Die Herausforderung des Pluralismus: John Rawls' Politischer Liberalismus und das Problem der Rechtfertigung 9783495818350, 9783495488355


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Table of contents :
Inhalt
Dank
Einleitung
Gliederung der Arbeit
1. Ein Pluralismus von Weltanschauungen
1.1 Wovon wir sprechen, wenn wir von Pluralismus sprechen
1.2 Ein Pluralismus der Werte?
1.2.1 Zum Begriff
1.2.2 Werte oder Wertende (Raz)
1.2.3 Werte und Normen (Habermas und Forst)
1.2.4 Zusammenfassung
1.3 Ein Pluralismus des Guten?
1.3.1 Ein Pluralismus ethischer Liberaler (Dworkin)
1.3.2 Das Problem der moralischen Überzeugungen
1.3.3 Zusammenfassung
1.4 Weltanschauungen und umfassende Lehren
1.4.1 Umfassende Lehren (Rawls)
1.4.2 Arten von umfassenden Lehren?
1.4.3 »Umfassende Lehre« oder »Weltanschauung«?
1.4.4 Weltanschauungen als Begründungsinstanzen
1.5 Ergebnis
2. Das Projekt des Politischen Liberalismus
2.1 Die Rechtfertigungsaufgabe
2.2 Zur systematischen Eigenständigkeit von Political Liberalism
2.3 Das Projekt: »politisch, nicht metaphysisch«
2.3.1 Die Tradition des liberalen Denkens
2.3.2 Freistehende Rechtfertigung
2.3.3 Vollständige Rechtfertigung
2.3.4 Vorrang des Rechten
2.3.5 Zusammenfassung
2.4 Rawls’ Umsetzung
2.4.1 Das Faktum des vernünftigen Pluralismus
2.4.2 Die Bürden der Urteilskraft
2.4.3 Das Kriterium der Wechselseitigkeit
2.4.4 Argumentative Ausgestaltung
2.4.5 Eie Methode der Vermeidung
2.5 Ergebnis
3. Konstruktivismus und Rechtfertigung
3.1 Der Politische Liberalismus als Rechtfertigungsprojekt
3.2 Konstruktivismus in der praktischen Philosophie
3.2.1 Konstruktivismus und Vertragstheorie
3.2.2 Konstruktivismus und Meta-Ethik
3.2.3 Die Einführung des Ausdrucks durch Rawls
3.2.4 Der gegenwärtige Stand der Debatte
3.3 Drei Grundformen des Konstruktivismus
3.3.1 Prudentieller Konstruktivismus
3.3.2 Wertbasierter Konstruktivismus
3.3.3 Kohärenztheoretischer Konstruktivismus
3.3.4 Zusammenfassung
3.4 Rawls’ Politischer Konstruktivismus
3.4.1 Rückblick: Drei Anforderungen
3.4.2 Ein freistehender Konstruktivismus
3.4.3 Politischer Urzustand
3.4.4 »Fundamentale Vorstellungen«
3.5 Die Rechtfertigungsgrundlage
3.5.1 Prudentielle Begründung?
3.5.2 Wertbasierte Begründung?
3.5.3 Kohärenztheoretische Begründung?
3.6 Ergebnis
4. Kantische Wurzeln
4.1 Inspirationsquelle Kant
4.2 Kants »moralischer Konstruktivismus«
4.2.1 Ergebnis der Konstruktion
4.2.2 »Kategorischer Imperativ-Prozedur«
4.2.3 Rechtfertigungsgrundlage
4.2.4 Rawls’ Interpretation des Faktums der Vernunft
4.2.5 Zusammenfassung und Einschätzung
4.3 Der »Vorrang des Rechten« und das Paradox der Methode
4.3.1 Worin besteht das Paradox?
4.3.2 Kants Argumente für das Paradox
4.3.3 Implikationen für Rawls’ Kant-Interpretation
4.4 Die Begründung der Moral – Kants Alternative
4.4.1 Weder Konstruktivismus noch Realismus
4.4.2 Der »transzendentale Konstitutivismus«
4.4.3 Das Faktum der Vernunft
4.4.4 Das Paradox der Methode
4.4.5 Zusammenfassung
4.5 Ergebnis: Die Relevanz der kantischen Wurzeln
5. Eine transzendentale Rechtfertigungsgrundlage
5.1 Ein neues Begründungsmuster
5.2 Die Herausforderung des Pluralismus
5.2.1 Weltanschauungen als Begründungsinstanzen
5.2.2 Der Ursprung des Pluralismus
5.2.3 Drei Anforderungen
5.2.4 Sechs Begründungsmuster
5.3 Das transzendentale Begründungsmuster
5.3.1 Eine wertunabhängige Begründung
5.3.2 Transzendentale Interessen (Höffe)
5.3.3 Die Voraussetzung öffentlicher Rechtfertigung (Gaus)
5.3.4 Zusammenfassung
5.4 Zu einer Rehabilitierung des Politischen Konstruktivismus
5.4.1 Erster Vorschlag: Bedingungen der Möglichkeit von Rechtfertigung
5.4.2 Zweiter Vorschlag: Bedingungen der Möglichkeit von Weltanschauungen
5.4.3 Transzendentale Begründung und die drei Anforderungen
5.5 Ergebnis: Eine neue Methode der Vermeidung
6. Ausblick
Literaturverzeichnis
1. Werke von John Rawls
2. Weitere Literatur
Personenregister
Sachregister
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Die Herausforderung des Pluralismus: John Rawls' Politischer Liberalismus und das Problem der Rechtfertigung
 9783495818350, 9783495488355

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Moritz Hildt

Die Herausforderung des Pluralismus John Rawls' Politischer Liberalismus und das Problem der Rechtfertigung

BAND 90 PRAKTISCHE PHILOSOPHIE https://doi.org/10.5771/9783495818350

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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

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https://doi.org/10.5771/9783495818350 .

Welche Merkmale muss eine philosophische Theorie aufweisen, will sie dem modernen gesellschaftlichen Pluralismus gerecht werden? Der Autor setzt sich bei der Untersuchung dieser Frage insbesondere mit John Rawls’ Vorschlag einer pluralismussensiblen Rechtfertigungstheorie (vor allem dem 1993 in Politischer Liberalismus vorgestellten »Politischen Konstruktivismus«) auseinander – und unterzieht diese einer grundlegenden Kritik. Anschließend entwickelt er mit Rückgriff auf Rawls’ kantische Wurzeln eine systematische Alternative. Dieser Alternative, so die These des Autors, kann es gelingen, der Herausforderung des Pluralismus zu begegnen.

Der Autor: Moritz Hildt hat in Freiburg i. Br. und Tübingen Philosophie und Amerikanische Literatur studiert. Nach einer Zeit als Visiting Scholar an der Tulane University in New Orleans, USA, arbeitet er derzeit als wissenschaftlicher Koordinator des Arbeitskreises Europa – Politisches Projekt und kulturelle Tradition der Fritz Thyssen Stiftung.

https://doi.org/10.5771/9783495818350 .

Moritz Hildt Die Herausforderung des Pluralismus

https://doi.org/10.5771/9783495818350 .

Alber-Reihe Praktische Philosophie Unter Mitarbeit von Jan P. Beckmann, Dieter Birnbacher, Heiner Hastedt, Konrad Liessmann, Guido Löhrer, Ekkehard Martens, Julian Nida-Rümelin, Peter Schaber, Oswald Schwemmer, Ludwig Siep, Dieter Sturma, Jean-Claude Wolf und Ursula Wolf herausgegeben von Christoph Horn, Axel Hutter und Karl-Heinz Nusser Band 90

https://doi.org/10.5771/9783495818350 .

Moritz Hildt

Die Herausforderung des Pluralismus John Rawls’ Politischer Liberalismus und das Problem der Rechtfertigung

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495818350 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2016 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48835-5 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81835-0

https://doi.org/10.5771/9783495818350 .

meinen Eltern: Ich glaube noch immer, dass ich Flügel habe

https://doi.org/10.5771/9783495818350 .

https://doi.org/10.5771/9783495818350 .

Inhalt

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

1.

Ein Pluralismus von Weltanschauungen . . . . . . . . . .

22

1.1 Wovon wir sprechen, wenn wir von Pluralismus sprechen .

22

1.2 Ein Pluralismus der Werte? . . . . . . . . . . . 1.2.1 Zum Begriff . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Werte oder Wertende (Raz) . . . . . . . 1.2.3 Werte und Normen (Habermas und Forst) 1.2.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . .

. . . . .

25 26 28 31 33

1.3 Ein Pluralismus des Guten? . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Ein Pluralismus ethischer Liberaler (Dworkin) . . 1.3.2 Das Problem der moralischen Überzeugungen . . . 1.3.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . .

33 35 38 39

1.4 Weltanschauungen und umfassende Lehren . . . . . . 1.4.1 Umfassende Lehren (Rawls) . . . . . . . . . . 1.4.2 Arten von umfassenden Lehren? . . . . . . . 1.4.3 »Umfassende Lehre« oder »Weltanschauung«? 1.4.4 Weltanschauungen als Begründungsinstanzen

. . . . .

40 42 43 45 47

1.5 Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

2.

. . . . . . . . .

52

2.1 Die Rechtfertigungsaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . .

52

2.2 Zur systematischen Eigenständigkeit von Political Liberalism .

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Die Herausforderung des Pluralismus

A

Das Projekt des Politischen Liberalismus

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

2.3 Das Projekt: »politisch, nicht metaphysisch« 2.3.1 Die Tradition des liberalen Denkens 2.3.2 Freistehende Rechtfertigung . . . . 2.3.3 Vollständige Rechtfertigung . . . . 2.3.4 Vorrang des Rechten . . . . . . . 2.3.5 Zusammenfassung . . . . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

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. . . . . .

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57 59 63 65 67 69

2.4 Rawls’ Umsetzung. . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Das Faktum des vernünftigen Pluralismus 2.4.2 Die Bürden der Urteilskraft . . . . . . . 2.4.3 Das Kriterium der Wechselseitigkeit . . . 2.4.4 Argumentative Ausgestaltung . . . . . . 2.4.5 Eine Methode der Vermeidung . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

70 72 73 75 78 80

2.5 Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.

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Konstruktivismus und Rechtfertigung . . . . . . . . . . .

3.1 Der Politische Liberalismus als Rechtfertigungsprojekt

10

. .

83 86 87 88 91 94

3.2 Konstruktivismus in der praktischen Philosophie . 3.2.1 Konstruktivismus und Vertragstheorie . . 3.2.2 Konstruktivismus und Meta-Ethik . . . . 3.2.3 Die Einführung des Ausdrucks durch Rawls 3.2.4 Der gegenwärtige Stand der Debatte . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

3.3 Drei Grundformen des Konstruktivismus . . . . 3.3.1 Prudentieller Konstruktivismus . . . . . 3.3.2 Wertbasierter Konstruktivismus . . . . . 3.3.3 Kohärenztheoretischer Konstruktivismus 3.3.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. 96 . 97 . 99 . 103 . 107

3.4 Rawls’ Politischer Konstruktivismus . . . . 3.4.1 Rückblick: Drei Anforderungen . . 3.4.2 Ein freistehender Konstruktivismus 3.4.3 Politischer Urzustand . . . . . . . 3.4.4 »Fundamentale Vorstellungen« . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

107 108 110 113 115

3.5 Die Rechtfertigungsgrundlage . . . . . . . 3.5.1 Prudentielle Begründung? . . . . . 3.5.2 Wertbasierte Begründung? . . . . 3.5.3 Kohärenztheoretische Begründung?

. . . .

. . . .

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116 118 120 123

3.6 Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

126

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Moritz Hildt

https://doi.org/10.5771/9783495818350 .

Inhalt

4.

Kantische Wurzeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4.1 Inspirationsquelle Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . .

128

4.2 Kants »moralischer Konstruktivismus« . . . . . . . . 4.2.1 Ergebnis der Konstruktion . . . . . . . . . . 4.2.2 »Kategorischer Imperativ-Prozedur« . . . . . 4.2.3 Rechtfertigungsgrundlage . . . . . . . . . . . 4.2.4 Rawls’ Interpretation des Faktums der Vernunft 4.2.5 Zusammenfassung und Einschätzung . . . . .

. . . . . .

130 132 136 140 141 143

4.3 Der »Vorrang des Rechten« und das Paradox der Methode 4.3.1 Worin besteht das Paradox? . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Kants Argumente für das Paradox . . . . . . . . . 4.3.3 Implikationen für Rawls’ Kant-Interpretation . . .

144 146 148 150

4.4 Die Begründung der Moral – Kants Alternative . 4.4.1 Weder Konstruktivismus noch Realismus 4.4.2 Der »transzendentale Konstitutivismus« 4.4.3 Das Faktum der Vernunft . . . . . . . . 4.4.4 Das Paradox der Methode . . . . . . . . 4.4.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . .

. . . . . .

152 152 154 156 158 160

4.5 Ergebnis: Die Relevanz der kantischen Wurzeln . . . . . .

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5.

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. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

Eine transzendentale Rechtfertigungsgrundlage . . . . . .

5.1 Ein neues Begründungsmuster

. . . . . . . . . . . . . . 166

5.2 Die Herausforderung des Pluralismus . . . . . . . . 5.2.1 Weltanschauungen als Begründungsinstanzen 5.2.2 Der Ursprung des Pluralismus . . . . . . . . 5.2.3 Drei Anforderungen . . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Sechs Begründungsmuster . . . . . . . . .

. . . . . . . . .

5.3 Das transzendentale Begründungsmuster . . . . . . . 5.3.1 Eine wertunabhängige Begründung . . . . . . 5.3.2 Transzendentale Interessen (Höffe) . . . . . . 5.3.3 Die Voraussetzung öffentlicher Rechtfertigung (Gaus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . .

. . . . .

167 167 168 169 170

. . 175 . . 176 . . 179 . . 182 . . 184

Die Herausforderung des Pluralismus

A

https://doi.org/10.5771/9783495818350 .

11

Inhalt

5.4 Zu einer Rehabilitierung des Politischen Konstruktivismus . 5.4.1 Erster Vorschlag: Bedingungen der Möglichkeit von Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Zweiter Vorschlag: Bedingungen der Möglichkeit von Weltanschauungen . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3 Transzendentale Begründung und die drei Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

185

5.5 Ergebnis: Eine neue Methode der Vermeidung . . . . . . .

192

6.

Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

193

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

199

Personenregister

189 190

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Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

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Moritz Hildt

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Dank

Dieses Buch stellt die überarbeitete Fassung meiner Promotionsschrift dar, die von der Philosophischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen im Wintersemester 2014/15 als Dissertation angenommen wurde. Die Arbeit daran war nicht nur ein langer, manchmal auch langwieriger Lese-, Lern- und Schreibprozess, sondern erscheint im Rückblick auch als ein komplexes Abenteuer, zu dessen Gelingen viele Menschen beigetragen haben. Zuerst möchte ich meinem Doktorvater, Otfried Höffe, für sein Vertrauen, seine durchgängige und vorbehaltlose Unterstützung sowie für wichtige inhaltliche Hinweise und Impulse danken. Die Freiheit, die er mir im Verfolgen meines Themas ließ, hat es mir ermöglicht, mich stets von meinem eigenen Interesse leiten zu lassen. Mein großer Dank gilt auch Oliver Sensen, für seine herzliche Gastfreundschaft ebenso wie für die vielen Gespräche über Kant und Rechtfertigung unter den schattenspendenden Ästen der Live Oaks. Ihm verdankt diese Arbeit wesentliche Anregungen, und der Verfasser eine äußerst bereichernde Zeit als Visiting Research Scholar an der Tulane University in New Orleans. Am philosophischen Seminar der Universität Tübingen habe ich ferner Sabine Döring zu danken, ganz besonders für ihre Unterstützung bei meiner Bewerbung um ein Promotionsstipendium der Landesgraduiertenförderung. Monika Betzler danke ich für ihre Einladung, in ihrem Forschungskolloquium in Bern im November 2013 Teile meiner Arbeit vorzustellen. Von den schriftlichen Kommentaren der Teilnehmenden hat diese Arbeit sehr profitiert; all den Kommentatoren sei vielmals gedankt. Auch in den Oberseminaren von Otfried Höffe und Sabine Döring durfte ich frühere Fassungen einiger Kapitel dieser Arbeit vortragen; ich danke den Teilnehmenden für ihre Kommentare, Kritik und Anmerkungen. Die Herausforderung des Pluralismus

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Dank

Die Gespräche mit zwei Personen waren für die Themenfindung dieser Arbeit maßgeblich: mit Nico Scarano, durch den ich erfahren habe, wie spannend begründungstheoretische Fragen und die Auseinandersetzung mit dem Pluralismus sein können, und mit T. M. Scanlon, der mein Interesse an der Theorieform des Konstruktivismus geweckt hat. Auch durch die letzten Jahre hindurch konnte ich immer wieder wertvolle und inspirierende Gespräche zu inhaltlichen Fragen meiner Arbeit führen, ganz besonders möchte ich mich für daraus entstandene Impulse bei Franz-Josef Bormann, Charles Larmore, Frithjof Reinhardt und Wolfgang M. Schröder bedanken. Karoline Reinhardt hat Vorfassungen aller Kapitel gelesen; ihre ausführlichen inhaltlichen Kommentare haben der Arbeit zu größerer Klarheit verholfen. Da die Grenze zwischen Kollegen und Freunden nicht immer leicht zu ziehen ist, möchte ich ihnen gemeinsam für ihre Unterstützung, für gute Gespräche und gute Ablenkung danken, dabei vor allem Chris Boom, Dirk Brantl, Eva Düringer, Bahadir Eker, Tankred Freiberger, Annika Friedrich, Rolf Geiger, Ina Goy, Jakob Heller, Pascal Hottmann, Peter Königs, Anika Lutz, Susanne Mantel, Ruth Rebecca Tietjen und Frankie Worrell. Am Ende einer solchen Arbeit besinnt man sich unwillkürlich auch auf seine philosophischen Anfänge. Hätte in meinem ersten Studiensemester Maarten J. F. M. Hoenen meine Begeisterung für die Philosophie nicht so entfacht, wie er es getan hat, wäre es wohl nie zu dieser Arbeit gekommen. Auch ihm möchte ich an dieser Stelle noch einmal dafür danken. Ganz besonders denke ich in diesen Tagen an ein Gespräch mit Hartmut Sing zurück, das wir während meines Grundstudiums in einem Freiburger Café führten. Den Rat, den er mir damals gab, beginne ich, so scheint mir, erst jetzt so richtig zu verstehen. Der Universität Tübingen bin ich für ein Promotionsstipendium im Rahmen der Landesgraduiertenförderung zu Dank verpflichtet und dem Deutschen Akademischen Auslandsdienst (DAAD) für ein Stipendium zur Durchführung meines Forschungsaufenthalts in New Orleans. Tübingen, im Juni 2016

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Moritz Hildt

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Moritz Hildt

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Einleitung

Der gesellschaftliche Pluralismus ist ein wesentlicher Bestandteil des Selbstverständnisses moderner demokratisch verfasster Staaten. In einer ersten Annäherung kann unter diesem Begriff der Umstand verstanden werden, dass Menschen mit unterschiedlichen Auffassungen darüber, was gut, wichtig und richtig ist, gemeinsam in einer Gesellschaft leben und dass sie dabei ihre verschiedenen Lebenspläne so uneingeschränkt wie möglich verfolgen wollen. Das Aufrechterhalten des Pluralismus, also eines gleichberechtigten Nebeneinanders trotz und gerade auch angesichts der Divergenz, zählt zu den zentralen Aufgaben heutiger Gesellschaften. Dabei handelt es sich um keine leichte Aufgabe. Weil es im Pluralismus darum geht, die persönlichen Freiheiten umfassend zu sichern und den Bürgerinnen und Bürgern einen größtmöglichen Rahmen zu eröffnen, in dem sie ihre Lebenspläne verfolgen können, sind Konflikte und Kontroversen nicht nur zu erwarten, sondern zu begrüßen: Sie stellen einen nicht wegzudenkenden Bestandteil jeder lebendigen pluralistischen Gesellschaft dar. Eine solche Gesellschaft sollte Kontroversen also nicht fürchten. Um diesen aber begegnen zu können, bedarf es eines klaren Verständnisses des Pluralismus sowie der Herausforderungen, die er bereithält. Zu einer solchen Klärung kann die politische Philosophie Grundlagenüberlegungen beisteuern. Die vorliegende Arbeit befasst sich mit den begründungstheoretischen Implikationen des gesellschaftlichen Pluralismus. Diese Implikationen können vorläufig allgemein gefasst werden: Da in einer pluralistischen Gesellschaft eine große Diversität an Lebensformen herrscht, sollte eine Rechtfertigung von normativen Prinzipien, die für alle verbindlich sein sollen – etwa von Gerechtigkeitsprinzipien –, in der Lage sein, dieser Vielfalt Rechnung zu tragen. Das legt nahe, dass die Rechtfertigung in einer Weise konzipiert werden muss, die sie für die Bürger trotz ihrer unterschiedlichen Überzeugungen nicht nur nachvollziehbar, sondern auch zustimmungsfähig macht. Die Herausforderung des Pluralismus

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Einleitung

Hier setzt die Arbeit mit ihrer Frage an: Wie lautet die begründungstheoretische Herausforderung des Pluralismus, und welche argumentative Struktur muss eine Rechtfertigung annehmen, um dieser Herausforderung angemessen begegnen zu können? Bislang gibt es, besonders auch im deutschen Sprachraum, kaum Veröffentlichungen, die sich systematisch mit der Rechtfertigungsproblematik des Pluralismus beschäftigen. 1 Hierzu möchte diese Arbeit einen Beitrag leisten. In einer Auseinandersetzung mit der Theorie von John Rawls werde ich argumentieren, dass zwar seine Analyse des Pluralismus überzeugt, Rawls’ eigene Rechtfertigungstheorie aber den selbstgesetzten Ansprüchen nicht genügt: Das Begründungsmuster eines kohärenztheoretischen Konstruktivismus, das Rawls seiner Rechtfertigung zugrundelegt, ist nicht in der Lage, die Herausforderung des Pluralismus zu bewältigen. Rawls nennt Kant als den Autor, auf den sein Konstruktivismus zurückgehe. In einer Untersuchung dieser Wurzeln werde ich die These vertreten, dass Kants Argument einem anderen Begründungsmuster folgt und dass dieses andere Begründungsmuster für die Zwecke einer pluralismussensibilisierten Rechtfertigung besser geeignet ist als das dasjenige, das Rawls vorlegt. Diese Arbeit nimmt sich John Rawls zum primären Gesprächspartner, da er sich so gründlich und umfassend wie kein anderer politischer Philosoph mit der Begründungsproblematik des Pluralismus beschäftigt hat. Seine diesbezüglichen Überlegungen finden sich vor allem in seinen späteren Arbeiten und besonders in seiner Studie Political Liberalism (PL, 1993). 2 Rawls ist nicht nur der wohl einflussreichste politische Philosoph der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sondern auch einer der am meisten kommentierten. Obwohl seit Erscheinen seiner be-

Eine Ausnahme bilden die Arbeiten von Nico Scarano (2003 u. 2008). Bei anderen Denkern finden sich zwar Überlegungen zum Pluralismus, allerdings meist, ohne dabei ausführlicher auf die Rechtfertigungsproblematik einzugehen. S. hierzu bes. Höffe 1988 u. 2004, Kap. 8, Nida-Rümelin 1999, Forst 2007, Kap. 9, und Jaeggi 2014. Weitere neuere Studien, die den Pluralismus systematisch diskutieren, sind Gaus 1996 u. 2011, Hill 2000, Audi 2007, Nussbaum 2011a und Dworkin 2012. 2 Aufgrund der Situation, dass zwar von vielen einschlägigen Schriften von John Rawls deutsche Übersetzungen vorliegen, diese jedoch, da von unterschiedlichen Personen übersetzt, außer den üblichen Übersetzungsproblemen auch eine gewisse Uneinheitlichkeit in der Übersetzung zentraler Begriffe mit sich bringen, verwendet diese Arbeit aus Gründen der Einheitlichkeit die englischen Originaltexte. 1

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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

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Einleitung

rühmten A Theory of Justice (TJ, 1971) noch nicht einmal ein halbes Jahrhundert verstrichen ist, hat die Sekundärliteratur zu Rawls bereits enorme Ausmaße angenommen. Dies ist sicherlich auch dem Umstand geschuldet, dass viele seiner Schüler selbst berühmte und vieldiskutierte Philosophen geworden sind – man denke im anglophonen Raum nur etwa an Christine Korsgaard, Charles Larmore, Thomas Nagel, Onora O’Neill, Martha Nussbaum, Thomas Pogge und T. M. Scanlon, die alle ihre eigenen Theorien in direkter Auseinandersetzung mit John Rawls entwickeln. 3 Wenngleich die Sekundärliteratur zur Theory immens ist, fielen die Reaktionen auf Political Liberalism nicht nur weit verhaltener, sondern auch negativer aus. 4 Ein kurzer Blick in die Literatur lässt rasch erkennen, dass dieses zweite Werk in der Mehrzahl als ein Zurückfallen Rawls’ hinter die argumentativen Errungenschaften der Theory wahrgenommen wurde. Möglicherweise liegt hierin auch der Grund, warum es auffallend wenige Studien gibt, die Rawls’ Analysen zum Pluralismus – eine genuine Neuerung in Political Liberalism – aufnehmen und systematisch weiterentwickeln. 5 In dieser weitgehend negativen Aufnahme des späteren Werks wird selten unterschieden zwischen Rawls’ Analyse der begrün-

Im deutschen Sprachraum wären besonders Otfried Höffe, der als erster Rawls in Deutschland und Europa bekannt gemacht hat, später auch Wilfried Hinsch hinzuzufügen, wobei auf beide zwar die systematische Auseinandersetzung mit Rawls, wohl kaum aber das Attribut »Schüler« zuzutreffen scheint. In jüngster Zeit hat Rainer Forst seine Theorie des »Rechts auf Rechtfertigung« vorgelegt (s. Forst 2007 u. 2011), die ebenfalls deutliche Bezüge zu Rawls aufweist. 4 Zu Rawls allgemein, s. die Beiträge in Freeman 2003, sowie die Werkeinführungen von Thomas Pogge (1994), Wolfgang Kersting (2001), Samuel Freeman (2007a), Percy Lehning (2009) und Sebastiano Maffettone (2010) – wobei diejenige Freemans die umfassendste, diejenige Lehnings meines Erachtens die substantiellste ist. Einen ersten Eindruck der Debatten um Themen der Theory liefern die Beiträge in Daniels 1975, Höffe 1977 und 2013a sowie in den Bänden 1–4 der von Henry Richardson und Paul Weithman herausgegebenen fünfbändigen Reihe zur Philosophie von John Rawls (1999). Zu Political Liberalism, s. die Beiträge in Lloyd 1994, Hinsch 1997a, Davion/Wolf 1999, dem fünften Band von Richardson/Weithman 1999 sowie neuerdings Höffe 2015b. Eine thematisch sortierte Bibliographie findet sich in Freeman 2003, 521–556, eine konzise Auswahlbibliographie mit dem Schwerpunkt auf Political Liberalism, die auch die wichtigen nicht-anglophonen Schriften berücksichtigt, in Höffe 2015b, 196–198. 5 Vereinzelt finden sich freilich auch positive Wertschätzungen von Rawls’ Überlegungen zum Pluralismus. Siehe hierzu etwa Hinsch 1997b, Larmore 1999 und Nussbaum 2001, sowie, mäßig positiv, Scheffler 1994 und Weithman 2010. 3

Die Herausforderung des Pluralismus

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Einleitung

dungstheoretischen Herausforderungen des Pluralismus und seiner eigenen argumentativen Umsetzung. Eine solche Unterscheidung, wie ich sie in dieser Arbeit vornehmen werde, ermöglicht aber nicht nur eine Differenziertheit der Kritik, sondern erlaubt es auch, die Schwierigkeiten, in die Rawls’ Politischer Konstruktivismus – so nennt er seine Rechtfertigungstheorie – gerät, genauer zu fassen. Auf der Suche nach einer Lösung dieser Schwierigkeiten werde ich mich den kantischen Wurzeln von Rawls’ Rechtfertigungstheorie zuwenden. Obwohl Kant für Rawls die wichtigste systematische Inspirationsquelle darstellt, wurde den Bezügen von Theoriestücken aus Political Liberalism zu Kants Schriften bislang kaum Beachtung geschenkt. 6 Ich werde in meiner Untersuchung zwischen (a) dem Politischen Konstruktivismus aus Political Liberalism, (b) Rawls’ KantInterpretation, und (c) der Frage danach, inwieweit Rawls’ Interpretation zutreffend ist, unterscheiden. Damit möchte ich zeigen, wie fruchtbar eine solche gründliche Auseinandersetzung mit den kantischen Wurzeln des Politischen Konstruktivismus sein kann: Gerade indem man den Politischen Konstruktivismus, oder genauer: dessen Rechtfertigungsgrundlage, näher an Kant rückt, so mein Argument, kann dieser in die Lage versetzt werden, den Anforderungen des Pluralismus zu genügen. Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht die Auseinandersetzung mit Rawls’ Politischem Konstruktivismus und damit auch mit dem Begründungsmuster des Konstruktivismus, wie er seit den 1980er Jahren in der praktischen Philosophie diskutiert wird. Dabei unternimmt diese Arbeit den Versuch, zwei Diskussionsstränge der gegenwärtigen Debatten in systematischer Hinsicht zusammenzubringen: Obzwar John Rawls den Begriff des Konstruktivismus geprägt hat, hat sich die weitere Debatte um diesen Begriff von Rawls gelöst, besonders auch von dem systematischen Kontext, in dem Rawls ihn

Eine Ausnahme bilden die Arbeiten von Onora O’Neill (1988, 1997 und 2003a), siehe außerdem für Ansätze auch Budde 2007, Tampio 2007, Dogan 2011 und Höffe 2013b. Zumeist jedoch wird Rawls in der Debatte schlicht als »Kantianer« bezeichnet, ohne dass dies genauer erörtert werden würde (s. neuerdings insbesondere Street 2010 und Parfit 2011). Kant nahe stehende Autoren gestehen Rawls’ Theorie zwar kantische Elemente zu (wie etwa seine anti-utilitaristische argumentative Stoßrichtung und den »Urzustand«), problematisieren aber vor allem die Punkte, an denen Rawls sich ihres Erachtens von Kant entfernt (vgl. hierzu exemplarisch O’Neill 1997 und Höffe 2013b).

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entwickelt hat: als eine politische Begründungsmethode für eine pluralistische Gesellschaft. 7 Ich werde die neueren Ergebnisse der Debatte um den Konstruktivismus berücksichtigen, was eine umfassendere Erörterung ermöglicht, als wenn lediglich Rawls’ Theorie im Blick wäre. Meine These wird lauten, dass eine genauerer Lektüre der Schriften Kants – er wird gemeinhin (von Rawls wie von anderen Autoren) als der erste angesehen, der eine konstruktivistische Theorie entwickelt habe – dafür spricht, dass Kant in seiner Moralbegründung gerade nicht konstruktivistisch verfährt, sondern seiner Argumentation ein anderes Begründungsmuster zugrunde legt, das als »transzendentales Begründungsmuster« bezeichnet werden kann. Dieses transzendentale Begründungsmuster, so möchte ich abschließend zeigen, spielt zwar in den gegenwärtigen Debatten der Meta-Ethik und politischen Philosophie kaum eine Rolle, erweist sich aber als vielversprechende Grundlage für eine politische Rechtfertigung, die der Herausforderung des Pluralismus begegnen will.

Gliederung der Arbeit Das Kapitel 1: Ein Pluralismus von Weltanschauungen klärt den Grundbegriff, mit dem das beschrieben werden kann, was in einem gesellschaftlichen Pluralismus auf »plurale« Weise vorhanden ist. Ich werde herausstellen, warum sich der Begriff der Weltanschauung hierfür in besonderer Weise anbietet. Denn in ihm klingt bereits an, dass es beim gesellschaftlichen Pluralismus um eine Vielzahl von Personen geht, die je eigene normative Rechtfertigungssysteme haben, aus deren Perspektive sie auf die gemeinsame normative Welt »schauen«. Meine Verwendung des Begriffs der Weltanschauung wird trotz geringer Abänderungen weitestgehend dem entsprechen, was Rawls »umfassende Lehren« (comprehensive doctrines) nennt. Da in der Literatur keine Einstimmigkeit über einen solchen Grundbegriff herrscht, untersuche ich zwei weit verbreitete Alternativen – Rawls führte den Begriff in seinem Aufsatz »Kantian Constructivism in Moral Theory« (1980) ein. Der Konstruktivismus erfuhr zahlreiche Weiterentwicklungen, einschlägig sind hierbei insbesondere O’Neill 1988 und 1996, Korsgaard 1996b, Scanlon 1998, Forst 2007, Hill 2008, Street 2010. Für einen Überblick über den gegenwärtigen Stand der Debatte, s. Bagnoli 2011, sowie die Beiträge in Lenman/Shemmer 2012a und Bagnoli 2013a.

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den Begriff eines Wertpluralismus und den eines Pluralismus von Konzeptionen des Guten – und zeige, inwiefern der Begriff der Weltanschauungen für eine begründungstheoretische Untersuchung vorzuziehen ist. Das daran anschließende Kapitel 2: Das Projekt des Politischen Liberalismus wird ausgehend vom Begriff der Weltanschauungen die Analyse des gesellschaftlichen Pluralismus, wie Rawls sie vornimmt, in ihren Grundzügen darstellen. Da der Liberalismus in einer pluralistischen Gesellschaft, so Rawls, zunächst nichts weiter als eine Weltanschauung unter anderen ist, muss er in seiner Rechtfertigung tiefer gehen und darf seine Grundannahmen nicht schlicht als »wahr« voraussetzen. Das Projekt des Politischen Liberalismus, wie Rawls es konzipiert, besteht daher in einer Anpassung des Liberalismus an die Gegebenheiten des Pluralismus. Rawls’ Ausführungen werde ich in drei Anforderungen zusammenfassen, die eine entsprechende Rechtfertigungstheorie zu erfüllen hat: Sie muss in ihrer Begründung (1) »freistehend«, d. h. nicht weltanschaulich (»metaphysisch«) verfahren, (2) ihre Begründungskette darf nicht abbrechen, sondern muss als »vollständige« Rechtfertgung auch ihre Grundannahmen argumentativ ausweisen, und (3) dem begründungstheoretischen Prinzip eines »Vorrangs des Rechten« folgen. Im Kapitel 3: Konstruktivismus und Rechtfertigung steht dann die Rechtfertigungstheorie im Zentrum, die Rawls entwickelt, um diesen drei Anforderungen zu genügen: der »Politische Konstruktivismus«. Der Konstruktivismus ist ein relativ neues Begründungsmuster der praktischen Philosophie und setzt sich insbesondere gegen Formen des moralischen Realismus ab. In Bezug auf seine Rechtfertigungsgrundlage lassen sich, so werde ich zeigen, drei Grundformen unterscheiden: eine prudentielle, eine wertbasierte oder eine kohärenztheoretische Begründung. Während Rawls explizit eine prudentielle Begründung des Politischen Konstruktivismus ausschließt, werde ich erörtern, welcher der beiden anderen Varianten seine Rechtfertigungsgrundlage zugeordnet werden kann. Das Ergebnis wird sein, dass der Politische Konstruktivismus in beiden Fällen in gravierende Schwierigkeiten gerät. Als besonders problemträchtig für jede Form des Konstruktivismus wird sich dabei die Anforderung nach der Einhaltung des »Vorrangs des Rechten« erweisen. In Kapitel 4: Kantische Wurzeln werde ich nach einer Lösung für diese Schwierigkeiten suchen und mich dafür den systematischen Anleihen zuwenden, die Rawls für seinen Politischen Konstruktivis20

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mus und das Verständnis des »Vorrangs des Rechten« bei Immanuel Kant macht. Diese Anleihen, so werde ich herausstellen, sind beträchtlich: Für jede argumentative Stufe des Politischen Konstruktivismus lässt sich eine Entsprechung in Kants Moralbegründung finden. Allerdings erweist sich Rawls’ Kant-Interpretation gerade in Bezug auf die Rechtfertigungsgrundlage, die Rawls in einer kohärenztheoretischen Interpretation des Faktums der Vernunft verortet, als problematisch. Ich werde eine alternative Interpretation vorstellen, die Kants Moralbegründung nicht wie Rawls als »Konstruktivismus«, sondern als »transzendentalen Konstitutivismus« (Sensen) versteht. Diese Lesart, so werde ich argumentieren, ist nicht nur näher an Kants eigenen Schriften. In ihr zeigt sich überdies ein neues, von Konstruktivismus und moralischem Realismus verschiedenes Begründungsmuster: das transzendentale Begründungsmuster. In Kapitel 5: Eine transzendentale Rechtfertigungsgrundlage werde ich dieses transzendentale Begründungsmuster aus dem Kontext der Kant-Interpretation lösen und auf die Frage nach einer pluralismustauglichen Rechtfertigungsgrundlage übertragen. Meine These wird sein, dass eine transzendentale Argumentation eine wertunabhängige Rechtfertigungsgrundlage ermöglicht und dadurch als einziges Begründungsmuster in der Lage ist, dem Prinzip des »Vorrangs des Rechten« angemessen Rechnung zu tragen. Ich werde abschließend zwei Wege skizzieren, wie dieses transzendentale Begründungsmuster auf Rawls’ Politischen Konstruktivismus angewandt werden könnte, was ihn der in Kapitel 3 identifizierten Schwierigkeiten entheben würde. Das Kapitel 6: Ausblick beschließt die Untersuchung mit einem Resümee und benennt Forschungsfragen, die sich an die Ergebnisse dieser Arbeit anschließen.

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1. Ein Pluralismus von Weltanschauungen

1.1 Wovon wir sprechen, wenn wir von Pluralismus sprechen Eine pluralistische Gesellschaft vereint Menschen, die unterschiedliche Auffassungen davon haben, was in einem menschlichen Leben wichtig, gut und richtig ist, und diesen Überzeugungen gemäß leben wollen. Diesen, philosophisch noch nicht weiter reflektierten Sachverhalt möchte ich in dieser Arbeit als »gesellschaftlichen Pluralismus« bezeichnen. Das Adjektiv »gesellschaftlich« verweist auf den politischen Kontext – denn der Begriff des Pluralismus kommt auch in anderen Bedeutungszusammenhängen vor (etwa der Logik, Mathematik, Erkenntnistheorie, etc.), die für den in dieser Arbeit verfolgten Zusammenhang außen vor gelassen werden können. 1 Die Ursache dieses gesellschaftlichen Pluralismus kann vorläufig beschrieben werden als Folge »der Weltoffenheit des Menschen, verbunden mit der Vielfalt seiner Interessen, Werte und Lebensentwürfe sowie seiner Irrtumsanfälligkeit« (Höffe 2008a, 244). 2 In den gegenwärtigen Debatten der politischen Philosophie besteht keine Einigkeit darüber, was genau in einer pluralistischen Gesellschaft pluralistisch ist. Es existiert gewissermaßen ein eigener »Pluralismus der Begriffe«, der überdies nicht systematisch reflektiert wird: Kaum jemand diskutiert unterschiedliche Varianten und nennt anschließend Gründe, warum er sich für einen bestimmten Begriff entscheidet. 3 Stattdessen sprechen die Autoren wahlweise von Zum Bedeutungsspektrum des Begriffs »Pluralismus«, s. Kerber/Samson 2004, für eine Begriffsbestimmung im ethisch-politischen Kontext Höffe 2008a. 2 Höffe führt aus: »Im Pluralismus tritt der Reichtum menschlicher Möglichkeiten, zugleich die Begrenztheit jeder einzelnen Lebensgestalt zutage und das Recht des Menschen, als selbstverantwortliche Person und mündiger Bürger seinen Lebensweg zu gehen« (Höffe 2008a, 244). 3 Einer der wenigen Autoren, die dieses Problem deutlich benennen, ist Nico Scarano. 1

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Wovon wir sprechen, wenn wir von Pluralismus sprechen

Wertpluralismus, einem Pluralismus von Konzeptionen des Guten, einem Multikulturalismus, einem religiösen oder moralischen Pluralismus und einem Pluralismus umfassender Lehren. Nun könnte es freilich sein, dass es schlichtweg nicht möglich ist, den einen Grundbegriff zu finden, der all das umfassen würde, was in einer pluralistischen Gesellschaft pluralistisch ist. Man könnte mit Otfried Höffe schlicht von einer »Vielfalt von religiösen Bekenntnissen, Werten und Lebensstilen, von gesellschaftlichen Gruppen und politikbestimmenden Kräften« (Höffe 2004, 106) sprechen und so von einem pluralistischen Pluralismusbegriff ausgehen. 4 Inwiefern man das kann, hängt jedoch stark von der Zielsetzung der jeweiligen Untersuchung ab. Geht es beispielsweise allein darum, das Bestehen eines Pluralismus anzuerkennen, mag eine solch lose Sammlung an Begriffen genügen. Eine Untersuchung der Rechtfertigungsproblematik des Pluralismus, wie sie in der vorliegenden Arbeit unternommen werden soll, kann sich allerdings mit einer vagen begrifflichen Umschreibung des Phänomens nicht zufrieden geben: Es bedarf eines eindeutigen Grundbegriffs, der das bezeichnet, was in einer pluralistischen Gesellschaft auf plurale Weise vorhanden ist. Denn um zu verstehen, worin die Rechtfertigungsaufgabe besteht, muss zunächst der Sachverhalt geklärt werden. Für die Zwecke dieser Arbeit ist es daher aus methodischen Gründen erforderlich, nicht von einem, sondern von dem Pluralismus zu sprechen, und diesen mit einem Grundbegriff zu fassen. Die Begrifflichkeiten »Wertpluralismus«, »Pluralismus des Guten« oder »Multikulturalismus« umfassen je unterschiedliche, sich Er diagnostiziert zunächst, dass »in der politischen Philosophie […] der Pluralismus häufig als ein undifferenzierter Komplex von kulturellem, religiösem und weltanschaulichem Pluralismus in Erscheinung« tritt (Scarano 2008, 8). Allerdings entscheidet sich Scarano für keine dieser Optionen, da er sich in seiner Arbeit einer methodologischen Herausforderung des moralischen Pluralismus widmet, die er darin sieht, einen formalen Moralbegriff zu formulieren, wozu keine inhaltliche Festlegung bezüglich dessen notwendig sei, was neben moralischen Überzeugungen sonst noch in einer Gesellschaft in pluraler Weise gegeben ist (vgl. ebd., 9 f.). 4 Oder man verweigert, wie Julian Nida-Rümelin, die Positionierung bis auf weiteres: »unter diesem Terminus [Pluralismus] versammeln sich derart heterogene Auffassungen, dass man ihn erst verwenden sollte, wenn eine begriffliche Präzisierung möglich ist« (Nida-Rümelin 1999, 221) – diese »begriffliche Präzisierung« nimmt NidaRümelin selbst jedoch nicht vor. Dieselbe Konsequenz scheinen stillschweigend auch andere Autoren zu ziehen, die von vornherein vermeiden, den Pluralismus begrifflich auszudifferenzieren. Die Herausforderung des Pluralismus

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nur teilweise überschneidende Lebensbereiche. So beinhaltet ein Pluralismus des Guten etwa den Bereich dessen, was einer Person wichtig ist, schließt aber nicht unbedingt das mit ein, was sie für richtig hält, also den Bereich der moralischen Überzeugungen. Was dies für eine Rechtfertigungstheorie bedeutet, werde ich im weiteren Verlauf dieses Kapitels erörtern. Zum jetzigen Zeitpunkt soll dieser Fall nur als Illustration dazu dienen, dass es für eine begründungstheoretische Untersuchung des Pluralismus wichtig ist, sich über ihren Grundbegriff im Klaren zu sein. In diesem Kapitel werde ich als Grundbegriff ein bestimmtes Verständnis von »Weltanschauung« vorschlagen, das weitgehend dem entspricht, was John Rawls unter »umfassenden Lehren« (comprehensive doctrines) versteht. Da aber, wie erwähnt, in der Debatte keine Einigkeit über einen solchen Grundbegriff herrscht, werde ich zunächst mögliche Alternativen diskutieren, wobei ich mich auf zwei gegenwärtig vorherrschende Begriffe beschränke: die Beschreibung des Pluralismus als eines Pluralismus von Werten (Abschn. 1.2) und als eines Pluralismus von Konzeptionen des Guten (Abschn. 1.3). Es soll dabei keine Gesamtbewertung dieser Begriffe vorgenommen werden. Sie werden nur daraufhin befragt, ob sie sich als Ausgangspunkt für eine Untersuchung der Rechtfertigungsproblematik des Pluralismus eignen. Ich werde dafür argumentieren, dass sich zwar beide Begriffe letztendlich als ungeeignet erweisen, die Auseinandersetzung mit ihnen aber zu einem klareren Verständnis dessen beitragen kann, was ein geeigneter Grundbegriff leisten sollte. In einer Diskussion von Rawls’ Konzept der umfassenden Lehren (Abschn. 1.4) werde ich anschließend dem Begriff der Weltanschauung klarere Konturen verleihen. In dem von mir vorgeschlagenen Verständnis hat er gegenüber dem Wertbegriff den Vorteil, theoretisch fassbarer und weniger problembeladen zu sein, und er vermag im Gegensatz zum Begriff der Konzeption des Guten, auf plausible Weise alle Arten von Interessenkonflikten abzudecken, die sich daraus ergeben können, dass in einer Gesellschaft verschiedene Vorstellungen davon herrschen, was in einem menschlichen Leben wichtig, was gut und richtig ist.

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1.2 Ein Pluralismus der Werte? Der Ausdruck »Wert« ist ein äußerst prominenter Grundbegriff in der gegenwärtigen Literatur zur praktischen Philosophie, von der Meta-Ethik bis hin zur politischen Philosophie. Obwohl er in der heutigen Bedeutung erst zur Wende zum 20. Jahrhundert über die politische Ökonomie als Fachbegriff in die Philosophie Einzug hält, kann man durchaus von einem »bis heute andauernden Siegeszug« dieses Begriffes in der Philosophie sprechen (Hügli u. a. 2004, 556). Vor allem in der englischsprachigen praktischen Philosophie ist der Wertbegriff äußerst prominent und scheint dort inzwischen sogar weitestgehend den Begriff des Guten zu ersetzen. 5 »Wert« wird in diesen Debatten entweder schlicht als Grundbegriff des gesamten axiologischen Bereiches verstanden, oder sogar noch umfassender als ein »catch-all label used to encompass all branches of moral philosophy, social and political philosophy, aesthetics, and sometimes feminist philosophy and the philosophy of religion – whatever areas of philosophy are deemed to encompass some ›evaluative‹ aspect« (Schroeder 2012). In der gegenwärtigen deutschsprachigen praktischen Philosophie hat der Wertbegriff dagegen noch keine so große Selbstverständlichkeit erlangt. Allerdings ist eine stete Zunahme seiner Popularität zu beobachten, die sich wohl nicht zuletzt aus der starken Rezeption der anglophonen Literatur ergibt, besonders im Bereich der MetaEthik. 6 Angesichts all dessen ist es wenig überraschend, dass der Wertbegriff auch Eingang in die Pluralismus-Debatten gefunden hat und dort viele Autoren von einem Wertpluralismus (value pluralism) sprechen. Diese Position analysiert den gesellschaftlichen Pluralismus als den Pluralismus einer Vielzahl unterschiedlicher, nicht miteinander vereinbarer Werte, die in Konflikt geraten können. 7 5 Vgl. paradigmatisch den Eintrag im Standardwerk Blackwell Dictionary of Western Philosophy zu »axiology«, der Axiologie mit »Ethik« gleichsetzt und letztere Disziplin anschließend folgendermaßen bestimmt: »Ethics […]. The general study of value and valuation, including the meaning, characteristics, and classification of value, the nature of evaluation, and the character of value judgments« (Bunnin/Yu 2004, 65). 6 Zur Geschichte des Wertbegriffs in der Philosophie sowie zur Übersicht der gegenwärtigen Verwendung des Begriffs, s. Hügli u. a. 2004. 7 Als Begründer des Wertpluralismus (in der englischsprachigen Debatte) gilt gemeinhin Isaiah Berlin, der in seinem Aufsatz »Two Concepts of Liberty« (1958) einen

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Vor allem zwei Gründe scheinen auf den ersten Blick dafür zu sprechen, das, was in einer pluralistischen Gesellschaft auf plurale Weise vorhanden ist, als »Werte« zu bezeichnen. Erstens ist der Ausdruck nicht nur in den philosophischen Fachdebatten, sondern auch in aktuellen politischen und gesellschaftlichen Kontexten äußerst präsent – man denke nur an Schlagworte wie »Werteverfall«, »Wertkonflikte« und »Wertewandel«. Im anglophonen Bereich wird diese Allgegenwärtigkeit des Wertbegriffs noch verstärkt, da »value« und »to value« dort auch häufig in der Alltagssprache gebraucht werden. Darüber hinaus macht ihn, zweitens, auch die grundlegende Rolle, die der Begriff inzwischen in großen Teilen der praktischen Philosophie einnimmt, zu einem attraktiven Kandidaten.

1.2.1 Zum Begriff So populär und allgegenwärtig der Wertbegriff auch ist, kann daraus doch nicht geschlossen werden, dass er leicht, gar intuitiv verständlich wäre. Auch lässt sich nicht ohne weiteres eine klare Definition geben. Diese Schwierigkeit spiegelt sich in der Literatur wieder: In entsprechenden Handbüchern wird oftmals entweder überhaupt keine Definition gegeben (vgl. exemplarisch Hurka 2006), oder es gibt allenfalls vage Annäherungen an den Ausdruck, wie etwa in folgendem Handbuch-Eintrag zu »Value Theory«: »The theory of value begins with a subject matter. It is hard to specify in some general way exactly what counts, but it certainly includes what we are talking about when we say any of the following sorts of things […]« (Schroeder 2012). In einer ersten Annäherung lassen sich unter Werten »die bewussten oder unbewussten Orientierungsstandards und Leitvorstellungen« verstehen, »von denen sich Individuen und Gruppen bei ihrer Handlungswahl leiten lassen« (Horn 2008, 344). Wie sind diese Orientierungsstandards und Leitvorstellungen aber genauer zu bestimmen: Wovon sprechen wir eigentlich, wenn wir von Werten sprechen?

fundamentalen und unabwendbaren Konflikt der beiden liberalen Grundwerte Freiheit und Gleichheit konstatiert. In der gegenwärtigen Diskussion findet der Wertpluralismus viele Anhänger, maßgeblich sind hier vor allem die Arbeiten von Joseph Raz (1986), Michael Stocker (1990), John Kekes (1993), Hans Joas (1997 und 2011), John Gray (2000), George Crowder (2002) und Robert Audi (2007).

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Ein Pluralismus der Werte?

Zur weiteren Schärfung der Begriffsbestimmung möchte ich drei Eigenschaften des Wertbegriffs hervorheben, über die in der Literatur weitgehend Einigkeit zu bestehen scheint. Demnach bezeichnet (1) »Wert« etwas, das gut ist. Da ein Wert etwas Gutes ist, soll (2) er/seine Existenz/seine Erhaltung befördert werden. Außerdem gibt es im Gesamtbereich der Werte eine Teilklasse, die (3) moralischen Werte. Diese drei Eigenschaften geben jedoch ihrerseits wiederum Anlass zu unmittelbaren Anschlussfragen: Wenn »Wert« etwas Gutes ist, heißt das dann, dass es genügt, dass eine einzelne Person etwas als gut erachtet, damit es ein Wert ist? Oder muss es auch »tatsächlich«, also auf objektive Weise gut sein? Wenn es heißt, dass die Erhaltung eines Wertes befördert werden soll, wie ist dann dieses »sollen« zu verstehen: ist es ein moralisches, ein prudentielles, oder ein sonstwie geartetes Sollen? Wenn ein Teilbereich der Werte die moralischen Werte sind, welche anderen Teilbereiche gibt es noch? Hängen die verschiedenen Wert-Sphären zusammen, oder sind sie unabhängig von einander? Diese Fragen lassen bereits vermuten, dass die drei Eigenschaften des Wertbegriffs – obwohl über sie weitgehend Einigkeit herrscht – kaum als unkontroverser Bedeutungskern genommen werden können. Denn sie scheinen ihrerseits bereits Interpretationen zu erfordern, die jeweils substantielle Thesen mit sich bringen. Der Wertbegriff teilt in dieser Hinsicht das Schicksal anderer Grundbegriffe, wie etwa »wahr« oder »gut«: Zwar scheint der Begriff intuitiv sofort verständlich; eine exakte Begriffsbestimmung fällt jedoch äußerst schwer. Paradigmatisch für dieses Problem notiert bereits Heinrich Rickert am Ende des 19. Jahrhunderts: »Wir brauchen dieses Wort [Wert], das einen Begriff bezeichnet, der sich ebensowenig wie der des Existierens definieren läßt, für Gebilde, die nicht existieren und trotzdem ›Etwas‹ sind, und wir drücken dies am besten dadurch aus, daß wir sagen, sie gelten« (Rickert 1892, 229 f.). Rickert benennt hier zwei Schwierigkeiten, denen der Wertbegriff ausgesetzt ist. Über das Problem einer exakten Begriffsbestimmung hinaus ist nämlich auch unklar, wie diese »Gebilde« zu denken sind, die wir »Werte« nennen – welchen ontologischen Status sie haben und wie wir sie erkennen können. Diese beiden Schwierigkeiten hängen miteinander zusammen, denn eine Begriffsbestimmung hat hier unmittelbare meta-ethische Implikationen. Zur Illustration: Beantwortet man die erste oben aufgeworfene Die Herausforderung des Pluralismus

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Anschlussfrage dahingehend, dass etwas, um ein Wert zu sein, nicht nur von einer einzelnen Person als wertvoll erachtet werden darf, sondern objektiv wertvoll sein muss, dann setzt diese Begriffsbestimmung bereits die meta-ethische Theorie des Wertobjektivismus bzw. der objektiven Werttheorie voraus. Entscheidet man sich aber dagegen und setzt allein das für-wertvoll-Erachten einer Person als konstitutiv für den Wert einer Sache, führt dies zu einem subjektivistischen Verständnis, und man wird vermutlich einen »reflektierten Subjektivismus« vertreten. 8 Es hat also den Anschein, als erfordere eine Definition des Wertbegriffs bereits eine Entscheidung für eine bestimmte meta-ethische Position. Diese Positionen bringen jeweils neue Probleme mit sich. Angesichts dessen ist es auch nicht verwunderlich, dass sich ein beachtlicher Teil der meta-ethischen Debatten seit den 1970er Jahren um eben diese Fragen dreht: wie wir uns Werte vorstellen können, welchen ontologischen Status sie haben und wie wir sie erkennen können. 9 Ich möchte mit diesen Überlegungen zur Problematik des Wertbegriffs nicht den Begriff selbst diskreditieren, oder gar für seine Vermeidung plädieren. Die Frage dieses Kapitels lautet lediglich, von welchem Begriff eine Untersuchung der Rechtfertigungsproblematik des Pluralismus ausgehen sollte. Und vor diesem Hintergrund erscheint der Wertbegriff angesichts der angesprochenen Probleme als fragwürdiger Kandidat.

1.2.2 Werte oder Wertende (Raz) Ungeachtet dieser Schwierigkeiten wird, wie schon angesprochen, in der gegenwärtigen politischen Philosophie der gesellschaftliche PluZur Unterscheidung von objektiver Werttheorie und reflektiertem Subjektivismus, s. Steinfath 1998. 9 Dabei arbeitet sich die Debatte vor allem an den beiden Einwänden John Leslie Mackies (1977) ab, die dieser gegen ein objektives Wertverständnis, also gegen einen meta-ethischen Realismus, formuliert: Sein argument from relativity ist ein Argument der besten Erklärung und plädiert dafür, dass der faktische moralische Dissens in der Welt das Bestehen objektiver Werte unwahrscheinlich mache. Und sein argument from queerness richtet sich gegen die problematischen ontologischen und epistemologischen Implikationen eines objektiven Wertverständnisses, wie sie auch bereits im obigen Zitat von Heinrich Rickert (1892, 229 f.) anklangen. 8

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Ein Pluralismus der Werte?

ralismus oftmals als ein Wertpluralismus beschrieben. Dabei lässt sich bei den einschlägigen Autoren jedoch eine gewisse Uneindeutigkeit in der Begriffsverwendung beobachten: Tatsächlich bestimmen sie den Wertpluralismus nicht als die bloße Existenz einer Vielzahl von Werten, die miteinander unvereinbar sind – so wird der Wertpluralismus in der Meta-Ethik verstanden –, sondern als die Existenz einer Vielzahl von Individuen, die unterschiedliche Dinge für wertvoll erachten. Diese perspektivische Verschiebung, die eigentlich gar nicht die – wie auch immer gearteten – Werte selbst in den Blick nimmt, sondern wertende Individuen, ist durchaus sachgerecht, wenn es um die Rechtfertigungsproblematik des gesellschaftlichen Pluralismus geht: Denn in der politischen Lebenswelt führt ein bloßer Pluralismus der Werte noch zu keinem Problem. Politisch relevant – und problematisch – wird die Sache erst dadurch, dass es eine Vielzahl an Wertenden gibt, die sich in ihren Werturteilen unterscheiden und aufgrund dessen unterschiedliche, möglicherweise einander entgegenstehende Lebensentwürfe verfolgen werden. Ist diese Verschiebung des Interesses weg von den Werten und hin zu den Wertenden aber einmal geschehen, stellt sich die Frage, ob dann die Bezeichnung »Wertpluralismus« nicht irreführend ist. Wie ich am Beispiel der einflussreichen Theorie von Joseph Raz zeigen möchte, handelt sein Wertpluralismus tatsächlich, pointiert gesprochen, von einem Pluralismus von Wertenden, und nicht von Werten. Damit ist er dann aber strukturell kaum mehr zu unterscheiden von einem Pluralismus an »Konzeptionen des Guten« – um den es daher im folgenden Abschnitt gehen wird. Joseph Raz ist einer der führenden Vertreter eines Wertpluralismus. Er bestimmt diesen in The Morality of Freedom (1986) als »the view that there are various forms and styles of life which exemplify different virtues and which are incompatible« (1986, 395). 10 Was er mit »unvereinbar« meint, erläutert Raz folgendermaßen: »Forms or styles of life are incompatible if, given reasonable assumptions about human nature, they cannot be exemplified in the same life« (ebd.). Raz’ Wertpluralismus geht also davon aus, dass es eine Vielzahl Es ist wichtig zu sehen, dass Raz hier keinen moralischen Begriff von »virtue« verwendet, was aus seinen Beispielen ersichtlich wird: Er spricht von einem »idealen Lehrer« oder einer »idealen Familienperson« (1986, 395) – also von einer Person, die ihre Aufgabe (o. ä.) gut erfüllt, und nicht von einer moralisch tugendhaften Person.

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unterschiedlicher Weisen gibt, ein Leben zu führen. Diese Lebensweisen sind »unvereinbar« in dem Sinn, dass eine Person sie nicht alle in ihrem Leben umsetzen kann. So gelingt es beispielsweise kaum jemandem, zugleich Profifußballer, Philosophieprofessor, fürsorglicher Familienvater und erfolgreicher Konzertmusiker zu werden: Man muss sich angesichts einer derartigen Vielzahl an Lebensentwürfen entscheiden. In der Fähigkeit, auf diese Weise Lebensentscheidungen zu fällen, liegt nach Raz die Autonomie von Personen begründet (vgl. ebd., 265). Aus dieser knappen Skizze wird schon deutlich, inwiefern es bei Raz nicht so sehr um unvereinbare Werte geht, als vielmehr um eine große Anzahl an unterschiedlichen Lebensweisen und Lebensentwürfen, zwischen denen man wählen muss. Raz betont darüber hinaus, dass er diese Lebensweisen nicht als moralisch »kontaminiert« verstehen möchte (vgl. ebd., 397): Es handle sich bei ihnen nicht um moralische Ideale, sondern um Vorstellungen des guten Lebens in einem nicht-moralischen Sinn (»forms or styles of life«; ebd., 395). 11 Menschen einer Gesellschaft werden sich für bestimmte Vorstellungen entscheiden und wollen diese dann so frei und ungestört wie möglich umsetzen. Dies ist nicht der Ort, um Raz’ gesamte Theorie einer kritischen Analyse zu unterziehen. Sie soll lediglich zur Illustration der angesprochenen Fokusverschiebung dienen: Ungeachtet des Namens »Wertpluralismus« richtet sich das entscheidende Interesse nicht auf Werte, sondern auf die Wertenden. 12 Eine solche Beschreibung des Irritierenderweise bezeichnet Raz genau aus diesem Grund seinen Pluralismus auch als einen »moralischen« Pluralismus (»moral pluralism«; 1986, 395). Er hat dabei jedoch ein durchaus spezielles Verständnis von Moral: »Moral is here employed in a wide sense in which it encompasses the complete art of the good life […]. It is in fact used in a sense which encompasses all values« (ebd., 397). Diese idiosynkratische Charakterisierung des Wertpluralismus als »moralischem Pluralismus«, wobei »moralisch« keineswegs Eigenschaften wie Wechselseitigkeit, Universalisierbarkeit oder Verbindlichkeit bezeichnet, sondern für den Gesamtbereich der Werte steht, findet sich trotz der damit einhergehenden Schwierigkeiten in der heutigen Debatte nicht nur bei Raz. Vgl. hierzu paradigmatisch den Handbuch-Eintrag zu »value pluralism« von Elinor Mason (2011) in der Stanford Encyclopedia of Philosophy. 12 In jüngster Zeit hat Rahel Jaeggi ihre Kritik der Lebensformen (2014) vorgelegt, die deutliche inhaltliche Bezüge zu Raz’ Theorie aufweist. Unter dem Begriff »Lebenformen« versteht Jaeggi »Einstellungen und habitualisierte Verhaltensweisen mit normativem Charakter, die die kollektive Lebensführung betreffen, obwohl sie weder streng kodifiziert noch institutionell verbindlich verfasst werden« (Jaeggi 2014, 77; Hervorh. i. Orig.). Da sie aber von vornherein von Lebensformen ausgeht und nicht 11

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gesellschaftlichen Pluralismus ist dann aber deckungsgleich mit den Theorien, die von einer Vielzahl von »Konzeptionen des Guten« ausgehen (vgl. Abschn. 1.3). Da letztere ihren Gegenstand klar benennen, stellt sich die Frage, ob eine solche Bezeichnung des Pluralismus nicht die angemessenere, zumindest weniger missverständliche ist.

