur Zeit werden in ganz Deutschland ja¨hrlich etwa 50 neue Privatschulen gegru¨ndet. Die La¨nder freuen sich einerseits, weil sie auf diese Weise etwas Geld sparen, andererseits scho¨pfen die Privatschulen vor allem die lernstarken Schu¨ler ab, die dann im staatlichen Schulwesen als Zugpferde und positive Modelle in Klassen fehlen. Fragt man Eltern, warum sie ihr Kind auf eine Privatschule schicken, dann nennen viele folgende Motive, und zwar in folgender Reihenfolge:
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An Privatschulen gibt es weniger Problemfa¨lle unter den Mitschu¨lern, die Zeit und Kraft der Lehrer beanspruchen und negative Modelle fu¨r die eigenen Kinder sind;
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Das Engagement der Lehrer und die Qualita¨t der Lehre sind gro¨ßer; der Wertekonsens im Lehrerkollegium ist wegen der Personalhoheit („schulscharfe Einstellung“) gro¨ßer; der Unterricht ist anspruchsvoller, die Schu¨ler werden mehr und umfassender gefordert, langweilen sich weniger und lernen mehr, anders und anderes; die Schu¨ler werden besser betreut, der Unterricht ist in sthetik, Atmospha¨re, Ordnung, Disziplin, Bewegung (Eurythmie), Musisches und Handwerkliches eingebettet; das soziale Engagement der Lehrer ist gro¨ßer; die Schulgeba¨ude sind ansehnlicher, schu¨lergema¨ßer, gepflegter, heiler, funktionabler und gestalteter; Werteerziehung spielt eine gro¨ßere Rolle; die jeweilige weltanschauliche Pra¨gung (Konfession, Anthroposophie) wird bevorzugt.
Schon immer wollten Privatschulen einen Kontrast zu den staatlichen Schulen bieten, weil Kinder zu verschieden sind, als dass sie alle ihrer jeweiligen Perso¨nlichkeit entsprechend in Belehrungsschulen, in sta¨dtischen Schulen, in Regelschulen, in u¨berkonfessionellen Schulen, in Halbtagsschulen, in notengebenden Schulen oder in solchen, in denen sie vor allem stundenlang auf Stu¨hlen sitzend zuho¨ren mu¨ssen, auf ihre Kosten kommen. Die Privatschulgesetze der 16 Bundesla¨nder unterscheiden bei den Schulen in Freier Tra¨gerschaft zwischen genehmigten und anerkannten Ersatzschulen. Die genehmigten Schulen – wie die 2007 in Hamburg-Rahlstedt von Nena gegru¨ndete – mu¨ssen sich ganz allein u¨ber die Beitra¨ge der Eltern und u¨ber Spenden finanzieren, die anerkannten hingegen bekommen staatliche Zuschu¨sse; oft werden auch von den La¨ndern die Lehrergeha¨lter und die Lehr- und Lernmittel entweder ganz oder anteilig bezahlt. Wa¨hrend ein Schu¨ler einer staatlichen Schule etwa 6000 Euro im Jahr kostet, zahlt Hamburg beispielsweise fu¨r jeden Rudolf-Steiner-Schu¨ler nur
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3000 Euro; 85 Millionen Euro sparen also die Bundesla¨nder ja¨hrlich allein durch die Existenz der Waldorfschulen ein. In dem Maße, in dem mit selbststa¨ndigen bzw. eigenverantwortlichen Schulen die Profilierung zunehmen wird, wird es ein viergliedriges Schulsystem im Groben und ein tausendgliedriges bei genauerem Hinsehen geben, weil jede Schule, ganz gleich ob staatlich oder privat, bemu¨ht sein wird, irgend etwas Besonderes anzubieten, um sich selbst einen attraktiven Schwerpunkt zu verschaffen, der auch weit entfernt wohnende Schu¨ler anlockt, und um in den immer mehr um sich greifenden „Schulhitlisten“ mit ihrem Ranking bestehen zu ko¨nnen; denn der Ruf der einzelnen Schule mit einem besonderen pa¨dagogischen Profil, das zu Angeboten bis hin zu Ski-, Schwimm-, Fußball- und Tennis-Gymnasien fu¨hren wird, wird ku¨nftig ausschlaggebender sein als die Schulform, zu der sie geho¨rt. Da die Privatschulen, zu denen auch Landerziehungsheime und Internate geho¨ren, den Eltern Geld abverlangen und weniger Pla¨tze haben, als der Nachfrage entspricht, ko¨nnen sie nicht die 30 Prozent der eigentlich an ihnen interessierten Eltern bedienen, und deshalb ist Deutschland noch weit entfernt von niederla¨ndischen Verha¨ltnissen, denn in den Niederlanden sind mehr als 76 Prozent sa¨mtlicher Schulen Privatschulen, die aber komplett vom Staat finanziert werden. Die Gru¨nde, ein Kind auf ein Landerziehungsheim oder Internat zu schicken, ko¨nnen u¨brigens sehr verschieden sein: x x
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Die Eltern sind beruflich viel auf Reisen oder im Ausland ta¨tig; Vater oder Mutter fehlen, oder ein neu angeheirateter Elternteil kommt nicht gut mit dem Kind zurecht; ein Einzelkind soll unter Gleichaltrigen aufwachsen; eine spannungsreiche Familiensituation macht die Entlastung des Kindes no¨tig; in den staatlichen Schulen kommt das Kind nicht gut zurecht; trotz Wiederholung von Klassenstufen und eines Schulwechsels ist der Abschlusserfolg gefa¨hrdet;
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die Rund-um-die-Uhr-Betreuung eines Landerziehungsheimes mit familiena¨hnlicher Gruppeneinbindung kann dafu¨r sorgen, dass die Schularbeiten regelma¨ßig gemacht und Klassenarbeiten optimal vorbereitet werden und dass bisherige Lu¨cken im Stoff endlich ausgeglichen werden; die Eltern haben selbst ein Internat besucht und damit beste Erfahrungen gemacht; das Kind soll aus einer misslichen Jugendszene vor Ort oder Clique herauskommen und von ungu¨nstigen Freunden Abstand gewinnen oder vor Drogenkonsum bewahrt werden; dem Kind fehlen Freunde, die es aber im Internat gewinnen ko¨nnte; der gute Ruf eines bestimmten Internats verheißt eine anspruchsvolle Erziehung in Richtung „Elitebildung“; das Internat bietet einen Schwerpunkt, der in der Na¨he der Familie nicht zu finden ist (Hochbegabtenfo¨rderung, Legasthenietherapie, ein beru¨hmter Chor, ein sportliches Profil, ein o¨kologisches Konzept, ein doppelqualifizierender Bildungsgang mit Abitur plus Facharbeiterbrief).
Kinder sind voneinander ho¨chst verschieden. Eigentlich braucht jedes Kind eine nur fu¨r dieses eine Kind geschaffene Schulform. Das ist allerdings Utopie, wu¨rde zu Homeschooling zwingen und ha¨tte den riesigen Nachteil des Mangels an gestalteten sozialen Erfahrungen, die fu¨r Kinder sehr wichtig sind, wenn sie gelingen sollen.
Brauchen wir Pflichtelternabende? twa 60 Prozent der deutschen Kinder kommen heute nicht mehr hinla¨nglich erzogen aus der Familie in die Grundschule. Die klassische Arbeitsteilung zwischen Familie und Schule funktioniert in unserer komplexen, komplizierten und „globalisierten“ Welt voller Werte- und Meinungsvielfalt nicht mehr, auch weil
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Schulbewertungen durch Eltern?