1.2.3 Werte und Normen (Habermas und Forst) In der deutschsprachigen praktischen Philosophie hat der Begriff des Wertes eine eigene, in den heutigen Debatten oft vernachlässigte Denktradition durchlaufen: Im Anschluss an den Neukantianismus des frühen 20. Jahrhunderts wird von vielen Autoren eine grundlegende Unterscheidung zwischen dem Bereich der Normen und dem der Werte getroffen. Einschlägig für die jüngeren Debatten sind hier besonders die Arbeiten von Jürgen Habermas. Ich möchte hier in aller Kürze auf diese Unterscheidung zwischen Normen und Werten eingehen, da sie dabei helfen kann, den Übergang von der Beschreibung des Wertpluralismus hin zu einem Pluralismus des Guten nachzuvollziehen. Dieser Unterscheidung zufolge beziehen sich Werte auf den Bereich des individuellen guten Lebens (»Ethik«), während sich Normen auf den Bereich des universellen moralisch Richtigen (»Moral«) beziehen (vgl. Habermas 1991). 13 Rainer Forst übernimmt diese Unterscheidung und erläutert sie wie folgt: »Während die Frage ›Was soll ich tun?‹ in moralischer Hinsicht in Ansehung der legitimen Ansprüche aller moralisch betroffenen Personen zu beantworten ist, stellt sie sich in ethischen Kontexten als die Frage nach den Werten, Idealen und ›letzten Zwecken‹, die ein gutes Leben ausmachen, und danach, wie dies zu realisieren ist« (Forst 2007, 27). 14 von einem Wertpluralismus spricht, gerät Jaeggis Theorie nicht in die Uneindeutigkeiten, mit denen sich Raz’ Wertpluralismus konfrontiert sieht. 13 Habermas schreibt erläuternd: »die Praxis des Alltags [ist] in Normen und Werte auseinandergetreten, also in den Bestandteil des Praktischen, der den Forderungen strenger moralischer Rechtfertigung unterworfen werden kann, und ein einen anderen, nicht moralisierungsfähigen Bestandteil, der die besonderen, zu individuellen oder kollektiven Lebensweisen integrierten Wertorientierungen umfasst« (1983, 118). 14 Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung zwischen Ethik und Moral schlägt Rainer Forst vor, im Bereich der Ethik, also des individuellen Guten, von »BegrünDie Herausforderung des Pluralismus

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Diese »Differenzierung des Praktischen« (Habermas 1983, 189) hat gegenüber den Theorien von Joseph Raz und anderen einen doppelten Vorteil: Erstens verwendet sie einen deutlicher umrissenen Wertbegriff. Und zweitens ermöglicht sie ein klares Absondern des Ausdrucks »Wert« von der moralischen Diskussion: »die moralischen Fragen, die unter dem Aspekt der Verallgemeinerungsfähigkeit von Interessen oder der Gerechtigkeit grundsätzlich rational entschieden werden können, werden nun von den evaluativen Fragen unterschieden, die sich unter dem allgemeinsten Aspekt als Fragen des guten Lebens darstellen und die einer rationalen Erörterung nur innerhalb des Horizonts einer geschichtlich konkreten Lebensform oder einer individuellen Lebensführung zugänglich sind« (ebd., 189 f.; Hervorh. i. Orig.). Habermas’ und Forsts Vorschlag lautet also, den Bereich des ethisch Guten der Beurteilung der Individuen zu überlassen, und sich in Fragen der Moral und der politischen Gerechtigkeit auf den davon abgetrennten Bereich der Normen bzw. des »Rechten« zu beschränken. Während im Bereich des ethisch Guten in einer »nach-« bzw. »postmetaphysischen« Gesellschaft (Habermas) ein Pluralismus zu erwarten ist, braucht es, so diese Autoren, für den Bereich von Moral und Gerechtigkeit verbindliche Prinzipien. 15 Forst und Habermas sprechen im Gegensatz zu Raz wohlüberlegt nicht von Werten, sondern vom ethisch Guten: Ihrer Analyse zufolge verbinden sich einzelne Wertorientierungen zu einer besonderen Lebensweise und diese ist es, die im Zentrum steht (vgl. z. B. Habermas 1983, 118). Auch sie verweisen damit auf den im vorangehenden Abschnitt erörterten Punkt, dass es angemessener zu sein scheint, in der Beschreibung des gesellschaftlichen Pluralismus statt von einer Vielzahl von Werten eher von einer Vielzahl von Lebensweisen oder »Lebensformen« (vgl. Jaeggi 2014) zu sprechen, die, als das Wertesystem einer Person, deren Konzeption des Guten darstellt. Der Begriff des Guten scheint also zur Beschreibung des Pluralismus besser geeignet zu sein als der des Wertes. dung« zu sprechen, und im Bereich der Moral, also des universell Richtigen, von »Rechtfertigung« (vgl. Forst 2007, 25 f.). 15 So schreibt Forst, dass eine angemessene Theorie der Gerechtigkeit die »Pluralität ethischer Werte« anerkennen solle, aber auch konstatieren müsse, »dass die Gerechtigkeit nicht ein ›Wert‹ neben anderen – etwa der Freiheit, Gleichheit, etc. – ist, sondern ein Prinzip, dem gemäß gerechtfertigt werden muss, welche Freiheiten und welche Formen der Freiheit legitim sind« (Forst 2007, 17).

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1.2.4 Zusammenfassung Möchte man sich, wie es diese Arbeit unternimmt, der Rechtfertigungsproblematik des gesellschaftlichen Pluralismus widmen, scheint der Wertbegriff im Lichte der angestellten Untersuchungen aus mehreren Gründen als Grundbegriff nicht geeignet zu sein: Erstens würden die Schwierigkeiten der genaueren Begriffsbestimmung große Aufmerksamkeit erfordern und es bleibt fraglich, ob überhaupt eine Definition möglich ist, die ihrerseits ohne kontroverse metaethische Implikationen auskäme. Zweitens hat sich in der Auseinandersetzung mit Raz’ Überlegungen herausgestellt, dass sein »Wertpluralismus« tatsächlich nicht von einer Pluralität von Werten ausgeht, sondern von Personen, die unterschiedliche Dinge für gut erachten. Durch die Einbeziehung von Forst und Habermas konnte dieser Fokusverschiebung ein klareres Profil verliehen werden. Den Blick nicht auf Werte zu richten, sondern auf Wertende, ist für die Untersuchung der Rechtfertigungsproblematik des gesellschaftlichen Pluralismus sinnvoll. Denn erst durch die Anwesenheit von Wertenden, die den Werten unterschiedliche Bedeutung und Wichtigkeit beimessen, und an einander den Anspruch stellen, ungestört die ihnen wichtigen Werte verfolgen und umsetzen zu können, ergibt sich im Pluralismus ein Rechtfertigungsproblem. Da also die Schwierigkeiten, die sich aus der Rolle des Wertbegriffs als fundamentalem Grundbegriff des Normativen ergeben, eingehende vorausgehende Untersuchungen erfordern würden, und da der Wertpluralismus innerhalb der politischen Philosophie inhaltlich zum einem Verständnis des gesellschaftlichen Pluralismus als eines Pluralismus an Konzeptionen des Guten tendiert, stellt letzteres Konzept womöglich den treffenderen Grundbegriff dar.

1.3 Ein Pluralismus des Guten? Eine Untersuchung der Rechtfertigungsaufgabe des gesellschaftlichen Pluralismus tut also besser daran, ihren Fokus auf einen Pluralismus der Ansichten darüber zu richten, was ein Leben gut oder lebenswert macht: die Projekte, die Menschen verfolgen, ihre Berufswünsche, ihre etwaige Familienplanung und das, was sie als für ihr Leben von zentraler Bedeutung erachten. All diese Aspekte lassen Die Herausforderung des Pluralismus

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sich zusammenfassen unter dem Begriff der »Konzeption des Guten« (conception of the good), dessen Prägung auf John Rawls’ A Theory of Justice (1971) zurückgeht. Diese Konzeption bezeichnet die Menge letzter Ziele, die eine Person in ihrem Leben verfolgt (TJ, 11). Rawls verwendet hierfür auch den Begriff des »rationalen Lebensplans« (rational plan of life). In dessen Bestimmung tritt der Unterschied zu einer Konzeption, die Werte als Gegenstand des Pluralismus sieht, prägnant hervor: »a rational plan of life establishes the basic point of view from which all judgments of value relating to a particular person are to be made and finally rendered consistent« (TJ, 359). Während ein Wertpluralismus von der schlichten (wie auch immer näher zu bestimmenden) Existenz vieler, mit einander unvereinbarer Werte ausgeht, legt ein Pluralismus der Konzeptionen des Guten das Augenmerk dagegen auf den Standpunkt, von dem aus eine Person Werturteile fällt. Unter der Konzeption des Guten wird also das verstanden, was für eine Person in ihrem Leben von großer Bedeutung ist. Damit steht dieser Begriff in unmittelbarem Zusammenhang mit dem guten bzw. glücklichen Leben der Person: Ein Leben, in dem die eigene Konzeption des Guten weitestgehend verwirklicht wird, wird von der Person als ein gutes Leben erachtet und als solches angestrebt. 16 Eine Pluralismustheorie, die sich den Begriff der Konzeption des Guten zugrunde legt, wird in einem ersten Schritt feststellen, dass Personen unterschiedliche Konzeptionen des Guten entwickeln, abhängig von ihren jeweiligen Interessen, Umständen und Befähigungen. Die Herausforderung des gesellschaftlichen Pluralismus kann anschließend dadurch bestimmt werden, dass Personen von dem Standpunkt ihrer jeweiligen Konzeption des Guten aus Ansprüche an die Gesellschaft stellen, die darauf zielen, dass sie diese möglichst ungehindert und erfolgreich verfolgen können. Zur Illustration der Konzeption eines Pluralismus des Guten möchte ich hier die Theorie Ronald Dworkins in ihren Grundzügen skizzieren. 17 Durch Dworkins explizite Zurückweisung eines WertSo schreibt John Rawls: »we can think of a person as being happy when he is in the way of a successful execution (more or less) of a rational plan of life drawn up under (more or less) favorable conditions, and he is reasonably confident that his plan can be carried through. Someone is happy when his plans are going well, his more important aspirations being fulfilled, and he feels that his good fortune will endure« (TJ, 359). 17 Die Absonderung eines Bereichs des Guten, der die individuellen Zielvorstellungen von Personen umfasst, findet sich, wie im letzten Abschnitt thematisiert, auch bei 16

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pluralismus wird der Unterschied der zwei Konzeption noch einmal deutlich werden. Außerdem tritt in Dworkins Variante, so werde ich zeigen, paradigmatisch eine grundsätzliche Schwierigkeit zutage, der die Beschreibung des gesellschaftlichen Pluralismus als eines Pluralismus des Guten ausgesetzt ist.

1.3.1 Ein Pluralismus ethischer Liberaler (Dworkin) Dworkin entwickelt seine Theorie der liberalen Gleichheit (theory of liberal equality) aus zwei individualethischen Grundprinzipien (vgl. Dworkin 2000, 5 und 2012, 202–204): dem Prinzip der »gleichen Wichtigkeit« (principle of equal importance) und dem Prinzip der »besonderen Verantwortung« (principle of special responsibility). Das erste Prinzip spricht jedem menschlichen Leben die gleiche Wichtigkeit zu: Es sei objektiv gesehen wichtig, dass ein Leben erfolgreich geführt und nicht verschwendet werde – und dies gelte für alle Leben gleichermaßen (2000, 5). Nach Dworkin resultiert aus diesem Prinzip eine Politik der Gleichbehandlung (equal concern). Diese fordert von den politischen Institutionen, nur solche Gesetze zu verabschieden und nur solchermaßen zu verfahren, dass das Schicksal der Bürger nicht von ihren persönlichen Eigenschaften abhängt – also nicht von ihren Talenten, ihrem Geschlecht, ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihren Befähigungen oder Einschränkungen (ebd., 6). Das zweite Prinzip erweitert das erste Prinzip dadurch, dass es jeder Person eine besondere Verantwortung für das Gelingen ihres eigenen Lebens zuweist: »though we must all recognize the equal objective importance of the success of a human life, one person has a special and final responsibility for that success – the person whose life it is« (ebd., 5). Dieses Prinzip führt Dworkin zu seiner Theorie der Verteilungsgerechtigkeit, die auf »Ressourcengleichheit« (equality of resources) abzielt: Da jede Person eine besondere Verantwortung für ihr eigenes Leben trägt, sollten politische Institutionen Güter auf solche Weise verteilen, dass sie den Bürgern eine gleiche Menge an

deutschen Autoren wie Jürgen Habermas und Rainer Forst. Allerdings verfolgen diese damit eine andere Zielsetzung: Dort dient die Absteckung des Bereichs des ethisch Guten zur Entgegensetzung zum Bereich des moralisch Rechten, verbunden mit der These, dass ersterer den Individuen überlassen bleiben kann, während letzterer einer diskursiven Rechtfertigung bedarf. Die Herausforderung des Pluralismus

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möglichst umfassenden Ressourcen für die Verfolgung ihres Lebensplans zur Verfügung stellen (vgl. ebd., 11–14 u. Kap. 2). Dworkin legt diese zwei individualethischen Prinzipien der Ausarbeitung seiner weiteren Theorie zugrunde. Aus ihnen ergebe sich die vorrangige Aufgabe politischer Institutionen: Sie sollen die Bürger zur bestmöglichen Erfüllung ihrer besonderen Verantwortung befähigen, die jene für das Gelingen ihres Lebens haben. Dworkins Theorie fußt also auf der Annahme eines Pluralismus an Konzeptionen des Guten und trägt diesem in den zwei grundlegenden politischen Prinzipien – der Gleichbehandlung (equal concern) und der Ressurcengleichheit (equality of resources) – Rechnung. Dworkin versteht sein Projekt als entgegengesetzt zu zwei Theorieströmen: dem auf Isaiah Berlin zurückgehenden Wertpluralismus einerseits und dem Politischen Liberalismus von John Rawls andererseits (vgl. ebd., 4 f.). Beide vollziehen für Dworkin auf jeweils unterschiedliche Weise eine inakzeptable Trennung von Werten. Gegen den Wertpluralismus macht Dworkin einen Wertmonismus geltend, der die meta-ethische Ausgangsthese des Wertpluralismus – dass es eine Pluralität an Werten gibt – ablehnt. 18 Dworkin zufolge kann es gar keinen fundamentalen Konflikt verschiedener Werte geben; genauer betrachtet, so seine These, seien sie nämlich alle miteinander vereinbar und stünden in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis. 19 Aus seinem Wertmonismus folgert Dworkin jedoch nicht, dass jede Person dieselbe Konzeption des Guten entwickeln würde. Er diagnostiziert: »We live in ethically pluralist societies: People disagree about how, concretely, to live well« (ebd., 277). Gleichwohl strebe jedes Individuum nach Freiheit und Gleichheit, da beide einem Bedürfnis nach Gerechtigkeit entsprängen: Notwendigerweise muss jeder, so Dworkin, der ein gutes und gelingendes Leben leben möchte, auch gerecht sein und nach einer gerechten politischen Ordnung streIn Anspielung auf Isaiah Berlin (und dessen Rekurs auf ein Fragment von Archilochos; vgl. Berlin 1953, 3) betitelt Dworkin daher sein neuestes Werk als Justice for Hedgehogs: Im Gegensatz zu »Füchsen«, die viele Dinge wüssten – also den Wertpluralisten –, weiß der Igel eine große Sache: »The fox knows many things, but the hedgehog knows one big thing. Value is one big thing. […] This book defends a large and old philosophical thesis: the unity of value« (Dworkin 2012, 1). 19 Dworkin unternimmt es, dies für die beiden politischen Grundwerte der Freiheit und der Gleichheit nachzuweisen – die Berlin (1958) zufolge fundamental konfligieren (vgl. Dworkin 2000, Kap. 3). 18

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ben. Dworkin unternimmt also eine Rechtfertigung seiner Theorie liberaler Gleichheit vom Standpunkt des guten Lebens der Bürger: Wir sollten nicht nur politische Liberale, sondern auch »ethische Liberale« (ethical liberals) sein (ebd., 276). 20 Ethische Liberale erkennen Dworkin zufolge an, dass ein Leben umso mehr gelingt, je erfolgreicher es auf die bestimmten Umstände, unter denen es gelebt wird, zu reagieren imstande ist – Dworkin nennt dies das »Modell der Herausforderung« (challenge model; ebd., 240). 21 Um festzustellen, wie erfolgreich die vielfältigen Herausforderungen des Lebens bewältigt werden, benötige man gewisse Parameter: Man müsse wissen, wie man auf die richtige Weise auf die Herausforderungen reagiert. Dworkin versucht nachzuweisen, dass Gerechtigkeit für ethische Liberale notwendigerweise einen solchen Parameter darstellt. 22 Ohne an dieser Stelle weiter auf Dworkins Modell des guten Lebens und die Plausibilität seines Argumentes, dass Gerechtigkeit konstitutiv für ein gutes Leben sei, eingehen zu können, möchte ich folgendes festhalten: Ronald Dworkin geht von einem Pluralismus von Konzeptionen des Guten aus. Die vorrangige Aufgabe der politischen Institutionen Hierin meint Dworkin sich von Rawls zu unterscheiden: Während Rawls’ Urzustand dazu diene, »to insulate political morality from ethical assumptions and controversies about the character of a good life« (2000, 5), würde seine eigene Theorie ohne Urzustand auskommen und stattdessen folgende Rechtfertigung unternehmen: »it hopes to find whatever support its political claims may claim not in any unanimous agreement or consent, even hypothetical, but rather in the more general ethical values to which it appeals« (ebd.). 21 Dworkin entwickelt dieses Modell in Abgrenzung zum »Modell der Wirkung« (impact model) und stellt beide Modelle folgendermaßen gegenüber: »The model of impact […] holds that the ethical value of a life […] is parasitic on and measured by the value of its consequences for the rest of the world« (2000, 252). Das Modell der Herausforderung »adopts Aristotle’s view that a good life has the inherent value of a skillful performance […] The model of challenge holds that living a life is itself a skillful performance that demands skill, that it is the most comprehensive and important challenge we face, and that our critical interests consist in the achievements, events, and experiences that mean that we have met the callenge well« (ebd., 253). 22 Er kommt zu folgendem Schluss: »If living well means responding in the right way to the right challenge, the someone’s life goes worse when he cheats others for his own unfair advantage. It also goes worse when, even through no fault of his own, he lives in an unjust society, because then he cannot face the right challenge whether he is rich, with more than justice allows him to have, or poor, with less. That explains why, on the challenge model, injustice, just on its own, is bad for people« (Dworkin 2000, 265). 20

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ist es nach Dworkin, dieses Pluralismus zu erhalten: Jeder Mensch trägt besondere Verantwortung für das Gelingen seines Lebens, und die staatlichen Institutionen haben die Aufgabe, den Bürgern so viele Ressourcen wie möglich zur Verfügung zu stellen, damit jene so gut wie möglich leben können und ihre Konzeption des Guten verwirklichen können. Dabei sieht Dworkin die Herausforderung des Pluralismus plausiblerweise in den divergierenden Standpunkten der Individuen, die unterschiedliche Konzeptionen des Guten verfolgen. Trotz dieser Unterschiede sind sich, in Dworkins Theorie, alle Individuen in einem Punkt einig: Sie sind ethische Liberale (vgl. 2000, 276). Durch diese Voraussetzung – die in einen offensichtlichen, von Dworkin gleichwohl nicht als solchen benannten Zirkelschluss mündet – ist es ihm möglich, seine Theorie zu rechtfertigen: Da es sich um einen Pluralismus ethischer Liberaler handelt, kann Dworkin zeigen, dass eine nach seinen Prinzipien geordnete Gesellschaft für jeden erstrebenswert ist – denn anders könne man kein gutes Leben führen.

1.3.2 Das Problem der moralischen Überzeugungen Wie in der Darstellung von Dworkins Theorie deutlich geworden ist, besteht die zentrale Einsicht des Pluralismus des Guten darin, dass es sich bei der Herausforderung des gesellschaftlichen Pluralismus um eine Rechtfertigungsaufgabe handelt, die, anders als im Wertpluralismus, einen genauen Adressat hat: die individuellen Bürger mit ihren individuellen Konzeptionen des Guten. Anders als der Wertpluralismus identifiziert der Pluralismus des Guten also explizit den Adressaten, dem eine Rechtfertigung geschuldet ist. Dennoch steht die Interpretation des gesellschaftlichen Pluralismus als eines Pluralismus von Konzeptionen des Guten vor einer fundamentalen Schwierigkeit, die sie zur angemessenen Analyse der Rechtfertigungsproblematik des Pluralismus ungeeignet macht. Geht man von einem Pluralismus von Konzeptionen des Guten aus, dann entsteht der Eindruck, dass sich die Konflikte in einer Gesellschaft um die Interessen diverser Individuen drehen, ihre eigenen Lebenspläne möglichst effektiv umzusetzen. Damit droht allerdings eine besonders problematische Quelle für Konflikte aus dem Blick zu geraten, da sie von vornherein ausgeschlossen wird: die moralischen Überzeugungen. Während der Pluralismus von Konzeptionen des Guten plausib38

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lerweise davon ausgeht, dass in einer Gesellschaft unterschiedliche Vorstellungen davon herrschen, was gut und was wichtig ist, interpretiert er diese Begrifflichkeiten nicht umfassend genug: In einer pluralistischen Gesellschaft haben Individuen nicht nur unterschiedliche Auffassungen davon, was gut und was wichtig ist, sondern auch davon, was richtig ist – was also moralisch geboten, gefordert oder verboten ist. Diese Problemdimension wird von einer Theorie, die den gesellschaftlichen Pluralismus als einen Pluralismus von Konzeptionen des Guten interpretiert, also von Interessen bezüglich des eigenen Wohlergehens, jedoch bereits konzeptuell ausgeschlossen. Ein solches Vorgehen ist – zumal ohne Angabe von Gründen – ein argumentativ bedenklicher Schritt: In pluralistischen Gesellschaften gehören moralische Dissense, so scheint offenkundig, gerade zu den fundamentalen und konfliktträchtigsten Problemen. 23 In Dworkins Theorie wird diese Schwierigkeit insofern paradigmatisch deutlich, als er bereits von einem Pluralismus ethischer Liberaler ausgehen muss, um seine Theorie hinreichend rechtfertigen zu können: Sein Argument funktioniert nur unter der Voraussetzung, dass alle Individuen bereits substantielle moralische Überzeugungen teilen (vgl. Dworkin 2000, 276 und 2012, 195–214). 24

1.3.3 Zusammenfassung Beschreibt man den gesellschaftlichen Pluralismus als einen Pluralismus von Konzeptionen des Guten, dann, so hat die Auseinandersetzung mit Dworkin gezeigt, werden die moralischen Überzeugungen der Bürger ausgeblendet: Der gesellschaftliche Pluralismus wird so Nico Scarano ist daher zuzustimmen, wenn er diagnostiziert: »Konflikte, die auf divergierende moralische Überzeugungen der Gesellschaftsmitglieder zurückzuführen sind, haben eine andere Qualität als einfache Interessenkonflikte. Das Phänomen des moralischen Pluralismus lässt sich nicht auf einen Interessenpluralismus reduzieren. Es erschöpft sich auch nicht in divergierenden Auffassungen des guten Lebens. Aus diesem Grund sollte der moralische Pluralismus innerhalb der Theorie auf eigenständige Weise Berücksichtigung finden« (Scarano 2008, 4). 24 Und so verwundert es auch nicht, wenn Dworkin in seine Theorie des guten Lebens bereits seine eigene Theorie der Verteilungsgerechtigkeit einbaut: »So ethical liberals begin with a strong ethical reason for insisting on an egalitarian distribution of resources. If it is equally important how each person lives, then the lives we lead should reflect that important assumption, and they can do so only if resources are distributed in a way consistent with it« (Dworkin 2000, 279). 23

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verstanden als ein Pluralismus des »Guten«, nicht des (moralisch) »Rechten«. Diese methodische Festlegung erfordert die Annahme eines der Gesellschaft zugrundeliegenden moralischen Konsens, zumindest hinsichtlich grundlegender Fragen. Dworkin vollzieht diesen Schritt, indem er eine Theorie des guten Lebens entwickelt, aus der folgt, dass nur »ethische Liberale« ein gutes Leben führen können. Diese ethischen Liberalen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich in einem moralischen Konsens befinden, der genau die beiden von Dworkin eingangs identifizierten Grundprinzipien umfasst: die Verteilungsgerechtigkeit und die Politik der Gleichbehandlung. Ob dieses argumentative Vorgehen eine petitio principii ist, braucht hier nicht erörtert zu werden. Ich möchte lediglich darauf hinweisen, dass eine Theorie, die den gesellschaftlichen Pluralismus als einen Pluralismus von Konzeptionen des Guten analysieren möchte, vor folgendem Problem steht: Sie muss rechtfertigen können, warum sie den Bereich der moralischen Überzeugungen konzeptuell ausschließt (oder einen entsprechenden Konsens bereits voraussetzt). Dies scheint, blickt man auf die Konflikte innerhalb pluralistischer Gesellschaften, zumindest nicht ohne weiteres phänomengerecht zu sein: Die Konfliktträchtigkeit des gesellschaftlichen Pluralismus ergibt sich gerade in besonderem Maße aus divergierenden moralischen Überzeugungen, die religiöser ebenso wie säkularer Art sind. Für eine Untersuchung der Rechtfertigungsproblematik des Pluralismus wäre daher eine Begrifflichkeit sachgerechter, die in der Lage ist, zusätzlich zum Bereich des »Guten« auch den der moralischen Überzeugungen abzudecken. Der Begriff der Weltanschauungen scheint dies leisten zu können.

1.4 Weltanschauungen und umfassende Lehren Der Begriff des Wertes, haben wir gesehen, bringt Schwierigkeiten in der Begriffsbestimmung mit sich. Außerdem ist die Rede von einem Wertpluralismus insofern uneindeutig, als die Rechtfertigungsproblematik im Pluralismus durch eine Vielzahl von Wertenden entsteht, und nicht schon durch die bloße Existenz von Werten. Die Beschreibung des Pluralismus als eines Pluralismus des Guten vermeidet zwar die Schwierigkeiten des Wertbegriffs. Gleichwohl, so hat sich gezeigt, schränkt diese Beschreibung ihren Fokus von vornherein auf einen 40

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Pluralismus dessen ein, was Personen als gut und wichtig erachten. In Bezug auf Fragen, was Personen für richtig halten, setzt sie einen Konsens voraus. Da aber gerade auch von dem Bereich der moralischen Überzeugungen ein erhebliches Konfliktpotential ausgeht, scheint es unangemessen, diesen Bereich bei der Beschreibung des gesellschaftlichen Pluralismus bereits auszuschließen. 25 Ich möchte in diesem Abschnitt ein bestimmtes Verständnis von »Weltanschauungen« vorstellen, das sich eine Untersuchung der Rechtfertigungsproblematik des Pluralismus zum Grundbegriff nehmen kann. Es vermeidet nicht nur die Schwierigkeiten der beiden bislang diskutieren Varianten, sondern vermag auch, den Anforderungen an einen solchen Begriff, wie sie im Verlauf der letzten Abschnitte zutage getreten sind, zu genügen. Unter dem Ausdruck »Weltanschauung« möchte ich im Anschluss an John Rawls eine Konzeption verstehen, die Antworten auf die wichtigsten Bereiche des menschlichen Lebens gibt, diese in einen kohärenten Zusammenhang bringt, sowie einer Person grundlegende normative Orientierung liefert und damit rechtfertigende Kraft besitzt. Ich werde zunächst John Rawls’ Konzept der »umfassenden Lehren« (comprehensive doctrines) darstellen. Nach der Klärung zweier Schwierigkeiten, die sich für Rawls’ Konzept ergeben, werde ich anschließend ein Verständnis von »Weltanschauung« vorschlagen, das weitgehend den »umfassenden Lehren« von Rawls entspricht, deren Schwierigkeiten aber nicht ausgesetzt ist. Denn es vermeidet, erstens, eine Unklarheit bezüglich der Extension des Begriffs, die sich daraus ergibt, dass Rawls seine umfassenden Lehren als »religiös, moralisch, oder philosophisch« klassifiziert. Und es vermag, zweitens, den Subjektbezug deutlicher herauszustellen: Umfassende Lehren kann es auch ohne Individuen geben, die ihnen anhängen. Weltanschauungen hängen dagegen konzeptuell mit den Individuen, die sie vertreten, zusammen.

Das Argument, dass der gesellschaftliche Pluralismus schlussendlich einen Konsens über grundlegende moralische Fragen erfordert, ist mit der Ablehnung der Beschreibung des Pluralismus durch Konzeptionen des Guten keinesfalls ausgeschlossen. Ein solches Argument sollte aber als normatives Argument, als Antwort auf die Herausforderung des Pluralismus geführt, und nicht als schlichte Annahme bei der Phänomenbeschreibung gesetzt werden.

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1.4.1 Umfassende Lehren (Rawls) Der Grundbegriff, den Rawls in Political Liberalism verwendet, um den Pluralismus zu beschreiben, ist das Konzept der »religiösen, philosophischen und moralischen Lehren« (doctrines). Diese qualifiziert er mit den beiden Eigenschaften »umfassend« (comprehensive) und »vernünftig« (reasonable). Während das erste Adjektiv deskriptiv ist und die Extension der »Lehren« beschreibt, ist das zweite, »vernünftig«, ein normatives Kriterium. Ich werde mich hier zunächst auf Rawls’ deskriptiven Grundbegriff, also auf »umfassende Lehren«, konzentrieren. Rawls’ normatives Kriterium des »Vernünftigen« wird in den folgenden Kapiteln ausführlicher diskutiert werden. Rawls nennt eine Konzeption »umfassend« (comprehensive), wenn ihre Aussagen über den politischen Bereich hinausreichen und damit Antworten auf Fragen der Lebensführung und der Religion geben. Nach Rawls kann eine Konzeption »umfassend« heißen, wenn sie folgende Überzeugungen beinhaltet: »conceptions of what is of value in human life, and ideals of personal character, as well as ideals of friendship and of familial and associational relationships, and much else that is to inform our conduct« (PL, 13). Eine umfassende Konzeption enthält also Bewertungs- und Handlungsanweisungen, die sich auf unser gesamtes Leben erstrecken, auf den privaten wie auf den politischen Bereich, und uns grundlegende Orientierung verschaffen. 26 Was versteht Rawls aber unter dem Ausdruck der »Lehren« (doctrines)? 27 Eine solche »umfassende Lehre« zeichnet sich durch 26 Die Binnenunterschiede, die Rawls zwischen einer »allgemeinen« (general) und einer »umfassenden« (comprehensive), sowie zwischen einer »vollständig« (fully comprehensive) und einer »teilweise« umfassenden (partially comprehensive) Konzeption macht, können für den hier verfolgten Zusammenhang außer Acht gelassen werden (vgl. dazu PL, 13). 27 So weit ich sehen kann, definiert Rawls an keiner Stelle den Begriff der Lehren selbst. Es findet sich lediglich im zweiten Kapitel von Political Liberalism eine Definition der »vernünftigen umfassenden Lehren«. Es sprechen aber meines Erachtens mindestens zwei Gründe dafür, dass es an besagter Stelle um eine Definition umfassender Lehren geht (und »vernünftig« hier keine definitorische Rolle spielt): Da »vernünftig« für Rawls ein normatives Kriterium zur Beurteilung der umfassenden Lehren ist, an dieser Stelle aber nur drei deskriptive Eigenschaften genannt werden, muss es um die umfassenden Lehren selbst gehen. Außerdem ist nicht zu sehen, warum die genannten Eigenschaften nicht auf unvernünftige Lehren ebenso zutreffen sollten. Mir scheint Rawls Vorgehen, hier die »vernünftigen umfassenden Lehren« zu de-

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drei Eigenschaften aus: Erstens vermittelt sie eine bestimmte Sicht auf die Welt, indem sie die wichtigsten Bereiche des menschlichen Lebens abdeckt und in einen Zusammenhang setzt: »it covers the major religous, philosophical, and moral aspects of human life in a more or less consistent and coherent manner. It organizes and characterizes recognized values so that they are compatible with one another and express an intelligible view of the world« (PL, 59). Indem diese Lehren bestimmte Werte als besonders wichtig auszeichnen und angeben, wie entsprechende Werte im Konfliktfall gegeneinander abgewogen werden können, vermitteln diese Lehren, zweitens, einen umfassenden normativen Bewertungsmaßstab. Dieser bezieht sich auf Vorstellungen des guten Lebens ebenso wie auf moralische und ggf. religiöse Vorstellungen (vgl. ebd.). Drittens entwickelt eine Person die umfassende Lehre, der sie anhängt, selten aus dem Nichts: Die umfassenden Lehren speisen sich gemeinhin aus einer bestimmten historischen Denktradition bzw. beziehen sich auf eine solche (ebd.).

1.4.2 Arten von umfassenden Lehren? Rawls unterscheidet »religiöse«, »philosophische« und »moralische« umfassende Lehren. Am leichtesten ist wohl zu verstehen, was eine religiöse umfassende Lehre ausmacht. Denn eine Religion enthält klarerweise normative Bewertungs- und Handlungsmaßstäbe, die ihren Anhängern eine grundlegende Orientierung in ihrem Leben vermitteln. Tatsächlich sprechen viele Textbelege dafür, dass Rawls bei seiner Konzeption der umfassenden Lehren vor allem an Religionen denkt. 28 Dies wird nicht zuletzt dadurch deutlich, dass fast alle finieren, nicht daraus zu resultieren, dass umfassende Lehren anders definiert würden, sondern vielmehr daraus, dass es der Begriff der vernünftigen umfassenden Lehren ist, den er seiner weiteren Argumentation zugrunde legt. Diese Differenzierung wird in der Sekundärliteratur oft übersehen, so z. B. bei Pinzani/Werle 2015, 69 f. 28 So formuliert Rawls in der Einführung zu Political Liberalism an zentraler Stelle die Grundfrage des Werkes so um, dass sie sich direkt auf religiöse Menschen, »citizens of faith« (PL, xxxviii) bezieht: »How is it possible for those affirming a religious doctrine that is based on religious authority, for example, the Church or the Bible, also to hold a reasonable political conception that supports a just democtratic regime?« (ebd., xxxvii). Auch in Rawls’ Aufsatz »The Idea of Public Reason Revisited« (1997) dominiert das spezifische Problem der Vereinbarkeit einer liberalen Gerechtigkeitstheorie mit einem religiösen Pluralismus, also einem Pluralismus umfassender reliDie Herausforderung des Pluralismus

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Beispiele, die Rawls für Konflikte zwischen widerstreitenden umfassenden Lehren gibt, religiöser Art sind. 29 Dennoch fasst Rawls unter umfassenden Lehren nicht nur Religionen. Er erläutert allerdings an keiner Stelle ausführlicher, was er unter einer »philosophischen« oder einer »moralischen« umfassenden Lehre verstehen möchte. Sie scheinen auch keinen eindeutigen argumentativen Zweck in Political Liberalism zu erfüllen. Es ist daher wenig überraschend, dass sich in der Sekundärliteratur viele Bedenken gegen diese Unterscheidung finden lassen. 30 Hält man sich das Vorgehen vor Augen, das Rawls in Political Liberalism verfolgt, dann lässt sich ein Grund ausmachen, warum er seine umfassenden Lehren neben religiös immer auch »moralisch« und »philosophisch« nennt: Er möchte betonen, dass nicht nur religiöse Konzeptionen umfassend sein können. Denn es gibt auch nichtreligiöse umfassende Lehren, und diese spielen eine ebenso wichtige Rolle in der politischen Lebenswelt. Dies bedeutet – und hierauf legt Rawls ausdrücklich wert –, dass eine Theorie nicht alleine schon deswegen, weil sie auf keine religiösen Werte rekurriert, weltanschauliche Neutralität beanspruchen darf. Der gesellschaftliche Pluralismus darf also nach Rawls nicht verkürzt als ein religiöser Pluralismus verstanden werden – umfassende Lehren können ebenso gut säkularen Charakter haben. 31 giöser Lehren. Dort greift Rawls auch explizit die eben zitierte umformulierte Grundfrage von Political Liberalism auf und widmet ihr eine ausführliche Erörterung (vgl. 1997, 588–591). 29 Einige Beispiele sind: Die Frage danach, ob religiöse Schulen öffentliche Gelder erhalten sollten (1997, 593; vgl. auch PL, 248 f.), das Problem von Gebeten in staatlichen Schulen (1997, 601 f.), die Abtreibungsfrage aus katholischer Sicht (ebd., 606), die Überzeugung, dass es außerhalb der Kirche kein Heil gebe (PL, 138). 30 So formuliert etwa Otfried Höffe mehrere Einwände gegen Rawls’ Konzept von »philosophischen umfassenden Lehren« (s. Höffe 2013c, 251–254 und Höffe 2015c, 25 f.), während sich Friedo Ricken besonders an »moralischen umfassenden Lehren« stößt: Ricken 1997, 429–431. Generell lässt sich bei den Autoren, die sich zu dieser Binnenunterscheidung der umfassenden Lehren äußern, eine gewisse Ratlosigkeit beobachten, was Rawls damit gemeint haben könnte. 31 Bei dieser Interpretation, warum Rawls auch von »philosophischen« und »moralischen« umfassenden Lehren spricht, greife ich vor allem auf eine Stelle seines Aufsatzes »The Idea of Public Reason Revisited« (1997) zurück. Dort betont Rawls, dass das, was er unter dem Bereich des Politischen versteht, nicht mit dem Bereich des Säkularen verwechselt werden dürfe. Letzterer sei nämlich nichts anderes als »reasoning in terms of comprehensive nonreligious doctrines« (1997, 583). Diese Lehren und Werte, so Rawls, erstreckten sich genauso wie umfassende religiöse Lehren weit über

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Abgesehen von den Schwierigkeiten der Ausdeutung, was nun eine philosophische, was eine moralische umfassende Lehre sein könnte, spricht ein weiterer Grund für eine Vermeidung dieser Differenzierung. Dieser Grund findet sich in Rawls’ Theorie selbst. Denn die Aufspaltung in »religiös«, »moralisch« und »philosophisch« ist bereits in der ersten Eigenschaft umfassender Lehren, wie Rawls sie bestimmt, enthalten. Er schreibt: »it covers the major religious, philosophical, and moral aspects of human life in a more or less consistent and coherent manner« (PL, 59; meine Hervorhebung). Hier, in dieser Beschreibung einer Eigenschaft umfassender Lehren, ist meines Erachtens der sehr viel plausiblere Ort für diese Qualifizierung. Denn es ist als Begriffsbestimmung umfassender Lehren durchaus nachvollziehbar, dass sie die wichtigen religiösen, philosophischen und moralischen Aspekte des menschlichen Lebens abdecken. Ist dies aber in die Begriffsbestimmung umfassender Lehren aufgenommen, bedarf es keiner zusätzlichen Unterteilung in moralische, religiöse und philosophische umfassende Lehren. Diese erscheint dann als eine missverständliche Dopplung und sollte besser vermieden werden.

1.4.3 »Umfassende Lehre« oder »Weltanschauung«? Rawls’ Begriff der comprehensive doctrines erlaubt mindestens zwei mögliche Übersetzungen: Zum einen die wörtliche Übersetzung des englischen Originals, also »umfassende Lehren«, zum anderen eine, die sich im Deutschen anbietet: »Weltanschauung«. Beide Varianten finden sich in deutschen Veröffentlichungen zu Rawls: Während sich Wilfried Hinsch in seiner Übersetzung von Political Liberalism für »umfassende Lehren« entscheidet, 32 ziehen andere Autoren die Verwendung von »Weltanschauung« vor, meist sogar ohne dies weiter zu begründen. So diagnostiziert etwa Rüdiger Bittner lapidar: »Eine all-

den Bereich des Politischen hinaus und seien deshalb für eine politische Rechtfertigung nicht geeignet: »Political values are not moral doctrines […] Moral doctrines are on a level with religion and first philosophy. By contrast, liberal political principles and values, although intrinsically moral values, are specified by liberal political conceptions of justice and fall under the category of the political« (ebd.). 32 Auf diese Übersetzung scheinen sich auch die Autoren des deutschen Kommentarbandes zu Political Liberalism (Höffe 2015b) verständigt zu haben. Die Herausforderung des Pluralismus

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gemeine und umfassende Lehre ist also das, was man auf deutsch eine Weltanschauung nennt« (Bittner 1997, 47). 33 Zum Ausdruck »Weltanschauung«, dessen philosophische Verwendung bis zum Deutschen Idealismus zurückreicht, gibt es keine direkte Entsprechung im Englischen, er wird dort sogar gelegentlich als deutsches Lehnwort verwendet. 34 Trotz seiner vielschichtigen Begriffsgeschichte, und auch trotz seines Missbrauchs in der politischen Rhetorik vergangener Zeiten, eignet sich dieser Begriff meines Erachtens nicht nur zur Übersetzung dessen, was Rawls mit »umfassenden Lehren« meint, sondern auch als Grundbegriff für eine Untersuchung der Rechtfertigungsproblematik des Pluralismus. Denn in »Weltanschauung«, vor allem der umgangssprachlichen Verwendung, schwingen Vorstellungen von »Sinnproduktion« (Thomé 2004, 456), des »gemeinsamen Weltbezugs« (ebd., 454), der »praktischen Lebensorientierung« (ebd., 459) und eines umfassenden Bezugssystems »des Erkennens, Handelns und Beurteilens« (Höffe 2008b, 340) mit. All dies sind Eigenschaften, die sich auch in Rawls’ comprehensive doctrines wiederfinden. Mindestens vier Gründe sprechen dafür, statt von »umfassenden Lehren« von »Weltanschauungen« zu sprechen. Erstens ist der Ausdruck näher am alltäglichen Sprachgebrauch. Denn wie auch Rüdiger Bittner im obigen Zitat anführt, ist der Begriff der Weltanschauung im Deutschen geläufig, während »umfassende Lehre« als neu geschöpfter Fachbegriff mindestens erläuterungsbedürftig ist. Überdies hat das alltagssprachliche Verständnis von »Weltanschauung«, wie eben gezeigt, bereits wesentliche Gemeinsamkeiten mit dem Begriff der umfassenden Lehren, da es hier wie dort um Sinnproduktion und praktische Lebensorientierung geht. Zweitens haftet dem Begriff der »Weltanschauung« nicht die Konnotation des »Doktrinären« an: In der Rede von umfassenden Lehren droht schnell eine bestimmte Hierarchie mitzuschwingen – es gibt jemanden, der lehrt, und viele, die belehrt werden. Und möglicherweise leisten jene den Lehrern schlicht Folge, ohne die Lehren Ein weiteres Beispiel ist Thomas Pogge (1994), der in seiner Darstellung von Rawls’ Theorie die beiden Ausdrücke synonym gebraucht. Auch Otfried Höffe weist in seinem Eintrag zu »Weltanschauung« im Lexikon der Ethik auf die begriffliche Nähe zu Rawls’ umfassenden Lehren hin: Höffe 2008b, 340. 34 Zum Begriff der Weltanschauung und seiner Begriffsgeschichte, s. Thomé 2004 und Höffe 2008b, zur Übersetzungsproblematik und zu (vornehmlich historischen) Bedenken an der Verwendung des Begriff: Turner 2003. 33

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dabei selbst eigenständig zu reflektieren. Diese Konnotation ist bei Rawls nicht explizit, und Rawls selbst würde sich sicherlich dagegen verwehren, seine umfassenden Lehren so verstanden zu wissen. 35 Da das Deutsche aber über den Ausdruck der Weltanschauung verfügt, dem dieser Beigeschmack vollständig fehlt, und der, drittens, statt von einer unpersönlichen »Lehre« von einer individuellen »Anschauung der Welt« spricht und den Subjektbezug dadurch noch deutlicher herausstellt, spricht auch dies dafür, den Begriff der Weltanschauung als Übersetzung vorzuziehen. Ein vierter Grund, warum »Weltanschauung« vorgezogen werden sollte, ergibt sich daraus, dass bei der Verwendung des Begriffs der »Lehre« eine vorschnelle und ungerechtfertigte Homogenisierung droht: Nicht jede Person, die zum Beispiel der umfassenden religiösen Lehre des Christentums oder des Islam anhängt, zieht daraus dieselben Konsequenzen für ihr Alltagsleben: Auch religiöse Menschen, die demselben Glauben anhängen, stimmen nicht notwendigerweise in ihren letzten Werten und in ihren normativen Bewertungs- und Handlungsmaßstäben überein. Wenn aber von einer »Lehre« gesprochen wird, kann dies aus dem Blick geraten. Auch hier erweist sich der Begriff der Weltanschauung als weniger missverständlich. Denn Weltanschauungen sind von ihrem Begriff her deutlicher an Individuen gebunden – und wir haben gesehen, dass die Rechtfertigungsaufgabe des Pluralismus daraus entsteht, dass wir es mit einer Vielzahl von wertenden Individuen zu tun haben. Nicht zuletzt ermöglicht es die Rede von Weltanschauungen, eine gewisse Distanz zu Rawls’ Verständnis der umfassenden Lehren herzustellen, das, wie die vorangehenden Abschnitte deutlich gemacht haben, zwar in seinen Grundzügen überzeugt, in Teilen aber unwillkommene Implikationen mit sich bringt.

1.4.4 Weltanschauungen als Begründungsinstanzen Nach der Auseinandersetzung mit Rawls’ Konzept der umfassenden Lehren und den anschließenden Überlegungen zum Begriff der WeltDafür ist ihm die »doctrinal autonomy« (PL, 99) zu wichtig. Sie besteht darin, dass jeder Bürger »Herr« über seine Weltanschauung ist in dem Sinne, dass er sie selbst modifizieren und ändern kann, vor allem aber sie als seine eigene Weltanschauung wahrnimmt.

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anschauung können letztere nun folgendermaßen bestimmt werden: 36 Eine Weltanschauung (1) vermittelt eine umfassende Weltsicht, indem sie die wichtigsten (religiösen, philosophischen und moralischen) Bereiche des menschlichen Lebens abdeckt und in einen Zusammenhang bringt. Darüber hinaus liefert eine Weltanschauung (2) einen grundlegenden normativen Bewertungsmaßstab, der alles einschließt, was diese Person für wichtig, für gut und richtig erachtet. Daher besitzt eine Weltanschauung für das Individuum rechtfertigende Kraft. 37 Hierin besteht nun der wesentliche Gewinn für eine Untersuchung der Rechtfertigungsproblematik des Pluralismus, wenn sie vom Begriff der Weltanschauung ausgeht: Weltanschauungen bezeichnen die Begründungsinstanz, von der aus Individuen ihre prudentiellen, moralischen und religiösen Werturteile fällen bzw. auf welche sie diese zurückführen. Damit kommt ihnen genuine rechtfertigende Kraft zu: Sie sind für Personen grundlegende »sources of normative authority« (Scheffler 2007, 280). Versteht man den gesellschaftlichen Pluralismus also als einen Pluralismus von Weltanschauungen, dann erweist er sich als ein Pluralismus von Rechtfertigungssystemen – eben das sind Weltanschauungen. 38 Vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Rechtfertigungssysteme »schauen« Individuen also auf die gemeinsame normative Welt. Dies ist für die Rechtfertigungsproblematik des Pluralismus unmittelbar relevant: Denn eine solche Untersuchung sieht sich einer Plu-

Diese Bestimmung folgt im Wesentlichen derjenigen, die Rawls für umfassende Lehren gibt (vgl. PL, 59 sowie oben, Abschn. 1.4.1). Sie kann außerdem als Ausdifferenzierung eines Verständnisses von Weltanschauung angesehen werden, demzufolge der Begriff »eine in sich einheitliche, nicht notwendig vollständige bewußte Gesamtauffassung von Struktur und Wesen, Ursprung und Sinn der Welt und des menschlichen Lebens in ihr« meint (Höffe 2008b, 340). 37 Nicht zuletzt speist sich eine Weltanschauungen aus kulturellen und historischen Denkfiguren, was jedoch rechtfertigungstheoretisch nicht weiter relevant ist. Deswegen umfasst meine Bestimmung im Gegensatz zu Rawls nur zwei Eigenschaften. 38 Samuel Scheffler argumentiert überzeugend, dass deswegen auch die Beschreibung des gesellschaftlichen Pluralismus als eines Pluralismus der Kulturen, als »Multikulturalismus« ungeeignet ist, da der Begriff der »Kultur« zu vage ist und – vor allem – selbst keine rechtfertigende Kraft besitzt: »Cultures are not in the same sense sources of normative authority, for they are not explicitly justificatory structures at all. As a first approximation, we may say that a culture is a web of formal and informal practices, customs, institutions, traditions, norms, rituals, values, and beliefs« (Scheffler 2007, 281). 36

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ralität unterschiedlicher Begründungsinstanzen gegenüber, die für ihre jeweiligen Anhänger rechtfertigende Kraft haben. Aber hat denn jeder Mensch, so könnte man rückfragen, eine Weltanschauung? Noch dazu eine, die klar und konsistent formuliert ist? Thomas E. Hill weist auf diesen Punkt in seiner Rawls-Interpretation hin: »Many, if not most, people in our society, I suspect, do not have any effective commitment to a comprehensive moral, religious, or political doctrine […]. Many people seem to be doctrineless ethical pluralists, with diverse opinions on particular matters but no theory« (Hill 2000, 249). Hill ist darin zuzustimmen, dass viele Personen auf den ersten Blick »doktrinlos« scheinen – sich möglicherweise sogar selbst so empfinden – und schlicht »verschiedene Meinungen zu bestimmten Themen« haben, ohne diese in eine eigene Theorie zu bringen. Diese empirische Aussage stellt aber kein Problem dafür dar, von Weltanschauungen als der Grundbegrifflichkeit des gesellschaftlichen Pluralismus auszugehen. Denn die Weltanschauung selbst muss von der Person nicht eigens reflektiert werden; eine Person muss nicht in der Lage sein, auf die Frage »Welche Weltanschauung hast du?« eine einfache Antwort geben zu können. Der Begriff bezeichnet als terminus technicus schlicht die Weltorientierung einer Person und besonders die Grundlage, auf der sie normative Urteile fällt. Diese Grundlage wird, je nach Reflektionsgrad und Bereitschaft, mehr oder weniger konsistent sein. Zu bestreiten, dass es eine solche Grundlage überhaupt gibt, scheint angesichts der empirischen Vermutung, wie Hill sie aufstellt, übereilt.

1.5 Ergebnis Dieses Kapitel befasste sich mit der Frage nach einem geeigneten Grundbegriff, den sich eine Untersuchung der Rechtfertigungsproblematik des gesellschaftlichen Pluralismus zum Ausgang nehmen kann. Anlass zu dieser Untersuchung bot die Situation, dass in den einschlägigen Debatten keine Einigkeit darüber herrscht, wie das beschrieben werden sollte, was in einem gesellschaftlichen Pluralismus auf plurale Weise vorhanden ist. Während in der politischen Philosophie die Rede von einem Wertpluralismus zwar weit verbreitet ist, habe ich Bedenken angebracht, was diese Begrifflichkeit angeht, wenn damit die RechtferDie Herausforderung des Pluralismus

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tigungsproblematik in den Blick genommen werden soll. Nicht nur erweist sich eine genauere Begriffsbestimmung als überaus schwierig und voraussetzungsreich. Die Auseinandersetzung mit der Theorie Joseph Raz’ hat darüber hinaus gezeigt, dass es im gesellschaftlichen Pluralismus nicht so sehr um eine Vielzahl von Werten geht, sondern um eine Vielzahl von Personen, die unterschiedliche Dinge als gut und wichtig erachten. Damit scheint es erst einmal phänomengerechter zu sein, statt von einem Wertpluralismus von einem Pluralismus an Konzeptionen des Guten zu sprechen. Dieser wurde anschließend anhand von Ronald Dworkins Theorie näher untersucht. Es zeigte sich dabei, dass eine solche Beschreibung zwar die Probleme des Wertpluralismus vermeidet, zugleich aber vor einer anderen Schwierigkeit steht. Denn sie klammert von vornherein einen Bereich von Überzeugungen aus, von dem in einer pluralistischen Gesellschaft ein hohes Konfliktpotential zu erwarten ist: den Bereich der moralischen Überzeugungen. Beschreibt man also den gesellschaftlichen Pluralismus als einen Pluralismus von Konzeptionen des Guten, dann droht, dass ein moralischer Grundkonsens schon vorausgesetzt wird, ohne dass dieser durch die Theorie argumentativ begründet werden könnte. Im von mir in Anlehnung an John Rawls’ Bestimmung der comprehensive doctrines vorgeschlagenen Verständnis von Weltanschauungen kommen die Stärken der beiden diskutieren Varianten zusammen: Wie der Begriff des Wertes, so umfasst auch der Begriff der Weltanschauung des gesamten Bereich dessen, was einer Person wichtig ist und was sie für gut und richtig hält. Aber im Gegensatz zu jenem erfordert die Begriffsbestimmung keine voraussetzungsreichen meta-ethischen Überlegungen. Und wie der Begriff der Konzeptionen des Guten, so bezieht sich auch der Begriff der Weltanschauung explizit auf die Position eines wertenden Individuums. Aber im Gegensatz zu diesem wird durch die Verwendung des Begriffs der Weltanschauung der Pluralismus nicht allein auf Vorstellungen des guten Lebens beschränkt, sondern kann moralische Überzeugungen mit einschließen. Eine Untersuchung der Rechtfertigungsproblematik des gesellschaftlichen Pluralismus sollte also, so das Ergebnis dieses Kapitels, den Begriff der Weltanschauung als ihren Ausgangspunkt nehmen. Tut sie dies, dann stellt sich die Situation, vor der sie sich sieht, folgendermaßen dar: In einer pluralistischen Gesellschaft leben Personen, die über 50

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unterschiedliche Quellen normativer Autorität verfügen und diese als für sich gültig anerkennen. Es geht also nicht nur darum, dass unterschiedliche Werte existieren, oder dass Uneinigkeit darüber besteht, was ein gutes Leben ausmacht: Angesichts des gesellschaftlichen Pluralismus sieht sich die politische Philosophie einem Pluralismus von individuellen Begründungsinstanzen gegenüber. Eine Rechtfertigung, die dem Pluralismus angemessen begegnen möchte, muss also einen Weg finden, um von unterschiedlichen, in sich stimmigen und gleichwohl miteinander konfligieren Begründungsinstanzen akzeptiert werden zu können. Um die Sache pointiert zu formulieren: Wie ist Rechtfertigung in einem Pluralismus von Rechtfertigungssystemen möglich? Dieser Aufgabe verschreibt sich das Programm des Politischen Liberalismus, das im Zentrum des nächsten Kapitels stehen wird.

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2. Das Projekt des Politischen Liberalismus

2.1 Die Rechtfertigungsaufgabe Das Ergebnis des letzten Kapitels bestand in der Entscheidung, den Begriff der Weltanschauung den weiteren Untersuchungen zugrunde zu legen. Denn Weltanschauungen können als Begründungsinstanzen von Personen verstanden werden: In einer Weltanschauung finden sich diesem Verständnis zufolge die normativen Grundprinzipien einer Person, vor deren Hintergrund sie ihre Urteile darüber fällt, was in einem menschlichen Leben wichtig ist und was erreicht werden sollte, was moralisch geboten und verboten ist, und von denen aus sie ihre eigenen Sinn- und Glücksvorstellungen entwickelt. In diesem Sinn besitzen Weltanschauungen rechtfertigende Kraft. Analysiert man den gesellschaftlichen Pluralismus auf diese Weise, dann tritt die Rechtfertigungsaufgabe deutlich zutage: Eine Theorie, die Gerechtigkeitsprinzipien für eine pluralistische Gesellschaft entwickeln will, steht vor der Herausforderung, einer Vielzahl von eigenständigen, individuellen Rechtfertigungssystemen gegenüberzustehen – den Weltanschauungen der Bürger. Sie muss also ihre Prinzipien auf eine Weise begründen, die vereinbar ist mit den verschiedenen individuellen Rechtfertigungssystemen der jeweiligen Weltanschauungen. John Rawls hat sich ausführlich mit dem Phänomen des Pluralismus und der daraus resultierenden Rechtfertigungsaufgabe beschäftigt. 1 Bevor ich in Kapitel 3 die von ihm entwickelte Rechtfertigungstheorie – den Politischen Konstruktivismus – genauer

Die ausgearbeitetste Fassung seiner diesbezüglichen Überlegungen findet sich in Political Liberalism (1993), weswegen ich mich im Folgenden hauptsächlich darauf beziehen werde. Diesem Werk gingen jedoch bereits zahlreiche Aufsätze voraus, in denen sich Rawls mit Teilaspekten des Pluralismus beschäftigt; einschlägig sind besonders Rawls 1980, 1985, 1987, 1988, 1989a.

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Die Rechtfertigungsaufgabe

erörtern werde, möchte ich zunächst Rawls’ Projekt vorstellen und in seinen Implikationen untersuchen: Rawls fordert angesichts der Rechtfertigungsproblematik des Pluralismus, dass sich der klassische Liberalismus zu einem Politischen Liberalismus wandeln müsse. Was Rawls unter diesem Begriff versteht, und welche systematischen Anforderungen sich daraus ergeben, wird Gegenstand dieses Kapitels sein. Das Projekt des Politischen Liberalismus kann, so möchte ich im Folgenden zeigen, getrennt von der spezifischen argumentativen Umsetzung betrachtet werden, die Rawls vornimmt: Es handelt sich bei diesem Projekt um die Formulierung eines Programms bzw. um die Benennung von Anforderungen, denen eine Rechtfertigungstheorie genügen muss, um der Herausforderung des Pluralismus begegnen zu können. Der Politische Liberalismus zeigt gewissermaßen nur den Weg an, den eine Antwort gehen muss. Er legt die Antwort selbst nicht fest, sondern steckt den Rahmen ab, in welchem sie sich bewegen kann, wenn sie überzeugen soll. 2 Von dieser Unterscheidung zwischen dem Projekt und der Umsetzung ausgehend werde ich nach einigen Anmerkungen zur systematischen Eigenständigkeit des zweiten Werks von John Rawls (Abschn. 2.2) zunächst das Projekt des Politischen Liberalismus skizzieren (Abschn. 2.3). Im Anschluss daran werde ich einen Überblick über Rawls’ eigene argumentative Umsetzung geben (Abschn. 2.4). Dieser Überblick wird es erlauben, die einzelnen Argumentationsschritte zu trennen, die Rawls vornimmt und damit die genauere Untersuchung seines Politischen Konstruktivismus vorzubereiten, die in Kapitel 3 erfolgen wird.

Dass eine solche Trennung zwischen dem Projekt des Politischen Liberalismus und der argumentativen Umsetzung seiner Vorgaben getroffen werden kann, wird in der Sekundärliteratur kaum wahrgenommen. Gleichwohl zeigen die Arbeiten von Denkern wie Charles Larmore (1987, 1990, 1999), Martha Nussbaum (1992, 2001, 2011b) und Gerald Gaus (1996, 2011), dass dies möglich ist: Sie fühlen sich alle dem Projekt des Politischen Liberalismus verbunden, formulieren aber innerhalb dieses Projekts eigene, zu Rawls verschiedene Positionen.

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2.2 Zur systematischen Eigenständigkeit von Political Liberalism Rawls’ zweite Monographie, Political Liberalism, wurde in den Debatten vielfach negativ aufgenommen. Vor allem Autoren, die in ihren eigenen systematischen Arbeiten auf den universellen Anspruch wert legen, den Rawls ihres Erachtens in der Theory vertritt, werten das neue Buch als argumentativen Rückschritt. 3 Sie sehen vor allem den relativistischen Einschlag, den Rawls’ Theorie in Reaktion auf die von kommunitaristischer Seite vorgebrachte Kritik genommen habe, als zu großes Zugeständnis an diese Kritik. 4 Diejenigen Autoren, die Political Liberalism positiver gegenüberstehen, sehen den Gewinn dieses Werkes vornehmlich in der Lösung eines theorieinternen Problems bei Rawls: Sie lesen das Werk, wie Samuel Freeman treffend formuliert, »as a remedy to the problem […] that Rawls encounters with the argument for the stability of a well-ordered society of justice as fairness« (Freeman 2007a, 324). Dieser Lesart zufolge besteht die Intention von Political Liberalism darin, eine Revision des Stabilitätsarguments zu liefern, das Rawls im dritten Teil von A Theory of Justice ausgeführt hatte. 5

Paul Weithman beschreibt diese Unzufriedenheit prägnant: »These readers all started with something of the truth about justice as fairness. But as one reviewer of TJ said, ›Rawls’ theory has both the simplicity and the complexitiy of a Gothic cathedral‹. These readers’ suprise shows that they missed a great deal by adopting just ›one view of that cathedral‹, and by seeing Rawls’s work from just one point of view« (Weithman 2010, 5). Vgl. auch Hinsch 2015, 30 f. 4 So konstatiert etwa Wolfgang Kersting: »Ursprünglich an einer umfassenden Gerechtigkeitsbegründung interessiert, sieht Rawls die Aufgabe der politischen Philosophie jetzt darin, im Rahmen einer Explikation der intuitiven Wertorientierungen unserer politischen Kultur eine politische Gerechtigkeitskonzeption für den demokratischen Verfassungsstaat zu liefern« (Kersting 2006a, 16). Otfried Höffe attestiert Rawls in dessen zweitem Werk eine »neue Bescheidenheit«: »Statt mittels der Vertragstheorie universal gültige Grundsätze aufzustellen, genügt es jetzt, den normativen Gehalt zu explizieren, der in den Verfassungstexten des demokratischen Rechtsstaates verankert ist. Rawls gibt sich mit einer Hermeneutik der bestehenden Demokratie zufrieden« (Höffe 2013c, 248). Weitere Kritiker, die Political Liberalism als argumentativen Rückschritt werten, sind Okin 1993, Mulhall/Swift 1994, Gaus 1996, Forst 1997, O’Neill 1997 u. 2003b, Ricken 1997, Wolf 1997, Cohen 2008 und Koller 2015. 5 Ein klares Beispiel für diese Lesart findet sich bei Brian Barry: »everything distinctive about Political Liberalism stems from a concern with the stability of justice« (Barry 1995, 875). Weitere Interpreten, die die Intention von Political Liberalism vor3

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Zur systematischen Eigenständigkeit von Political Liberalism

Rawls hält eine solche Revision tatsächlich für nötig: Wie er im Vorwort zu Political Liberalism ausführt, braucht es eine solche Überarbeitung, da das Argument der Theory vorausgesetzt hatte, alle Bürger einer wohlgeordneten Gesellschaft würden diese auf der Grundlage derselben Weltanschauung für gerechtfertigt halten (PL, xvi). 6 Dies sei jedoch nicht mit dem Projekt des Politischen Liberalismus vereinbar – denn es würde der unbegründeten Voraussetzung einer Weltanschauung gleichkommen, die für alle Bürger Gültigkeit beanspruche (vgl. ebd.). Die Reaktionen auf Political Liberalism sind also zweigeteilt: Während die Kritiker Rawls’ Abkehr vom vermeintlich universellen Geltungsanspruch der Theory monieren, betonen wohlwollendere Autoren, dass es Rawls vor allem um die Lösung eines theorieinternen Problems gehe. Beide dieser Perspektiven auf Political Liberalism stimmen darin überein, dass sie das spätere Werk vorrangig als Kommentar zum früheren lesen, der entweder zielführend ist, oder eben misslingt. Bei einer derartigen Herangehensweise droht aber die systematische Eigenständigkeit der Überlegungen in Political Liberalism aus dem Blick zu geraten. In Rawls’ zweitem Werk finden sich nämlich auch zahlreiche neue Überlegungen, die keinen Bezug zu Rawls’ früherer Theorie haben, sondern eigenständige systematische Argumente darstellen: Lässt man sich auf eine unvoreingenommene Lektüre von Political Liberalism ein, dann wird rasch deutlich, dass es dort nicht allein um eine Revision des Stabilitätsarguments gehen kann – denn viele Theoriestücke stehen in keinem direkten argumentativen Bezug dazu. 7 Anlass zu dieser Revision bieten zu allererst grundlegend neue Überlegungen, die Rawls zur Rechtfertigungsproblematik des Pluralismus anstellt: Nicht das Stabilitätsproblem erfordert die in Political rangig als Lösung der Stabilitätsproblematik der Theory lesen, sind neben Barry und Freeman auch Pogge 1994, Hinsch 1997b u. 2015 und Kersting 2001. 6 Rawls erläutert in Political Liberalism: »Indeed, it may seem that the aim and content of these lectures mark a major change from those of Theory. […] to understand the nature and extent of the differences, one must see them as arising from trying to resolve a serious problem internal to justice as fairness, namely from the fact that the account of stability in part III of Theory is not consistent with the view as a whole« (PL, xv f.). 7 Die interpretatorischen Merkwürdigkeiten, in die man geraten würde, würde man Political Liberalism lediglich als Revision des Stabilitätsarguments der Theory lesen, finden sich anschaulich beschrieben bei Hill 2000, bes. 245–254. Die Herausforderung des Pluralismus

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Das Projekt des Politischen Liberalismus

Liberalism unternommenen Untersuchungen, sondern das Problem ergibt sich erst als Folge dieser Untersuchungen. Denn ein Pluralismus von Weltanschauungen, so erkennt Rawls nun, stellt Anforderungen an eine Rechtfertigungsmethode, die Rawls selbst bislang selbst nicht ausreichend berücksichtigt hat. 8 Angesichts dessen ist es auch wenig verwunderlich, dass in Political Liberalism nicht, wie noch in der Theory, die beiden Gerechtigkeitsprinzipien im Zentrum stehen. 9 Das neue Werk hat nämlich auch ein neues Ziel (vgl. PL, 4): Es geht Rawls um die Entwicklung einer Rechtfertigungstheorie, mit deren Hilfe liberale Gerechtigkeitsprinzipien für eine pluralistische Gesellschaft begründet werden können – seien es nun die zwei Prinzipien aus der Theory, oder andere (Rawls spricht von einer »Familie« liberaler Gerechtigkeitskonzeptionen; vgl. PL, xlvii, 6 f., 156). Dieses Ziel spiegelt sich auch im systematischen Aufbau der Argumentation wieder: Während in der Theory noch die Gerechtigkeitsprinzipien die Grundlage bildeten, liegt den Überlegungen in Political Liberalism das »liberale Legitimitätsprinzip« (liberal principle of legitimacy) zugrunde. Rawls erörtert es daher passenderweise unter der Überschrift: »How is Political Liberalism possible?« (PL, 134). 10 Dieses »liberale Legitimitätsprinzip« besagt, dass politische Zwangsgewalt dann legitim ist, wenn sie in Übereinstimmung mit Prinzipien ausgeführt wird, denen alle Bürger als Freie und Gleiche in einem übergreifenden Konsens zustimmen können (PL, 137). Dies ist ein weiterer Hinweis darauf, dass es in dem neuen Werk um Fragen der Legitimität und der Rechtfertigung geht: Nur Gerechtigkeitsprinzipien, die auf eine bestimmte Weise begründet werden, sind

So auch Thomas Hill: »what prompts the need for justification is not a fear that a just structure, as defined by Rawls’s principles, would be short-lived, but the suspicion that it would unfairly coerce reasonable people who hold other views about justice and morality generally« (Hill 2000, 251). 9 Sie werden nur am Anfang kurz erwähnt (s. PL, 5 f.) und spielen später, im letzten Kapitel, noch einmal eine Rolle, als es um den Vorrang der Grundfreiheiten geht (PL, 291). 10 Vgl. hierzu auch Burton Drebens Einschätzung: »Political Liberalism […] is unique in that it asks a new series of questions about liberalism. That is one reason, I believe, why is has been so poorly received; it has not been sufficiently recognized that the second book deals with quite a different theme. The first book deals with justice, a much discussed topic; the second book deals with legitimacy, a topic that few contemporary philosophers in the liberal tradition have focused on« (Dreben 2003, 316 f.). 8

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Das Projekt: »politisch, nicht metaphysisch«

legitim. Rawls’ Anliegen in Political Liberalism ist es, eine Rechtfertigungstheorie zu entwickeln, die dies ermöglicht. 11 Es handelt sich bei Political Liberalism also um ein systematisch eigenständiges Werk, das eine von der Theory verschiedene Fragestellung verfolgt, und sollte auch als solches anerkannt werden. Diese systematische Eigenständigkeit findet sich, wie sich zeigen wird, nicht nur in der Konzipierung des Projekts des Politischen Liberalismus (Abschn. 2.3), sondern auch in der argumentativen Umsetzung (Abschn. 2.4) und in der Entwicklung einer eigenen Rechtfertigungsmethode (Kap. 3). Es ist daher lohnenswert, sich den Argumenten von Political Liberalism zu nähern, ohne sie als bloßen Kommentar oder eine Fußnote zu den Überlegungen der Theory zu sehen.

2.3 Das Projekt: »politisch, nicht metaphysisch« John Rawls gilt als der Gründungsvater des Projekts des Politischen Liberalismus. Dieses Projekt versteht sich als ein liberales Projekt, das die Rechtfertigungsaufgabe des Pluralismus in aller Deutlichkeit anerkennt. Neben Rawls gibt es inzwischen auch weitere Denker, die sich dem Politischen Liberalismus verbunden fühlen – besonders einflussreich sind hier die Arbeiten von Charles Larmore (1990, 1999), Gerald Gaus (1996, 2011), Martha Nussbaum (2001, 2006, 2011a) und Rainer Forst (2007, 2011). Für sie alle ist charakteristisch, dass sie ihre Theorien stets in Anlehnung bzw. Abgrenzung zu Rawls entwickeln. 12 Das Projekt des Politischen Liberalismus nimmt seinen Ausgang in Rawls’ programmatischer Formulierung, Rechtfertigung in der politischen Philosophie solle angesichts des Pluralismus »politisch, Auch Charles Larmore betont die Wichtigkeit des liberalen Legitimitätsprinzip für Political Liberalism: »Klar ist […], dass die fundamentale Bedeutung des Legitimitätsprinzips für Rawls’ Spätphilosophie […] kaum zu unterschätzen ist« (Larmore 2015, 136). Zum systematischen Ort des liberalen Legitimitätsprinzips in Political Liberalism, vgl. außerdem Freeman 2007a, 371–381 sowie die kritische Diskussion bei Höffe 2015d, 96 f. und 106–111. 12 So stellt Onora O’Neill fest: »Since the publication of Political Liberalism, the term ›political liberalism‹ has increasingly been used to indicate this quite specific version of liberalism, whose normative claims are merely political, and which purports not to draw on ›comprehensive moral doctrines‹, or on unsustainable metaphysical claims« (O’Neill 1997, 411). 11

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nicht metaphysisch« verfahren. Er erläutert: »Briefly, the idea is that in a constitutional democracy the public conception of justice should be so far as possible independent of controversial philosophical and religious doctrines« (Rawls 1985, 388). 13 Es ist also die Rechtfertigungsproblematik des Pluralismus, die es in Rawls’ Augen erfordert, »politisch, nicht metaphysisch« zu begründen. Wie ist diese Formulierung nun genauer zu verstehen? Zunächst zu dem, was eine Rechtfertigung nach Rawls nicht sein sollte: »nicht metaphysisch«. Als erstes ist dabei festzuhalten, dass Rawls mit »metaphysisch« nicht etwa die philosophische Disziplin der Metaphysik meint. 14 In dieser programmatischen Formulierung ist »metaphysisch« vielmehr gleichbedeutend mit »umfassend« (vgl. oben, Abschn. 1.4): »Metaphysisch« steht für den Raum des Begründens, der über den Bereich des Politischen hinausgeht. Der Begriff ist damit in dieser Verwendung eng verwandt mit dem der Weltanschauung. Denn wie in dem eben gegebenen Zitat deutlich wird, besagt die Forderung, politische Philosophie sollte angesichts des Pluralismus »nicht metaphysisch« begründen, dass sie nicht aus einer Weltanschauung heraus argumentieren darf, sondern vielmehr »unabhängig« von einer bestimmten Weltanschauung formuliert sein soll (vgl. Rawls 1985, 388). »Metaphysisch« ist daher in diesem Kontext als Synonym zu »weltanschaulich« zu verstehen. 15 Der Politische Liberalismus möchte also keine »metaphysische« bzw. weltanschauliche, sondern eine »politische« Rechtfertigung liefern. »Politisch« steht dabei für einen bestimmten normativen Bereich. Dieser ist, wie Rawls auch sagt, ein Teilbereich des »Moralischen« und zeichnet sich dadurch aus, dass für ihn eine öffentliche Rechtfertigungsgrundlage konzipiert werden kann (vgl. ebd., 389 f.). Eine solche rein politische Rechtfertigung soll also nicht auf weltDiese Formulierung findet sich auch in Political Liberalism wieder: vgl. PL, 10 und 97. 14 Zum Begriff der Metaphysik in der Philosophie und der gleichnamigen Disziplin, s. Oeing-Hanhoff u. a. 1980. 15 Ein Grund, warum Rawls dabei von »metaphysisch« spricht, dürfte in der kommunitaristischen Kritik liegen, die Rawls vorhielt, er würde in der Theory einen metaphysischen Personenbegriff verwenden (vgl. hierzu Rawls 1985, bes. Fußnote 22: 403 f.). Gleichwohl ist die Bezeichnung des weltanschaulichen Bereichs als »metaphysisch« inzwischen in der Debatte aufgenommen worden, so dass auch andere Vertreter des Politischen Liberalismus den Begriff in dieser Bedeutung verwenden; vgl. z. B. Larmore (1999) und Nussbaum (2001). Zur Kritik an der Verwendung dieses Begriffs, s. Flikschuh 2000, bes. Kap. 1, sowie Hampton 1989. 13

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anschaulich kontroversen Gründen beruhen, sondern so weit wie möglich weltanschaulich neutral verfahren. Die Grundidee des Politischen Liberalismus ist es, dass eine derartige Rechtfertigung – und nur eine solche – in der Lage sein kann, Prinzipien zu begründen, auf die sich alle Personen in einer pluralistischen Gesellschaft trotz ihrer divergierenden Weltanschauungen einigen können. Das Projekt des Politischen Liberalismus lässt sich also als ein Rechtfertigungsprojekt verstehen: Es erkennt die Rechtfertigungsproblematik des gesellschaftlichen Pluralismus an und fordert als Konsequenz, dass eine Begründung, um zu überzeugen, weltanschaulich neutral verfahren müsse. Wie ich zeigen werde, lassen sich drei grundlegende Anforderungen unterscheiden, die der Politische Liberalismus an eine Rechtfertigung stellt: (1) Sie muss »freistehend« formuliert sein und sich allein auf den Bereich des Politischen beziehen (Abschn. 2.3.2). Außerdem (2) darf ihre Begründungskette nicht vorschnell abbrechen, sondern muss »vollständig« sein (Abschn. 2.3.3). Nicht zuletzt (3) soll sie einer bestimmten argumentativen Form folgen: einem »Vorrang des Rechten« (Abschn. 2.3.4). Diese Anforderungen werden von Rawls und den anderen Vertretern des Politischen Liberalismus zwar nicht ausdrücklich in dieser Dreiteilung benannt. Sie lassen sich aber als Ausdifferenzierung der allgemeinen Forderung »politisch, nicht metaphysisch« verstehen und finden sich in den Argumenten der Vertreter des Politischen Liberalismus wieder. Ihre Unterscheidung ermöglicht einen differenzierten Blick auf das, was eine Rechtfertigung zu leisten hat.

2.3.1 Die Tradition des liberalen Denkens Das erste Problem, das sich dem Politischen Liberalismus nach seinem Selbstverständnis stellt, ergibt sich daraus, dass er in der langen Tradition des liberalen Denkens steht. 16 Dieser klassische LiberalisDie Bestimmung dessen, was genau eine liberale Theorie ausmacht, ist in den heutigen Debatten umstritten (vgl. zu diesem Problem Ryan 1993). Oftmals wird auf folgende Charakterisierung Jeremy Waldrons verwiesen: »liberalism rests on a certain view about the justification of social arrangements […] liberals are commited to a conception of freedom and of respect for the capacities and the agency of individual men and women, and […] these commitments generate a requirement that all aspects of the social should either be made acceptable or be capable of being made acceptable

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mus beinhaltet, neben seinen politischen Thesen, üblicherweise auch Überzeugungen über wesentliche Attribute des Menschen, darüber, was im Leben wichtig ist, und darüber, wie dies am besten erreicht werden kann. 17 Das bedeutet aber: Nach dem Verständnis des Politischen Liberalismus ist der Liberalismus in seiner klassischen Form eine Weltanschauung. Als solche steht er daher zunächst auf derselben Stufe wie alle anderen Weltanschauungen; ihm kommt nicht weniger, aber auch nicht mehr Plausibilität zu. Und vor allem darf sich der Liberalismus nicht ohne Weiteres auf seine Grundüberzeugungen berufen, wenn er normative Prinzipien rechtfertigen möchte. Denn dies wäre kein weltanschaulich neutrales Vorgehen. Erst indem sich der klassische Liberalismus zu einem Politischen Liberalismus wandelt, so Rawls’ These, kann erreicht werden, dass die liberale Rechtfertigung nicht von vornherein weltanschaulich kontaminiert ist, und damit von Personen mit anderen, nicht-liberalen Weltanschauungen wohlbegründet zurückgewiesen werden könnte. 18 In diesem Sinn zeichnet sich der Politische Liberalismus – nicht nur derjenige Rawls’ – seinem Selbstverständnis nach dadurch aus, dass er den gesellschaftlichen Pluralismus als Rechtfertigungsproblem in einer Weise ernst nimmt, wie es seine liberalen Vorgänger nicht getan haben (vgl. Lehning 2009, 162–167 sowie Flikschuh 2000, 14 u. Wolf 1997, 54). Rawls selbst illustriert diesen Unterschied durch einen Vergleich des Politischen Liberalismus mit den Theorien zweier wirkungsmächtiger liberaler Denker: Immanuel Kant und John Stuart Mill. Ich möchte diesen Vergleich kurz darstellen, um dadurch die Stoßrichtung des Politischen Liberalismus zu verdeutlichen. 19 to every last individual« (Waldron 1987, 128). S. zum Liberalismusbegriff auch Dierse u. a. 1980. 17 Vgl. zum klassischen Liberalismus in der Philosophie und seinen anthropologischen und moralischen Voraussetzungen Dierse u. a. 1980; ein aufschlussreicher Vergleich zwischen »klassischem« und »modernem« Liberalismus, der sich auch kritisch mit Rawls auseinandersetzt, findet sich in Flikschuh 2000, Kap. 1. 18 Man könnte daher mit Samuel Scheffler den Politischen Liberalismus als Teil des »project of liberal self-understanding« bezeichnen, welches er angesichts des gesellschaftlichen Pluralismus für erforderlich hält: »liberalism needs to understand how it is to conceive of its relations to the diverse ways of life and forms of culture that characterize modern societies« (Scheffler 1994, 5). 19 Inwieweit Rawls’ Darstellung der Theorien der beiden Denker angemessen ist, ist eine Frage, der ich an dieser Stelle nicht nachgehen werde, die im Falle der Theorie Kants aber gleichwohl im weiteren Verlauf dieser Arbeit thematisiert werden wird (s. Kap. 4).

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Den klassischen Liberalismus, in dessen Tradition auch Kant und Mill stehen, interpretiert Rawls als »a comprehensive liberal and often secular doctrine founded on reason and viewed as suitable for the modern age now that the religious authority of Christian ages is said to be no longer dominant« (PL, xxxviii). Anders als der Politische Liberalismus sei der klassische Liberalismus also eine »umfassende« Theorie (comprehensive; PL, xxxvii): Als Ersatz für eine religiöse Weltorientierung gründen sich die Theorien des klassischen Liberalismus auf die menschliche Vernunft und vermittelten normative Orientierung für alle Bereiche des Lebens, indem sie diese ordnen und in einen konsistenten Zusammenhang bringen. In der Terminologie des Politischen Liberalismus sind sie damit Weltanschauungen (vgl. oben, Abschn. 1.4.4). In Rawls’ Interpretation gründet Kant seine umfassende liberale Theorie auf ein Autonomieprinzip, dem eine regulative Rolle für das gesamte menschliche Leben zukomme (vgl. PL, 99). Damit erstreckt sich dieses Autonomieprinzip über den politischen Bereich hinaus und liefert normative Orientierung und Vorgaben für alles, was wichtig, gut und richtig ist. 20 Mills Liberalismus, der auf seinem utilitaristischen Moralprinzip fußt, sei ebenfalls umfassend, da das utilitaristische Prinzip den gesamten Bereich des moralischen Handelns reguliere und sich nicht auf den Bereich des Politischen beschränke (PL, 260 f.). 21 Da also die liberalen Theorien von Kant und Mill in diesem Sinne umfassend sind, eignen sie sich nicht als Grundlage einer Rechtfertigungstheorie für eine pluralistische Gesellschaft: Sie sind Weltanschauungen, und damit Teil des Problems, das der Pluralismus darstellt, nicht Teil der Lösung: »The point is that not all reasonable comprehensive doctrines are liberal comprehensive doctrines; so the question is whether they can still be compatible for the right reasons with a liberal political conception« (PL, xxxvii). 22 Ohne dies ausführlicher zu erläutern, identifiziert Rawls Kants »transzendentalen Idealismus« als dessen Weltanschauung (vgl. PL, 99). 21 Rawls’ Einschätzung zu den Theorien Kants und Mills teilt auch Ursula Wolf: »Konzeptionen des Liberalismus, wie Kant und Mill sie vertreten, sind durchaus nicht Sichtweisen, die von allen Mitgliedern der modernen Gesellschaften geteilt würden. Denn diese philosophischen Konzeptionen stellen in Wirklichkeit eben doch umfassende Konzeptionen […] des guten Lebens dar, indem sie Individualität (Mill) oder Autonomie (Kant) zum letzten Lebensziel erheben« (Wolf 1997, 54). 22 In dieser Weise interpretiert auch Charles Larmore die beiden Denker: »There have 20

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Diese Einschätzung, die Rawls bezüglich der beiden Vertreter des klassischen Liberalismus vornimmt, teilen auch andere Denker, die ihre Theorien dem Politischen Liberalismus zuordnen. So erläutert Martha Nussbaum, der Politische Liberalismus wolle eine »schmalere« normative Theorie liefern als seine Vorgänger (vgl. Nussbaum 2001, 892). Charles Larmore bezeichnet den Politischen Liberalismus als »a recasting of liberal theory« bzw. als eine »Neuformulierung« (Larmore 1990, 345), die so weit wie möglich unabhängig von kontroversen weltanschaulichen Gründen operiere. Aber es gibt auch skeptische Stimmen zu diesem Selbstverständnis des Politischen Liberalismus. So wendet etwa Wolfgang Kersting ein, dass diese Herangehensweise »so neu« nicht sei: »Der philosophische Liberalismus war von Anfang an Pluralismustheorie, hat sich von Anfang an der herausforderungsvollen Aufgabe gestellt, allgemein zustimmungsfähige Prinzipien für moralische und ethische Konfliktsituationen zu formulieren« (Kersting 2001, 168). Bei dieser Kritik handelt es sich jedoch meines Erachtens um ein Missverständnis: Weder Rawls noch ein anderer Vertreter des Politischen Liberalismus beansprucht eine solche Originalität, wie sie Kersting zu unterstellen scheint – im Gegenteil sehen sie sich ja gerade als Teil dieser Tradition. Sie sind lediglich der Meinung, dass die Herausforderung tiefgehender ist, als die Vorgänger sie wahrgenommen haben. 23 Um einem weiteren Missverständnis vorzubeugen, möchte ich noch auf folgenden Punkt hinweisen: Die weltanschauliche Neutralität, die der Politische Liberalismus anstrebt, ist nicht gleichzusetzen mit normativer Neutralität: Da der Politische Liberalismus durchaus den Anspruch hat, eine normative Theorie zu begründen, kommt er nicht ohne normative Annahmen aus. Er verpflichtet sich lediglich darauf, diese so voraussetzungsarm wie möglich zu halten, sei es in Form einer »minimal moral conception« (Larmore 1990, 346), einem »calculatedly thin way« (Nussbaum 2011a, 90) oder einem »freebeen a great many liberal thinkers who justified liberalism on the basis of the ideals of autonomy and individuality. The theories of Kant and Mill stand out only as the versions most widely known and most often emulated. But the problem with this sort of defense of liberalism is that these ideals are far from uncontroversial. Although they are not themselves substantial views of the good life, but govern the way in which we are to affirm such views, they are nonetheless objects of reasonable disagreement« (Larmore 1990, 343). 23 Dies wird von Charles Larmore anschaulich beschrieben: vgl. Larmore 1999, bes. 602–605.

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standing view [which] offers no specific metaphysical or epistemological doctrine beyond what is implied by the political conception itself« (Rawls: PL, 10). 24 Der Politische Liberalismus fordert also, die grundlegenden Rechtfertigungsfragen tiefergehender zu thematisieren, als es die Vertreter des klassischen Liberalismus bislang getan haben. Damit versteht er sich als ein liberalismus-internes Aufklärungsprojekt. 25

2.3.2 Freistehende Rechtfertigung Zur Lösung der Rechtfertigungsaufgabe macht der Politische Liberalismus einen »einfachen und eleganten« (Wolf 1997, 54) Vorschlag: Er entwirft eine dezidiert »schmale« normative Theorie. Sie soll dazu dienen, für den Bereich des Politischen – und nur für diesen Bereich – objektiv gültige normative Kriterien zu liefern, mit denen festgestellt werden kann, wann ein Anspruch in diesem Bereich wohlbegründet bzw. gerechtfertigt ist. Hierin kann die erste Anforderung des Politischen Liberalismus an eine Rechtfertigungstheorie gesehen werden, die der Herausforderung des Pluralismus angemessen begegnen möchte: Sie soll sich gemäß des Mottos »politisch, nicht metaphysisch« allein auf den Bereich des Politischen beziehen. Es bedarf also eines öffentlichen Raumes, in welchem es möglich ist, jenseits der eigenen Weltanschauung Gründe zu liefern, die einen bestimmten Anspruch in den Augen aller rechtfertigen. Den Austausch von Gründen in diesem öffentlichen Raum bezeichnet Rawls, in Anlehnung an Kant, auch als Aktivität der »öffentlichen Vernunft« Martha Nussbaum führt aus, wie sich die weltanschauliche Neutralität zur normativen Perspektive des Politischen Liberalismus verhält: »Of course a political view must take a moral stand, basing political principles on some definite values, such as impartiality and equal respect for human dignity. Such values, however, either are or can become a part of the many comprehensive doctrines that citizens reasonably hold. If they are articulated in a calculatedly ›thin‹ way, without grounding in controversial metaphysical notions (such as the idea of the immortal soul), epistemological notions (such as the idea of self-evident truth), or thicker ethical doctrines (such as Kantianism or Aristotelianism), they can potentially command the approval of a wide range of citizens subscribing to different religious and secular positions« (Nussbaum 2011a, 90). 25 Der Politische Liberalismus genügt damit den Kriterien, die Otfried Höffe jüngst für einen einen »aufgeklärten Liberalismus« formuliert hat (vgl. Höffe 2015a, 114– 117). 24

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(public reason) von Personen. 26 Wie aber ist ein solcher Bereich des Politischen näherhin zu denken? Wie kann man sich eine entsprechende, bereichsspezifische Objektivität vorstellen? Die Aufgabe besteht darin, normative Bedingungen zu entwickeln, die einen öffentlich-objektiven Austausch von Gründen ermöglichen (vgl. PL, 110). 27 John Rawls nennt hierfür insgesamt fünf Objektivitätskriterien (vgl. hierzu PL, 110–112). Neben der bereits genannten ersten Eigenschaft, einen öffentlichen Diskussionsrahmen zu konzipieren, muss eine solche Theorie, zweitens, Korrektheitsbedingungen für Urteile liefern, die von diesem objektiven Standpunkt aus gefällt werden. Drittens soll sie in der Lage sein, eine ihrem normativen Kriterium entsprechende Hierarchie der Wertigkeit von Gründen anzugeben. Viertens muss sie den objektiven (politischen) Standpunkt stets klar von dem (weltanschaulichen) Standpunkt einer bestimmten Person unterscheiden können. Und fünftens bedarf es einen konkreten Vorschlags, wie eine Einigung erzielt werden kann. 28 Der Bereich des Politischen soll es also ermöglichen, einen öfNico Scarano hat einen systematischen Vorschlag vorgelegt, der in eine ähnliche Richtung zu gehen scheint – auch wenn sich Scarano nicht explizit dem Politischen Liberalismus zuordnet. Er spricht von einer »reflextiven Haltung«, die ihm zufolge einen Weg eröffne, »um den moralischen Pluralismus innerhalb der öffentlichen Debatte berücksichtigen zu können. […] Diese Einbeziehung geschieht dadurch, dass man nur solche Argumente in die Debatte einbringt und nur solche Argumente selbst anerkennt, von denen zu erwarten ist, dass sie aus der Perspektive unterschiedlicher Moralauffassungen akzeptiert werden können« (Scarano 2008, 174). Im weiteren Verlauf seines Arguments schließt sich Scarano der Beschränkung auf den Bereich des Politischen an: »Aus Sicht der reflexiven Haltung geht es […] nicht darum, dass die Mitglieder einer pluralistischen Gesellschaft ihre Moralauffassungen aufgeben und sich überhaupt nicht an ihnen orientieren. Verlangt ist lediglich, dass sie in den öffentlichen politischen Grundsatzdebatten eine reflexive Haltung einnehmen. Nur für diesen engen Gegenstandsbereich versucht man Argumente zu finden, die auch von abweichenden moralischen Positionen aus akzeptabel sind« (ebd., 193). 27 Martha Nussbaum erläutert dieses Objektivitätsverständnis: »The account of political objectivity begins from a simple insight. It is that if we are to live with others politically on terms of mutual respect and seek reasonable terms of cooperations with them, we must be able to distinguish between simply putting forward our own opinion and recommending principles that are reasonable for all. We must believe that the principles that undergird our political order are the result of a reasoned search for a reasonable basis of a mutually respectful political life, and that, in their status and their content, they express respect for the reason of all citizens« (Nussbaum 2001, 894 f.). 28 Zu Rawls’ Objektivitätsverständnis, vgl. Brantl 2015, bes. 85–88 und Freeman 2007a, Kap. 8 u. 9. 26

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fentlichen, von allen Personen einnehmbaren Standpunkt zu bestimmen, von dem aus beurteilt werden kann, wann ein vorgebrachter Grund ein wohlbegründeter bzw. gerechtfertigter Grund ist (vgl. PL, 111). 29 Dieser objektive Standpunkt ist zu politischen Zwecken entwickelt und gilt auch nur für den Bereich des Politischen; aus dem Standpunkt ihrer jeweiligen Weltanschauung heraus mögen die Personen andere Objektivitätskriterien ansetzen. Daher wird dieser Standpunkt auch als »freistehend« (freestanding) bezeichnet (vgl. PL, 10 sowie Larmore 1999, 600). Ist eine solche »freistehende« Rechtfertigungstheorie formuliert, dann ist ein erster Rechtfertigungsschritt getan: »the justification of the political conception takes into account only political values and […] the political values specified by it can be suitably ordered, or balanced, so that those values alone give a reasonable answer by public reason to all or nearly all questions« (PL, 386). Eine derartige Rechtfertigung erfüllt also die Anforderung, »politisch, nicht metaphysisch« zu begründen. Denn sie bewegt sich als »freistehende« Theorie allein im Bereich des Politischen. Diesen ersten Rechtfertigungsschritt, also die Entwicklung einer Theorie, die weltanschaulich frei argumentiert und in sich konsistent ist, bezeichnet Rawls auch als »pro-tanto-Rechtfertigung« (pro-tanto justification; PL, 386). Sie ist insofern »pro tanto« – also »bis zu einem gewissen Grad« –, als sie zwar einen objektiven Standpunkt formuliert, bislang aber noch nicht gezeigt wurde, inwiefern bestimmte Weltanschauungen ihn akzeptieren können bzw. Gründe dafür haben, diesen Standpunkt einzunehmen.

2.3.3 Vollständige Rechtfertigung In einem zweiten Schritt muss nun gezeigt werden, dass den normativen Voraussetzungen dieses objektiven Standpunkts alle Personen trotz unterschiedlicher Weltanschauungen zustimmen können: Die »freistehende« politische Konzeption muss in den verschiedenen Weltanschauungen gewissermaßen »verankert« werden, damit sie für die jeweiligen Personen rechtfertigende Kraft erhält. Hierfür ist es essentiell, dass die Rechtfertigung keinen vorschnellen BegrünAuch Martha Nussbaum bekräftigt diese Objektivitätskriterien: vgl. Nussbaum 2001, 895–903.

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dungsstopp enthält, also in ihrer Begründungskette nicht einfach abbricht. Sie muss stattdessen bis zur rechtfertigungstheoretischen Nullstufe vordringen. Nur durch eine solche tiefgehende Argumentation kann eine Zustimmung erreicht werden, die weltanschauungsübergreifend ist. Ein willkürliches Abbrechen der Begründungskette hätte dagegen zur Folge, dass die Rechtfertigung nur für diejenigen zustimmungsfähig wäre, die die entsprechenden Voraussetzungen bereits mitbringen. Diesen zweiten Rechtfertigungsschritt bezeichnet Rawls als »vollständige Rechtfertigung« (full justification): »the citizen accepts a political conception and fills out its justification by embedding it in some way into the citizen’s comprehensive doctrine« (PL, 386). 30 In dieser Weise soll die Theorie durch einen »übergreifenden Konsens« (overlapping consensus) von Weltanschauungen fundiert werden: Alle Personen sollen sich, trotz ihrer je eigenen Vorstellungen davon, was wahr, gut und richtig ist, in einem übergreifenden Konsens auf die objektiven normativen Kriterien einigen und damit diese Kriterien in ihre jeweiligen individuellen Begründungsinstanzen, also ihre Weltanschauungen, integrieren. In der Umsetzung dieser Anforderung unterscheiden sich die verschiedenen Vertreter des Politischen Liberalismus am deutlichsten. Martha Nussbaum etwa formuliert eine solche Rechtfertigung entlang bestimmter Fähigkeiten (capabilities), die ihr zufolge für ein menschliches Leben wesentlich sind. Durch die Methode einer »evaluativen Untersuchung« (evaluative enquiry) möchte sie nachweisen, dass in allen menschlichen Kulturen ein Konsens über diese grundlegenden Fähigkeiten besteht, weswegen diese einen übergreifenden Konsens begründen könnten (vgl. Nussbaum 1992 und 2011a, Kap. 5). Charles Larmore entwickelt eine andere Rechtfertigungsmethode. Er rekurriert auf zwei Grundwerte: die Norm des rationalen Dialogs (rational dialogue) und die Norm der gleichen Achtung (equal respect). 31 Zusammengenommen belaufen sie sich, so Larmore, auf Tun dies alle Personen in einer Gesellschaft gleichermaßen, dann ist der dritte und letzte Rechtfertigungsschritt der »public justification by political society« geleistet: »Public justification happens when all the reasonable members of political society carry out a justification of the shared political conception by embedding it in their several reasonable comprehensive views« (PL, 387). 31 Die Norm des rationalen Dialogs beläuft sich dabei auf Folgendes: »In discussing how to solve some problem […], people should respond to points of disagreement by 30

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einen minimalen moralischen Konsens (minimal moral consensus), aus dem sich das Prinzip der weltanschaulichen Neutralität ableiten lasse (vgl. Larmore 1987, Kap. 3–4 sowie 1990). Rainer Forst wiederum konzipiert auf der Grundlage eines basalen überpositiven Rechtes, dem »Recht auf Rechtfertigung«, einen zweistufigen Konstruktivismus. Die erste Stufe, der »moralische Konstruktivismus«, soll zunächst eine »substantielle Vorstellung von Menschenrechten […] als Rechte, die niemand einer anderen Person mit guten Gründen vorenthalten kann« (Forst 2007, 14 und 300 f.) schaffen. Auf Grundlage dieser Ergebnisse soll dann in einem zweiten, nun »politischen« Konstruktivismus die »kollektive und diskursive ›Konstruktion‹ und Errichtung einer gesellschaftlichen Grundstruktur für eine politische Gemeinschaft« ermöglicht werden (ebd., 16). All diesen Ansätzen ist gemein, dass sie ausweisen wollen, wie die Rechtfertigungsgrundlage der »freistehenden« Rechtfertigung in unterschiedlichen Weltanschauungen »verankert« werden kann. Dafür ist es, wie bereits erwähnt, besonders wichtig, dass ein vorschnelles Abbrechen der Rechtfertigung vermieden und stattdessen eine tiefgehende Begründung vorgenommen wird, die auch – und insbesondere – ihre letzten normativen Voraussetzungen argumentativ ausweist.

2.3.4 Vorrang des Rechten Die dritte Anforderung, die der Politische Liberalismus aufstellt, bezieht sich auf die argumentative Struktur der Rechtfertigung: Anstatt von Überzeugungen des Guten auszugehen, muss eine dem Pluralismus angemessene Rechtfertigung dem Prinzip des »Vorrangs des retreating to neutral ground, to the beliefs they still share, in order either to (a) resolve the disagreement and vindicate one of the disputed positions by means of arguments which proceed from this common ground or (b) bypass the disagreement and seek a solution of the problem on the basis simply of this common ground« (Larmore 1990, 347). In der Konzipierung der Norm der gleichen Achtung rekurriert Larmore auf Kants Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs, schränkt sie aber dahingehend ein, dass sich die Norm der gleichen Achtung nur darauf beschränkt, dass andere nicht durch Gewalt zur Regelbefolgung gezwungen werden dürfen: »To respect another person as an end is to insist that coercive or political principles be as justifiable to that person as they are to us. Equal respect involves treating all persons, to which such principles apply, in this way« (ebd., 349). Die Herausforderung des Pluralismus

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Rechten« (priority of the right) entsprechen (vgl. PL, 173, 209). Rawls betont die Wichtigkeit dieser Bedingung ausdrücklich: »I believe this priority is characteristic of liberalism as a political doctrine, and something like it seems essential to any conception of justice reasonable for a democratic state« (Rawls 1985, 413). 32 Seinem Grundsatz nach betont dieses begründungstheoretische Prinzip »den Vorrang von Prinzipien gleicher Rechte und Freiheiten vor den Auffassungen des Guten […], die innerhalb einer pluralistischen Gesellschaft bestehen, ohne diese Konzeptionen des Guten illegitim zu beschneiden« (Forst 1997, 396). Konzeptionen des Guten (vgl. auch oben, Abschn. 1.3) sind in der Terminologie des Politischen Liberalismus immer Teil einer bestimmten Weltanschauung. Das bedeutet auch, dass ihre rechtfertigende Kraft immer subjektiv ist (vgl. Özmen 2015, 116): Sie besteht immer nur für denjenigen, dessen Weltanschauung die entsprechende Konzeption des Guten enthält. Der Politische Liberalismus zieht daraus eine Konsequenz mit unmittelbarer Relevanz für die Rechtfertigung: Wenn Konzeptionen des Guten immer bereits weltanschaulich kontaminiert sind, dann können sie nicht zur Rechtfertigung von normativen Prinzipien herangezogen werden, die Gegenstand eines übergreifenden Konsenses bilden sollen. Es darf daher keinen begründungstheoretischen »Vorrang des Guten« geben. Denn bestünde ein solcher Vorrang – würden die Prinzipien letzten Endes durch eine Konzeption des Guten begründet werden – dann wäre diese Begründung nur für diejenigen Weltanschauungen akzeptabel, die die entsprechende Konzeption des Guten schon von vornherein vertreten. Da der Bereich des Guten in dieser Weise also immer schon weltanschaulich geprägt ist, muss sich eine Rechtfertigung, so diese dritte Anforderung des Politischen Liberalismus, an das Prinzip des »Vorrangs des Rechten« halten. 33 An einer Stelle in Political Liberalism unterscheidet Rawls eine »allgemeine« (general) von einer »speziellen« (particular) Bedeutung (meaning) des »Vorrangs des Rechten«. Der allgemeinen Bedeutung scheint dabei die begründungstheoretische Dimension zu entsprechen (vgl. PL, 209). Ganz deutlich tritt diese begründungstheoretische Dimension in der Theory zutage (vgl. TJ, 26 f.), und Rawls grenzt sich in seinen späteren Arbeiten an keiner Stelle von diesem Verständnis ab. Die »spezielle« (particular) Bedeutung richtet sich darauf, dass politische Gerechtigkeitsprinzipien den verschiedenen Vorstellungen des Guten normative Schranken der Zulässigkeit auferlegen (vgl. PL, 174, 203, 209). Ein Versuch, die bergündungstheoretische Relevanz des Vorrangsprinzips bei Rawls systematisch herausszustellen, unternimmt Freeman 1994. 33 Die im ersten Kapitel diskutierte Pluralismustheorie Ronald Dworkins (2000, 32

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Das Projekt: »politisch, nicht metaphysisch«

Es ist nicht schwer zu sehen, wie eng dieser Vorrang des Rechten mit der Forderung zusammenhängt, eine angemessene Rechtfertigung müsse »politisch, nicht metaphysisch« verfahren: Denn es sollen ja lediglich Prinzipien für eine Regelung des Bereichs des Politischen formuliert und begründet werden. Da aber Auffassungen des Guten in den Bereich des Weltanschaulichen gehören, dürfen sie keine begründungstheoretisch relevante Funktion haben. 34

2.3.5 Zusammenfassung So unterschiedlich die Theorien der verschiedenen Vertreter des Projekts des Politischen Liberalismus sein mögen, so sind sie sich doch in Folgendem einig: Sie sind der Auffassung, dass der gesellschaftliche Pluralismus die politische Philosophie vor eine besondere Rechtfertigungsaufgabe stellt, die in der Theoriebildung berücksichtigt werden muss; der klassische Liberalismus soll zu einem Politischen Liberalismus werden. 35 Ich habe drei Anforderungen unterschieden, die der Politische Liberalismus an eine Theorie stellt, die sich der Rechtfertigungsaufgabe annehmen möchte. Sie lassen sich als Ausdifferenzierung der programmatischen Formulierung verstehen, angesichts des Pluralismus müsse »politisch, nicht metaphysisch« begründet werden. Eine Rechtfertigung, die der Herausforderung des Pluralismus erfolgreich begegnen möchte, soll demnach (1) »freistehend« formuliert sein und sich allein auf den Bereich des Politischen beziehen. (2) Sie darf in ihrer Begründungskette nicht abbrechen, sondern muss »vollständig« sein. Und nicht zuletzt muss eine entsprechende Theorie (3) einen begründungstheoretischen »Vorrang des Rechten« umsetzen.

2012) liefert ein eindeutiges Beispiel für eine Begründung, die einen Vorrang des Guten vertritt. In Dworkins Fall wird auch deutlich, inwiefern eine solche Rechtfertigung einen Konsens voraussetzen muss, der selbst nicht mehr begründbar ist (vgl. oben, Abschn. 1.3). 34 Rawls betont, dass eine Rechtfertigungstheorie für den Pluralismus nicht vollständig frei von Konzeptionen des Guten sein müsse: Zulässige Konzeptionen sind entweder nicht weltanschaulich, sondern rein politisch, oder sie erfüllen keine begründungstheoretische Funktion: Vgl. PL, 173–175, sowie zur Interpretation Özmen 2015. 35 Nico Scarano plädiert in ähnlicher Weise – obwohl er sich selbst dem Politischen Liberalismus nicht zuordnet – dafür, den Pluralismus vor allem »als eine methodologische Herausforderung zu begreifen« (Scarano 2008, 5). Die Herausforderung des Pluralismus

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Als liberales Projekt erkennt der Politische Liberalismus also die Herausforderung des gesellschaftlichen Pluralismus in ihrer rechtfertigungstheoretischen Radikalität an. Und als politisches Projekt versucht er, dieser Herausforderung dadurch zu begegnen, dass er sich darauf beschränkt, objektive normative Kriterien nur für den Bereich des Politischen zu entwickeln, die eben deswegen Gegenstand eines übergreifenden Konsenses von Weltanschauungen werden können.

2.4 Rawls’ Umsetzung Wie bereits erwähnt hat John Rawls dem Projekt des Politischen Liberalismus zu seiner heutigen Form verholfen. Ich möchte daher nun einen Überblick über Rawls’ argumentative Umsetzung dieses Projekts geben, wie er sie in Political Liberalism entwickelt. Da dieser Überblick vorrangig dazu dient, die kritische Auseinandersetzung mit Rawls’ »Politischem Konstruktivismus« vorzubereiten (Kap. 3), werde ich hier nur den argumentativen Bogen seiner Theorie darstellen und sie nicht in ihren Feinheiten erörtern. Die entscheidenden Begriffe, auf die sich Rawls’ Argument stützt, sind die des »Vernünftigen« (reasonable), der »Bürden der Urteilskraft« (burdens of judgment), des »Kriteriums der Wechselseitigkeit« (criterion of reciprocity) und des »Politischen Konstruktivismus« (political constructivism). Ich werde seine Theorie entlang dieser Begrifflichkeiten Schritt für Schritt vorstellen. Rawls’s Variante des Politischen Liberalismus ist charakterisiert durch den stets präsenten Begriff des »Vernünftigen« (reasonable). Dieses »Vernünftige« steht bei Rawls im Gegensatz zum Begriff der Wahrheit (truth) und dient dazu, die normative Grundkategorie für den Bereich des Politischen zu demarkieren (vgl. PL, 394): Während »Wahrheit« das (epistemische wie) normative Objektivitätskriterium innerhalb von Weltanschauungen ist, soll das »Vernünftige« als normatives Kriterium für den Bereich des Politischen gelten. Die zugrundeliegende Idee dabei ist, dass die Bürger ihre jeweiligen weltanschaulichen Wahrheitsansprüche nicht aufgeben müssen, sondern sich lediglich für den Bereich des Politischen auf das zu einigen brauchen, was sie als »vernünftig« erachten. Diese Kategorie des »Vernünftigen« zieht sich durch Rawls’ gesamte Umsetzung des Projekts des Politischen Liberalismus: Rawls bezeichnet auch den Pluralismus in abgeleiteter Weise als »vernünf70

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tig« (reasonable pluralism), und ebenso Weltanschauungen (reasonable comprehensive doctrines), wenn sie gewissen normativen Grundanforderungen genügen. 36 Allgemein gesprochen bildet das »Vernünftige« bei Rawls einen normativen Bereich, der allen Personen qua ihrer gemeinmenschlichen Vernunft gleichermaßen zugänglich ist und in dem eine Einigung jenseits von weltanschaulichen Wahrheitsansprüchen möglich sein soll – Rawls strebt damit also eine »freistehende« normative Kategorie an. 37 Ich werde mich zunächst auf Rawls’ genauere Analyse der Aufgabe (Abschn. 2.4.1) konzentrieren, in welcher er die Herausforderung des gesellschaftlichen Pluralismus als das »Faktum des vernünftigen Pluralismus« (fact of reasonable pluralism) bestimmt. Durch eine Untersuchung der Ursachen des Pluralismus (Abschn. 2.4.2), die Rawls’ zufolge in den »Bürden der Urteilskraft« (burdens of judgment) verbunden mit der freien Ausübung der allgemeinmenschlichen Vernunft liegen, kann die normative Grundlage seiner Theorie bestimmt werden – das »Kriterium der Wechselseitigkeit« (criterion of reciprocity: Abschn. 2.4.3). Auf diesen Erkenntnissen aufbauend wird schließlich ein knapper Überblick über den argumentativen Bogen von Rawls’ Theorie gegeben werden (Abschn. 2.4.4): der Herstellung eines übergreifenden Konsenses von Weltanschauungen, der durch die Rechtfertigungstheorie geleistet werden soll, die Rawls »Politischen Konstruktivismus« (political constructivism) nennt.

An das Erscheinen von Political Liberalism schloss sich eine Debatte an, die zunächst vor allem zwischen Rawls und Habermas geführt wurde, in welcher letzterer der Rawlsschen Konzeption unter anderem nachweisen möchte, dass sie ohne einen moralischen Wahrheitsbegriff nicht auskomme (vgl. Habermas 1995 und Rawls’ »Reply«, die als Kap. 9 der Taschenbuchausgabe von Political Liberalism wiederveröffentlicht wurde; zur Übersicht über die Debatte siehe Forst 2007, Kap. 4). Zum Begriff des Vernünfigen in Political Liberalism, s. Pinzani/Werle 2015, bes. 66–68, sowie Pogge 1994, Kap. 8.3. Eine vielbeachtete Kritik an Rawls’ Begriff des »Vernünftigen« findet sich bei Raz 1990. 37 Vgl. auch die Interpretation Samuel Freemans: »the reasonable forms a distinct and independent domain of practical reasoning with its own independent moral principles« (Freeman 2007a, 345). S. auch die aufschlussreiche Auflistung von Gerald Gaus dazu, welche Aspekte und argumenative Aufgaben dem »Vernünftigen« in Rawls’ Argumentation zukommen: Gaus 1996, 131–133. 36

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2.4.1 Das Faktum des vernünftigen Pluralismus Rawls unterscheidet zwischen dem Phänomen des Pluralismus und dem »Faktum des vernünftigen Pluralismus« (fact of reasonable pluralism: vgl. PL, 36 f.). Das Phänomen des Pluralismus beläuft sich auf die Feststellung, dass in einer Gesellschaft unterschiedliche Weltanschauungen vertreten werden. Das »Faktum des vernünftigen Pluralismus« diagnostiziert dagegen die Rechtfertigungsaufgabe: Der gesellschaftliche Pluralismus ist ein Pluralismus divergierender Weltanschauungen, denen gleichermaßen Rechtfertigung geschuldet ist (PL, 36). 38 Der Pluralismus erscheint aus dieser Perspektive nicht als ein – möglicherweise temporäres – Ärgernis, sondern als das erwartbare und auch zu begrüßende Resultat einer freiheitlichen Gesellschaft: Wenn Menschen nicht durch Gewalt daran gehindert werden, entwickeln und verfolgen sie unterschiedliche Weltanschauungen. 39 Eben aufgrund dieser Interpretation, wie sie durch das »Faktum des vernünftigen Pluralismus« vorgenommen wird, folgt unmittelbar, dass der Pluralismus eine Herausforderung an die Rechtfertigung darstellt: Da unterschiedliche Weltanschauungen das Resultat freier menschlicher Vernunftaktivität sind, ist allen Bürgern zunächst gleichermaßen Rechtfertigung geschuldet; keine Weltanschauung darf unbegründet politisch privilegiert werden. Die politische Privilegierung einer bestimmten Weltanschauung käme nämlich einer ungerechtfertigten Unterdrückung gleich: »a continuing shared understanding on one comprehensive […] doctrine can be maintained only by the oppressive use of state power« (PL, 37). Weil eine solche Unterdrückung jedoch unzulässig ist, gleichwohl eine substantielle Mehrheit notwendig ist, um ein demokratisches System stabil zu erhalten, ist die Richtung, in die der Politische Liberalismus seine Rechtfertigungstheorie entwickeln muss, klar: »to Alessandro Pinzani und Denilson Werle weisen zwar darauf hin, dass die Rede von einem vernünftigen Pluralismus irritierend sei, »da es nicht klar ist, in welcher Hinsicht dieser Pluralismus seinerseits vernünftigen Charakter aufweist« (Pinzani/Werle 2015, 70), konstatieren dann aber überzeugenderweise, dass Rawls diese Bezeichnung in abgeleiteter Weise versteht: Es handelt sich um einen Pluralismus, der »von vernünftigen Bürgern als ein unausweichliches empirisches Faktum anerkannt wird« (ebd.). 39 Entsprechend bezeichnet Rawls den vernünftigen Pluralismus auch als »the inevitable long-run result of the powers of human reason at work within the background of enduring free institutions« (PL, 4). 38

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serve as a public basis of justification for a constitutional regime a political conception of justice must be one that can be endorsed by widely different and opposing though reasonable comprehensive doctrines« (PL, 38). Hier wird der Zusammenhang zwischen dem liberalen Legitimitätsprinzip und dem Faktum des vernünftigen Pluralismus deutlich (PL, 137; vgl. auch oben, Abschn. 2.2): Denn jenem für Rawls so zentralen Prinzip zufolge ist die Ausübung politischer Gewalt nur dann legitim, wenn sie in Übereinstimmung mit Grundsätzen ausgeübt wird, denen alle Weltanschauungen zustimmen können – im Lichte ihrer gemeinsamen menschlichen Vernunft.

2.4.2 Die Bürden der Urteilskraft Das Faktum des vernünftigen Pluralismus ist also die spezifische Weise, in der Rawls das Phänomen des gesellschaftlichen Pluralismus interpretiert: als das begrüßenswerte Resultat freier menschlicher Vernunftaktivität unter freien politischen Institutionen. Warum aber sind unterschiedliche Weltanschauungen das Resultat; warum führt die freie menschliche Vernunftaktivität nicht zu einer einzigen, für alle gültigen Weltanschauung? Diese Frage muss der Politische Liberalismus beantworten. Alle vernünftigen Personen verfügen nach Rawls über eine gemeinsame menschliche Vernunft, ähnliche Verstandes- und Urteilskräfte, können Schlussfolgerungen ziehen und Pro- sowie Kontra-Argumente abwägen: »they share a common human reason, similar powers of thought and judgment: they can draw inferences, weigh evidence, and balance competing considerations« (PL, 55). Dennoch geht Rawls davon aus, dass Personen unter freien gesellschaftlichen Institutionen unterschiedliche Weltanschauungen entwickeln. Der Grund dafür liegt Rawls zufolge in den »Bürden der Urteilskraft« (burdens of judgment; PL, 55 f.). Rawls versteht darunter die vielfältigen Hindernisse, die uns als vernünftige Personen in der Ausübung unserer Verstandeskraft begegnen. 40 Sie führen dazu, dass wir Rawls listet folgende Bürden auf: (1) das wissenschaftliche und empirische »Beweismaterial« (evidence) mag konfligierend und schwer einschätzbar sein; (2) das Gewicht bestimmter Überlegungen ist schwer abzuschätzen; (3) in gewisser Weise sind all unsere Konzepte vage und bedürfen der Interpretation; (4) unsere Weise zu ur-

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entsprechende Urteile nie mit voller Sicherheit fällen können: Wir müssen anerkennen, »that many of our most important judgments are made under conditions where it is not to be expected that conscientious persons with full powers of reason, even after free discussion, will all arrive at the same conclusion« (PL, 58). 41 Rawls illustriert die Art und Weise, wie uns diese »Bürden der Urteilskraft« in tagtäglichen Überlegungen begegnen und herausfordern (vgl. PL, 56): Denn dort müssen wir ständig unsere Ziele gegeneinander abwägen und ihren Prioritäten zusprechen, wobei es ein äußerst schwieriges Unterfangen ist, immer die richtige Entscheidung zu treffen. Auch in moralischen Überlegungen, wenn wir etwa in einem Konfliktfall bewerten wollen, welche Seite moralisch im Recht ist, begegnen wir Hindernissen, die es schwer machen, die infrage stehenden Ansprüche korrekt zu beurteilen. Diese Bürden der Urteilskraft führen nun, so Rawls, zum Faktum des vernünftigen Pluralismus: In der freien Ausübung ihrer menschlichen Vernunft, wie es Personen in demokratischen Verfassungsstaaten auf besonders umfassende Weise möglich ist, begegnen sie vielfältigen Hindernissen und Schwierigkeiten, die es letztendlich erfordern, sich immer wieder, oft auch ohne hinreichende Gründe, für bestimmte Positionen zu entscheiden. Dies führt dazu, dass sich verschiedene Weltanschauungen herausbilden: »Different conceptions of the world can reasonably be elaborated from different standpoints and diversity arises in part from our distinct perspectives. It is unrealistic – or worse, it arouses mutual suspicion and hostility – to suppose that all our differences are rooted solely in ignorance and perversity, or else in the rivalries for power, status, or economic gain« (PL, 58). 42 teilen und Dingen Wert beizumessen ist in hohem Maße durch unsere individuellen Lebenserfahrungen geprägt; (5) oftmals sind mehrere normative Überlegungen in Bezug auf eine Sache wichtig und es ist unklar, wie sie gegeneinander abgewogen werden können; (6) aus der Gesamtmenge aller Werte muss immer eine Auswahl getroffen werden, die überhaupt umgesetzt werden kann (PL, 56 f.). 41 Zu den Bürden der Urteilskraft, s. auch die Diskussion bei Pinzani/Werle 2015, Abschn. 4.4. 42 In dieser Rückführung des Pluralismus auf menschliche Vernunftaktivität folgt Rawls einem Vorschlag Joshua Cohens, auf den auch die Unterscheidung zwischen Pluralismus und vernünftigem Pluralismus zurückgeht: »If we accept the idea of reasonable pluralism, then moral diversity is not simply a bare fact, even a bare general fact, about human nature, but, rather, indicates something about the operation and powers of practical reason« (Cohen 1993, 288).

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Wegen der Bürden der Urteilskraft entwickeln sich also unterschiedliche Weltanschauungen, deren Prinzipien und Überzeugungen aus der Innenperspektive der jeweiligen Person als »wahr« oder »richtig« anerkannt werden – eine Person ist überzeugt davon, dass ihre Weltanschauung korrekt ist, sonst würde sie diese nicht vertreten. Damit herrscht eine Pluralität von Überzeugungen dessen, was gut, was richtig und was wichtig ist – eben ein Pluralismus der Weltanschauungen.

2.4.3 Das Kriterium der Wechselseitigkeit Aus den Bürden der Urteilskraft ergibt sich noch etwas anderes, was für den weiteren Fortgang von Rawls’ Argument von äußerster Wichtigkeit ist. Alle Menschen, haben wir gesehen, sind nach Rawls in ihren vernünftigen Überlegungen den Bürden der Urteilskraft ausgeliefert. Die Erkenntnis dieses Sachverhalts impliziert nun für Rawls ein Minimum an weltanschaulicher Toleranz (vgl. PL, 54). Seine Überlegung verläuft folgendermaßen: Ich weiß, dass ich den Bürden der Urteilskraft ausgeliefert bin. Und ich weiß, dass alle anderen Menschen vor der gleichen Situation stehen. Diese Einsicht sollte nun dazu führen, dass ich von anderen Menschen nicht erwarte, dass sie ohne Weiteres irgendwann dazu kommen werden, meine Weltanschauung als die einzig richtige anzuerkennen. Dazu sind die Bürden der Urteilskraft zu durchdringend. 43 Für dieses Minimum an weltanschaulicher Toleranz muss ich noch nicht einmal die Gültigkeit meiner eigenen Weltanschauung infrage stellen. Sie impliziert also nicht notwendigerweise einen Relativismus mit Hinblick auf die eigene Weltanschauung. 44 Es genügt, Percy Lehning führt aus: »The motivation to comply, by those who have conflicting comprehensive doctrines, to institutional arrangements that are justified according to the principle of reciprocity and expressed in a political conception of justice […] is generated by the ›tendency to reciprocity‹, the most important moral psychological assumption underlying Rawls’ theory of justice«: 2009, 114 f. Zur Frage, wie sich Rawls’ Kriterium der Wechselseitigkeit zu Scanlons – systematisch ähnlichem – Prinzip der wohlbegründeten Zurückweisung verhält, siehe ebd., 139–142. 44 Ursula Wolf geht daher zu weit, wenn sie Rawls’ Argument vorwirft, es sei »paradox«, da »zu umfassenden Sichtweisen wesentlich gehört, daß man von ihrer Richtigkeit überzeugt ist. Und man kann nicht etwas gleichzeitig für richtig auf der grundlegendsten Ebene halten und es einklammern. Das ist das Grundproblem der liberalen Idee der Toleranz« (Wolf 1997, 63). 43

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wenn ich erkenne, dass die Bürden der Urteilskraft andere Menschen zu anderen Ergebnissen bringen können. Aus dieser Einsicht erwächst für Rawls das »Kriterium der Wechselseitigkeit« (criterion of reciprocity; PL 16 f.). Trotz der offenkundigen Wichtigkeit, die diese Annahme für Rawls’ Theorie hat – er nennt dieses Kriterium an einer Stelle sogar das »Ideal« seiner gesamten freistehenden politischen Konzeption (PL, xlv) –, findet sich leider keine Stelle in seinem Werk, an der er die argumentative Funktion des »Kriteriums der Wechselseitigkeit« ausführlich erläutert. 45 Ich werde daher den interpretativen Versuch unternehmen, diesen Zusammenhang zwischen dem »Kriterium der Wechselseitigkeit« und den dazu in Beziehung stehenden Theoriestücken herauszustellen. Erstens macht das Kriterium der Wechselseitigkeit den Kern dessen aus, was Rawls als »vernünftig« (reasonable) bezeichnet: 46 Wenn Rawls von »vernünftigen« Weltanschauungen spricht, dann meint er Weltanschauungen, die diese fundamentale Einsicht in die Folgen der Bürden der Urteilskraft anerkennen und daraus folgerichtig ein Kriterium der Wechselseitigkeit ableiten (PL, 49 f., 54). Aus der Anerkennung der Bürden der Urteilskraft folgt also nach Rawls bereits ein normatives Kriterium, das der Wechselseitigkeit. 47 Rawls ist es dabei wichtig darauf hinzuweisen, dass die gemeinte »Wechselseitigkeit« normativ schwach sei und keiner starken Forderung nach einem Altruismus oder umfassender Unparteilichkeit gleichkomme: »the idea of reciprocity lies between the ideas of impartiality, which is altruistic (being moved by the general good), and the idea of mutual advantage understood as everyone’s being advantaged with respect to each person’s present or expected future situation as things are« (PL, 16 f.). 48

45 Es erscheint nicht einmal als Eintrag im Register von Political Liberalism, ebensowenig im Register der Collected Papers. 46 Vgl. zum Zusammenhang von reasonable und dem criterion of reciprocity auch Lehning 2009, 113 f. 47 Angesichts dessen ist es zumindest begrifflich ungeschickt, wenn Wilfried Hinsch die normative Forderung des Kriteriums der Wechselseitigkeit mit dem Begriff der Unparteilichkeit beschreibt (vgl. Hinsch 1997c, 91). 48 Da das »Kriterium der Wechselseitigkeit« in dieser Weise von allen vernünftigen Weltanschauungen bekräftigt wird, liegt es auch der »fundamentalen Vorstellung« (fundamental idea) der Gesellschaft als fairem Kooperationssystem zugrunde: PL, 16. Da dieser fundamentalen Vorstellung eine begründungsrelevante Funktion zu-

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Aber das Kriterium der Wechselseitigkeit liegt nicht nur Rawls’ Vorstellung des »Vernünftigen« zugrunde. Auch das »liberale Legitimitätsprinzip« (liberal principle of legitimacy) kann, zweitens, als Ausdruck dieses Kriteriums verstanden werden: Es besagt, dass die Ausübung politischer Macht, um legitim zu sein, auf Prinzipien basieren muss, die für alle Bürger auf der Grundlage ihrer Vernunft (their common human reason) akzeptabel sind (vgl. PL, 137 und Rawls 1997, 578 f.). Dieser Bestimmung des liberalen Legitimitätsprinzips liegt das Kriterium der Wechselseitigkeit insofern systematisch zugrunde, als es eine Vorstellung von Wechselseitigkeit ist, die hier das bestimmt, was die Legitimität zu allererst ausmacht (vgl. zu dieser Einschätzung auch Lehning 2009, 114). Drittens beruht auch das, was Rawls »öffentliche Vernunft« (public reason) nennt – die Art und Weise, in der die Bürger im politischen Raum miteinander kommunizieren –, auf dem Kriterium der Wechselseitigkeit: »the role of the criterion of reciprocity as expressed in public reason […] is to specify the nature of the political relation in a constitutional democratic regime as one of civic friendship« (Rawls 1997, 579). Dies zeigt einmal mehr, welch grundlegende Rolle das Kriterium der Wechselseitigkeit in Rawls’ Theorie einnimmt. 49 In mindestens drei Hinsichten – als normativer Kern des »Vernünftigen«, als Grundlage des »liberalen Legitimitätsprinzips« und der »öffentlichen Vernunft« – kommt dem Kriterium der Wechselseitigkeit also der Status eines normativen Grundprinzips für Rawls’ Theorie zu (ohne dass Rawls dies explizit sagt). Es hat demnach eine grundlegende Funktion in Rawls’ Umsetzung des Projekts des Politischen Liberalismus. Daher ist Percy Lehning zuzustimmen, wenn er die Wechselseitigkeit als eine der wichtigsten Annahmen der Theorie Rawls’ bezeichnet (2009, 138): Es handelt sich um den normativen Kern der gesamten Theorie. 50 kommt, ist dies ein weiteres Indiz für die essentielle Bedeutung des Kriteriums der Wechselseitigkeit für Rawls’ gesamte Theorie. 49 Dass das Kriterium der Wechselseitigkeit die normative Grundlage von Rawls’ Theorie darstellt, wird in der Sekundärliteratur oftmals nicht angemessen berücksichtigt; es spielt in vielen der Auseinandersetzungen mit Political Liberalism eine sehr untergeordnete Rolle. Eine aufschlussreiche Diskussion findet sich bei Lehning 2009, 111–116. Auch Wilfried Hinsch weist auf die grundlegende Bedeutung dieses Kriteriums hin: Hinsch 2015, 32. 50 Sieht man diese Begründungsbeziehung zwischen dem »Kriterium der Wechselseitigkeit« und dem »Vernünftigen« – dass also die Bedingungen des Vernünftigen nur eine Ausgestaltung des grundlegenderen Prinzips der Wechselseitigkeit darstellen –, Die Herausforderung des Pluralismus

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2.4.4 Argumentative Ausgestaltung Nachdem damit die Grundlagen vorgestellt wurden, auf denen Rawls seine Umsetzung des Projekts des Politischen Liberalismus aufbaut, kann nun dessen argumentative Ausgestaltung skizziert werden. 51 Die »Bürden der Urteilskraft« ergeben eine Vielzahl unterschiedlicher, gleichwohl »vernünftiger« Weltanschauungen. Während das Kriterium der Wechselseitigkeit den normativen Kern bildet, führt Rawls genauer aus, was er unter »vernünftigen Weltanschauungen« (reasonable doctrines) versteht: Erstens können diese Weltanschauungen »vernünftig« heißen, da sie die Existenz der Bürden der Urteilskraft anerkennen und auch verstehen, dass der gesellschaftliche Pluralismus aus ihnen resultiert (vgl. PL, 54). Zweitens bedeutet diese Eigenschaft, dass die Bürger miteinander auf wechselseitiger Basis politisch interagieren wollen, und zwar als Freie und Gleiche unter fairen Kooperationsbedingungen (vgl. PL, 49–51). Diese beiden Eigenschaften zusammengenommen nehmen Personen also eine Grundhaltung der Wechselseitigkeit an (Anerkennung der Bürden der Urteilskraft) und fordern eine Rechtfertigungstheorie, auf deren Grundlage sie sich mit Achtung begegnen können (Interaktion als Freie und Gleiche unter fairen Kooperationsbedingungen). Auf diesen Annahmen aufbauend entwickelt Rawls nun seinen »Politischen Konstruktivismus« (political constructivism). Er soll dazu dienen, als eine »politische, nicht metaphysische« Rechtfertigungstheorie eine objektive Konzeption für den Bereich des Politischen zu entwerfen. Da Rawls’ Konstruktivismus im nächsten Kapitel (Kap. 3) erörtert werden wird, soll an dieser Stelle ein knapper Überblick genügen: Auf der Grundlage von politischen Grundwerten, von denen Rawls annimmt, dass sie von allen Personen trotz divergierender Weltanschauungen geteilt werden, der sogenannten »fundamentalen Vorstellungen« (fundamental ideas), versucht Rawls, durch ein vertragstheoretisches Argument Grundprinzipien zu konstruieren, dann klären sich einige der Bedenken, die Habermas am Begriff des »Vernünftigen« angemeldet hat, das dieser als zu vage und normativ nicht weiter begründet versteht (vgl. Habermas 1995, 185–189). 51 Ich werde in dieser Skizze auf Einwände aus der Sekundärliteratur nicht ausführlicher eingehen, da eine Auseinandersetzung mit ihnen sehr viel mehr Raum bräuchte, als es der hier verfolgte Zusammenhang erlaubt. Eine kritische Auseinandersetzung mit für das Vorgehen dieser Arbeit wesentlichen Theoriestücken findet sich in Kap. 3.

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auf die sich alle Personen, die vernünftige Weltanschauungen vertreten, einigen können – da bei der Konstruktion nur die Prinzipien der ihnen gemeinsamen Vernunft verwendet werden (vgl. PL, 90). Dieser Konstruktivismus ist »politisch«, weil er die Prinzipien im Sinne der oben erörterten Objektivitätsbedingungen allein für den Bereich des Politischen konstruiert. Es geht also nicht um allgemeine Moralprinzipien, sondern um dezidiert normativ-politische Prinzipien. Der Politische Konstruktivismus soll, so Rawls, als »freistehende« Theorie wie ein »Modul« (module) fungieren: Da die Rechtfertigungsgrundlage in den fundamentalen Werten besteht, die in allen Weltanschauungen bereits vorhanden sind, kann die Theorie in die verschiedenen existierenden Weltanschauungen eingepasst und jeweils aus ihren heraus gerechtfertigt werden (PL, 12 f., 145). Der Politische Konstruktivismus leistet damit in Rawls’ Augen zweierlei: einerseits die freistehende Rechtfertigung durch eine weltanschaulich unabhängige Argumentationsstruktur, und andererseits durch seine Rechtfertigungsgrundlage die Möglichkeit, dass die politischen Grundprinzipien in die Rechtfertigungsstruktur der jeweiligen individuellen Weltanschauungen als Modul eingepasst werden können. 52 Rawls möchte mit dem Politischen Konstruktivismus also die drei Rechtfertigungsanforderungen des Politischen Liberalismus umsetzen. Auf diese Weise, so Rawls’ Argument, werde ein übergreifender Konsens (overlapping consensus) von Weltanschauungen möglich. 53 Und da neben der politischen Rechtfertigung die Prinzipien in der beschriebenen Weise auch zusätzlich aus den verschiedenen Weltanschauungen heraus gerechtfertigt werden können, ist dieser übergreifende Konsens nach Rawls sogar besonders stabil: Er führe nämlich zu Stabilität aus den richtigen Gründen (stability for the

Dies ist der bereits erwähnte Unterschied zwischen »pro tanto justification« – die rein politische Rechtfertigung, wie sie der Politische Konstruktivismus liefert – und der »full justification«, der Verankerung der Prinzipien in der Weltanschauung der jeweiligen Bürger (vgl. PL, 386 sowie oben, Abschn. 2.3.2 und 2.3.3). Vgl. hierzu auch Hinsch 1997c, 104–107. 53 Joshua Cohen definiert diesen übergreifenden Konsens konzise: »A society features an overlapping consensus on norms of justice if and only if it is a morally pluralistic society with a consensus on norms of justice in which citizens holding the different moralities that win adherents and persist over time in the society each support the consensual norms as the correct account of justice« (1993, 270). Zum übergreifenden Konsens bei Rawls, s. auch Höffe 2015d. 52

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right reasons): »Stability is secured by sufficient motivation of the appropriate kind« (PL, 142 f.).