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jedes Kind in seiner Eigentu¨mlichkeit eine andere Erziehung beno¨tigt als das na¨chste, sodass der schulische Bildungsauftrag in der Luft ha¨ngt, wenn er nicht mit einem breiteren erzieherischen Rahmen umgeben wird. Der Kanton Zu¨rich hat daher nicht nur Kindergarten und Primarschule (unsere Grundschule) zu einer Einheit integriert, sondern auch nach finnischem Vorbild Pflichtelternabende eingefu¨hrt. Wenn nicht zumindest Oma kommt, mu¨ssen die Eltern ein Bußgeld bezahlen. Die Hamburger Schulsenatorin Alexandra Dinges-Dierig will so etwas auch fu¨r die Hansestadt vorschreiben. Erziehung wird na¨mlich leichter, wenn man oft mit anderen Menschen u¨ber Erziehung spricht, wie wir von den „Parent Raps“ des Vizeweltmeisters bei PISA 1, Kanada, wissen. Wichtig ist daher, dass Lehrer nicht nur fu¨r diese „zugehende“ Pa¨dagogik aus- und fortgebildet werden, damit sie in der Lage sind, Hausbesuche und Elternstammtische durchfu¨hren zu ko¨nnen, sondern dass an den Universita¨ten in Erga¨nzung zu den bisherigen Fachlehrerstudienga¨ngen auch ein grundsta¨ndiges Klassenlehrerstudium angeboten wird, damit ein Teil der ku¨nftigen Lehrkra¨fte auch den Schwerpunkt „Elternschaft lernen“ – wie die Volkshochschule Nordfriesland es einmal formuliert hat – beherrscht.
Schulbewertungen durch Eltern? chon seit einiger Zeit gibt es die Mo¨glichkeit, dass Schu¨ler ihre Lehrer u¨ber die Internetseite www.spickmich.de bewerten. Eine nordrhein-westfa¨lische Lehrerin, die dagegen klagte, hat in zwei Instanzen verloren, weil die Gerichte das Angebot als Element der Meinungsfreiheit in einer Demokratie einstuften. Der selbe Anbieter baut jetzt eine Internetseite www.schulradar.de auf, u¨ber die Eltern die Schule ihres Kindes bewerten ko¨nnen. Gleichzeitig hatte das Magazin „Focus-Schule“ eine a¨hnliche Idee, gegen die die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Sturm la¨uft. Klar ist,
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Zur Schuldebatte
dass Lehrerverba¨nde ihre Mitglieder schu¨tzen wollen, aber Schule ist nun mal nicht fu¨r Lehrer, sondern fu¨r Schu¨ler da. Bislang war es fu¨r Eltern nicht leicht, eine „gute“ Schule fu¨r ihr Kind zu finden. Sie mussten sich die Schulprogramme der infrage kommenden Schulen besorgen, zu Informationsabenden und Tagen der offenen Tu¨r gehen, Nachbarn befragen und vom Auto vor der Schule aus beobachten, mit welchen Gesichtern Schu¨ler und Lehrer das Schulgeba¨ude verlassen. Am Ende entschieden sie dann oft nach den Krawatten der Schulleiter verschiedener Schulformen auf den Informationsabenden fu¨r Eltern von Viertkla¨sslern. Der Anbieter der Internetseite www.schulradar.de versichert, dass unernste und Vielfachbenotungen von Schulen im Vorwege unterbunden werden ko¨nnten. Eltern liegt das Schicksal ihrer Kinder meist mehr am Herzen als den Lehrern, und daher ist es versta¨ndlich, dass sie im Internet nicht nur die rosig gefu¨hrte Selbstdarstellung einer Schule auf deren Homepage wahrnehmen wollen, sondern dass sie auch Vor- und Nachteile einer angepeilten Schule aus der Sicht anderer Eltern studieren wollen. Es gibt mehrere Projekte in Deutschland, mit denen Studierende ihre Professoren bewerten ko¨nnen. Das Resultat: Manche Professoren gaben sich fortan mehr Mu¨he. Schulen mu¨ssen in einen Wettbewerb geworfen werden, damit sie besser werden. Deshalb mu¨ssen die Eltern schon vor der 1. Klasse frei wa¨hlen ko¨nnen, weil Schulen, die zu wenige Anmeldungen haben, sich dann etwas einfallen lassen mu¨ssen, um attraktiver zu werden. Das Gleiche gilt fu¨r Schulen, die bei www.schulradar.de ungu¨nstig abschneiden. Unsere Kinder werden es den Spickmich-Initiatoren danken!
Einheitliche Schulbu¨cher? ie Schulbuchverlage werden sich freuen: Annette Schavan, die Bundesbildungsministerin, will einheitliche Schulbu¨cher fu¨r ganz Deutschland. Nun ist Schule zwar La¨ndersache, aber sie will
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Einheitliche Schulbu¨cher?
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ihren Plan mit finanzieller Unterstu¨tzung des Bundes schmackhaft machen. Den Schulbuchverlagen ging es in letzter Zeit schlecht. Die vielen Bundesla¨nder und Schulformen, die sta¨ndigen Reformen nicht nur der Rechtschreibung, sondern auch der Lehr- bzw. Bildungspla¨ne und zudem die Sparmaßnahmen in den Landeshaushalten sorgten fu¨r relativ kleine Auflagen und fu¨hrten auch dazu, dass so mancher Lehrer das Kopieren von Texten in Klassensta¨rke fu¨r sinnvoller hielt, als Schulbu¨cher zu kaufen. Aber mit bundesweit vereinbarten Bildungsstarts, mit zentralen Abschlusspru¨fungen und mit dem Vorstoß Richtung einheitliche Schulbu¨cher wa¨chst der Druck, wieder Schulbu¨cher zu kaufen. Mit der Fo¨deralismusreform ist die „Kulturhoheit“ der La¨nder gesta¨rkt worden, und deshalb legt Frau Schavan Wert auf eine Gegensteuerung im Sinne einer auch gebotenen „gesamtstaatlichen Verantwortung“, zumal Deutschland bei internationalen Vergleichsstudien wie PISA, IGLU, TIMSS, DESI, DELPHI, und wie sie sonst noch so heißen, regelma¨ßig ziemlich schlecht abschneidet. Eltern, die mit ihren Kindern innerhalb Deutschlands umziehen, weiß die Bundesbildungsministerin jedenfalls auf ihrer Seite, denn mit der Unterschiedlichkeit der Lehrpla¨ne von Region zu Region verliert so manch ein Schu¨ler durch den Umzug der Familie ein Schuljahr. Aber der Schavan-Plan hat auch Nachteile: Immer mehr Schulen profilieren sich mit Schulprogrammen. Sie setzen sich Schwerpunkte musischer, technischer, mathematischer, naturwissenschaftlicher, fremdsprachlicher oder sportlicher Art, sie wollen im Wettbewerb um die Anmeldezahlen auch den individuellen Besonderheiten in Bezug auf Begabungen, Motivationen und Elternerwartungen entfernt wohnender Schu¨ler entsprechen. Schließlich hat sich die Kultusministerkonferenz mitsamt der Mehrheit der deutschen Lehrerverba¨nde auf das Papier „Fo¨rdern und Fordern“ geeinigt, nach dem Individualisierung beim Lernen ausgebaut werden soll. Auf Dauer darf es jedenfalls keine Gleichheit der schulischen Angebote geben, weil dann noch viel mehr Schu¨ler als heute schon „auf der Strecke
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Zur Schuldebatte
bleiben“ wu¨rden; es muss – wie in den Niederlanden, die das bunteste Schulwesen der Welt haben – eine Vergleichbarkeit der Abschlu¨sse mit ho¨chst unterschiedlichen Profilangeboten geben. Deshalb wa¨re es besser, es wie die Schweden, Finnen und Niederla¨nder zu machen: Extra du¨nne Lehrpla¨ne, die nur die Ziele angeben, nicht die Themen, und dann muss die Schule vor Ort selbst entscheiden, wie sie diese Ziele erreichen mo¨chte; und zu diesen Zielen geho¨rt dann nicht Wissen u¨ber den Dreißigja¨hrigen Krieg, wie die Hauptstadt von Ghana heißt und wie viele Nebenflu¨sse die Elbe hat, sondern Lesen, Schreiben, Rechnen, Zuho¨ren und Redenko¨nnen, Selbststa¨ndigkeit, Teamfa¨higkeit, Informationskompetenz, Kreativita¨t und zwei Fremdsprachen zu beherrschen.