2.4.5 Eie Methode der Vermeidung Zusammenfassend lässt sich John Rawls’ Umsetzung des Projekts des Politischen Liberalismus als eine argumentative Ausgestaltung der Grundannahme verstehen, dass es »Bürden der Urteilskraft« gibt, die, wenn die menschliche Vernunft ungehindert nachdenken darf, zur Ausbildung unterschiedlicher Weltanschauungen führen. Die Anerkennung dieser Bürden und ihrer Implikationen beinhaltet für Rawls das von mir als normativen Kern seiner Theorie bezeichnete Kriterium der Wechselseitigkeit. Es bildet die normative Grundlage für das liberale Legitimitätsprinzip ebenso wie für den Begriff des »Vernünftigen«. Rawls’ Umsetzung ist von einem großen Respekt gegenüber den verschiedenen Weltanschauungen getragen, deren Integrität so weit wie möglich erhalten werden soll. Daher bezeichnet er sein argumentatives Vorgehen auch als eine »Methode der Vermeidung« (method of avoidance). Als solche lässt sie philosophische Kontroversen, wo immer möglich, beiseite: »The hope is that, by this method of avoidance, as we might call it, existing differences between contending political views can at least be moderated, even if not entirely removed, so that social cooperation on the basis of mutual respect can be maintained« (1985, 395). 54 Die Methode der Vermeidung klammert also konfliktträchtige philosophische Fragen ein, wenn eine entsprechende Entscheidung für die Zwecke des Politischen Liberalismus nicht unbedingt notwendig ist. 55 Wo immer sie kann, positioniert sie sich »agnostisch« (Galvin 2011, 24). Die Pointe der Methode der Vermeidung besteht daher Rainer Forst erläutert: »Die ›Methode der Vermeidung‹ […] umgeht den ethischmetaphysischen ›Kampf der Götter und Dämonen‹ (Max Weber) und beschränkt sich auf die Grundbegriffe, die unhintergehbar sind, wenn es um die Begründung von Prinzipien einer pluralistischen und doch wohlgeordneten Gesellschaft unter freien und gleichen Bürgern geht« (Forst 1997, 401 f.). Zu einer kritischen Diskussion der Methode der Vermeidung, s. Höffe 2013c, 249–254. 55 Vgl. auch Samuel Freemans Diagnose: »Political constructivism leaves open (›brackets‹) philosophical questions about the real origins of moral principles and their ultimate epistemic status« (Freeman 2007a, 9). 54

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Ergebnis

darin, »die Theorie zu stärken, indem sie abgeschwächt wird« (Forst 1997, 402). In dieser Weise möchte Rawls seine Theorie verstanden wissen als die »Anwendung des Toleranzprinzips auf die Philosophie selbst« (vgl. PL, 10 u. 1985, 395). 56

2.5 Ergebnis Dieses Kapitel hat das Projekt des Politischen Liberalismus vorgestellt, drei Anforderungen identifiziert, die der Politische Liberalismus an die Begründung von Gerechtigkeitsprinzipien für eine pluralistische Gesellschaft stellt, und Rawls’ argumentative Umsetzung dieses Projekts in seinen Grundzügen dargestellt. Das Projekt des Politischen Liberalismus zeichnet sich dadurch aus, dass es die Rechtfertigungsproblematik des gesellschaftlichen Pluralismus anerkennt und in der Theoriebildung berücksichtigen möchte. John Rawls gilt als Begründer dieses Projekts; später haben sich auch weitere Autoren diesem Projekt angeschlossen. Diese Denker verstehen den Politischen Liberalismus als eine Erneuerung des liberalen Denkens, die den Pluralismus und seine Implikationen in gebührender Weise begründungstheoretisch ernst nimmt. Das Projekt nimmt seinen Ausgang in der Forderung, »politisch, nicht metaphysisch« zu begründen. Daraus lassen sich, wie ich gezeigt habe, drei Anforderungen ableiten. Ihnen zufolge muss eine dem gesellschaftlichen Pluralismus angemessene Rechtfertigung (1) freistehend sein, (2) sie soll als vollständige Rechtfertigung aufweisen können, inwiefern ihrer Rechtfertigungsgrundlage verschiedene Weltanschauungen zustimmen können, und (3) sie muss dem begründungstheoretischen Prinzip eines »Vorrangs des Rechten« entsprechen. In John Rawls’ eigener argumentativer Umsetzung des Projekts, deren systematische Grundlage die Konzepte der »Bürden der UrRawls betont in seiner Erläuterung hierzu, dass er das Ziel seines Politischen Liberalismus als »praktisch« verstanden wissen will: »it presents itself as a conception of justice that may be shared by citizens as a basis of reasoned, informed, and willing political agreement. It expresses their shared and public political reason. But to attain such a shared reason, the conception of justice should be, as far as possible, independent of the opposing and conflicting philosophical and religious doctrines that citizens affirm. In formulating such a conception, political liberalism applies the principle of toleration to philosophy itself« (PL, 9 f.).

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teilskraft«, des »Vernünftigen« und des »Kriteriums der Wechselseitigkeit« bilden, wird deutlich, wie er sich bemüht, den drei Anforderungen gerecht zu werden. Dabei kommt dem Politischen Konstruktivismus die eigentliche Rechtfertigungsleistung zu. Denn er ist Rawls’ für den Bereich des Politischen konzipierte Rechtfertigungsmethode, die für alle Weltanschauungen wohlbegründet sein und den »Vorrang des Rechten« sicherstellen soll. Dieses Theoriestück ist es also, an dem sich entscheidet, ob es Rawls’ gelingt, die Anforderungen des Politischen Liberalismus erfolgreich umzusetzen und damit eine Rechtfertigung zu entwickeln, die die Rechtfertigungsaufgabe des gesellschaftlichen Pluralismus zufriedenstellend erfüllt.

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3. Konstruktivismus und Rechtfertigung

3.1 Der Politische Liberalismus als Rechtfertigungsprojekt Während das erste Kapitel dazu diente, einen geeigneten Grundbegriff zur Beschreibung des gesellschaftlichen Pluralismus zu bestimmen, habe ich auf der Grundlage dieses Begriffs, dem der Weltanschauung, im zweiten Kapitel das Projekt des Politischen Liberalismus in seinen Grundzügen umrissen. Die Anhänger des Politischen Liberalismus verstehen ihre Theorien als pluralismussensibilisierte Aktualisierungen des traditionellen liberalen Denkens. Sie legen großen Wert darauf, dass auch liberale Grundprinzipien zunächst nur Ausdruck einer bestimmten Weltanschauung sind. Diese Grundprinzipien sollten daher nicht als selbstverständlich oder »intuitiv« plausibel vorausgesetzt werden, sondern bedürfen ihrerseits der Rechtfertigung. Der Politische Liberalismus möchte dies leisten, indem er sich von vornherein auf den »Bereich des Politischen« beschränkt – den Bereich, in dem eine weltanschauungsübergreifende Einigung auf normative Prinzipien nötig ist – und für diesen Bereich eine Rechtfertigung entwickelt, der alle Bürger aus ihren verschiedenen Weltanschauungen in einem übergreifenden Konsens zustimmen können. Der Politische Liberalismus versteht sich also als ein Rechtfertigungsprojekt: Der Pluralismus erfordere eine neue, zumindest eine modifizierte Rechtfertigung, da die Plausibilität der normativen Ausgangspunkte nicht mehr als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann. Dies tritt, wie ich dargelegt habe, deutlich hervor, wenn man den gesellschaftlichen Pluralismus als einen Pluralismus von Weltanschauungen versteht. 1 Denn handelte es sich beim gesellschaftlichen Pluralismus z. B. schlicht um einen Pluralismus des Guten, wäre es möglich, weiterhin noch von einem in der Gesellschaft vorhandenen moralischen Konsens auszugehen (vgl. oben, Abschn. 1.3). Eine

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John Rawls ist nicht nur der Wegbereiter des Politischen Liberalismus, er hat darüber hinaus eine umfassende Rechtfertigungstheorie entwickelt, mit der er das Projekt umsetzen will. Seine diesbezüglichen Überlegungen finden sich in ihrer endgültigen Form in Political Liberalism. Wie schon erwähnt (vgl. Abschn. 2.2) geht es Rawls in diesem Werk nicht primär darum, seine eigene Gerechtigkeitstheorie »Justice as Fairness« pluralismustauglich zu machen. Vielmehr stellt der Autor zwar klar, dass er diese Theorie noch immer vertritt (s. PL, 4–7), möchte aber in Political Liberalism eine andere Frage angehen: »Our topic, however, is political liberalism and its component ideas, so that much of our discussion concerns liberal conceptions more generally, allowing for all variants« (PL, 7). Der inhaltliche Schwerpunkt von Political Liberalism liegt in der Entwicklung einer Rechtfertigungstheorie, die eine »politische Gerechtigkeitskonzeption« (political conception of justice) begründet – dies mag dann diejenige aus der Theory sein oder eine andere (vgl. PL, 11). Wir befinden uns also im Diskussionsrahmen von Political Liberalism auf einer anderen Ebene als in der Theory: Gemäß dem Programm des Politischen Liberalismus will Rawls die Frage beantworten, wie sich Bürger mit unterschiedlichen Weltanschauungen angesichts der Herausforderung des Pluralismus auf eine politische Gerechtigkeitskonzeption einigen können. Auf diese »Grundfrage« (»fundamental question«; PL, 3 f.) soll die Rechtfertigungstheorie in Rawls’ Politischem Liberalismus die Antwort liefern: der »Politische Konstruktivismus« (political constructivism). 2 In diesem Kapitel wird dieser Politische Konstruktivismus im Zentrum stehen. Da er als Rechtfertigungstheorie versucht, die Anforderungen, die der Politische Liberalismus an pluralismussensibilisierte Begründungen stellt (vgl. Abschn. 2.3), umzusetzen, entscheiAnalyse des gesellschaftlichen Pluralismus als eines Pluralismus des Guten verkennt also in den Augen des Politischen Liberalismus die Grundsätzlichkeit der Herausforderung, vor die der Pluralismus die politische Philosophie stellt. 2 Ein weiterführendes Argument, welchen Inhaltes diese politische Gerechtigkeitskonzeption sein wird, liefert Rawls in Political Liberalism nicht. Rawls’ 2001 erschienenes kurzes Werk Justice as Fairness. A Restatement kann als Versuch verstanden werden, ein Argument nachzuliefern, warum »Justice as Fairness« ein besonders aussichtsreicher Kandidat für eine solche politische Gerechtigkeitskonzeption ist. Bedauerlicherweise war Rawls zu dem Zeitpunkt nicht mehr in der Lage, das Buch in der geplanten Weise umzusetzen, weswegen das Argument dort skizzenhaft bleibt – hierin liegt vermutlich auch einer der Gründe, warum dieses Werk in der Debatte allenfalls einen tertiären Rang einnimmt.

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Der Politische Liberalismus als Rechtfertigungsprojekt

det sich hier die Frage, ob und inwieweit Rawls’ Variante des Politischen Liberalismus das sich selbst gesetzte argumentative Ziel erreicht. 3 Der Konstruktivismus als Rechtfertigungsmethode hat seit seiner Einführung durch John Rawls (1980), auf den dieser Ausdruck zurückgeht, in der praktischen Philosophie viel Aufmerksamkeit erfahren. Ich werde daher zunächst einen Überblick über diese Debatte geben und daran die Kernelemente des Konstruktivismus herausstellen (Abschn. 3.2). Auf diesem Überblick aufbauend werde ich anschließend drei Grundformen des Konstruktivismus identifizieren, die sich jeweils im Hinblick auf die Grundlage der Konstruktion unterscheiden (Abschn. 3.3): Während ein prudentieller Konstruktivismus seine Prinzipien in einer Klugheitsregel, einem hypothetischen Imperativ, verankert, sucht ein wertbasierter Konstruktivismus die Grundlage der Konstruktion in einem fundierenden Wert. Ein kohärenztheoretischer Konstruktivismus schließlich rechtfertigt seine Prinzipien dadurch, dass sie mit unseren Überzeugungen im Überlegungsgleichgewicht korrelieren. Diese Taxonomie der in der gegenwärtigen Debatte vertretenen Formen des Konstruktivismus erlaubt es, Rawls’ Politischen Konstruktivismus in seiner Argumentationsstruktur einer Detailanalyse zu unterziehen (Abschn. 3.4) und anschließend auf seine Rechtfertigungsgrundlage hin zu befragen (Abschn. 3.5): Welcher Grundform des Konstruktivismus entspricht der Politische Konstruktivismus, und ist er dadurch in der Lage, der Herausforderung des Pluralismus angemessen begegnen zu können? Ich werde dafür argumentieren, dass mit guten Gründe bezweifelt werden kann, dass es Rawls’ Politischem Konstruktivismus geAngesichts dieser zentralen argumentativen Stellung, die dem Politischen Konstruktivismus in Rawls’ Pluralismus-Theorie zukommt, erstaunt es, dass einige Interpreten, vermutlich aufgrund einer vornehmlichen Fokussierung auf die Theory, in der dieser Begriff noch fehlt, in ihren Gesamtdarstellungen den Politischen Konstruktivismus kaum für erwähnenswert halten. So findet sich der Begriff etwa nicht einmal im Sachregister der Einführung zu John Rawls von Percy Lehning (2009), und auch Samuel Freeman, der die seitenstärkste Monographie zu Rawls’ Werk verfasst hat, widmet sich hinsichtlich des Konstruktivismus fast ausschließlich dem »Kantian Constructivism« und nicht dem Politischen Konstruktivismus (vgl. Freeman 2007a, Kap. 7). Andere Interpreten wie Onora O’Neill (1988, 1997 und 2003b), Thomas Pogge (1994, Kap. 8), Wilfried Hinsch (1997b), Rainer Forst (1997), T. M. Scanlon (2003), Thomas Hill (2012 und 2013) und Dirk Brantl (2015) weisen gleichwohl auf die Bedeutung des Politischen Konstruktivismus für Rawls’ Argument hin. 3

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lingt, auf die selbstgesetzte Aufgabe zufriedenstellend zu antworten: Während er zwar eine überzeugende freistehende Rechtfertigungstheorie entwickelt und damit die erste Anforderung des Politischen Liberalismus erfüllen kann, gerät er wegen seiner Rechtfertigungsgrundlage in Schwierigkeiten, besonders hinsichtlich der zweiten und dritten im letzten Kapitel unterschiedenen Anforderungen.

3.2 Konstruktivismus in der praktischen Philosophie Der Ausdruck »Konstruktivismus« bezeichnet in der praktischen Philosophie eine Rechtfertigungsmethode, die normative Prinzipien als Ergebnis einer Konstruktionsprozedur konzipiert: Ein bestimmtes Prinzip ist dann richtig, wenn gezeigt werden kann, dass Akteure in einer idealisierten, hypothetischen Entscheidungssituation diesem Prinzip zustimmen würden. 4 Dabei postuliert der Konstruktivismus einen Begründungszusammenhang zwischen den (a) Prinzipien, der (b) Prozedur und den (c) Grundlagen dieser Prozedur: Die (a) Prinzipien sind richtig bzw. wohlbegründet, weil (b) ihnen Akteure in einer Entscheidungssituation zustimmen würden, (c) die auf eine bestimmte Weise (idealisiert, hypothetisch) modelliert ist. 5

Es gibt in der Literatur zahlreiche Definitionen des Konstruktivismus. Die einflussreichste stammt von Stephen Darwall, Allan Gibbard und Peter Railton: »the constructivist is a hypothetical proceduralist. He endorses some hypothetical procedure as determining which principles constitute valid standards of morality. [He] maintains there are no moral facts independent of the finding that a certain hypothetical procedure would have such and such an upshot« (Darwall/Gibbard/Railton 1997, 13). Weitere hilfreiche Begriffsbestimmungen finden sich bei Bagnoli 2011 und ShaferLandau/Cuneo 2007; einen Überblick über die Debatte vermittelt ebenfalls Bagnoli 2011, sowie die Beiträge in Lenman/Shemmer 2012a und Bagnoli 2013a. Dort finden sich auch Bibliographien zur gegenwärtigen Debatte, wobei diejenige in Lenman/ Shemmer (2012a, 243–250) die umfassendere ist. Eine digitale Bibliographie, die regelmäßig aktualisiert wird und auch die deutschen Veröffentlichungen berücksichtigt, hat Jörg Schroth angelegt: www.ethikseite.de/bib/bkonstru.pdf. 5 Vgl. zu diesem Begründungszusammenhang auch Thomas E. Hills Zusammenfassung: »The basic constructivist idea for ethics is to regard first-order moral principles as […] valid or justifiable for the intended domain just in case and because they would be endorsed by all members of an appropriately defined initial choice situation (Hill 2012, 78; Hervorh. i. Orig.). 4

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3.2.1 Konstruktivismus und Vertragstheorie Wie dieses Argumentationsmuster bereits vermuten lässt, steht der Konstruktivismus in der langen Tradition der Vertragstheorie bzw. des Kontraktualismus. Denn in der Vertragstheorie bildet ebenfalls die hypothetische Zustimmung das entscheidende Rechtfertigungskriterium. 6 Der Konstruktivismus versucht, diesen Kerngedanken der Vertragstheorie auf eine höhere Abstraktionsebene zu heben: Anstatt für die Notwendigkeit zu argumentieren, aus dem Naturzustand heraus und in eine nach bestimmten Regeln organisierte politische Gesellschaft einzutreten, wie es die klassische Vertragstheorie (etwa bei Hobbes, Locke und Kant) unternahm, möchten die Vertreter des Konstruktivismus eine formale Rechtfertigungstheorie liefern, die angibt, wann ein normatives Prinzip als gerechtfertigt angesehen werden darf. 7 Diese im Gegensatz zur klassischen Vertragstheorie formalere Ausrichtung bezieht sich insbesondere auf zwei Bereiche. Erstens ist der Konstruktivismus nicht auf eine bestimmte inhaltliche normative Konzeption – also auf substantielle Moralprinzipien – festgelegt. Er beschreibt lediglich eine Rechtfertigungsmethode. Um diesen Unterschied abzubilden, spricht man in der Debatte von meta-ethischem und normativem Konstruktivismus (vgl. Bagnoli 2011): Ersterer bezieht sich auf meta-ethische Fragen der Rechtfertigung, während letzterer substantielle normative Prinzipien konstruiert. 8 Vgl. zum hier zugrunde gelegten Verständnis der Vertragstheorie: »Als Vertragstheorien bezeichnet man moral-, sozial-, und politikphilosophische Konzeptionen, die die moralischen Prinzipien menschlichen Handelns, die rationale Grundlage der institutionellen gesellschaftlichen Ordnung und die Legitimationsbedingungen politischer Herrschaft in einem hypothetischen, zwischen freien und gleichen Individuen in einem wohldefinierten Ausgangszustand geschlossenen Vertrag erblicken und damit die allgemeine Zustimmungsfähigkeit zum fundamentalen normativen Gültigkeitskriterium erklären. Vertragstheorien basieren wie die ihnen eng verwandten Konsenstheorien auf einem rechtfertigungstheoretischen Prozeduralismus« (Kersting 2006b, 163). S. zur Vertragstheorie auch konzise Höffe 1999, 48–53, sowie Kersting 1994 und die von Stephen Darwall (2003) herausgegebene Anthologie. 7 Erstaunlicherweise gibt es bislang wenige Untersuchungen über den genauen Zusammenhang dieser beiden Theorieformen. Eine, wenngleich in ihren Schlussfolgerungen nur sehr skizzenhaft bliebende Ausnahme bildet O’Neill 2003a. 8 Während die meta-ethische Debatte um den Konstruktivismus zahlreiche Veröffentlichungen hervorgebracht hat, ist der moralische Konstruktivismus nicht in derselben Weise erörtert worden. Wichtige zeitgenössische Vertreter sind T. M. Scanlon (1998) sowie Thomas Hill. Letzterer nimmt sich explizit folgender Frage an: 6

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Zweitens ist der Konstruktivismus, im Unterschied zur klassischen Vertragstheorie, nicht von vornherein eine Theorie der Staatslegitimation. Die Konstruktion kann zwar (politische) Gerechtigkeitsprinzipien zum Gegenstand haben, aber alternativ auch Moralprinzipien oder normative Prinzipien für einen bestimmten Teilbereich. 9 Sie kann sogar den gesamten Bereich der praktischen Gründe umfassen. In der Debatte hat sich hierfür die Unterscheidung von »lokalem« (local) bzw. »globalem« (global) Konstruktivismus eingebürgert: Während sich ein lokaler Konstruktivismus auf einen normativen Teilbereich beschränkt, möchte ein globaler Konstruktivismus Prinzipien für den Gesamtbereich des Normativen formulieren. 10

3.2.2 Konstruktivismus und Meta-Ethik Das Bedürfnis der einschlägigen Autoren, die klassische Vertragstheorie in dieser Weise zu modifizieren, dürfte sich insbesondere auf die Bedeutung zurückführen lassen, die meta-ethische Diskussionen in der praktischen Philosophie des 20. Jahrhunderts einnehmen. Und eben hier, in den Debatten der Meta-Ethik, möchte der Konstruktivismus eine vielversprechende Neuerung einbringen: Lange Zeit war die Meta-Ethik in ihren Positionen in zwei Lager gespalten: Während die einen Autoren einen moralischen Realismus vertraten, verneinten die anderen jegliche Objektivität moralischer Prinzipien und plädierten für einen subjektivistischen Relativismus. 11 »What would constructivism be like if it were designed for ethical, not just political questions, if it remained (as far as possible) metaethically noncommittal, and if it drew appropriately from both Kant and Rawls?« (2012, 73). 9 Diese Unterscheidung erwähnt auch Rawls: »Each time the constructivist procedure is modified to fit the subject in question. […] Its authority rests on the principles and conceptions of practical reason, but always on these as suitably adjusted to apply to different subjects as they arise« (Rawls 1993b, 530). 10 James Lenman und Yonatan Shemmer verweisen in der Einleitung zu ihrem Sammelband auf diese Unterscheidung: »The more local forms of constructivism may be understood as seeking to construct some of the judgements constitutive of some proper subset of the normative domain, such as justice or morality, using materials found elsewhere in the practical point of view. Some contemporary constructivists about practical reason have sought to defend a global form of constructivism applicable to the whole normative domain« (Lenman/Shemmer 2012b, 3). 11 Einen Überblick über den auf G. E. Moore und W. D. Ross zurückgehenden mora-

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Der Streit dreht sich dabei insbesondere um die Frage, ob moralische Prinzipien ihren allgemein verbindlichen, objektiven Charakter, den sie in unseren Alltagsaussagen zu haben scheinen, tatsächlich besitzen oder nicht. Dem moralischen Realismus zufolge existieren moralische Werte in der Welt, analog zu natürlichen Tatsachen, und wie jene sind auch die moralischen Werte für Menschen erkennbar. Entsprechen moralische Überzeugungen diesen Werten, so sind sie korrekt; moralische Realisten sprechen hierbei oft von Wahrheit: »Wahr sind dem moralischen Realismus zufolge diejenigen moralischen Urteile, die moralische Tatsachen zutreffend beschreiben, wobei moralische Tatsachen unabhängig von Meinungen über sie bestehen« (Schmidt 2006, 49). Die moralischen Werte existieren dieser Auffassung zufolge also vom Menschen unabhängig und sind, in der ein oder anderen Weise, Teil des natürlichen Aufbaus der Welt. Damit besitzen sie objektive Gültigkeit: sie sind allgemein verbindlich – worum wir Menschen uns vorrangig kümmern müssen, ist, sie korrekt und möglichst fehlerfrei zu erkennen. Diese Position, die ihren Ursprung im naturwissenschaftlich geprägten Weltbild der Wende zum 20. Jahrhundert hat, wurde im Laufe der Jahrzehnte vielfach kritisiert. Die einflussreichsten Reaktionen darauf sind zum einen die Entwicklung subjektivistischer »Gegentheorien«, dem Emotivismus und anderen non-kognitiven meta-ethischen Positionen, 12 sowie zum anderen die von vielen als vernichtend wahrgenommene Kritik am moralischen Realismus durch John Leslie Mackie (1977). 13

lischen Realismus bieten Schmidt 2006 und Sayre-McCord 2015; einflussreiche gegenwärtige Vertreter sind David Brink (1989) und Russ Shafer-Landau (2003). Für eine Zusammenfassung der Eigenschaften des moralischen Realismus, die Rawls als wesentlich erachtet, s. PL, 91 f. 12 Eine klare Definition dieser Theorien liefert Mark van Roojen: »Non-cognitivists think that moral statements have no substantial truth conditions. Furthermore, according to non-cognitivists, when people utter moral sentences they are not typically expressing states of mind which are beliefs or which are cognitive in the way that beliefs are. Rather they are expressing non-cognitive attitudes more similar to desires, approval or disapproval« (van Roojen 2013). 13 Vgl. zum Realismus und der Kritik daran auch den unterhaltsamen meta-ethischen Dialog von Michael Smith (2004). Für eine Übersicht über die in der Debatte vertretenen Positionen s. van Roojen 2013, zum Relativismus s. konzise Rippe 2006 u. Baghramian/Carter 2015. Die Herausforderung des Pluralismus

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Diese Situation wird oft als ein Dilemma beschrieben: Entweder eine Theorie hält, wie der moralische Realismus, an der Objektivität moralischer Aussagen fest. Dann gerät sie aber in schwere meta-ethische Probleme wenn sie erklären muss, wie diese Objektivität zustande kommt. Oder aber man erteilt der universellen Verbindlichkeit moralischer Aussagen eine Absage, indem man Normativität als »menschengemacht« und subjektiv versteht, wie es die verschiedenen Varianten des meta-ethischen Relativismus tun. 14 Zu diesem Dilemma – entweder objektive Gültigkeit oder eine plausible Erklärung des Ursprungs der Moral – möchte nun der Konstruktivismus eine Lösung anbieten: Moralische Aussagen können ihm zufolge ihren objektiven Verbindlichkeitscharakter beibehalten und zugleich als »menschengemacht« erklärt werden. So vermeidet der Konstruktivismus die Erklärungsnöte des moralischen Realismus, ohne damit die Objektivität der Moral in Frage zu stellen. Und er übernimmt die plausible Annahme des Relativismus, dass die Moral von den Menschen abhängt, ohne die subjektivistische Schlussfolgerung des Relativismus akzeptieren zu müssen: »Ethical constructivism […] holds that, although realist underpinnings are unobtainable, (some) objective, action-guiding ethical prescriptions can be justified« (O’Neill 2003a, 320). 15 Gegenüber dem Realismus vertritt der Konstruktivismus die These, dass normative Objektivität keine »moralischen Tatsachen« erfordert: Die Gültigkeit wird hier zurückgeführt auf eine hypothetische Konstruktionsprozedur in einer idealen Entscheidungssituation.

Diese Eigenschaften des Relativismus werden von Klaus Peter Rippe auf den Punkt gebracht: »Der Relativismus vertritt die These, dass nichts einfach moralisch gut oder moralisch richtig ist, sondern dass alles nur für eine Person, eine Gesellschaft, eine moralische Tradition, eine Epoche oder einen Ethos moralisch gut oder moralisch richtig ist. Ein ethischer Relativist bestreitet damit nicht nur die Wahrheitsfähigkeit moralischer Aussagen, wie sie etwa von ethischen Realisten behauptet wird, sondern auch, dass es moralische Urteile gibt, die gegenüber jedem verteidigt werden können. Es gibt keine universell gültigen moralischen Urteile« (Rippe 2006, 498). 15 In einem anderen Aufsatz führt O’Neill diesen Punkt noch aus: »Constructivisms are distinctive among antirealist ethical positions, not only in claiming that ethical principles or claims may be seen as the constructions of human agents but in two further ways. They also claim that constructive ethical reasoning can be practical – it can establish practical prescriptions or recommendations which can be used to guide action – and that it can justify those prescriptions or recommendations: objectivity in ethics is not illusory« (O’Neill 2003b, 348; Hervorh. i. Orig.). 14

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Und gegen den Relativismus zeigt er, dass es durchaus objektive Verbindlichkeit ohne realistische Fundierung geben kann. So stellt der Konstruktivismus seinem Selbstverständnis nach eine attraktive Zwischenposition zwischen Realismus und Relativismus dar: Sein Kerngedanke »besagt, dass es keine objektive oder irgendwie andere geltende Werteordnung gibt, die dem Rechtfertigungsverfahren vorausginge. Als moralisch gültig angesehen werden nur die Normen, die dieses Verfahren erfolgreich durchlaufen können« (Forst 2007, 81). 16 Während dem Konstruktivismus ein hohes Maß an intuitiver Plausibilität zukommt – die Moral ist »menschengemacht«, ihre Prinzipien haben dennoch objektive Verbindlichkeit –, teilt er zugleich das Schicksal vieler Mittelwege: Er betont zwar die Übernahme der plausiblen Anteile seiner beiden Opponenten, aber es bleiben Unklarheiten bestehen, sowohl dahingehend, ob er wirklich ohne eigene kontroverse Elemente auskommen kann, als auch hinsichtlich der grundsätzlicheren Frage, inwieweit er tatsächlich eine eigenständige Alternative darstellt. 17

3.2.3 Die Einführung des Ausdrucks durch Rawls Der Konstruktivismus als Rechtfertigungsmethode in der praktischen Philosophie ist, wie bereits erwähnt, eine relativ junge Theorie: Der Namensgeber ist John Rawls, der in seinem 1980 erschienenen AufIn Carla Bagnolis Deutung des Ausdrucks der »Konstruktion« tritt das Selbstverständnis des Konstruktivismus als Zwischenposition deutlich hervor: »The metaphor of construction […] is typically deployed in contrast to the metaphor of discovery, which suggests that there are independent moral truths to be discovered; at the same time, it is also deployed in contrast to the metaphor of creation, as the process of construction is not itself arbitrary or unconstrained« (Bagnoli 2013b, 1). 17 Vgl. hierzu die programmatische Feststellung bei Onora O’Neill: »Somewhere in the space between realist and relativist accounts of ethics there is said to be a third, distinct possibility. One such position, allegedly both anti-realist and anti-relativist, is John Rawls’ ›Kantian Constructivism‹. […] critics doubt whether he has found any stable third possibility. On closer inspection, they suspect, every elaboration of the theory depends either on unvidicated transcendent moral claims or on the actual ethical beliefs of some society« (O’Neill 1988, 1). Ebenso argumentiert Russ Shafer-Landau in seinem einflussreichen Buch Moral Realism. A Defence (2003) dafür, dass der Konstruktivismus entweder in den Relativismus kollabiere, oder aber eine Variante des moralischen Realismus voraussetzen müsse. 16

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satz »Kantian Constructivism in Moral Theory« den Ausdruck einführte. 18 Rawls möchte mit diesem Begriff eine bestimmte Form von Moraltheorie beschreiben, die dem Utilitarismus, dem Perfektionismus und dem Intuitionismus als bislang wenig beachtete Alternative entgegenstehe (Rawls 1980, 515). Wichtigster historischer Vertreter einer solchen konstruktivistischen Moraltheorie sei Immanuel Kant. 19 In seinem wegweisenden Aufsatz verfolgt Rawls ein doppeltes Ziel: Zum einen diskutiert er einige Einwände, die Kritiker seit dem Erscheinen von A Theory of Justice (1971) vorgebracht haben, und zum anderen möchte er verdeutlichen, in welchem Sinn er seine Gerechtigkeitstheorie in der Tradition Kants sieht. 20 Rawls geht es insbesondere darum zu zeigen, inwiefern »Justice as Fairness« als ein »Kantianischer Konstruktivismus« (Kantian constructivism) verstanden werden könne. Er trifft daher in dem Text kaum allgemeine Aussagen über die Theorieform des Konstruktivismus, sondern konzentriert sich darauf, seine eigene Variante zu präsentieren. Diese verfahre folgendermaßen: »it specifies a particular conception of the person as an element in a reasonable procedure of construction, the outcome of which determines the content of the first principles of justice« (1980, 516). Die grundlegende Idee sei, durch eine Konstruktionsprozedur eine begründungstheoretische Verbindung zwischen dem Personenbegriff und den Gerechtigkeitsprinzipien herzustellen (ebd.). In dieser Textpassage treten die drei Stufen anschaulich hervor, die die Kernelemente jeder konstruktivistischen Theorie ausmachen: Es gibt (1) das Ergebnis der Konstruktion (hier: »first principles of Zur Rolle des Konstruktivismus in John Rawls’ Werk, s. O’Neill 2003b und Freeman 2007a, Kap. 7. 19 Rawls erläutert: »the Kantian form of constructivism is much less well understood than other familiar traditional moral conceptions, such as utilitarianism, perfectionism, and intuitionism. I believe that this situation impedes the advance of moral theory. Therefore, it may prove useful simply to explain the distinctive features of Kantian constructivism, to say what it is, as illustrated by justice as fairness, without being concerned to defend it« (1980, 515). 20 Bei den in diesem Aufsatz diskutierten Einwänden geht es besonders um die kommunitaristische Kritik an Rawls’ Personenbegriff: Rawls verstehe das Individuum als ein »unencumbered self« (Sandel 1981) und setze, ohne dies argumentativ zu begründen, in seinem Modell des Urzustands einen normativ aufgeladenen Personenbegriff voraus. Zur Verortung von Rawls’ Konstruktivismus in der Kantianischen Tradition s. O’Neill 1988. 18

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justice«), (2) die Konstruktionsprozedur (»a procedure of construction«) und (3) die Grundlage der Konstruktion (hier: »a particular conception of the person«). 21 Damit haben wir nicht nur die Kernelemente des Konstruktivismus vor Augen, sondern bereits auch ein Beispiel: In Rawls’ Kantianischem Konstruktivismus werden Gerechtigkeitsprinzipien durch eine Konstruktionsprozedur gerechtfertigt, die auf der Grundlage eines bestimmten Personenbegriffs modelliert wird: Rawls geht von freien und gleichen Personen aus, die »vernünftig« (reasonable) und »rational« (rational) sind. Dieser Personenbegriff bildet die Grundlage der Konstruktion. Darauf aufbauend entwirft Rawls eine Konstruktionsprozedur, die er den »Urzustand« (original position) nennt – eine Entscheidungssituation, in der die Akteure rein »rational« entscheiden, zugleich aber unter Bedingungen stehen, die den zweiten Personenaspekt, das »Vernünftige«, abbilden. 22 Schließlich wird argumentiert, dass sich die Akteure in einem solchen Urzustand auf bestimmte Gerechtigkeitsprinzipien einigen würden, die das Ergebnis der Konstruktion ausmachen. 23 Rawls’ Kantianischer Konstruktivismus stellt also einen Begründungszusammenhang zwischen einem Personenbegriff und normativen Prinzipien her, und zwar durch das Modell einer Konstruktion. Ist der Konstruktivismus erfolgreich, dann hat er gezeigt, warum bestimmte normative Prinzipien richtig und gerechtfertigt sind (vgl. Rawls 1980, 517). Die so begründeten Prinzipien sind objektiv gültig, ohne dass ein moralischer Realismus zugrunde gelegt würde. Dies betont Rawls dezidiert: »Kantian constructivism holds that moral objectivity is to be understood in terms of a suitably constructed social point of view that all can accept. Apart from the procedure of conVgl. zur Unterscheidung dieser drei Stufen auch die Beschreibung von Carla Bagnoli: »The metaphor of construction implies agents who do the constructing, materials for the construction, a method of procedure for carrying it out, and a plan« (Bagnoli 2013b, 1). 22 Diese Bedingungen umfassen einmal die Informationseinschränkungen durch den »Schleier des Nichtwissens« (veil of ignorance), sowie die symmetrische Positionierung der Akteure (im Sinne des Wortes »one person, one vote«). Vgl. hierzu ausführlicher Freeman 2007a, 300–306. 23 Vgl. hierzu auch die konzise Zusammenfassung von Thomas Hill: »The most striking feature of Rawls’s Kantian constructivism […] was […] its attempt to identify and support relevant moral principles by a procedure of construction together with certain conceptions of persons and society. This is what I take to be the distinctive feature of any broadly Kantian constructivim« (Hill 2012, 79; Hervorh. i. Orig.). 21

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structing the principles of justice, there are no moral facts« (ebd., 307). Die drei Kernelemente einer konstruktivistischen Theorie lassen sich auch in drei Fragen fassen: 24 (1) Die Frage nach dem Gegenstand der Konstruktion: Was wird konstruiert? Hier geht es darum, welche Art von normativen Prinzipien konstruiert werden soll – ob allgemeine Moralprinzipien, politische Gerechtigkeitsprinzipien, oder Prinzipien für einen moralischen Teilbereich, etwa im Sinne einer angewandten Bereichsethik. Für all diese Fälle kann der Konstruktivismus entsprechende Prinzipien formulieren. (2) Die Frage nach dem Vorgehen der Konstruktion: Wie wird konstruiert; auf welche Weise wird die Konstruktionsprozedur modelliert? Und schließlich (3) die Frage nach den Ausgangspunkten der Konstruktion: Was bildet die Grundlage der Konstruktionsprozedur? Während die Prozedur die Gültigkeit der Prinzipien nachweist, gibt die Grundlage der Prozedur Auskunft darüber, warum die Prinzipien normativ verbindlich sind. Denn sie liefert die Antwort darauf, warum wir die Konstruktionsprozedur selbst als korrekt erachten sollen: Da die Prinzipien ihre Gültigkeit durch die Konstruktionsprozedur erhalten, muss jetzt noch gezeigt werden, warum die Konstruktionsprozedur dergestalt ist, dass ihr der Personenkreis, für den sie die normativen Prinzipien als gerechtfertigt ausweisen will, zustimmen kann. Diese drei Fragen können freilich schwerlich dazu dienen, alle Detailfragen zu klären, die den Konstruktivismus als Moraltheorie betreffen. Sie geben aber eine erste Orientierung und erweisen sich als hilfreich, um einen vergleichenden Blick auf unterschiedliche Varianten des Konstruktivismus werfen zu können.

3.2.4 Der gegenwärtige Stand der Debatte Seit Rawls’ Einführung des Konstruktivismus-Ausdrucks in die Debatten der praktischen Philosophie hält dort die Auseinandersetzung mit dieser Theorieform an. Dabei lassen sich mindestens vier unterIn Political Liberalism fasst Rawls den Konstruktivismus ebenfalls unter drei Fragen zusammen, die inhaltlich den von mir formulierten Fragen entsprechen, in Rawls’ Fassung jedoch bereits auf seinen spezifischen Konstruktivismus hin formuliert sind: PL, 103 f.

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schiedliche Diskussionsstränge unterscheiden: In der Rawls-Interpretation wird erörtert, wie genau Rawls’ Konstruktivismus zu verstehen ist und welche argumentative Rolle er für Rawls’ Gerechtigkeitsund Pluralismustheorie hat (vgl. einschlägig O’Neill 1988). Daneben werden auch systematische Weiterentwicklungen des Konstruktivismus vorgenommen: Verschiedene Autoren haben seit den späten 1980er Jahren eigene Varianten des Konstruktivismus vorgestellt und in die Debatte eingebracht. Als besonders einflussreich haben sich dabei die Theorien von Onora O’Neill (1996), Christine Korsgaard (1996b), T. M. Scanlon (1998) und jüngst von Sharon Street (2008 u. 2010) erwiesen. Weiter gibt es zahlreiche Feindebatten in der Meta-Ethik über diverse Detailfragen des Konstruktivismus. Insbesondere das Selbstverständnis des Konstruktivismus, eine Alternative zu moralischem Realismus und non-kognitivistischem Subjektivismus zu liefern, steht hier zur Diskussion. 25 Und nicht zuletzt finden sich in der Kant-Forschung Autoren, die sich kritisch mit Rawls’ interpretativer These auseinandersetzen, Kant würde einen moralischen Konstruktivismus vertreten. 26 Rawls selbst hat zwei weitere Beiträge zum Konstruktivismus verfasst, die von den Debatten jedoch allenfalls marginal wahrgenommen wurden: In dem Aufsatz, der die Ergebnisse seiner Vorlesungen zu Kants praktischer Philosophie (vgl. Rawls 2000, 143– 328) zusammenfasst, in »Themes in Kant’s Moral Philosophy« (1989), konzentriert sich Rawls auf Kants Moralphilosophie und versucht, deren konstruktivistischen Charakter herauszustellen (vgl. hierzu auch Kap. 4 dieser Arbeit). Und in Political Liberalism (1993) entwickelt Rawls schließlich den Politischen Konstruktivismus, der die Rechtfertigungsarbeit für eine pluralistische Gesellschaft leisten soll, und der im weiteren Verlauf dieses Kapitels diskutiert werden wird (vgl. unten, Abschn. 3.4 u. 3.5). 27 Für einen Überblick, s. Bagnoli 2011 sowie die Beiträge in Lenman/Shemmer 2012a. Für eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Selbstverständnis: ShaferLandau 2003. 26 Eine Übersicht und kritische Einschätzung dieser Debatte findet sich bei Sensen 2013, vgl. auch Kap. 4 dieser Arbeit. 27 Es ist wichtig zu sehen, dass der Politische Konstruktivismus (political constructivism) nicht dieselbe Theorie ist wie das, was Rawls in seinem Aufsatz von 1980 als »Kantianischen Konstruktivismus« (Kantian constructivism) bezeichnet hat. Denn letzterer berücksichtigt den gesellschaftlichen Pluralismus noch nicht in der Weise, 25

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Zunächst jedoch möchte ich anhand von Beispielen aus der gegenwärtigen Debatte drei Grundformen unterscheiden, die der Konstruktivismus einnehmen kann. Diese Unterscheidung wird es ermöglichen, die Rechtfertigungsgrundlage von Rawls’ Politischem Konstruktivismus angemessen zu interpretieren.

3.3 Drei Grundformen des Konstruktivismus Ein Blick in die zahlreichen Veröffentlichungen zum Konstruktivismus lässt schnell erkennen, dass sich unter demselben Namen sehr verschiedene Theorien versammeln. Sie lassen sich, so möchte ich nun zeigen, in drei Grundformen unterscheiden. Während sich in allen konstruktivistischen Theorien eine Konstruktionsprozedur und konstruierte Prinzipien finden, unterscheiden sich die Theorien besonders hinsichtlich der Rechtfertigungsgrundlage, also der Frage nach dem »letzten Grund des Konstruktivismus« (Forst 2007, 14): Sollen wir den konstruierten Prinzipien zustimmen, weil die Konstruktionsprozedur so modelliert ist, dass sie im Einklang steht mit Prinzipien, die (a) unseren wohlüberlegten Urteilen entsprechen (kohärenztheoretischer Konstruktivismus), (b) auf einem fundamentalen Wert gründen (wertbasierter Konstruktivismus) oder (c) sich aus Klugheitsgründen nahelegen (prudentieller Konstruktivismus)? 28 Ich werde diese drei Grundformen jeweils anhand eines Vertreters darstellen. Dabei geht es mir nicht um eine systematische Bewertung der Theorien, sondern allein darum, die jeweilige Variante des Konstruktivismus deutlich zutage treten zu lassen.

wie Rawls es in Political Liberalism für angemessen hält (vgl. hierzu auch die Darstellung bei Freeman 2007a, Kap. 7, sowie konzise Forst 1997, 412–417). 28 Es gibt in der Debatte unterschiedliche Versuche, die konstruktivistischen Theorien zu gruppieren (für Alternativen, s. z. B. Bagnoli 2011 und Hill 2013). Eine besonders differenzierte Unterscheidung findet sich bei Russ Shafer-Landau, der die Theorien hinsichtlich des »Inputs« der Konstruktion unterscheidet, und zwar in Subjektivismus, Relativismus, Kantianismus und strategische Vertragstheorie (2003, 14). Angesichts dessen, dass der Subjektivismus üblicherweise nicht als Konstruktivismus gezählt wird, entspricht meine Unterscheidung weitestgehend derjenigen von ShaferLandau, wobei ich bedeutungsbeladene Bezeichnungen wie »Kantianisch« oder »contractarian« zu vermeiden suche. Zu Shafer-Landau s. auch Abschn. 5.2.4 dieser Arbeit.

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3.3.1 Prudentieller Konstruktivismus Onora O’Neill hat nicht nur maßgeblich zur Klärung des Konstruktivismus-Begriffs bei Rawls beigetragen (O’Neill 1988 u. 2003b), sie hat darüber hinaus eine eigene konstruktivistische Theorie systematisch in ihrem Werk Towards Justice and Virtue. A Constructive Account of Practical Reasoning (1996) ausgearbeitet. O’Neills an Kant angelehnter Konstruktivismus bezieht sich dabei nicht bloß, wie noch Rawls, auf die Konstruktion von Gerechtigkeitsprinzipien. Der Bereich, für den sie eine konstruktivistische Theorie entwirft, ist der Gesamtbereich praktischer Grundsätze. 29 In Onora O’Neills Konstruktivismus erfolgt die Konstruktion praktischer Grundsätze durch ein Prinzip, das, so die Autorin, in der menschlichen Vernunft immer schon vorhanden sei: »practical reasoning begins by requiring us to reject principles which we cannot view as principles for those for whom the reasoning is to count« (1996, 5 f.). Unsere praktische Vernunft erlege unserem Denken eine Universalisierungsprüfung auf: Grundsätze, die nicht für all jene gelten könnten, die von diesem Grundsatz betroffen wären, sollten abgelehnt werden. O’Neill plädiert damit für ein kritisches handlungsorientiertes Denken, das dem Grundsatz folgt: »reasoned action is informed by principles all in the relevant domain can follow« (ebd., 50). Dieses Prinzip erlaubt es auch, konkrete praktische Gründe zu konstruieren: Da es der menschlichen Vernunft inhärent sei, könne es jede Person jederzeit in ihrem Denken anwenden und mit seiner Hilfe zu konkreten Grundsätzen gelangen. 30 Die Konstruktionsprozedur kommt bei O’Neill einem negativen Test gleich: Prinzipien müssen abgelehnt werden, wenn sie nicht öffentlich kommuniziert

Für eine kritische Einschätzung und Auseinandersetzung mit O’Neills Konstruktivismus, s. Barry 2013 und Hill 2013. 30 Die Parallele zu Kants kategorischem Imperativ ist offensichtlich. Zugleich fokussiert sich O’Neill in der Ausgestaltung ihres Konstruktivismus weniger auf die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten als auf die Kritik der reinen Vernunft, dabei besonders auf Kants Idee des kritischen Vernunftgebrauchs, den O’Neill einer politischen Lektüre mit folgender Schlussfolgerung unterzieht: »The most fundamental principle for disciplining thought and action among any plurality is to reject principles for thought and action that cannot be shared. Reason’s authority is established recursively, rather than resting on secure foundations; this authority is only negative, yet it constrains thought and action« (O’Neill 1989a, 21). 29

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werden können, was die Voraussetzung dafür bildet, dass sie von allen geteilt werden könnten (vgl. auch Hill 2012, 80). Worin aber besteht nun die Grundlage der Konstruktion; warum sollen wir O’Neills Prinzip (in etwa: »lehne jedes Prinzip ab, das nicht als Prinzip für alle Betroffenen gelten kann«) anwenden und unserer Konstruktion praktischer Grundsätze zugrundelegen? O’Neills Antwort lautet: Wenn wir in einer Gemeinschaft mit anderen Menschen leben wollen, dann können wir nur solchen Gründen folgen, die von allen betroffenen Personen ebenfalls als gerechtfertigte Gründe angesehen werden können (vgl. O’Neill 1996, 3 sowie 48–65). 31 Dies bezeichnet sie als »kritischen Gebrauch« der Vernunft (critical use of reason). Und nur durch einen solchen sei es möglich, eine Gemeinschaft vernünftiger Personen dauerhaft aufrechtzuerhalten. 32 In O’Neills Variante liegt der Konstruktion also ein hypothetischer Imperativ zugrunde: Wenn ich in einer gleichwertigen Gemeinschaft mit anderen Personen leben möchte, dann muss ich entsprechende Prinzipien konstruieren. 33 Zwar ist das Konstruktionsprinzip nach O’Neill bereits in der praktischen Vernunft von Personen vorhanden (vgl. 1996, 6). Das heißt aber zunächst nur, dass es verfügbar ist, und nicht, dass jede Person es auch anwendet: Nur derjenige, der in der von O’Neill skizzierten Gemeinschaft mit anderen leben will, hat einen Grund, seine Handlungen an diesem Prinzip auszurichten und den Konstruktionsprozess zu durchlaufen. Dieser Form des Konstruktivismus liegt damit also ein Wunsch zugrunde, in einer entsprechenden Gemeinschaft mit anderen leben zu können. Ich möchte sie daher als prudentiellen Konstruktivismus bezeichnen, da es eine Klugheitsregel ist, die uns nahelegt, uns in den Konstruktionsprozess zu begeben. 34 Insofern es bei O’Neill um das Zusammenleben mit anderen in einer Gemeinschaft geht, könnte man ihre Form des prudentiellen Konstruktivismus näherhin auch als »sozial-prudentiell« qualifizieren. 32 Vgl. auch schon O’Neill 1988, wo sie die Grundzüge ihres Konstruktivismus bereits skizziert, dort aber noch lediglich auf Gerechtigkeitsprinzipien beschränkt und in Abgrenzung zu John Rawls formuliert: »The core of any such construction is the thought that there are certain constraints on the principles of action that could be adopted by all of a plurality of potentially interacting agents of whom we assume only minimal rationality and indeterminate mutual independence. Principles which cannot be acted on by all must be rejected by any plurality for whom the problem of justice arises« (O’Neill 1988, 13) 33 Vgl. zu dieser Interpretation von O’Neills Argument auch Sensen 2013, 77. 34 Man könnte zurückfragen, ob nicht der Bezug auf den kategorischen Imperativ und 31

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3.3.2 Wertbasierter Konstruktivismus Eine andere Strategie, die Rechtfertigungsgrundlage zu konzipieren, schlagen Christine Korsgaard (1996b und 2009) und T. M. Scanlon (1998) vor: Beide legen ihrer Konstruktionsprozedur einen fundamentalen Wert zugrunde. Dieser Variante des Konstruktivismus zufolge sollten wir den konstruierten Prinzipien zustimmen, weil die Konstruktionsprozedur auf einem bestimmten Wert beruht. Da Korsgaard und Scanlon gleichwohl sehr unterschiedliche Konstruktionsprozeduren entwickeln, möchte ich beide Theorien kurz skizzieren. Ebenso wie O’Neill will auch Korsgaard einen Konstruktivismus vorlegen, der im Vergleich zu Rawls näher bei Kant ist, und den gesamten Bereich der praktischen Gründe umfasst. Allerdings nimmt sie einen anderen argumentativen Weg als O’Neill. Korsgaard beginnt ihr Argument mit der Untersuchung der »reflektiven Struktur menschlichen Bewusstseins« (reflective structure of human consciousness). 35 Dieses Bewusstsein erfordere, dass wir uns mit bestimmten Gesetzen oder Prinzipien identifizieren, die dann unsere Handlungen bestimmen; in dieser Selbstgesetzgebung gründe die »Quelle« der Normativität (source of normativity; 1996b, 103 f.). Als reflektierende Wesen müssen wir uns Korsgaard zufolge stets überlegen, welche Handlungsalternative wir wählen wollen; unser Selbstbewusstsein nötige uns, nach Gründen zu handeln (»it forces us to act for reasons«; ebd., 113). Um in dieser Weise nach Gründen handeln zu können, so die Autorin, benötigen wir eine Vorstellung unserer eigenen praktischen Identität (practical identity).

die Universalisierung, die sie ja selbst auch anstrebt (vgl. 1996, 5 f. u. 50), O’Neills Konstruktivismus seines hypothetischen Charakters enthebe. Dies scheint aber tatsächlich nicht der Fall zu sein, da O’Neill den kategorischen Imperativ in seiner Kategorizität deutlich abschwächt: »The Categorical Imperative is only a strategy for avoiding principles of thinking, communicating and acting that canntot be adopted by all members of a plurality whose principles of interaction, let alone actual interaction (let alone coordination!), are not established by any transcendent reality. The supreme principle of reason does not flix thought or action in unique grooves; it only points to limits to the principles that can be shared« (O’Neill 1989, 24). 35 Diese reflektive Struktur beschreibt sie folgendermaßen: »human consciousness has a reflective structure that sets us normative problems. It is beacuse of this that we require reasons for action, a conception of the right and the good. To act from such a conception is in turn to have a practical conception of your identity« (Korsgaard 1996b, 122). Die Herausforderung des Pluralismus

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Denn da es sich um autonome Selbstgesetzgebung handelt, müssen wir es sein, die uns die praktischen Grundsätze selbst geben: »Practical conceptions of our identity determine which of our impulses we will count as reasons« (ebd., 129). Die Konstruktion jedes praktischen Grundsatzes muss also auf einer Konzeption praktischer Identität gründen. Während mehrere solche Identitäten möglich seien, identifiziert Korsgaard eine, die notwendigerweise allen weiteren Identitäten zugrunde liegen müsse; die »moralische Identität« (moral identity). 36 Zu dieser »moralischen Identität« gehört es in Korsgaards Darstellung wesentlich, dass wir den Wert der Menschheit (value of humanity) in uns anerkennen, und auch verstehen, dass jedem Menschen dieser Wert zukommt: »valuing humanity in your own person rationally requires valuing it in the persons of others« (ebd., 121). Es gibt demnach für Korsgaard einen grundlegenden Wert; den Wert der Menschheit. Wir können ihn aufgrund der reflektiven Struktur unseres Bewusstseins erkennen, und er ist der Wert, der allen anderen zugrunde liegt: »all value depends on the value of humanity« (ebd.). 37 Demzufolge müsse auch die »moralische Identität«, die sich aus der Anerkennung dieses Wertes für uns ergibt, allen weiteren praktischen Identitäten zugrunde liegen: »moral identity is what makes it necessary to have other forms of practical identity, and they derive part of their importance, and so part of their normativity, from it« (ebd., 129). In Korsgaards Konstruktivismus steht also ein »Wert der Menschheit« am Anfang der Konstruktionsprozedur: Wir müssen diesen Grundwert anerkennen, um die Konstruktion durchführen zu können. Da für Korsgaard dieser Wert grundlegend für alle Formen praktischer Identität ist – sie spricht von einem »transzendentalen« Argument (ebd., 123) –, würde ein Ablehnen dieses Wertes gravierende Konsequenzen nach sich ziehen: »morality […] springs from a form of identity which cannot be rejected unless we are prepared to reject practical normativity, or the existence of practical reasons, altogether« (ebd., 125). Wir müssen, so Korsgaard, diesen Grundwert an-

»Moral identity and the obligations it carries with it are […] inescapable and pervasive. Not every form of practical identity is contingent or relative after all: moral identity is necessary« (Korsgaard 1996b, 121 f.). 37 Vgl. auch: »we must value our humanity if we are to value anything at all« (Korsgaard 1996b, 130). 36

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erkennen, wenn wir überhaupt davon ausgehen wollen, dass wir nach Gründen handeln. 38 Hier ist nicht der Ort, um Korsgaards Thesen auf ihre Plausibilität und Stichhaltigkeit hin zu überprüfen. 39 Wichtig ist, dass ihre Theorie eine Variante des wertbasierten Konstruktivismus darstellt: Die Konstruktion geschieht mithilfe eines Prinzips, das sich das reflektive Bewusstsein selbst setzt, und zwar auf der Grundlage der Anerkennung des Grundwertes der Menschheit. Da diese Variante des Konstruktivismus ein hohes Maß an Komplexität besitzt, möchte ich noch ein weiteres Beispiel geben: T. M. Scanlons Theorie der »wohlbegründeten Zurückweisung« (reasonable rejection). Scanlons Konstruktivismus richtet sich auf den Bereich der Moral, den er identifiziert als Bereich dessen, »was wir einander schulden« (what we owe to each other: Scanlon 1998). Die Konstruktionsprozedur verläuft bei Scanlon, indem man in einer Situation mit moralischen Konsequenzen überprüft, ob der Handlungsgrund, den man verfolgen möchte, von einer der durch die beabsichtigte Handlung betroffenen Person wohlbegründet zurückgewiesen werden könnte (vgl. Scanlon 1982 und 1998, Kap. 4). Passiert ein Handlungsgrund diesen Test, so ist die Handlung moralisch zulässig. Durch das Prinzip der wohlbegründeten Zurückweisung können nicht nur einzelne Handlungen auf ihre moralische Zulässigkeit hin überprüft, sondern auch konkrete moralische Prinzipien konstruiert werden. Scanlon diskutiert das Lügeverbot, das Versprechen (beide: 1998, Kap. 7) und die Hilfspflicht (ebd., 224). 40 Das Prinzip der wohlbegründeten Zurückweisung selbst ist allerdings nicht konstruiert; es

Sie erläutert: »If you had no normative conception of your identity, you could have no reasons for action, and because your consciousness is reflective, you could then not act at all. Since you cannot act without reasons and your humanity is the source of your reasons, you must value your own humanity if you are to act at all. It follows from this argument that human beings are valuable. Enlightenment morality is true« (Korsgaard 1996b, 123). 39 S. zur Einschätzung Smith 1999 sowie die Kommentare von G. A. Cohen, Raymond Geuss und Thomas Nagel in Korsgaard 1996b. 40 Eine solche Konstruktion, die zu Prinzipien für alle führen kann, wird in Scanlons Modell dadurch möglich, dass er von der Existenz »generischer Gründe« (generic reasons) ausgeht. Diese Gründe gelten nicht nur für eine bestimmte Person, sondern für alle Personen in einer bestimmten Handlungssituation: »a generic reason […] is one that we can see people have in virtue of certain general characteristics; it is not attributed to specific individuals« (1998, 205). 38

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fungiert als Konstruktionsmittel und erfüllt damit dieselbe Funktion wie Rawls’ Urzustandsmodell. Wie begründet Scanlon dann aber das Prinzip der wohlbegründeten Zurückweisung, wenn es nicht konstruiert ist? Für ihn ergibt sich das Prinzip unmittelbar aus der Anerkennung eines »Wertes vernünftiger Wesen« (value of reasonable creatures: ebd., 143). 41 Scanlon ist bedauerlicherweise nicht sehr ausführlich, wenn er über die Rechtfertigungsgrundlage seines Konstruktivismus spricht. Sein Text legt gleichwohl nahe, dass dieser »Wert vernünftiger Wesen« gleichbedeutend mit dem ist, was er als »value of treating others in a way that could be justified to them« (ebd., 142) bezeichnet. Die meines Erachtens plausibelste Rekonstruktion der Rechtfertigungsgrundlage bei Scanlon konstatiert, dass wir von vornherein bereits motiviert sind, moralisch zu handeln: Unser Grund, moralisch zu handeln, ergibt sich aus unserem Bedürfnis, Prinzipien zu finden, die anderen gegenüber rechtfertigbar und das heißt nicht wohlbegründet zurückweisbar sind (vgl. ebd., 191). Den Wert vernünftiger Wesen setzen wir daher immer bereits voraus. Deswegen ist es nach Scanlon möglich, von ihm aus das Prinzip der wohlbegründeten Zurückweisung zu entwickeln. Auch hier möchte ich es bei dieser knappen Skizze belassen, da es vor allem um die Form der Theorie, nicht um ihre inhaltliche Ausgestaltung geht. Trotz ihrer inhaltlichen Verschiedenheit sollte die grundlegende formale Gemeinsamkeit von Korsgaards und Scanlons Variante des Konstruktivismus deutlich geworden sein: Beide gründen ihren Konstruktivismus letztendlich auf der Anerkennung eines Grundwertes (Korsgaard: value of humanity, Scanlon: value of reasonable creatures), der selbst nicht mehr begründet wird. Daher vertreten beide einen wertbasierten Konstruktivismus.

Scanlon führt aus: »While a justification for a moral principle would be ciruclar if it presupposed that principle itself, it is unnecessary and, I believe, unrealistsic, to demand that such justifications be free of all moral content. […] It is enough to characterize our ideas of right and wrong themselves in a way that makes clear why they are worth caring about and how it can make sense, given the other things we have reason to value, to give them the importance that they claim« (1998, 141).

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3.3.3 Kohärenztheoretischer Konstruktivismus Die dritte Variante des Konstruktivismus rechtfertigt ihre Konstruktionsprozedur durch eine kohärenztheoretische Überlegung: Es wird argumentiert, dass die Bedingungen, der die Konstruktionsprozedur unterliegt, im Einklang mit unseren wohlüberlegten normativen Urteilen stehen, wie wir sie in einem Zustand völliger Klarheit und Stimmigkeit hätten – John Rawls hat für diesen Zustand den Begriff des »Überlegungsgleichgewichts« (reflective equilibrium) geprägt. 42 Eine solche kohärentistische Begründung des Konstruktivismus verfolgt Rawls in der Theory und auch noch in dem oben (s. Abschn. 3.2.3) erwähnten Aufsatz »Kantian Constructivism in Moral Theory«. 43 Zur Abgrenzung zu dem später von Rawls konzipierten Politischen Konstruktivismus möchte ich dieses frühere Modell Rawls’ Kantianischen Konstruktivismus nennen. In Rawls’ Kantianischen Konstruktivismus leistet das Gedankenexperiment des Urzustandes (original position) die Konstruktionsarbeit (vgl. TJ, Kap. 3 sowie 1980, 522–524): Repräsentanten tatsächlicher Personen stehen in diesem Urzustand vor der Entscheidungssituation, sich auf Gerechtigkeitsprinzipien zur Regulierung der Grundinstitutionen ihrer Gesellschaft zu einigen. Dabei sind diese Repräsentanten rein rational (rational) modelliert; sie verfügen lediglich über Mittel-Zweck-Abwägungskompetenzen. Alle sind hinter einem »Schleier des Nichtwissens« (veil of ignorance) positioniert, der verhindert, dass sie Wissen über ihre spätere soziale Stellung, Einkommen, sexuelle Identität etc. haben. Der Schleier des Nichtwissens schaltet somit alle Informationen aus, die ihre Entscheidung im Urzustand zum persönlichen Vorteil beeinträchtigen könnte. Dergestalt unter normative Bedingungen gestellt, würden sich die rein prudentiell überlegenden Repräsentanten, so Rawls’ Argument, auf die von ihm vorgeschlagenen Gerechtigkeitsprinzipien einigen. Nach Rawls sind es insbesondere zwei normative Bedingungen, die dem Urzustand seine Form geben (vgl. 1980, 308 f. sowie TJ, 4, 11, 16 f.): ein Personenverständnis, das Personen als frei und gleich an-

Zum Begriff des Überlegungsgleichgewichts s. TJ 17–19, 42–45, 508 f. sowie Rawls 1975. Zur systematischen Ausarbeitung s. Daniels 1996, zur Stellung in Rawls’ Rechtfertigungstheorie Scanlon 2003 sowie Höffe 2013b, 19–22. 43 Im Politischen Konstruktivismus wird sich die Begründung durch die Hinzufügung einer weiteren Rechtfertigungsebene ändern; vgl. dazu unten, Abschn. 3.4 und 3.5. 42

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erkennt (persons as free and equal), und die Auffassung einer Gesellschaft als fairer Kooperationsgemeinschaft (society as a fair system of cooperation). 44 Woher aber kommen diese beiden normativen Bedingungen; wie werden sie begründet? Rawls’ antwortet darauf: Sie sind notwendigerweise Teil der normativen Überzeugungen, die wir hätten, wenn wir im Zustand des Überlegungsgleichgewichts wären (1980, 321; TJ 17–19). 45 Wir sind also, so Rawls, deswegen verpflichtet, den konstruierten Prinzipien Folge zu leisten, weil die Konstruktionsprozedur auf der Grundlage unserer fundamentalen moralischen Überzeugungen modelliert ist und diese angemessen abbildet. Nach dieser Strategie, die Rawls in der Theory und seinem Aufsatz von 1980 vertritt, ist der gesamte Konstruktionsprozess eine Anwendung des Überlegungsgleichgewichts: Es handelt sich um die Verwendung eines »raffinierten, mehrstufigen Begründungsmodells, das kontraktualistische Elemente geschickt in einen kohärenztheoretischen Rahmen einfügt« (Bormann 2010, 72). Rawls geht davon aus, dass bestimmte moralische Überzeugungen, besonders hinsichtlich dessen, was Personen ausmacht, und wie soziale Kooperation zu gestalten ist, von allen Mitgliedern der Gesellschaft geteilt werden – wenn auch oftmals nicht reflektiert. Der Konstruktivismus dient daher dazu, auf der Grundlage dieser gemeinsam geteilten Überzeugungen zu konkreten Gerechtigkeitsprinzipien zu gelangen, die eben deswegen – weil sie nichts weiter sind als eine Systematisierung unserer moralischen Überzeugungen – verbindlich sind. 46 Entsprechend formuliert Rawls auch an einer Stelle die Grundfrage seines Rechtfertigungsansatzes folgendermaßen: »which traditionally recognized principles of freedom and equality […] would free and equal moral persons themselves agree upon, if they were fairly represented solely as such persons and thought of themselves as citizens living a complete life in an ongoing society« (1980, 305). 45 Vgl.: »Here the test is that of general and wide reflective equilibrium, that is, how well the view as a whole meshes with and articulates our more firm considered convictions, at all levels of generality, after due examination, once all adjustments and revisions that seem compelling have been made. A doctrine that meets this criterion is the doctrine that, so far as we can now ascertain, is the most reasonable for us« (1980, 321). 46 Auch wenn Rawls diese Argumentationslinie bereits in der Theory vertreten hat, bringt er sie in »Kantian Constructivism« explizit auf den Punkt: »The aim of political philosophy, when it presents itself in the public culture of a democratic society, is to articulate and to make explicit those shared notions and principles thought to be al44

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In der neueren Debatte um den Konstruktivismus hat Sharon Street (2008, 2010) ebenfalls eine Variante des kohärenztheoretischen Konstruktivismus entwickelt. Street sieht nicht Kant, sondern David Hume als Vorläufer ihrer Form des Konstruktivismus und vertritt eine explizit relativistische Position. Sie beginnt die Darstellung ihres »Humeschen Konstruktivismus« (Humean constructivism) damit, dass sie einen »praktischen Standpunkt« (practical standpoint) bestimmt, von dem aus individuelle Personen ihre normativen Urteile fällen. Dieser Standpunkt setze sich aus den unterschiedlichen Wertvorstellungen einer Person zusammen; eine Person nehme diesen Standpunkt ein, sobald sie überhaupt wertet. 47 Um von diesem Standpunkt aus als »gültig« zu erscheinen, müsse ein Werturteil lediglich in Übereinstimmung mit den übrigen Wertvorstellungen einer Person stehen. (Dem aufmerksamen Leser fällt auf, dass dies eine Entsprechung zum Überlegungsgleichgewicht bei Rawls darstellt.) Street betont mehrmals, dass sich die in Frage stehende Kohärenz lediglich auf den Standpunkt eines jeweiligen Individuums beziehe: Da es in ihrer Theorie für jede Person nur einen individuellen »praktischen Standpunkt« gibt – und damit keinen, den alle gleichermaßen einnehmen könnten –, beziehen sich auch die Kohärenzanforderungen nur auf die Stimmigkeit mit den übrigen eigenen Überzeugungen. Hierin besteht nach Street der vorrangige Unterschied zwischen einem Kantianischen (Kantian) und einem Humeschen (Humean) Konstruktivismus: »Where they disagree is over whether moral conclusions follow from within the practical point of view given a formal characterization« (Street 2010, 369). 48 Während ersterer davon ausgeht, dass die vom praktischen Standpunkt aus gefällten Urteile mo-

ready latent in common sense; or, as is often the case, if common sense is hesitant and uncertain, and doesn’t know what to think, to propose to it certain conceptions and principles congenial to its most essential convictions and historical traditions« (1980, 518). 47 »Normative truth consists in what is entailed from within the practical point of view. […] In response to the question ›What is value?‹ constructivism answers that value is a ›construction‹ of the attitude of valuing. What is it, in other words, for something to be valuable? It is for that thing’s value to be entailed from within the point of view of a creature who is already valuing things« (Street 2010, 367; Hervorh. i. Orig.). 48 Wenn es bei Street um »Kantianischen Konstruktivismus« geht, hat sie insbesondere die Theorie Christine Korsgaards vor Augen, mit der sie sich hauptsächlich auseinandersetzt. Die Herausforderung des Pluralismus

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ralischer Natur sein werden, verneint dies der Humesche Konstruktivismus, wie Street ihn vertritt. Nach ihm folgen keine substantiellen moralischen Schlussfolgerungen aus einem formal konstruierten praktischen Standpunkt, sondern lediglich das, was bereits in den Wertvorstellung des Individuums steckt. 49 Street versucht, diesen Unterschied mit einem Beispiel zu erläutern: Während für einen Kantianischen Konstruktivismus ausgeschlossen sei, dass sich der römische Kaiser Caligula im Überlegungsgleichgewicht befinden kann, wenn er gerne Menschen foltert, ist dies aus der Sicht der Humeschen Konstruktivismus durchaus denkbar: Auch ein folternder Caligula, der sogar noch Freunde an den Qualen der anderen hat, kann kohärent in seinen Urteilen sein (vgl. ebd., 371). 50 Natürlich kann es auch in Streets Konstruktivismus zu Überschneidungen in den moralischen Überzeugungen verschiedener Personen kommen. Dies sei dann aber Zufall und nicht Ausdruck eines für alle verbindlichen Moralbegriffs. 51 Streets Theorie, die in jüngerer Zeit einige Aufmerksamkeit erhalten hat, stellt damit ein weiteres Beispiel für die Grundform des kohärenztheoretischen Konstruktivismus dar. Während aber das erste Beispiel, Rawls’ Kantianischer Konstruktivismus, verbindliche Prinzipien für eine Gemeinschaft entwirft, beschränkt sich Streets »Humescher« Konstruktivismus auf die Perspektive einzelner Individuen und stellt somit eine subjektivistische Variante dar.