Was Spaß am Lernen bringt – Beispiel Polen s gibt in Deutschland viele gute Lehrer; manche haben aber Spaß daran, Kinder fertigzumachen. Sie ziehen ihren Stoff durch und u¨berlassen alles andere dem ha¨uslichen Nachhilfeunterricht. Sa¨tze wie „Du wirst es nie schaffen“ oder „Ich hatte noch nie eine so schlechte Klasse“ geho¨ren zum Alltag in deutschen Schulen. In Finnland hingegen setzen sich Lehrer nach dem Unterricht noch mit einem Schu¨ler hin, um ihm zu helfen, und die Schu¨ler haben die Privatnummern sa¨mtlicher Lehrkra¨fte in ihrem Handy. Aber man muss nicht immer nur nach Finnland schielen. Vor allem Polen hat zwischen PISA 1 und PISA 2 deutlich zugelegt. Polen hat seine Grundschule verla¨ngert, wie es jetzt auch SchleswigHolstein plant. Alle Schu¨ler bleiben aber auch danach noch drei Jahre zusammen, bevor dann die Differenzierung in Lyzeen, die zum Abitur fu¨hren, und Profil-Lyzeen mit berufsbildenden Schwerpunkten einsetzt. „Nicht Fakten pauken, sondern lernen, die Welt zu verstehen“ ist das oberste Motto der polnischen Schulen. Die Lehrpla¨ne werden nicht zentral vorgegeben, sondern wie in Finnland von der einzelnen Schule selbst entwickelt, mit dem Ergebnis,
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Das Wunder der kanadischen Schulen
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dass mittlerweile 85 Prozent aller polnischen Schu¨ler zum Abitur oder Fachabitur kommen, in Schweden sind es nur 75 Prozent, in Finnland 70 Prozent und in Deutschland gar nur etwa 30 Prozent. Was die Polen verstanden haben: Es muss Schluss sein mit einer Auslese, die schon Zehnja¨hrige vor ihrem eigentlichen Entwicklungsschub zu Verlierern stempelt und die in Deutschland dazu fu¨hrt, dass jeder vierte Schu¨ler auch noch mit 15 Jahren auf dem Niveau von Zehnja¨hrigen liest und schreibt, weil er sich mit der Empfehlung „hauptschulgeeignet“ allzu fru¨h selbst aufgibt. In Finnland und Polen sind die Lehrer fu¨r die Kinder da und nicht umgekehrt. Wir brauchen also kein Bundesschulministerium, wir brauchen stattdessen die Sta¨rkung der einzelnen Schule vor Ort mit Personalhoheit, eigener Budgetierung und dem Recht auf Profilbildung, und ansonsten brauchen wir einen Rahmen aus Bru¨ssel, der EU-einheitlich gestaltet, was man kaum in Deutschland, aber schon in Finnland, Schweden, Polen und in den Niederlanden sehen kann: Fru¨here Einschulung, Erste Fremdsprache ab Klasse 1, neunja¨hrige Grundschule, Ganztagsschule, selbststa¨ndige Schule, sieben oder acht Jahre Notenfreiheit und eine vo¨llig andere Lehrerausbildung.
Das Wunder der kanadischen Schulen ei den internationalen Schu¨ler- und Schulleistungsvergleichen liegt Kanada stets ganz oben, ganz im Unterschied zu den USA. Die kanadischen Lehrkra¨fte werden schlechter bezahlt als die deutschen, sind aber besser gekleidet, gelassener und fro¨hlicher als die deutschen. Sie machen in ihren Schulen vieles anders. Der Lehrerberuf hat dort wie in Finnland ein sehr hohes Ansehen. Viele Schulabsolventen wollen Lehrer werden, sodass die Hochschulen auswa¨hlen ko¨nnen, weniger nach Noten, sondern nach Perso¨nlichkeitsmerkmalen. Behinderte Kinder kommen nicht in Sonderschulen, sie werden in die normalen Schulen integriert.
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Empathie hat den Rang eines Unterrichtsprinzips, sodass die nichtbehinderten Schu¨ler u¨ber die Behinderten Empathie lernen ko¨nnen, und die Behinderten von den Nichtbehinderten lernen ko¨nnen, was mehr bringt, als wenn sie von Erwachsenen lernen mu¨ssten. So werden aggressive Mitschu¨ler friedlich und hyperaktive ruhig. Da Kinder nicht nach so etwas wie Begabung oder Intelligenz sortiert werden, bekommen sie individuelle Lehrpla¨ne, und da Lehrer nicht so teuer sind wie bei uns, sind manchmal vier Lehrer zugleich in einer Lerngruppe. Die Eltern kommen zu „Parent Raps“, also zu Elterntreffen, in die Schule, um mit den Lehrern, vor allem aber miteinander u¨ber Erziehung zu sprechen. Die Schu¨ler haben „Business-Partner“, also Paten in den umliegenden Betrieben. Die Schu¨ler sitzen beim Lernen nicht immer auf Stu¨hlen, sondern auch auf dem Teppich, im Sessel oder auf Emporen. Die Ra¨ume sind nicht klein und viereckig, sondern sie bieten große Lernlandschaften mit Nischen und Computern, mit Bibliotheken und einer fu¨r uns ungewohnten Vielfalt an Lernmaterialien. Die Schu¨ler werden nicht unterrichtet, sondern aufgerichtet mit Plakaten, auf denen steht: „Fehler und Probleme sind Freunde beim Lernen“, „Glaube daran, dass du es schaffst!“ oder „Erfolg braucht den Versuch“. Es gibt „Respect Tickets“, die der Schu¨ler sammelt, und wenn er genu¨gend davon hat, bekommt er von den Lehrern ein Essen gekocht und serviert. Es wird viel mit „Mind Maps“, also mit „Gedankenkarten“ gelernt. Eltern werden bei der Erziehung und Bildung der Kinder als gleichberechtigte Verbu¨ndete auf Augenho¨he verstanden. Und bei der Auswahl der Lehrer gilt das Motto: „Entscheidend ist nicht, wie viele Kinder in einer Lerngruppe sitzen, sondern wer wie vor der Klasse steht.“ Also bekommen Lehrer auch nur Zeitvertra¨ge, nicht so etwas wie einen Beamtenstatus. Eine Aufteilung der Schu¨ler nach Begabungen oder Leistungsfa¨higkeit erfolgt erst mit Klasse 10. Lehrerfortbildung ist Pflicht und findet oft an den Wochenenden statt. „Schule ist fu¨r Kinder da, nicht fu¨r Lehrer“ ist fu¨r kanadische Schulleiter oberstes Gebot, und deshalb werden Lehrer je nach Ein-
Ko¨nnen wir von Finnland lernen?
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satz und Fortbildungsengagement auch unterschiedlich bezahlt. Und wenn sie gut sind, mu¨ssen sie auch nicht eine Uni besucht haben oder aus Kanada stammen. Schu¨ler aus dem Sudan, aus Kurdistan oder aus Somalia haben immer auch Lehrer aus dem Sudan, aus Kurdistan oder aus Somalia. Denn nur, wer seine Muttersprache beherrsche und eine Identita¨t zu seiner Herkunftskultur habe, ko¨nne auch ein guter kanadischer Schu¨ler sein, meint man in Kanada. Das alles ho¨rt sich sehr ungewohnt fu¨r unsere Ohren an. Aber Kanada hat Erfolg damit. Die Finnen u¨brigens auch. Die sind na¨mlich zu a¨hnlichen Schlu¨ssen gekommen wie Kanada, obwohl beide La¨nder fast nichts von dem jeweils anderen Land gewusst haben. Offenbar haben sie sich vor allem an den Grundbedu¨rfnissen von jungen Menschen orientiert.
Ko¨nnen wir von Finnland lernen? ineinhalb Jahre liegen die deutschen Schu¨ler bei der PISA3-Studie hinter den 15-ja¨hrigen Finnen zuru¨ck, wenn es um Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften geht. Finnland ist nun zum dritten Mal hintereinander auf Platz 1 gelandet, und viele fragen sich, was denn in dem Land am Rande Europas so ganz anders la¨uft. Finnland liegt beim Lesen der Kinder und Jugendlichen OECDweit auf Platz 2 nach Island, wa¨hrend Deutschland auf dem vorletzten Platz vor Belgien steht. In Finnland wird viel gelesen, nicht nur in Form von Bu¨chern und Zeitschriften, sondern auch in Form von Untertiteln bei nicht synchronisierten Filmen. Die Anteile der regelma¨ßigen Leser unter deutschen Jugendlichen hat in den letzten zehn Jahren von 16 auf sechs Prozent abgenommen, der Anteil der Nieleser hat sich hingegen von 20 auf 28 Prozent erho¨ht. In Deutschland werden vier Prozent aller Schu¨ler einer besonderen Fo¨rderung in Sonderschulen zugefu¨hrt, alle anderen schwachen Schu¨ler be-
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kommen in den Regelschulen das normale Durchschnittsprogramm. In Finnland werden aber zwo¨lf Prozent aller Schu¨ler durch Spezialisten in den normalen Schulen an die Mitschu¨ler herangefu¨hrt. 40 Prozent aller finnischen Schulen haben weniger als 50 Schu¨ler und 60 Prozent weniger als sieben Lehrer. Kleine Schulen arbeiten weltweit im Schnitt erfolgreicher als große. Jede noch so kleine Schule hat eine sozialpa¨dagogisch ausgebildete „Kuratorin“, eine Psychologin, eine Speziallehrerin, die Defizite kompensieren soll, und eine Schulkrankenschwester sowie mehrere Schulassistenten und fu¨r die Region zur Verfu¨gung stehende Vertretungslehrer, sodass nie Unterricht ausfa¨llt. Entscheidend fu¨r den finnischen Erfolg sind aber zwei andere Besonderheiten: Es gibt eine außerordentlich intensive Kooperation mit den Eltern samt einem guten Fru¨hwarnsystem, und es gibt eine starke Profilbildung, kombiniert mit dem Recht der Eltern, die Schule fu¨r ihr Kind frei aussuchen zu ko¨nnen, sodass sie wa¨hlen ko¨nnen zwischen fremdsprachlichen, naturwissenschaftlichen, musischen, sportlichen und technischen Schwerpunkten, wobei fremdsprachlich nicht etwa ho¨herwertig ist als sportlich, sondern einfach nur andersartig. Das finnische Schulwesen funktioniert nach dem Motto „Lasst 1000 Blumen blu¨hen“, und dazu geho¨ren nicht nur Vielfalt, sondern auch das Recht der Kommune, Lehrkra¨fte nach Bedarf einzustellen und zu entlassen und individuell unterschiedlich zu bezahlen. Einen Beamtenstatus haben die Lehrer dort nicht. Allerdings darf man nicht auf die Idee kommen, finnische Schulverha¨ltnisse auf Deutschland zu u¨bertragen, denn Finnland hat weder eine Unterschicht noch eine nennenswerte Oberschicht, und Migranten gibt es kaum. Die Finnin Thelma von Treymann, die in Deutschland auf Lehramt studiert hat, nennt noch einen Punkt, der selten beachtet wird: Finnisch liest sich unvergleichlich viel leichter als Deutsch, denn seine Orthografie ist vollkommen phonetisch. Jedem Laut entspricht nur ein Buchstabe, wa¨hrend in Deutschland Leseklippen die Risikogruppen rasch zur Resignation zwingen; „Vater“ wird eben bei uns ganz anders ausgesprochen als „Vase“.
Was machen Schulen in Norwegen?
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Was machen Schulen in Norwegen? orwegen steht laut einer OECD-Studie in Sachen Lebensqualita¨t in Europa auf Platz 1. Aber von seinen Schulen ho¨rt man nicht sehr viel, außer dass alle Lehramtsstudenten in Sachen Ho¨flichkeitserziehung geschult werden. Norwegen beginnt mit den Noten wie Schweden erst in Klasse 9. Wa¨hrend Deutschland seine Schu¨ler schon fru¨h sortiert in Gymnasiasten, Realschu¨ler, Hauptschu¨ler und Sonderschu¨ler, nimmt Norwegen den Beschluss der UNESCO-Konferenz aus dem Jahr 1994 sehr ernst, Kinder und Jugendliche mit Behinderungen nicht auszusortieren. Das Gesetz u¨ber Sonderschulen wurde sogar schon 1976 aufgehoben, sodass von den 33 500 Schu¨lern mit sonderpa¨dagogischem Fo¨rderbedarf nur noch 1835 eine Sonderschule besuchen, weil sie dort besser gefo¨rdert werden ko¨nnen als in integrativen Klassen; in Deutschland gelangen hingegen 88 Prozent aller Schu¨ler mit Behinderungen in Sonderschulen. In Skandinavien gibt es kaum noch Sonderschulen, aber sehr viele Sonderschullehrer an Regelschulen. Die Heterogenita¨t ist in den fla¨chendeckenden norwegischen Gesamtschulen also sehr groß; und deshalb gibt es dort mit dem aus Finnland bekannten Satz „Jedes Kind ist einzigartig und eine Bereicherung fu¨r das Gemeinwesen“ zugleich ein Ho¨chstmaß an Individualisierung. Oft ku¨mmern sich mehrere Personen zugleich um ein Kind und selbstversta¨ndlich in enger und ha¨ufiger Zusammenarbeit mit seinen Eltern. Sitzenbleiben kann man in der neunja¨hrigen Grundschule nicht, und wenn ein Kind Lernprobleme hat, wird eben ein individueller Fo¨rderplan fu¨r dieses Kind erstellt, sodass es nicht ausgegliedert werden muss. Klassenarbeiten sind bis zur Klasse 7 nicht vorgeschrieben, stattdessen fu¨hrt jeder Schu¨ler sein Portfolio von der 1. Klasse bis zum Schulabschluss, und ein Bestandteil dieses Portfolios ist das „Lerntagebuch“. Wie in Schweden sollen die Schu¨ler schon fru¨h lernen, sich selbst angemessen einscha¨tzen zu ko¨nnen, sodass sie erst
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Noten brauchen, wenn die Puberta¨tsprobleme einsetzen. Die norwegischen Schulen betonen ein starkes Klassenlehrerprinzip, wie wir es in Deutschland nur aus den Grund-, Haupt- und Sonderschulen kennen. Zentrale Tests von der obersten Schulbeho¨rde in Oslo her (die „La¨ringssenteret“ heißt) gibt es nur fu¨r die Fa¨cher Norwegisch, Englisch und Mathe. Nach der Klasse 9 gehen die meisten Schu¨ler zum Gymnasium u¨ber, das mit Klasse 10 beginnt. ber 50 Prozent eines Schu¨lerjahrgangs machen schließlich Abitur. Und man glaubt es nicht: Bei der TIMSS-Studie haben die norwegischen Zwo¨lftklassler weit vor Deutschland abgeschnitten.
Was machen da¨nische Schulen anders? ie Købmandskolen in Kolding – bei uns wu¨rde so etwas Ho¨here Handelsschule heißen – ist 1999 von der BertelsmannStiftung als besonders exzellente Schule ausgezeichnet worden. Da¨nemark hat schon lange anerkanntermaßen die besten Berufsschulen der Welt, Deutschland nur die zweitbesten. Sie sind „OpenLearning-Center“ (OLC), also oft 24 Stunden pro Tag offen, haben neben einer Bibliothek auch Internet-Cafe´s und sind sehr stark als Lebensmittelpunkt einer Gemeinde mit Kindergarten und Altentagessta¨tte vernetzt. Da¨nische Berufsschulen haben eine hervorragende Akademie-Architektur, sind wunderbar mit Kunstwerken geschmu¨ckt und reich ausgestattet, obwohl sie sich teilweise selbst finanzieren mu¨ssen, indem sie ihre Ausbildung sowie Kurse und Produkte fu¨r umliegende Betriebe verkaufen. Nur ein Teil ihrer Lehrer sind ausgebildete Lehrer, die anderen sind Fachkra¨fte aus den Berufsfeldern, fu¨r die die Schule ausbildet. Da¨nische Berufsschulen haben einen Vorstand, der von den Arbeitgebern, den Gewerkschaften und der Kommune bestellt wird; das gilt auch fu¨r den Schulleiter auf Zeit. Die da¨nischen Schulen beginnen mit der Klasse 0, also mit einer kostenlosen Vorschulklasse fu¨r Fu¨nfja¨hrige, wie es jetzt die schwarz-
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Was machen da ¨ nische Schulen anders?