49 »Humean versions of metaethical constructivism […] deny that substantial moral conclusions are entailed from within the standpoint of normative judgment as such. Instead, these views claim, the substantive content of a given agent’s reasons is a fuction of his or her particular, contingently given, evaluative starting points. On this view, ›pure practical reason‹ – in other words, the standpoint of valuing or normative judgment as such – commits one to no specific substantive values. Instead, that substance must ultimately be supplied by the particular set of values with which one finds oneself alive as an agent« (Street 2010, 370; Hervorh. i. Orig.). 50 Es scheint gleichwohl ein unglücklich gewähltes Beispiel zu sein, da es ja gerade für Streets Humeschen Konstruktivismus sprechen soll. 51 »According to Humean constructivists, similarities in human beings’ reasons – of which there may be many, and very deep ones – ultimately depend for their existence on contingent similarities in people’s evaluative starting points and circumstances – on the existence of a shard human nature, for example, to the extent there is such a thing, rather than on anything entailed by the practical point of view as such« (Street 2010, 370).

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Rawls’ Politischer Konstruktivismus

3.3.4 Zusammenfassung In den letzten knapp 35 Jahren, seitdem der Ausdruck »Konstruktivismus« in der praktischen Philosophie eingeführt ist, hat die Theorieform zahlreiche Erweiterungen und Veränderungen durchlaufen. Gleichwohl gibt es eine nicht abreißende Diskussion, die von der bleibenden Attraktivität des Konstruktivismus für die in der Ethik, MetaEthik und der politischen Philosophie verfolgten Fragen zeugt. Als Grundelemente jeder konstruktivistischen Theorie hat sich der begründungstheoretische Dreischritt erwiesen: (1) Normative Prinzipien werden mithilfe einer (2) Konstruktionsprozedur gerechtfertigt, die wiederum auf einer bestimmten (3) Konstruktionsgrundlage ruht. So unterschiedlich die verschiedenen, im Laufe der Zeit vertretenen Varianten des Konstruktivismus auch sein mögen, sie teilen alle diese Begründungsform. Hinsichtlich der Konstruktionsgrundlage lassen sich ferner, so habe ich ausgeführt, in der Debatte drei Grundformen unterscheiden: Ein (a) prudentieller Konstruktivismus gründet die Konstruktionsprozedur auf Klugheitsüberlegungen, während ein (b) wertbasierter Konstruktivismus einen Grundwert annimmt, auf dem die Konstruktion aufbaut. Die (c) kohärenztheoretische Variante schließlich hält als Gültigkeitstest das Modell des Überlegungsgleichgewichts bereit: Die Konstruktionsprozedur muss hier im Einklang mit unseren sonstigen Wertvorstellungen stehen. Vor diesem Hintergrund können wir uns nun dem Politischen Konstruktivismus zuwenden, jener Variante des Konstruktivismus, die John Rawls 13 Jahre nach seinem wegweisenden Aufsatz »Kantian Constructivism in Moral Theory« in Political Liberalism ausführt und die in der Lage sein soll, der Herausforderung des Pluralismus angemessen zu begegnen.

3.4 Rawls’ Politischer Konstruktivismus Der Politische Konstruktivismus ist Rawls’ Rechtfertigungstheorie in Political Liberalism. Er soll ausweisen, wie sich Personen mit divergierenden Weltanschauungen auf gemeinsame normative Prinzipien

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einigen können, ohne dabei die Wertvorstellungen ihrer eigenen Weltanschauungen aufgeben zu müssen. 52 In einem Rückblick werde ich zunächst die Anforderungen rekapitulieren, die der Politische Konstruktivismus als Rechtfertigungsmethode des Politischen Liberalismus zu bewältigen hat. Anschließend werde ich für jede der drei Begründungsstufen (Ergebnis, Konstruktionsprozedur, Rechtfertigungsgrundlage) des Politischen Konstruktivismus aufzeigen, wie Rawls diese Anforderungen umzusetzen versucht.

3.4.1 Rückblick: Drei Anforderungen Der Politische Liberalismus fordert angesichts des »Faktums des vernünftigen Pluralismus« eine Rechtfertigung, die für Personen mit unterschiedlichen Weltanschauungen gleichermaßen akzeptabel sein soll. Eine solche Rechtfertigung soll daher »politisch, nicht metaphysisch« argumentieren. Ich habe im letzten Kapitel gezeigt, inwiefern sich diese Stoßrichtung in drei Forderungen unterteilen lässt (vgl. oben, Abschn. 2.3): Erstens fordert der Politische Liberalismus, dass sich eine Rechtfertigung nur auf den Bereich des Politischen beschränken soll: Anstatt »metaphysisch«, d. h. weltanschaulich zu argumentieren, soll sie eine freistehende Rechtfertigung bilden. Als solche ist sie in doppelter Hinsicht unabhängig von Weltanschauungen. Erstens verwendet sie keine weltanschaulichen Elemente in ihrer Argumentation, und zweitens haben ihre Prinzipien nur für den Bereich des Politischen Gültigkeit und erstrecken sich nicht auf den Bereich des Weltanschaulichen. Sowohl das argumentative Material als auch die Reichweite der Prinzipien sollen also gemäß der ersten Anforderung nur auf den Bereich des Politischen beschränkt sein. Eine in diesem Sinne freistehende Theorie schafft die Voraussetzung für die zweite Anforderung: Da die Bürger diese Rechtfertigung nicht als etwas Fremdes, von außen Obstruiertes verstehen sollen, bedarf es eines Arguments, inwiefern die Rechtfertigungstheorie aus der Perspektive unterschiedlicher Weltanschauungen als gültig angeDer Politische Konstruktivismus kann damit in gewisser Weise als die »Ausformulierung« der Meta-Ethik (Brantl 2015, 79) von Rawls’ Umsetzung des Projekts des Politischen Liberalismus verstanden werden.

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sehen werden kann. Es muss gezeigt werden, dass es gute Gründe für die Annahme gibt, die Rechtfertigung könne Gegenstand eines »übergreifenden Konsenses« (overlapping consensus) von Weltanschauungen werden. Rawls verwendet hierfür die Metapher eines »Moduls« (module), das in verschiedene Weltanschauungen einpassbar ist. Um dies erreichen zu können, muss die Rechtfertigung vollständig sein: Sie darf also nicht vorschnell abbrechen. Denn würde ihre Begründungskette bei einer Voraussetzung enden, deren Plausibilität nicht mehr ausgewiesen wird, so ist es mehr als fraglich, wie unterschiedliche Weltanschauungen ihr zustimmen könnten. Die Begründungskette muss also bis zur Nullstufe der Rechtfertigung vordringen. Die dritte Forderung besagt, dass die Struktur der Rechtfertigung dem begründungstheoretischen Prinzip eines »Vorrangs des Rechten« (priority of right) folgen muss. Da Begriffe des Guten konzeptuell in den Bereich des Weltanschaulichen gehören, darf eine pluralismussensibilisierte Rechtfertigung nicht bei einer solchen Konzeption des Guten anheben. Verfolgte sie einen entsprechenden Vorrang des Guten, dann könnten ihr von vornherein nur diejenigen Weltanschauungen zustimmen, die dieselbe Konzeption des Guten verfolgen. Weil Werte in der heutigen Debatte die Grundkategorie des Bereichs des Guten bilden (vgl. Abschn. 1.2), kann die Forderung nach Einhaltung eines Vorrangs des Rechten auch folgendermaßen formuliert werden: Der Politische Liberalismus fordert eine Begründung, die nicht auf einen grundlegenden Wert rekurriert bzw. von diesem als Rechtfertigungsgrundlage ausgeht. Nur wenn die Rechtfertigung eine solche Ableitung nicht vornimmt, kann es ihr gelingen, für unterschiedliche Vorstellungen des Guten, wie sie die vielen divergierenden Weltanschauungen enthalten, offen zu bleiben. Zusammengenommen muss damit Rawls’ Politischer Konstruktivismus drei Anforderungen genügen: (1) Er darf als freistehende Theorie nur für den Bereich des Politischen Gültigkeit beanspruchen und muss seine Argumente ohne Rekurs auf weltanschauliche Elemente formulieren. Außerdem (2) muss er als vollständige Rechtfertigung zeigen, dass er aus der Perspektive unterschiedlicher Weltanschauungen zustimmungsfähig ist. Und nicht zuletzt (3) muss er das methodische Prinzip des Vorrangs des Rechten umsetzen: Er darf keine Ableitung von normativen Elementen aus evaluativen vornehmen und damit auch keine Verankerung der Rechtfertigung in Werten. Die Herausforderung des Pluralismus

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3.4.2 Ein freistehender Konstruktivismus Angesichts der in den vorangegangenen Abschnitten diskutierten Eigenschaften des Konstruktivismus ist es nicht verwunderlich, dass diese Theorieform insbesondere für eine pluralismussensibilisierte Rechtfertigung überaus attraktiv ist: Der gesellschaftliche Pluralismus verlangt nach normativen Prinzipien, die weder bloß subjektive Meinungsäußerungen sind, noch Teil einer umfassenden Theorie mit ihrerseits kontroversen Annahmen über den Aufbau der Welt. Weder der Relativismus, noch der moralische Realismus scheinen daher (zumindest auf den ersten Blick) als Begründungsmuster in Frage zu kommen. Der Konstruktivismus, der die Objektivität normativer Prinzipien mit der Vorstellung ihrer Genese durch eine hypothetische Entscheidungssituation verbindet, erscheint daher besonders aussichtsreich für das Projekt des Politischen Liberalismus. Mit seiner Hilfe, so Rawls’ Hoffnung, soll eine Form objektiver Gültigkeit gefunden werden, die dem »Faktum des vernünftigen Pluralismus« angemessen ist (PL, 89). 53 Rawls nennt den Konstruktivismus, den er in Political Liberalism entwickelt, »Politischen Konstruktivismus« (political constructivism). Dieser Politische Konstruktivismus unterscheidet sich von anderen konstruktivistischen Theorien dadurch, dass er, gemäß der Vorgabe des Politischen Liberalismus (vgl. oben, Abschn. 2.3), im normativen Bereich des Politischen (domain of the political) verbleibt. Die konstruierten Gerechtigkeitsprinzipien beschränken sich auf diesen Bereich, und erheben nicht den Anspruch, darüber hinaus Gültigkeit zu besitzen. Und auch in seinem argumentativen Aufbau möchte Rawls dem eigenen Anspruch nach nur auf politische Begrifflichkeiten Bezug nehmen. Der Politische Konstruktivismus ist also, wie sein Name bereits erkennen lässt, eine konstruktivistische Theorie, auf die die erste Anforderung des Politischen Liberalismus direkt angewandt wird: Indem Rawls ihn so formuliert, dass sowohl die Prinzipien als auch der argumentativer Aufbau nur Bezug auf den Bereich des Politischen nehmen, will er die Forderung nach einer nicht metaphysischen, sondern Vgl. die Einschätzung Rainer Forsts: »Rawls’ Konstruktivismus ist der Versuch der Begründung einer Theorie, die die Skylla des Relativismus ebenso wie die Charybdis des metaphysischen Realismus vermeidet« (Forst 1997, 409).

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politischen Begründung umsetzen und eine freistehende Theorie konzipieren. Die Prinzipien des Politischen Konstruktivismus sind also dezidiert politische Gerechtigkeitsprinzipien. 54 Um diese rein politische Ausrichtung des Politischen Konstruktivismus zu verdeutlichen, kontrastiert Rawls ihn sowohl mit einem »umfassenden« (comprehensive) Konstruktivismus – also einem Konstruktivismus, der weltanschauliche Annahmen macht – als auch mit dem moralischen Realismus. Ich möchte diese Vergleiche zum besseren Verständnis von Rawls’ Vorhaben kurz nachzeichnen: Wie wir bereits gesehen haben, geht Rawls davon aus, dass Kant selbst einen umfassenden Konstruktivismus vertritt (vgl. PL, 99, sowie oben, Abschn. 2.3.1). Rawls nennt vier Unterschiede zwischen einem solchen umfassenden Konstruktivismus und seinem Politischen Konstruktivismus (vgl. zum Folgenden PL, 99 f.): (1) Während Kants Konstruktivismus weltanschaulich (in Rawls’ Terminologie »metaphysisch«) verfahre, folge der Politische Konstruktivismus der Leitidee, »politisch, nicht metaphysisch« zu begründen. (2) Kant verwende einen Autonomiebegriff, der sich nicht allein auf den Bereich des Politischen beschränke und daher vom Politischen Konstruktivismus abgelehnt werden müsse. (3) Während Kants Personen- und Gesellschaftsvorstellungen in dessen umfassendem transzendentalem Idealismus verankert seien, würden diese im Politischen Konstruktivismus rein politisch verstanden. (4) Und letztlich verfolge Kant ein anderes Ziel; ihm gehe es nicht darum, eine öffentliche Rechtfertigungsgrundlage zu liefern, sondern um die Verteidigung eines vernünftigen Glaubens (reasonable faith). Ohne hier darauf einzugehen, inwiefern Rawls’ Vergleich der Theorie Kants gerecht wird (vgl. hierzu Kap. 4), wird doch deutlich, inwiefern Rawls seinen Politischen Konstruktivismus im Gegensatz zu einem umfassenden Konstruktivismus versteht. Auch der Konstruktivismus, wie Rawls ihn in seinem bereits diskutierten Aufsatz von 1980 formuliert hatte (vgl. oben, Abschn. 3.2.3), ist anders als der Politische Konstruktivismus ebenfalls weltanschaulich, da er bestimmte weltanschauliche Grundannahmen darüber enthält, was eine

Damit handelt es sich bei dieser Theorie eindeutig um eine lokale, und nicht um eine globale, Variante des Konstruktivismus, da sie Prinzipien für einen bestimmten normativen Teilbereich entwirft (vgl. Lenman/Shemmer 2012b, 3; sowie oben, Abschn. 3.2.2).

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Person ausmacht. 55 Darin gleicht er dem »moralischen Konstruktivismus«, den Rawls bei Immanuel Kant gegeben sieht. Ebenso wie ein umfassender Konstruktivismus, so ist auch der moralische Realismus im Vergleich zum Politischen Konstruktivismus unzureichend. 56 Auch jener, den Rawls in der Form des rationalen Intuitionismus (rational intuitionism; PL, 90–95) diskutiert, stellt eine weltanschauliche Theorie dar und ist daher genausowenig in der Lage, der ersten Anforderung des Politischen Liberalismus zu genügen, wie ein umfassender Konstruktivismus. Das diesbezügliche Grundproblem, das Rawls beim moralischen Realismus gegeben sieht, ist dessen Annahme, dass ein moralisches Urteil wahrheitsfähig ist und genau dann wahr ist, wenn es den existierenden Werten entspricht: »rational intuitionism conceives of truth in a traditional way by viewing moral judgments as true when they are both about and accurate to the independent order of moral values« (PL, 92). Eine Rechtfertigungstheorie muss angesichts des Pluralismus aber davon ausgehen, dass sie es mit einer Vielzahl von Weltanschauungen zu tun hat, die ihr je eigenes Verständnis davon haben, was wahr ist – der rationale Intuitionismus ist insofern in Rawls’ Augen keine Antwort, sondern ein Teil des Problems. Rawls versucht, einen derartigen »traditionellen« Wahrheitsbegriff, wie ihn der moralische Realismus verwendet, im Politischen Konstruktivismus zu vermeiden. 57 Dessen Ergebnisse seien nicht als wahr zu verstehen, sondern als »vernünftig« (reasonable; vgl. auch oben, Abschn. 2.4): »Political constructivism does not criticize […] religious, philosophical, or metaphysical accounts of the truth of moral judgments and of their validity. Reasonableness is its standard of correctness, and given its political aims, it need not go beyond that« (PL, 127). 58 Rawls’ Konstruktivismus nimmt hinsichtlich weltVgl hierzu auch die Einschätzungen von Forst 1997, 412–417, Bormann 2010, 72 f. und Hill 2012, 73. 56 S. zu Rawls’ Darstellung des Unterschieds zwischen dem Realismus und seinem Politischem Konstruktivismus auch Brantl 2015, 80–83. 57 Vgl.: »within itself, the political conception does without the concept of truth« (PL, 94). S. auch die kritische Einschätzung dieses Anspruchs bei Habermas 1995 und Pinzani/Werle 2015, 71–73. 58 Der Begriff des »Vernünftigen« (reasonable) dient Rawls also im gesamten Aufbau des Politischen Konstruktivismus als normative Grundkategorie: »political constructivism specifies an idea of the reasonable and applies this idea to various subjects: conceptions and principles, judgments and grounds, persons and institutions« (PL, 94). Zu Rawls’ Verständnis des »Vernünftigen« vgl. auch oben, Abschn. 2.4. 55

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anschaulicher Wahrheitsansprüche also eine »agnostische« Haltung ein (vgl. Forst 2007, 83). 59 Der Politische Konstruktivismus unterscheidet sich demnach von umfassenden konstruktivistischen Theorien dadurch, dass er keinen Bezug zu weltanschaulichen Elementen enthält. Und er unterscheidet sich vom moralischen Realismus dadurch, dass er keine Wahrheitsansprüche stellt, sondern sich damit begnügt, politische Prinzipien zu entwickeln, die aus der Perspektive aller Weltanschauungen als »vernünftig« und wohlbegründet erscheinen: »To say that a political conviction is objective is to say that there are reasons, specified by a reasonable and mutually recognizable political conception (satisfying those essentials), sufficient to convince all reasonable persons that it is reasonable« (PL, 119). 60 Es ist diese argumentative Struktur, die es dem Politischen Konstruktivismus in Rawls’ Augen ermöglicht, eine freistehende, rein politische Rechtfertigung zu liefern und damit in angemessener Weise die erste Anforderung des Politischen Liberalismus umzusetzen.

3.4.3 Politischer Urzustand Die Konstruktionsprozedur, mit deren Hilfe die politischen Gerechtigkeitsprinzipien begründet werden sollen, hebt im Fall des Politischen Konstruktivismus bei zwei Vorstellungen an. Diese beiden Vorstellungen, von denen Rawls annimmt, dass sie öffentlich (public) seien und von allen geteilt würden (shared), sind die Vorstellung der Gesellschaft als fairer Kooperationsgemeinschaft (idea of society as a fair system of cooperation) und die Vorstellung von Bürgern als freien und gleichen Personen (idea of citizens as free and equal persons; vgl. PL, 90). Diese normativen Vorstellungen bilden nun die Grundlage, auf der mithilfe von – ebenfalls allen gemeinsamen – Prinzipien der prakIn dieser »agnostischen« Haltung stellt der Politische Konstruktivismus eine Anwendung von Rawls’ »Methode der Vermeidung« (method of avoidance; vgl. oben, Abschn. 2.4.5) dar. 60 Es ist Rawls wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Ergebnisse des Politischen Konstruktivismus durchaus auch für moralische Realisten gelten können: »it is crucial for political liberalism that its constructivist conception does not contradict rational intuitionism, since constructivism tries to avoid opposing any comprehensive doctrine« (PL, 95). 59

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tischen Vernunft (»principles of their common practical reason«) die Konstruktionsprozedur modelliert wird (vgl. ebd.). Diese Konstruktionsprozedur selbst besteht in einer Adaption des »Urzustand«-Modells (original position), das Rawls bereits in der Theory verwendet (vgl. TJ, Kap. 3), und dem er nun für die Belange des Politischen Konstruktivismus eine dezidiert »politische« Form gibt. 61 Rawls übernimmt also sein vertragstheoretisches Gedankenexperiment einer Wahl in einem hypothetischen Urzustand und passt es an die Erfordernisse eines vernünftigen Pluralismus an. Ausgehend von den beiden »fundamentalen Vorstellungen« (fundamental ideas) der Gesellschaft als einer fairen Kooperationsgemeinschaft und Bürgern als freie und gleiche Personen wird der Urzustand modelliert: »We […] lay out a procedure that exhibits reasonable conditions to impose on the parties, who as rational representatives are to select public principles of justice for the basic structure of a society« (PL, 103). Was diesen Urzustand auszeichnet, ist, dass es ein politischer Urzustand ist: Seine Modellierung beruht nicht, wie noch in der Theory, auf einem normativ aufgeladenen, jetzt als weltanschaulich verstandenen Personenbegriff. Denn der Urzustand selbst wird nicht konstruiert, sondern »schlicht ausgebreitet« (»simply laid out«; ebd.): Er besteht lediglich in der Anwendung der beiden fundamentalen Vorstellungen mithilfe der allen Menschen gemeinsamen praktischen Vernunft: »the form of the procedure, and ist more particular features, are drawn from those conceptions taken as its basis« (ebd.). Da die beiden fundamentalen Vorstellungen als politisch gelten, und die praktische Vernunft allen Bürgern gemeinsam ist, kann die Konstruktionsprozedur als politisch bezeichnet werden. 62

61 Zum argumentativen Ort des Urzustandes in der Theory, s. Maus 2013 sowie Lehning 2009, 27–33. Zur Funktion des Urzustands in Political Liberalism, s. Hinsch 1997c und Koller 2015, 55–59. 62 Um den spezifisch politischen Charakter des Urzustandes, wie ihn der Politische Konstruktivismus verwendet, zu verdeutlichen, spricht Rawls auch davon, dass dieser es den Bürgern ermögliche, ihre »politische Autonomie« (autonomy, politically speaking) zu wahren: »[Political Constructivism] is autonomous, then, because in its represented order, the political values of justice and public reason (expressed by their principles) are not simply presented as moral requirements externally imposed« (PL, 98 f.). Vgl. zu diesem Autonomiebegriff des Politischen Konstruktivismus auch Freeman 2007b, 8 f. und Pinzani/Werle 2015, 74–77.

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3.4.4 »Fundamentale Vorstellungen« Rawls’ Politischer Konstruktivismus möchte also, indem er nur für den Bereich des Politischen Prinzipien entwickelt und diese mithilfe einer Prozedur konstruiert, die sich lediglich aus politischen Werten speist, den Weg zu einem übergreifenden Konsens der Weltanschauungen bereiten: Da der Politische Konstruktivismus den persönlichen, weltanschaulichen Rechtfertigungssystemen der Bürger nicht widerspricht, und sich in seinem Aufbau nur an allgemein geteilte Werte und Grundsätze hält, können die Bürger, so Rawls’ Argument, unbeschadet der eigenen Weltanschauung den konstruierten Gerechtigkeitsprinzipien zustimmen. Damit diese Rechtfertigungstheorie erfolgreich ist, bedarf es einer einleuchtenden Klärung der »fundamentalen Vorstellungen« (fundamental ideas). Denn sie bilden die Grundlage der Konstruktion und stehen damit rechtfertigungstheoretisch am Beginn der Begründungskette. Woher aber stammen sie, und woher erhalten sie ihre normative Kraft? 63 Rawls zufolge lassen sich in der politischen Kultur einer konstitutionellen Demokratie gewisse Grundwerte (basic political values) ausmachen. Von diesen Grundwerten nimmt Rawls an, dass sie jeder Bürger, der in dieser Gesellschaft aufwächst, implizit teile. Daher können sie, so Rawls, in folgender Weise argumentativ verwendet werden: »We collect such settled convictions as the belief in religious toleration and the rejection of slavery and try to organize the basic ideas and principles implicit in these convictions into a coherent political conception of justice« (PL, 8). Diese Überzeugungen dienen Rawls in seiner Theorie als vorläufige Ausgangspunkte (provisional fixed points), denen jede Begründung Rechnung tragen müsse (vgl. ebd.) Normative Überzeugungen wie die Ablehnung von Sklaverei oder die Wichtigkeit religiöser Toleranz sieht Rawls demnach so tief in der politischen Kultur verwurzelt, dass sie als vorläufige Ausgangspunkte verwendet werden können. Zwar sagt Rawls dies nie explizit, aber der Text spricht dafür, die »fundamentalen Vorstellungen« (fundamental ideas) als genau das zu verstehen: als die Vorstellungen Vgl. zu einer erhellenden, gleichwohl äußerst kritischen Interpretation und Einschätzung der fundamental ideas, Ricken 1997, bes. 426 f. Eine ebenfalls kritische Auseinandersetzung findet sich bei Koller 2015, 51–55.

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und Prinzipien, die implizit diesen in der politischen Kultur enthaltenen Überzeugungen zugrunde liegen. 64 Rawls verortet in der öffentlichen Kultur also gewisse Grundwerte, die, weil sie in der öffentlichen Kultur vorhanden seien, auch von allen Weltanschauungen geteilt würden: »We start […] by looking to the public culture itself as the shared fund of implicitly recognized basic ideas and principles« (PL, 8). Diese Grundwerte bilden in Rawls’ Politischem Konstruktivismus von vornherein eine gemeinsame normative Schnittmenge aller Weltanschauungen. Dem »übergreifenden Konsens« (overlapping consensus) geht also gewissermaßen ein »tiefgreifender« Konsens voraus: indem sie in einer gemeinsamen politischen Kultur leben, verfügen Bürger in ihren Weltanschauungen bereits über ein gemeinsames Reservoir an Werten. Aufgrund dieses Konsenses auf der untersten Rechtfertigungsstufe können die Bürger in Rawls’ Darstellung die konstruierten Prinzipien als Ausdruck ihrer »shared and public political reason«, also ihrer gemeinschaftlichen und öffentlichen politischen Vernunft anerkennen (vgl. PL, 9). Damit haben wir nun Rawls’ Politischen Konstruktivismus in seiner argumentativen Struktur vor Augen: Politische Gerechtigkeitsprinzipien werden mithilfe eines Urzustandsszenarios konstruiert, das auf den zwei »fundamentalen Vorstellungen« gründet: der Vorstellung der Gesellschaft als fairer Kooperationsgemeinschaft und derjenigen der Bürger als freie und gleiche Personen. Diese Vorstellungen, so Rawls, finden sich in der politischen Kultur demokratischer Verfassungsstaaten als implizit anerkannte politische Grundwerte.

3.5 Die Rechtfertigungsgrundlage Wie wir gesehen haben, hat der Politische Konstruktivismus folgende Argumentationsstruktur: Auf der untersten Stufe identifiziert Rawls eine Reihe von »politischen Werten« (political values; PL 11, 32) – er nennt sie auch »fundamentale Vorstellungen« (fundamental ideas; PL 13). Diese Werte, so Rawls, fänden sich in der politischen Kultur

In dieser Weise interpretiert auch Wilfried Hinsch die fundamentalen Vorstellungen: vgl. Hinsch 1997b, 15 f.

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demokratischer Verfassungsstaaten, und deswegen, zumindest implizit, auch in allen vernünftigen Weltanschauungen (vgl. PL, 13 f.). 65 Diese Menge an Grundwerten bilden die normative Basis des Politischen Konstruktivismus: Er liefert eine Konstruktionsprozedur, die in angemessener Weise diese Grundwerte abbildet und in eine systematische Form bringt. In Rawls’ Darstellung geschieht dies durch das Modell des Urzustandes (original position). Ist die Modellierung gelungen, dann können mithilfe der Konstruktionsprozedur anschließend normative Prinzipien konstruiert werden, die die pluralistische Gemeinschaft regulieren sollen. Die Gültigkeit und Verbindlichkeit dieser normativen Prinzipien für alle vernünftigen Weltanschauungen ergibt sich also daraus, dass die Konstruktionsprozedur aus einem gemeinsamen »Pool« von Werten schöpft. Diese Grundwerte selbst werden durch den Politischen Konstruktivismus nicht mehr eigens gerechtfertigt; sie sind nicht konstruiert, Rawls sieht sie vielmehr als Ausgangsmaterial gegeben (vgl. PL, 103 f.). 66 Warum aber stimmen nun alle Bürger in ihren Weltanschauungen in diesen Grundwerten überein? Rawls’ Ausführungen in Political Liberalism sind hierzu nicht eindeutig. Es sind mindestens drei Antworten denkbar. Sie entsprechen den drei oben unterschiedenen Grundformen des Konstruktivismus: (1) Die Weltanschauungen könnten in diesen Grundwerten übereinstimmen, weil alle Personen in einer Gemeinschaft leben wollen, und dies die dafür nötigen Grundwerte sind. Wäre dies die Antwort, dann wäre der Politische Konstruktivismus eine Variante des prudentiellen Konstruktivismus. (2) Aber es wäre auch denkbar, dass die Weltanschauungen deswegen Vgl. auch PL, xx, xxxvi, 38, 90, 103, 107 f., 113, 125 f. Alle Weltanschauungen müssen demnach mindestens folgende Werte als befördernswert erachten, damit die Rechfertigung für sie zustimmungsfähig ist: den Wert der personalen Freiheit, den Wert der politischen Gleichheit aller Menschen, sowie den Wert einer Gesellschaft, die als faires Kooperationssystem organisiert ist (vgl. PL, 14, 90). Dabei bleibt Rawls in diesen Dingen stets unbestimmt. Es ist angesichts von Rawls’ komplexer Theorie davon auszugehen, dass zu den genannten noch weitere Grundwerte hinzukommen. 66 Vor diesem Hintergrund wird die zentrale Rolle deutlich, die das methodische Prinzip des »Überlegungsgleichgewichts« (reflective equilibrium) auch in Political Liberalism für Rawls noch innehat: »We must find a way of organizing familiar ideas and principles into a conception of political justice that expresses those ideas and principles in a somewhat different way than before« (PL, 9). Der Politische Konstruktivismus könnte daher auch als die Anwendung des Überlegungsgleichgewichts auf den Bereich der »politischen Werte« interpretiert werden. 65

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in den Grundwerten übereinstimmen, weil diese Werte schlicht für jede vernünftige Kreatur bestehen. Mit dieser Erklärung würde sich der Politische Konstruktivismus als wertbasiert erweisen. Die dritte Antwort wäre eine kohärenztheoretische: (3) In dieser Variante würden die Weltanschauungen deswegen in diesen Grundwerten übereinstimmen, weil jene Grundwerte notwendiger Bestandteil der individuellen Überlegungsgleichgewichte sind. An der Beantwortung dieser Frage entscheidet sich, ob der Politische Konstruktivismus den Bedingungen des Projekts des Politischen Liberalismus genügen kann, oder nicht; ob seine Rechtfertigung von Gerechtigkeitsprinzipien also der Herausforderung des Pluralismus erfolgreich begegnen kann.

3.5.1 Prudentielle Begründung? Während Rawls’ Auskünfte über den jetzt zur Diskussion stehenden »Nullpunkt« der Rechtfertigung nicht eindeutig sind, so ist aus systematischen Gründen offensichtlich, dass sein Politischer Konstruktivismus nicht prudentiell begründet sein kann: Eine prudentielle Begründung würde in dem resultieren, was Rawls einen »modus vivendi« nennt, und was für ihn einem Scheitern des Arguments gleichkommen würde. 67 Würden die Bürger den mithilfe des Politischen Konstruktivismus gefundenen Gerechtigkeitsprinzipien in einem übergreifenden Konsens zustimmen, weil es dafür Klugheitsgründe gibt, die strategiIn der Literatur gibt es daher auch kaum Interpreten, die Rawls eine solche prudentiell begründete Rechtfertigung in Political Liberalism unterstellen. Eine Ausnahme bildet Wolfgang Kersting, der Rawls in Political Liberalism einen »nüchternen Pragmatismus hobbesschen Geistes« vorwirft (Kersting 2001, 186). Eine Stelle in Political Liberalism (auf die Kersting gleichwohl nicht explizit Bezug nimmt), könnte m. E. möglicherweise, mit interpretatorischem Aufwand, in die Richtung eines prudentiellen Konstruktivismus ähnlich dem O’Neills gelesen werden. Denn hier spricht Rawls von einem »Bedürfnis« (desire) der Bürger, das jene nicht anders als duch eine politische Gerechtigkeitskonzeption erfüllen könnten: »it is only by affirming a constructivist conception – one which is political and not metaphysical – that citizens generally can expect to find principles that all can accept. This they can do without denying the deeper aspects of their reasonable comprehensive doctrines. Given their differences, citizens cannot fulfill in any other way their conception-dependent desire to have a shared political life on terms acceptable to others as free and equal« (PL, 97 f.; vgl. zu dieser Stelle auch Freeman 2007b, 20). 67

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sche Vorteile bedeuten, dann wäre dieser Konsens, so wird Rawls nicht müde zu betonen, äußerst fragil: Als ein bloßer modus vivendi (vgl. PL, 142–148) wäre er nichts weiter als ein bruchgefährdetes Gleichgewicht der Kräfte. Denn wären die Prinzipien nur mithilfe von Klugheitsgründen in den Weltanschauungen der Bürger verankert, dann könnte nicht sichergestellt werden, dass, sollten alle Machthaber dieselbe Weltanschauung vertreten, sie ihre Macht nicht in einer Weise missbrauchen könnten, die die anderen Weltanschauungen in unzulässiger Weise einschränken oder sogar unterdrücken würde (vgl. PL, 147). Selbst wenn man Plausibilitätsargumente dafür anbringen wollte, dass ein solcher Machtmissbrauch höchst unwahrscheinlich sei, gibt es für eine prudentielle Begründung des Politischen Konstruktivismus ein noch tieferliegendes systematisches Problem: Er wäre dann nämlich nicht in der Lage, das liberale Legitimitätsprinzip (liberal principle of legitimacy) – eine der Kernthesen des Politischen Liberalismus – hinreichend zu sichern (vgl. PL, 137, sowie oben, Abschn. 2.2 u. 2.4.3). Das liberale Legitimitätsprinzip wäre deswegen beständig in Gefahr, da die Weltanschauungen dem Konsens nur aus individuellen strategischen Gründen zustimmen würden und nicht, weil sie ihre eigenen normativen Prinzipien in dem Konsens wiederfinden. Mit dem Begründungsmuster des prudentiellen Konstruktivismus wäre es daher nicht möglich, eine Stabilität »aus den richtigen Gründen« (stability for the right reasons; PL, 140–144) herbeizuführen. Damit verletzt es die zweite der oben ausgeführten Anforderungen des Politischen Liberalismus, denn es ist nicht in der Lage, einen stabilen übergreifenden Konsens zu garantieren (vgl. Abschn. 3.4.1). Auch wenn Rawls dieses Begründungsmuster favorisieren würde – wogegen, wie ich zu zeigen versucht habe, zentrale systematische Überlegungen sprechen –, wäre es trotz alledem nicht in der Lage, eine dem Pluralismus angemessene Rechtfertigung zu liefern. 68 G. A. Cohen hat einen Einwand gegen Rawls formuliert, demzufolge Rawls’ Konstruktivismus, auch wenn Rawls selbst es nicht möchte, notgedrungen gar nicht anders kann, als prudentiell begründet zu sein: Anstatt auf die Frage zu antworten, was Gerechtigkeit sei, liefere Rawls’ Konstruktivismus nämlich lediglich die Antwort auf die Frage, worin die optimalen Regeln sozialer Ordnung (rules of social regulation) bestünden – dies käme aber einer rein pragmatisch-prudentiellen Regulierung gleich, und es sei nicht zu sehen, was dies noch mit Gerechtigkeit zu tun habe (vgl. Cohen 2008, Kap. 6 u. 7, bes. 229 f. u. 275; zu einer Verteidigung der Theorie von Rawls

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3.5.2 Wertbasierte Begründung? An einigen Stellen in Political Liberalism klingt es, als würde Rawls davon ausgehen, dass der Grund für die Übereinstimmung hinsichtlich der Grundwerte in der »Vernünftigkeit« (reasonableness) der vernünftigen Weltanschauungen selbst liegt. 69 Dieser Lesart zufolge wären die Grundwerte, auf denen der Politische Konstruktivismus beruht, Werte, die unmittelbar durch die Vernunft gegeben wären: Jedes vernünftige Wesen, ganz gleich welcher Weltanschauung es zugehörig ist, würde nach diesen Werten streben. Der Politische Konstruktivismus wäre damit eine Variante des wertbasierten Konstruktivismus (vgl. oben, Abschn. 3.3.2). 70 Handelte es sich bei den Grundwerten tatsächlich um vernunftgegebene Werte, dann hätte der Politischen Konstruktivismus folgende argumentative Struktur: Es gibt Werte, die jedem Menschen qua seiner Vernunft gegeben sind. Der Teilbereich dieser Werte, der den Bereich der politischen Kooperation betrifft, ist der Bereich der vernünftigen (im Sinne von vernunftgegebenen) politischen Werte. Alle vernünftigen Weltanschauungen, wie auch immer sie im Detail ausgeprägt sind, inkorporieren jene Werte notwendig in ihr Wertsystem. Auf dieser Grundlage kann nun ein Urzustandszenario modelliert werden, das diese Werte auf angemessene Weise abbildet und systematisiert. Und mithilfe dieses vertragstheoretischen Gedankenexpe-

gegen Cohens Einwand, s. Kaufman 2012, 238–246). Dieser Einwand entspricht in seinen Grundzügen, soweit ich sehe, Shafer-Landaus Argument gegen prudentielle konstruktivistische Theorien: Sie seien nicht imstande, aus prudentiellen Überlegungen allein auf substantiell moralische schließen zu können (vgl. Shafer-Landau 2003, 42 f.). So interessant dieses Argument auch ist, kann es für den Moment beiseite gelassen werden, da ein prudentieller Konstruktivismus, so scheint es, von vornherein keine Option für eine pluralismustaugliche Rechtfertigung liefern kann. 69 Einige dieser Stellen sind: »[Political Constructivism] develops the principles of justice […] by using the principles of their common practical reason« (PL, 90; vgl. auch 95 und 97). Außerdem spricht Rawls in der Einleitung davon, dass die ersten drei Kapitel des Werkes dazu dienten, »to set out the general philosophical background of political liberalism in practical reason« (PL, xiv) und skizziert das Vorgehen des Politischen Konstruktivismus folgendermaßen: »it indicates that the principles and ideals of the political conception are based on principles of practical reason in union with conceptions of society and person, themselves conceptions of practical reason« (xx). Deswegen könne der Politische Konstruktivismus »the bases of the principles of right and justice in practical reason« herausstellen (xxx). 70 Eine solche Lesart scheint z. B. Rainer Forst zu favorisieren: Forst 1997, 416.

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riments lassen sich anschließend normative politische Prinzipien konstruieren. Würde der Politische Konstruktivismus auf diese Weise begründet werden, ergäben sich allerdings mindestens drei gravierende Probleme. Ich möchte sie zuerst nennen, und dann ausführlicher erörtern. Erstens würde der Politische Konstruktivismus in den nur schwer auszuräumenden Verdacht kommen, implizit doch »metaphysisch« zu argumentieren und damit den Bereich des Politischen auf inakzeptable Weise zu verlassen. Zweitens träfe den Politischen Konstruktivismus ein in der gegenwärtigen Debatte prominenter Einwand, der die systematische Einheit der Theorie überhaupt in Frage stellt. Und drittens würde er das begründungstheoretische Prinzip eines »Vorrangs des Rechten« verletzen, das eine der zentralen Anforderungen des Politischen Liberalismus darstellt. Zunächst zum Problem des »Metaphysikverdachts«: Es ist schwer vorstellbar, dass eine wertbasierte Begründung des Politischen Konstruktivismus anders verfahren könnte, als bereits einen substantiellen, normativ aufgeladenen Vernunftbegriff vorauszusetzen. Denn wie sonst könnten die normativ gehaltvollen Werte, die benötigt werden, um die Konstruktionsprozedur zu modellieren, direkt aus der Vernunft gewonnen werden? Das führt unmittelbar zu dem ersten Problem: Ein solcher Vernunftbegriff stünde in Gefahr, »metaphysisch« im Sinne Rawls’ zu sein. 71 Ein derartiges Vorgehen wäre zumindest bedenklich und es bedürfte wohl großen argumentativen Aufwands, um herauszustellen, welcher Vernunftbegriff weltanschaulich neutral ist, zugleich aber imstande wäre zu leisten, was der Politische Konstruktivismus erfordert. Rawls selbst bemüht sich in Political Liberalism freilich nicht um eine solche Klärung. 72 Jedenfalls steht mit diesem Problem infrage, ob ein wertbasierter Konstruktivismus die erste Anforderung des Politischen Liberalismus, die nach einer freistehenden, rein politischen Rechtfertigung, erfüllen könnte. Einwände dieser Art haben z. B. Jürgen Habermas (1996, 87–90) und Rainer Forst (1997, 416) angebracht. 72 Man könnte meinen, einen solchen Vernunftbegriff in Rawls’ Konzept der »öffentlichen Vernunft« (public reason) zu finden. Da dieses Konzept aber auf den Ergebnissen des Politischen Konstruktivismus aufbaut, kann es jenen nicht begründen. Unter dem Schlagwort der »öffentlichen Vernunft« diskutiert Rawls die Anwendung der politischen Gerechtigkeitsprinzipien, nicht ihre Begründung (vgl. PL, Kap. 6 und 10). 71

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Aber auch wenn man dieses Bedenken beiseite schiebt, scheint eine wertbasierte Argumentation vor einem weiteren Problem zu stehen. Russ Shafer-Landau hat in seinem viel beachteten Werk Moral Realism. A Defense (2003, 42 f.) ein Argument gegen wertbasierte konstruktivistische Theorien vorgelegt, das deren systematische Einheit bestreitet. Ich werde zur Verdeutlichung dieses Argument in seinen Grundzügen auf den Fall des Politischen Konstruktivismus anwenden: Rawls’ Politischer Konstruktivismus geht in der in diesem Abschnitt diskutieren Lesart von vernünftigen Werten aus. Damit sind die ihm zugrunde liegenden Werte bereits normativ. Die Frage, die Shafer-Landau nun stellt, ist: Woher haben diese Werte ihre Normativität? Sie kann nicht konstruiert sein, da die Werte selbst ja die Grundlage der Konstruktion bilden. Heißt das dann aber nicht, dass der Konstruktivismus stillschweigend eine Normativität voraussetzt, die er gar nicht begründen kann? Und was sollte diese Normativität begründen können, wenn nicht ein moralischer Realismus? Insofern, so Shafer-Landaus Argument, würde der wertbasierte Konstruktivismus begründungstheoretisch in einen moralischen Realismus kollabieren, da er von Werten ausgeht, die er selbst als gegeben setzt und deren Gültigkeit er nicht erklären kann. 73 Es ist hier nicht der Ort, um zu klären, inwiefern das von ShaferLandau formulierte Argument gültig ist und ob dessen Implikationen für den Konstruktivismus tatsächlich so unüberwindbar sind, wie Shafer-Landau meint. Sein Argument ist für den hier verfolgten Zusammenhang aber insofern interessant, als es das Bedenken verstärkt, das dem ersten erwähnten Problem zugrunde liegt: Würde der Politische Konstruktivismus dem Begründungsmuster eines wertbasierten Konstruktivismus folgen, wäre zu zeigen, inwiefern er einen stillschweigend vorausgesetzten moralischen Realismus, und damit eklatant »metaphysische« bzw. weltanschauliche Voraussetzungen, vermeiden kann. Doch selbst wenn diese zwei Bedenken, die sich beide auf versteckte »metaphysische« Elemente richten, nicht greifen würden, Vgl.: »if constructivists import moralized constraints […], then they effectively abandon constructivism, because this path acknowledges the existence of moral constraints that are conceptually and explanatorily prior to the edicts of the agents doing the construction. These constraints are not themselves products of construction, and so there would be moral facts or reasons that obtain independently of constructive functions. This is realism, not constructivism« (Shafer-Landau 2003, 42).

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wäre ein wertbasierter Politischer Konstruktivismus dennoch nicht in der Lage, der Herausforderung des Pluralismus angemessen begegnen zu können. Denn die dritte Anforderung des Politischen Liberalismus besteht, wie ich oben ausgeführt habe, in der Einhaltung eines begründungstheoretischen »Vorrangs des Rechten«. Diesem Prinzip zufolge dürfen normative Bedingungen nicht aus evaluativen abgeleitet werden. Werte gehören aber ihrem Begriff nach zu dem Bereich dessen, was »gut« sein kann, also zum so genannten »axiologischen« bzw. evaluativen Bereich (vgl. Schroeder 2012, sowie oben, Abschn. 2.3.4 u. 3.4.1). In einem wertbasierten Konstruktivismus würden Werte gleichwohl als Rechtfertigungsgrundlage normativer Prinzipien dienen: Dies ist die Funktion der grundlegenden Werte, die Rawls aus der politischen Kultur extrahiert. Dann ist aber unklar, wie ein Vorrangs des Rechten noch aufrechterhalten werden kann. Denn wenn aus Werten Prinzipien abgeleitet werden, dann wird aus dem, was für gut befunden wird, das konstruiert, was als gerecht gelten soll. Wäre der Politische Konstruktivismus also wertbasiert, dann, so lassen die hier angestellten Überlegungen vermuten, wäre er kaum imstande, die erste und die dritte Anforderung des Politischen Liberalismus zufriedenstellend umzusetzen.

3.5.3 Kohärenztheoretische Begründung? Die Mehrzahl der Textbelege, sowie das argumentative Vorgehen in Political Liberalism legen nahe, dass Rawls selbst eine zweite, schwächere Lesart favorisiert. 74 Dieser Lesart nach stimmen alle vernünftigen Weltanschauungen in den Grundwerten überein, schlichtweg weil diese Werte in der politischen Kultur demokratischer Verfassungsstaaten präsent sind (vgl. PL, 13 f.). 75 Dies dient zugleich als ihre 74 Auch Rawls’ programmatische Aussage in Law of Peoples, in seiner Theorie würden an keiner Stelle Prinzipien aus der menschlichen Vernunft abgeleitet werden (1999b, 86), spricht gegen eine wertbasierte Interpretation des Politischen Konstruktivismus. 75 Zu dieser Lesart tendieren auch die meisten Interpreten, vgl. exemplarisch Wilfried Hinschs Diagnose: »Rawls vertritt eine holistisch-kohärenztheoretische Auffassung der rationalen Anerkennung moralischer Normen und Werte« (Hinsch 1997b, 32). Weitere Beispiele für diese Lesart finden sich bei O’Neill 1997, Wolf 1997, 56, Freeman 2007a, Kap. 7, Höffe 2013c, 248–257 und Brantl 2015.

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Rechtfertigung: Alle, die in dieser politischen Gemeinschaft leben, teilen die Werte dieser Gemeinschaft. Der Politische Konstruktivismus vermag es, den Bürgern dieser Gemeinschaft ihre Werte vor Augen zu führen und sie in ein kohärentes System zu bringen, aus dem sich normative politische Prinzipien generieren lassen. Folgt man dieser Lesart, dann nimmt der Politische Konstruktivismus das Begründungsmuster eines kohärenztheoretischen Konstruktivismus an (vgl. oben, Abschn. 3.3.3): Auf der Grundlage bestehender Werte werden normative Prinzipien konstruiert, deren Gültigkeit sich auf diejenigen Personen beschränkt, die Mitglied dieser Wertegemeinschaft sind. Diese Prinzipien, so wird dadurch gezeigt, befinden sich im Einklang mit den Überlegungsgleichgewichten der Weltanschauungen. Obwohl es dieser Lesart gelingt, die Bedenken hinsichtlich impliziter metaphysischer Voraussetzungen, die sich gegen die wertbasierte Lesart erhoben haben, zu vermeiden, tut sich nun eine neue Schwierigkeit auf: Würde der Politische Konstruktivismus tatsächlich kohärenztheoretisch begründet werden, würden erneut mindestens zwei der Anforderungen des Politischen Liberalismus nicht erfüllt werden: Erstens scheint es, als würde der Politische Konstruktivismus in seiner Begründung nun vorschnell abbrechen (vgl. oben, Abschn. 2.3.3. u. 3.4.1): Die grundlegenden Werte werden selbst nicht mehr normativ begründet, sondern es wird schlicht darauf verwiesen, dass sie in der »politischen Kultur« vorhanden seien. Warum sollten wir aber davon ausgehen, dass gerade diese Werte uns zu vernünftigen normativen Prinzipien führen? Es ist mehr als fraglich, wie der Politische Konstruktivismus in seiner kohärenztheoretischen Lesart hierfür überzeugende Gründe nennen könnte. 76 Damit steht er aber in Gefahr, der Herausforderung des Pluralismus nicht angemessen begegnen zu können. Denn sie erfordert, dass allen »vernünftigen« Weltanschauungen gleichermaßen Rechtfertigung geschuldet ist. Matthew J. Moore hat diesen Einwand in etwas veränderter Form gegen Varianten eines liberalen Wertpluralismus vorgebracht: »all […] efforts to find some normative consequences in value pluralism rest on the same illegitimate move: all of them implicitly violate the premise of value pluralism by assuming that some value or combination of values can be treated as supremely important and therefore capable of rankordering value systems. My more general conclusion is that there is no way to simultaneously argue for value pluralism and the moral preferability of a particular value or set of values« (Moore 2009, 245).

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Aber einer Weltanschauung, die vernünftig ist, sich also durch freie Vernunftaktivität entwickelt hat, kann mit den Mitteln des Politischen Konstruktivismus in seiner kohärenztheoretischen Form überhaupt nicht mehr erklärt werden, warum die von ihm identifizierten Werte zugrunde gelegt werden sollten. Dies stellt in jedem Fall eine Verletzung der zweiten Anforderung des Politischen Liberalismus dar. Denn sie verlangt, dass eine Rechtfertigungstheorie vollständig sein soll und als solche imstande sein muss, auszuweisen, warum ihr verschiedene Weltanschauungen in einem übergreifenden Konsens zustimmen können. Dies beinhaltet die Anforderung, bis zur Nullstufe der Rechtfertigung durchzudringen. 77 Zweitens ist auch nicht zu sehen, wie die kohärenztheoretische Variante des Politischen Konstruktivismus der Leitidee des »Vorrangs des Rechten« entsprechen kann: Auch sie geht, wie bereits die wertbasierte Lesart, auf der untersten Begründungsstufe von einer Menge von Werten aus. Waren es in der wertbasierten Lesart vernunftgegebene Werte, so sind es nun die Werte der politischen Kultur. Daher wiederholt sich das Bedenken: Wenn Werte als Rechtfertigungsgrundlage für Gerechtigkeitsprinzipien dienen, dann verletzt dieses Vorgehen das Prinzip eines »Vorrangs des Rechten«, da eine Ableitung des Normativen aus dem Evaluativen stattfände. 78

Diese Schwierigkeit sieht auch Friedo Ricken und formuliert daraus folgenden Einwand gegen Rawls: »Da verschiedene Interpretationen der politischen Kultur einer demokratischen Gesellschaft möglich sind, können die tragenden Begriffe des politischen Liberalismus dann keinen Anspruch auf allgemeine Zustimmung erheben« (Ricken 1997, 427). 78 Ein weiteres Bedenken, das man gegen einen kohärenztheoretisch begründeten Konstruktivismus anführen kann, ist der Vorwurf der Zirkularität. Da diesem Vorwurf gleichwohl jede kohärenztheoretische Begründung ausgesetzt ist, und außerdem die Frage, inwiefern die Zirkularität per se ein Problem darstellt, ausführlicher Auseinandersetzung bedarf, werde ich dieses Bedenken hier nicht weiter erörtern. Ich nehme an, dass die von mir angeführten Bedenken bereits ausreichen, um das Problem, vor dem ein kohärenztheoretisch begründeter Konstruktivismus aus der Perspektive des Politischen Liberalismus steht, hinreichend deutlich zu machen. Zur Frage, inwieweit Rawls’ Rechtfertigung in Political Liberalism zirkuär ist, vgl. etwa Brantl 2015, der dem Politischem Konstruktivismus eine »zweifelhafte Zirkularität« attestiert (2015, 94). S. auch Höffe 2015d, 103–106 sowie O’Neill 1997 und Ricken 1997. 77

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Konstruktivismus und Rechtfertigung

3.6 Ergebnis Das Ergebnis an dieser Stelle erscheint ernüchternd: Wenn die in diesem Kapitel durchgeführten Untersuchungen zutreffen, dann steht zu befürchten, dass der Politische Konstruktivismus, wie Rawls ihn in Political Liberalism konzipiert, scheitert: Obwohl er es schafft, durch die Beschränkung auf den Bereich des Politischen weltanschaulich frei zu argumentieren, gelingt es ihm hinsichtlich der Rechtfertigungsgrundlage in beiden möglichen Lesarten, als wertbasierte ebenso wie als kohärenztheoretische Variante, nicht, den Anforderungen des Politischen Liberalismus zu genügen. Die Diagnose, dass Rawls in seiner Rechtfertigungstheorie seinen selbst gesetzten Ansprüchen nicht gerecht wird, legt sich nahe. Nichtsdestotrotz scheint der Konstruktivismus als Begründungsmodell, so hat dieses Kapitel auch gezeigt, von seinem argumentativen Ansatz her für eine pluralismussensible Rechtfertigung überaus attraktiv zu sein. Denn er vermag es, als Alternative zu Subjektivismus und moralischem Realismus eine plausible Konzeption politischer Objektivität bzw. Verbindlichkeit zu schaffen. Auch die nähere Ausgestaltung, die Rawls in Political Liberalism vornimmt, zeigt eindrücklich, wie ein solcher Politischer Konstruktivismus in der Lage ist, als freistehende Rechtfertigungstheorie konzipiert zu werden. Aus der Perspektive der ersten Anforderung des Politischen Liberalismus, die eben dies, eine rein politische Rechtfertigung fordert, scheint der Konstruktivismus als Begründungsmuster sehr vielversprechend zu sein. Die Schwierigkeiten, in die Rawls’ Politischer Konstruktivismus gerät, haben alle mit dessen Rechtfertigungsgrundlage zu tun – erst hier entstehen die Probleme: Denn ein wertbasierter Konstruktivismus, haben wir gesehen, läuft Gefahr, die erste und dritte Anforderung des Politischen Liberalismus nicht erfüllen zu können, während die kohärenztheoretische Variante an der zweiten und dritten Anforderung zu scheitern droht. Angesichts der Unzulänglichkeiten der bislang diskutierten Möglichkeiten, den Konstruktivismus zu begründen, stellt sich die Frage, ob nicht noch eine weitere, bislang noch nicht berücksichtigte Begründung möglich ist. Eine solche Begründung müsste, um erfolgreich zu sein, den drei Anforderungen des Politischen Liberalismus genügen: Sie müsste eine freistehende Rechtfertigung ermöglichen. Außerdem dürfte sie 126

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Ergebnis

nicht vorschnell abbrechen, sondern müsste bis zum rechtfertigungstheoretischen Nullpunkt vordringen und dadurch zeigen, warum sie aus der Perspektive unterschiedlicher Weltanschauungen akzeptabel sein kann. Vor allem aber muss sie eine Alternative zu folgendem, allen weiteren Bedenken zugrundeliegenden Problem bieten: In seiner bisherigen Form, ob nun als wertbasierter oder als kohärenztheoretischer Konstruktivismus interpretiert, steht zu befürchten, dass es sich beim Politischen Konstruktivismus eher um eine Theorieform des »Vorrangs des Guten«, und nicht, wie der Politische Liberalismus angesichts der Herausforderung des Pluralismus plausiblerweise fordert, um einen »Vorrang des Rechten« handelt.

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4. Kantische Wurzeln

4.1 Inspirationsquelle Kant Das letzte Kapitel endete in seiner Untersuchung der Rechtfertigungsgrundlage des Politischen Konstruktivismus mit einer negativen Diagnose: In der von John Rawls vorgelegten Form ergeben sich gravierende Zweifel, ob der Politische Konstruktivismus in der Lage ist, den sich selbst gesetzten Anforderungen zu genügen. Eine entscheidende Rolle spielte dabei unter anderem die Forderung nach der Einhaltung eines begründungstheoretischen »Vorrangs des Rechten« (priority of right). Diese Situation wirft die Frage auf, ob die Rechtfertigungsgrundlage des Politischen Konstruktivismus auf andere Weise konzipiert werden könnte. Da es bislang weder dem moralischen Realismus, noch den drei Grundformen des Konstruktivismus gelungen ist, den Anforderungen des Politischen Liberalismus zu entsprechen, ist dies nicht nur ein Rawls-internes Problem: Es ist die Frage danach, ob überhaupt eine Rechtfertigungsgrundlage gefunden werden kann, die der begründungstheoretischen Herausforderung des Pluralismus, wie der der Politische Liberalismus diagnostiziert, erfolgreich zu begegnen vermag. Ich werde im weiteren Verlauf dieser Arbeit die These vertreten, dass eine solche Rechtfertigungsgrundlage tatsächlich konzipiert werden kann, und zwar auf der Grundlage eines »transzendentalen Begründungsmusters«. Dieses Begründungsmuster, das in den einschlägigen Debatten bislang weitestgehend nicht berücksichtigt wird, stellt meines Erachtens eine aussichtsreiche argumentative Struktur für eine pluralismussensibilisierte Rechtfertigung dar. Es findet sich allerdings in einem zunächst pluralismus-fernen Kontext: in der Moralbegründung Immanuel Kants.

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Inspirationsquelle Kant

Immanuel Kant stellt für Rawls den wichtigsten Gesprächspartner aus der Geschichte der Philosophie dar. 1 In seinen im Jahr 2000 veröffentlichten Lectures on the History of Moral Philosophy widmet er Kant ganze zehn von insgesamt 19 Vorlesungen und behandelt ihn damit weit ausführlicher als alle übrigen Denker. Vor allem aber dient Kant für Rawls auch als Inspirationsquelle für wesentliche systematische Bausteine seiner eigenen normativen Theorie. 2 Zwei dieser Bausteine und ihre kantischen Wurzeln werden im Zentrum dieses Kapitels stehen: der Konstruktivismus und der »Vorrang des Rechten«. Ich werde beim Begriff des Konstruktivismus beginnen und darstellen, wie Rawls Kants Moraltheorie als konstruktivistische Theorie interpretiert (Abschn. 4.2). Dabei werde ich Rawls’ Lesart zunächst vorstellen, und mich dann im weiteren insbesondere auf seine Interpretation der Rechtfertigungsgrundlage bei Kant konzentrieren, zu der Rawls durch eine kohärenztheoretischen Deutung des »Faktums der Vernunft« gelangt. Anschließend werde ich mich den kantischen Wurzeln des »Vorrangs des Rechten« zuwenden und untersuchen, wie Kant dieses Vorrangsverhältnis in einer dafür einschlägigen Passage aus der Kritik der praktischen Vernunft deutet (Abschn. 4.3). Es wird sich herausstellen, dass Kants Verständnis dessen, was er das »Paradox der Methode« nennt (KpV, V 62 f.), eine kohärenztheoretische Moralbegründung, wie Rawls sie bei Kant gegeben sieht, ausschließt. Rawls’ Interpretation scheint an dieser Stelle also verfehlt zu sein. Rawls ist gemeinhin dafür bekannt, dass er die normative politische Philosophie wiederbelebt habe. Nicht minder folgenreich war jedoch auch sein Zugang zur Geschichte der Philosophie, deren große Vertreter er als systematische Gesprächspartner ernst nahm: »[…] for many of us who worked and studied with Rawls, what was so influential about Rawls’s work was not only the confidence it inspired in the fruitfulness of the methods of philosophy and the potential practical value of its results. It was also a renewed confidence in the subject’s tradition, in its classics« (Reath u. a. 1997, 2). 2 Dies gilt bereits für die Theory of Justice. Schon dort bezeichnet Rawls seine Theorie als kantianisch, und spricht davon, dass seine Konzeption des Urzustands (original position) – das Kernstück seiner Gerechtigkeitstheorie – verstanden werden kann »as a procedural interpretation of Kant’s conception of autonomy and the categorical imperative within the framework of an emprircal theory« (TJ, 226). Als kantianische Theorie stellt er seine Gerechtigkeitsprinzipien dem Utilitarismus entgegen, der für ihn – als paradigmatische Form eines »Vorrangs des Guten« – den Hauptgegner ausmacht (vgl. TJ, 3 u. 19–24; s. auch Freeman 1994 und Kaufman 2012, 231 f.). 1

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Kantische Wurzeln

Diese Einsicht führt zu der Frage, auf welche Weise Kants Moralbegründung dann verstanden werden kann (Abschn. 4.4). Zur Beantwortung dieser Frage werde ich mich insbesondere auf die Arbeiten von Oliver Sensen (2011 und 2013) stützen. Sensen deutet Kants Moralbegründung als Ausdruck eines »transzendentalen Konstitutivismus« (transcendental constitutivism). Diese Interpretation ist im Vergleich zu Rawls’ Lesart nicht nur textnäher. Sie ist darüber hinaus insbesondere deswegen für den hier verfolgten Zusammenhang von Interesse, da in ihr ein neues, bislang nicht beachtetes Begründungsmuster zutage tritt: Sensen argumentiert nämlich, dass sich Kants Theorie der Alternative von Konstruktivismus oder moralischem Realismus versperrt und eine eigenständige, dritte Alternative darstellt. Das dieser dritten Alternative zugrunde liegende Begründungsmuster, das ich »transzendentales Begründungsmuster« nennen möchte, werde ich anschließend zusammenfassend darstellen und schließlich Bilanz zu den kantischen Wurzeln des Politischen Konstruktivismus ziehen (Abschn. 4.5). 3

4.2 Kants »moralischer Konstruktivismus« Wie bereits erwähnt stellt die Auseinandersetzung mit früheren Denkern für Rawls einen unverzichtbaren Aspekt seines Philosophierens dar – was keine selbstverständliche Haltung unter den Philosophen seiner Zeit, seines Landes und seines Fachbereiches darstellt (vgl. hierzu Reath u. a. 1997, 2). Rawls geht es dabei sowohl um ein interpretatives Verständnis Erstaunlicherweise gibt es kaum Literatur, die sich detailliert mit Rawls’ Kant-Interpretation auseinandersetzt (einen Überblick zu Rawls’ Interpretation vermittelt O’Neill 2003b). Autoren, die primär an Rawls interessiert sind, widmen sich hauptsächlich den systematischen Anleihen, die Rawls bei Kant macht, während die KantDebatten Rawls kaum mehr als als den Initiator der Interpretationslinie wahrnehmen, die Kants Moraltheorie als konstruktivistisch versteht, und dann rasch zur inhaltlichen, an Kants Texten orientierten Frage übergehen, inwieweit diese Interpretation plausibel ist. Ausnahmen zu dieser Tendenz bilden etwa Budde 2007, die mit Bezug auf die Lectures on the History of Moral Philosophy dafür argumentiert, dass Rawls’ Interpretation fehlgeht und er sich genau genommen nicht als »Kantianer« bezeichnen dürfe, und Tampio 2007, der die wenig überraschende These zu belegen unternimmt, dass Rawls’ Herangehensweise an die Philosophie ganz generell von einem »kantischen Ethos« getragen sei.

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der von früheren Philosophen vertretenen Thesen und Theorien als auch um die Frage, welche systematischen Anregungen und Schlussfolgerungen diese Denker für unsere eigenen philosophischen Fragen bereithalten: »we learn moral and political philosophy – or indeed any part of philosophy – by studying the exemplars, those noted figures who have made cherished attempts at philosophy; and if we are lucky, we find a way to go beyond them« (Rawls 2000, xvii). 4 In seinen interpretativen Arbeiten folgt Rawls zwei methodischen Maximen: Er möchte, erstens, die Probleme der Autoren stets so darstellen, wie diese sie selbst in ihrer Zeit und vor ihrem eigenen Hintergrund sahen. Zweitens will er deren Gedanken in ihrer plausibelsten und argumentativ stärksten Form präsentieren (vgl. ebd., xvi– xviii). Während die erste Maxime auf eine historisch sensible Lektüre abzielt, lässt sich die zweite wohl am ehesten als eine Form von intellektueller Redlichkeit verstehen: Rawls möchte es vermeiden, klassische Philosophen vorschnell zu kritisieren. Getragen von der Überzeugung, dass es nicht darum gehe, diese Philosophen zu widerlegen, sondern vielmehr darum, von ihnen zu lernen, will Rawls ihre Thesen und Argumente so überzeugend wie möglich darstellen. 5 Seine Auseinandersetzung mit Kants Moralphilosophie, die Rawls mit dem Begriff des Konstruktivismus zu beschreiben sucht, stellt das von ihm anvisierte interpretatorische Vorgehen mit systematischem Interesse in paradigmatischer Weise dar. Rawls beschäftigt sich in seiner Kant-Lektüre nicht vorrangig, wie man es vielleicht von einem politischen Philosophen erwarten könnte, mit Kants rechtsphilosophischen Schriften wie dem Gemeinspruch (1795), Zum ewigen Frieden (1795) oder der Rechtslehre (1797). 6 Sein Interesse gilt primär Kants moralphilosophischen 4 Auch in der Einleitung zu Political Liberalism macht Rawls seine Sensibilität für die historische Dimension der Philosophie unmissverständlich deutlich, wenn er erläutert, in welcher Denktradition er den Politischen Liberalismus verortet: PL, xxii–xxvii. 5 Vgl. hierzu Rawls’ bescheidene Selbsteinschätzung, wenn er über Locke, Rousseau, Kant und Mill spricht: »I always took for granted that the writers we were studying were much smarter than I was. […] If I saw a mistake in their arguments, I supposed those writers saw it too and must have dealt with it. But where? I looked for their way out, not mine« (Rawls 2000, xvi). 6 Hierauf weist auch Otfried Höffe hin, der darin die Quelle für eine argumentative Fehlstelle in Rawls’ systematischer Argumentation lokalisiert: dass er sich nicht hinreichend mit der Rechtfertigungung staatlicher Zwangsgewalt auseinandersetze (Höffe 2015c, 5 u. 25).

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Schriften, hierbei hauptsächlich der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS, 1785) und der Kritik der praktischen Vernunft (KpV, 1788). 7 Rawls erläutert nirgends, warum er sich gerade auf die beiden letztgenannten Werke konzentriert. In den Schriften, die er zu Kant verfasst hat, wird aber deutlich, dass Rawls insbesondere die Frage nach der Begründungsstruktur von Kants Moralphilosophie beschäftigt. Und hierbei ist es Rawls’ zentrales Anliegen aufzuzeigen, inwiefern sich Kants Moralphilosophie als konstruktivistische Theorie verstehen lässt (vgl. Rawls 1989b, 497; s. auch O’Neill 2003b). Mit dem Begriff des Konstruktivismus bemüht sich Rawls, die zentralen Theoriestücke der Moralphilosophie Kants in einer klar strukturierten Form zu einander in Beziehung zu setzen: Der kategorische Imperativ, das Sittengesetz, die menschliche Autonomie und das Faktum der Vernunft – alle finden ihren Ort in dem, was Rawls den »moralischen Konstruktivismus« (moral constructivism) Kants nennt.

4.2.1 Ergebnis der Konstruktion In Rawls’ Darstellung richtet sich Kants moralischer Konstruktivismus nicht auf alle praktischen Gründe, sondern nur auf einen bestimmten Teilbereich: Es gehe darum, in einer bestimmten Situation herauszufinden, welche Handlungsoption im Einklang mit dem Sittengesetz stehe (vgl. Rawls 2000, 237). Da das Sittengesetz jedoch zunächst auf die »Normalbedingungen des menschlichen Lebens« (ebd., 167) angewandt werden müsse, bedürfe es einer Vermittlungsleistung. Hier kommt in Rawls’ Lesart der moralische Konstruktivismus ins Spiel: Er diene dazu, »to determine the content of the moral law as it applies to us as reasonable and rational persons endowed with conscience and moral sensibility, and affected by, but not determined by, our natural desires and inclinations« (1989b, 498; vgl. auch Rawls 1980, 339). Der Konstruktivismus 7 Rawls stützt sich in seiner Kant-Lektüre zwar vornehmlich auf die Grundlegung und die Kritik der praktischen Vernunft, verweist aber im Verlauf seiner Interpretation immer wieder auf Kants weitere moralphilosophische Schriften. Darüber hinaus spielen Kants Idee eines vernünftigen Glaubens sowie seine Konzeption des Bösen ebenfalls eine Rolle für Rawls; ihnen widmet er je eine komplette Vorlesung: Rawls 2000, Vorl. IX u. Vorl. X zu Kant.

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Kants »moralischer Konstruktivismus«

soll also gewissermaßen das Bindeglied darstellen zwischen dem (rein vernünftigen) Sittengesetz und den Menschen, die sowohl Vernunftals auch Sinneswesen sind. Der Gedanke, dass es einer solchen Vermittlung bedarf, bezieht sich auf Kants Unterscheidung zweier Standpunkte, die sich im Menschen finden (vgl. GMS, IV 452; zur Interpretation Rawls: 1989b, 489): Als zur Sinnenwelt gehöriges und daher durch natürliche Begierden angetriebenes Wesen erfährt der Mensch, so Kant, das Moralgesetz als Imperativ. Es zeigt sich als Vorschrift, da es zur Beschränkung bzw. Zurückstellung der eigenen Begierden auffordert, um der moralischen Maxime den Vorrang zu geben. Gleichwohl gehört der Mensch, insofern er Vernunft besitzt, nach Kant auch zur intelligiblen Welt. Von deren Standpunkt aus offenbart sich das moralische Handeln als autonom: Als Vernunftwesen wollen wir das, was wir als Sinnenwesen als Imperativ empfinden, und wir geben uns diese Forderung selbst als Gesetz. Qua vernünftiges Wesen ist das moralische Sollen also ein eigenes Wollen, qua Sinnenwesen erfahren wir es jedoch in Form eines Imperativs, also eines Sollens. 8 Da wir Menschen in dieser Weise nicht nur Vernunft-, sondern auch Sinneswesen sind, braucht es eine Vermittlungsleistung, die das Sittengesetz auf unsere Situation anwendet. Hierin besteht nach Rawls die systematische Funktion des moralischen Konstruktivismus bei Kant: Die Theorie ist ein Testinstrument, das besagt, Urteile oder Absichten (»Maximen«) seien dann moralisch zulässig, wenn sie als Ergebnis einer entsprechenden Prozedur dargestellt werden können (vgl. Rawls 2000, 238 f.). 9 Das Resultat des moralischen Konstruktivismus bei Kant bildeten dementsprechend »the totality of particular categorical imperatives […] that pass the test« (ebd., 239). Der moralische Konstruktivismus dient also, so Rawls’ Lesart,

Vgl. Kants Ausführungen hierzu: »wenn wir uns als frei denken, so versetzen wir uns als Glieder in die Verstandeswelt und erkennen die Autonomie des Willens, samt ihrer Folge, der Moralität; denken wir uns aber als verpflichtet, so betrachten wir uns als zur Sinnenwelt und doch zugleich zur Verstandeswelt gehörig« (GMS, IV 453). Und: »Das moralische Sollen ist also eigenes notwendiges Wollen als Gliedes einer intelligiblen Welt und wird nur insofern von ihm als Sollen gedacht, als er sich zugleich wie ein Glied der Sinnenwelt betrachtet« (ebd., 455). 9 Dies entspricht der Grundidee des Konstruktivismus, derzufolge ein normatives Prinzip dann gültig ist, wenn gezeigt werden kann, dass Akteure in einer idealisierten hypothetischen Entscheidungssituation diesem Prinzip zustimmen würden (vgl. oben, Abschn. 3.2). 8

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sowohl zur Überprüfung eigener Handlungsabsichten als auch zur Konstruktion »spezifischer kategorischer Imperative« (ebd.). Als Hauptgegner, gegen den sich Kant mit seinem Konstruktivismus stellen möchte, identifiziert Rawls den »Perfektionismus« (perfectionism), den er als Vorläufer des moralischen Realismus des 20. Jahrhunderts interpretiert (vgl. ebd., 235 sowie 1989b, 510). 10 Kants moralischer Konstruktivismus wendet sich also Rawls zufolge gegen ein Moralverständnis, das Moralprinzipien als Ausdruck einer feststehenden, vom Menschen unabhängigen Wertordnung begreift (vgl. Rawls 1989b, 511). 11 Der Grund, warum ein solches Moralverständnis aus der Perspektive Kants inakzeptabel wäre, liegt darin, dass es keine autonome Moral begründen könnte: »Kant’s idea of autonomy requires that there exists no moral order prior to and independent of those conceptions« (ebd., 512). Verstanden als Ausdruck einer feststehenden, vom Menschen unabhängigen Ordnung wären die Moralprinzipien heteronom, da sie nicht Ergebnis der Selbstgesetzgebung des Willens sein könnten (vgl. KpV, V 41, sowie Rawls 2000, 235 f.). Rawls sieht in Kants moralischem Konstruktivismus also den Gegenentwurf zu heteronomen Moraltheorien: Indem die Konstruktionsprozedur, wie wir sehen werden, von jedem einzelnen Menschen vollzogen werden kann und jeder sich dabei nur seiner eigenen VerEs wird in Rawls’ Darstellung nicht klar, ob er, wenn er von »Pefektionismus« spricht, lediglich die Position vor Augen hat, die Kant in seiner Auflistung praktischer materialer Bestimmungsgründe als »Vollkommenheit« bezeichnet und auf Wolff und die Stoiker zurückführt (vgl. KpV, V 40 f.), oder ob Rawls’ Ausdruck alle Positionen umfassen soll, die Kant unter den Begriff der »Glückseligkeitslehre« (z. B. KpV, V 92 u. 22 f.) fasst: Alle Morallehren, die ihrer Theorie ein materiales Prinzip zugrunde legen, und von denen die der »Vollkommenheit« nur eine unter fünf ist. Für letztere Lesart spricht Rawls’ Aufzählung in Rawls 1989b, 510, für erstere jedoch, dass er in den Lectures Kants Konstruktivismus mit Leibniz’ »metaphysischem Perfektionismus« (metaphysical perfectionism) kontrastiert (2000, 105–122 und 235–237). Diese terminologische Uneindeutigkeit der Interpretation bei Rawls scheint gleichwohl keine Auswirkungen auf das Argumentationsziel zu haben. 11 Diese Interpretation teilt auch Onora O’Neill: »Kant proposes procedure(s) for justifying ethically important principles of action by appeal to a conception of practical reasoning that does not build on supposed independent moral facts or actual individual preferences. The procedure(s) envisaged […] are contrasted with the procedures adopted by proponents of heteronomy in ethics who either support perfectionism by invoking the (illusory) independent values of moral realism or advocate positions such as subjectivism, utilitarianism, or preference-based forms of contractarianism by invoking the (unvindicated) value of satifying preferences« (O’Neill 2003b, 354 f.). 10

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nunft zu bedienen braucht, erweisen sich die daraus resultierenden »spezifischen kategorischen Imperative«, so Rawls, als Ergebnis einer autonomen Konstruktionsprozedur. 12 Die Parallelen zu Rawls’ Politischem Konstruktivismus sind, gerade vor dem Hintergrund dieser eben diskutierten Abgrenzung von Moraltheorien, die eine von den Menschen unabhängige Wertehierarchie postulieren, unschwer zu erkennen. Zwar unterscheiden sich die Ergebnisse der Konstruktion: in Kants moralischem Konstruktivismus sind es konkrete Handlungsregeln, im Politischen Konstruktivismus politische Gerechtigkeitsprinzipien. 13 Abgesehen von diesem Unterschied in der Extension ähneln sich die Theorien auf der hier erörterten obersten Konstruktionsstufe auffällig: Beide legen normative Prinzipien vor, die dann als gültig gelten, wenn sie als das Resultat einer auf bestimmte Weise modellierten Konstruktionsprozedur dargestellt werden können. Und beide lehnen Formen des moralischen Realismus als Begründungsmuster ab, weil sie darin ein Autonomiedefizit sehen, das im Politischen Konstruktivismus einem Verletzen der weltanschaulichen Neutralität gleichkäme. An Rawls’ Kant-Interpretation lassen sich an dieser Stelle Rückfragen stellen. So scheint beispielsweise erläuterungsbedürftig, bei Kant von »spezifischen kategorischen Imperativen« (particular categorical imperatives; 2000, 239) zu sprechen, wie Rawls es tut. Denn Kant sagt an prominenter Stelle, dass der kategorische Imperativ »nur ein einziger« (GMS, IV 421) sei. Auch ist die Bezeichnung »Perfektionismus« für die Position, gegen die Kant sich stellen möchte, wie bereits angedeutet, zumindest uneindeutig. Da es in diesem Abschnitt aber vorrangig um die Darstellung von Rawls’ Interpretation geht, möchte ich diese Rückfragen hier lediglich erwähnen und nicht in der Ausführlichkeit erörtern, die sie erfordern würden.

Vgl. zu Rawls’ Heteronomie-Verständnis folgende Passage: »Heteronomy obtains not only when these first principles are fixed by the special psychological constitution of human nature, as in Hume, but also when they are fixed by an order of universals, or of moral values grasped by rational intuitionism, as in Plato’s realm of forms or in Leibniz’s hierarchy of perfections« (Rawls 1989b, 512). 13 Eine ausführlichere Diskussion dieses Unterschieds findet sich bei O’Neill 2003b, 351 f. 12

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4.2.2 »Kategorischer Imperativ-Prozedur« In Rawls’ Politischem Konstruktivismus geschieht die Konstruktion durch das politische Urzustandszenario (original position; vgl. oben, Abschn. 3.4.3): Hinter einem Schleier des Nichtswissen (veil of ignorance) müssen sich symmetrisch positionierte Repräsentanten von Bürgern auf politische Gerechtigkeitsprinzipien einigen. Die Konstruktionsprozedur, die Rawls in Kants Moraltheorie am Werke sieht, nennt er »Kategorischer Imperativ-Prozedur« (kurz: »KI-Prozedur«: CI-procedure). Sie erfüllt denselben argumentativen Zweck wie der politische Urzustand und nimmt, ebenso wie jener, die Form eines Gedankenexperimentes an. Ihre inhaltliche Ausgestaltung ist jedoch deutlich von der des Urzustandes unterschieden: Am Beginn steht eine bestimmte Handlungsabsicht, die auf ihre moralische Zulässigkeit hin überprüft werden soll. In vier Schritten durchläuft diese Handlungsabsicht in der KI-Prozedur dann eine stufenweise Verallgemeinerung. Am Endpunkt steht die Frage, ob die Handlungsabsicht universalisierbar ist. Ist dies der Fall, hat die Handlungsabsicht den Test der KI-Prozedur erfolgreich bestanden; sie wird zu einem, wie Rawls es nennt, »spezifischen kategorischen Imperativ« (particular categorical imperative; 2000, 239). Der Ausdruck »KI-Prozedur« findet sich freilich nicht bei Kant; er ist, wie auch der Begriff des Konstruktivismus, eine interpretatorische Neuschöpfung von Rawls. Er führt diesen Ausdruck ein, um damit den Unterschied zwischen dem kategorischen Imperativ selbst und seiner Anwendung zur Überprüfung einer konkreten Handlungsmaxime in einer bestimmten Situation herauszustellen. 14 Das meint Rawls, wenn er davon spricht, die KI-Prozedur bestünde in der »Anwendung« des kategorischen Imperativs »auf die Normalbedingungen des menschlichen Lebens« (1989b, 498 und 2000, 167). 15 Kant selbst scheint eine solche Unterscheidung zwischen kategorischem Imperativ und der Anwendung desselben in der »praktischen Beurteilung« von Maximen nicht für nötig zu halten; vgl. GMS IV, 402–405. 15 Bedauerlicherweise bleibt hierbei unklar, inwieweit Rawls der Ansicht ist, dass der kategorische Imperativ, der ja als Imperativ bereits die Anwendung des Sittengesetzes auf die besondere Situation des Menschen als Vernunft- und zugleich Sinnenwesen darstellt, nun noch einmal auf den Menschen angewandt werden müsse. Auch Rawls’ knappe Ausführungen zur Beziehung von Sittengesetz, kategorischem Imperativ und KI-Prozedur sind hier wenig aufschlussreich (s. Rawls 1989b, 498 u. 500 sowie Rawls 2000, 167). 14

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Aufgrund dessen, so Rawls weiter, könne die KI-Prozedur auch verstanden werden als ein »schema [sic] to characterize the framework of deliberation that such agents use implicitly in their moral thought« (1989b, 498). Die KI-Prozedur stellt also ein Gedankenexperiment dar, mit dessen Hilfe moralische Akteure herausfinden können, was der kategorische Imperativ in einer gegebenen Situation erfordert. Sie beinhaltet vier Stufen, auf denen eine konkrete Handlungsabsicht durch eine schrittweise Verallgemeinerung auf ihre Übereinstimmung mit dem Sittengesetz hin überprüft wird. Auf der ersten Stufe wird mit einer konkreten Handlungsabsicht begonnen, die als ein spezifischer hypothetischer Imperativ formuliert ist. 16 Diese Handlungsabsicht soll dabei bereits zwei Voraussetzungen erfüllen: Sie muss im tatsächlichen Interesse des Akteurs, also aufrichtig (sincere) sein (2000, 167). Außerdem muss sie, als vom Standpunkt des Akteurs her rationale (rational) Handlungsabsicht, der Situation ebenso wie den sonstigen Gründen und Wünschen des Akteurs angemessen sein (vgl. ebd.). Als aufrichtige und rationale Handlungsabsicht ist die Maxime auf der ersten Stufe der KI-Prozedur »a particular hypothetical imperative […], let’s say that it expresses the agent’s personal intention to act from the maxim« (ebd., 168). Am Beginn der KI-Prozedur steht damit ein aufrichtiger und rationaler hypothetischer Imperativ, der aus der Perspektive einer bestimmten Person formuliert ist. Auf der zweiten Stufe wird dieser Imperativ nun einer ersten Verallgemeinerung unterzogen. Aus der konkreten Handlungsabsicht wird so ein allgemeiner Grundsatz (universal precept), der sich nicht länger nur auf den Akteur allein bezieht. Dieser Grundsatz drückt nun einen hypothetischen Imperativ aus, der für jede Person in derselben Situation gilt (vgl. ebd.). Die dritte Stufe hebt diesen allgemeinen Grundsatz auf einen noch höheren Allgemeinheitsgrad. Rawls nutzt hierfür die Naturgesetz-Analogie, die Kant in seiner zweiten Formulierung des kategorischen Imperativs verwendet (vgl. GMS, IV 421): Der allgemeine Grundsatz erhält Gesetzescharakter und besagt nun, dass jede Person

Rawls bezeichnet diese konkete Handlungsabsicht austauschbar mit den Ausdrücken »Maxime« (maxim) und »spezifischer hypothetischer Imperativ« (particular hypothetical imperative).

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ihm gemäß handle, als wäre er ein Naturgesetz (law of nature; Rawls 2000, 168). Auf der vierten und letzten Stufe wird schließlich überprüft, wie eine soziale Welt aussähe, in der dieses eben formulierte moralische Naturgesetz herrschte: »We are to adjoin the as-if law of nature at step (3) to the existing laws of nature (as these are understood by us) and then think through as best we can what the order of nature would be once the effects of the newly adjoined law of nature have had sufficient time to work themselves out« (ebd., 169). Diese letzte Stufe dient also dazu, die nunmehr verallgemeinerte Maxime in die moralische Welt, wie wir sie kennen, einzufügen und uns damit ihre möglichen Auswirkungen zu vergegenwärtigen. Sind diese vier Stufen der KI-Prozedur erfolgreich durchlaufen, ist die Universalisierung der Handlungsabsicht, mit der begonnen wurde, abgeschlossen. Daher kann nun, so Rawls, der kategorische Imperativ folgendermaßen »angewendet« werden (vgl. ebd.): Es ist mir moralisch erlaubt, gemäß meiner aufrichtigen und rationalen Maxime aus Schritt 1 zu handeln, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: Erstens muss ich als vernünftiges Wesen gemäß dieser Maxime handeln wollen können, wenn ich mich als Teil der durch die vierte Stufe veränderten moralischen Welt sehe. Und zweitens muss ich diese so veränderte moralische Welt selbst wollen. 17 Zusammenfassend stellt die Konstruktionsprozedur, die Rawls in Kants moralischem Konstruktivismus am Werke sieht – die KIProzedur –, den interpretatorischen Versuch dar, die verschiedenen Formulierungen des kategorischen Imperativs, die Kant in der Grundlegung anbietet, in ein argumentatives, stufenweise aufgebauMit diesen zwei Bedingungen möchte Rawls offenbar die beiden Tests abbilden, die Kant in der Grundlegung anführt (vgl. GMS IV, 423 f.): Der ersten Bedingung entspricht der von Rawls als contradiction in conception bezeichnete Test (Rawls 2000, 170–172). Kant führt diesen am Beispiel des Versprechens aus, das mit der Absicht, gebrochen zu werden, gegeben wird (vgl. GMS, IV 402 f.): Eine solche Absicht würde, so Kant, den Begriff des Versprechens zunichte machen, denn nach einem allgemeinen Gesetz zu lügen »würde es eigentlich gar kein Versprechen geben«, weswegen »meine Maxime, sobald sie zum allgemeinen Gesetz gemacht würde, sich selbst zerstören müsse« (ebd., 403). Der zweiten Bedingung entspricht der sogenannte contradiction in the will-Test. Kants Beispiel ist hier die Maxime, Menschen in Notsituationen nicht helfen zu wollen: »Aber obgleich es möglich ist, dass nach jener Maxime ein allgemeines Naturgesetz wohl bestehen könnte: so ist es doch unmöglich, zu wollen, dass eine solches Prinzip als Naturgesetz allenthalben gelte. Denn ein Wille, der dies beschlösse, würde sich selbst widerstreiten […]« (ebd., 423). 17

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tes System zu bringen. Im Zentrum stehen dabei das Universalisierungebot des kategorischen Imperativs und die Vorstellung eines »Reichs der Zwecke« (vgl. GMS IV, 433 f.): einer Gemeinschaft moralischer Wesen (Stufe 4). In einem vergleichenden Blick auf den Politischen Konstruktivismus offenbart sich erneut die systematische Nähe zwischen dem, was Rawls bei Kant vorzufinden meint, und seiner eigenen systematischen Argumentation: Wie die KI-Prozedur, so ist auch der Urzustand ein hypothetisches Gedankenexperiment, in das wir uns immer wieder hineinbegeben können, um die Zulässigkeit eines Prinzips zu überprüfen. Und dieser Test geschieht in beiden Fällen durch den Vorgang der Universalisierung: In der KI-Prozedur wie im Urzustand wird gefragt, auf welche Prinzipien sich alle Beteiligten einigen könnten, ungeachtet der jeweiligen Position, die sie einnehmen. Rawls meint sogar, bei Kant ebenfalls die Notwendigkeit einer Informationseinschränkung auszumachen, wie sie im politischen Urzustand der »Schleier des Nichtwissens« (veil of ignorance) leistet: Auf der vierten Stufe der KI-Prozedur, also bei der Überprüfung, ob wir die durch die neu hinzugefügte Maxime veränderte soziale Welt auch selbst wollen, dürften, so Rawls, nur bestimmte Interessen zählen (vgl. hierzu 2000, 173). 18 Auch an Rawls’ »KI-Prozedur« lassen sich wieder Rückfragen stellen. So könnte man anzweifeln, dass sich die Notwendigkeit einer Informationseinschränkung, wie Rawls sie bei Kant sieht, tatsächlich ergibt. Möglicherweise legt Rawls seiner Interpretation hier schlicht einen zu umgangssprachlichen Begriff von »wollen« zugrunde, der nicht demjenigen Kants in der diskutierten Passage entspricht (vgl. GMS, IV 423). Auch könnte man den vier Stufen der KI-Prozedur eine bloß sozialpragmatische Ausrichtung vorwerfen, die die Funktion der Moral auf die Regulierung des zwischenmenschlichen Zusammenlebens reduziere und dabei Pflichten gegen sich selbst – auf die Kant aber explizit wert legt – systematisch ausblende (vgl. dazu Höffe 2012, 127 f.). Ich möchte an dieser Stelle erneut auf diese Rückfragen nur hinWir sollen dabei nach Rawls die »more particular features of persons, including ourselves, as well as the specific content of their and our final ends and desires« (2000, 175) außer Acht lassen und unsere Überlegung anstellen, als wüssten wir nicht, welchen Platz wir anschließend in dieser Welt einnehmen würden (vgl. ebd., 176). Diese beiden Einschränkungen haben deutliche Entsprechung in den Bedingungen, die der »Schleier des Nichtwissens« uns auferlegt (vgl. oben, Abschn. 3.4.3).

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weisen, da eine Auseinandersetzung mit ihnen den in diesem Kapitel verfolgten roten Faden aus den Augen geraten ließe. Wichtig ist zu sehen, dass sich auf dieser Stufe erneut deutliche Parallelen zwischen Rawls’ Politischem Konstruktivismus und seiner Kant-Interpretation finden lassen. Sie verweisen einmal mehr auf die zentrale Rolle, die Rawls’ interpretative Auseinandersetzung mit Kant für die Entwicklung seiner eigenen Theorie hat.

4.2.3 Rechtfertigungsgrundlage Die KI-Prozedur dient, so haben wir gesehen, in Rawls’ Darstellung dazu, Moralprinzipien – »spezifische kategorische Imperative« – zu konstruieren. Gleichzeitig ist sie selbst nicht konstruiert. Auch hierin spiegelt sich die Struktur des Politischen Konstruktivismus wieder: Denn dort wird der Urzustand ebenfalls nicht konstruiert; er soll vielmehr nur die Auslegung der »fundamentalen Vorstellungen« bzw. der politischen Grundwerte darstellen (vgl. oben, Abschn. 3.4.4). Analog dazu sieht Rawls auch bei Kant zwei Grundwerte gegeben, auf denen sein moralischer Konstruktivismus beruhe: Die KIProzedur sei nämlich der Versuch, unsere moralische Persönlichkeit als freie und vernünftige Wesen auf angemessene Weise abzubilden (vgl. 1989b, 514). Den Ausgangspunkt der KI-Prozedur bildet in Rawls’ Lesart daher die »Konzeption freier und gleicher Personen als vernünftige Wesen« (conception of free and equal persons as reasonable and rational; ebd.). Diese Konzeption stelle, so Rawls, in Kombination mit der Konzeption einer Gemeinschaft solcher Personen die Grundlage des moralischen Konstruktivismus Kants dar: »This conception, together with the conception of a society of such persons, each of whom can be a legislative member of a realm of ends, constitutes the basis of Kant’s constructivism« (ebd.; vgl. auch 2000, 241). Während Rawls’ Politischer Konstruktivismus auf politischen Grundwerten, den »fundamentalen Vorstellungen« beruht, stehen in Rawls’ Kant-Interpretation offenbar zwei ähnliche Vorstellungen am Anfang von Kants Moralphilosophie: der Wert der moralischen Persönlichkeit, und der einer Gemeinschaft moralischer Personen. Die KI-Prozedur tut dann nichts weiter, als diese beiden Vorstellungen in eine Form zu bringen, die es uns erlaubt, spezifische kategorische Imperative zu konstruieren. Nach Rawls ist die KI-Prozedur Kants Versuch, eine prozedurale 140

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Darstellung all jener Kriterien zu liefern, die für unser moralisches Überlegen wesentlich sind (vgl. 2000, 217). Hieraus ergebe sich denn auch die objektive Gültigkeit der Konstruktionsresultate: »the general principles and precepts generated by the correct use of that procedure of deliberation satisfy the conditions for valid judgments imposed by the form and structure of our common (human) practical reason« (1989b, 515). Es findet damit also kein Entdecken bereits vorhandener moralischer Tatsachen (moral facts) statt, sondern ein Aufdecken von Normen, die unsere moralischen Überlegungen leiten sollen (vgl. ebd., 516): 19 Der moralische Konstruktivismus hebt bei zwei fundamentalen Vorstellungen an und legt diese der KI-Prozedur zugrunde, die dann ihrerseits spezifische kategorische Imperative hervorzubringen imstande ist.

4.2.4 Rawls’ Interpretation des Faktums der Vernunft Woher erhalten aber die beiden Vorstellungen, auf denen die KI-Prozedur beruht – die der moralischen Persönlichkeit und der Gemeinschaft moralischer Personen –, ihre normative Kraft? Was bildet die Rechtfertigungsgrundlage in Kants moralischem Konstruktivismus, wie Rawls ihn versteht? In Rawls’ Politischem Konstruktivismus entstammen die fundamentalen Vorstellungen der politischen Kultur demokratischer Verfassungsstaaten (vgl. PL, 13 f.). Ich habe im letzten Kapitel dafür argumentiert, dass die Theorie damit am plausibelsten als eine Variante des kohärenztheoretischen Konstruktivismus verstanden werden kann. Die Quelle der Normativität der fundamentalen Vorstellungen wird dabei von Rawls nicht weiter ausgewiesen, ihre Gültigkeit stattdessen vorausgesetzt (vgl. oben, Abschn. 3.5.3 und 3.6). Die Kants moralischem Konstruktivismus zugrunde liegenden Konzeptionen der moralischen Persönlichkeit und der Gemeinschaft moralischer Personen seien, so Rawls, nicht konstruiert. Sie seien

Rawls führt aus: »Kant’s constructivism does not say that moral facts, much less all facts, are constructed. Rather, a constructivist procedure provides principles and precepts that specify which facts about persons, institutions, and actions, and the world generally, are relevant in moral deliberation. Those norms specify which facts are to count as reasons« (Rawls 1989b, 516; Hervorh. i. Orig.).

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vielmehr bereits in unserem alltäglichen Moralbewusstsein vorhanden und könnten daraus »extrahiert« werden: »these conceptions are elicited from our moral experience« (1989b, 514; Hervorh. i. Orig.). Dieses »Extrahieren« geschieht in Rawls’ Lesart durch das, was Kant das »Faktum der Vernunft« nennt (vgl. KpV, V 56). Das Faktum der Vernunft steht damit, so Rawls, am Beginn der Moralbegründung Kants. Er deutet Kants Theoriestück des Faktums der Vernunft in einer Weise, die stark an sein eigenes Konzept des »Überlegungsgleichgewichts« (reflective equilibrium) erinnert: Es bestehe nämlich darin, dass unsere Vernunft bestimmte moralische Überzeugungen bereithalte und diese in einer »selbstbeglaubigenden« Weise (self-authenticating), also rekursiv, rechtfertige (vgl. 1989b, 517): »pure practical reason, with the moral law as its first principle, is authenticated by the fact of reason« (ebd., 523). 20 Die Rechtfertigungsargumentation hebt also in dieser Darstellung beim Faktum der Vernunft an. Laut Rawls ist dieses Faktum die Tatsache, dass unsere Vernunft ihre Konzeptionen (moralische Persönlichkeit und Gemeinschaft moralischer Menschen) selbst »beglaubigt«, also rekursiv begründet. Auf diese Weise sind uns die beiden normativen Grundwerte des moralischen Konstruktivismus zugänglich. 21 Das Faktum der Vernunft ermögliche es uns also, diese Werte aus unserem moralischen Alltagsverständnis herauszufiltern, ihnen eine genaue systematische Kontur geben, um sie anschließend als Grundlage zur Modellierung der KI-Prozedur zu verwenden (vgl. auch ebd., 517). 22 Für Rawls ist damit klar, dass Kant seinen moralischen Konstruktivismus auf dieselbe kohärenztheoretische Weise begründet, wie es auch in Rawls’ Politischem Konstruktivismus geschieht: »by the time of the second Critique Kant has developed, I think, not only Der Ausdruck »selbstbeglaubigen« ist nicht minder alltagsfremd wie das englische Original self-authenticating. Sein Verständnis wird auch dadurch erschwert, dass es keine Übersetzung aus Kants Schriften zu sein scheint, sondern erneut eine interpretatorische Begriffsschöpfung durch Rawls. Leider sagt Rawls an keiner Stelle, was genau er darunter verstehen möchte. 21 Zu diesem Verständnis von Rawls’ Interpretation des Faktums der Vernunft s. auch Galvin 2011, 26 f. 22 Entsprechend sagt Rawls über die KI-Prozedur auch an einer Stelle: »it prepares the way for a kind of self-knowledge that only philosophical reflection about the moral law and its roots in our persons can bring to light« (2000, 219). 20

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a constructivist conception of practical reason but a coherentist account of its authentication. This is the significance of his doctrine of the fact of reason« (1989b, 522; vgl. auch 2000, 266–268). 23 So wie im Politischen Konstruktivismus der Urzustand die Gerechtigkeitsprinzipien als konstruktivistische Prozedur rechtfertigt, um selbst anschließend kohärenztheoretisch begründet zu werden, verhält es sich in Rawls’ Darstellung also auch bei Kant: Die spezifischen kategorischen Imperative werden mithilfe der KI-Prozedur konstruktivistisch gerechtfertigt, während die KI-Prozedur ihrerseits durch das Faktum der Vernunft kohärenztheoretisch begründet wird. 24 Rawls beschließt seine interpretativen Bemerkungen mit folgendem Kommentar: »A constructivist and coherentist doctrine of practical reason is not without strengths as a possible view; and as such it is part of the legacy Kant left to the tradition of moral philosophy« (1989b, 523).

4.2.5 Zusammenfassung und Einschätzung Dieser Abschnitt diente dazu, Rawls’ Kant-Interpretation vorzustellen. Es wurde deutlich, dass Rawls’ Politischer Konstruktivismus auf allen Argumentationsstufen Entsprechungen im moralischen Konstruktivismus hat, wie Rawls ihn bei Kant gegeben sieht. Darüber hinaus haben wir gesehen, dass es Rawls’ Anliegen ist, mit dem Begriff des Konstruktivismus den wesentlichen Theoremen der Moralphilosophie Kants (»Sittengesetz«, »kategorischer Imperativ«, »Reich der Zwecke«, »Faktum der Vernunft«) einen einheitlichen Rahmen zu verleihen und sie in klaren argumentativen Bezug zueinander zu setzen. Die Funktion dieses Abschnittes bestand darin, zunächst die kantischen Wurzeln des Konstruktivismus zu erhellen, wie Rawls selbst sie gegeben sieht. Diese Wurzeln, so hat sich gezeigt, sind von erheblichem Umfang: In beiden Fällen führt eine Konstruktionsprozedur, die als hypothetisches Gedankenexperiment modelliert ist, zu konRawls sieht die kohärenztheoretische Begründung als Kants Lösung des Problems der Deduktion des Moralgesetzes, die Kant im dritten Abschnitt der Grundlegung zu unternehmen versucht und von der er sich angeblich nach verbreiteter Lesart in der zweiten Kritik verabschiede (vgl. Rawls 1989b, 522. Ein Überblick zu dieser Interpretations-Debatte findet sich bei Kraft/Schönecker 1999, xxxiv-xxxvii). 24 Diese Lesart teilt auch Onora O’Neill: vgl. O’Neill 2003b, 356 f. 23

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kreten normativen Prinzipien. Beide Prozeduren bauen außerdem auf gewissen normativen Grundvorstellungen auf, und verstehen die Konstruktionsprozedur als prozedurale Auslegung dieser Vorstellungen. Nicht zuletzt sind beide Theorien in Rawls’ Darstellung Varianten eines kohärenztheoretischen Konstruktivismus: Der Politische Konstruktivismus will politische Werte, die er in der politischen Kultur einer Gesellschaft vorfindet, in ein kohärentes System bringen. Analog versteht Rawls den Konstruktivismus Kants als Systematisierung bestimmter moralischer Alltagsüberzeugungen, die uns durch das Faktum der Vernunft zugänglich sind. Beide Theorien begründen also ihre normativen Prinzipien durch ein konstruktivistisches Verfahren, das selbst kohärenztheoretisch gerechtfertigt wird. 25 Es bestehen Parallelen zwischen Rawls’ und Kants Konstruktivismus auf allen Rechtfertigungsstufen: Den Gerechtigkeitsprinzipien entsprechen spezifische kategorische Imperative (Stufe 4: Ergebnis), dem Urzustand die KI-Prozedur (Stufe 3: Prozedur), den fundamentalen Vorstellungen von freien und gleichen Bürgern und der Gesellschaft als fairer Kooperationsgemeinschaft die fundamentalen Vorstellungen von moralischer Persönlichkeit und der Gemeinschaft moralischer Menschen (Stufe 2: Grundlage). Und auf der rechtfertigungstheoretischen Nullstufe (Stufe 1: Ursprung der Normativität), haben wir gesehen, entspricht der politischen Kultur im Politischen Konstruktivismus das Faktum der Vernunft in Kants moralischem Konstruktivismus: In beiden Fällen gibt es eine bereits vorhandene Menge an normativen Grundüberzeugungen, aus denen der Konstruktivismus schöpfen kann.

4.3 Der »Vorrang des Rechten« und das Paradox der Methode Der vorangehende Abschnitt stellte heraus, wie nah Rawls seinen Politischen Konstruktivismus entlang der argumentativen Struktur entwickelt, die er in der Moralbegründung Kants gegeben sieht. Kants Einige Schüler Rawls’ sind angesichts dieser als Defizit empfundenen Schlussfolgerungen weiter gegangen und haben versucht, Kants Konstruktivismus auf eine wertbasierte Grundlage zu stellen. Besonders einflussreich sind hierzu die Arbeiten von Christine Korsgaard (s. bes. 1996a; vgl. zu Korsgaard auch oben, Abschn. 3.3.2).

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Moralphilosophie erweist sich dabei in Rawls’ Lesart durch das Faktum der Vernunft als kohärenztheoretisch begründet. Wenn man aber nun den Blick auf ein zweites Theoriestück richtet, dessen systematische Wurzeln Rawls ebenfalls in Kants Denken verortet, kommen Zweifel an dieser Interpretation auf. Wie ich im Folgenden zeigen möchte, sprechen die kantischen Wurzeln dessen, was Rawls als den »Vorrang des Rechten« (priority of right) bezeichnet, gegen Rawls’ Interpretation des Faktums der Vernunft: Kants Verständnis der Vorrangsthese scheint nämlich jegliche kohärenztheoretische und auch jegliche wertbasierte Moralbegründung auszuschließen. Es hat daher den Anschein, als sei Rawls’ Interpretation der Rechtfertigungsgrundlage der Moral bei Kant nicht vereinbar mit Kants eigenen Ausführungen zur Vorrangsthese. Kant selbst verwendet den Ausdruck »Vorrangs des Rechten« nicht. 26 Rawls führt diesen Ausdruck jedoch, wenn er ihn gebraucht, direkt auf Kant zurück. So sagt Rawls bereits in der Theory, er verwende »the priority of right as found in Kant« (TJ, 38) und merkt an: »the priority of right is a central feature of Kant’s ethics« (TJ, 28). Auch in seinen interpretatorischen Schriften zu Kant ist dieser Ausdruck stets präsent (vgl. 1989b, 506 f. und 2000, 157 f., 162, 230–232). Da ich bereits erläutert habe, wie Rawls ihn systematisch versteht (vgl. oben, Abschn. 2.3.4), möchte ich mich nun seinen kantischen Wurzeln zuwenden. Rawls selbst nennt zwei Stellen in Kants Werk, die für das Konzept des »Vorrangs des Rechten« einschlägig seien (vgl. TJ, 28): eine Passage aus dem Gemeinspruch (VIII, 282 f.), sowie Kants Erörterung des »Paradox der Methode«, die sich in der Kritik der praktischen Vernunft (V, 62–65) findet. Ich werde mich in meiner Auseinandersetzung auf die zweite Passage beschränken, und zwar aus einem doppelten Grund. Erstens nimmt Kant dort die frühere und meines Erachtens auch ertragreichere Auseinandersetzung mit diesem TheoIch konnte nicht endgültig verifizieren, ob Rawls der Schöpfer des Ausdrucks des »Vorrangs des Rechten« (priority of right) ist. Er verwendet ihn aber immerhin seit der Theory (vgl. TJ, 28, 37 f.) und widmet ihm später einen eigenen Aufsatz (Rawls 1988), der in überarbeiteter Fassung die fünfte Vorlesung in Political Liberalism bildet. Wenn der Ausdruck in den gegenwärtigen Debatten verwendet wird, geschieht dies zumeist mit explizitem Bezug zu Rawls: vgl. z. B. Freeman 1994, Dogan 2011, Galvin 2011 und Özmen 2015. Auch wenn Rawls nicht der Urheber dieses Ausdrucks sein sollte, so ist doch die Debatte weitgehend durch dessen Bestimmung durch Rawls geprägt.

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riestück vor, und zweitens beruft sich Rawls, wenn es um den »Vorrang des Rechten« geht, vor allem auf diese Passage (vgl. 2000, 232).

4.3.1 Worin besteht das Paradox? Kant schreibt: »Hier ist nun der Ort, das Paradoxon der Methode in einer Kritik der praktischen Vernunft zu erklären: daß nämlich der Begriff des Guten und Bösen nicht vor dem moralischen Gesetze (dem es dem Anschein nach sogar zum Grunde gelegt werden müsste), sondern nur (wie hier auch geschieht) nach demselben und durch dasselbe bestimmt werden müsse« (KpV, V 62 f.). An dieser Stelle der Kritik der praktischen Vernunft, im zweiten Hauptstück der »Elementarlehre«, formuliert Kant ein für sein Vorgehen zentrales begründungstheoretisches Prinzip: Das Moralgesetz soll nicht aus einem Begriff des Guten abgeleitet werden. Es sei, so Kant, von entscheidender Bedeutung, dass nicht »der Begriff des Guten, als eines Gegenstandes, das moralische Gesetz« bestimme und möglich mache, »sondern umgekehrt das moralische Gesetz allererst den Begriff des Guten, sofern es diesen Namen schlechthin verdient« (ebd., 64). 27 Kant postuliert also einen bestimmten Vorrang im Verhältnis von Moralgesetz und Begriff des Guten: Das Moralgesetz soll begründungstheoretisch Vorrang haben vor dem Begriff des Guten und daher nicht durch letzteren bestimmt werden. Dies ist es, was Rawls als den »Vorrang des Rechten« bezeichnet. Wie wichtig diese Vorrangsthese für seine Theorie ist, erläutert Kant selbst: »Diese Anmerkung, welche bloß die Methode der obersten moralischen Untersuchung betrifft, ist von Wichtigkeit. Sie erklärt auf einmal den veranlassenden Grund aller Verwirrungen der Philosophen in Ansehung des obersten Prinzips der Moral« (ebd.). 28 Es geht bei dieser methodischen Einsicht also um nichts weniger als um den grundlegenden Unterschied von Kants Moralphilosophie zu

Aufschlussreiche Diskussionen dieser »Paradox der Methode«-Passage finden sich in der Sekundärliteratur z. B. bei Silber 1960, Pieper 2002 und Sensen 2011, 14–27. 28 Es scheint angesichts des Kontexts (»die Methode der obersten moralischen Untersuchung«) klar zu sein, dass das »bloß« in diesem Zitat keine Relativierung ausdrückt, sondern eine thematische Verortung. Vgl. zu dieser Einschätzung auch Sensen 2011, 18. 27

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anderen, die – in den Augen des Königsberger Philosophen – allesamt »verwirrt« seien, wenn es um das oberste Moralprinzip gehe. 29 Deswegen bezeichnet Kant seine methodische Maxime als ein »Paradox«: Sie stehe im Widerspruch zu dem, wovon die Philosophen bislang ausgegangen sind. All diejenigen Philosophen, die in der ein oder anderen Weise beim Begriff des Guten beginnen, und damit den Inhalt des obersten Moralprinzips bestimmen möchten, gelangen nach Kant in eine Sackgasse: Sie können nicht ausweisen, warum moralische Prinzipien allgemein und notwendig sind, und vermögen es daher nicht, einen kategorischen Imperativ zu begründen. Dadurch schließen diese Philosophen von vornherein »geradezu die Möglichkeit praktischer Gesetze a priori« aus (ebd., 63). 30 Mit anderen Worten ist es also genau die richtige Bestimmung dieses Vorrangsverhältnisses, die es in Kants Augen ermöglicht, zu einer universellen (allgemeinen und notwendigen) Verpflichtung zu gelangen. Ein Vorrang des Guten führt dagegen unweigerlich zu einem relativistischen Moralverständnis. Die Begriffe »gut« und »böse« müssen, so Kant, »als Folgen der Willensbestimmung a priori« (ebd., V 65) verstanden werden, und nicht als deren Ursache. 31 Wie ist nun aber das methodische Prinzip, das Kant als »Paradox der Methode« bezeichnet, näherhin zu verstehen?

John R. Silber hat aufgrund ihrer fundamentalen Bedeutung diese Vorrangsthese als Kants »kopernikanische Revolution in der Ethik« bezeichnet (Silber 1960). Da es Kant hierbei tatsächlich um eine radikale Umkehrung der Denkweise geht, und nur diese Umkehrung in seinen Augen zu einer autonomen Moral führen kann, ist Silbers Analogie zur kopernikanischen Wende in der Kritik der reinen Vernunft durchaus treffend. 30 Vgl. hierzu die Einschätzung Annemarie Piepers: »Mit seiner These, dass das Freiheitsprinzip qua Bedingung des Sittengesetzes (ratio essendi) das Apriori der Ethik ist, nicht aber das Begriffspaar des Guten und Bösen, kritisiert Kant ethische Theorien hedonistischen und utilitaristischen Typs einerseits, metaphysischen Typs andererseits, da sie die Ethik in einem Seinsprinzip verankern und damit jenen Irrtum begehen, den G. E. Moore als naturalistischen Fehlschluss bezeichnet hat« (Pieper 2002, 117). 31 Annemarie Pieper erläutert konzise: »Während in der empirischen Genese Gut und Böse Ausgangspunkt der Willensbestimmung sind – gut/böse ist, was mich glücklich/ unglücklich macht (mir nutzt/schadet) und mich demgemäß zu einer Handlung motiviert, die auf mein Wohlergehen zielt –, bildet in der sittlichen Genese die autonome praktische Vernunft den Anfang der Rekonstruktion« (Pieper 2002, 116). 29

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4.3.2 Kants Argumente für das Paradox Wie schon angeklungen ist, grenzt sich Kant mit dem, was er als das »Paradox der Methode« bezeichnet, gegen seine Vorgänger ab. Kant plädiert für ein radikales Umdenken: Nicht mehr soll, wie bisher, das Gute dazu dienen, das Moralgesetz inhaltlich zu bestimmen; das Moralgesetz soll vielmehr am Anfang der Begründungskette stehen. 32 All diesen Vorgängern sei gemeinsam, dass sie »einen Gegenstand des Willens« aufsuchten, »um ihn zur Materie und dem Grunde eines Gesetzes zu machen« (KpV, V 64). Kant listet mehrere Kandidaten für einen solchen Gegenstand auf: Lust, Glückseligkeit, Vollkommenheit, das moralische Gefühl, den Willen Gottes (vgl. ebd., sowie KpV, V 40). »Die Alten«, so Kant, »verrieten […] diesen Fehler dadurch unverhohlen, daß sie ihre moralische Untersuchung gänzlich auf die Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gut, mithin eines Gegenstandes setzten, welchen sie nachher zum Bestimmungsgrunde des Willens im moralischen Gesetze zu machen gedachten« (ebd., 64). Kant hat mit diesen »Alten« offensichtlich eudaimonsitische Ethiken im Blick, wie sie sich vor allem in der griechischen und römischen Antike finden. Diese Ethiken zeichnen sich dadurch aus, dass ein »höchstes Gut« bestimmt wird und sich eine Untersuchung anschließt, durch welche Handlungen der Mensch dieses Gut erreichen kann. »Die Neueren« dagegen »verstecken obigen Fehler (wie in vielen andern Fällen) hinter unbestimmten Worten, indessen, daß man ihn gleichwohl aus ihren Systemen hervorblicken sieht, da er alsdenn allenthalben Heteronomie der praktischen Vernunft verrät, daraus nimmermehr ein a priori allgemein gebietendes moralisches Gesetz entspringen kann« (ebd., 64 f.). Hier wird die Pointe deutlich, auf die das Paradox der Methode abzielt: Eine Rechtfertigung, die beim Guten beginnt, mündet nach Kant notwendig in Heteronomie. Sie führt nämlich unweigerlich dazu, dass etwas Fremdes – eben dasjenige Objekt, das für gut befunden

32 In demselben Verhältnis sieht Rawls seine Gerechtigkeitstheorie in der Theory als dem Utilitarismus entgegengesetzt: Während letzterer bei einem Begriff des Guten beginnt und dadurch bestimmt, was moralisch gefordert ist, gehe Rawls’ Gerechtigkeitstheorie von einem Vorrang der Gerechtigkeit – und damit des »Rechten« – aus (vgl. TJ, 3 f., 27 f.).

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wird – den Willen des Akteurs bestimmt. Damit, so Kant weiter, wird aber ausgeschlossen, dass es ein a priori gültiges Prinzip gibt, das allgemein und notwendig verbindlich für alle vernünftigen Wesen gelten kann. Als solches zeige sich aber das Sittengesetz in unserem Alltagsverstand. 33 Legt man also, so Kants These, einer Rechtfertigung einen Begriff des Guten zugrunde, dann kann eine entsprechende Theorie keine universellen Prinzipien begründen, sondern allenfalls partikulare. Weshalb aber führen all diese Rechtfertigungen nicht nur in einen Partikularismus bzw. Relativismus, sondern auch notwendigerweise zu Heteronomie, also zu moralischer Fremdbestimmung? 34 Kant beginnt sein Argument mit einer moralpsychologischen Bestimmung des Begriffes »gut«: Als »gut« bezeichnen wir demzufolge das, was uns Lust, als »schlecht« das, was uns Unlust bereitet (vgl. KpV, V 62). Würden wir nun von einem so verstandenen Guten beginnen, dann »könnte der Probierstein des Guten oder Bösen in nichts anders, als in die Übereinstimmung des Gegenstandes mit unserem Gefühle der Lust oder Unlust gesetzt werden« (ebd., 63). Das hieße aber, dass uns nur über Erfahrung, also a posteriori, möglich wäre, zu bestimmen, was moralisch richtig ist. Damit würde per definitionem die Möglichkeit praktischer Gesetze a priori ausgeschlossen werden (vgl. ebd.). Eine Moraltheorie, deren Begründung beim Guten beginnt, steht also in Kants Sichtweise vor dem Problem, dass sie erklären muss, wie wir erkennen können, ob wir auf dem richtigen Weg sind. Da es sich bei dem Guten um etwas Empirisches handelt, und uns dieser Bereich in praktischer Hinsicht nur über das Gefühl der Lust bzw. Unlust zugänglich ist, müssen es nach Kants Klassifikationsschema diese Gefühle sein, die uns angeben, ob etwas dem Guten entspricht, oder nicht. Da all dies aber nur immer wieder durch ErfahKant sieht die Eigenschaften der Allgemeinheit und Notwendigkeit in der »gemeinen Idee« der Pflicht und der sittlichen Gesetze in unserem reflektierten Alltagsverstand gegeben: »Jedermann muß eingestehen, daß ein Gesetz, wenn es moralisch, d. i. als Grund einer Verbindlichkeit, gelten soll, absolute Notwendigkeit bei sich führen müsse; daß das Gebot: du sollst nicht lügen, nicht etwa bloß für Menschen gelte, andere vernünftige Wesen sich aber daran nicht zu kehren hätten; und so alle übrigen eigentlichen Sittengesetze; daß mithin der Grund der Verbindlichkeit hier nicht in der Natur des Menschen oder den Umständen in der Welt, darin er gesetzt ist, gesucht werden müsse, sondern a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft« (GMS, IV 389; Hervorh. i. Orig.). 34 Kants Argument findet sich nach seinen Schritten präzise aufgeschlüsselt und nachvollzogen bei John Silber: 1960, bes. 87–91. 33

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rung erprobt werden kann, ist dieses Vorgehen nicht in der Lage, zu allgemeinen und notwendigen Prinzipien zu führen. 35 Es lassen sich also in einem solchen Fall nicht nur keine allgemeinen Regeln aufstellen, sondern wir würden durch eine solche Moral auch immer von außen bestimmt werden: Wir wären nicht selbst die Gesetzgeber unseres Willens, sondern unser Wille wäre stets durch ein Objekt, eben »das Gute«, bestimmt – ein Objekt, zu dem wir noch dazu nur einen äußert unbeständigen Zugang haben. Eine Moraltheorie, die ihre Prinzipien aus einem Begriff des Guten ableitet, ist also in Kants Augen immer heteronom und ermöglicht keinen autonomen Gebrauch der menschlichen Vernunft.

4.3.3 Implikationen für Rawls’ Kant-Interpretation Angesichts dieser Ergebnisse ergeben sich Bedenken gegen Rawls’ Interpretation. Gerade im Hinblick auf die Rechtfertigungsgrundlage erscheint es nun fragwürdig, dass Kant seine Moraltheorie tatsächlich auf zwei Werten basiere, und seine Theorie als Kohärenzverfahren verstehe: Käme ein solches Vorgehen denn nicht genau dem gleich, wogegen sich Kant in der im letzten Abschnitt diskutierten Passage stellt? Rawls hat sicherlich recht, dass es Kant in seiner Moralphilosophie auch darum geht, den moralischen Alltagsverstand über sich selbst aufzuklären. So beginnt Kant im ersten Abschnitt der Grundlegung mit dem, was er als vorphilosophisches Verständnis der Moral nimmt, und sucht die darin enthaltenen Implikationen philosophisch auszudeuten. 36 Kant möchte also durchaus eine Selbstaufklärung des vorphilosophischen Moralverständnisses leisten. 37 Die entscheidende Frage ist, wie tief diese Selbstaufklärung reicht, bzw. ob Rawls in seiVgl. auch Oliver Sensens Interpretation dieses Arguments: »So without a prior moral law, the criterion for the good would be pleasure; pleasure is relative and contingent, and therefore cannot yield an a priori moral law« (Sensen 2011, 25). 36 In der »Vorrede« gibt Kant folgende Auskunft über seine Methode: »Ich habe meine Methode in dieser Schrift so genommen, wie ich glaube, daß sie die schicklichste sei, wenn man von der gemeinen Erkenntnis zur Bestimmung des obersten Prinzips desselben analytisch und wiederum zurück von der Prüfung dieses Prinzips und den Quellen desselben zur gemeinen Erkenntnis, darin sein Gebrauch angetroffen wird, synthetisch den Weg nehmen will« (GMS, IV 392). 37 Otfried Höffe attestiert Kants Moralphilosophie angesichts dessen den »Charakter einer reflexiven Selbst-Aufklärung des moralischen Bewußtseins« und fährt pointiert 35

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ner Interpretation tatsächlich bis zur rechtfertigungstheoretischen Nullstufe in Kants Moralphilosophie vorgedrungen ist. Nach Kant zeichnet sich das, was wir – bereits vorphilosophisch – unter moralisch verstehen, durch die Eigenschaften »allgemein« und »notwendig« aus (vgl. GMS, IV 389). Daraus folgt für ihn, dass der »Grund der Verbindlichkeit« moralischer Forderungen »a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft« zu finden sein könne (ebd.). Von diesen Voraussetzungen ausgehend hebt Kant an, seine Philosophie der Moral zu entwickeln. Eine solche Voraussetzung kommt aber kaum derjenigen gleich, die Rawls in Kants Theoriestück des Faktums der Vernunft zu finden meint: dass unser moralisches Alltagsverständnis bestimmte substantielle Werte bereits voraussetzt. Zudem stehen diese Voraussetzungen, wie Kant sie formuliert, am Beginn seiner Untersuchungen. Dies bedeutet nicht, dass sie auch die Grundlage der Rechtfertigungskette bilden. Diese Rechtfertigungskette, zeigt die erfolgte Lektüre der »Paradox der Methode«-Passage aus der Kritik der praktischen Vernunft, scheint vielmehr auf einer anderen Grundlage zu ruhen: auf einer Grundlage, die gerade nicht bei Begriffen des Guten beginnt. Denn nur so lassen sich nach Kant Autonomie und unbedingte Gültigkeit des Moralgesetzes erweisen. Dies hat weitreichende Konsequenzen: Eine Rechtfertigung, die diese Bedingungen erfüllt, kann nicht in der kohärenztheoretischen Weise formuliert werden, wie es bei Rawls geschieht. Sie scheint aber auch nicht auf einer wertbasierten Theorie fußen zu können, denn eine solche wäre gleichermaßen eine Variante des Vorrangs des Guten. Dass sie keine Klugheitsüberlegungen an den Beginn stellen darf, wie es der prudentielle Konstruktivismus tut (vgl. oben, Abschn. 3.3.1), scheint ebenfalls offenbar, denn hypothetische Überlegungen könnten keinen kategorischen Imperativ begründen. Und nicht zuletzt schließt die hier angestellte Interpretation von Kants Vorrangsthese einen moralischen Realismus als Rechtfertigungsgrundlage aus. Denn würde die Geltung moralischer Normen von menschenunabhängigen moralischen Tatsachen abhängen, wäre dies ein klarer Fall von heteronomer Willensbestimmung. Es scheint also, als erfordere Kants recht verstandenes metho-

fort: »Kant will ›nur‹ die Philosophie der Moral, nicht die Moral selbst revolutionieren« (Höffe 2012, 68). Die Herausforderung des Pluralismus

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disches Prinzip des Vorrangs des Moralgesetzes eine Moralbegründung, die keinen der bislang diskutierten Wege einschlägt.

4.4 Die Begründung der Moral – Kants Alternative Die Untersuchung der kantischen Wurzeln des »Vorrangs des Rechten« legt nahe, dass Kant die Begründung der Moral anders versteht, als Rawls sie rekonstruiert: Rawls’ Interpretation scheint ihrerseits dem »Paradox der Methode« zum Opfer zu fallen. Denn wäre Rawls’ Lesart von Kant tatsächlich Kants eigene Position, dann würden zwei Werte als Objekte den Willen bestimmen. Wie im letzten Abschnitt deutlich wurde, würde dies jedoch zwei für Kant höchst unwillkommene Konsequenzen mit sich bringen: Eine solche Begründung würde erstens zu Heteronomie führen. Denn der Wille würde dann nicht mehr selbst gesetzgebend, d. h. autonom sein, sondern von außen, eben durch die beiden Werte, bestimmt werden. Zweitens könnten aus einer derartigen Moraltheorie keine allgemeinen und notwendigen Maximen abgeleitet werden, da wir nur einen a posterioriZugang zur Überprüfung ihrer Gültigkeit hätten – universelle moralische Prinzipien wären damit unmöglich. Nun steht beides offensichtlich im Widerspruch zu Kants Anspruch an seine eigene Moraltheorie: Ihre Begründung soll, so Kant, vom Moralgesetz angeben, das gerade nicht durch einen Begriff des Guten bestimmt ist; sie soll zu Autonomie und zu notwendigen und allgemein-verbindlichen Prinzipien führen. Wir stehen damit vor der Frage, wie die Rechtfertigungsgrundlage des Konstruktivismus bei Kant in einer Weise rekonstruiert werden kann, damit die resultierende Theorie diese Desiderate erfüllt.

4.4.1 Weder Konstruktivismus noch Realismus In der Sekundärliteratur gibt es eine Debatte darüber, ob sich Kants Moralphilosophie zutreffender als Konstruktivismus oder als eine Variante des moralischen Realismus beschreiben lässt. 38 Während Patrick Kain, der sich der realistischen Lesart zuordnet, fasst die Debatte zusammen: »Kant is often characterized as a ›constructivist‹ anti-realist about morality and its presuppositions. Within Kant’s system, it is often claimed, the supreme principle of

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sich viele Interpreten darin einig sind, dass es gute Gründe gibt, Kants normative Theorie als Konstruktivismus zu beschreiben, dreht sich der Streit in der Debatte insbesondere darum, welcher Theorieform Kants Moralbegründung zugeordnet werden kann. 39 So stimmen zahlreiche Interpreten darin überein, dass der Begriff des Konstruktivismus geeignet ist, um die Operationalisierung des kategorischen Imperativs darzustellen, dass er zur Beschreibung der Rechtfertigungsgrundlage aber nicht taugt. 40 Aus der im vorherigen Abschnitt angestellten Lektüre der »Paradox der Methode«-Passage hat sich im Hinblick auf die Begründung der Moral folgende Situation ergeben: Eine kohärenztheoretische Interpretation, wie Rawls sie vornimmt, hat sich aufgrund der Textbelege als unplausibel erwiesen. Auch eine wertbasierte oder prudentielle Variante des Konstruktivismus scheinen als Rechtfertigungsgrundlage angesichts von Kants Vorrangsprinzip auszuscheiden. Denn ein Rekurs auf Werte käme einem Vorrang des Guten gleich und würde in Heteronomie resultieren. 41 Eine prudentielle Grundlage wiederum wäre nicht imstande, einen kategorischen Imperativ zu begründen. 42 Ebensowenig scheint ein moralischer Realismus in der Lage zu sein, eine Rechtfertigungsgrundlage zu liefern, die dem Vorrangsprinzip auf angemessene Weise Rechnung tragen könnte. Manche Interpreten argumentieren zwar, dass die Passage des Faktums der morality is a cognitive claim that may possess objective validity (thereby distinguishing Kant’s position from non-cognitivist anti-realism and cognitivist error theories), but its validity is fundamentally ›stance dependent‹ or dependent upon our beliefs, conceptions, or constructive activity and is free of genuine ontological commitments. Others have argued that Kant’s moral philosophy should be understood as a form of realism because the moral law purports to be valid for every free rational agent, independently of its beliefs, conceptions, and activities, and purports to involve robust ontological presuppositions such as the reality of ›transcendental freedom‹, God, and immortality« (Kain 2006, 449). 39 Diese Unterscheidung entspricht dem Unterschied von »normativem« und »metaethischem« Konstruktivismus: vgl. Abschn. 3.2.1. 40 Vgl. z. B. Höffe 2012, 68 u. 148 f., Hill 2012, Sensen 2013, 80 f. Bedenken dagegen führt Richard Galvin an: 2011, 34 f. 41 Einen wertbasierten Interpretationsversuch der Moralbegründung bei Kant unternimmt gleichwohl Christine Korsgaard, die die Rechtfertigungsgrundlage der Moralphilosophie Kants im »Wert der Menschheit« (value of humanity) gegeben sieht, s. z. B. 1996a, 17 und 123 f. 42 Vgl. hierzu auch Oliver Sensens konzise Kritik an einer solchen Interpretation von Kants Moralbegründung: Sensen 2013, 76 f. Die Herausforderung des Pluralismus

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Vernunft eine solche Lesart nahe legen würde. 43 Aus Kants Paradox der Methode scheint jedoch zu folgen, dass menschenunabhängige Werte keine Grundlage für eine autonome Moral, und dass moralische Tatsachen keine Grundlage für eine notwendige und streng allgemeine Moral zu liefern im Stande sind. All das sind freilich nur sehr vorläufige Befunde. Sie kommen keinesfalls der Widerlegung einer Interpretationslinie oder gar einer Entscheidung des Disputs in der Sekundärliteratur gleich. Dafür ist hier auch nicht der Ort. Sie geben aber Anlass dafür, sich in Bezug auf die Rechtfertigungsgrundlage von Kants Moralphilosophie nach einem weiteren Begründungsmuster umzuschauen. Ich möchte in diesem Abschnitt ein solches weiteres Begründungsmuster vorstellen. Es findet sich in der Interpretation Oliver Sensens, der Kants Moralbegründung als »transzendentalen Konstitutivismus« (transcendental constitutivism) beschreibt. Sensen fragt, ob sich Kants Theorie adäquater als »Konstruktivismus« oder »moralischer Realismus« beschreiben lasse und kommt zu dem Schluss, dass Kants Moralbegründung weder konstruktivistisch, noch realistisch verfährt, sondern sich auf beachtenswerte Weise dieser Dichotomie versperrt.