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gru¨ne Koalition auch fu¨r Hamburg beschlossen hat. Langsam lernende Kinder und solche mit Entwicklungs- und Erziehungsdefiziten sowie solche mit Behinderungen werden schon sehr fru¨h in Kleingruppen individuell von Spezialisten gefo¨rdert, aber nicht ausgegliedert. Alle Schu¨ler lernen gemeinsam bis zur 9. Klasse, und bis zur Klasse 7 gibt es keine Noten. Dreimal im Jahr fu¨hrt jede Schule Elterngespra¨che durch, hinzu kommen drei Elternversammlungen pro Jahr. Die 1. Fremdsprache beginnt in Klasse 4, in Klasse 7 kommen Deutsch oder Franzo¨sisch hinzu. In jeder Klasse gibt es pro Woche eine Klassenlehrerstunde, in der es auch um Gesundheits-, Sexual- und Verkehrserziehung geht. Klassenbu¨cher werden nicht gefu¨hrt. Zehn Prozent aller da¨nischen Schulen mu¨ssen Versuchsschulen sein, dafu¨r gibt es in Kopenhagen eigens einen „Versuchsschulrat“. Nach der 9. Klasse wa¨hlen die Schu¨ler das Gymnasium, die Teknikskole, die Handelsskole oder die Landbrugsskole, die nicht – wie in Deutschland – als ho¨her- oder minderwertige Bildungsga¨nge gesehen werden, sondern als gleichwertige, aber andersartige. Da¨nemark macht mit diesem System die allerbesten Erfahrungen; es hat damit die geringste Jugendarbeitslosigkeitsquote in ganz Europa!
Zur Lehrerrolle
Wer wird Lehrer? do Rauin ist Erziehungswissenschaftler an der Universita¨t Frankfurt am Main. Er hat in einer Langzeitstudie die Motivation von Lehramtsstudenten ermittelt und viel Interessantes herausgefunden. Etwa 30 Prozent von ihnen unterscha¨tzen die Belastungen ihres spa¨teren Berufes durch Stress, aber etwa 70 Prozent wissen ganz genau, dass die Schu¨lerwelt nicht heil ist. Die wichtigste Erkenntnis ist aber: Besonders engagierte Studenten werden auch besonders engagierte Lehrer, und die besonders engagierten Lehrer zeigen auch den geringsten Erscho¨pfungsgrad, wa¨hrend gering engagierte Lehrer auch am ehesten erscho¨pft sind und das ho¨chste Risiko besitzen, fru¨h krank zu werden und mit Burn-out-Syndrom vorzeitig wieder auszusteigen. Das muss die Verantwortlichen in Schul- und Wissenschaftsministerien eigentlich zum Umdenken bewegen: Wenn die Ha¨lfte der Lehramtsstudenten schon wa¨hrend des Studiums „hinschmeißt“, wenn jeder vierte von Anfang an eigentlich nicht Lehrer werden wollte, sondern seine Studienentscheidung nur eine Notlo¨sung war, wenn 35 Prozent der Lehramtsstudenten sich nicht als geborene Erzieher bezeichnen, sondern als Hedonisten, die eine „kleine Morgenstelle“ mit guter Bezahlung, reichlich Ferien und einem sicheren Beamtenstatus anstreben, dann darf man junge Menschen nicht erst acht bis zehn Semester studieren lassen und weitere anderthalb bis zwei Jahre als Referendare bzw. Lehramtsanwa¨rter in Studienseminaren darben lassen, bevor sie dann mit 30 Jahren zu dem Schluss kommen, dass ihnen die Arbeit mit Schu¨lern nicht sonderlich viel Freude bereitet, dass sie sich nur schlecht im Unter-
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Eignungstests fu¨r Lehramtsstudenten?
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richt behaupten ko¨nnen und dass der Schulmeisterberuf viel zu anstrengend ist. Dann muss stattdessen vor Studienbeginn oder gleich von Anfang an u¨berpru¨ft werden, ob die Studienwahl richtig war. Das Ideal wa¨re also, Lehramtsstudierende vom ersten Tag des ersten Semesters an zu zweit einer Klasse zuzuordnen, sie von Anfang an zu zweit Stunden vorbereiten und geben zu lassen, sie zu Elternabenden, Klassenfahrten, Wandertagen und Hausbesuchen mitzunehmen und ihnen so ganz fru¨h die Chance zur Selbsterprobung im Umgang mit Schu¨lern und ihrem Umfeld sowie mit den verschiedenen Weisen moderner Lern- und Erziehungsmethoden zu bieten, damit sie ihre Berufswahl besta¨tigen oder verwerfen ko¨nnen und damit sie selbst erkennen ko¨nnen, ob sie Kindern zugemutet werden du¨rfen oder lieber doch nicht. Denn die Schule ist nicht fu¨r Lehrkra¨fte da, sondern fu¨r Kinder, Jugendliche und die Zukunft unserer Gesellschaft!
Eignungstests fu¨r Lehramtsstudenten? n ihrer Eigenschaft als Pra¨sidentin der Kultusministerkonferenz hat die schleswig-holsteinische Bildungsministerin Ute ErdsiekRave fu¨r ku¨nftige Lehrer Eignungstests zwischen der ersten Phase des Studiums (Bachelor-Abschluss) und der zweiten Phase (MasterStudiengang), also etwa nach dem vierten Semester, gefordert. In Finnland hat der Lehrerberuf ein sehr hohes Ansehen, in Deutschland ein relativ niedriges, obschon deutsche Lehrer etwa ein Drittel mehr Geld bekommen als ihre finnischen Kollegen. In Finnland wollen die besten Abiturienten durchweg Lehrer werden, in Deutschland ist so etwas nicht augenfa¨llig. Von den vielen Bewerbern in Finnland werden aber nur etwa zehn Prozent in das Lehramtsstudium aufgenommen, und zwar vor allem u¨ber Eignungstests, die weniger Wissen oder Durchschnittsnoten zu erkunden trachten, sondern die eher qualifizierend u¨ber Hochschullehrer und Ausbilder einscha¨tzen, was Kindern und
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Jugendlichen zugemutet werden kann. In Deutschland wird dagegen nach Gerechtigkeitsgesichtspunkten „ohne Ansehen der Person“ zum Studium zugelassen und spa¨ter, von Personalra¨ten kontrolliert, eingestellt: Fa¨cherkombination, Notenskala, soziale Besonderheiten wie alleinerziehend und mit Kindern, Behinderungen und Alter. Der „pa¨dagogische Eros“ und so etwas wie Johann Heinrich Wicherns „Charisma“ spielen bei uns keine Rolle. Jedenfalls gibt es wichtigere Aspekte an einer Lehrerperso¨nlichkeit fu¨r einen erfolgreichen Umgang mit jungen Menschen als die Durchschnittsnote beim Abitur, den sozialen Stand, das Alter oder die Abschlussnote der Bachelorphase. Eigentlich muss man Schu¨ler befragen, was sie an Lehrern scha¨tzen: Humor, Gelassenheit, Engagement auch außerhalb des Unterrichts, ein gutes Wissen auch u¨ber das zu unterrichtende Fach hinaus und „dass man bei ihnen etwas lernt“, also so etwas wie Methodenkompetenz. Viele deutsche Schulleiter sind ja mittlerweile schon froh, dass sie mit der Personalhoheit, die man ihrer Schule zugesteht, das machen ko¨nnen, was man in Nordrhein-Westfalen „schulscharfe Einstellung“ nennt, dass sie also ihre Lehrer selbst auswa¨hlen du¨rfen, und dabei geht es dann nur selten um so etwas wie Durchschnittsnoten! Der Vorschlag von Ute Erdsiek-Rave ist also um unserer Kinder willen zu begru¨ßen; nur muss man sich daru¨ber im Klaren sein, dass solche Eignungstests mit Einscha¨tzungen und nicht etwa mit Gerechtigkeit vorgehen, das aber ist dann zwar fu¨r die Kandidaten weniger gerecht, aber fu¨r die Schu¨ler hingegen umso mehr! Schon immer war ich der Meinung, dass man nicht Abiturienten mit einem Zeugnisschnitt von 0,9 bis 1,3 per Numerus Clausus zum Lehramtsstudium zulassen sollte, sondern wenn schon eine Marge von 0,4 sein soll, dann doch lieber diejenigen, die ihr Abi zwischen 2,9 und 3,3 bauen; meist sind das dann spa¨ter die etwas besseren Lehrer.
Haben wir die richtigen Lehrer?
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Haben wir die richtigen Lehrer? s gibt ein Land, in dem viele der besten Abiturienten Lehrer werden wollen, obwohl Lehrer dort ein Drittel weniger verdienen als in Deutschland. In diesem Land haben Lehrer ein sehr hohes Ansehen, in Deutschland nicht. „Faule Sa¨cke“ hat Gerhard Schro¨der die deutschen Pa¨dagogen einmal genannt. Horst Ko¨hler hat sich dafu¨r indirekt entschuldigt, indem er die deutschen Lehrer als „Helden des Alltags“ bezeichnete. Und in jenem Land kommen auf 100 Studienpla¨tze fu¨r das Lehramt etwa 1000 Bewerber. Das bedeutet strenge Auswahlverfahren; keine Pru¨fung in diesem Land ist so schwierig wie die, die dem Lehramtsstudium vorausgeht. Aber dabei richtet man sich nicht nach Noten im Abiturzeugnis, sondern nach ganz etwas anderem, na¨mlich danach, ob die ku¨nftigen „Lernberater“ den Schu¨lern gut tun. Denn was sagt man in dem Land? „Eine gute Schule erkennt man nicht daran, dass die Lehrer Fragen stellen ko¨nnen, sondern daran, dass die Schu¨ler das ko¨nnen.“ Und dann wird bedauert: „Leider gibt es immer noch Lehrer, die die Tore beim Lernen selbst schießen wollen, statt wie ein Coach am Spielfeldrand stehend den Schu¨lern zu helfen, dass sie die Tore schießen.“ Jean Piaget hat das noch scha¨rfer formuliert: „Leider gibt es immer noch Lehrer, die den Schu¨lern beim Lernen abnehmen wollen, worauf die Schu¨ler ha¨tten auch selbst kommen ko¨nnen.“ Wer in jenem Land Kinder unterrichten will, muss bereit sein, bis zur sechsten Klasse Muttersprache, Englisch, Mathematik, Geographie, Geschichte, Biologie, Physik, Chemie, Kunst, Sport, Werken, Religion und Ethik zu unterrichten. Was passiert in der Aufnahmepru¨fung? Es gibt Fragen wie „Warum willst du Lehrer werden?“ Es wird gepru¨ft, wie der Kandidat mit seiner Ko¨rperspannung wa¨hrend der Einzelgespra¨che umgeht. Wer wa¨hrend der Pru¨fung nicht einmal lacht, fa¨llt ebenso durch wie derjenige, der zu viel redet. Man wa¨hlt niemanden aus, weil er gut Klavier spielt; aber man nimmt denjenigen, der begeistert davon spricht, wie er die Schu¨ler fu¨r
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das Klavierspielen zu motivieren gedenkt. Ein Motto heißt: „Gute Pa¨dagogen erkennt man nicht daran, was sie tun, sondern daran, was sie weglassen und zulassen“, frei nach dem Motto Jean Pauls: „Uhren und Kinder darf man nicht permanent aufziehen, man muss sie auch einmal laufen lassen.“ „Kinder aufzurichten ist wichtiger als Kinder zu unterrichten“ ist das andere. Wie heißt dieses Land? Es ist Finnland, der dreimalige PISA„Weltmeister“. Die Aufnahmepru¨fungen zum Lehramtsstudium koordiniert dort seit vielen Jahren Matti Meri. Er fa¨llt durch ungewo¨hnliche Aussagen fu¨r unsere Ohren auf: „Warum unterrichtet man in Deutschland noch Erdkunde und Biologie statt Klima und Erna¨hrung?“ „Warum la¨sst man in Deutschland noch Schu¨ler sitzen, statt ihnen zu helfen, den Anschluss zu kriegen?“ „Warum gibt es in Deutschland noch Hauptschulen, die schwache Schu¨ler von den mitreißenden Lerneffekten der Guten abkoppeln?“ „Warum gibt man in Deutschland fu¨r Grundschu¨ler weniger Geld aus als fu¨r Oberstufenschu¨ler, obwohl es doch auf den Anfang ankommt, wenn Kinder das Lernen lernen sollen?“ Jedenfalls resu¨miert Matti Merz: „Die meisten deutschen Lehrer sind Spezialisten fu¨r Unterrichtsfa¨cher, aber nicht fu¨r Kinder; solche Fachidioten wu¨rde man in Finnland weder ins Lehramtsstudium lassen noch in den Schulen bescha¨ftigen.“ Da fa¨llt einem doch glatt Otto Herz, der ehemalige Leiter der Bielefelder Laborschule, mit seinem Seufzer ein: „Oh, ko¨nnten die deutschen Lehrer doch, bitte sehr, endlich einmal etwas gelo¨ster daherkommen!“ In Finnland spricht man vom „gelassenen Lehrer“, der wa¨hrend seines Studiums in den Sta¨rken seiner Perso¨nlichkeit gefo¨rdert wird, der aber nicht wie bei uns dem Ideal eines austauschbaren Stundengebers zu fro¨nen hat. In Finnland du¨rfen Lehrer sich voneinander unterscheiden; das du¨rfen die Schu¨ler u¨brigens auch, sodass sich dort kein Mensch u¨ber so etwas wie Schuluniformen Gedanken macht.
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Eignungstests fu¨r Lehrer? ach Ansicht der Hamburger Bildungsbeho¨rde ist ein „betra¨chtlicher“ Teil der Lehrkra¨fte nicht fu¨r den ho¨chst anstrengenden und aufreibenden Beruf, der oft im „Burn-out-Syndrom“ und mit der Fru¨hpensionierung endet, geeignet. Hamburg wagt deshalb ein Modellprojekt: Studienanfa¨nger ko¨nnen bereits im ersten Semester im Rahmen eines Selbsttests u¨berpru¨fen, ob sie wirklich fu¨r das Lehramt geeignet sind. Dazu mu¨ssen sie 21 Fragen beantworten, in denen es um Selbstvertrauen, Stressresistenz, berzeugungskraft und Motivationsgemenge geht. Hintergrund ist dabei nicht allein, dass nur sehr wenige Lehrer bis zur Pensionsgrenze von 65 Jahren in ihrem Beruf bleiben, sondern auch eine McKinseyStudie, der zufolge die bei PISA erfolgreichen La¨nder eine ganz andere Lehramtsbildung als Deutschland haben. So geht es in Finnland bei der Auswahl der Lehramtsstudenten weniger um Fachkompetenz als vielmehr um die Motivation in Bezug auf junge Menschen und das Netzwerk des Schulalltags. Wenn Studenten sich nur fu¨r ihre Unterrichtsfa¨cher wie Chemie oder Franzo¨sisch interessieren, wenn sie eigentlich Medizin, Jura oder Betriebswirtschaft studieren wollten, dort aber keinen Studienplatz bekommen haben, sie Kra¨nkungen schlecht wegstecken, wenn sie nicht gut abschalten ko¨nnen, wenn sie mit Kindern arbeiten wollen, weil sie nicht gut mit Erwachsenen oder auch sich selbst klar kommen, wenn sie im Grundzug nicht fro¨hlich zu sein vermo¨gen, dann sollten sie nach Auffassung des Hamburger Landesschulrats Peter Daschner ihre Studienwahl unbedingt u¨berdenken. Ku¨nftige Lehrer werden es zunehmend mit schwierigen Schu¨lern und Familien sowie mit problematischen Stadtteilsituationen zu tun haben. Die klassisch bewa¨hrte Arbeitsteilung, dass die Familie erzieht und die Schule bildet, funktioniert heute bei 60 Prozent der deutschen Kinder nicht mehr, sodass Lehrkra¨fte einen breiteren erzieherischen Rahmen fu¨r das Lernen organisieren mu¨ssen, damit der Bildungsauftrag der Schule u¨berhaupt noch gelingt. Kommende
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Lehrergeneration mu¨ssen Erziehungshelfer gegenu¨ber Eltern sein, Lernberater gegenu¨ber Schu¨lern und Manager der Organisation sinnvoller Lernmaterialien; sie mu¨ssen diagnostische und therapeutische Fa¨higkeiten gegenu¨ber Hochbegabten, Hyperaktiven, Legasthenikern, Rechenschwachen und Kindern mit Ho¨rkontexproblemen haben; sie mu¨ssen etwas von Gewalt- und Suchtpra¨vention sowie von Hirnforschung und Lernpsychologie verstehen, und sie mu¨ssen Lust haben, viel Zeit in der Schule zu verbringen, um weniger belastet zu sein, statt wenig Zeit – mit viel Belastung – in der Schule zu verbringen; vor allem aber mu¨ssen sie team- und konsensfa¨hig sein, um in einer rhythmisierten Ganztagsschule mit jahrgangsu¨bergreifenden Lernfamilien fu¨r jeden einzelnen Schu¨ler ein anderes Lernprogramm anbieten zu ko¨nnen. Denn wie sollen Schu¨ler teamfa¨hig werden, wenn die Lehrer ihnen das nicht vorleben? In Zukunft brauchen wir Lehrer, die nicht in einer Belehrungsschule, sondern in einem Lerndorf, nicht in Klassen, sondern in einer Lernwerkstatt wirken, nicht Belehrte unterrichten, sondern Selbstlerner aufrichten, wu¨rde Reinhard Kahl formulieren.