4.4.2 Der »transzendentale Konstitutivismus« Sensen weist darauf hin, dass in der Debatte um die Rechtfertigungsgrundlage bei Kant gemeinhin angenommen wird, es gebe nur zwei mögliche Antworten: entweder sei Kant Konstruktivist oder eben Realist (vgl. Sensen 2013, 63). Sensen schlägt stattdessen einen dritten Weg ein und argumentiert dafür, dass eine weitere Kategorie vonnöten sei, um Kants Rechtfertigungsmodell angemessen zu beschreiben. Sensen nennt diese dritte Kategorie »transzendentalen Konstitutivismus« (transcendental constitutivism; ebd., 65 f.). Das Adjektiv »transzendental« verweist dabei auf die der RechtCarla Bagnoli fasst diese Lesart zusammen: »We know the moral law as a ›fact‹, and we feel its pull in the guise of reverence for the law. This immediate consciousness of the moral law also shows that we have an interest in morality, which arises independently of self-interested motives. Many interpreters take the argument from the fact of reason to show that Kant’s claim about the objectivity of moral obligations ultimately relies on perception of some moral facts (the fact of reason), hence on a realist foundation« (Bagnoli 2011, Abschn. 2.1).

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fertigung zugrunde liegende Argumentationsweise, die bei Kant auf die Bedingungen der Möglichkeit praktischer Freiheit zielt. Und der Begriff »Konstitutivismus« soll hervorheben, dass die Moral bei Kant weder konstruiert noch vorgefunden wird: Vielmehr werde sie durch ein Vernunftprinzip »konstituiert« (constituted; ebd., 65). Sensen erläutert die Ähnlichkeiten und Unterschiede des transzendentalen Konstitutivismus mit den konstruktivistischen und realistischen Begründungsmustern (vgl. ebd.): Der transzendentale Konstitutivismus teilt die Annahme konstruktivistischer Theorien, dass es keine menschenunabhängige moralische Realität gibt. Denn ihm zufolge wird die Moral durch die menschliche Vernunftaktivität erzeugt bzw. »konstituiert«. Er unterscheidet sich vom Konstruktivismus aber dadurch, dass er die Moral nicht als Ergebnis eines bewussten menschlichen Entscheidungsprozesses versteht. Es handle sich stattdessen um eine notwendige Konstitution: Der kategorische Imperativ wird in der konstitutivistischen Lesart verstanden als ein »necessary guiding principle of human reason« (ebd.). Aufgrund dieser Annahme stimmt der transzendentale Konstitutivismus mit dem moralischen Realismus darin überein, dass die Moral nicht das Resultat eines Überlegungsvorgangs ist, auf den der Mensch beliebig Einfluss nehmen kann und der somit stets veränderbar bleibt. Da aber das Vernunftprinzip die Moral hervorbringt, eben konstituiert, bildet es, so der Unterschied zum moralischen Realismus, keine vom Menschen unabhängige moralische Realität ab. Sensens Vorschlag des transzendentalen Konstitutivismus steht damit als eigenständige Position zwischen den beiden Begründungsmustern des Konstruktivismus und des moralischen Realismus: Die Moral wird durch die menschliche Vernunftaktivität konstituiert, ist aber nicht Ausdruck eines Entscheidungsprozesses; sie ist »menschengemacht«, ihre Gültigkeit steht aber nicht zur Disposition (vgl. ebd.). Sensen schlägt, wie bereits erwähnt, vor, den kategorischen Imperativ als ein konstitutives Vernunftprinzip zu verstehen. Als solches liege er dem menschlichen Denken immer schon zugrunde. Sensen erläutert diese Interpretation anhand von Kants Charakterisierung des kategorischen Sollens als eines a priori-Prinzips (vgl. GMS, IV 454): Kants Verwendungsweise von a priori unterscheide sich nämlich sowohl von einem konstruktivistischen als auch von einem realistischem Verständnis: »For Kant the Categorical Imperative is not a priori in the sense that it is an inborn principle, nor is it Die Herausforderung des Pluralismus

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the rule for a particular solution one wants, but it is a spontaneous activity of reason« (Sensen 2013, 77). Wenn der kategorische Imperativ also weder als angeborenes Prinzip verstanden werden sollte, noch als bloßes pragmatisches Koordinationsprinzip, stellt sich die Frage, wie dieses »a priori« dann gedeutet werden kann. Sensen schlägt vor: als ein notwendiges operatives Vernunftprinzip: »The moral law is an operating principle of reason, so to speak. Reason automatically functions in accordance with this law« (2011, 115). Sensen illustriert seinen Interpretationsvorschlag durch einem Vergleich: Der kategorische Imperativ fungiere für die praktische Vernunft wie das Prinzip der Widerspruchsfreiheit für die theoretische: Während letzteres nach Kant in unseren theoretischen Überlegungen notwendig vorausgesetzt wird, so liegt nach Sensen der kategorische Imperativ in gleicher Weise immer schon unserem praktischen Vernunftgebrauch zugrunde (vgl. ebd.). Da wir keinen Einfluss auf den Inhalt des kategorischen Imperativs nehmen und ihn auch nicht willkürlich ändern können, ist er nicht konstruiert. Und da wir ihn nicht als menschenunabhängig vorfinden, kann er nicht als Ausdruck eines moralischen Realismus verstanden werden: Der kategorische Imperativ und mit ihm das Sittengesetz lassen sich daher am treffendsten als »konstitutiv« beschreiben (vgl. Sensen 2011, 115, sowie 2013, 65 u. 81). 44 Sensen erläutert, dass er diese Position, wie sie Kant in seinen Augen vertritt, »transzendental« nennen möchte, um zu betonen, dass es sich bei der entsprechenden Konstitution nicht um einen empirischen oder deliberativen Prozess handle: »Rather, one’s reason is constituted prior to one’s awareness in a way one cannot change« (2013, 65).

4.4.3 Das Faktum der Vernunft Sensens Interpretation, Kants Moralbegründung als Ausdruck eines »transzendentalen Konstitutivismus« zu verstehen, stellt eine attraktive Alternative zu Rawls’ Lesart dar. Nachdem wir Sensens Interpretation nun in ihren Grundzügen vor Augen haben, möchte ich kurz Sensen verweist darauf, dass Andrew Reath den Begriff des Konstitutivismus zur Beschreibung dieser Lesart vorgeschlagen hat (vgl. Sensen 2013, 65 sowie Reath 2006, 176–180).

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skizzieren, welche Implikationen eine solche Interpretationen für die beiden Theoriestücke bereithält, die sich für Rawls’ Lesart als problematisch herausgestellt haben: das Faktum der Vernunft und das »Paradox der Methode«. Gemäß des transzendentalen Konstitutivismus kann der kategorische Imperativ als ein operatives Vernunftprinzip verstanden werden. Nun vertritt Kant die These, dass die menschliche Freiheit die Bedingung der Möglichkeit des kategorischen Imperativs darstelle (KpV, V 4). 45 Doch gleichzeitig sei »das moralische Gesetz die Bedingung […], unter der wir uns allererst der Freiheit bewußt werden können« (ebd.). Während der kategorische Imperativ also nur aufgrund der menschlichen Freiheit bestehen kann, benötigen wir ihn, um unsere Freiheit überhaupt erst zu erkennen. Dies ist Kants berühmter Unterschied zwischen der ratio essendi und der ratio cognoscendi der Freiheit: Während die Freiheit die Bedingung des moralischen Gesetzes ist (ratio essendi), so ist das Moralgesetz dasjenige, wodurch wir uns unserer Freiheit zu allererst erst gewahr werden, wir sie also erkennen (ratio cognoscendi; vgl. ebd.). Dieses Erkennen der praktischen Freiheit erfolgt nun mithilfe dessen, was Kant das »Faktum der Vernunft« nennt. Rawls sah darin die Parallele zu seinem Theoriestück des Überlegungsgleichgewichts: ein Pool an moralischen Grundüberzeugungen, denen wir uns gewahr werden (vgl. oben, Abschn. 4.2.4). Der transzendentale Konstitutivismus legt eine andere Erklärung nahe, die das Faktum der Vernunft als tiefer gehend interpretiert: In dieser, grundlegenderen Lesart möchte Kant damit zeigen, dass uns im Faktum der Vernunft das Moralgesetz, und im Moralgesetz unsere eigene Freiheit bewusst wird (vgl. KpV, V 31). 46 Wir werden uns in dieser Lesart durch das Faktum der Vernunft also nicht einer uns allen gemeinsamen Menge an moralischen Überzeugungen gewahr, sondern vielmehr des transzendentalen CharakKant versteht die Freiheit des menschlichen Willens als Kausalität, »unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend« zu sein (GMS, IV 446) und folgert: »Wenn also die Freiheit des Willens vorausgesetzt wird, so folgt die Sittlichkeit samt ihrem Prinzip daraus durch bloße Zergliederung ihres Begriffs« (ebd., 447). Diese Freiheit, so Kant weiter, muss vorausgesetzt werden: »Ein jedes Wesen, das nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln kann, ist eben darum in praktischer Rücksicht wirklich frei« (ebd., 448). 46 So scheint auch Sensen das Faktum der Vernunft zu verstehen; vgl. Sensen 2011, 114. 45

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ters unserer Freiheit: Indem wir erkennen, dass wir die Möglichkeit haben, uns frei für eine moralische Handlung zu entscheiden, wird offenbar, dass wir tatsächlich frei sind, und dass diese praktische Freiheit die Bedingung der Möglichkeit der Moral darstellt. Legt man also den transzendentalen Konstitutivismus zugrunde, fällt es leicht, die transzendentale Dimension von Kants Theoriestück des Faktums der Vernunft deutlich herauszustellen. 47 Und man gelangt so zu einer Interpretation, die nicht nur textnäher ist als diejenige von Rawls, sondern die darüber hinaus, wie ich nun zeigen werde, auch dem »Paradox der Methode« gerecht zu werden vermag.

4.4.4 Das Paradox der Methode Kants »Paradox der Methode« fordert, wie wir gesehen haben, dass das Moralgesetz nicht durch einen Begriff des Guten bestimmt werden darf. Stattdessen soll das Moralgesetz selbst am Beginn der Rechtfertigungskette stehen. Dies ist es, was Rawls als »Vorrang des Rechten« (priority of right) bezeichnet. Ich habe dafür argumentiert, dass Rawls’ Kant-Interpretation diesem Vorrang nicht genügen kann, und zwar aufgrund seiner kohärenztheoretischen Deutung des Faktums der Vernunft. Interpretiert man Kants Moralbegründung dagegen, wie Sensen es tut, als Ausdruck eines transzendentalen Konstitutivismus, dann wird deutlich, wie es Kant gelingt, diese Vorrangsthese aufrechtzuerhalten. Nach Kant muss eine Philosophie der Moral erklären können, wie die Moral a priori bestehen kann und notwendige und allgemeine Verbindlichkeit besitzt. Versteht man nun den kategorischen Imperativ als ein konstitutives Vernunftprinzip, so können diese Eigenschaften auf plausible Weise abgebildet werden. Dem a priori gültigen Moralgesetz kommen in Sensens Lesart drei Eigenschaften zu (vgl. hierzu Sensen 2013, 74): Sein Inhalt kann nicht willkürlich geändert werden, da er nicht der menschlichen Kontrolle unterliegt. Das Moralgesetz ist darüber hinaus unveränderbar. Nicht zuletzt ist es nicht das Resultat bewusster eigener Überlegungen. Das heißt freilich nicht, dass eine solche Interpretation des Faktums der Vernunft notwendigerweise auf den Begriff des »transzendentalen Konstitutivismus« angewiesen wäre. Vgl. zu einer inhaltlich sehr ähnlichen Interpretation Höffe 2012, Kap. 8, bes. 148–156.

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Gemäß der Lesart des transzendentalen Konstitutivismus kann das Moralgesetz unserer Vernunft nicht schlicht »angeboren« sein. Es hat sich auch nicht als Teil unserer evolutionären Entwicklung bloß kontingent herausgebildet. Gegen diese beiden Erklärungen der Grundlage des Moralgesetzes, die aus der Perspektive eines moralischen Realismus angebracht werden könnten, spricht, worauf Sensen hinweist, Kants eindeutiges Argument, dass a priori-Gesetze nicht in dieser Weise »eingeboren« seien: Weil es in einem solchen Fall auch denkbar wäre, dass andere Gesetze gleichermaßen eingeboren hätten werden können, wären sie nicht notwendig. 48 Wie bereits erörtert wurde, tut sich auch eine konstruktivistische Lesart schwer damit, die Anforderung der Notwendigkeit zu erfüllen. 49 Während es also ein konstitutives Verständnis des Moralgesetzes ermöglicht, die nach Kant erforderlichen Eigenschaften der Moral zu klären, ist es die transzendentale Argumentation, die es erlaubt, Kants Vorrangsthese aus der »Paradox«-Passage zu entsprechen. Denn der menschlichen Freiheit, die bei Kant den Ausgangspunkt der Rechtfertigung bildet, kommt eine transzendentale argumentative Eigenschaft zu: Sie bildet die Bedingung der Möglichkeit der Moral. Für dieses Argument ist es irrelevant, ob die Freiheit auch als »gut« bezeichnet werden kann, oder nicht. Worauf es ankommt, ist argumentationstheoretisch allein ihre transzendentale Funktion. Damit findet keine Ableitung von etwas »Rechtem« (hier: dem Moralgesetz) aus etwas »Gutem« (hier: einem Wert) ab. Stattdessen wird das Moralgesetz dargestellt als in der Bedingung seiner Möglichkeit als auf die menschliche Freiheit angewiesen und kann dann, als konstitutives operatives Vernunftprinzip, bestimmen, was als »gut« be-

Sensen führt aus: »If the moral law was implanted, then a different law could have been implanted. If – one can add – we have evolved in such a way that the law is innate, then evolution would have provided us with a different law under different circumstances. The law would merely have a subjective necessity: It would be valid for beings who have evloved like us, but not for all rational beings alike, as Kant thinks the moral law must be« (Sensen 2013, 76). Dieser weiterführende Kommentar weist darauf hin, dass auch eine evolutionäre Moralbegründung in Kants Augen fehlgeleitet wäre, da auch sie keine Notwendigkeit erzielen könnte. 49 In seiner Auseinandersetzung mit dem Konstruktivismus hat Sensen insbesondere die Lesart Onora O’Neills vor Augen (vgl. Sensen 2013, 77; zu O’Neills Interpretation, die von der Notwendigkeit der Koordinierung einer Pluralität von Akteuren anhebt, O’Neill 1989b u. 2003b, 358–360). 48

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zeichnet werden kann. Das »Paradox der Methode« wird damit erfüllt und der »Vorrang des Rechten« bleibt gewahrt.

4.4.5 Zusammenfassung In diesem Abschnitt wurde die Kant-Interpretation von Oliver Sensen vorgestellt, die in Kants Moralbegründung weder einen Konstruktivismus noch einen moralischen Realismus am Werke sieht: In dem, was Sensen den »transzendentalen Konstitutivismus« nennt, überwindet Kant diese Dichotomie. Während ich zunächst Sensens Interpretation skizziert habe, habe ich anschließend auf der Grundlage des Begriffs des transzendentalen Konstitutivismus angedeutet, wie man auf der Grundlage einer solchen Interpretation zu einer plausibleren Deutung des Faktums der Vernunft und Kants »Paradox« gelangen kann. Sensen stellt eindrücklich heraus, inwiefern Kants Moralbegründung als nicht konstruktivistisch, sondern konstitutiv verstanden werden kann. Auf der rechtfertigungstheoretischen Nullstufe steht bei Kant in dieser Lesart weder ein kohärenztheoretisches, noch ein prudentielles und auch kein wertbasiertes Argument: Die Moral dient nicht der Herstellung eines Überlegungsgleichgewichts, wird nicht durch Klugheitsargumente fundiert, und beruht nicht auf einem Wert. Stattdessen, so Sensen, lässt sich Kants kategorischer Imperativ am ehesten als ein operatives Vernunftprinzip verstehen. Wie der Satz des Widerspruchs im theoretischen Denken, so liege das Verallgemeinerungsgebot des kategorischen Imperativs unseren praktischen Überlegungen immer schon zugrunde. Es ist also weder konstruiert, noch existiert es als von Menschen unabhängiger Wert in der Welt; es ist »konstitutiv«. 50 Legt man Sensens Interpretation zugrunde, dann wird deutlich, inwiefern Kant in seiner Argumentation nicht wertrealistisch, sondern transzendental verfährt: Ein Verständnis von Kants Moralbegründung als transzendentalem Konstitutivismus ermöglicht eine Sensen sieht den Kern des kategorischen Imperativs, der in dieser Weise all unseren moralischen Überlegungen konstitutiv zugrunde liegt, in einer fundamentalen Forderung, bei einer allgemeinen Regel keine Ausnahme für sich selbst zu machen (vgl. GMS IV, 424 sowie Sensen 2011, 209). Er weist darüber hinaus auf Ergebnisse aus der empirischen Philosophie hin, die möglicherweise darauf hindeuten, dass Kant damit so falsch nicht liegt: 2011, 208–211.

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Lesart des Faktums der Vernunft, die von derjenigen, die Rawls liefert, abweicht, ohne dabei in einen moralischen Realismus zu münden. Ihr gelingt es, die transzendentale Funktion des Theoriestücks herauszustellen. Damit kann erklärt werden, auf welche Weise nach Kant die menschliche Willensfreiheit als Bedingung der Möglichkeit der Moral zugrunde liegt: Weil wir frei sind, kann es so etwas wie eine Selbstverpflichtung zu moralischem Handeln geben. Und die Tatsache, dass wir erkennen können, was moralisch richtig ist und dementsprechend zu handeln vermögen, verweist uns auf unsere Freiheit. Die Pointe der transzendentalen Argumentation entkräftet auch den Einwand eines »versteckten« moralischen Realismus. Ist die Freiheit, so könnte man nämlich einwenden, denn nichts anderes als ein Wert, den Kant allem zugrunde liegt? Und entpuppt Kants Theorie sich dadurch in der Moralbegründung nicht doch als ein versteckter moralischer Realismus? Ein solcher Einwand würde das argumentative Potential einer transzendentalen Argumentation übersehen: Innerhalb einer transzendentalen Argumentation ist es schlichtweg irrelevant, ob der rechtfertigungstheoretische Nullpunkt ein Wert ist, oder nicht. Denn es ist nicht der Wertcharakter, der die Argumentation leitet. Kant könnte sogar zugeben, dass die Freiheit auch ein Wert ist. Was aber in seinem Argument zur Begründung der Moral entscheidend ist, ist nicht die Eigenschaft der Freiheit, ein Wert zu sein. Es ist vielmehr ihre Eigenschaft, als Freiheit die Moral erst möglich zu machen. Das ist es, was eine Argumentation leistet, die auf die »Bedingungen der Möglichkeit« abzielt. Daher muss eine transzendentale Argumentation, so scheint es, keinen zugrunde liegenden Wert annehmen, der einer zusätzlichen (und dann möglicherweise wertrealistischen) Begründung bedürfte. Mit einer derartigen transzendentalen Argumentation sind wir zum rechtfertigungstheoretischen Nullpunkt vorgedrungen.

4.5 Ergebnis: Die Relevanz der kantischen Wurzeln In diesem Kapitel wurden die kantischen Wurzeln zweier zentraler Theoriestücke von John Rawls untersucht: Sowohl in seiner Entwicklung des Politischen Konstruktivismus als auch in seinen Ausführungen zum begründungstheoretischen »Vorrangs des Rechten« Die Herausforderung des Pluralismus

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(priority of right) verweist Rawls darauf, dass er diese Elemente aus einem systematischen Dialog mit Immanuel Kant gewonnen hat. In der Auseinandersetzung mit Rawls’ Kant-Interpretation hat sich nicht nur gezeigt, wie ernst Rawls Kant als systematischen Gesprächspartner nimmt, sondern auch, wie eng Rawls seinen eigenen Konstruktivismus entlang dem modelliert, den er bei Kant vorzufinden meint. In allen Argumentationsschritten finden sich Entsprechungen der beiden konstruktivistischen Theorien: Den politischen Gerechtigkeitsprinzipien entsprechen dabei spezifische kategorische Imperative, dem Urzustand entspricht die KI-Prozedur, den fundamentalen Vorstellungen entsprechen die Werte der moralischen Persönlichkeit und der Gemeinschaft moralischer Personen (»Reich der Zwecke«), und der politischen Kultur entspricht das Faktum der Vernunft. In Rawls’ Darstellung sind darüber hinaus beide Theorien Varianten eines kohärenztheoretisch begründeten Konstruktivismus. Der grundlegende Unterschied der beiden Konstruktivismen, wie Rawls sie sieht, ist daher vornehmlich extensiver, und nicht systematischer Art: Während Kants Konstruktivismus sich auf den Gesamtbereich der Moral bezieht, geht es im Politischen Konstruktivismus um den normativ »schmaleren« Bereich des Politischen. Rawls’ Kant-Interpretation bietet das wohl ausführlichste Beispiel für das, was Rawls in Abgrenzung zu seinem Politischen Konstruktivismus als »umfassenden« moralischen Konstruktivismus bezeichnet: Anders als der Politische Konstruktivismus erstreckt sich Kants moralischer Konstruktivismus nämlich über den Bereich des Politischen hinaus und beinhaltet weltanschauliche Annahmen: »The roots of constructivism lie deep in Kant’s transcendental idealism« (Rawls 2000, 239). In Political Liberalism verweist Rawls jedoch lediglich darauf, dass Kants Konstruktivismus in dessen »transzendentalem Idealismus« – den Rawls offenbar als Kants Weltanschauung versteht – gründe. 51 Durch die in diesem Kapitel angestellten Untersuchungen konnte dieser These Inhalt gegeben werden: Es wurde deutlich, inwiefern Rawls das Faktum der Vernunft als Rechtfertigungsgrundlage von Kants moralischem Konstruktivismus versteht. Und obwohl

Rawls tut dies in Political Liberalism bezeichnenderweise gerade mit Hinblick auf die Rechtfertigung: »the basic conceptions of person and society in Kant’s view have, let us assume, a foundation in his transcendental idealism« (PL, 100).

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beide Theorien in Rawls’ Interpretation vom selben Typ sind – beide sind Varianten eines kohärenztheoretischen Konstruktivismus – verfährt die eine in ihrer Begründung weltanschaulich, da sie substantielle Annahmen über die menschliche Vernunft beinhaltet. In der Auseinandersetzung mit den kantischen Wurzeln des »Vorrangs des Rechten« haben sich Bedenken gegen Rawls’ Interpretation des Moralbegründung bei Kant aufgetan: Seine Lesart, in der das Theoriestück des Faktums der Vernunft als Zugang zu substantiellen moralischen Grundwerten dient, scheint mit Kants Forderung nach einem begründungstheoretischen Vorrang des Moralgesetzes vor allen Begriffen des Guten unvereinbar zu sein. Dieser Forderung, die nach Kant einem »Paradox der Methode« gleichkommt, kann Rawls’ kohärenztheoretische Interpretation nicht entsprechen. Denn dort bilden zwei Werte, und damit zwei Begriffe des Guten, die Rechtfertigungsgrundlage. Entlang der Arbeiten von Oliver Sensen habe ich anschließend eine zu Rawls verschiedene Lesart der Rechtfertigungsstruktur von Kants Moralphilosophie vorgestellt. Dieser Lesart zufolge, die Sensen als »transzendentalen Konstitutivismus« bezeichnet, kann der kategorische Imperativ als ein notwendiges operatives Vernunftprinzip verstanden werden (daher: konstitutiv). Wie der Satz der Widerspruchsfreiheit in unserem theoretischen Denken immer schon vorausgesetzt werden muss, so liege auch der kategorische Imperativ unserer praktischen Vernunft zugrunde. Seine Verbindlichkeit erhalte der kategorische Imperativ durch eine Argumentation, die ihn als Bedingung der Möglichkeit von praktischer Freiheit erweise (daher: transzendental). Es gelingt Sensen mit diesem Begründungsmuster nicht nur, eine textnahe und nachvollziehbare Interpretation der Moralphilosophie Kants zu liefern. Ich habe erläutert, inwiefern Kants Theorie, wenn sie als transzendentaler Konstitutivismus verstanden wird, darüber hinaus in der Lage ist, den Gegensatz von Konstruktivismus und moralischem Realismus hinter sich zu lassen. Denn anders als der Konstruktivismus kann der Konstitutivismus substantielle Prinzipien begründen, ohne rein kohärenztheoretisch zu verfahren und dabei, wie es beim Politischen Konstruktivismus der Fall ist, den »Vorrang des Rechten« zu gefährden. Und anders als der moralische Realismus muss der Konstitutivismus aufgrund seiner transzendentalen Argumentation keinen zugrunde liegenden Wert annehmen. Als besondere Pointe hat sich dabei erwiesen, dass es die transzendenDie Herausforderung des Pluralismus

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tale Argumentation ermöglicht, der Vorrangsthese zu entsprechen und eine Begründung vorzunehmen, die wertunabhängig verfährt. Die Untersuchung der kantischen Wurzeln von Rawls’ Theorie hat angesichts ihrer Ergebnisse für die Fragestellung dieser Arbeit eine mindestens dreifache Relevanz. Erstens hat sie gezeigt, wie intensiv Rawls’ systematischer Dialog mit Kant ist, und wie nah er seine eigene Theorie entlang der argumentativen Struktur entwickelt, die er bei Kant gegeben sieht. Zweitens stellte sich heraus, dass Rawls der Rechtfertigungsgrundlage bei Kant ebenso wie in seinem Politischen Konstruktivismus eine kohärenztheoretische Deutung gibt. Diese Deutung ist aber, so habe ich argumentiert, nicht vereinbar mit den Implikationen, die sich aus Kants »Paradox der Methode« ergeben. Hierin besteht eine Parallele zu den Schwierigkeiten, in die der Politische Konstruktivismus gerät, da er dem begründungstheoretischen »Vorrangs des Rechten« (priority of right) nicht entsprechend kann (vgl. oben, Abschn. 3.5.3). Auch in Bezug auf die Rechtfertigungsgrundlage haben sich die kantischen Wurzeln daher als aufschlussreich erwiesen. Drittens besteht der meines Erachtens größte Gewinn, den diese Untersuchung aus der Auseinandersetzung mit den kantischen Wurzeln ziehen kann, in der Aufdeckung des transzendentalen Begründungsmusters. In Oliver Sensens Lesart von Kants Moralbegründung als Ausdruck eines »transzendentalen Konstitutivismus« findet sich nicht nur eine Interpretation Kants, die derjenigen von Rawls vorzuziehen ist: Sensen zeigt außerdem, wie sich Kants Argumentation der Dichotomie von Konstruktivismus und moralischem Realismus versperrt und stattdessen eine eigenständige, dritte Alternative bildet. Eine wesentliche Eigenschaft dieser Alternative ist, dass sie aufgrund einer transzendentalen Argumentation in ihrer Begrünung wertunabhängig bzw. wertfrei verfährt. Eben dies hat sich in Kapitel 3 als großes Problem für den Politischen Konstruktivismus erwiesen: dass er in seiner Rechtfertigungsgrundlage auf Werte rekurriert und damit den Anforderungen des Politischen Liberalismus nicht zu entsprechen vermag. Es stellt sich daher die Frage, ob sich mit diesem transzendentalen Begründungsmuster nicht auch eine Argumentation für eine Rechtfertigungsgrundlage konzipieren ließe, die sich der Herausforderung des Pluralismus stellen könnte. Kant selbst erörtert die Pluralismus-Problematik nicht. Sensen entwickelt seinen transzendentalen Konstitutivismus nur auf Kants 164

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Moralbegründung bezogen. Ich möchte daher im nächsten Kapitel das transzendentale Begründungsmuster, das Sensens Kant-Interpretation zugrunde liegt, aus diesem Kontext lösen, es in seinen systematischen Grundzügen darstellen und anschließend fragen, inwiefern es in einer pluralismussensibilisierten Rechtfertigung Anwendung finden könnte. Die größte Relevanz der Untersuchung der kantischen Wurzeln liegt also darin, dass sich bei Kant – bei genauerer, sich von Rawls’ Interpretation lösender Lektüre – ein Begründungsmuster finden lässt, das nicht nur eine eigenständige Alternative zu Konstruktivismus und moralischem Realismus darstellt, sondern darüber hinaus ein aussichtsreicher Kandidat ist, um den Anforderungen an eine Rechtfertigung, wie sie der Politische Liberalismus formuliert, entsprechen zu können.

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5. Eine transzendentale Rechtfertigungsgrundlage

5.1 Ein neues Begründungsmuster Das Ergebnis von Kapitel 3 schien zunächst nahezulegen, dass es keine Möglichkeit gibt, Rawls’ Politischen Konstruktivismus so zu begründen, dass er den Anforderungen des Politischen Liberalismus genügt. In diesem Kapitel möchte ich jedoch die These vertreten, dass es gute Gründe für die Annahme gibt, dass eine entsprechende Rechtfertigungsgrundlage durchaus konzipierbar ist. Anlass hierfür bietet das transzendentale Begründungsmuster, das in Kapitel 4 zur Sprache kam: Es scheint die Möglichkeit einer Rechtfertigungsgrundlage jenseits der Dichotomie von Konstruktivismus und moralischem Realismus zu eröffnen. Da weder der moralische Realismus noch der Konstruktivismus als Rechtfertigungsgrundlage überzeugt haben, stellt das transzendentale Begründungsmuster damit eine aussichtsreiche Alternative dar. Es kann, so wird sich in diesem Kapitel zeigen, den Weg ebnen für eine Rehabilitierung des Politischen Konstruktivismus. Die Herausforderung des Pluralismus werde ich, die vorangehenden Kapitel resümierend, im nächsten Abschnitt (Abschn. 5.2) in ihrer für diese Arbeit endgültigen Form darstellen. Im Anschluss daran wird das transzendentale Begründungsmuster genauer untersucht werden. Ich werde mich zunächst darum bemühen, es in seiner systematischen Form darzustellen (Abschn. 5.3) – denn bislang haben wir es nur in einer sehr spezifischen Weise kennen gelernt: in Sensens Interpretation der Moralbegründung Kants. Als hilfreich werden sich dabei auch die Arbeiten zweier gegenwärtiger politischer Philosophen erweisen: Gerald Gaus und Otfried Höffe. Denn beide scheinen in ihrer Argumentation eine Variante des transzendentalen Begründungsmusters zu verwenden. Anhand dieser beiden Autoren werde ich zwei Weisen vorstellen, wie eine solche transzendentale Begründung umgesetzt werden kann. Analog zu diesen zwei argu166

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mentativen Wegen werde ich anschließend zwei Vorschläge machen, wie Rawls’ Politischer Konstruktivismus durch eine transzendentale Rechtfertigungsgrundlage ergänzt und damit rehabilitiert werden könnte (Abschn. 5.4).

5.2 Die Herausforderung des Pluralismus Bevor ich mich im nächsten Abschnitt einer in meinen Augen vielversprechenden Antwort zuwende, wie die Rechtfertigungsaufgabe des Pluralismus gelöst werden könnte, möchte ich zunächst die Herausforderung des Pluralismus, wie sie in dieser Arbeit analysiert wurde, noch einmal zusammenfassend darstellen. Die verschiedenen Stränge, die insbesondere in den Kapiteln 1 bis 3 verfolgt wurden, werden dabei zusammengeführt werden.

5.2.1 Weltanschauungen als Begründungsinstanzen Der Ausdruck »Weltanschauung«, so hat das erste Kapitel gezeigt, eignet sich in besonderer Weise, um das zu benennen, was in einem gesellschaftlichen Pluralismus auf »plurale« Weise vorhanden ist: Mit ihm gelingt es, anders als mit den Begriffen »Wert« oder »Konzeption des Guten«, den Gesamtbereich dessen zu beschreiben, was für eine Person wichtig, gut und richtig ist. Dem dieser Arbeit zugrunde gelegten Verständnis von Weltanschauung bildet sie die fundamentale Begründungsinstanz einer Person: Sie umfasst die Werte und Überzeugungen, an denen die Person ihr Leben ausrichtet und auf die sie ihre Wertungen und Entscheidungen zurückführt. Deswegen können Weltanschauungen als grundlegende Quellen normativer Autorität verstanden werden (vgl. Scheffler 2007, 280): Vor dem Hintergrund ihrer Weltanschauung fällt eine Person ihre Werturteile, bildet ihre moralischen Überzeugungen aus und wägt im Konfliktfall ab. Weltanschauungen sind also grundlegende Orientierungsstandards, die auf die wichtigen Fragen des Lebens eine Antwort geben und diese Antworten in einem kohärenten System präsentieren (vgl. oben, Abschn. 1.4.4, sowie PL, 13 u. 59). Aus dieser Bestimmung der Weltanschauungen wird ihre Relevanz für Rechtfertigungsfragen des gesellschaftlichen Pluralismus offenbar: Wird er als ein Pluralismus von Weltanschauungen beschrieDie Herausforderung des Pluralismus

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ben, so tritt deutlich zutage, dass wir es dabei mit einem Pluralismus individueller Begründungssysteme zu tun haben, gegenüber denen eine politische Rechtfertigung ihre Plausibilität erweisen muss.

5.2.2 Der Ursprung des Pluralismus Das Projekt des Politischen Liberalismus, wie es von Rawls eingeführt und von weiteren Autoren aufgenommen und weiterentwickelt wurde, ist seinem Selbstverständnis nach ein Rechtfertigungsprojekt, das der Herausforderung des gesellschaftlichen Pluralismus begegnen will. Es tut dies in drei Schritten: Zunächst gibt der Politische Liberalismus eine Erklärung dafür, wie es überhaupt zu einem Pluralismus kommen kann. Daran anschließend formuliert er Anforderungen, denen eine pluralismustaugliche Rechtfertigungstheorie genügen muss. Der letzte Schritt besteht schließlich in der Ausarbeitung einer entsprechenden Begründung. Der Politische Liberalismus sieht den Pluralismus als Resultat der selbstständigen menschlichen Vernunftaktivität innerhalb freier politischer Institutionen (vgl. oben, Abschn. 2.3). Wird die menschliche Vernunft in ihrer Aktivität nicht eingeschränkt, sondern kann sich frei entfalten und sich dabei den grundlegenden Fragen des menschlichen Daseins widmen, dann ist davon auszugehen, dass verschiedene Personen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen werden (vgl. PL, 4). Als Grund hierfür nennt Rawls die »Bürden der Urteilskraft« (burdens of judgment). Dieser Begriff umfasst die Hindernisse, denen die menschliche Vernunft in ihren Überlegungen ausgesetzt ist (vgl. PL, 55–58). Die unmittelbare Folge dieser Hindernisse ist, dass in einer freien Gesellschaft Personen unterschiedliche Weltanschauungen entwickeln werden und diese verfolgen wollen. Zugleich wird diese Folge nicht als ein Ärgernis, sondern als etwas Begrüßenswertes verstanden. Schließlich ist sie das Resultat einer Gesellschaft, deren Bürger frei und selbstbestimmt leben. 1 Da die menschliche Vernunft zu unterschiedlichen Weltanschauungen gelangen kann, müssen wir, so Rawls, bei der EntwickVgl. hierzu auch die Einschätzung Höffes: »Der Pluralismus besagt […] – und darin steckt sein normativer Gehalt –, daß die Vielfalt und Unterschiedlichkeit anerkannt und gutgeheißen werden; bei aller funktionellen Verschiedenheit sind die Gruppen gleichberechtigt, sich frei zu entfalten« (Höffe 1988, 106).

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lung einer Rechtfertigungstheorie politischer Prinzipien davon ausgehen, dass alle Weltanschauungen zunächst gleichermaßen »vernünftig« (reasonable) sind. Diesen Sachverhalt nennt er das »Faktum des vernünftigen Pluralismus« (fact of reasonable pluralism; PL, 4). Angesichts dessen ist eine Rechtfertigung nötig, die von diesen Weltanschauungen trotz ihrer Divergenzen nachvollzogen und akzeptiert werden kann. Hierin besteht die Herausforderung des Pluralismus.

5.2.3 Drei Anforderungen Die unmittelbare Konsequenz, die der Politische Liberalismus aus seiner Diagnose des Pluralismus zieht, ist, dass auch eine liberale Theorie zunächst nicht mehr ist als eine Weltanschauung unter anderen. Das bedeutet vor allem, dass liberale Grundannahmen nicht schlicht vorausgesetzt und der Rechtfertigung stillschweigend zugrunde gelegt werden dürfen: Ihre Plausibilität muss erst ausgewiesen werden, und zwar auf eine Weise, die für alle Weltanschauungen vor dem Hintergrund ihrer eigenen Wertvorstellungen zustimmungsfähig ist. Auch diese Grundannahmen bedürfen also der Rechtfertigung. Daher soll der Liberalismus zu einem dezidiert Politischen Liberalismus werden. Ich habe vorgeschlagen, hierbei drei Anforderungen zu unterscheiden. Erstens soll die Rechtfertigung freistehend sein: Sie darf keine weltanschaulichen Annahmen voraussetzen (dies meint Rawls mit dem irreführenden Begriff »metaphysisch«; vgl. dazu oben, Abschn. 2.3). Stattdessen beschränkt sie sich allein auf den Bereich des Politischen. Hierdurch soll eine begründungstheoretische Unabhängigkeit der Theorie von den jeweiligen Weltanschauungen erreicht werden. In einem ersten Schritt soll diese Rechtfertigung, die nur für den Bereich des Politischen konzipiert wird, als in sich stimmig und unabhängig von bestimmten Weltanschauungen formuliert werden: das meint »freistehend« (freestanding: PL, 12). Rawls nennt dies den Schritt der pro-tanto-Rechfertigung (vgl. PL, 386): Die Rechtfertigung geschieht hier »bis zu einem gewissen Grad« – sie wird als freistehend und in sich stimmig konzipiert (vgl. oben, Abschn. 2.3.2). Eine solche bloß in sich stimmige politische Rechtfertigung ist aber noch nicht genug. Denn sie muss auch von den einzelnen Bürgern akzeptiert werden können. Dies soll, so die zweite Anforderung, der Rechtfertigung dadurch gelingen, dass ihre Begründungskette Die Herausforderung des Pluralismus

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vollständig (full; PL, 386 f.) ist. Das bedeutet, dass sie bis zur rechtfertigungstheoretischen Nullstufe vordringen muss und nicht vorschnell abbrechen darf: Die Rechtfertigung bedarf einer Grundlage, die aus der Perspektive verschiedener Weltanschauungen annehmbar ist und der die Bürger daher in einem »übergreifenden Konsens« zustimmen können. Ein solcher übergreifender Konsens soll dadurch möglich werden, dass die Bürger die politische Rechtfertigung in ihr eigenes Rechtfertigungssystem integrieren, sie also aus ihrer Weltanschauung heraus bestätigen. Die dritte Anforderung schließlich auferlegt dem Argumentationsgang der Rechtfertigung eine bestimmte Reihenfolge: Sie muss einen Vorrang des Rechten gewährleisten (vgl. PL, 174). Diese Anforderung richtet sich direkt auf die rechtfertigungstheoretische Nullstufe. Nur wenn hier, also bei der Rechtfertigungsgrundlage, dieser Vorrang eingehalten wird, kann die Rechtfertigung zu einem übergreifenden Konsens führen. Würde ihr nämlich etwas Gutes, also ein Wert zugrunde gelegt werden, dann liefe die Rechtfertigung unmittelbar Gefahr, nicht konsensfähig zu sein: Denn Wertungen – also Aussagen darüber, was gut ist – gehören konzeptuell zum Bereich dessen, was weltanschaulich ist (vgl. PL, 195 f. und oben, Abschn. 2.3.4). In diesen Bereich darf die politische Rechtfertigung aber nicht hineinregieren. Es bedarf also, so die dritte Anforderung des Politischen Liberalismus, auf der untersten Rechtfertigungsebene einer Argumentation, die nicht von Werten ausgeht.

5.2.4 Sechs Begründungsmuster Vor dem Hintergrund dieser drei Anforderungen stellt sich die Frage, welche Gestalt eine Rechtfertigungstheorie annehmen kann, um im Sinne des Politischen Liberalismus pluralismustauglich zu sein. Ausschlaggebend ist dabei insbesondere die Frage nach der Rechtfertigungsgrundlage, auf die sich die zweite und dritte Anforderung beziehen: Welche Form soll die rechtfertigungstheoretische Nullstufe haben? In den gegenwärtigen Debatten der Meta-Ethik werden üblicherweise bis zu sechs verschiedene Begründungsmuster unterschieden, denen Rechtfertigungen normativer Prinzipien folgen können. Eine klare und konzise Darstellung dieser zur Verfügung stehenden Optionen liefert Russ Shafer-Landau in seinem viel beachteten Werk 170

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Moral Realism. A Defense (2003). Um die Frage in ihrer systematischen Vollständigkeit zu erörtern, möchte ich nun im einzelnen darauf eingehen, welches dieser Begründungsmuster angesichts der Anforderungen des Politischen Liberalismus als Grundlage für eine pluralismussensible Rechtfertigung infrage käme. Zwei der von Shafer-Landau unterschiedenen Begründungsmuster scheiden von vornherein als mögliche Kandidaten aus: Weder der (1) Nihilismus 2, demzufolge jegliche normative Verbindlichkeit bloße Fiktion ist, noch der (2) Subjektivismus 3, für den individuelle Präferenzen und Meinungen zwar gültige, aber eben nur subjektiv gültige Prinzipen konstruieren, scheinen geeignet zu sein. Denn beide Begründungsmuster sind nicht in der Lage, objektiv verbindliche Prinzipien zu rechtfertigen. Da der Politische Liberalismus angesichts des gesellschaftlichen Pluralismus aber objektive Prinzipien fordert, die den Gegenstand eines übergreifenden Konsenses bilden können, sind Nihilismus und Subjektivismus als Begründungsmuster für die Zwecke des Politischen Liberalismus offensichtlich ungeeignet. Mögliche Begründungsmuster müssen also in der Lage sein, objektiv gültige normative Prinzipien zu rechtfertigen. Hier spaltet sich die gegenwärtige Debatte in zwei Lager, die beide bereits in dieser Arbeit zur Sprache kamen: Der moralische Realismus und der Konstruktivismus geben je unterschiedliche Erklärungen dafür, woraus sich diese Verbindlichkeit speist. 4 Im Verlauf dieser Arbeit ist deutlich geworden, dass sich zahlreiche Bedenken anführen lassen, was die Tauglichkeit des (3) moralischen Realismus für eine den Pluralismus berücksichtigende Recht»Nihilists about morality believe that there isn’t any moral reality at all. We might speak as if there is, and there may be good political, psychological, or strategic reasons for doing so. But in the final analysis, nothing really is right or wrong; these are terms that never refer« (Shafer-Landau 2003, 14). Diese Position erfährt gegenwärtig in der Meta-Ethik durch den so genannten »Fiktionalismus« eine Renaissance, der moralische Prinzipien als eine nützliche Fiktion zu erklären versucht (vgl. Joyce 2001). Ebenso kann die von John L. Mackie in die Debatte eingebrachte »Error Theory« als zeitgenössische Variante des Nihilismus interpretiert werden. Mackie selbst bezeichnet seine Theorie gleichwohl als moralischen Skeptizismus (vgl. Mackie 1977, 35). 3 Diese Position findet sich im sogenannten »Emotivismus« bzw. »Expressivismus« wieder, der die These vertritt, moralische Überzeugungen seien nichts anderes als individuelle Geschmacksäußerungen (s. dazu Joyce 2015). 4 Rawls’ Vorgehen, sich von vornherein nur mit diesen beiden Begründungsmustern zu befassen, und den Nihilismus und den Subjektivismus nicht einmal zu erwähnen, erweist sich angesichts dessen für seine Zwecke als plausibel. 2

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fertigung angeht. Nicht nur hat sich der Wertbegriff bei genauerer Hinsicht als schillernd erwiesen (vgl. oben, Abschn. 1.2). Auch aus systematischen Gründen kann ein moralischer Realismus keine zufriedenstellende Antwort auf die Herausforderung des Pluralismus liefern, wie Rawls selbst immer wieder betont. 5 Im Zentrum von Rawls’ Kritik steht das Argument, dass der moralische Realismus die erste Anforderung des Politischen Liberalismus, die nach einer freistehenden Rechtfertigung, nicht erfüllen kann. Da er von der menschenunabhängigen Existenz einer moralischen Werteordnung (»moralische Tatsachen«) ausgeht, fußt der moralische Realismus konzeptionell in dem, was bei Rawls »umfassend« bzw. »metaphysisch« heißt, also »weltanschaulich«. Daher kann er keine Grundlage für einen übergreifenden Konsens in einer pluralistischen Gesellschaft bilden: Indem er eine eindeutige moralische Wahrheit postuliert, beschränkt sich der moralische Realismus nicht auf den Bereich des Politischen (vgl. dazu PL, bes. 91–99 sowie oben, Abschn. 2.3). 6 Bei genauerer Hinsicht genügt der moralische Realismus auch der dritten Anforderungen nicht: Weil seine Begründung auf Werten beruht, ist ein Vorrang des Rechten ausgeschlossen. Es scheint also, als bilde allein das Begründungsmuster des Konstruktivismus eine Möglichkeit, der Herausforderung des Pluralismus begegnen zu können. Dies ist auch Rawls’ Position. Dem Konstruktivismus zufolge sind normative Prinzipien das Ergebnis einer bestimmten Prozedur, durch die sie konstruiert werden (vgl. oben, Abschn. 3.2). 7 Da diese Konstruktion von Menschen durchgeführt Rawls setzt sich, wie bereits erwähnt, dabei mit der Variante des moralischen Realismus auseinander, die er rational intuitionism nennt. Die Charakterisierung, die er gibt, trifft aber nicht nur auf den rationalen Intuitionismus zu (Rawls denkt besonders an Moore, Sidgwick und Ross), sondern, so weit ich sehen kann, auch auf die prominenten Vertreter eines moralischen Realismus in der gegenwärtigen Debatte, etwa Peter Railton (1986), David Brink (1989) und Russ Shafer-Landau (2003); vgl. zur Übersicht Sayre-McCord 2015. 6 Dies nimmt auch Shafer-Landau als definitorisches Merkmal dieses Begründungsmusters: »Realists believe that there are moral truths that obtain independently of any preferred perspective, in the sense that the moral standards that fix the moral facts are not made true by virtue of their ratification from within any given actual or hypothetical perspective« (Shafer-Landau 2003, 15). 7 So bestimmt Shafer-Landau den Konstruktivismus: »Constructivists endorse the reality of a domain, but explain this by invoking a constructive function out of which the reality is created. This function has moral reality as its output« (Shafer-Landau 2003, 14). 5

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wird – entweder faktisch oder, wovon die meisten Varianten ausgehen, hypothetisch und unter idealen Bedingungen –, ist die Gültigkeit der konstruierten Prinzipien immer standpunktabhängig (stance-dependent): Dem Konstruktivismus zufolge ist Normativität menschengemacht und hängt von den Menschen ab. Gäbe es keine Menschen, gäbe es auch keine Verbindlichkeit. Shafer-Landau unterteilt den Konstruktivismus in vier Unterformen (vgl. Shafer-Landau 2003, 14), die sich hinsichtlich der Rechtfertigungsgrundlage unterscheiden, und von denen eine, der Subjektivismus, bereits erwähnt wurde. 8 Es bleiben damit noch, in ShaferLandaus Worten, der »Relativismus« (relativism), die »strategische« (contractarianism) und die »moralische Vertragstheorie« (contractualism). Die drei Grundformen des Konstruktivismus, die ich in Kapitel 3 unterschieden habe, entsprechen weitgehend diesen drei Begriffen bei Shafer-Landau (vgl. oben, Abschn. 3.3). 9 Ich werde daher von den bereits eingeführten Ausdrücken ausgehen: Dem (4) prudentiellen Konstruktivismus zufolge bilden Klugheitsüberlegungen die normative Grundlage der Konstruktion. In dieser Variante wird die objektive Verbindlichkeit normativer Prinzipien durch strategische bzw. instrumentell-rationale Gründe gerechtfertigt. Während der prudentielle Konstruktivismus zwar auf den ersten Blick alle drei Anforderungen des Politischen Liberalismus erfüllen zu können scheint, weist Rawls eine solche Begründung explizit und mit guten Gründen zurück. Denn ein übergreifender Konsens sei auf einer solchen Grundlage zu fragil, um anhaltende Stabilität zu gewährleisten: Er bestünde nämlich in einem bloßen modus vivendi (vgl. PL, 147–149). Rawls ist also der Ansicht, dass ein solcher Konstruktivismus in Bezug auf die zweite Anforderung, die »vollständige« (full) Rechtfertigung, nur unzureichendes leisten kann. Denn die Bürger verankern in diesem Fall die Rechtfertigung nicht umfassend in ihren Weltanschauungen, sondern folgen den PrinziTrotz dieser vier Varianten, in die sich der Konstruktivismus auffächert, bleibt dessen wesentliches Merkmal nach Shafer-Landau in allen Fällen gleich: »What is common to all constructivists is the idea that moral reality is constituted by the attitudes, actions, responses, or outlooks of persons, possibly under idealized conditions. In short, moral reality is constructed from the states or activities (understood very broadly) undertaken from a preferred standpoint« (Shafer-Landau 2003, 14). 9 Der »strategischen Vertragstheorie« entspricht dabei der prudentielle, der »moralischen Vertragstheorie« der wertbasierte und dem »Relativismus« der kohärenztheoretische Konstruktivismus. 8

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pien lediglich, so lange diese in ihrem Interesse sind und sich für ihre Zwecke als nützlich erweisen. Ein (5) wertbasierter Konstruktivismus geht von normativ substantiellen Werten aus und konstruiert damit normative Prinzipien für einen konkreten Bereich. Während es an manchen Stellen in Political Liberalism zwar so klingt, als würde Rawls eine Variante dieses Begründungsmusters vertreten (vgl. oben, Abschn. 3.5.2), hat sich der wertbasierte Konstruktivismus als ungeeignet für die Zwecke des Politischen Liberalismus erwiesen: Er kann vor allem der dritten Anforderung des Politischen Liberalismus, dem Vorrang des Rechten, nicht entsprechen. Denn seine Begründung beginnt bei einem oder mehreren Werten, und Werte sind ihrem Begriff nach immer etwas »Gutes«. Noch ein weiteres, damit zusammenhängendes Argument spricht gegen den wertbasierten Konstruktivismus: Es ist fraglich, ob es einem solchen Konstruktivismus gelingen könnte, substantielle Werte an den Anfang der Begründungskette zu stellen, die nicht bereits weltanschaulich kontaminiert sind – das fordert aber die erste Anforderung des Politischen Liberalismus. Und nicht zuletzt besteht das durchaus berechtigte konzeptuelle Bedenken, das Shafer-Landau gegen dieses Begründungsmuster vorbringt (vgl. Shafer-Landau 2003, 42): Wenn sich ein Konstruktivismus letztlich auf substantielle moralische Werte gründet, handelt es sich dann nicht um einen versteckten moralischen Realismus? Doch auch das letzte noch verbleibende Begründungsmuster, die (6) kohärenztheoretische Variante des Konstruktivismus, scheint der Herausforderung nicht gewachsen zu sein. Ich habe dafür argumentiert, dass Rawls’ Politischer Konstruktivismus am plausibelsten als Form dieses Begründungsmusters verstanden werden kann: Auf der Grundlage bereits vorhandener Werte werden politische Gerechtigkeitsprinzipien konstruiert, deren primärer Zweck darin besteht, die grundlegenden Werte in einen geordneten, kohärenten und konsistenten Zusammenhang zu bringen. Diese Form des Konstruktivismus steht jedoch vor mindestens zwei Problemen (vgl. oben, Abschn. 3.5.3): Erstens beinhaltet sie einen unbegründeten Begründungsstopp und ist damit gerade nicht in der Lage, bis zur rechtfertigungstheoretischen Nullstufe vorzudringen. Dies fordert aber der Politische Liberalismus. Und zweitens stellt auch dieses Begründungsmuster in der Rawls’schen Form einen »Vorrangs des Guten«, nicht »des Rechten«, dar. 174

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Das vorläufige Ergebnis an dieser Stelle ist demnach, dass alle sechs gängigen Begründungsmuster nicht in der Lage sind, zufriedenstellend die Anforderungen des Politischen Liberalismus zu erfüllen – zumindest hätten sie mit großen, möglicherweise unüberwindlichen Problemen zu kämpfen. Damit scheint es, als seien sie allesamt nicht geeignet, eine Begründung zu liefern, die der Herausforderung des Pluralismus gerecht werden kann.

5.3 Das transzendentale Begründungsmuster Die Auseinandersetzung mit den kantischen Wurzeln des Politischen Konstruktivismus im vierten Kapitel dieser Arbeit hat nicht nur zu einem klareren Verständnis des »Vorrangs des Rechten« geführt. In der Interpretation der Moralbegründung Kants, wie Oliver Sensen sie vornimmt – und die derjenigen von Rawls vorzuziehen ist –, trat ein weiteres Begründungsmuster zutage. Sensen bezeichnet Kants Theorie als einen »transzendentalen Konstitutivismus«. In seiner Interpretation zeigt Sensen, inwieweit sich Kants Position der Dichotomie von Realismus und Konstruktivismus versperrt und stattdessen eine eigenständige, neue Alternative darstellt. Diese Situation wirft die Frage auf, ob dieses Begründungsmuster nicht auch als eigenständiges meta-ethisches Begründungsmuster zu den sechs bislang die gegenwärtige Debatte dominierenden hinzugefügt werden sollte. Insbesondere stellt sich die Frage, ob das transzendentale Begründungsmuster nicht für die Zwecke des Politischen Liberalismus nutzbar gemacht werden könnte. Während Rawls Kant als Gesprächspartner für die systematische Entwicklung seines Konstruktivismus verwendete, möchte ich gewissermaßen dafür plädieren, Kant als Gesprächspartner für das Konzept der transzendentalen Begründung ernst zu nehmen. In diesem und dem folgenden Abschnitt werde ich hierzu erste Überlegungen anstellen. Sie belaufen sich nicht auf eine vollständig ausgearbeitete Theorie, sondern sind Annäherungen an ein neues und, so möchte ich zeigen, durchaus beachtenswertes und interessantes Begründungsmuster. Ich möchte dieses Begründungsmuster aus zwei Gründen als »transzendentales Begründungsmuster«, und nicht als »Konstitutivismus« bezeichnen: Erstens, so werde ich in diesem Abschnitt zeigen, ist es gerade die transzendentale Argumentation, die dieses BeDie Herausforderung des Pluralismus

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gründungsmuster für den hier verfolgten Kontext interessant macht. Und zweitens soll diese Bezeichnung einem möglichen Missverständnis vorbeugen: Einige Autoren verwenden nämlich gegenwärtig den Begriff des »Konstitutivismus« (constitutivism), um die Theorie von Christine Korsgaard zu beschreiben (vgl. FitzPatrick 2013, bes. 41– 45). Da es sich beim transzendentalen Begründungsmuster aber nicht bereits um eine spezifische Theorie handelt, und außerdem infrage steht, ob es sich bei Korsgaards Theorie nicht eher um einen wertbasierten Konstruktivismus handelt (vgl. hierzu auch oben, Abschn. 3.3.2), scheint es mir ratsamer, auf den Begriff des Konstitutivismus an dieser Stelle zu verzichten. Ich werde zunächst drei Eigenschaften des transzendentalen Begründungsmusters unterscheiden, um es anschließend auf das spezifische Problem der Rechtfertigungsgrundlage des Politischen Konstruktivismus anzuwenden.

5.3.1 Eine wertunabhängige Begründung Immanuel Kant, so hat sich in Kapitel 4 gezeigt, stellt sich mit seiner Moralphilosophie sowohl gegen einen relativistischen Moralbegriff als auch gegen ein Verständnis der Moral, demzufolge wir das Kriterium für moralische Richtigkeit außerhalb von uns selbst, in der Welt, erkennen könnten. Seine Theorie bewegt sich also zwischen der Position, die wir heute als moralischen Realismus kennen, und derjenigen, die wir in Rawls’ Politischem Konstruktivismus vorfinden. Während in Kapitel 4 Kants eigene Theorie und die Frage nach einer ihr angemessenen Interpretation erörtert wurde, möchte ich nun versuchen, das transzendentale Begründungsmuster aus jenem interpretativen Kontext zu lösen und es in seinen Grundzügen darstellen. Dem transzendentalen Begründungsmuster kann der »Spagat« zwischen Realismus und Konstruktivismus gelingen, da seine Argumentation auf die »Bedingungen der Möglichkeit« abzielt – eben das heißt es, »transzendental« zu argumentieren. Das Begründungsmuster zeigt auf, dass ein bestimmter Sachverhalt nur aufgrund spezifischer Bedingungen möglich ist, und dass diese Bedingungen in einem Begründungszusammenhang zu diesem Sachverhalt stehen. Die für die Fragestellung dieser Arbeit relevanteste Eigenschaft, die sich aus dieser argumentativen Struktur ergibt, ist, dass sie eine 176

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wertfreie bzw. wertunabhängige Rechtfertigung ermöglicht. Die Begründungsleistung erbringt nämlich die Eigenschaft, »Bedingung der Möglichkeit« des infrage stehenden Sachverhalts zu sein (vgl. oben, Abschn. 4.4.5). Dafür ist es irrelevant, ob diese Bedingung darüber hinaus auch einen Wert darstellt, oder nicht. Denn es ist nicht ihre Eigenschaft, ein Wert zu sein, der für das Argument wesentlich ist, sondern ihre Eigenschaft, notwendige Voraussetzung für das Bestehen des Sachverhalts zu sein. Inwiefern die Voraussetzung selbst wertvoll ist, ist eine zusätzliche, für die Begründung nicht relevante Frage. Dabei ist »wertfrei« hier nicht gleichbedeutend mit »weltanschauungsunabhängig«. Es geht vielmehr darum, auf welche begründungstheoretische Weise diese Unabhängigkeit von Weltanschauungen erreicht werden kann. Die Antwort des transzendentalen Begründungsmusters ist: indem die Rechtfertigungskette auf allen Stufen frei von wertbezogenen Argumenten verfährt. Hierin liegt meines Erachtens der eigentliche Gewinn, den eine begründungstheoretische Untersuchung des Pluralismus aus dem transzendentalen Begründungsmuster ziehen kann. Denn mit seiner Hilfe kann es gelingen, dem Vorrang des Rechten zu genügen, der, wie deutlich wurde, eine wertfreie Rechtfertigung erfordert. Durch eine solche wertfreie Argumentation unterscheidet sich dieses Begründungsmuster sowohl vom moralischen Realismus als auch von den drei Varianten der konstruktivistischen Begründung. Denn in all diesen Theorien, wurde im Verlauf der Arbeit deutlich, spielen wertbezogene Überlegungen eine begründungsrelevante Rolle. Im Gegensatz dazu verfährt die Argumentation des transzendentalen Begründungsmusters wertunabhängig. Durch eine weitere Eigenschaft tritt der Unterschied des transzendentalen Begründungsmusters zu den konstruktivistischen Theorien noch deutlicher hervor: Nicht bloß verfährt es in seiner Begründung wertunabhängig, es rekurriert ebensowenig auf kulturelle Besonderheiten oder, wie bei Rawls, auf Gemeinsamkeiten der politischen Tradition. Indem es den Fokus auf unverzichtbare Voraussetzungen legt, ist das »Material«, das die Grundlage der Rechtfertigung bildet, äußerst voraussetzungsarm: Es bedarf weder eines Wertes (wertbasierter Konstruktivismus), noch eines Kohärenzimperativs (kohärenztheoretischer Konstruktivismus). Und auch eine klugheitsbasierte Entscheidung, wie sie der prudentielle Konstruktivismus zugrunde legt, scheint nicht mehr nötig. Denn als unverzichtbare, eben Die Herausforderung des Pluralismus

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»transzendentale« Ausgangsbedingungen ist die Zustimmung zu ihnen keine bloß rational-instrumentelle Frage. Das Grundbedenken, das Shafer-Landau gegen den Konstruktivismus anführt und das sich im Verlauf dieser Arbeit als plausibel erwiesen hat – dass der Konstruktivismus, wenn er keinen versteckten moralischen Realismus voraussetzt, immer einen relativistischen Einschlag erhalte –, trifft auf das transzendentale Begründungsmuster nicht zu. Dieser Umstand legt nahe, dass das transzendentale Begründungsmuster auch in der Lage sein kann, die zweite Anforderung des Politischen Liberalismus zu erfüllen: Indem sie sich allein auf transzendentale Voraussetzungen richtet und auf diese Weise voraussetzungsarm argumentiert, dringt eine entsprechende Rechtfertigung bis zum begründungstheoretischen Nullpunkt vor und kann plausibel machen, dass sie sich ohne größere Schwierigkeiten in die Rechtfertigungssysteme verschiedener Weltanschauungen einfügen ließe. Sie könnte also die von Rawls angedachte Modul-Funktion erfüllen. Ein entsprechendes Argument dafür, dass eine transzendentale Grundlage Gegenstand eines übergreifenden Konsenses werden könnte, ließe sich demnach führen. Eine dritte Eigenschaft zeigt, inwiefern sich das transzendentale Begründungsmuster von einem moralischen Realismus unterscheidet. Anders als jener muss eine transzendentale Argumentation nämlich keine metaphysischen Annahmen über den Aufbau der Welt machen. Dies kommt einer transzendentalen Argumentation für die Erfüllung der ersten Anforderung des Politischen Liberalismus entgegen: Eine nicht metaphysisch bzw. weltanschaulich, sondern freistehende Argumentation scheint auf der Grundlage einer transzendentalen Argumentation möglich zu sein. Das transzendentale Begründungsmuster zeichnet sich also vorläufig durch drei Eigenschaften aus: Es verfolgt eine (1) wertunabhängige Argumentation, fußt auf einer (2) voraussetzungsarmen Rechtfertigungsgrundlage und setzt (3) keine metaphysischen und meta-ethischen Annahmen über den Aufbau der Welt voraus. Angesichts dieser Eigenschaften gibt es, so habe ich gezeigt, gute Gründe für die Annahme, dass es dem transzendentalen Begründungsmuster gelingen kann, den Anforderungen des Politischen Liberalismus zu genügen. Diese Überlegungen bestätigen also die Vermutung, dass dieses Begründungsmuster für die Belange des Politischen Liberalismus relevant sein könnte. Zwar gibt es bislang keine detaillierte Studie zum transzenden178

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talen Begründungsmuster für die politische Philosophie. Einige wenige Autoren verwenden dieses Begründungsmuster gleichwohl in ihrer eigenen Argumentation, zumindest in Ansätzen. Indem ich zwei dieser Ansätze nun vorstelle, soll nicht nur das Profil der transzendentalen Begründung deutlicher geschärft werden. Sie stellen außerdem zwei mögliche argumentative Umsetzungen des Begründungsmusters dar, die, so werde ich später zeigen, für den Politischen Konstruktivismus nutzbar gemacht werden könnten. Das erste Argument identifiziert transzendentale Interessen von Personen. Das zweite richtet den Fokus auf die transzendentale Voraussetzung öffentlicher Rechtfertigung. Der erste Weg nimmt also Bedingungen in den Blick, deren Zustimmung für Personen unverzichtbar ist, während der zweite bei den Bedingungen des Rechtfertigungsdiskurses ansetzt.