Die Lehrerleistung ist großartig o war es schon immer in der Schulgeschichte: Die besten deutschen Schulen sind besser als die im Land des PISA-Weltmeisters Finnland. Die beru¨hmtesten Pa¨dagogen der Schulgeschichte kommen aus dem deutschsprachigen Raum und die meisten weltweiten Schulreformimpulse ebenfalls. Man stelle sich einmal vor, die Finnen pilgern scharenweise an die Grundschule Kleine Kielstraße im Dortmunder Norden, einem Problemgebiet! Sie hat 2006 den deutschen Schulpreis gewonnen, weil sie Schulklima und Integration am besten schafft, obwohl sie gar nicht mehr Geld bekommt als andere Schulen. 2007 hat die Robert-Bosch-Gesamtschule in Hildesheim diesen Preis gewonnen, ebenfalls deshalb, weil sich die Schu¨ler dort besonders wohl fu¨hlen und weil dort Ge-
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meinschaft so hervorragend geschaffen wird. Soziales Lernen und die Gestaltung einer guten Atmospha¨re, das ist das, was die Schu¨ler dieser Schulen loben. Deutschland ist bei PISA deutlich besser geworden, in den Naturwissenschaften geho¨rt es sogar weltweit zur Spitzengruppe. Aber es hapert immer noch an Integration, und immer noch schla¨gt das familia¨re Milieu bei der Leistung der Schu¨ler mehr durch als ihre Intelligenz. Wir wissen, woran es liegt; und das sind die gleichen Gru¨nde, die auch fu¨r die Verdoppelung der Jugendgewalt in unserem Land seit 1998 verantwortlich sind: x
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Wir schulen mit sechs Jahren viel zu spa¨t ein, denn vernachla¨ssigte Kinder mu¨ssen fru¨her in die Schule kommen, weil ihre Familien die Erziehung nicht hinla¨nglich hinbekommen, und fru¨h gefo¨rderte Kinder mu¨ssen auch fru¨her in die Schule kommen, weil sie sich sonst unterfordert langweilen. Die vorherrschende Halbtagsschule reduziert die Kinder auf nur zwei Stunden Hauptlernzeit pro Tag (bei Kindern bis zum 13. Lebensjahr ist das zwischen 8 und 10 Uhr, bei Jugendlichen zwischen 10 und 12 Uhr), wa¨hrend verbindliche Ganztagsschulen auch die zwei Stunden am Nachmittag nutzen (bei Kindern bis zum 13. Lebensjahr zwischen 14 und 16 Uhr, bei Jugendlichen zwischen 15 und 17 Uhr), und sie kann nicht den breiteren erzieherischen Rahmen bieten, den man fu¨r die Umsetzung des schulischen Bildungsauftrags fu¨r Kinder aus erziehungsschwachen Familien dringend beno¨tigt. Die allzu kurze deutsche Grundschule koppelt die schwachen und schwierigen Schu¨ler schon mit elf Jahren von den mitreißenden Effekten der Guten beim Lernen ab und la¨sst sie dann zum Beispiel in Hauptschulklassen restkonzentriert im eigenen Saft schmoren, sodass sich Verliererschicksale potenzieren.
Deutschland hat zu wenig gute Schu¨ler und zu viele schwache unter den 15-Ja¨hrigen und erreicht dennoch einen guten internationalen Durchschnitt, und zwar trotz seiner Halbtagsschule, die welt-
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weit gesehen, ungewo¨hnlich ist. Deutschland steht gemeinsam mit Tschechien ganz unten, wenn es um Bildungsinvestitionen geht. Deutschland steht gemeinsam mit Tschechien, sterreich und der Schweiz ganz unten, wenn es um den Anteil der Hochschulabsolventen aus einem Geburtsjahrgang geht. In Korea, Griechenland, Polen, der Tu¨rkei und in den USA sind es drei- bis viermal so viele. Wenn man dann noch in Rechnung stellt, dass deutsche Lehrer wesentlich mehr Unterrichtsstunden pro Woche zu geben haben (bis zu 28 Stunden) als international u¨blich (etwa 16 Stunden), dann vollbringen deutsche Lehrer eine großartige Leistung! Aber die Lehrerleistung ist noch nie international verglichen worden. Wahrscheinlich stu¨nde Deutschland diesbezu¨glich auf Platz 1!
Motivation und Ruf der Lehrer er Frankfurter Bildungsforscher Udo Rauin hat festgestellt, dass 30 Prozent der deutschen Lehramtsstudenten nicht die no¨tige Motivation und Einstellung zu ihrem spa¨teren Beruf mitbringen, die heutzutage unverzichtbar sind. Die ku¨nftige Schule wird eine erziehungsstarke rhythmisierte Ganztagsschule sein, in der es jahrgangsu¨bergreifende Lernfamilien gibt, in der Kinder selbst handelnd durch Ausprobieren und Pra¨sentieren, durch gegenseitiges Fragen und Erkla¨ren lernen, in der Lehrer und Eltern gleichberechtigt auf Augenho¨he zusammenarbeiten, in der Unterricht und Arbeitswelt fru¨h vernetzt werden und in der mit weniger staatlichem Geld mehr Lernen herauskommen muss. Der Lehrer der Zukunft wird kein frontal vorgehender Stundengeber mehr sein, sondern ein Erziehungshelfer gegenu¨ber Eltern, ein Lernberater gegenu¨ber Schu¨lern und ein Manager der Organisation sinnvoller Lernmaterialien; er wird so oft es geht, den Unterricht außerhalb der Schule stattfinden lassen, damit Schu¨ler vor Ort lernen ko¨nnen, und er wird im Team die kleine Schule in der großen Schule umsetzen (zum Beispiel zu zweit zwei Klassen fu¨hren oder zu sechst vier
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Klassen); er wird nicht mehr als oberstes Ziel anstreben, dass seine Schu¨ler eine 1 oder 2 in Geschichte oder Biologie erreichen, sondern dass sie vernetzt denken ko¨nnen, dass sie kreativ und handlungskompetent werden. Vor allem mu¨ssen ku¨nftige Lehrer aber wieder dafu¨r sorgen, dass das Ansehen des Lehrerberufs in unserer Gesellschaft deutlich steigt. In den ja¨hrlichen Umfragen zur Beliebtheit der Berufe in der Bevo¨lkerung stehen in Skandinavien und Großbritannien die Lehrer stets ganz oben, in Deutschland aber auf dem drittletzten Platz – vor Journalisten und Politikern.