5.3.2 Transzendentale Interessen (Höffe) Otfried Höffes Konzept »transzendentaler Interessen« stellt einen wichtigen argumentativen Baustein seiner Grundlagenüberlegungen zur politischen Philosophie dar. Es findet sich in seiner Theorie der Tauschgerechtigkeit, die sich in einem »transzendentalen Tausch« von Freiheitsrechten konstituiert (vgl. Höffe 1999, 53–57). Außerdem spielt es eine wesentliche Rolle in seiner Begründung der Menschenrechte, auf die ich mich hier konzentrieren möchte. 10 Unter dem Begriff der »transzendentalen Interessen« versteht Höffe eine besondere Art von Interessen: diejenigen, die sich auf die Bedingungen der Handlungsfähigkeit von Personen richten. Es handelt sich bei diesen transzendentalen Interessen um jene »notwendigen Bedingungen menschlichen Handelns, die sowohl für das Entwickeln und Haben gewöhnlicher Interessen als auch für deren Verfolgen unverzichtbar sind« (ebd., 55). 11 Deswegen nennt Höffe sie »transzendental«: es sind logisch höherstufige Interessen, da sie Höffes Theorie der Tauschgerechtigkeit findet sich einschlägig in Höffe 1987, Abschn. 12.1–12.3, sowie in Höffe 1999, Kap. 2 und 3. Zur Diskussion s. die Beiträge in Kersting 1997. Eine konzise Zusammenfassung seiner Gedanken zur Tauschgerechtigkeit in Verbindung zu den Menschenrechten findet sich in Höffe 2015a, Kap. 11. 11 Höffe bezeichnet die Gruppe dieser Interessen daher auch als die »Bedingungen praktischer Subjektivität« (1999, 55). 10

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zu allererst die Bedingungen schaffen, unter denen Personen ihre übrigen Interessen ausbilden und verfolgen können. Und eben weil sie transzendental sind und damit konstitutiv dafür, dass eine Person überhaupt handeln kann, kann ihnen kein Mensch »seine freie Zustimmung vernünftig versagen« (ebd., 68). 12 Höffe sieht, dass es einer philosophischen Anthropologie bedarf, um diese transzendentalen Interessen näher zu bestimmen. Ohne sich explizit auf Rawls oder den Politischen Liberalismus zu beziehen, betont Höffe, dass es sich dabei nicht um eine »umfassende« Anthropologie handeln müsse, sondern eine »Partial- und zugleich Minimalanthropologie« genüge (ebd., 56). Er versteht sie also nicht als Teil einer umfassenderen Theorie, gar einer Weltanschauung, sondern schlicht als »Theorie jener Anfangsbedingungen des Menschseins, in denen die unverzichtbaren Bedingungen von Handlungsfähigkeit liegen« (ebd.). 13 Im Rahmen dieser Minimalanthropologie identifiziert Höffe drei Bereiche, auf die sich die transzendentalen Interessen richten (vgl. ebd., 64): Der Mensch sei erstens ein Leib- und Lebewesen, zweitens ein denk- und sprachfähiges Wesen und drittens sei er angewiesen auf ein Leben in Gemeinschaft mit anderen Menschen. Diesen drei Bereichen entsprechen bei Höffe nun drei Gruppen von transzendentalen Interessen. 14 Sie richten sich darauf, dass ein Mensch die Grundbedingungen vorfindet, um in diesen drei Bereichen ungehindert leben und auf dieser Grundlage partikulare Interessen entwickeln zu können. An diesem Punkt setzt Höffes Begründung der Menschenrechte an. 15 Hier wird deutlich, dass es sich bei Höffes Begründung nicht um eine schlichte interessenbasierte politische Rechtfertigung in Hobbes’ Geiste handelt: Da die Interessen transzendental sind, sind sie in besonderer Weise objektiv: Niemand kann ihnen seine Zustimmung versagen. Dies illustriert prägnant den Unterschied zwischen einer transzendentalen Begründung und einem prudentiellen Konstruktivismus. 13 Höffe führt aus: »Die transzendentalen und zusätzlich genuin sozialen, die ›soziotranszendentalen Interessen‹ sind die Bedingungen, auf die kein Mensch verzichten kann, weil sie für jedwede Lebensform gültig sind, und die darüber hinaus, weil vom Zusammenwirken abhängig, der Vergesellschaftung bedürfen« (1999, 57). 14 Vgl. dazu auch die veranschaulichenden Erläuterungen zum transzendentalen Interesse des Menschen als Leib- und Lebewesen in Höffe 1987, 391–394. 15 Leitend sind für ihn dabei die Begriffe einer elementaren Wechselseitigkeit und des stufenweise erfolgenden Tausches: »Nicht schon deshalb, weil jeder Mensch ein höherstufiges Interesse an Leib und Leben hat, besteht das entsprechende Menschenrecht, 12

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Ohne an dieser Stelle ausführlicher auf Höffes detaillierte, in mehreren Schritten verfahrende Begründung der Menschenrechte in Form eines stufenweise fortschreitenden Gesellschaftsvertrags eingehen zu können, möchte ich folgendes festhalten: Indem seine Argumentation von transzendentalen Interessen ausgeht, die die Bedingungen der Handlungsfähigkeit von Menschen bezeichnen (Höffe spricht auch von conditions of agency: ebd., 55), stellt sie eine Anwendung des transzendentalen Begründungsmusters dar. So lassen sich auch die drei im vorhergehenden Abschnitt identifizierten Eigenschaften dieses Begründungsmusters bei Höffe wiederfinden: (1) Die argumentative Kraft der transzendentalen Interessen erwächst nicht daraus, dass sie Werte darstellen, sondern daraus, dass sie die Bedingung der Möglichkeit aller übrigen Interessen darstellen. (2) Die »Minimalanthropologie«, mit deren Hilfe Höffe die Interessen näher bestimmt, ist explizit voraussetzungsarm. (3) Außerdem setzt die Begründung keine metaphysischen Annahmen über die Welt voraus. Der argumentative Weg, den Höffe mit seiner Theorie beschreitet, besteht darin, Bedingungen zu bestimmen, denen niemand seine Zustimmung verweigern kann. Es ist aber keine Zustimmung aus bloßen Klugheitsgründen (prudentieller Konstruktivismus), oder weil die Bedingungen Teil des kulturellen Erbe der gemeinsamen politischen Kultur wären (kohärenztheoretischer Konstruktivismus): Da es sich um transzendentale Interessen handelt, kann man gar nicht anders, als ihnen zustimmen (vgl. ebd., 68). 16 Einen analogen Weg, so werde ich in Abschnitt 5.4 argumentieren, könnte man auch einschlagen, um den Politischen Konstruktivismus mit einer transzendentalen Rechtfertigungsgrundlage zu versondern erst, weil das Interesse sich nur in Wechselseitigkeit verwirklichen läßt und weil darüber hinaus jeder im ›System der Wechselseitigkeit‹ schon jene Leistung, den Gewaltverzicht der anderen, in Anspruch nimmt, die lediglich unter der Bedingung der Gegenleistung, dem eigenen Gewaltverzicht, stattfindet. Weil das Getauschte dabei gleichwertig ist, folgt der Tausch dem Prinzip der Tauschgerechtigkeit und erweist sich als grundlegend gerecht« (Höffe 1999, 69). 16 Aufgrund der Höherstufigkeit der Interessen wäre die Theorie darüber hinaus durchaus in der Lage, der weltanschaulichen Vielfalt des Pluralismus Rechnung tragen zu können. Das sieht auch Höffe, allerdings ohne diesen Punkt systematisch auszuführen: »Weil sich die transzendentalen Interessen nicht auf der Ebene gewöhnlicher Interessen befinden, halten sie sich für deren Reichtum, für die Verschiedenheit sowohl der Individuen als auch der Gruppen, selbst Kulturen und Epochen, offen« (1999, 56). Dem entspricht, was Höffe ein »Recht auf Differenz« nennt (vgl. ebd.). Die Herausforderung des Pluralismus

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sehen. Zunächst möchte ich aber noch eine zweite, von Höffe unterschiedene Umsetzung des transzendentalen Begründungsmusters vorstellen. 17

5.3.3 Die Voraussetzung öffentlicher Rechtfertigung (Gaus) Gerald Gaus beginnt seine Untersuchungen zur öffentlichen Rechtfertigung mit folgender Diagnose: »Justificatory liberals require a normative theory of justification – a theory that allows them to claim that some set of principles is publicly justified, even given the fact that they are contested by some« (Gaus 1996, 3; Hervorh. i. Orig.). Ihm zufolge habe im liberalen Denken der Gegenwart eine rechtfertigungstheoretische Wende stattgefunden, die sich zwar in den Forderungen der liberalen Philosophen, nicht aber in deren eigenen Theorien niederschlage. Anstatt eine klare und konzise Theorie liberaler Rechtfertigung zu liefern, zögen sich diese Autoren, zu denen Gaus auch Rawls zählt, auf Vagheit in der Rechtfertigungsgrundlage zurück (vgl. ebd., 4). Gaus sieht darin einen »fundamental error« (ebd.) und versucht mit seinen eigenen Arbeiten, diese Lücke zu schließen. 18 Gaus entwickelt eine komplexe und detailreich ausgearbeitete Rechtfertigungstheorie. Vor dem Hintergrund des hier verfolgten Zusammenhangs ist besonders der rechtfertigungstheoretische Nullpunkt von Interesse, zu dem Gaus gelangt: Für Gaus bildet ein Bedürfnis von Personen nach der Rechtfertigbarkeit ihrer Ansprüche die unhintergehbare Voraussetzung von öffentlicher Rechtfertigung. Ich möchte hier seinen Gedankengang, der ihn zu dieser These bringt, knapp skizzieren. Gaus betont, dass eine Theorie öffentlicher Rechtfertigung nicht In eine zu Höffe ähnliche Richtung scheint auch Ursula Wolfs (von ihr systematisch nicht weiter ausgearbeiteter) Vorschlag zu gehen, den sie für eine mögliche Grundlage des übergreifenden Konsenses bei Rawls macht: »das Vorgehen, nach empirisch allgemeinen Voraussetzungen für jede Form des guten Lebens zu fragen, scheint mir als solches aussichtsreich und in der Tat der einzige Punkt, wo eine Übereinstimmung zu erwarten ist« (Wolf 1997, 57). 18 Gaus’ Kritik an Rawls’ Politischem Konstruktivismus, dessen fundamentales Problem Gaus im Appell an »commonsense-reasoning« sieht, findet sich in Gaus 1996, 130–136. Sie endet in der vernichtenden These, Rawls’ Rechtfertigungsmodell »can generate arguments that are widely accepted but are not justificatory, while arguments that are based on shared bridgehead norms may be resisted by many« (ebd., 136). 17

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davon ausgehen müsse, dass alle Personen den durch sie begründeten Prinzipien zustimmen werden. Eine solche Zustimmung sei auch gar nicht notwendig. Denn um erfolgreich zu sein, müsse eine öffentliche Rechtfertigung nicht gerechtfertigte Überzeugungen in anderen hervorbringen. Es genüge der Ausweis, dass die in Frage stehende Norm öffentlich rechtfertigbar (openly justifiable) ist: »Public justification need not produce justified belief in others; it need only show that the norm or principle is openly justifiable« (ebd., 160). 19 Die von dieser Einsicht ausgehenden Überlegungen führen Gaus schließlich zu einem elementaren Prinzip, das, so der Autor, erfolgreich öffentlich gerechtfertigt werden könne. Er nennt es das »grundlegende liberale Prinzip« (fundamental liberal principle; ebd., 162– 166). 20 Diesem Prinzip zufolge bedürfen Forderungen, die wir an andere stellen, der Rechtfertigung: »Imposition on others requires justification; unjustified impositions are unjust« (ebd., 165). Hierin sieht Gaus die Kernvoraussetzung öffentlicher Rechtfertigung. Dieses Prinzip sei deswegen erfolgreich öffentlich rechtfertigbar (openly justifiable), da es nichts weiter voraussetze als das Bedürfnis von Personen, nur solche Ansprüche vorzubringen, die sie für gerechtfertigt halten (vgl. ebd., 162). In diesem Grundgedanken steckt bereits, wie Gaus auch selbst bemerkt, eine Selbstverpflichtung auf minimale Toleranz: »Toleration is a minimal but fundamental requirement that we not impose upon others without justification« (ebd., 164). 21 Hierin sieht Gaus zurecht den prinzipiellen Unterschied zwischen seinem Ansatz und demjenigen von Rawls: Jener sei auf inhaltliche Zustimmung fixiert und gleichzeitig von einem pragmatischen Impuls angetrieben, was Rawls zu seiner »Methode der Vermeidung« und der sich darin findenden begründungstheoretischen Vagheit bringe: »His [Rawls’s] aim is to achieve widespread assent. The aim of justificatory liberalism is not so practical: The fundamental goal is to live up to our commitment to justify our demands on others, and this can be accomplished by a philosophical argument that fails to convince many, yet is openly justified to all« (1996, 162). Vgl. hierzu auch Gaus 2011, 38–42. 20 In seinem späteren Werk The Order of Public Reason (2011) baut Gaus dieses Prinzip zum »Basic Principle of Public Justification« aus: Gaus 2011, 263–275. 21 Dieses grundlegende Prinzip, dass also jede Forderung an andere der Rechtfertigung bedarf, steht nach Gaus am Beginn aller liberaler Prinzipien, die öffentlich gerechtfertigt werden können: »The basic idea […] is that freedom to live ones’s own life as one chooses is the benchmark or presumption; departures from that condition – where you demand that another live her life according to your judgments – require additional justification. And if these demands cannot be justified, then we are commited to tolerating these other ways of living« (1996, 165). 19

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Nach Gaus gibt es also eine nicht hintergehbare Voraussetzung der öffentlichen Rechtfertigung: Sie wird erst dadurch möglich, dass die teilnehmenden Personen ein Bedürfnis mitbringen, ihre Ansprüche anderen nicht aufzudrängen, sondern sie argumentativ auseinanderzusetzen. Ein solches Bedürfnis der Rechtfertigbarkeit der eigenen Ansprüche stellt daher in Gaus’ Theorie die transzendentale Bedingung öffentlicher Rechtfertigung dar. 22 Die drei Eigenschaften des transzendentalen Begründungsmusters lassen sich auch in Gaus’ Argumentation wiederfinden. 23 (1) Indem es dieses elementare Bedürfnis als Bedingung der Möglichkeit öffentlicher Rechtfertigung ausweist, verfährt das Argument unabhängig von Werten. (2) Es operiert (abgesehen von der Annahme eines solchen Bedürfnisses) voraussetzungsarm und (3) bringt keine kontroversen metaphysischen Thesen über den Aufbau der Welt mit sich.

5.3.4 Zusammenfassung In diesem Abschnitt ging es darum, dem transzendentalen Begründungsmuster deutlichere Konturen zu verleihen, um damit seine Anwendung auf den Politischen Konstruktivismus vorzubereiten. Ich habe gezeigt, wie sich dieses Begründungsmuster, losgelöst von dem spezifischen Kontext der Moralphilosophie Kants und deren Interpretation durch Sensen, durch drei Eigenschaften fassen lässt: Es verwendet (1) eine wertunabhängige Argumentation, (2) ist voraussetzungsarm in seiner Grundlage, und (3) macht keine metaphysischen Annahmen über den Aufbau der Welt. Die dritte Eigenschaft unterscheidet das transzendentale Begründungsmuster deutlich vom mo-

Dieser Gedanke hat eine Entsprechung in Rainer Forsts Begriff eines fundamentalen »Rechts auf Rechtfertigung« und der damit verbundenen unbedingten »Pflicht zur Rechtfertigung moralisch relevanter Normen« (vgl. Forst 2007, 36). Gegenüber Forst gelingt es Gaus allerdings, sehr viel grundlegender zu argumentieren und seine Grundannahmen explizit auszuweisen, während bei Forst unklar bleibt, woher das Recht auf Rechtfertigung seine Normativität erhält. 23 Gaus verwendet die Bezeichnung »transzendental« an keiner Stelle zur Bezeichnung seines Vorgehens. Aufgrund ihrer argumentativen Struktur lässt sich seine Theorie gleichwohl als Anwendung des transzendentalen Begründungsmusters interpretieren. 22

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ralischen Realismus, die zweite insbesondere vom Konstruktivismus. Und die erste Eigenschaft unterscheidet es von beiden. Anschließend habe ich anhand der Überlegungen von Otfried Höffe und Gerald Gaus zwei Wege nachvollzogen, wie das transzendentale Begründungsmuster argumentativ umgesetzt werden kann: einmal, indem Bedingungen identifiziert werden, deren Zustimmung für Personen unverzichtbar ist (Höffes »transzendentale Interessen«), und einmal, indem die Voraussetzung öffentlicher Rechtfertigung in den Blick genommen wird (Gaus’ Bedürfnis nach Rechtfertigbarkeit der eigenen Ansprüche). Wie lassen sich nun das Konzept der transzendentalen Begründung und diese beiden Argumentationsstrategien auf das Problem anwenden, an dem diese Untersuchung ihren Ausgang nahm – die Frage nach einer Rechtfertigungsgrundlage des Politischen Konstruktivismus, die in der Lage ist, den Anforderungen des Politischen Liberalismus zu entsprechen?

5.4 Zu einer Rehabilitierung des Politischen Konstruktivismus Während sich in Kapitel 3 zwar das konstruktivistische Vorgehen prinzipiell als attraktiv erwiesen hat, um die erste Anforderung des Politischen Liberalismus umzusetzen, habe ich dort dafür argumentiert, dass die Rechtfertigungsgrundlage, wie Rawls sie konzipiert, an der zweiten und dritten Anforderung des Politischen Liberalismus scheitert. 24 Die Frage, bei der eine Rehabilitierung des Politischen Konstruktivismus anheben muss, lautet daher: Wie können die Ausgangspunkte der Konstruktion anders begründet werden? Zur Erinnerung seien hier noch einmal die Antworten genannt, die nicht überzeugen: Die Ausgangspunkte der Konstruktion können nicht dadurch gerechtfertigt werden, (1) dass sie moralischen Tatsachen entsprechen (moralischer Realismus), (2) dass es für mich straDarin findet sich eine auffällige Parallele zu der Situation in der Kantforschung bezüglich der Frage, inwieweit Kant als Konstruktivist beschrieben werden kann (vgl. oben, Abschn. 4.4.1): Während viele Interpreten Kants normative Theorie als Konstruktivismus verstehen, gibt es zahlreiche Bedenken, ob Kant auch in seiner Moralbegründung Konstruktivist sei. Diese Parallele verweist meines Erachtens auf die generelle Begründungsproblematik des Konstruktivismus, wie sie auch in dieser Arbeit zutage tritt.

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tegisch klug ist, ihnen Folge zu leisten (prudentieller Konstruktivismus), (3) dass sie auf von allen geteilten Werten beruhen (wertbasierter Konstruktivismus), oder (4) dass sie es vermögen, Kohärenz zwischen unseren Werten herzustellen (kohärenztheoretischer Konstruktivismus). Ich möchte nun zwei Wege vorschlagen, die zu vielversprechenderen Antworten führen. Sollten sie überzeugen, dann stellen sie zwei Möglichkeiten dar, den Politischen Konstruktivismus im Sinne des Politischen Liberalismus zu rehabilitieren. Denn in beiden Fällen wäre seine Rechtfertigungsgrundlage nicht mehr den Schwierigkeiten ausgesetzt, die in Kapitel 3 diagnostiziert wurden. Rawls erörtert diese Varianten nicht und, soweit ich sehe, finden sie sich auch bislang nicht in der Sekundärliteratur. Beides sind argumentative Strategien, die das transzendentale Begründungsmuster anwenden. Sie folgen den zwei Argumentationsweisen, die ich im vorhergehenden Abschnitt vorgestellt habe: Die erste mögliche Rehabilitierung, die sich am systematischen Vorgehen von Gerald Gaus orientiert, konzipiert die Ausgangspunkte der Konstruktion als Ausdruck der unhintergehbaren Voraussetzung der öffentlichen Rechtfertigung. Und die zweite stellt die Ausgangspunkte als gerechtfertigt dar, weil sie die Bedingungen der Möglichkeit der Ausbildung von Weltanschauungen darstellen und ihnen daher niemand seine Zustimmung versagen kann. In Rawls’ Theorie finden sich bereits Elemente, die sich eine solche Konzipierung einer transzendentalen Rechtfertigungsbasis des Politischen Konstruktivismus entlang den eben benannten Wegen nutzbar machen kann. Es bedarf also, so scheint es, nicht einmal der Hinzufügung neuer, der ursprünglichen Theorie fremder Elemente. Um den Politischen Konstruktivismus mit einer transzendentalen Grundlage zu versehen, müssen sie lediglich argumentativ neu arrangiert werden.

5.4.1 Erster Vorschlag: Bedingungen der Möglichkeit von Rechtfertigung Rawls bezeichnet sein argumentatives Vorgehen auch als »Methode der Vermeidung« (method of avoidance): Philosophische und politische Kontroversen sollen so weit wie möglich vermieden werden (vgl. oben, Abschn. 2.4.5). So soll es möglich werden, »to conceive how, 186

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given a desire for free and unforced agreement, a public understanding could arise consistent with the historical conditions and constraints of our social world« (Rawls 1985, 395). In dieser Passage zur Methode der Vermeidung – interessanterweise fehlt dieser Ausdruck in Political Liberalism und taucht lediglich in den Vorarbeiten auf – klingt es, als setze Rawls ein spezielles Bedürfnis seitens der Bürger voraus: Ein Bedürfnis nach freier und zwangloser Zustimmung (»free and unforced agreement«) oder, wie Rawls es im selben Zusammenhang auch nennt, ein Bedürfnis nach Interaktion auf der Grundlage wechselseitiger Achtung (»so that social cooperation on the basis of mutual respect can be maintained«; ebd.) Dieses Bedürfnis kommt nun interessanterweise dem nahe, was von Gaus, wie im letzten Abschnitt deutlich wurde, als transzendentale Grundlage der öffentlichen Rechtfertigung angesehen wird: das Bedürfnis, die eigenen Ansprüche gegenüber sich selbst und gegenüber anderen zu rechtfertigen. Wenn sich nun eine Entsprechung zu diesem Bedürfnis in Political Liberalism finden ließe, böte dies einen systematischen Anknüpfungspunkt, von dem aus eine transzendentale Begründung des Politischen Konstruktivismus konzipiert werden könnte. Ein solches Bedürfnis lässt sich dort tatsächlich ausmachen: Es findet sich im »Kriterium der Wechselseitigkeit« (criterion of reciprocity). Dieser Ausdruck taucht in Political Liberalism an mehreren Stellen immer wieder auf (vgl. dazu bereits oben, Abschn. 2.4.3), ohne dass Rawls ihm jedoch eine endgültige argumentative Form geben würde. Es könnte aber, so möchte ich nun zeigen, für den Politischen Konstruktivismus gewinnbringend sein, wenn eben dies versucht werden würde: Für Rawls gründet das Kriterium der Wechselseitigkeit in der Einsicht in die Bürden der Urteilskraft und die sich daraus ergebenden Konsequenzen: Wenn ich erkenne, dass die Bürden der Urteilskraft Menschen zu unterschiedlichen Weltanschauungen führen, ohne dass einer davon begründeterweise behaupten könnte, er liege richtig und die anderen notwendig falsch, dann folgt daraus nach Rawls ein Bedürfnis, mit den anderen auf wechselseitiger Basis zu interagieren. Eben das, haben wir gesehen, sind für Rawls vernünftige Weltanschauungen: Sie erkennen die Folgen der Bürden der Urteilskraft an und leiten daraus korrekterweise ein Kriterium der Wechselseitigkeit ab (PL, 49 f. u. 54). Die Herausforderung des Pluralismus

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Im zweiten Kapitel (s. oben, Abschn. 2.4.3) hatte ich dafür argumentiert, dass dieses Kriterium der Wechselseitigkeit nicht nur den Kern dessen ausmacht, was Rawls unter dem schillernden Begriff des »Vernünftigen« (reasonable) versteht. Auch das liberale Legitimitätsprinzip (liberal principle of legitimacy) kann als Ausdruck dieses Kriteriums der Wechselseitigkeit angesehen werden. Dem Kriterium der Wechselseitigkeit kommt damit eine bedeutsame Rolle zu: Es scheint den normativen Kern von Rawls’ Überlegungen auszumachen. Der erste Vorschlag, den ich für einer Rehabilitierung des Politischen Konstruktivismus aufzeigen möchte, lautet: Eine transzendentale Begründung des Politischen Konstruktivismus könnte genau hier ansetzen und das Kriterium der Wechselseitigkeit als transzendentale Voraussetzung öffentlicher Rechtfertigung bestimmen. Analog zu dem von Gaus identifizierten Bedürfnis der Rechtfertigbarkeit der eigenen Ansprüche könnte die These formuliert werden, dass ein Bedürfnis nach Wechselseitigkeit die Bedingung ist, die alle Bürger bereits mitbringen müssen, damit die durch den Konstruktivismus identifizierten Prinzipien für sie Gültigkeit erlangen. 25 In der Entwicklung eines solchen Arguments könnte man sich sogar auf Rawls selbst berufen: Denn Rawls erwähnt an mehreren Stellen seines Werkes, dass in seinen Augen Rechtfertigung immer bereits einen gewissen Konsens voraussetze. Nirgendwo formuliert Rawls dies so deutlich wie in seinem Aufsatz »The Idea of an Overlapping Consensus« (1987). Dort schreibt er: »Justification in matters of political justice is addressed to others who disagree with us, and therefore it proceeds from some consensus: from premises that we and others recognize as true, or as reasonable« (Rawls 1987, 426 f.). Anstatt aber einen solchen Konsens in einer vagen Menge fundamentaler Vorstellung zu suchen, die Teil der politischen Kultur demokratischer Verfassungsstaaten sein sollen – wie Rawls es in Political Liberalism tut – wäre es, so der hier formulierte Vorschlag, aussichtsreicher, diesen Konsens nur für die transzendentale Bedingung öffentlicher Rechtfertigung zu postulieren: der Bereitschaft Anhaltspunkte für eine Ausarbeitung eines derartigen Arguments finden sich in Rainer Forsts Überlegungen zur Grundlage des Politischen Konstruktivismus. Nach der Diagnose der Defizite, die Forst bei Rawls sieht, schlägt er vor, die Basis des Konstruktivismus anhand von »prozeduralen Kriterien der Allgemeinheit und der Reziprozität« bzw. einem »Kriterium der allgemeinen Anerkennungswürdigkeit« zu entwickeln: Forst 1997, 418. Allerdings führt Forst diese Überlegungen nicht weiter aus.

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zur Rechtfertigung der eigenen Ansprüche und einem grundlegenden Bedürfnis nach Wechselseitigkeit. Würde man den Politischen Konstruktivismus mit einer derartigen Rechtfertigungsgrundlage versehen, würde er eine Anwendung des transzendentalen Begründungsmusters darstellen und dessen drei Eigenschaften auch auf ihn zutreffen: Die Argumentation wäre wertunabhängig, voraussetzungsarm und würde keine metaphysischen Annahmen erfordern.

5.4.2 Zweiter Vorschlag: Bedingungen der Möglichkeit von Weltanschauungen Ein zweiter Weg, den Politischen Konstruktivismus mit einer transzendentalen Rechtfertigungsgrundlage zu versehen, kann seinen Ausgang bei Rawls’ Konzeption von Bürgern als freie und gleiche Personen nehmen. Diese Konzeption spielt für Rawls eine große Rolle – unter anderem stellt sie eine der fundamentalen Vorstellungen dar, aus denen sich der Politische Konstruktivismus speist (vgl. PL, 29–35). 26 Der zweite Vorschlag, den ich für eine Rehabilitierung des Politischen Konstruktivismus formulieren möchte, verbindet nun Rawls’ Beschreibung der Personen als frei und gleich mit dem Begriff der transzendentalen Interessen, wie er von Otfried Höffe entwickelt wurde (s. oben, Abschn. 5.3.2): Wenn Freiheit und Gleichheit unabdingbare Voraussetzungen für die Entwicklung und Verfolgung einer Weltanschauung darstellen, können sie als transzendentale Interessen der Bürger angesehen werden. Denn jeder will seine Weltanschauung so ungehindert wie möglich verfolgen, und dazu sind in einer modernen Gesellschaft Freiheit und Gleichheit zwei Bedingungen, die dies zu allererst ermöglichen. Es ist zumindest nicht offenkundig unplausibel, dass nur eine freie Person, die in einer Gemeinschaft mit Gleichen lebt und als solche behandelt wird, über die Voraussetzungen verfügt, um eine Weltanschauung selbstständig entwickeln, bei Bedarf modifizieren und in ihrem Leben erfolgreich verfolgen zu können. Freiheit und Gleichheit, so könnte das Argument lauten, stellen also die unverzicht-

Zur zentralen Rolle der Konzeptionen von Bürgern als frei und gleich bei Rawls s. auch Gaus 2011, 21 f. und Kap. IV, sowie Kaufman 2012, 236–238.

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baren, sogar transzendentalen Bedingungen für die Ausbildung von Weltanschauungen dar. Eine derartige transzendentale Rechtfertigungsgrundlage des Politischen Konstruktivismus würde durch Rawls’ Charakterisierung des vernünftigen Pluralismus zusätzliche Plausibilität erhalten. Denn ihm zufolge ergibt sich der Pluralismus von Weltanschauungen gerade erst aus einem Zustand der Freiheit und Gleichheit: aus der autonomen, ungehinderten menschlichen Vernunftaktivität unter freien Institutionen: »this diversity among reasonable doctrines political liberalism sees as the inevitable long-run result of the powers of human reason at work within the background of enduring free institutions« (PL, 4). Dieser zweite Weg würde also bei zwei transzendentalen Interessen anheben und möglicherweise eine argumentative Grobstruktur der folgenden Art haben: Das Ziel des Politischen Konstruktivismus ist es, gemeinsame normativ-politische Prinzipien für eine Vielzahl von Weltanschauungen zu finden, die in einer Gesellschaft leben. Es gibt zwei unentbehrliche (»transzendentale«) Bedingungen für die Entwicklung und Verfolgung einer Weltanschauung. Diese beiden Bedingungen sind die transzendentalen Interessen an der Freiheit und der Gleichheit. Sie stellen daher die notwendigen Ausgangspunkte einer für alle zustimmungsfähigen Rechtfertigung dar.

5.4.3 Transzendentale Begründung und die drei Anforderungen Die vorhergehenden Abschnitte dienten dazu, zwei Vorschläge zu einer Rehabilitierung des Politischen Konstruktivismus zu machen, die ihn mit einer transzendentalen Begründung versehen. In beiden Varianten wird die unterste Begründungsstufe, die in Rawls’ Version die fundamentalen Vorstellungen darstellen, und auch nur diese, ersetzt – beides Mal, indem Theorieelemente, die sich bereits bei Rawls finden lassen, in eine transzendentale Argumentation gefasst werden. Der erste Vorschlag richtet sein Augenmerk auf die Bedingungen der Möglichkeit öffentlicher Rechtfertigung und könnte folgende argumentative Form annehmen: Ein Bedürfnis nach Rechtfertigbarkeit der eigenen Ansprüche, das sich in Rawls’ Begriff des Kriteriums der Wechselseitigkeit finden lässt, ist die unabdingbare Voraussetzung jedes öffentlichen Rechtfertigungsdiskurses. Die Rechtfer190

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tigungsgrundlage bilden daher nicht (wie in Rawls’ Fassung) eine Menge an politischen Werten, sondern das notwendig vorauszusetzende Bedürfnis aller Bürger, ihre Ansprüche, sowie auch die Gerechtigkeitsprinzipien, einander wechselseitig rechtfertigen zu können. Dieser erste Weg würde also insbesondere Rawls’ Begriffe des Vernünftigen und des Kriteriums der Wechselseitigkeit in die Begründung einbeziehen. Der zweite von mir formulierte Vorschlag hebt bei den Begriffen der Freiheit und der Gleichheit an. Er konzipiert diese aber nicht, wie es bei Rawls geschieht, als Teil einer Menge von fundamentalen Vorstellungen, sondern rechtfertigt sie sehr viel grundlegender: Sie stellen in dieser neuen Form die transzendentalen Bedingungen für das Ausbilden und Verfolgen von Weltanschauungen dar. Diese Vorschläge sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt wenig mehr als systematische Anregungen, die in eine bestimmte Richtung weisen. Das Ziel der Darstellung war es nicht, einen dieser Wege als den »richtigen« auszuzeichnen. Es geht mir in ihrem Aufzeigen vor allem darum, dass sie – und das bereits in ihrer grob skizzierten Form – Anlass zu der Vermutung geben, dass eine transzendentale Modifikation der Rechtfertigungsgrundlage des Politischen Konstruktivismus denkbar, und seine Rehabilitierung daher möglich ist. Würde der Politische Konstruktivismus einen dieser beiden Vorschläge umsetzen – würde man ihn also mit einer transzendentalen Begründung versehen –, dann, so steht zu erwarten, könnte er den drei Anforderungen genügen, die der Politische Liberalismus angesichts der Herausforderung des Pluralismus formuliert: Beide Argumentationslinien wären in der Lage, freistehend zu argumentieren, da sie keine weltanschaulich kontaminierten Voraussetzungen machen. Ebenso verhält es sich mit der Anforderung, keinen vorschnellen Begründungsstopp vorzunehmen, sondern bis zur Nullstufe der Rechtfertigung vorzudringen. Denn beide Wege appellieren an transzendentale Voraussetzungen, denen eben deswegen – weil sie »transzendental« sind – keine Weltanschauung ihre Zustimmung versagen kann. Und nicht zuletzt findet in beiden Fällen keine Ableitung aus einem Begriff des Guten statt, da Werte in ihrer Argumentation keine begründungsrelevante Rolle einnehmen. Auch der Vorrang des Rechten kann also gewahrt werden.

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5.5 Ergebnis: Eine neue Methode der Vermeidung Die in diesem Kapitel angestellten Überlegungen dienten dazu, die Attraktivität des transzendentalen Begründungsmusters für die Zwecke des Politischen Liberalismus herauszustellen. Dieses Begründungsmuster lässt sich durch drei Eigenschaften beschreiben: Es verfährt wertunabhängig, voraussetzungsarm und erfordert keine metaphysischen Annahmen über den Aufbau der Welt. Eine Untersuchung der Theorien zweier Autoren, die dieses Begründungsmuster anwenden, hat zwei Möglichkeiten herausgestellt, wie es argumentativ umgesetzt werden kann. Anschließend habe ich diese Ergebnisse auf die Frage nach der Rechtfertigungsgrundlage des Politischen Konstruktivismus angewendet. In Kapitel 3 wurde argumentiert, dass der Politische Konstruktivismus zwar die erste Anforderung des Politischen Liberalismus – die nach einer rein politischen Rechtfertigung – erfüllen kann, dass er aufgrund seiner Rechtfertigungsgrundlage, wie Rawls sie konzipiert, aber an den zwei weiteren Anforderungen scheitert. Die Überlegungen zum transzendentalen Begründungsmuster auf dieses Problem übertragend, habe ich zwei Vorschläge gemacht, die meines Erachtens das argumentative Potential haben, den Politischen Konstruktivismus auf eine transzendentale Grundlage zu stellen. Würde dies gelingen, könnte er allen drei Anforderungen des Politischen Liberalismus entsprechen. Eine der größten Errungenschaften, die das transzendentale Begründungsmuster mit sich bringt, ist, dass es eine Alternative zur Dichotomie von Konstruktivismus und moralischem Realismus bildet. In diesem Sinne entpuppt sich eine transzendentale Begründung als eine »Methode der Vermeidung«, wie Rawls sie anvisierte, im eigentlichen Sinn: Ihr geht es nicht um ein Einklammern (bracketing) der Kontroverse, sondern um ein Bewältigen, und zwar aufgrund einer tiefer vordringenden Argumentation. 27

Eine derartige »Methode der Vermeidung« wäre auch nicht den Bedenken ausgesetzt, die Kritiker an Rawls’ Methode formuliert haben, und die sich zusammenfassen lassen in den Vorwurf, dass Vagheit in der Methode keinesfalls erstrebenswert, sondern – insbesondere angesichts des Pluralismus – hoch problematisch ist. Diese Stoßrichtung der Kritik findet sich u. a. bei Gaus 1996, 130–137, Galvin 2011, Höffe 2013c, 249–254.

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6. Ausblick

In seinem 2005 erschienenen Buch Democracy after Liberalism urteilt Robert Talisse: »Liberal theory is inconsistent with the pluralism that is the result of liberal practice. If liberals really stress reasonable pluralism, they will be unable to find any consensus on which to build political legitimacy; if they allow for enough agreement to justify the state, pluralism is qualified« (Talisse 2005, 37). Talisse sieht moderne liberale Denker also in einer Zwickmühle: Entweder sie erkennen den Pluralismus an, seien dann aber nicht in der Lage, einen legitimatorischen Konsens herbeizuführen. Oder sie lieferten eine Theorie, die hinreichende Zustimmung erwarten lässt, würden damit jedoch den Pluralismus unzulässigerweise einschränken. Im Verlauf dieser Arbeit hat sich gezeigt, dass der Liberalismus, wenn er sich der Rechtfertigungsaufgabe des Pluralismus annehmen möchte, tatsächlich vor einem Problem steht, wie Talisse es beschreibt: Die Anforderungen an eine pluralismussensible Rechtfertigung stellen hohe Ansprüche, denen, so habe ich argumentiert, auch Rawls’ Politischer Konstruktivismus nicht genügt. Aus einer systematischen Auseinandersetzung mit Kant lässt sich allerdings ein weiteres Begründungsmuster gewinnen, das ich als »transzendentales Begründungsmuster« bezeichnet habe. Dieses Begründungsmuster wird in den gegenwärtigen Debatten, die vorrangig zwischen den Lagern des Konstruktivismus und des moralischen Realismus ausgetragen werden, bislang vernachlässigt. Es stellt aber, so habe ich in Kapitel 5 gezeigt, nicht nur ein eigenständiges, von Konstruktivismus und moralischem Realismus verschiedenes Begründungsmuster dar. Eine Rechtfertigung, deren Argumentation diesem Begründungsmuster folgt, scheint außerdem in der Lage zu sein, die einschlägigen begründungstheoretischen Anforderungen des Pluralismus umsetzen zu können. Im letzten Kapitel wurden zwei Vorschläge skizziert, wie man Rawls’ Politischen Konstruktivismus mit einer entsprechenden transDie Herausforderung des Pluralismus

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zendentalen Rechtfertigungsgrundlage versehen und ihn dadurch den diagnostizierten Problemen entheben könnte. Eine solche Modifizierung der Rechtfertigungsgrundlage würde keinen Gegenentwurf zu Rawls’ Theorie darstellen. Sie käme vielmehr einer Erweiterung gleich, die es Rawls’ Politischem Konstruktivismus erlauben würde, den selbstgesetzten Ansprüchen zu genügen. Denn in Rawls’ Überlegungen sind, wie ich gezeigt habe, Ansätze zu einer derartigen Modifizierung bereits enthalten. Rückblickend hat es den Anschein, dass Rawls in Political Liberalism zwei vorrangige Anliegen verfolgt, die nicht immer denselben Weg weisen. So geht es Rawls einerseits um die Etablierung einer stabilen Gesellschaft. Deren Stabilität soll nicht von kurzer Dauer sein; es soll sich um eine verlässliche und nachhaltige Stabilität handeln, um eine »Stabilität aus den richtigen Gründen« (stability for the right reasons). Möglicherweise ist es dieses Anliegen, das ihn dazu bringt, die Rechtfertigungsgrundlage seines Politischen Konstruktivismus in Werten zu verorten, die er in der politischen Kultur gegeben sieht. Auf der anderen Seite ist es Rawls mindestens ebenso wichtig, auf die Notwendigkeit einer angesichts des Pluralismus bis zur rechtfertigungstheoretischen Nullstufe vordringenden Begründung zu bestehen und deren Implikationen zu erörtern: Dieses Anliegen findet sich paradigmatisch in seiner Forderung, Begründung müsse »politisch, nicht metaphysisch« (political not metaphysical) verfahren. Während aber dieses Anliegen auf eine universalistische Rechtfertigung abzielt, offenbart sich in Rawls’ ausgearbeiteter Lösung eine relativistische, genauer: kohärenztheoretische Tendenz. Trotz dieser zwei Pole, zwischen denen Rawls’ Theorie oszilliert, beinhaltet sie nach wie vor maßgebliche Einsichten in die Herausforderung des Pluralismus und die sich daraus ergebenden Anforderungen an die Rechtfertigung von Gerechtigkeitsprinzipien. Die wesentlichen Ergebnisse dieser Arbeit reichen über den Kontext einer Rawls-Interpretation hinaus. So ist etwa die Analyse des gesellschaftlichen Pluralismus, wie sie hier vorgenommen wurde, keine bloße Rawls-Interpretation, sondern stellt einen eigenen systematischen Ansatz dar, auch wenn dieser sich an Rawls orientiert. Ich habe vorgeschlagen, den Pluralismus als einen Pluralismus von Weltanschauungen zu verstehen. Obwohl dieser Begriff nicht unproblematisch ist (welcher Begriff ist das schon?) und einer entsprechenden Klärung bedarf, scheint er doch besser geeignet zu sein als die in der 194

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Debatte vorgeschlagenen Alternativen. Denn es geht darum, die Situation zu beschreiben, dass sich in einer pluralistischen Gesellschaft Bürger mit ihren persönlichen, je von einander unterschiedenen Rechtfertigungssystemen gegenüberstehen und vor diesem Hintergrund auf ihre gemeinsame normative Welt »schauen«. Dies ist die Situation, in der sich moderne demokratische Verfassungsstaaten wiederfinden, und die ich eingangs als »gesellschaftlichen Pluralismus« bezeichnet habe. Es kann mit guten Gründen darauf hingewiesen werden, dass es sich beim Pluralismus nicht um ein genuin neuartiges Problem handelt. 1 Ein solcher Hinweis stellt aber keine Schwierigkeit für das hier verfolgte Vorgehen dar. 2 Denn diese Arbeit untersucht zwar die Rechtfertigungsaufgabe des Pluralismus, wie sie für gegenwärtige Demokratien besteht. Sie vertritt aber keine historische These: Ihr liegt lediglich die Annahme zugrunde, dass in heutigen Gesellschaften ein Pluralismus von Weltanschauungen besteht. Eine ausführliche Untersuchung der historischen und ideengeschichtlichen Wurzeln des Pluralismus könnte einen wichtigen Beitrag zum besseren Verständnis des Phänomens und der damit einhergehenden gesellschaftspolitischen sowie philosophischen Implikationen leisten. Insbesondere wäre dabei zu fragen, in welcher Form der Pluralismus, wie er in Demokratien auftritt, von Pluralismen unterschieden ist, die in nicht-demokratischen Gesellschaften vorkommen. Denn demokratische Gesellschaften haben einen speziellen Legitimitätsanspruch (man spricht gemeinhin vom »legitimatorischen So stellt etwa Otfried Höffe heraus, dass es religiösen Pluralismus auch bereits in antiken Gesellschaften gegeben hat (vgl. 2004, 105–115). Eine anspruchsvollere These vertritt Wolfgang Kersting, wenn er schreibt: »Der philosophische Liberalismus war von Anfang an Pluralismustheorie, hat sich von Anfang an der herausforderungsvollen Aufgabe gestellt, allgemein zustimmungsfähige Prinzipien für moralische und ethische Konfliktsituationen zu formulieren« (2001, 168). 2 Es bliebe zu untersuchen, inwiefern Rawls seine Thesen zur historischen Genese des Pluralismus qualifizieren müsste. Denn er sieht den Ursprung des Pluralismus in den Glaubenskämpfen der Reformation: »The historical origin of political liberalism (and of liberalism more generally) is the Reformation and its aftermath, with the long controversies over religious toleration in the sixteenth and seventeenth century« (PL, xxvi), sowie »the Reformation in the sixteenth century […] fragmented the religious unity of the Middle Ages and led to religious pluralism, with all its consequences for later centuries. This in turn fostered pluralisms of other kinds, which were a permanent feature of culture by the end of the eighteenth century« (PL, xxii, vgl. auch xxiii-xxv, liv f.). 1

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Individualismus«) – und damit auch einen anderen Rechtfertigungsdruck – als andere gesellschaftliche oder politische Systeme. Eine derartige weiterführende Untersuchung könnte das systematisch ausgerichtete Vorgehen dieser Arbeit um eine historische Perspektive ergänzen. Der Pluralismusbegriff steht manches Mal im schlechten Rufe, zu einseitig zu sein: So mag es scheinen, dass er sich allein auf das eine Gesellschaft Trennende und nicht auf die Gemeinsamkeiten fokussiert. Man könnte ihm attestieren, er sei »ein einseitiger, undialektischer Begriff, der die Vielfalt im Gegensatz zur Einheit, die Konkurrenz im Gegensatz zur Kooperation, auch die Geschichtslosigkeit im Gegensatz zur gemeinsamen Geschichte betont« (Höffe 1988, 110). Diese Beobachtung ist zweifellos richtig: Eine Untersuchung, die sich den Pluralismus zum Gegenstand nimmt, legt den Schwerpunkt zunächst auf das, was die Bürger einer Gesellschaft trennt, und nicht auf das, was sie eint. Doch diese Vielfalt, das Plurale, wird zu allererst als ein zu begrüßender Freiheitsgewinn für die Bürger und als eine kulturelle Bereicherung für die Gesellschaft gesehen. Es wäre ein Missverständnis, in dem, was ich die Herausforderung des Pluralismus genannt habe, ein pessimistisches Gesellschaftsbild zu sehen, das von einer tiefen Spaltung innerhalb der Gesellschaft ausgeht. Denn zunächst ist die Frage nach den Anforderungen an eine Rechtfertigungstheorie nur eine Frage unter vielen, die die politische Philosophie beschäftigen; aus einer einzelnen Frage sollte kaum eine allgemeine Gesellschaftsdiagnose abgeleitet werden. Aber auch innerhalb dieser Frage lässt sich ein solcher Pessimismus, wie ich gezeigt habe, mit guten Gründen als übereilt ablehnen. Denn im transzendentalen Begründungsmuster findet sich eine Argumentation, die allem Anschein nach in der Lage ist, der Rechtfertigungsaufgabe, vor die der Pluralismus die politische Philosophie stellt, gerecht werden zu können. Die weiterführende Auseinandersetzung mit diesem transzendentalen Begründungsmuster stellt die wohl drängendste Anschlussfrage dar, die sich aus den Ergebnissen dieser Arbeit ergibt. So wäre es in meta-ethischer Hinsicht wichtig, das Verhältnis genauer zu beleuchten, in dem das transzendentale Begründungsmuster zu konstruktivistischen Theorien auf der einen Seite, und Varianten des moralischen Realismus auf der anderen Seite steht. Hier wäre insbesondere zu erörtern, wie sich die transzendentale Argumentation 196

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über diese Dichotomie hinwegsetzt. Die drei von mir in Abschn. 5.3.1 genannten Eigenschaften könnten hierbei als Ausgangspunkt dienen. Und natürlich wäre auch zu untersuchen, welchen Problemen das transzendentale Begründungsmuster ausgesetzt ist – etwa der Gefahr eines Seins-Sollens-Fehlschlusses, da die »Bedingungen der Möglichkeit« in einem Begründungszusammenhang zu normativer Gültigkeit stehen –, und wie diesen begegnet werden könnte. So bildet also die weitere Profilierung der argumentativen Struktur des transzendentalen Begründungsmusters, das in dieser Arbeit nur vorläufig dargestellt wurde, ein offenkundiges Desiderat. Ein besseres Verständnis dieses Begründungsmuster wäre, wie gesagt, in meta-ethischer Hinsicht attraktiv. Aber auch für die Zwecke der politischen Philosophie, gerade im Hinblick auf die Rechtfertigungsfragen des Liberalismus, wäre es von großem Gewinn, über ein klareres Verständnis der Argumentationsstruktur und ihrer Stärken und Schwächen zu verfügen. Die sich aus dieser Arbeit ergebenden Fragen reichen also in beide Bereiche der praktischen Philosophie hinein, aus denen diese Arbeit geschöpft hat: in die Meta-Ethik ebenso wie in die politische Philosophie.

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Weitere Literatur Schmidt, Th. 2006: Art. »Realismus/Intuitionismus/Naturalismus«, in: M. Düwell/Chr. Hübenthal/M. H. Werner (Hrsg.), Handbuch Ethik, 2. Aufl., Stuttgart 2006, 49–60. Schroeder, M. 2012: Art. »Value Theory«, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy, http://plato.stanford.edu/entries/value-theory/ [7. 6. 2016]. Sensen, O. 2011: Kant on Human Dignity, Berlin u. Boston. – 2013: »Kant’s Constructivism«, in: Bagnoli 2013a, 63–81. Shafer-Landau, R. 2003: Moral Realism. A Defense, Oxford. Shafer-Landau, R./Cuneo, T. 2007: »Constructivism. Introduction«, in: Dies. (Hrsg.), Foundations of Ethics. An Anthology, Malden/MA u. Oxford, 79–83. Silber, J. R. 1960: »The Copernican Revolution in Ethics. The Good Examined« in: Kant-Studien 51, 85–101. Smith, M. 1994: The Moral Problem, Malden/MA. – 1999: »Search for the Source«, in: The Philosophical Quarterly 49 (196), 384–394. – 2004: »Ethics and the A Priori. A Modern Parable«, in: Ders., Ethics and the A Priori. Selected Essays on Moral Psychology and Meta-Ethics, Cambridge u. New York 2004, 359–380. – 2011: »The Value of Making and Keeping Promises«, in: H. Sheinman (Hrsg.), Promises and Agreements. Philosophical Essays, New York 2011, 198–216. Steinfath, H. 1998: »Einführung. Die Thematik des guten Lebens in der gegenwärtigen philosophischen Diskussion«, in: Ders. (Hrsg.): Was ist ein gutes Leben? Philosophische Reflexionen, Frankfurt/M. 1998, 7–31. Stocker, M. 1990: Plural and Conflicting Values, Oxford. Street, S. 2008: »Constructivism about Reasons«, in: Oxford Studies in Metaethics 3, 208–245. – 2010: »What is Constructivism in Ethics and Metaethics?«, in: Philosophy Compass 5/5, 363–384. Talisse, R. B. 2005: Democracy after Liberalism. Pragmatism and Deliberative Politics, New York. Tampio, N. 2007: »Rawls and the Kantian Ethos«, in: Polity 39 (1), 79–102. Taylor, Ch. 1992: »The Politics of Recognition«, in: A. Gutmann (Hrsg.), Multiculturalism. Examining the Politics of Recognition, Princeton/NJ, 25–74. – 1995: »Irreducibly Social Goods«, in: Ders., Philosophical Arguments, Cambridge/MA, 127–145. Thomé, H. 2004: Art. »Weltanschauung«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. J. Ritter u. a., Band 12, Darmstadt 2004, 453–460. Tugendhat, E. 1984: »Anmerkungen zu Rawls’ ›Eine Theorie der Gerechtigkeit‹« in: Ders., Probleme der Ethik, Stuttgart, 10–32. Turner, S. 2003: »The Politics of the Word and the Politics of the Eye«, in: Thesis Eleven 73, 51–69. Waldron, J. 1987: »Theoretical Foundations of Liberalism«, in: The Philosophical Quarterly 37 (147), 127–150. Die Herausforderung des Pluralismus

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Personenregister

Audi, R. 16, 26 Baghramian, M. 89 Bagnoli, C. 19, 86 f., 91, 93, 95 f., 154 Barry, B. 54 f. Barry, M. 97 Berlin, I. 25, 36 Betzler, M. 13 Bittner, R. 45 f. Boom, Ch. 14 Bormann, F.-J. 14, 104, 112 Brantl, D. 14, 64, 85, 108, 112, 123, 125 Brink, D. 89, 172 Budde, K. 18, 130 Bunnin, N. 25 Carter, J. A. 89 Cohen, G. A. 54, 101 Cohen, J. 74, 79, 119 f. Crowder, G. 26 Cuneo, T. 86 Daniels, N. 103 Darwall, St. 86 Dierse, U. 60 Dogan, A. 18, 145 Döring, S. 13 Dreben, B. 56 Düringer, E. 14 Dworkin, R. 16, 34–40, 50, 68 f. Eker, B. 14 FitzPatrick, W. J. 176 Flikschuh, K. 58, 60

Forst, R. 16 f., 19, 31–33, 35, 54, 57, 67 f., 71, 80 f., 85, 91, 96, 110, 112 f., 120 f., 184, 188 Freeman, S. 17, 54 f., 57, 64, 68, 71, 80, 85, 92 f., 96, 114, 118, 123, 129, 145 Freiberger, T. 14 Friedrich, A. 14 Galvin, R. 80, 142, 145, 153, 192 Gaus, G. F. 16, 53 f., 57, 71, 166, 182– 189, 192 Geiger, R. 14 Geuss, R. 101 Gibbard, A. 86 Goy, I. 14 Gray, J. 26 Habermas, J. 31–33, 35, 71, 78, 112, 121 Hampton, J. 58 Heller, J. 14 Hill, Th. E. 16, 19, 49, 55 f., 85–87, 93, 96–98, 112, 123, 153 Hinsch, W. 17, 45, 54 f., 76 f., 85, 114, 116 Hobbes, Th. 87, 180 Hoenen, M. J. F. M. 14 Höffe, O. 13, 16–18, 22 f., 44, 46 f., 54, 57, 63, 79 f., 87, 103, 123, 125, 131, 139, 150, 153, 158, 166, 168, 179– 182, 185, 189, 192, 195 f. Horn, Ch. 26 Hottmann, P. 14 Hügli, A. 25 Hurka, Th. 26

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Personenregister Jaeggi, R. 16, 30, 32 Joas, H. 26 Joyce, R. 171

Parfit, D. 18 Pieper, A. 146 f. Pinzani, A. 43, 71 f., 74, 112, 114 Pogge, Th. 17, 46, 55, 71, 85

Kain, P. 152 f. Kant, I. 18, 21, 60 f., 87, 92, 97, 111 f., 128–165, 166, 175 f., 184 f. Kaufmann, A. 120, 129, 189 Kekes, J. 26 Kerber, W. 22 Kersting, W. 17, 54 f., 62, 87, 118, 195 Koller, P. 54, 114 f. Königs, P. 14 Korsgaard, Ch. 17, 19, 95, 99–102, 105, 144, 153 Kraft, B. 143 Larmore, Ch. 14, 17, 53, 57 f., 61 f., 65–67 Lehning, P. 17, 60, 75–77, 85, 114 Leibniz, G. W. 134 Lenman, J. 88, 111 Locke, J. 87, 131 Lutz, A. 14 Mackie, J. L. 28, 89, 171 Maffettone, S. 17 Mantel, S. 14 Mason, E. 30 Maus, I. 114 Mill, J. St. 60 f., 131 Moore, G. E. 88, 147 Moore, M. J. 124 Mulhall, S. 54 Nagel, Th. 17, 101 Nida-Rümelin, J. 16, 23 Nussbaum, M. 16 f., 53, 57 f., 61–66 Oening-Hanhoff, L. 58 Okin, S. M. 54 O’Neill, O. 17–19, 54, 57, 85, 87, 90– 92, 95, 97–99, 118, 123, 125, 130, 132, 134 f., 143, 159 Özmen, E. 68 f., 145

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Railton, P. 86, 172 Rawls, J. 16–20, 24, 34, 36 f., 41–50, 52–58, 60–66, 68–82, 84 f., 88 f., 91–97, 105–126, 128–153, 156– 165, 166–169, 171–178, 180, 182 f., 185–192, 193–195 Raz, J. 26, 27–30, 32 f., 50, 71 Reath, A. 129, 156 Reinhardt, F. 14 Reinhardt, K. 14 Ricken, F. 44, 54, 115, 125 Rickert, H. 27 f. Rippe, K. P. 89 f. van Roojen, M. 89 Ross, W. D. 88 Rousseau, J.-J. 131 Ryan, A. 59 Samson, L. 22 Sandel, M. 92 Sayre-McCord, G. 89, 172 Scanlon, T. M. 14, 17, 19, 85, 87, 95, 99, 101–103 Scarano, N 14, 16, 22 f., 39, 64, 69 Scheffler, S. 17, 48, 60, 167 Schmidt, Th. 89 Schönecker, D. 143 Schroeder, M. 25 f., 123 Schröder, W. M. 14 Sensen, O. 13, 21, 95, 98, 130, 146, 150, 153–160, 163–165, 166, 175, 184 Shafer-Landau, R. 86, 89, 91, 95 f., 120, 122, 170–174, 178 Shemmer, Y. 88, 111 Silber, J. R. 146 f., 149 Sing, H. 14 Smith, M. 89, 101 Steinfath, H. 28 Stocker, M. 26 Street, S. 18 f., 95, 105 f. Swift, A. 54

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Personenregister Talisse, R. 193 Tampio, N. 18, 130 Thomé, H. 46 Tietjen, R. R. 14 Turner, S. 46

Weithman, P. 17, 54 Werle, D. 43, 71 f., 74 , 112, 114 Wolf, U. 54, 60 f., 63, 75, 123, 182 Wolff, Ch. 134 Worrell, F. 14

Waldron, J. 59 f.

Yu, J. 25

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Sachregister

Bereich des Politischen 44 f., 58, 63– 65, 70, 83, 110 –, vs. Bereich des Säkularen 44 f. Bürden der Urteilskraft 73–76, 80, 168, 187 Bürger, s. a. Person 52, 70, 72, 77 f., 84, 108 f., 115 f., 168, 187, 189, 196 –, B. als Freie und Gleiche 56, 113 f., 189 Demokratie 115, 195 fundamentale Vorstellungen, s. a. politische Grundwerte 78, 115 f., 140 f., 189–191 Gerechtigkeit 32, 36 f., 179 –, G.prinzipien 15, 52, 56, 92 f., 103, 125, 194 –, politische G.konzeption 56, 84, 110 f. Gewalt, politische 56, 72 f., 131 Gute, das 25, 27, 32, 67–69, 109, 146– 150, 159, 191 –, gutes Leben 30–32, 34, 43, 51, 182 –, Konzeption des G. 33–40, 109, 167 –, Vorrang des G. 68, 127, 129, 147, 151 Konsens –, als Voraussetzung für Rechtfertigung 188 f. –, moralischer K. 40, 67 –, übergreifender K. 56, 66, 68 f., 79, 115 f., 118 f., 170, 178 Kommunitarismus 54

Kontraktualismus, s. Vertragstheorie Konstitutivismus 154–160, 164 f., 175 f. Konstruktivismus –, K. allgemein 86, 91 f., 94–96, 126, 173 f., 178 –, Humescher K. 105 f. –, Kantianischer K. (Rawls) 91–94, 103 f. –, kohärenztheoretischer K. 103–106, 123–125, 173, 177, 181 –, K. bei Kant 130–144, 152 f. –, K. und Vertragstheorie 87 f. –, lokaler vs. globaler K. 88 –, normativer vs. meta-ethischer K. 87–91, 153 –, Politischer K. 71, 78 f., 107–127, 143 f., 161–165, 185–192, 194 –, prudentieller K. 97 f., 118 f., 174, 177, 181 –, wertbasierter K. 99–102, 120–123, 144, 174, 177 Konzeption des Guten, s. Gute, das Kriterium der Wechselseitigkeit 70, 75–77, 80, 187–189 Kultur 48, 66, 177, 181 –, politische K. 54, 115 f., 123–125, 181, 188, 194 Legitimität 56, 77 –, liberales L.sprinzip 56 f., 77, 119 Lehren, umfassende, s. a. Weltanschauung 42–47 Liberalismus, klassischer, s. a. Politischer Liberalismus 59–63

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Sachregister Methode der Vermeidung 80 f., 113, 183, 187, 192 moralischer Realismus, s. Realismus Multikulturalismus, s. Pluralismus der Kulturen Normen 31 f., 123, 141, 184 Objektivität 64 f., 70, 79, 88–90, 110, 126 öffentliche Vernunft 63 f., 77, 116 Paradox der Methode, s. a. Vorrang des Rechten 129, 144–154, 158– 160, 163 f. Person, s. a. Bürger 30, 34, 48 f., 73– 75, 92 f., 103 f., 114, 179 f. Pluralismus 15 f., 22–24, 52 f., 57–59, 83–85, 126 f., 167–175, 193–196 –, Herausforderung des Pl. 16, 38, 52 f., 69 f., 72, 107, 127, 167–175, 191, 196 –, moralischer Pl. 30, 39 –, Pl. der Kulturen 48 –, Pl. des Guten 31–40 –, Pl. von Weltanschauungen 40–49, 75, 83–85, 112, 190 –, religiöser Pl. 43 f., 195 –, Ursache des Pl., s. a. Bürden der Urteilskraft 73–75 –, vernünftiger Pl., s. Vernüftige, das –, Wertpl. 25–33, 36, 124 »politisch, nicht metaphysisch« 57– 59, 69, 111 Politische, das, s. Bereich des Politischen politische Grundwerte, s. Wert Politischer Konstruktivismus, s. Konstruktivismus Politischer Liberalismus –, als Rechtfertigungsprojekt 57–59, 69 f., 83 f., 170–175, 186, 192, 197 –, drei Anforderungen des P. L. 63– 69, 126 f., 168–170, 178 –, Rawls’ Umsetzung des P. L. 70–81, 84 f.

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Realismus, moralischer 88–91, 93, 110–113, 122, 134 f., 151, 153–156, 171 f., 176–178 Rechtfertigung 8 f., 24, 33, 48, 52 f., 57–60, 72, 83 f., 144, 167–170, 182– 184 –, Bedingungen der Möglichkeit v. R. 186–189 –, freistehende R. 63–65, 79, 108, 110–113, 169, 191 –, öffentliche R. 58, 111, 182–185, 186–189 –, R.sgrundlage 109, 116–127, 140 f., 150 f., 154, 164 f., 177 f., 185 f. –, transzendentale R. 154 f., 160 f., 164, 175–185, 186–190, 193 f. –, vollständige R. 65–67, 109, 169 f. –, s. a. Vorrang des Rechten Relativismus 54, 88 f., 90 f., 105, 110, 147, 178 Religion, religiös 23, 40, 42–45, 48, 115 Schleier des Nichtwissens 93, 103, 136, 139 Stabilität 54 f., 79 f., 119, 194 Toleranz, s. a. Kriterium der Wechselseitigkeit 75, 81, 115, 183 transzendentale Interessen 179–182, 185, 189 f. transzendentale Rechtfertigung, s. Rechtfertigung transzendentaler Konstitutivismus, s. Konstitutivismus Überlegungsgleichgewicht 85, 103– 105, 117, 124, 142 Urzustand 93, 103, 113 f., 120, 129, 136 Utilitarismus 61, 92, 129, 147 f. Vernunft 61, 72–74, 77, 97 f., 114, 120 f., 133, 155 f., 168, 190 –, Faktum der V. 129, 132, 141–145, 151, 153 f., 156–158, 162 f.

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Sachregister Vernünftige, das 70 f., 76 f., 78, 93, 112, 120, 124 f., 188 –, vernünftiger Pluralismus 71–73, 108, 114, 169, 190 –, vs. Wahrheit 70 f., 75, 112 f. Vertragstheorie, s. a. Konstruktivismus 78, 87 f., 96, 173 Vorrang des Rechten 67–69, 127, 144–146, 163, 170, 177 Wechselseitigkeit, s. Kriterium der Wechselseitigkeit Weltanschauung 41, 45–49, 52, 55, 60, 66 f., 68, 72–75, 117 f., 167 –, Bedingungen der Möglichkeit v. W. 189 f.

–, vs. umfassende Lehren 45–47 –, W. als Begründungsinstanzen 47– 49, 65–67, 167 f. –, s. a. Pluralismus von Weltanschauungen Werte, s. a. Gute, das 26–28, 31 f., 89, 109, 140, 170 –, polit. Grundwerte, s. a. fundamentale Vorstellungen 78 f., 115–117, 120–123 –, wertbasierte Begründung, s. a. wertbasierter Konstruktivismus 99–102, 120–123, 145, 153 160 f., 172–174 –, wertunabhängige Begründung 176–179, 191

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