Weltlehrerkongress definiert den modernen Lehrer uf dem 5. Weltlehrerkongress in Berlin, warf der UN-Sonderberichterstatter fu¨r Bildung, Vernor Munoz aus Costa Rica, dem deutschen Bildungssystem vor, dass es „selektiv“ und „diskriminierend“ sei. Er wies darauf hin, dass Hauptschu¨ler zu fru¨h von den mitreißenden Effekten der gute Schu¨ler beim Lernen abgekoppelt werden, dass wohlhabende Eltern auf Privatschulen ausweichen und dass die Leistungen der jungen Menschen mehr von der Familiensozialisation abha¨ngen als von der Begabung bzw. der Intelligenz der Schu¨ler. Wa¨hrend die Bundesbildungsministerin Annette Schavan diese Kritik zuru¨ckwies, stimmte der Vorsitzende des zweitgro¨ßten deutschen Lehrerverbandes VBE, Ludwig Eckinger, den Vorwu¨rfen von Herrn Munoz jedoch zu, indem er den Finger in die Wunden der deutschen Bildungslandschaft legte. So wie der Koordinator der PISA-Studien, Andreas Schleicher, der fu¨r die OECD in Paris arbeitet, konstatierte, „Deutschland versucht, Kinder des 21. Jahrhunderts von Lehrern mit einem Ausbildungsstand des 20. Jahrhunderts in einem Schulsystem des 19. Jahrhunderts zu unterrichten“, beklagte auch Eckinger: „Wir brauchen keine Mathematiker und Germanisten in den Schulen, sondern Lehrer fu¨r Mathematik und Deutsch“; „Lehrer sind unsicher, Probleme von
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Kindern zu diagnostizieren und angemessen darauf zu reagieren“; „die Einfu¨hrung von Bachelor- und Masterstudienga¨ngen verfu¨hrt zu Sparmodellen in der Lehrerbildung“; „der Praxisbezug kommt im Lehrerstudium viel zu kurz“. Nun war das in Berlin ja ein Weltkongress und kein speziell deutscher. Beklagenswert ist, dass weltweit immer noch etwa 218 Millionen Kinder gar keine Schule besuchen und dass nur 3,5 Prozent der weltweiten Entwicklungshilfe fu¨r Bildungsmaßnahmen ausgegeben werden. Aber wenn man die etwa 40 in Bezug auf Lebensstandard und Bildung vergleichbaren OECD-La¨nder ansieht, dann ist Deutschland seit seiner letzten großen Schulreform im Jahr 1920 mit der Einfu¨hrung von Grund- und Berufsschulen zwar nicht schlechter geworden, aber viele andere La¨nder haben das jahrhundertelang in Sachen Bildung vorbildliche Land Deutschland la¨ngst u¨berholt. Sie haben etwas eher verstanden, dass Schulen nicht fu¨r Lehrer, sondern fu¨r Kinder und die Gesellschaft da sind, dass Bildung mit der Geburt und nicht erst mit der Einschulung beginnt, dass Unterricht individualisieren muss und dass Lehrer keineswegs nur Experten ihrer Fa¨cher sein du¨rfen, sondern dass sie heutzutage vor allem Erziehungshelfer gegenu¨ber Eltern, Lernberater gegenu¨ber Schu¨lern und Manager der Organisation sinnvoller Lernmaterialien und Lernorte sein mu¨ssen, die etwas von Diagnose und Therapie, von „zugehender Pa¨dagogik“ gegenu¨ber Familien und Nachbarschaften, von Hirnforschung und auch von Gewalt- und Suchtpra¨vention verstehen mu¨ssen. Deshalb ist es im Sinne einer optimalen Theorie-Praxis-Verknu¨pfung erforderlich, dass Lehramtsstudenten ku¨nftig die Ha¨lfte der Zeit in der Universita¨t verbringen, die andere Ha¨lfte aber in einer ihnen zugeordneten Kindergartengruppe, Klasse oder Schule. Ludwig Eckinger sagt es so: „Zum Kompetenzkatalog eines hochqualifizierten Lehrers muss das gesamte Feld der Pa¨dagogik, der Entwicklungspsychologie, der Didaktik und der Sozialpa¨dagogik geho¨ren, denn die Aufgabe des Lehrers ist nicht Unterricht, sondern ,erziehender Unterricht‘, wie schon vor u¨ber hundert Jahren Johann Friedrich Herbart sagte.“
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Deutschland hat einen Mangel an guten Schulleitern enn Schulen zu wenige Anmeldungen haben, mu¨ssen sie versuchen, Nachbarschulen „in die Knie zu konkurrieren“, wie Franz Mu¨ntefering formulieren wu¨rde. Sie mu¨ssen also in den Wettbewerb mit Nachbarschulen eintreten, und zwar durch ein besonderes Schulprogramm, durch Konsens im Kollegium, durch eine geringere Bedeutung der Noten, durch mehr Individualisierung und Integration zugleich, durch ihr ganzta¨giges Angebot, durch Rhythmisierung des Lernens und durch eine starke Schulleiterperso¨nlichkeit. Nun will aber kaum noch jemand Schulleiter werden, das ist anders als fru¨her. In vielen Bundesla¨ndern gibt es keine Bewerbung, wenn eine Schulleiterstelle ausgeschrieben wird, denn der Besoldungszuwachs ist so gering, dass damit die Mehrbelastung durch Bu¨rokratie nicht mehr ausgeglichen wird. Gute Schulleiter sind heutzutage oft von 7 bis 21 Uhr in ihrer Schule, sonst sind die vielen Schreibarbeiten, Gespra¨che, Veranstaltungen, Unterrichtsstunden, Koordinierungsaufgaben und Krisensitzungen nicht zu schaffen. Die hessische Kultusministerin Karin Wolff (CDU) will daher die Schulleiter „sehr viel besser“ bezahlen, um die Attraktivita¨t dieses Jobs zu erho¨hen; sie will dafu¨r sogar eine Schulleiter-Akademie gru¨nden. Und der niedersa¨chsische Kultusminister Bernd Busemann (CDU) will die Unterrichtsverpflichtung seiner Schulleiter „deutlich reduzieren“. hnliches plant Mecklenburg-Vorpommern, auch um – wie Niedersachsen – die „eigenverantwortliche Schule“ mit eigener Budgetierung, Personalhoheit und Profilbildung zu begu¨nstigen, denn zunehmend werden in Deutschland die Schulra¨te abgeschafft und ihre bisherigen Funktionen einfach den Schulleitern u¨bertragen. Offiziell heißt es, wie der Kultusminister aus Schwerin, Henry Tesch (CDU) sagt: „So viel Staat wie no¨tig und so wenig wie mo¨glich.“ Die Schulen sollen damit mehr Gestaltungsfreiheit erhalten, damit sie im Wettbewerb besser werden. Oder ist es
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doch nur wieder eine Sparmaßnahme, weil die Schulratsbesoldung entfa¨llt? Schleswig-Holsteins Kultusministerin Ute Erdsick-Rave (SPD) hat jedenfalls bislang nur die Leiter von Berufsschulen gesta¨rkt; nur sie haben mehr Autonomie erhalten. Ob die allgemeinbildenden Schulen noch folgen? Das wu¨rde die Schulen durch Wettbewerb sta¨rken, vorausgesetzt, man bezahlt die Schulleiter dann auch besser. Denn Menschen ko¨nnen nur gut sein, wenn man auch gut mit ihnen umgeht!
Literatur
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Literatur Fu¨ller, Christian: Schlaue Kinder, schlechte Noten: Wie unfa¨hige Politiker unser Bildungssystem ruinieren – und warum es trotzdem gute Schulen gibt; Mu¨nchen (Droemer) 2008. Preisendo¨rfer, Bruno: Das Bildungsprivileg – Warum Chancengleichheit unerwu¨nscht ist; Frankfurt a. M. (Eichborn) 2008. Sauter, Sven: Schule, Macht, Ungleichheit; Frankfurt a. M. (Brauder & Apsel) 2008. Scarbath, Horst: Tra¨ume vom guten Lehrer; Donauwo¨rth (Auer) 1992. Spitzer, Manfred: Lernen, Gehirnforschung und die Schule des Lebens; Heidelberg (Spektrum) 2003 (2. Auflage). Struck, Peter: Gegen Gewalt; Darmstadt (Primus) 2007. Struck, Peter: Die 15 Gebote des Lernens; Darmstadt (Primus) 2008 (3. Auflage).
Prof. Dr. Peter Struck war zehn Jahre Volks- und Realschullehrer und danach vier Jahre lang Schulgestalter in der Beho ¨rde fu¨r Schule, Jugend und Berufsbildung in Hamburg. Seit 1979 hat er eine Professur fu¨r Erziehungswissenschaft an der Universita ¨t Hamburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Sozial- und Schulpa ¨ dagogik, Bildungspolitik, Jugendforschung, Hirnforschung, Familienerziehung und Medienpa ¨ dagogik. Bei der Zeitschrift Familie & Co sitzt Peter Struck als Experte seit 19 Jahren am Schulsorgentelefon. Im Primus Verlag ist von ihm zuletzt erschienen: „Elternhandbuch Schule“ (2006), „Gegen Gewalt“ (2007), „Lehrer der Zukunft“ (2007, gemeinsam mit Ingo Wu¨rtl) und „Die 15 Gebote des Lernens“ (3. Auflage 2008). Kontakt: Prof. Dr. Peter Struck, Fachbereich Erziehungswissenschaft, Universita ¨t Hamburg, Binderstraße 34, 20146 Hamburg, Tel.: 040/42 83 8-3760, Fax: 040/42 83 8-6112 E-Mail: [email protected]